20
Sie war noch immer hübsch. Das lange, hellblonde Haar hätte man ihr vielleicht ein wenig häufiger und auch mit etwas mehr Liebe schneiden können. Aber die junge Frau mit dem ein klein wenig zu breiten Gesicht wirkte keineswegs vernachlässigt. Ihre Fingernägel waren nicht ganz sauber, was aber daher rührte, dass sie gerne bei der Gartenarbeit half, hatte mir die Pflegerin erklärt, während sie mich durch das weitläufige Gelände führte.
»Und keine Angst, unser Julchen ist harmlos. Pflegeleicht, im wahrsten Sinn des Wortes«, hatte sie mit fröhlichem Lachen hinzugefügt. Die Frau war stark übergewichtig, schaffte es mit ihrem Optimismus aber dennoch, fast schön zu wirken. Ein Mensch, der so offensichtlich mit sich im Reinen ist, wirkt ja immer attraktiv.
Jule sah mich an, wie ein Mensch hin und wieder irgendetwas ansieht, wenn ihm ein wichtiger Gedanke durch den Kopf fährt, der mit diesem Etwas rein gar nichts zu tun hat. Ebenso gut hätte ich ein Baum sein können, ein Stuhl, der Papst oder ein Springbrunnen. Ganz allein saß sie auf einer kleinen Terrasse mit herrlichem Blick ins Tal, den sie nicht wahrnahm. Die Junisonne schien Jule nicht zu wärmen. Ich nickte der Pflegerin freundlich zu, sie winkte, immer noch lachend, und verschwand mit eiligen, kleinen Schritten. Niemals werde ich Menschen begreifen, die bei einem solchen Beruf ihre gute Laune bewahren können.
»Jule?«
Natürlich war ich befangen, wer wäre das nicht? Umständlich nahm ich mir einen der weiß lackierten Gitterstühle, trug ihn an den Tisch, wo Jule saß, und setzte mich so, dass sie mich ansehen musste. Aber ihr Blick ging durch mich hindurch.
»Keine Angst, sie beißt wirklich nicht«, hatte meine Führerin mir in ihrer unerschütterlichen Heiterkeit noch erklärt, bevor sie uns allein ließ. »Sie können mit ihr reden, was Sie wollen, aber sie wird Ihnen nicht antworten. Sie sollten sie allerdings nicht anfassen, das kann sie nicht leiden. Nur wenn Sie Pflanzen in ihre Nähe bringen, dann erwacht sie. Pflanzen sind ihr Leben. Mit Menschen will sie nichts mehr zu tun haben. Und ehrlich gesagt …«, bei diesen Worten hatte sie ihre Stimme gesenkt, »… ich weiß ja, was ihr zugestoßen ist. Und manchmal, muss ich sagen, manchmal verstehe ich sie irgendwie.«
»Frau Ahrens?«
Nicht einmal das Zucken eines Augenwinkels, nichts. Inzwischen war später Nachmittag, die Sonne stand schon tief über den Hügeln des Odenwalds. Es roch nach Heu.
»Jule?«
In diesem verlorenen Blick war keine Spur von Traurigkeit. Diese entspannte Miene blieb ohne Vorwurf. Plötzlich gelang es mir nicht mehr, Mitleid mit dieser jungen Frau zu haben. Vielleicht war sie gar nicht so unglücklich, wie ich mir vorgestellt hatte? Vielleicht hatte ihre Seele das einzig Richtige getan, als sie damals beschloss, einfach nicht mehr mitzumachen bei unseren grausamen Spielchen? Nichts mehr wissen zu wollen von uns? Ich fühlte mich merkwürdig geborgen unter diesem klaren Blick, der nichts ausdrückte.
Als ich den Kopf sacht bewegte, folgten ihre Augen. Jule nahm mich also wahr. Aber ich war nicht wichtig. Ich spielte keine Rolle in ihrer Welt.
Ich weiß nicht, wie lange ich schwieg. Vögel zwitscherten und stritten in einem nahen Wäldchen, Stare vielleicht. Menschen lachten. Ein Raubvogel kreiste unentwegt und in großer Höhe über uns. Irgendwo fing jemand an, herzzerreißend zu weinen, wurde aber bald getröstet. Jule sah mich unverwandt an, mit dieser sanften Verwunderung, und erwartete nichts.
Dann, endlich, tat ich das, wozu ich hergekommen war. Ich zog das Foto aus der Brusttasche meines Jacketts, legte es langsam vor sie hin, als könnte eine schnelle Bewegung sie erschrecken. Sönnchen hatte es mir im Lauf des Nachmittags aus dem Archiv des Kurpfalz-Kuriers besorgt. Es war dasselbe, das Möricke letzte Woche für seinen Artikel benutzt hatte.
Jule bemerkte es nicht einmal. Ich zog die Hand zurück und wartete. Irgendwo in der Ferne summte eine Maschine. Manchmal streichelte ein leichter Sommerwind mein Gesicht, dann bewegte sich Jules glattes Haar. Endlich, kaum merklich, senkte sie den Blick. Ging vielleicht ihre Uhr einfach anders als unsere, langsamer? Sie bemerkte das Foto, das seit ich weiß nicht wie vielen Minuten vor ihr lag. Ihr Blick veränderte sich. Und dann geschah das, was ich am allerwenigsten erwartet hatte: Sie begann zu lächeln, hob mit einer überraschend flinken Bewegung die Hand und fuhr mit einer zärtlichen Bewegung über das Bild, das Seligmanns Gesicht zeigte. So, wie er vor zehn Jahren ausgesehen hatte.
Jetzt war ich überzeugt – nie im Leben war Xaver Seligmann der Kerl, der diese Frau vergewaltigt und um ein Haar getötet hatte.
Die Pflegerin musste uns aus der Ferne beobachtet haben, denn plötzlich stand sie wieder da und strahlte mich an. »Sie wollen uns schon verlassen?«
»Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte«, sagte ich und steckte das Bild ein. Jules Blick wurde trüb. Da zog ich es wieder heraus und schenkte es ihr. Es gibt eine Zeit im Leben von Säuglingen, da lächeln sie manchmal, ohne zu ahnen, dass sie ihren Eltern damit fast das Herz brechen. Ohne zu wissen, was Lächeln überhaupt bedeutet. Heute sah ich ein solches Lächeln wieder – in Jules Augen.
»Ah, da war er aber noch ein gutes Stück jünger!«, lachte die Pflegerin, als sie das Foto bemerkte.
Ich setzte mich wieder und starrte sie an.
»Sie kennen diesen Mann?«
»Aber klar doch«, erwiderte sie munter. »Kennen wäre natürlich zu viel gesagt. Er will uns ja nicht verraten, wie er heißt. Aber er bezahlt Jules Heimplatz. Obwohl er anscheinend gar nicht mit ihr verwandt ist, trägt er die ganzen Kosten. Und stellen Sie sich vor, immer in bar! Außerdem kommt er sie regelmäßig besuchen, jeden Montag und Donnerstag, sommers wie winters. Sein Julchen besuchen. So nennt er sie, sein Julchen.«
»Er besucht sie?«
»Ihre Eltern kommen ja schon lange nicht mehr. Die Mutter alle Jubeljahre mal an ihrem Geburtstag, den Vater habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber der Mann da, der kommt so regelmäßig wie die Uhr. Nur wenn er mal Urlaub hat, dann sieht man ihn ein, zwei Wochen nicht. Und dann ist unser Julchen immer ziemlich traurig. Jetzt zum Beispiel haben wir ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Hoffentlich lässt er sich bald mal wieder blicken. Sie ist so froh, wenn er bei ihr ist.«
Warum machte Seligmann ein Geheimnis daraus, dass er diese Frau regelmäßig besuchte? Warum durfte niemand wissen, dass er über die Hälfte seines Einkommens für sie ausgab? Was, um alles in der Welt, war schlecht daran? Warum behauptete dieser Narr stattdessen erst, er habe einen Bankraub begangen, und dann, er habe Jule vergewaltigt?
Es gab nur eine logische Erklärung: Er musste verrückt sein.
Die Pflegerin bemerkte nicht, dass ich kaum noch zuhörte.
»Sie kennt ja keinen Kalender, aber sie weiß trotzdem ganz genau Tag und Uhrzeit, wann er kommt. Meistens, wenn das Wetter danach ist, gehen sie zusammen spazieren. Der Mann da auf dem Foto ist der einzige Mensch, der sie an der Hand nehmen darf. Nicht mal ihre Mutter darf das. Sonst sagt er immer Bescheid, wenn er eine Weile nicht kommen kann. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein? Kennen Sie ihn? Natürlich kennen Sie ihn, woher hätten Sie sonst das Foto. Sagen Sie mir, was ist passiert?«
»Sie wissen nicht mal seinen Namen und lassen ihn trotzdem zu ihr?«
Sie hob die gut gepolsterten Schultern. »Klar haben wir uns anfangs gewundert. Aber Julchen tut es gut, und auf der anderen Seite schadet es ja niemandem, dass er sie besucht. Ist es da nicht egal, wie er heißt?«
Jule war noch immer in die Betrachtung des Fotos versunken. Sie sah nicht auf, als wir gingen.
»Seit er nicht mehr kommt, ist sie sehr unruhig. Hoffentlich lässt er sich wirklich bald mal wieder blicken!«
Zum Abschied drückte die Pflegerin sehr fest meine Hand.
»Sie haben diesen Satz vor kurzem einmal zu mir gesagt, also darf ich ihn wohl auch Ihnen gegenüber gebrauchen: Sie sind ein Arschloch, Herr Seligmann!«
Er war blass und seit Tagen nicht rasiert. Seinen lächerlichen Selbstmordversuch schien er unbeschadet überstanden zu haben, denn schon am Vormittag hatte man ihn aus der Klinik wieder in seine Zelle in der Heidelberger JVA am »Unteren Faulen Pelz« zurückgebracht, der vermutlich merkwürdigsten Adresse der Welt.
Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl, den es in der Zelle gab, einen klobigen Holzstuhl, der vermutlich auch mildere Tobsuchtsanfälle überlebte. Seligmann lag mit halb geschlossenen Augen auf dem Bett.
»Was zur Hölle veranstalten Sie hier? Was soll der ganze Blödsinn? Warum behaupten Sie, Sie hätten das Mädchen vergewaltigt?«
Er schwieg und wirkte fast so teilnahmslos wie Jule vor kaum mehr als einer Stunde. Hergefahren war ich wie ein Verrückter, von dem Pflegeheim am Hang über Wald-Michelbach, wo Jule Ahrens ihr Leben verdämmerte, bis zu dem Ort, wo dieser Knallkopf seine Tage vertrödelte. Dieser Narr, der vor zehn Jahren ihr Geliebter gewesen sein musste und es auf irgendeine merkwürdige Weise immer noch war.
»Jetzt erzählen Sie endlich, was mit Ihnen los ist, welcher verdammte Teufel Sie reitet, und dann will ich sehen, wie ich Ihnen helfen kann. Obwohl ich viel mehr Lust habe, Sie auf der Stelle zu erwürgen. Oder Ihnen wenigstens ein paar saftige Maulschellen zu verpassen. Und machen Sie sich keine Hoffnungen, hier gibt es keine Zeugen, kein Mensch hört uns, und ich habe eine wirklich gottverdammte, hundsgemeine Saulaune!«
»Mir helfen?«, seufzte Seligmann matt. Sein Atem ging flach und erzeugte dennoch diese albernen Pfeif- und Fiepgeräusche. »Sie hätten mir geholfen, wenn Sie mich letzte Nacht hätten sterben lassen.« Er schloss die Augen. Er lachte rau. Stoßweise. Zu Tode verzweifelt.
Ich sprang auf und begann, in seiner engen, miefigen Zelle hin- und herzurennen. Seligmann richtete sich ächzend auf. Hockte dann zusammengesunken auf seiner Pritsche. Wie ein Knirps, der nun wohl oder übel das Donnerwetter seines Lebens über sich ergehen lassen muss.
»Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, Sie täten mir leid. Auch wenn Sie dem Mädchen nichts getan haben. Oder zumindest nicht das, was Sie behaupten. Sie sind wirklich der größte Idiot, der mir jemals in die Quere gekommen ist!«
Geräuschvoll riss ich den Stuhl wieder heran, knallte ihn vor Seligmann hin, setzte mich, packte sein Kinn und zwang ihn, mir ins Gesicht zu sehen.
»Und jetzt will ich die Wahrheit hören, verdammt noch mal! Und diesmal die richtige Wahrheit, nicht wieder irgendein Geschwafel. Keine Märchen, haben wir uns verstanden?«
»Die Wahrheit?«, murmelte er. »Was ist das?«
Ich ließ sein Kinn nicht los. Ich schüttelte ihn. Es musste ihm wehtun, aber er zuckte nicht. »Herr Seligmann«, bellte ich ihn an, »ich bin nicht hier, um philosophische Streitgespräche mit Ihnen zu führen. Was ist in jener Nacht passiert? Wie ist es dazu gekommen? Und was war das zwischen Ihnen und Jule?«
Endlich ließ ich sein Kinn los. Wartete. Sein Kopf sank auf die Brust. Ich wartete. Durch die dicke Zellentür hörte ich draußen Schritte knallen, klirrende Schlüssel. Eiserne Türen donnerten ins Schloss. Irgendwo schrillte endlos ein Telefon. Grobe Männerstimmen riefen hin und her. Ich wartete immer noch.
»Sie machen sich keine Vorstellung, wie das ist«, begann dieses jämmerliche Häufchen Mensch vor mir endlich zu sprechen. Ich weiß nicht, nach wie vielen Minuten, aber eines weiß ich: es war ganz kurz bevor ich wirklich begonnen hätte, ihn rechts und links zu ohrfeigen.
»Wie was ist?«, fuhr ich ihn an. Ich war in genau der Stimmung, in der Verhörbeamte, denen die unabdingbare Disziplin fehlt, ihre Gesprächspartner verdreschen. »Wovon habe ich Ihrer Meinung nach keine Vorstellung? Vielleicht bin ich ja gar nicht so weltfremd, wie Sie vermuten?«
»Wenn man unglücklich liebt«, murmelte er mit hartnäckig gesenktem Blick.
»Sie haben sie geliebt? Jule Ahrens? Ihre Schülerin?«
Sein verfluchtes, klägliches Nicken war so verzagt, verlegen, schuldbewusst. Es juckte mich immer noch in allen zehn Fingern.
»Sehen Sie mich an, benehmen Sie sich ausnahmsweise mal für zehn Minuten wie ein Mann und reden Sie endlich!«
Mein Ton schien genau der zu sein, den Seligmann jetzt brauchte. Endlich wagte er aufzusehen, in mein Gesicht, in die Augen seines Peinigers. Sein Blick war noch müder, noch sehr viel müder als am Tag zuvor. Dieser Mann war nicht am Ende, er war längst darüber hinaus. Am Ende war er letzte Nacht gewesen, als er seine gottverfluchten Tabletten in sich hineinwürgte.
»Es war so.« Seine Stimme klang jetzt wieder etwas fester. Er räusperte sich, blinzelte, hielt aber meinem Blick stand. »Sie hat mir gefallen, natürlich. Es gibt eine Menge hübsche Mädchen in diesen Klassen. Mädchen, die einem schöne Augen machen, ihre frisch entdeckten Mittel am erstbesten Mann ausprobieren, der ihnen über den Weg läuft. Und das ist ja leider nicht selten ein Lehrer. Da kann Ihnen jeder Kollege Geschichten erzählen. Sonst kennen sie ja meistens nur Jungs in ihrem Alter, und die finden sie natürlich nicht so aufregend. Aber normalerweise … Ich war da immer völlig immun. Völlig immun, ja. Man muss das sein in diesem Beruf. Ich bin kein …« Seine Lider flatterten. Aber er hielt den Blick oben. Sah mir gerade in die Augen, hustete wieder. »Bitte glauben Sie mir, ich bin kein Kinderschänder. Bitte glauben Sie mir wenigstens das.«
»Ob ich Ihnen glaube, werde ich Ihnen sagen, wenn ich die ganze Geschichte gehört habe«, knurrte ich.
Sein Blick irrte ab. Inzwischen klang seine Stimme fast wieder normal. Er sprach nur immer noch sehr langsam, als wäre jedes Wort gefährlich. Jeder Satz eine mögliche Falle.
»Jule … Jule war so anders. Keines von diesen frivolen Flittchen mit ihren bauchfreien Tops, geschminkten Mündchen und Kulleraugen. Sie war so ernst. Ganz anders eben.«
Er sah jetzt etwas, was nur er allein sehen konnte. Etwas, das weit in seiner Vergangenheit zurücklag. Kein Muskel in seinem faltigen Gesicht fand Ruhe. Fast meinte ich, die Zähne knirschen zu hören. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach den Zigaretten, die neben ihm auf der rauen, braungrauen Anstaltsdecke lagen. Endlich fand er sie. Ich reichte ihm eine Schachtel Streichhölzer, die seit Ewigkeiten in meiner Jacketttasche lag. Er zündete sich mit bebender Hand eine Zigarette an. Meine eigenen Hände waren feucht vor Anspannung, Zorn und Empörung. Aber ich zwang mich zu schweigen. Jetzt hatte es keinen Zweck mehr, ihn zu drängen.
Jetzt, endlich, war er so weit.
Er wollte reden.
»Wie hat es angefangen?«, fragte er sich selbst, schnippte die Asche irgendwohin. »Ich habe so viel darüber nachgedacht. Aber ich komme nicht dahinter. Irgendwie hat es überhaupt nicht angefangen, das ist das Merkwürdige. Es war einfach da. Ich hatte die 9 c am Helmholtz frisch übernommen, es war Spätsommer. Erst sollte ich die Vertretung nur für zwei Wochen machen, dann hieß es vier, und schließlich ist ein ganzes Schuljahr daraus geworden. Am Anfang hat man immer ziemliche Mühe mit den Namen. Aber Jules hat sich mir sofort eingeprägt, in der ersten Sekunde. Ich weiß nicht, warum. Und vielleicht in der zweiten, vielleicht in der dritten Stunde, da war es auf einmal da. Ein Blick. Eine halbe Sekunde zu lang, und – da war es passiert.«
Gierig saugte er an seiner Zigarette, drückte sie im Blechaschenbecher auf dem Tisch aus, entzündete gleich die nächste. Seine Hände waren ein wenig ruhiger geworden.
»Sie war fünfzehn«, murmelte er. »Ein Wahnsinn. Ich, ein alter Mann für sie, dreißig Jahre älter, und sie, ein Kind. Ein Wahnsinn.«
»Und dann?«, fragte ich, als es nicht mehr weiterging. »Sind Sie dann gleich ins Bett mit ihr? Das war es doch, was Sie wollten.«
»Dann?«, fragte er mit abwesendem Blick zurück. Den zweiten Teil meiner Frage schien er überhört zu haben. »Nichts. Wochen, Monate – nichts. Nur immer wieder diese Blicke, dieses Wissen, dass da etwas ist, was nicht sein darf. Und dieses … dieses stille Einverständnis. Ja, Einverständnis ist vielleicht das richtige Wort.« Auf einmal sah Seligmann mir direkt in die Augen. »Ich weiß, was ist, sagten ihre Blicke. Und du weißt es auch. Wir sind verloren, sagten diese Blicke. Und Sie haben verdammt Recht, es stimmt, ich bin ein Arschloch. Ein Riesenarschloch sogar. Ich hätte die Klasse sofort abgeben müssen. Mich versetzen lassen. Mir einen anderen Beruf suchen. Habe ich aber nicht. Nichts von dem habe ich getan. Ich dachte, irgendwie geht es schon. Herrgott, ich war seit kurzem verheiratet! Ich war doch kein Teenager mehr, der sich mir nichts dir nichts in irgendein Mädchen verguckt! Man hat sich doch unter Kontrolle!«
Nachdenklich saugte er den Rauch aus seiner Zigarette. Blies ihn an mir vorbei. Sah ihm nach, als könnte er darin eine Erklärung lesen für das, was er getan hatte.
»Viele Mädchen fallen in den Noten erst mal ab, wenn sie sich verliebt haben. Jule war da anders, wie in so vielem. Ich hatte das Gefühl, das, was sie für mich empfand, hat sie auf mein Fach übertragen, die Mathematik. Von Arbeit zu Arbeit wurde sie besser. Im Unterricht war sie meistens still. Und ich habe sie natürlich so selten wie möglich drangenommen. Schriftlich stand sie bald auf einer glatten Eins. Und dann …«
Jetzt sah er wieder weg. Rauchte fahrig. Ich wartete. Ganz in der Nähe krachte eine Zellentür ins Schloss. Wir zuckten beide zusammen. Ein Fernseher plärrte irgendwo. Jemand begann, lauthals zu fluchen. Beruhigte sich erst nach Minuten.
»Dann kamen diese Träume.«
»Träume?«
»Herrgott!«, fuhr er mich in plötzlicher Wut an. »Träumen Sie nie von Frauen?«
Ich verkniff mir den Satz, der mir auf der Zunge lag: »Nicht von Kindern.« Es wäre mit Sicherheit das Falscheste gewesen, was ich jetzt hätte sagen können.
»Irgendwann muss es ja dann mal zur Sache gegangen sein.«
»Zur Sache?«, fragte er irritiert. »Zur Sache?« Dann verstand er.
Die nächste Zigarette.
»Im März, da ist es passiert. Vorher war nichts, gar nichts. Außer natürlich, dass wir beide wussten, da gibt es etwas zwischen uns. Irgendeine Kraft, irgendwas, was einfach nicht aufhören will.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Gesprochen?« Er starrte mich an wie einen Verrückten. »Natürlich nicht!«
»Sie haben nie versucht, sie zu treffen?«
»Nie.«
»Jule hat Ihnen keine duftenden Briefchen geschickt mit Herzchen drauf?«
»Nein! Nein!« Wütendes Kopfschütteln. »Wir wussten doch beide, es geht nicht. Es darf nicht sein.« Wieder schwieg er lange. »Ja, ich hätte darum bitten sollen, die Klasse zu tauschen. Es wäre bestimmt irgendwie gegangen. Man hätte eine Lösung gefunden. Wenn ich nur gewollt hätte. Damals waren wir noch nicht so knapp mit Personal, wie sie es heute sind.«
Er sah mir wieder in die Augen.
»Das wäre meine Chance gewesen. Aber ich habe sie verstreichen lassen. Fragen Sie nicht, warum. Manche Dinge hat man eben nicht in der Hand. Manches ist Schicksal. Oder nennen Sie es, wie Sie wollen.«
»Ich nenne es eine verdammte, billige Ausrede«, erwiderte ich scharf. Flüche taten mir im Augenblick gut. Sie halfen mir, meine Hände bei mir zu halten. »Irgendwie müssen Sie dann ja wohl zusammengekommen sein.«
»Natürlich«, erklärte er seiner Zigarette und betrachtete sie eine Weile, als müsste er sie retten. »Wenn Sie das Wort Schicksal nicht mögen, dann nennen Sie es Zufall.«
»Bleiben wir bei den Tatsachen.«
»März. Frühling, die ersten warmen Tage. Ich musste in der Stadt einiges besorgen. Kugelschreiberminen, Papier, irgendwas. Und dann …« Wieder dieser Bettelblick, für den ich ihn so hasste. »Wir sind uns einfach in die Arme gelaufen. An der Ecke bei der Heilig-Geist-Kirche. Mitten in einem Pulk amerikanischer Touristen. Verstehen Sie, an diesem Tag waren tausende Menschen in der Stadt, zehntausend. Und ich biege um irgendeine Ecke, passe nicht richtig auf und …«
»Halten Jule in den Armen.«
»Sie glauben mir nicht? Nicht wahr, Sie glauben mir nicht?«
»Würden Sie es denn glauben an meiner Stelle?«
»Aber es war so. Und seit damals glaube ich an Schicksal. Verstehen Sie, ich bin Mathematiker, Rationalist mit Leib und Seele. So etwas geschieht nicht. Es ist gegen jede Wahrscheinlichkeit. Eins zu zehntausend, dass Sie in die Nähe eines Bekannten geraten, wenn er zur selben Zeit in der Stadt ist wie Sie. Eins zu hunderttausend, dass Sie ihn bemerken. Eins zu einer Million, dass Sie ihn praktisch über den Haufen rennen, so wie ich Jule.«
Er sah mich an, als wäre ihm eine Erleuchtung gekommen.
»Homo Faber? Kennen Sie das? Max Frisch?«
»Natürlich.«
»Er stürzt mit einem Flugzeug ab, erlebt tausend Dinge, und alles führt am Ende nur dazu, dass er seine Tochter trifft, von der er noch nicht einmal wusste, dass es sie gab, und sich in sie verliebt. Als würde sein Leben sich auf einmal auf Schienen bewegen. Genau so etwas ist mir zugestoßen.«
Sein Päckchen Roth-Händle war leer.
»Soll ich Ihnen neue besorgen?«, fragte ich.
Er nickte zerstreut.
»Einen Kaffee dazu? Oder ein Bier?«
»Bier?«, fragte er in Gedanken. »Hier gibt es Bier?«
»Wenn ich es bestelle, vermutlich schon.«
Minuten später waren wir versorgt. Seligmann konnte wieder rauchen, und auf dem Tisch standen zwei offene Flaschen. In der Zelle roch es inzwischen wie in einer billigen Eckkneipe abends nach halb zwölf. Der Aufsichtsbeamte hatte zwar leicht verwundert geguckt. Da er jedoch wusste, mit wem er es zu tun hatte, und ich bestimmt nicht den Eindruck erweckte, als wollte ich lange herumdiskutieren, hatte er mir brummelnd zwei Flaschen aus irgendeiner dunklen Quelle verkauft, über die ich lieber nichts wissen wollte. Dem Ort angemessen war der Preis kriminell gewesen. Hehlerbier vermutlich.
»Okay«, sagte ich nach einem langen Schluck. »Weiter im Text. Ich will vor Mitternacht zu Hause sein.«
»Dann sind alle Dämme gebrochen. Innerhalb von Sekunden. Glauben Sie mir, ich hatte so etwas noch nie, nie, nie erlebt. Ich war doch immer ein vernünftiger Mensch, einer, der sich im Griff hat, seine Gefühle im Zaum hält, Herrgott! Und dann auf einmal dieses wahnsinnige Verlangen, das keine Rücksicht kennt, keinen Anstand, kein Gesetz, keine Altersunterschiede, kein … Aber ich werde wohl trivial. Entschuldigen Sie. Das interessiert Sie vermutlich nicht.«
»Richtig. Was mich interessiert: Wann haben Sie zum ersten Mal mit ihr geschlafen?«
Er verzog das Gesicht, als hätte er sich auf die Zunge gebissen.
»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Am siebten Juli. An dem Abend, als sie … als sie später …«
»Dann war sie damals also bei Ihnen, in der Nacht?«
Er nickte mit einer Miene, die tiefe Verwunderung ausdrückte.
»Wir hatten uns oft getroffen nach diesem unseligen Nachmittag in der Stadt. Heimlich natürlich. Irgendwo, wo uns bestimmt niemand kannte. Jule wollte, lockte, drängte. Aber sie war doch ein Kind! Es ging doch nicht! Sie machen sich keine Vorstellung, was ich durchgemacht habe.«
»Mir kommen die Tränen.«
»Alles, alles haben wir gemacht, nur das Eine nicht. Ich habe es wirklich geschafft, standhaft zu bleiben, bitte glauben Sie mir. Aber es war die Hölle. Und der Himmel. Es war der komplette Irrsinn.«
Endlich begriff ich. »Sie wollten warten, bis sie sechzehn war?«
»Sie kennen die Paragrafen, Sie sind Polizist. Wenn das Mädchen sechzehn ist, dann ist es kein Missbrauch mehr, falls sie einverstanden ist. Und das war sie weiß Gott, einverstanden.«
»Auch Fummeln kann sexueller Missbrauch sein.«
Er hörte mir nicht mehr zu.
»Jule hat gebrannt, wie eine Frau nur brennen kann. Ich dachte immer, Mädchen in ihrem Alter, die sind doch noch unreif. Das muss sich doch alles erst entwickeln. Aber sie war eben auch in diesem Punkt anders.«
»Von ihrem Vater habe ich erfahren, sie nahm die Pille.«
»Die hatte ich ihr besorgt. War gar nicht so einfach. Ich musste nach Frankreich und mir ein paar ziemlich gute Ausreden einfallen lassen.«
Seligmann sank zurück und sah lange zur Decke. Langsam, fast andächtig und Schluck für Schluck leerte er seine Flasche. Jetzt zitterte seine Hand nicht mehr.
Ich gönnte ihm ein wenig Ruhe. Jetzt kam der schwierige Teil. Aber ich brauchte nichts zu fragen. Inzwischen war er es, der reden wollte. Der reden musste. Loswerden, was zehn Jahre lang sein Inneres zerfleischt hatte.
»Wir hatten alles verabredet«, fuhr er schließlich fort. »Ich habe sie mit dem Auto geholt. Nicht weit von da, wo sie wohnte. Wir sind gleich zu mir gefahren, haben Sekt getrunken, eine Kleinigkeit gegessen. Es sollte ein Fest werden. Unser Fest. Bei manchen Kulturen hätte man es unsere Hochzeit genannt.«
»Und? Ist es eines geworden?«
Er legte die leere Flasche irgendwohin. »Ich habe noch nie gehört, dass ein Mädchen beim ersten Mal einen Orgasmus hat. Sie?«
»Ich habe keine Ahnung davon.«
»Man sagt doch immer, es tut ihnen weh. Sie brauchen eine Weile, bis es richtig funktioniert.«
»Sie gehen mir auf den Geist mit Ihrem Gesülze.«
»Ich weiß. Aber Sie wollten es wissen. Und nun müssen Sie es sich wohl oder übel auch anhören. Kriegen wir noch ein Bier? Was meinen Sie?«
Inzwischen war auch meine Flasche leer. »Bekommt man dieses Fenster irgendwie auf? Man erstickt hier drin.«
Wortlos erhob er sich und kippte das kleine Fenster mit dem halb blinden, heillos zerkratzten Kunststoffglas, das vermeiden sollte, dass sich jemand mit Hilfe einer Scherbe die Pulsadern aufschnitt.
»Was ich die ganze Zeit überlege …«, fuhr er fort, als er mir wieder gegenübersaß. »Jule hat in der Nacht nämlich was gehört.«
»Gehört?«
»Als wäre jemand außen am Fenster. Aber da war nichts. Ich hab nachgesehen. Da war niemand. Sie war natürlich aufgeregt. Da bildet man sich manchmal etwas ein.«
»Und dann?«, fragte ich, als ich mit den nächsten Flaschen zurückkam. Dieses Mal stießen wir an, bevor wir tranken. Es geschah ohne Absicht. Aber es gehörte an dieser Stelle vielleicht dazu. Schicksal? Zufall? Die Flaschen gerieten irgendwie aneinander.
»Wenn ich das wüsste.«
»Irgendwann haben Sie sie ja wohl wieder heimgefahren.«
»Um halb eins, ja. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wegen ihrer Eltern. Und ich hatte ein noch sehr viel schlechteres, wie Sie sich denken können.«
Irgendwo, weit entfernt, schlug eine Uhr. Ich zählte zehn Schläge. Das Bier begann zu wirken. Meine größte Wut war inzwischen verraucht. Ich stand auf und begann wieder, auf und ab zu gehen.
»Mehr gibt es nicht zu erzählen. Den Rest kennen Sie.«
»Das heißt, Sie haben Jule erst wieder gesehen, als sie verletzt vor Ihrem Haus auf dem Gehweg lag?«
Seligmann nickte mit gesenktem Blick.
»Wieso sind Sie mitten in der Nacht noch mal hinausgegangen?«, fragte ich, während ich herumging. »Es war weit nach Mitternacht. Da geht man doch nicht einfach so auf die Straße, ohne Grund.«
Er antwortete nicht.
»Wollten Sie einen Spaziergang machen? Ein wenig frische Luft schnappen? Konnten Sie nicht schlafen nach der ganzen Aufregung, nach Ihrem … Hochzeitsfest?«
Er schwieg.
»Sie waren vielleicht zu aufgedreht, um schlafen zu gehen. Dachten, noch ein bisschen Bewegung, das tut gut. Es war eine laue Nacht, das weiß ich aus den Akten. Ein wenig das frische Glück genießen? War es das?«
Das Letzte hatte spöttisch klingen sollen. Aber es wollte mir auf einmal nicht mehr gelingen, spöttisch zu sein.
»Ich weiß es nicht«, sagte er endlich mit der heiseren Stimme eines Kettenrauchers und routinierten Trinkers. »Seit dreitausendsechshundertfünfzig Tagen denke ich darüber nach, was mich damals auf die Straße trieb. Und ich kann nur sagen, ich weiß es nicht.«