18

In meinem Büro erwartete mich Besuch.

»Frau Eichner sitzt drin«, erklärte mir Sönnchen mit verhaltener Stimme. »Sie möchte eine Aussage machen. Und außerdem haben Ihre Mädchen angerufen. Sie wollen Sie was fragen.«

Monika Eichner trug dieselben verwaschenen Jeans und das blassblaue, billige T-Shirt wie am Vormittag. Nur das Parfum hatte ich vor zwei Stunden noch nicht gerochen. Sie blieb sitzen, als ich eintrat, und lächelte mich verlegen an.

»Sie haben mich vorhin gefragt, wieso ich mich von Xaver getrennt habe«, begann sie, noch bevor ich saß. »Und Sie haben gefragt, ob Xaver auf junge Frauen steht.«

Ich nahm hinter meinem Schreibtisch Platz.

»Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Aber Ihre Fragen sind mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und da hab ich gedacht …«

Sie verstummte. Ich wartete.

»Wissen Sie«, fuhr sie mit unglücklicher Miene fort, »Xaver und ich, wir haben uns über ein Vermittlungsinstitut kennen gelernt. Torschlusspanik nennen das manche. Anfangs dachte ich, dachten wir beide, es passt, es ist richtig, es wird gut. Aber in dem Alter – wir waren ja beide schon über vierzig – hat man eben doch seine Gewohnheiten, und die ändert man nicht mehr so leicht. Wir haben dann bald geheiratet. Zu bald vielleicht. Wir wollten einfach, dass es klappt, verstehen Sie?«

»Sie wollen sagen, Ihre Ehe war von Anfang an nicht so, wie Sie es sich erträumt hatten?«, fragte ich leise.

»Welche Ehe ist das schon?«, fragte sie erschöpft zurück. »Wer weiß … vielleicht hätte es trotzdem gutgehen können. Aber dann musste er sich in dieses Flittchen vergucken und dann …«

»Moment«, unterbrach ich sie. »Ihr Mann hatte ein Verhältnis? Wissen Sie, mit wem?«

»Nein. Ich weiß nur, dass sie jung gewesen sein muss.« Sie starrte auf ihre Handtasche aus cremeweißem Leder. »Jünger als ich. Sie hat ihn verführt, das war mir klar. Sie wollte es mal probieren, wie es ist mit einem älteren Mann, und Xaver, dieser Dummkopf, ist ihr natürlich prompt auf den Leim gegangen.«

»Wie haben Sie herausgefunden, dass er Sie betrogen hat?«

»Gar nicht. Ich hab ja überhaupt nichts gemerkt!« Immer noch betrachtete sie ihre Handtasche, als wäre es nicht die ihre. »Nur, dass er manchmal so anders war. Zerstreut irgendwie, mit den Gedanken sonst wo. Ich hab mir aber nichts weiter gedacht dabei. Alles war ja neu. Er war neu für mich, das Zusammenleben, alles. Und dann, eines Morgens beim Frühstück, da hat er es mir gesagt. Einfach so. Dass er eine andere liebt. Das war Anfang März, und ich bin noch am selben Tag ausgezogen. Wissen Sie, Xaver ist sicher kein unkomplizierter Mensch. Er hat seine Macken. Aber ehrlich ist er, das muss man ihm lassen. Ich bin dann sofort ausgezogen, ich glaube, ich sagte es schon. Vielleicht, vielleicht wäre es sonst gutgegangen, wenn dieses … Luder nicht dazwischengefunkt hätte. Sie hat alles kaputtgemacht. Wie ein Spielzeug, aus reinem Übermut.«

Mein Telefon unterbrach uns. Es war Sarah: »Hast du ’nen Augenblick Zeit, Paps?«

Die zuckersüße Einleitung ließ mich fürchten, dass es um die Ausnahmeerlaubnis für etwas ziemlich Verbotenes ging.

»Nein«, erwiderte ich. »Es ist im Moment wirklich schlecht. Ruf später noch mal an, okay?«

Ich wandte mich wieder Frau Eichner zu.

»Ich muss Sie das noch einmal fragen: Halten Sie es für denkbar, dass er das Mädchen vergewaltigt hat?«

»Vergewaltigt?« Sie sah mich an, als müsste sie überlegen, was das Wort bedeutete. Ihr kräftiges, fast ein wenig grobes Gesicht war in ständiger Unruhe. Sie blinzelte, schluckte, schlug wieder die Augen nieder.

»Vielleicht«, seufzte sie endlich. »Wer weiß das schon. Obwohl. Nein. Nein, so ist er eigentlich nicht. Er brüllt schon mal rum, das schon. Aber so was nicht. Nein.«

»Sie sind also im März ausgezogen.«

Sie nickte verschämt.

»Die Vergewaltigung war Anfang Juli. Vier Monate. Was war in der Zwischenzeit?«

»Ich weiß es nicht.« Sie sah mir in die Augen wie ein geprügeltes Kind. »Darf ich dann gehen?«, fragte sie leise. »Bitte!«

»Eine letzte Frage noch, wenn Sie gestatten.«

Angstvoll sah sich mich an.

»Sie sagten, Sie hätten ihn viele Jahre nicht gesehen …«

Sie nickte. »Das war auch gelogen. Ich lüge wohl nicht besonders gut.«

»Es ist ja keine Schande, wenn Sie Ihren geschiedenen Mann hin und wieder treffen.«

»Ich weiß auch nicht. Es war mir ein bisschen peinlich.« Sie senkte den Blick. »Die ersten Jahre wollte ich natürlich nichts von ihm wissen. Aber dann haben wir uns mal zufällig getroffen, bei einem Ausflug im Odenwald in der Nähe von Wald-Michelbach. Er hatte da irgendwas zu tun. Wir haben geredet, und dann haben wir uns mit der Zeit fast wieder ein bisschen angefreundet. Komisch, nicht? Letztes Jahr zum Beispiel, da hatte ich eine ziemlich schwere Operation, und da hat Xaver mir sehr geholfen. Hat mich im Krankenhaus besucht, sich um alles gekümmert und so. Und wenn er mal ein Problem hat, dann kommt er zu mir, und wir reden drüber. Sonst haben wir ja beide niemanden.«

Sie erhob sich ungeschickt, nickte mir zu und ging zur Tür. »Obwohl …« Sie blieb stehen. »In letzter Zeit. Manchmal hatte ich das Gefühl, es gibt wieder jemanden in seinem Leben. Eine andere Frau. Aber ich hab ihn nie danach gefragt. Geht mich ja auch nichts mehr an.«

 

Runkel erschien mit einer dünnen gelben Mappe unter dem Arm. Inzwischen war später Nachmittag, draußen schien es nun endlich Sommer werden zu wollen, und mein Aktenstudium hatte bisher zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Nur eine Kleinigkeit war mir aufgefallen: Auf Grund der Spuren an Jules Körper und Kleidung war rasch klar gewesen, dass sie nicht an der Stelle vergewaltigt worden war, wo Seligmann sie gefunden hatte. Niemand hatte sich allerdings die Mühe gemacht zu überprüfen, ob sie überhaupt dort gelegen hatte.

»Was gibt’s?«, fragte ich ein wenig zu unwirsch, da Runkel keine Anstalten machte, von sich aus den Mund aufzumachen.

»Frau Vangelis schickt mich. Ich soll Ihnen das hier bringen. Sie warten drauf«, brummte er missmutig, sank auf einen Stuhl und übergab mir die Mappe. »Er war’s.«

»Wer war was?«, fuhr ich ihn an und schlug die Akte auf. Aber da war mir schon klar, was diese gelbe Mappe enthielt.

»Der Laborbericht. Dieser Seligmann, er hat das Mädchen … Mal ehrlich, hätten Sie das gedacht?«

Ja, ich hatte es gedacht. Geahnt. Und ein bisschen auch gefürchtet. Jetzt hätte ich erleichtert sein sollen. Mich freuen. Stolz sein. Immerhin hatte ich innerhalb weniger Tage einen Fall gelöst, den vor Jahren eine halbe Kompanie Polizisten in sechs Monaten nicht gelöst hatten. Nichts von alledem war ich. Wieder einmal klingelte mein Telefon im unpassendsten Moment. Diesmal war es Louise.

»Paps, wir möchten dich was fragen …«

»Herrgott«, fuhr ich sie an. »Jetzt nicht, ja? Ich ruf euch an, sobald es bei mir geht.« Runkel versuchte, mich mit einem solidarischen Lächeln aufzumuntern.

»Das Sperma an dem Mädchen stammt also definitiv von ihm?«, fragte ich zur Sicherheit.

Er nickte trübsinnig. »So steht’s da drin.«

Ich sah zum Fenster. Warum wollte ich plötzlich nicht mehr, dass es so war? Warum konnte ich mir Seligmann nicht vorstellen, wie er Jule die Kleider zerriss, ihren Körper malträtierte, sie würgte, ihre Gegenwehr niederkämpfte, erstickte, bis sie ihm endlich zu Willen war?

»Seit ich selber Kinder habe …« Runkel schluckte. »Ich hoffe, ich muss den Kerl nicht so oft sehen in nächster Zeit. Das ist so unglaublich widerlich.«

In der Ferne klappte eine Tür. Im Vorzimmer war es still. Sönnchen schien im Haus unterwegs zu sein.

Ich wandte mich wieder meinem Untergebenen zu, der langsam nervös wurde. »Was ist mit dem Handy? Hat er es in der Hand gehabt oder nicht?«

»Sie haben zwar DNA gefunden daran. Sogar von zwei Personen, wie’s scheint. Nur seine nicht und …« Er stockte. »Aber was ich einfach nicht verstehe.« Runkel musste man Zeit lassen, bis es ihm gelungen war, seine Gedanken so zu sortieren, dass sie sich in Worte formen ließen. »Warum gesteht einer einen Bankraub, wenn er’s doch gar nicht war?«

»Das ist ganz einfach.« Ich faltete die Hände im Genick und sah über seinen Kopf hinweg. »Er hat den Bankraub gestanden, als er hörte, dass wir eine DNA-Analyse von den Spuren am Handy machen würden.«

»Ja klar!« Runkel schlug sich auf den Schenkel. »Und da hat er gedacht, lieber geht er als Bankräuber in den Knast. Kinderschänder sind da nicht so gut angesehen.«

In unseren Gefängnissen gibt es eine klare Hierarchie. Ich weiß nicht, wer zur Zeit an der Spitze des Ansehens steht. Aber Männer, die Kinder vergewaltigt haben, stehen traditionell am unteren Ende.

Ich bat Runkel, Seligmann vorführen zu lassen. Wenn möglich heute noch. Nein, am besten sofort.

Aber Doktor Knobel war leider gerade bei Gericht, erfuhr ich kurz darauf, und hatte deshalb erst um halb sieben Zeit für uns. Anderthalb Stunden noch. Vielleicht war es ganz gut, dass mir Seligmann nicht gleich jetzt unter die Augen kam. Ich zog den Ordner wieder heran, rückte meine ungeliebte Sehhilfe zurecht und las an der Stelle weiter, wo Runkel mich unterbrochen hatte.

Seite um Seite kämpfte ich mich durch Protokolle, Aktennotizen, medizinische Gutachten. Hin und wieder sah ich mir das Foto an, auf dem Jule so verblüffende Ähnlichkeit mit meinen Töchtern hatte. Die Zeit schien stillzustehen. Irgendwann verabschiedete Sönnchen sich mit besorgtem Blick. Ich hatte gar nicht gehört, dass sie wieder im Vorzimmer saß.

»Sie machen wieder mal Überstunden, Herr Kriminalrat? Hätte es nicht auch morgen noch gereicht mit diesem Seligmann? Der läuft Ihnen doch nicht fort!«

 

Heute waren wir zu dritt. Vangelis, Runkel und ich. Uns gegenüber saßen Seligmann und sein Anwalt, der offenbar seine halbe juristische Bibliothek herbeigeschleppt hatte. Trotz der späten Stunde wirkte er energiegeladen und blitzte uns durch seine teure und dennoch hässliche Brille siegessicher an. Nachdem alle Platz genommen hatten, diktierte ich Datum, Uhrzeit, die Namen aller Anwesenden sowie den Zweck des Verhörs ins Mikrofon.

»Dieses Handy, Herr Seligmann, wozu haben Sie das benutzt?«

»Um mit meinen Partnern zu telefonieren. Darüber haben wir doch schon gesprochen.«

»Wann?«

»Na ja … was?«

»Wann haben Sie telefoniert? Gab es feste Zeiten? Haben Sie in regelmäßigen Abständen telefoniert, oder immer nur nach Bedarf?«

»Mal so, mal so.«

Der Anwalt beobachtete mich mit hochgezogenen Brauen. Er spürte, dass das Verhör nicht die erwartete Richtung nahm, konnte sich aber noch keinen Reim darauf machen.

»Wer hat wen angerufen?«, war meine nächste Frage. Ich drückte aufs Tempo.

»Je nachdem.« Seligmanns Antworten kamen jetzt sehr zögernd.

»Was heißt das?«

»Mal hab ich angerufen, mal die anderen.« Seine Miene verriet, dass er schon aufgegeben hatte. Dass er wusste, was jetzt kam.

Ich ließ ihn noch einige Sekunden schmoren. Längst wagte er nicht mehr, mir in die Augen zu sehen. Sein Mund war verkniffen. Seine Rechte fummelte nach den Zigaretten, fand sie, ließ sie liegen.

»Was soll der Unsinn?«, fragte ich schließlich. »Wen decken Sie?«

Er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen, und schwieg. In seinem Blick lag jetzt nur noch Angst. Bitte, nun sag es doch endlich!, schien er zu schreien.

Ich schlug die gelbe Akte auf, den Laborbericht, und las einfach vor.

Als ich wieder aufsah, wirkte Seligmann ruhig, geradezu erleichtert. Als wäre er längst vorbereitet gewesen auf diese für ihn so katastrophale Wendung. Sein Anwalt hingegen war wie erfroren.

»Ich lege schärfsten Protest ein!«, polterte er los, als er wieder zu Atem gekommen war. »Warum wurden mir diese neuen Erkenntnisse nicht umgehend zugänglich gemacht? Das ist doch … Ich werde mich in aller Form über Sie beschweren …«

»Herr Doktor Knobel«, ich konnte mir ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen, »dieser Bericht ist so neu, dass wir leider noch keine Gelegenheit hatten, Ihnen Kopien zukommen zu lassen.«

Knobel schnaufte und schnaufte. Ruderte mit den Armen, suchte nach Argumenten. Fand keine.

»Aber falls Ihnen das hier nicht reichen sollte, ich habe noch mehr. Zum Beispiel sagte mir die geschiedene Frau Ihres Mandanten, er habe ein Verhältnis mit einer jungen Frau gehabt. Und ich liege wohl nicht falsch mit der Vermutung, dass diese Frau Jule Ahrens hieß.«

Seligmann hob bei dieser Eröffnung kurz den Blick. Knobel sank in sich zusammen mit dem Geräusch eines Schlauchboots, dem die Luft ausgeht. Eine Weile war nur der Atem der fünf Menschen im Raum zu hören. Die ungeheuerliche Beschuldigung hing im Raum wie ein Betonklotz. Mein Handy vibrierte. Ich ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, es auszuschalten. Diesmal war es wieder Sarah. Ich drückte den roten Knopf.

»Vielleicht kann uns Herr Seligmann wenigstens zu diesem Punkt Auskunft geben«, fuhr ich schließlich fort, da vom Anwalt offenbar nichts mehr zu erwarten war. »Hatten Sie wirklich ein Verhältnis mit dem Mädchen?«

»Ich verlange, mit meinem Mandanten sofort unter vier Augen zu sprechen«, fauchte Doktor Knobel. »Das ist ein abgekartetes Spiel! Sie versuchen, uns zu überrumpeln! Aber so nicht! Nicht mit uns! Wir werden unsere …«

»Halten Sie die Klappe«, fuhr Seligmann ihm ins Wort, ohne die Stimme zu heben. Der Anwalt verstummte kurz. Aber jetzt war er in Fahrt.

»Ich bestehe darauf, ich verlange in schärfster Form, unverzüglich mit meinem Mandanten unter …«

»Die Klappe sollen Sie halten«, wiederholte sein Mandant mürrisch. »Es gibt nichts mehr zu reden. Ich gestehe.« Endlich sah er mir ins Gesicht mit dem Blick eines Mannes, der weiß, dass er verloren hat. »Ja, ich war’s. Sind Sie nun zufrieden?«

Vangelis neben mir schien das Atmen vergessen zu haben. Runkel dagegen schnaubte wie ein Walross, das zu lange unter Wasser geblieben war.

Ich nickte.

»Dann möchte ich bitte in meine Zelle gebracht werden. Ich muss jetzt allein sein.« Seligmanns Miene drückte Ergebenheit aus. »Bitte.«

Wir wechselten Blicke.

Ich klappte den Laborbericht zu.

»Okay. Wir machen dann morgen früh weiter.«

 

»Wow, das ging aber flott!«, meinte Vangelis, als wir wieder unter uns waren. »Ich dachte schon, der Abend ist im Eimer.«

»Der ist froh, dass es vorbei ist«, meinte Runkel. »Das hat man doch gesehen.«

»Morgen Vormittag werden wir eine hübsche Pressekonferenz veranstalten.« Entspannt packte ich meine Papiere zusammen. »Das ist endlich mal wieder was, wofür sie uns loben müssen.«

Fast noch mehr als über Seligmanns rasches Geständnis freute ich mich darüber, dass mein abendliches Treffen mit Theresa nun doch nicht ausfallen musste. Auf der Treppe in die Chefetage hinauf schaltete ich das Handy wieder ein. Drei SMS von meinen Töchtern, die offenbar am Verzweifeln waren.

Es wurde nach dem ersten Läuten abgenommen.

»Was gibt’s?«, fragte ich leutselig. »Jetzt hab ich Zeit für euch.«

»Na, prima«, fauchte Sarah. »Echt super!«

»Was wolltet ihr von mir?«

»Fragen, ob wir heut Abend auf eine Geburtstagsparty dürfen. Nach Rohrbach.«

»Wenn ihr zu einer vernünftigen Zeit daheim seid, natürlich«, erklärte ich großzügig. »Wie kommt ihr hin und zurück?«

»Wir wollten fragen, ob du uns fährst.«

Das passte mir nun gar nicht.

»Und darum macht ihr so ein Theater und ruft mich fünf Mal an?«

»Also nicht«, stellte sie pampig fest. »War ja eh klar.«

»Hört mal, Mädels, ich hab gleich noch einen wichtigen Termin …«

»Louise hat ja gleich gesagt, dass du bestimmt wieder keine Zeit hast. Dann eben nicht. Alle gehen hin, die ganze Klasse …«

»Stopp!« rief ich, bevor sie das »nur wir wieder nicht« aussprechen konnte. »Klar fahre ich euch. Reicht es um neun?«

 

»Ein Lehrer vergewaltigt eine seiner Schülerinnen«, Theresa war fassungslos, »und zehn Jahre lang kommt keiner bei euch auf die Idee, sich den Mann mal näher anzusehen?«

»Er bringt sie dabei fast um und, das ist das Merkwürdige an der Geschichte, fährt sie anschließend ins Krankenhaus.«

Wir lagen entspannt auf dem Bett, der erste Sturm der Leidenschaft war vorüber. Theresa rauchte und sah zur Decke.

»Aber …« Sie verstummte.

»Ich weiß, was du sagen willst.« Ich streichelte sachte ihre Brüste, ihren Bauch. Ihre rechte Hand lag auf meinem Oberschenkel. Ziemlich weit oben. »Er musste damit rechnen, dass sie ihn anzeigt, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist. Ich verstehe es auch nicht. Morgen werde ich ihn fragen.«

»Menschen benehmen sich oft nicht sehr logisch«, seufzte sie mit wohligem Schaudern.

»Vor allem, wenn es um Sex geht.« Meine Hand wanderte abwärts. Ihre aufwärts. Wir versanken wieder in diesem rosaroten Nebel, der uns für ein Weilchen die Illusion verschafft, das Leben sei perfekt.

»Es gibt eigentlich nur eine Erklärung«, setzte sie unser Gespräch fort, als ihre zweite Zigarette brannte. »Er ist in Panik geraten, als er merkte, was er angerichtet hatte, und wusste nicht mehr, was er tat.«

»Oder er wusste es ganz genau und versuchte zu retten, was zu retten war. Das spricht immerhin dafür, dass er so etwas wie ein Gewissen hat.«

»Er hätte sie vor dem Eingang der Klinik ablegen und verschwinden können. Er hätte anonym einen Krankenwagen rufen können.«

»Er hat die dümmste aller Möglichkeiten gewählt. Und der Witz ist, gerade deshalb hat ihn keiner verdächtigt. Nur durch diese Dummheit ist er überhaupt davongekommen.«

»Sagtest du nicht, du müsstest spätestens um neun weg?«

Erschrocken angelte ich meine Uhr vom Nachttischchen. Es war schon fünf nach. Ich sprang aus dem Bett und verzichtete auf die Dusche.

»Ich nehme an, er war schon seit Ewigkeiten scharf auf das Mädchen.« Ich hüpfte beim hastigen Anziehen der Hose auf einem Bein. »Sie war körperlich sehr reif, und solche jungen Dinger können einen Mann ganz schön auf die Probe stellen. Seine Frau meint natürlich, sie hätte ihn verführt. Vermutlich war es aber eher umgekehrt. Vermutlich hat er versucht, sie rumzukriegen, sie wollte nicht, oder sie wollte erst und dann auf einmal doch nicht, und da hat er durchgedreht.«

Nackt stand Theresa vor mir, während ich bereits vollständig angekleidet war. In der linken Hand die unvermeidliche Zigarette, mit der rechten fuhr sie mir nachdenklich durchs Haar.

»Die Geschichte macht dir ganz schön zu schaffen. Du solltest mal ein bisschen ausspannen, Alexander. Nun hast du ihn überführt. Den Rest können andere erledigen.«

Ich drückte sie an mich. Atmete ihren vertrauten Duft ein und war ein bisschen traurig, dass ich schon wegmusste. Ein paar wenige Sekunden gönnte ich mir noch. Das genoss ich oft mehr als alles andere, dieses gemeinsame Stillsein, dieses Vertrauen, das guter Sex schaffte. Diesen vollkommenen Frieden, der sich danach einstellte und zum Glück immer einige Stunden anhielt. Bei mir meist bis zum nächsten Morgen, wenn ich den ersten Blick in meinen Terminkalender warf. Sacht streichelte ich ihren nackten, schön geschwungenen Rücken. Bestimmt war es jetzt schon zehn nach neun. Aber ich wollte und konnte mich noch nicht von ihr lösen. Ich drückte ihr einen Kuss auf ihre Nasenspitze.

Theresa öffnete die Augen und küsste mich auf den Mund. »Liebe macht uns eben nicht nur blind und manchmal reichlich blöd, sondern hin und wieder sogar kriminell«, seufzte sie.

»Was redest du da!« Gröber, als ich gewollt hatte, stieß ich sie weg. »Hier geht es doch nicht um Liebe! Er war geil auf das Kind, er hat es vergewaltigt, auf die brutalste Weise, die man sich denken kann. Er hat Jule nicht getötet, aber trotzdem hat er sie um ihr Leben gebracht!«

»Wenn man dich so hört«, sagte sie leise lächelnd, »dann könnte man auf den Gedanken kommen, du glaubst selbst nicht an seine Schuld.«