16

»Vergewaltigt? Ein Kind? Sagen Sie mal, sind Sie pervers?«

»Wer von uns beiden pervers ist, werden wir noch herausfinden. Wir haben Ihre Speichelprobe. Und in ein, zwei Tagen werden wir wissen, wer Jule Ahrens vergewaltigt hat. Bis es so weit ist, würde ich aber gerne Ihre Version der Geschichte hören.«

Seligmann sah auf seine Hände. Sah wieder auf. Sein Adamsapfel hüpfte noch stärker als gestern. Irgendwo hatte dieser Mann eine Leiche begraben, dessen war ich mir jetzt sicher. Mein Angriff war zu überraschend gekommen, er hatte keine Chance gehabt, sich vorzubereiten, sich seine Antworten zurechtzulegen. Also tat er, was jeder Mensch in seiner Situation tut – er versuchte abzulenken.

»Sagen Sie mal, was soll das eigentlich? Ich gestehe die Beteiligung an diesem Bankraub, Sie finden eindeutige Beweise in meinem Auto, die ich Blödian dort habe liegen lassen. Und jetzt kommen Sie mir mit dieser uralten Sache? Haben Sie vielleicht noch mehr ungelöste Fälle im Schrank, die Sie mir anhängen möchten?«

»Ich will Ihnen nichts anhängen. Ich will einfach nur aus Ihrem Mund hören, wie das damals abgelaufen ist.«

Sönnchen erschien mit zwei Tassen Kaffee. Seligmann nahm einige kleine Schlucke. Stellte die Tasse sehr langsam ab. Schließlich wies er auf die zwei Ordner auf meinem Schreibtisch.

»Lesen Sie. Da steht alles drin.«

»Ich würde es trotzdem gerne von Ihnen hören.«

Er sah mir ins Gesicht. Inzwischen hatte er sich schon wieder besser im Griff. Aber in seinem Blick irrlichterte die Angst.

»Also gut«, seufzte er. »Ich bin rausgegangen und hab das Kind blutend auf dem Gehweg gefunden. Mein Wagen stand zum Glück ganz in der Nähe. Damals war die Garage noch nicht fertig. Ich hab sie auf den Rücksitz gelegt, besonders schwer war sie ja nicht.«

»Und sind ins Uni-Klinikum gefahren mit ihr.«

Wieder nippte er an seinem Kaffee.

»Vermutlich hab ich mir unterwegs ein paar Geschwindigkeitsüberschreitungen zuschulden kommen lassen. Aber das dürfte inzwischen verjährt sein.«

»Selbst wenn, Sie hätten in Nothilfe gehandelt. Haben Sie eigentlich immer die Autoschlüssel in der Tasche, wenn Sie nachts auf die Straße gehen?«

Spätestens an diesem Punkt hatte ich den üblichen Satz erwartet: »Ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt.«

Aber er kam nicht. Stattdessen zuckte mein Gegenüber die Schultern und grinste mich schief an.

»Der ist an meinem Schlüsselbund. Wenn ich den Hausschlüssel dabei hab, dann hab ich auch den Wagenschlüssel. Ihr Kaffee ist übrigens gut!«

»Machen Sie sich nicht zum Narren«, erwiderte ich kalt. »Wir reden hier nicht über Kaffee.«

Sein Grinsen erstarb. Als er wieder zur Tasse griff, zitterte seine Hand. Schwach nur, aber sie zitterte. In dieser Sekunde verschwand mein letzter Zweifel daran, dass ich auf der richtigen Fährte war. Was bisher nur eine gut begründete Vermutung war, wurde zur Gewissheit. Ich musste nur lange und tief genug bohren, um zu erfahren, was Seligmann zehn Jahre lang verschwiegen hatte.

»Jule Ahrens war Ihre Schülerin, richtig?«

»Richtig.«

Regel eins, wenn man verhört wird: Alles zugeben, was der andere ohnehin schon weiß oder wissen könnte. Lüge nur, wenn es unumgänglich ist.

»Ich hatte damals am Helmholtz eine Vertretung. Und da war sie in meiner Klasse, glaub ich.«

»Glauben Sie?«

»Ich bin mir fast sicher.«

»Also haben Sie sie gekannt.«

»Ich hab im Lauf meines Lebens tausende von Schülerinnen und Schülern gekannt. Und wieder vergessen. Das gehört zu meinem Beruf.«

»Ich kann mir vorstellen, dass man zu manchen Schülern eine engere Beziehung entwickelt als zu anderen. Wie war das bei Jule Ahrens?«

Er fummelte seine Zigaretten aus einer Hosentasche.

»In meinem Büro wird nicht geraucht!«

Ergeben legte er das zerknautschte Päckchen auf den Tisch.

»Es war wie bei allen anderen auch. Man kennt das Gesicht. Aber nach zwei, drei Monaten erinnert man sich nicht mal mehr an den Namen.«

»Jules Name ist Ihnen aber gleich wieder eingefallen?«

Seligmann sah mir in die Augen. Er wirkte jetzt sehr müde. »Was soll das? Was soll das werden? Wollen Sie mich jetzt allen Ernstes zum Vergewaltiger machen?«

»Ich versuche nur herauszufinden, was Sie sind.«

»Mal ehrlich, trauen Sie mir so was zu?«

»Sie glauben nicht, wie viele Menschen hier schon gesessen und Verbrechen gestanden haben, die ich ihnen nie und nimmer zugetraut hätte.«

Ich lehnte mich in meinem leise quietschenden Ledersessel zurück, die Zeigefinger an den Lippen, und schwieg. Er starrte mich an, mit seinem Hundeblick, und wartete. Dann wurde sein Blick unsicher. Schließlich schlug er die Augen nieder. Es war ein gefährliches, lauerndes Schweigen. Dann wiederholte ich meine Frage.

»Jules Name ist Ihnen damals also sofort wieder eingefallen?«

»Nein, erst nicht«, antwortete er zögernd. Er fühlte sich auf gefährlichem Eis, das war offensichtlich. »Es war ja dunkel. Erst als ich sie in den Wagen gelegt hab, da hab ich ihr Gesicht gesehen. Und da war mir auf einmal klar, wer das war.«

»Wie genau hat Jule auf dem Gehweg gelegen?«

Seligmann antwortete nicht.

»Ich möchte, dass Sie mir die Szene möglichst genau beschreiben.«

Er zögerte. Schluckte. Nahm sich nun doch eine Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen, verzichtete dann aber mit einem unsicheren Blick in meine Richtung darauf, sie anzustecken.

»Auf dem Rücken hat sie gelegen. Die Beine gespreizt. Die Arme waren seitlich ausgestreckt.«

Jetzt war er mit seinen Gedanken weit weg in der Vergangenheit.

»Die Beine waren gespreizt?«, fragte ich sanft. »Habe ich das richtig verstanden?«

Er nickte fast unmerklich. Ich schob ihm meine Untertasse als Aschenbecher hinüber. Er verstand die Geste sofort, suchte und fand sein Feuerzeug. Das Anzünden machte ihm Schwierigkeiten. Flamme und Tabak wollten einfach nicht zusammenfinden. Endlich brannte der Glimmstängel, Seligmann nahm einige gierige Züge.

»Ich habe gelesen, das Kleid war völlig zerrissen. Ihre Unterwäsche ist bis heute verschwunden.«

Todtraurig sah er mich an. »Sie sind eine Drecksau, Herr Gerlach! Eine verdammte widerliche Drecksau mit einer völlig abseitigen Phantasie.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen.«

»Warum?«, fuhr er mich mit plötzlich wiedergewonnener Energie an. »Wir sind doch allein, oder nicht? Oder haben Sie hier irgendwo ein Mikro versteckt? Sind das etwa Ihre neuen Methoden?«

Ich wartete. Er rauchte hektisch.

»Ja, verflucht, ihre Beine waren gespreizt«, sagte er endlich erschöpft. »Das ist es doch, was Sie hören wollen. Sie hat da gelegen wie …«

Wieder schluckte er. Rauchte. Hustete.

Ich versuchte meine Stimme ruhig zu halten. So zu tun, als ließe mich das alles ziemlich kalt. »Wie?«, fragte ich. »Wie lag sie da?«

»Wie wenn sie sagen wollte: Nimm mich!«

Im Vorzimmer hörte ich Sönnchen ein Liedchen summen. Durch das gekippte Fenster drang fröhliches Vogelgezwitscher herein.

»Eine letzte Frage noch«, sagte ich leise. »Dann lasse ich Sie in Ruhe.«

Ich ließ ihn noch ein wenig leiden, bevor ich fortfuhr.

»Gehen Sie nachts eigentlich öfter mal auf die Straße? Nachts um zwei?«

»Wieso?«, fragte er zurück. »Ist das nicht erlaubt?«

Wütend zerquetschte er die gerade angerauchte Zigarette.

»Meine Frage war nicht, ob es erlaubt ist. Ich will wissen, ob Sie das öfter machen.«

Mit dem Ausdrücken der Zigarette hatte Seligmann eine Entscheidung getroffen. »Ich will meinen Anwalt sprechen«, presste er durch die Zähne, stopfte Zigaretten und Feuerzeug in die Hosentasche und erhob sich. »Die Nummer haben Sie ja.«

Jules Vater wohnte heute nicht mehr an der noblen Panoramastraße, sondern in einer winzigen Anderthalb-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines heruntergekommenen Altbaus mitten in Neuenheim. Am Telefon war er sehr abweisend gewesen, und nur mit Mühe war es mir gelungen, ihn zu diesem Gespräch zu überreden. Zur Verstärkung hatte ich Klara Vangelis mitgenommen. Auf der kurzen Fahrt hatten wir geschwiegen. Dass das kommende Gespräch nicht angenehm sein würde, war klar. Doch dass es so schlimm werden würde, hatte ich nicht erwartet.

»Meine Frau? Die ist weg«, bellte mich Andreas Ahrens an. Schon am Telefon war mir sein Hamburger Akzent aufgefallen, den er noch immer nicht ganz verloren hatte, obwohl er seit seinem elften Lebensjahr in Heidelberg lebte.

»Ist sie einkaufen?«, fragte Vangelis mit einem Lächeln, das einen Baum freundlich gestimmt hätte. Nicht so Jules Vater.

»Kann sein.« Mürrisch winkte er uns herein. Sein Hemd stank nach einer Mischung aus zu viel billigem Deodorant und altem Schweiß. Der Atem roch nach Alkohol, und die Wände der ziemlich vermüllten Wohnung waren grau. Ein paar mit Reißzwecken hingepinnte Kunstdrucke zeigten, dass Ahrens zumindest früher noch versucht hatte, seine Behausung ein wenig freundlich zu gestalten.

»Keine Ahnung, was die gerade treibt und mit wem. Die ist schon seit Jahren weg.«

Er wies auf eine durchgesessene, mit grünem Velours bezogene Couch, auf der er offensichtlich die Nacht verbracht hatte, klappte seinen dürren Körper in den einzigen Sessel und musterte uns grimmig.

»Am Telefon hieß es, es gäbe eine neue Spur? Jetzt, nach so vielen Jahren, kommen euch auf einmal die Ideen?«

»Das klingt nicht, als wären Sie froh darüber.«

»Froh?«, fragte er mit ungläubigem Blick aus trüben Augen. »Den ganzen Scheiß noch mal von vorn? Nee, danke.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das damals sehr schwer war für Sie und Ihre Frau«, sagte ich. »Und ich verstehe natürlich vollkommen, dass Sie wenig Lust haben, jetzt alles noch einmal aufzuwühlen. Aber auf der anderen Seite möchten Sie doch sicherlich auch, dass der Mann gefasst wird, der Ihrem Kind das angetan hat.«

»Nee.« Er schüttelte den Kopf. »Wozu? Meine Renate hat’s richtig gemacht, die ist abgehauen. Ich selber saufe seit acht Jahren, und seit fünfen bin ich arbeitslos. Nee, danke, will nichts mehr wissen von dem ganzen Scheiß. Ich will bloß noch meine Ruhe. Bloß noch meine Ruhe.«

Er legte das schweißglänzende Gesicht in seine mageren Hände und schwieg eine Weile. Eine schmale, ganz und gar schwarze Katze kam lautlos herein, schnupperte misstrauisch an meinen Hosenbeinen, bedachte Klara Vangelis mit einem verständnislosen Blick und verschwand wieder. Neben dem schmierigen Couchtisch, der aussah wie beim Sperrmüll erbeutet, entdeckte ich einen verfaulten Apfel auf einer vergilbten FAZ, deren Schlagzeile die Wiederwahl von George W. Bush verkündete.

Ahrens nahm die Hände herunter. »Also, was wollen Sie von mir hören? Bringen wir’s in Gottes Namen hinter uns.«

»Wie geht es Ihrer Tochter heute?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Können Sie sich mit ihr unterhalten? Weiß sie, wo sie ist?«

»Ich seh sie ja kaum. Ich halte das nicht aus. Meine Frau übrigens auch nicht. Obwohl, die ist am Ende besser fertig geworden mit dem ganzen Elend. Hat jetzt einen anderen, in Offenbach, glaub ich. Und, damit Sie zufrieden sind, nein, Jule erkennt niemanden. Und man kann sich nicht mit ihr unterhalten. Aber die Leute im Heim sagen, sie leidet nicht. Sie fühlt sich wohl, sagen sie. Was soll ich sie da besuchen? Sie vermisst nichts. Schon gar nicht mich.«

»Sie haben sich Vorwürfe gemacht, damals.«

»Vorwürfe?«, fragte er mit hysterischem Lachen. »Na, Sie machen mir Spaß! Vorwürfe!«

»Man kann nicht ständig auf seine Kinder aufpassen. Ich bin überzeugt, Sie haben nichts falsch gemacht. Sie und Ihre Frau trifft keine Schuld.«

»Reden Sie keinen Stuss. Sie haben keine Ahnung.«

Klara Vangelis schwieg mit undurchschaubarer Miene und machte sich hin und wieder winzige Notizen in ihrem ledergebundenen Büchlein. Ich berichtete Ahrens von unserem neuen Verdacht.

»Seligmann?«, fragte er ungläubig. »Ausgerechnet der? Komische Idee, findet ihr nicht?«

»Wie hat er sich ihnen gegenüber verhalten? Später? Hat er versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen?«

»Nee. Ich weiß nur, dass er eine Weile ihr Lehrer war. Ich meine, sie hat auch ein, zwei Mal den Namen erwähnt. Das ist alles.«

»Haben Sie oder Ihre Frau später versucht, mit ihm zu sprechen?«

Andreas Ahrens wirkte plötzlich müde, am Ende seiner Kräfte. Schnaufend und mit hängenden Schultern saß er da und starrte auf seine Knie. Die fleckige Hose schien einmal Teil eines nicht billigen Anzugs gewesen zu sein. Ich hatte gelesen, dass er früher ein hohes Tier in der Verwaltung einer Mannheimer Pharmafabrik gewesen war. An der Panoramastraße, zumindest am nördlichen Teil, der seinen Namen zu Recht trägt, wohnen keine armen Leute.

»Ja, wir haben’s versucht«, beantwortete er endlich meine Frage. »Aber er wollte ja nicht mit uns reden.«

Die schwarze Katze kam wieder, ignorierte uns Eindringlinge hochmütig und kuschelte sich auf den Schoß des Hausherrn. Endlich wusste er mit seinen Händen etwas anzufangen. Sie begann sofort zu schnurren.

»Das ganze Theater ist ihm peinlich, hat er nur gesagt. Dieser Wirbel in den Zeitungen. Er ist kein Held, hat er gesagt, im Gegenteil. Und er hätte schließlich nur getan, was jeder andere auch getan hätte.«

»Das hat er gesagt?«, fragte ich. »Er sei kein Held, sondern das Gegenteil?«

»Wir haben es auch nicht verstanden. Aber man redet manchmal viel, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.«

Als wäre er plötzlich erwacht, sah er mir ins Gesicht. »Ja, wir sind später mal bei ihm gewesen, Renate wollte das unbedingt. Mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Wein sind wir nach Eppelheim gefahren. Aber er hat uns nicht mal reingelassen.« Unablässig streichelten seine Hände die schmale Katze, die jetzt schnurrte wie eine alte, perfekt geölte Nähmaschine. »Ich sag Ihnen was: Ich mag den Kerl nicht. Weiß auch nicht, warum. Ich kann ihn einfach nicht ausstehen.«

Da sind Sie nicht der Einzige, hätte ich um ein Haar gesagt.

Wieder versank Jules Vater in brütendem Nachdenken, in Erinnerungen. Irgendwo im Haus, vermutlich in der Dachwohnung über uns, erklang leise Musik. Eine Querflöte, Bach, ich kam nicht darauf, was es war. Die Katze spitzte die Ohren und sauste davon. Vielleicht hasste sie Flötenmusik.

»Die Studentin«, murmelte Ahrens, den Blick immer noch dorthin gerichtet, wo die Katze gelegen hatte. »Dieses Gepfeife den ganzen Tag kann einen wahnsinnig machen.« Plötzlich sah er auf und war wieder in der Gegenwart angekommen. »Und jetzt glauben Sie auf einmal, dieser Seligmann war’s?«

»Vorläufig sammeln wir nur Fakten«, widersprach ich vorsichtig. »Aber wir halten es nicht für ausgeschlossen.«

Ich bat ihn, mir den Abend noch einmal zu beschreiben, an dem das Leben seiner Tochter sich so dramatisch verändert hatte. Jule sei schon seit Wochen merkwürdig verwandelt gewesen, erfuhren wir.

»Verknallt war sie«, sagte er in einem Ton, als ginge es um eine ekelerregende Krankheit. »Und die Pille hat sie genommen. Das habe ich aber erst viel später bemerkt, als meine Frau weg ist und ich die Wohnung aufgelöst habe. Und ich habe bis heute keinen Schimmer, woher sie das Zeug hatte. Ein Arzt hätte es ihr ohne unser Einverständnis doch gar nicht verschreiben dürfen, nicht wahr?«

»Sie wissen aber nicht, für wen sie die Pille nahm?«

Er schien meine Frage überhört zu haben.

»Sie hat sich so auf den Geburtstag gefreut«, flüsterte er und drehte mit einem Ruck den Kopf zur Seite. »Es hat ja nichts anderes mehr gegeben auf der Welt als diesen gottverfluchten Scheißgeburtstag. Sechzehn, wenn sie nur endlich sechzehn ist.« Er wandte sich wieder mir zu. »Wir haben natürlich später rumgefragt. Ihre Schulkameradinnen, die Mädchen im Schwimmclub, in der Ballettgruppe, keiner hat uns was sagen können. Keiner hat irgendwas gewusst. Komisch, nicht? Normalerweise können die Mädels doch den Mund nicht halten, wenn sie verknallt sind. Aber meine Tochter – nichts da. Keiner hat irgendwas gewusst. Keiner.«

»Haben Sie die Polizei über Ihren Verdacht informiert?«

Die Musik brach ab. Die plötzlich Stille nahm einem fast den Atem.

»Wozu? Wirklich sicher war ich ja erst, als ich diese verfluchten Pillen gefunden habe. In ihrem Radio hatte sie sie versteckt, stellen Sie sich das mal vor! Damit sie bloß keiner findet. Ich hätte ihr natürlich auch den Marsch geblasen, wenn ich das gewusst hätte. Sie war ja noch nicht mal sechzehn. Was haben Sie gesagt?«

Ich wiederholte meine Frage.

»Was hätte das für einen Sinn gehabt, noch mal zur Polizei zu rennen? Wäre dadurch irgendwas besser geworden?«

Das zuvor vom Alkohol rosige Gesicht des Vaters war jetzt grau und zerfallen.

»Vielleicht hätte ich ihr verbieten sollen, dieses Kleid anzuziehen.«

»Sie war an dem Abend anders gekleidet als sonst?«

Er nickte schwach. »Renate hat es auch komisch gefunden, dass sie sich auf einmal so rausgeputzt hat. Sonst hat sie ja immer nur ihre Jeans angezogen. In ein Kleid, da musste man sie ja praktisch reinzwingen. Was hat Renate mit ihr geschimpft. Und dann tut sie ihr endlich den Gefallen, und dann …«

Er sprang auf. Verschwand in der Küche. Ich hörte die Kühlschranktür, das Ploppen eines Korkens. Mit einer Rotweinflasche am Hals kam er zurück, fiel wieder in seinen Sessel. In der Flasche war ein einsneunundneunzig-Rioja von irgendeinem Discounter.

Wieder diese Übelkeit. Inzwischen wünschte ich mich nur noch fort. An einen anderen Ort. In einen anderen Beruf. In ein anderes Leben. Noch fünf Minuten in diesem Raum, und ich würde zu Seligmann fahren und ihn verprügeln.

»Es tut mir leid«, sagte ich beim Abschied. »Glauben Sie, es macht uns keinen Spaß, das alles wieder aufzuwühlen.«

»Vielleicht ist es ja zu irgendwas gut.« Andreas Ahrens drückte überraschend fest meine Hand und sah mir zum ersten Mal direkt in die Augen. »Man wird sehn. Jedenfalls, meine Renate kommt dadurch auch nicht zurück. Vielleicht hätte ich es machen sollen wie sie. Abhauen, solange man noch konnte. Irgendwohin, wo man nicht andauernd an den ganzen Scheiß denken muss. Sie hat jetzt sogar wieder Kinder, hab ich gehört. Jungs. Besser als Mädchen. Man muss nicht ständig Angst haben um sie.«

 

An diesem Abend betrank ich mich. Über Kopfhörer hörte ich viel zu laute Musik, ich weiß nicht einmal mehr, was, und betrank mich dabei so sinnlos, dass ich mich später übergeben musste. Am nächsten Morgen hatte ich bohrende Kopfschmerzen und geriet wegen irgendeiner Kleinigkeit in Streit mit meinen Töchtern. Ohne Frühstück zogen sie Türen knallend davon, und ich blieb elend zurück. Ich glaube, es ging darum, dass sie abends irgendwohin wollten, zu irgendeiner tollen Fete, wie sie sich ausdrückten.

Was würde wohl aus mir werden, wenn einer meiner Töchter etwas zustoßen sollte? Würde ich enden wie Jules Vater? Plötzlich schien mir der Gedanke gar nicht so weit hergeholt. Wenn ich nun nicht ins Büro müsste? Wenn mich keine Sekretärin mit Kaffee und Croissants erwartete?

Hoffentlich machte sie ihn heute wieder so stark wie üblich. Ich beschloss, zu Fuß zu gehen in der Hoffnung, dadurch einen klaren Kopf zu bekommen.