21
»Sogar unser Freund Möricke hat ausnahmsweise etwas Nettes geschrieben.« Liebekind schnaufte am nächsten Morgen frustriert. »Endlich wieder einmal gute Presse, und nun kommen Sie daher und erklären mir, wir haben den Falschen in Haft.«
Allein dass mein Dienstvorgesetzter am heiligen Samstagmorgen im Büro anzutreffen war, zeigte, wie wichtig er die Sache nahm.
»Er ist seit heute Morgen wieder auf freiem Fuß.« Ich erhob mich, trat ans Fenster. Das Sonnenlicht blendete meine müden Augen. Was für eine Schande, endlich begann der Sommer, wenn auch nicht ganz ohne Wölkchen, und was tat ich? Arbeiten. »Seligmann kommt als Täter nicht in Frage.«
»Und was sagen wir nun der Öffentlichkeit?«
»Vorläufig nichts. Und irgendwann die Wahrheit. Dass der Vergewaltiger immer noch irgendwo dort draußen frei herumläuft.«
Ich war übernächtigt und unzufrieden. Diese Achterbahn der letzten Tage von Erfolgen und Geständnissen, Widerrufen und Blamagen hatte Kraft gekostet, merkte ich jetzt. Und nun hing ich auch noch am Wochenende in der Direktion fest, statt mit meinen Töchtern zusammen zu sein, mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Langsam wandte ich mich um.
»Obwohl, das wird mir jetzt erst bewusst: Nach dem, was wir heute wissen, war es ja gar keine Vergewaltigung.« Ich sank wieder auf meinen Stuhl und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Ab jetzt haben wir es nur noch mit schwerer Körperverletzung zu tun. Andererseits …« Ich nahm die Brille ab und massierte die Augen. »Der Zustand von Jules Kleidung, die ganze Auffindesituation, alles spricht zumindest für eine versuchte Vergewaltigung. Ich verstehe immer weniger statt mehr. Wir müssen wohl wieder ganz von vorne anfangen.«
»Sie machen mir ein wenig Sorgen, Herr Gerlach.« Liebekind betrachtete mich mitleidig und vergaß dabei sogar, an der Havanna zu schnüffeln, die er zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand heftiger zwirbelte, als dem schwarzen Ding guttat. »Könnte es sein, dass Sie sich zu sehr in diesen Fall verbeißen? Könnte es sein, dass Sie das alles zu sehr an sich heranlassen?«
Vermutlich empörte mich seine Frage deshalb so sehr, weil ich wusste, dass er Recht hatte.
»Ich habe mit Jule gesprochen. Ich habe ihr Gesicht gesehen, ihre Augen. Und jetzt will ich …« Ich verkniff mir den Fluch in Gegenwart meines Vorgesetzten. »Und jetzt möchte ich zu gerne auch in das Gesicht und die Augen des Kerls sehen, der ihr das angetan hat.«
»Wenn ich Ihnen als Vorgesetzter einen Rat geben darf«, sagte er sehr leise und bedachte mich mit einem Blick, den ich noch nie an ihm beobachtet hatte. »Lassen Sie das lieber Vangelis machen. Die – bitte entschuldigen Sie, wenn ich das so offen sage – die ist härter als Sie. Sie verstehen, wie ich das meine.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und ich werde Ihren Rat befolgen«, erwiderte ich mürrisch und sah auf meine Schuhe. Sie gehörten dringend geputzt. Meine Hose sollte längst mal wieder gebügelt werden. Wenn das noch eine Weile so weiterging, dann würde man mich mit Seligmann verwechseln. Aber natürlich würde ich den Fall nicht abgeben. Welcher Hund gibt gerne einen Knochen wieder her, in den er sich einmal verbissen hat?
Liebekind verstaute die Havanna in seinem Humidor. »Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«
Das hatte fast wie eine Drohung geklungen.
»Die Bodenanalysen, die Sie angeordnet hatten, haben nichts gebracht«, eröffnete mir Balke, als wir kurze Zeit später in meinem Büro zusammensaßen. »Ich hab mich gestern Abend länger mit einem netten Geologen an der Uni unterhalten. Ein paar Krümel könnten nach den neuen Untersuchungen nun doch von der Stelle stammen, wo Seligmann sie gefunden hat. Das stützt seine Aussage.«
Auch er war unzufrieden, es war nicht zu übersehen. Aber bei ihm war der Grund vermutlich, dass er seine Nicole wieder einmal am Wochenende alleine lassen musste.
»Diese verkohlten Holzstückchen«, grübelte Vangelis mit gerümpfter Nase. »Was sagt dein Geologe dazu?«
»Grillkohle, sagt er dazu.« Balke kratzte sich umständlich unter seinem T-Shirt.
»Anfang Juli«, warf ich ein, »ein warmer Abend. Da wird überall gegrillt.«
»Na prima«, knurrte Balke. »Dann kommen ja höchstens tausend Stellen im Umkreis von zehn Kilometern in Frage.«
»Was haben wir sonst?«
»Nichts«, erwiderte Vangelis.
Ich wies auf die Aktenordner, die immer noch auf meinem Tisch lagen. »Das hier ist doch wohl nicht alles.«
Balke nickte. »Da muss noch einiges im Archiv sein. Das da sind nur die wesentlichen Sachen.«
»Okay.« Ich versuchte, meiner Stimme Energie zu verleihen, Entschiedenheit, Kraft. »Sie besorgen bitte die kompletten Unterlagen. Und dann teilen wir die Akten unter uns dreien auf. Alles wird noch einmal gesichtet. Jedes einzelne Protokoll. Jede Notiz.«
»Warum nur wir drei?«, fragte Balke empört. »Was ist mit Rübe? Was ist mit dem Rest?«
»Sie beide sind meine besten Leute«, gab ich ihm mit meinem charmantesten Lächeln zur Antwort. »Und ich will nicht erleben, dass noch einmal etwas übersehen wird. Es ist unser letzter Versuch.«
»Ich hab da übrigens noch was«, sagte Balke, immer noch mürrisch. »Über diesen Braun …«
»Was ist mit dem?«
»Eine alte Geschichte. Wir haben nicht mal mehr eine Akte darüber, so lange ist das schon her. Ich habe es über meine Bekannte bei der Sparkasse erfahren, es muss vor ungefähr zwanzig Jahren gewesen sein, da hat ihn mal eine Kollegin angezeigt. Wegen sexueller Belästigung. Er muss ihr ziemlich derb unter den Rock gelangt haben.«
»Vor zwanzig Jahren war er schon verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes.«
Balke nickte wütend.
»Wie alt war die Frau, die er belästigt hat?«
»Belästigt ist gut!«, brummte er. »Das war nicht weit von einer Vergewaltigung. Siebzehn oder achtzehn war sie. Genau wusste das meine Bekannte auch nicht mehr.«
»Ist er verurteilt worden?«
»Sie hat die Anzeige später zurückgezogen. Er wird dem Mädel ein ordentliches Schmerzensgeld gezahlt haben.«
»Meinen Sie, Sie können noch mehr darüber in Erfahrung bringen? Vielleicht war das ja nicht der einzige Fall, wo er sich danebenbenommen hat?«
»Werd sehen, was sich machen lässt.« Balke grinste schon wieder. »Irgendwas geht ja immer.«
Eine halbe Stunde später lagen statt zwei nun sieben fette Leitz-Ordner auf meinem Tisch. Es würde Tage dauern, ihren Inhalt zu studieren. Aber wat mutt, dat mutt, sagte Theresa in solchen Situationen gern, obwohl sie gar nicht aus dem Norden, sondern aus Hanau stammte. Immerhin hatte sie eine Großmutter in Stade, glaubte ich mich zu erinnern.
Aktenstudium ist das Grauen. Vor allem, wenn man nicht weiß, wonach man sucht, und jede Winzigkeit entscheidend sein kann. Um die großen Sachen hatten sich die Kollegen damals schon gekümmert. Wenn es in diesem Papiergebirge noch eine unentdeckte Spur gab, dann war sie so harmlos, so unscheinbar, dass sie schon hundertmal übersehen wurde.
Wir suchten den restlichen Samstag und den kompletten Sonntag. Balkes Flüche wurden von Stunde zu Stunde drastischer. Vangelis’ Miene immer zweifelnder.
Wir fanden nichts.
Am Montag blieb mir nichts anderes übrig, als aufzugeben. Ich konnte es nicht verantworten, meine fähigsten Leute noch länger damit zu blockieren, einem Hirngespinst nachzujagen. Liebekind gab sich keine Mühe, seine Erleichterung zu verbergen.
Sogar meine Sekretärin schien sich inzwischen Gedanken um meinen Geisteszustand zu machen.
Ich fühlte mich wie ein gerade eingefangenes Raubtier. Am Sonntagabend war ich erst nach neun nach Hause gekommen. Meine Töchter hatten sich nach einem Blick in mein Gesicht in ihr Zimmer verkrochen. Nicht einmal Theresa schien noch mit mir reden zu wollen. Oder war es an mir, mich zu melden? Vermutlich fühlte sie sich vernachlässigt, und vermutlich hatte sie auch noch Recht damit. Nein, so konnte es nicht mehr weitergehen. Im Lauf des Tages fing ich allmählich an, mich damit abzufinden, dass ich verloren hatte.
Der Mann, der Jules Leben zerstört hatte, würde nun also doch ungestraft davonkommen. Wenn nicht ein Wunder geschah.
Ich stürzte mich in liegengebliebenen Verwaltungskram. Sönnchen versorgte mich mit irgendwelchen Papieren, die ich unterschreiben musste, und ich wusste, ich würde keinen Fehler machen, wenn ich ihren fürsorglichen Anweisungen Folge leistete. Nach dem Essen saßen wir eine Weile zusammen, unterhielten uns, und ich merkte, dass ich seit Stunden nicht mehr an Jule gedacht hatte. Nebenbei erfuhr ich, dass die fünf Kartons Wein unterwegs waren. Ihre Schwester hatte sie ans Präsidium adressiert.
»Hoffentlich kriegt Liebekind nicht mit, dass ich mir alkoholische Getränke ins Büro liefern lasse!«
Sönnchen lachte herzlich bei der Vorstellung.
Am Dienstag ging es weiter aufwärts. Zum ersten Mal seit Tagen hatte ich tief und traumlos geschlafen, und die Waage im Bad stellte offiziell fest, dass ich zwei Kilo abgenommen hatte. Plötzlich verstand ich mich selbst nicht mehr. Das ist doch das Erste, was man lernt als Polizist: Man darf sich nicht zu sehr einlassen, man darf nicht zu sehr Anteil nehmen an den Schicksalen, mit denen man zu tun hat, sonst geht man kaputt.
Jule war nicht geholfen, niemandem war geholfen, wenn ich den Täter jetzt noch stellte. Offenbar stellte er ja keine Gefahr mehr da, sonst hätte es Wiederholungstaten gegeben.
Manche Fälle bleiben eben unaufgeklärt.
Es gab genug anderes zu tun.
»Sie sollen zum Chef kommen, Herr Kriminalrat«, waren Sönnchens erste Worte am Mittwoch. »Sofort, hat er gesagt.«
»Sie haben es vermutlich schon gelesen?« Liebekind wedelte wieder einmal mit einem seiner Zeitungsausschnitte. »Wie, bitte schön, konnte das an die Presse gelangen?«
Ich setzte mich und überflog den Artikel, der wieder einmal mit JM gezeichnet war.
»Hatte Lehrer Verhältnis mit minderjähriger Schülerin?«, lautete die fette Überschrift.
Möricke schaffte es elegant, alles so zu formulieren, dass Seligmann ihn nicht wegen Rufmordes verklagen konnte. Alles blieb Vermutung, war an den richtigen Stellen mit Fragezeichen versehen. Am Ende blieb der erwünschte Eindruck, nur Seligmann könne der Täter sein, aus irgendwelchen undurchsichtigen Gründen würde er jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen.
»Ich glaube kaum, dass das aus unserem Haus kommt.« Ich schob Liebekind das Papier wieder hinüber. »Vielleicht hat er einen Vollzugsbeamten bestochen. Andererseits – so gut wie jeder hier weiß natürlich von der Sache.«
Liebekind lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Egal. Dieser Herr Möricke weiß wirklich, was er tut. Auf seine perfide Weise ist der Kerl ein Genie.«
»Und für Seligmann ist das eine Katastrophe. Am besten, er verkauft sein Haus und zieht weit weg.«
Liebekind dachte nach. Aber er kam zu keinem Ergebnis.
»Wir könnten eine Presseerklärung herausgeben«, schlug ich vor. »Wenigstens die Tatsachen klarstellen.«
»Nein.« Langsam schüttelte mein Chef den Kopf. »Ich denke, das werden wir lassen. Was dieser Seligmann vor zehn Jahren getan hat, ist zwar juristisch nicht von Belang. Aber es ist in meinen Augen moralisch zumindest fragwürdig. Und ausnahmsweise werden einmal nicht wir angegriffen. Dies hier …«, er schlug mit der flachen Hand auf Mörickes Artikel, als wollte er ein ekliges Insekt zerquetschen, »… ist eine Sache, die uns nicht betrifft.«
Erst als ich die schwere, gepolsterte Tür hinter mir zuzog, wurde mir bewusst, dass er diesmal überhaupt nicht mit einer seiner Zigarren herumgespielt hatte.
»Der Fall Ahrens wird geschlossen«, erklärte ich meiner Truppe bei der Morgenbesprechung. »Dafür werden wir unsere Aktivitäten verstärkt auf den Banküberfall konzentrieren.« Ich wandte mich an Vangelis. »Hilft es, wenn ich Ihnen weitere fünf Leute gebe?«
Sie nickte konzentriert. »Viel habe ich zwar nicht mehr. Aber den einen oder anderen Hinweis gibt es schon noch, dem wir nachgehen sollten.«
»Die DNA-Spuren an dem Handy?«
»Da sind wir dran. Ich habe vor, in den nächsten Tagen Speichelproben von allen Personen in der Nachbarschaft zu nehmen.«
»Und da wären immer noch diese Nachbarn, die in Urlaub sind«, warf Balke ein, »wie heißen die noch?«
»Habereckl«, antwortete Vangelis, ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen.
Wir diskutierten kurz, wen ich ihr zur Verfügung stellen konnte, um die Soko aufzustocken. Natürlich war auch Runkel dabei.
»Und machen Sie Druck dahinter«, wies ich Vangelis an. »Wir könnten einen Erfolg brauchen.«
Sie bedachte mich mit einem ihrer Blicke, für die ich sie manchmal gerne in eine dieser alten Jahrmarkt-Kanonen gestopft und auf den Mond geschossen hätte. Zugegeben, sie war meine beste Mitarbeiterin. Sie würde ihren Job auch ohne meine Ratschläge richtig machen. Aber ich konnte sie trotzdem nicht leiden.
Als das Stühlerücken begann, meldete sich mein Telefon. Seligmann.
»Hier lungern auf einmal jede Menge Leute vor meinem Haus herum«, erklärte er aufgeregt. »Sogar ein Übertragungswagen vom Fernsehen steht da!«
»Und was soll ich tun?«
»Dafür sorgen, dass die verschwinden. Ich kann ja nicht mehr aus dem Haus!«
»Hat jemand Ihr Grundstück betreten?«
»Das fehlte noch!«
»Dann bin ich leider machtlos. Die Straße ist öffentlicher Raum. Am besten, Sie halten sich versteckt, bis sich die Aufregung gelegt hat. Das wird erfahrungsgemäß nicht lange dauern.«
»Ich muss irgendwann mal einkaufen!«
»Lassen Sie sich was bringen. Vielleicht kann Ihre Nachbarin aushelfen?«
Den Rest des Vormittags verbrachte ich in Besprechungen, die meine geplagte Sekretärin letzte Woche auf meinen Wunsch abgesagt und neu terminiert hatte. Anschließend hatte ich wie üblich das Gefühl, zu nichts nütze zu sein. Was würde denn geschehen, wenn ich einfach nicht mehr zur Arbeit erschien, fragte ich mich. Wenn ein Polizist im Streifendienst krankfeierte, dann blieb ein Platz in einem Polizeiauto leer, dann fehlte einer. Wenn ich verschwinden sollte, dann würde dies vorerst höchstens Sönnchen beunruhigen. Und ansonsten würde alles genauso weiterlaufen wie immer.
Kurz vor Mittag kam ein schwitzender Paketbote mit fünf Kartons Meersburger Kerner.