24

Rebecca Brauns Blick irrte umher. »Harry?«, fragte sie. »Aber wieso denn, um Himmels willen?«

Sie sah mir in die Augen mit der unausgesprochenen Bitte, es nicht wahr sein zu lassen.

»Es tut mir so leid für Sie«, sagte ich betreten. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«

»Dass er mich betrügt, habe ich schon lange geahnt. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man auf einmal Gewissheit hat.«

Sie sprang auf, lief zum Fenster, als müsste sie es aufreißen, um Luft zu bekommen. Aber dann blieb sie abrupt davor stehen und senkte den Kopf. Ihre schmalen Schultern hoben und senkten sich. Die moderne elektrische Uhr an der Wand tickte. Irgendwo im Haus summte ein Gerät. Vielleicht eine Waschmaschine. Bei mir zu Hause stapelte sich die Schmutzwäsche auch schon wieder, da ich am vergangenen Wochenende nur zum Schlafen zu Hause gewesen war.

Endlich wandte Frau Braun sich um. »Es wird schwer werden«, sagte sie heiser. »Aber ich werde es schaffen. Wie lange wird er wohl eingesperrt?«

»Acht, zehn Jahre. Bei guter Führung kommt er früher raus. Aber eine Stelle bei einer Bank wird er nicht mehr finden.«

Sie setzte sich wieder an ihren alten Platz. Starrte eine Weile ungläubig den hellen Berberteppich an. Dann sah sie auf.

»Ich werde nicht mehr hier sein, wenn er zurückkommt.«

»Werden Sie Arbeit finden?«

»Warum nicht?«, fragte sie achselzuckend. »Ich bin nicht aus Zucker. Ich bin zäher, als Sie denken. Das Haus ist einiges wert. Es muss auch noch Geld da sein. Aktien. Wertpapiere.«

»Da bin ich mir leider nicht so sicher.« Ich fühlte mich elend bei diesem Satz. »Die Beute aus dem Bankraub wird natürlich eingezogen. Und Ihr Mann hat in den letzten Monaten eine Menge Unkosten gehabt.«

Ohne aufzusehen, schüttelte sie abwehrend den Kopf. »Ich bin auch früher klargekommen. Und im äußersten Fall habe ich ja immer noch David. Verhungern werde ich schon nicht.«

Nach langem Schweigen machte sie mit dem Kopf eine knappe Bewegung, die bedeutete, ich solle verschwinden.

 

»Was ist denn hier los?«, fragte eine durchdringende Frauenstimme in meinem Rücken, als ich die Wagentür aufschloss. Jetzt erst bemerkte ich, dass in der Einfahrt des grünen Hauses auf der anderen Straßenseite ein Wohnmobil stand. Habereckls waren aus dem Urlaub zurück, die einzigen Nachbarn von Seligmann, mit denen wir bisher nicht gesprochen hatten.

Frau Habereckl, eine aufrechte Weißblonde, deren schicke Kleidung nicht recht zu ihrem groben Gesicht und dem heruntergekommenen Häuschen passen wollte, gab sich keine Mühe, ihre Neugier zu verbergen.

»Was machen die ganzen Presseleute da drüben bei Herrn Seligmann? Sie sind Polizist? Ist irgendwas passiert? Wir haben gehört, Herr Braun sei verhaftet worden?«

»Dürfte ich hereinkommen?« Ich ließ sie meinen Ausweis sehen.

Eilfertig öffnete sie das frisch verzinkte und gut geschmierte Gartentörchen. Der Vorgarten war mit pflegeleichten Bodendeckern und stacheligen Sträuchern bewachsen und versprühte den Charme eines Familiengrabs.

»Woran haben Sie gesehen, dass ich Polizist bin?«

»Mein Vater war auch bei eurem Verein«, erwiderte sie heiter. »Meine beiden Brüder sind es noch. Man kriegt eine Nase dafür.«

Im Hausflur stapelte sich das übliche Chaos am Ende eines längeren Urlaubs. Taschen voller Kleidung, Plastikkisten angefüllt mit Lebensmitteln und bruchfestem Geschirr, Tüten voller Mitbringsel.

Der Herr des Hauses, ein schüchterner Mann, der einige Jahre älter zu sein schien als seine resolute Frau, begrüßte mich verlegen. Rasch kam heraus, dass seine Frau nur wenig über ihre Nachbarn zu erzählen wusste.

»Ich bin ja die meiste Zeit außer Haus«, erklärte sie. »Einer muss ja hier schließlich das Geld verdienen. Kaffee?«

Herr Habereckl zog schuldbewusst den Kopf ein. Ich lehnte den Kaffee ab.

»Er ist nämlich Künstler«, fügte sie mit einem verächtlichen Blick auf ihren Mann hinzu. »Wie erfolgreich, können Sie sich denken.« Sie machte eine achtlose Geste in den Raum, der billig und ein wenig chaotisch, für meinen Geschmack jedoch hübsch eingerichtet war. Die Möbel waren nicht neu, die Teppiche schon ein wenig abgestoßen. Aber man sah und fühlte, hier lebten Menschen und keine Selbstdarsteller.

»Sie malen?«, fragte ich freundlich.

Der Ehemann lächelte mich traurig an.

»Bildhauer«, sagte er in einem Ton, als wäre dies eine Sünde. »Ich habe auch schon ausgestellt! Es ist gar nicht so, wie sie immer sagt …«

»Ist schon gut, Schatz«, sagte die Frau und setzte sich neben ihn auf das bunt bezogene Sofa. »Wir sind beide hundemüde. Und wir haben uns unterwegs mal wieder fürchterlich gestritten.«

Er legte eine Hand auf ihr Knie. Sie kraulte seinen Nacken, als wäre er ein kranker Hund.

»Also wenn sonst keiner will, ich brauch jetzt wirklich ’nen Kaffee.« Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich schon wieder. »Sechshundertfünfzig Kilometer in dieser Kiste, mit der man nicht schneller als achtzig fahren kann!«

Sie verschwand in der Küche. Mir kam das gelegen.

»Was wissen Sie über Ihre Nachbarn?«, fragte ich den deprimierten Bildhauer. »Familie Braun und Herrn Seligmann?«

»Was man so sieht«, antwortete er bekümmert. »Hin und wieder guckt man aus dem Fenster, sucht nach Anregungen, Ideen …«

Vermutlich verbrachte Habereckl auf der Ausschau nach Inspiration den halben Tag hinter den Gardinen seines Ateliers im Obergeschoss. Ein wohlbekannter süßlicher Geruch im Haus hatte mir längst klargemacht, dass er auch gewisse nicht ganz legale Mittel zur Steigerung seiner Kreativität einsetzte. Im IKEA-Regal an der Stirnwand des Raums standen völlig unverborgen mehrere gläserne Wasserpfeifchen. Auch jetzt schien er nicht recht bei der Sache zu sein. Ständig blieb sein Blick an irgendetwas kleben. Seine Stimme war leise und kraftlos.

In der Küche klapperte umso lautstärker seine Frau herum. Zum Glück ließ sie sich Zeit mit dem Kaffee.

Mit stockenden Sätzen und begleitet von unsicheren Blicken erzählte Habereckl. Es stellte sich heraus, dass er ein guter, geduldiger Beobachter war. Dass Seligmann jeden Montag- und Donnerstagnachmittag wegzufahren pflegte, pünktlich wie die Uhr, wusste ich schon. Auch, dass Braun abends oft zum Sport fuhr und meist erst spät nach Hause kam, war mir nicht neu.

»Der ist ja kaum noch daheim. Ich meine, da ist es doch kein Wunder …« Mit einem besorgten Blick in Richtung Küchentür brach er ab.

»Wenn da drüben jemand über den Zaun steigt, dann könnten Sie das von Ihrem Fenster aus vermutlich ganz gut sehen?«

Er musterte mich verwirrt. »Schon. Aber …«

»Aber?«

»Man braucht das nicht. Man braucht nicht über den Zaun …«

Herr Habereckl liebte es, Sätze unvollendet zu lassen.

»Sondern?«

»Na ja …«

Warum quälte er sich mit der Antwort so?

»Es geht mich ja nichts an, ich meine, die sind schließlich …«

Ich fürchtete, dass der Kaffee nun bald fertig sein würde, und versuchte, die Sache ein wenig zu beschleunigen.

»Was geht Sie nichts an?«

»Na, was die … Der Zaun … ganz hinten, da, wo der große Rhododendron steht, da fehlt nämlich ein …«, er schluckte heftig, »… Stück.«

»Das heißt, man kann da einfach so von einem Grundstück zum anderen spazieren?«

»Man sieht es aber nur von hier. Von der Straße aus … es sind zu viele Pflanzen. Man sieht es auch nur von oben, von meinem Fenster.«

Mir kam ein Verdacht. »Und wen sieht man da so hin- und herspazieren?«

»Na ja, die … die arme Frau Braun doch. Sie ist so eine aparte Person. In den besten Jahren. Und der Mann nie daheim. Und natürlich denkt sie, kein Mensch merkt es, wenn sie hinübergeht … Oder auch mal er … Ich hab’s bisher auch niemandem … Nicht mal …« Wieder der furchtsame Blick zur Küche, wo inzwischen Ruhe eingekehrt war.

Das alte Spiel. Die verbotenen Früchte in der Bluse der Nachbarin. Also hatte sie Seligmanns Hausschlüssel nicht nur, um seine Tiere zu versorgen, sondern auch, um sich ein wenig um sein Wohlbefinden zu kümmern. Und daher die Aufregung, als er plötzlich verschwunden war.

»Wie lange geht das schon so?«

Leidend betrachtete er seine schwieligen Hände. Offenbar stand er doch nicht nur am Fenster. »Jahre. Vier? Fünf?« Er sah auf. »Sie war es«, murmelte er. »Sie war hinter ihm her. Nicht umgekehrt.«

Ich erfuhr, dass Rebecca Braun so gut wie jeden Tag morgens gegen neun das Haus zu verlassen pflegte, um ihren Nachbarn zu besuchen, und dort oft bis in den Nachmittag hinein blieb.

»Was tratschst du denn schon wieder?«, fragte Frau Habereckl fröhlich, die eben mit einem großen Becher in der Hand hereinkam. Der Kaffeeduft wehte ihr voraus. »Mein Gatte hat ja den lieben, langen Tag nichts anderes zu tun, als unsere armen Nachbarn zu bespitzeln.«

Sie stellte den Becher auf den altmodischen Couchtisch, an dem schon hie und da das Eichenholz-Furnier abplatzte, und schenkte ihrem Mann ein liebevolles Lächeln.

Draußen erhob sich plötzlich vielstimmiges Geschrei. Es klang, als schwebte jemand in akuter Lebensgefahr.

»Er hat ihn geschlagen!«, verstand ich, als ich eilig vor die Tür trat. »Der Irre dreht vollkommen durch!«

Die Journaille war in Aufruhr. Die Fernsehkamera lief, das Gesicht des Mannes dahinter war verzerrt vor Konzentration und Jagdfieber.

Ich lief hinüber. »Wer hat wen geschlagen?«, fragte ich den Ersten, den ich greifen konnte.

»Dieser Wahnsinnige in dem Haus da! Den Kollegen Möricke! Sehen Sie, ich glaub fast, er blutet sogar!«

»Was genau ist passiert?«

»Jupp wollte dem Mann bloß ein paar Fragen stellen. Ein kleines Interview. Ich hab ihn noch gewarnt. Jupp, sag ich noch, lass das lieber, der kann dich wegen Hausfriedensbruch drankriegen. Und stattdessen schlägt dieser Irre einfach zu! Reißt auf einmal die Tür auf, und rumms, haut er ihm einfach eine rein!«

Seligmann hatte meinen Rat befolgt und auf Mörickes Klingeln nicht reagiert. Da der aber wusste, dass sein Opfer im Haus war, blieb er einfach stehen und drückte wieder und wieder den Klingelknopf, hämmerte gegen die Tür, bis Seligmann schließlich der Kragen platzte. Er hatte seinem unerwünschten Besucher einen bemerkenswert gut gezielten Faustschlag versetzt.

Das Opfer des Anschlags saß mit käsigem Gesicht in seinem Ford Kombi und hielt sich eine kalte Colaflasche ans schon sichtbar anschwellende rechte Auge.

»Möchten Sie Anzeige erstatten?«

»Anzeige?« Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Nee. So leicht kommt mir der nicht davon. So leicht nicht! Das gibt eine richtig fette Story!« Er nahm die Flasche herunter. »Hat irgendwer Fotos gemacht?«

»Aber hallo!«, rief ein Riese, auf dessen Kugelbauch zwei Kameras baumelten. »Alles drauf.«

»Der arme Kerl«, meinte eine schmale, dunkelhaarige Frau neben mir. »Und das ausgerechnet an seinem Geburtstag!«

»Sie haben heute Geburtstag?«, fragte ich Möricke.

»Da ist drauf geschissen«, knurrte der. »Mir schenkt ja sowieso keiner was.«

Geburtstag. Geschenke. Das war es. Sekunden später war ich es, der an Seligmanns Tür bollerte.

»Machen Sie auf!«, rief ich. »Ich muss mit Ihnen reden!«

»Verschwinden Sie!«, hörte ich seine dumpfe Stimme. »Sagen Sie ihm, er soll mich ruhig verklagen. Und wenn er das nächste Mal mein Grundstück betritt, dann kriegt er noch eine aufs andere Auge.«

»Darum geht es nicht. Ich muss mit Ihnen reden. Bitte machen Sie auf!«

»Ich muss aber nicht mit Ihnen reden. Hauen Sie ab!«

Ich hörte, wie sich seine schweren Schritte entfernten. Also umrundete ich das Haus, und Sekunden später standen wir uns an der geschlossenen Terrassentür gegenüber.

»Sie sollen abhauen!«, sagte Seligmann und wollte sich abwenden. »Verstehen Sie kein Deutsch?«

»Es war nicht besonders schlau, sich den Mann zum Feind zu machen«, rief ich gerade so laut, dass er mich durch die Glastür hören musste. »Der wird jetzt alles daran setzen, Sie fertig zu machen.«

»Mich?«, keuchte er ungläubig und starrte mich aus wässrigen Augen an. »Mich fertig machen?«

Seine Stimme war schwerfällig. Vermutlich hatte er wieder einmal getrunken. Er stützte sich mit beiden Händen gegen den Türrahmen. Glotzte mich durch die ziemlich schmutzige Scheibe an.

»Also«, stöhnte er, als hätte er starke Kopfschmerzen. »Was wollen Sie?«

»Eine Frage nur. Vielleicht ist es die letzte Chance, den Kerl zu finden, der Ihrer Jule das angetan hat.«

»Meiner Jule«, murmelte er. »Wie sich das anhört. Meine Jule.«

»Sie haben doch damals hier Geburtstag gefeiert, nachts um zwölf.«

Er zog eine gequälte Grimasse. »Das wissen Sie doch alles schon.«

Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Schon wieder machte mich seine Trägheit wütend, seine Passivität, seine ganze widerliche Art. »Was ich aber nicht weiß«, herrschte ich ihn an, dämpfte meine Stimme aber sofort wieder, »Sie haben Ihrer kleinen Geliebten doch bestimmt auch was geschenkt.«

»Geschenkt?« Er starrte mich an wie ein Gespenst aus einem seiner Alpträume. »Was spielt das denn jetzt noch für eine Rolle, ob ich ihr was geschenkt habe?«

»Was war es? Was hat sie gekriegt von Ihnen?«

»So einen kleinen tragbaren CD-Spieler. Sie hatte sich das Ding so gewünscht. Und ein Tagebuch, eines, das man abschließen kann. Sie hatte Angst, ihre Mutter liest es sonst. Und sie wollte doch alles aufschreiben. Das war ihr wichtig. Dass nichts vergessen wird, hat sie immer wieder gesagt.«

»Dieser Discman, von welcher Firma war er? Welcher Typ? Was für eine Farbe hatte das Tagebuch?«

»Warum ist das denn so wichtig? Das Buch war rot, glaub ich.«

»Weil in unseren Akten weder ein Discman noch ein rotes Buch erwähnt wird. Haben Sie vielleicht den Kassenzettel noch irgendwo? Eine Bedienungsanleitung?«

Er schüttelte müde den Kopf.

»Sehen Sie nach. Vielleicht haben Sie ja doch noch irgendwas. Und wenn Sie was finden, rufen Sie mich an, okay?«

»Sie hat ihn gleich ausprobiert«, sagte er langsam und nun so leise, dass ich ihn durch die geschlossene Glastür kaum noch verstehen konnte. »Sie hat noch überlegt, wie sie das Ding daheim in ihr Zimmer schmuggelt. Die Eltern durften ja nichts davon wissen. Ich hab die Verpackung dann weggeworfen, jetzt fällt’s mir wieder ein. Und da wird auch der Kassenzettel dabei gewesen sein. Goldfarben war er. Ein japanisches Modell. Es war der Teuerste, den sie hatten. Jule fand, er hatte einen wunderbaren Klang.«

Den letzten Satz hatte ich mehr erraten als gehört.

 

»Hast du Lolita gelesen?« Theresa sah nachdenklich dem Rauch ihrer Zigarette nach.

»Die ersten hundert Seiten. Dieser Nabokov war doch pervers. An einen besonders ekligen Satz erinnere ich mich noch: Die Lippen so rot wie ein abgeleckter Bonbon. Und das Mädchen war zwölf!«

»Vielleicht hättest du weiterlesen sollen. Vielleicht hättest du dann eine bessere Meinung von ihm. Es war ein reines Miss-Verständnis, dass das Buch in der ersten Auflage in einem Pariser Verlag erschien, der auf Pornografie spezialisiert war. Der Lektor hatte vermutlich auch nicht weiter gelesen als du.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Monsieur Humbert war über vierzig, und seine Lolita war zwölf, du erinnerst dich richtig. Und als sie es zum ersten Mal miteinander trieben, da ist sie auf ihn gestiegen und nicht umgekehrt.«

»So weit bin ich gar nicht gekommen. Aber sie war ein Kind, genauso wie Jule.« Ich schmiegte meine Wange an ihre weiche Schulter. »Immerhin war er nicht auch noch ihr Lehrer.«

»Schlimmer als das: Er war ihr Vater. Oder genauer, der Mann von Lolitas Mutter.« Theresa drückte die Zigarette in dem gläsernen Aschenbecher aus, der auf ihrem bloßen Bauch stand, stellte ihn ruhig beiseite und wandte sich mir zu. Mit dem Zeigefinger stupste sie gegen meine Nase.

»Mein geliebter Alexander«, sagte sie mit ihrer rauchigen Stimme, die ich so liebte. »Manchmal könnte man denken, du lebst im falschen Jahrhundert.«

»Unzucht mit einer Schutzbefohlenen«, murrte ich. »Paragraph hundertvierundsiebzig, StGB, Absatz eins.«

Sie küsste mich auf den Mund. »Ja, Herr Kriminalrat, ich weiß. Du sprichst schon wie Egonchen. Aber dummerweise, oder vielleicht auch glücklicherweise, gibt es manchmal einen Unterschied zwischen euren Gesetzen und dem wirklichen Leben.«

»Ungesetzlich war es nicht, das ist richtig. Da hat der Drecksack schon gut aufgepasst. Aber es war unmoralisch in meinen Augen. Das Mädchen hätte möglicherweise jahrelange Therapien gebraucht, um halbwegs ins psychische Gleichgewicht zu kommen und normale Beziehungen zu normalen Männern aufnehmen zu können. Männern, die nicht ihr Opa sein könnten!«

Ihre Hand fuhr über meine Brust, streichelte meinen Bauch. Blieb dort ein Weilchen liegen. Dann gab sie mir einen kräftigen Klaps.

»Soll ich dir erzählen, wie es damals bei mir war? Auf die Gefahr hin, dass du gegen meinen ersten Liebhaber ein Ermittlungsverfahren einleitest? Obwohl das fast dreißig Jahre her ist. Ich nehme an, seine Schandtat ist inzwischen verjährt.«

»Gestehe, wer war das Schwein?«

»Mein Klavierlehrer.« Mit verträumtem Lächeln sah sie irgendwohin. »Er war Orchestermusiker an der Philharmonie in Frankfurt. Ein Traum von einem Mann! Anfang dreißig, für mich natürlich sehr erwachsen. Zum ersten Mal gesehen habe ich ihn bei einem Konzert. Liszt, das zweite Klavierkonzert, A-Dur, ich weiß es wie heute. Am übernächsten Tag war dann sein Bild in der Zeitung, den Artikel habe ich bestimmt noch irgendwo. Gerald hieß er, und irgendwie habe ich meine Eltern herumgekriegt, dass ich Klavierstunden bei ihm nehmen durfte, obwohl es furchtbar teuer war und eine elende Fahrerei nach Sachsenhausen und zurück.«

»Du spielst Klavier? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Ich hätte sogar um ein Haar Musik studiert. Und ich spiele fast jeden Tag ein wenig. Bei weitem nicht mehr so gut wie in meinen besten Zeiten, aber immer noch ganz passabel.«

Ich begann sie zu streicheln. »Eine Frau voller Wunder und Rätsel«, sagte ich in ihr Ohr. »Und weiter?«

»Während der zweiten oder dritten Stunde muss es gewesen sein, er saß ganz nah bei mir, hat manchmal meine Unterarme angefasst, um die Haltung der Hände zu korrigieren, und er roch so überwältigend nach Mann. Und da habe ich beschlossen: Diesem werde ich meine Unschuld opfern.«

»Und? Hast du ihn rumgekriegt?«

»Was für eine Frage.« Theresa lachte in sich hinein. »Er war ein Mann!«

»Der arme Kerl.« Ich knuffte sie in die Seite. »Okay. Ich weiß, dass junge Frauen verdammte Biester sein können, aber …«

»Wenn es dich beruhigt, ich war immerhin schon siebzehn.«

»Theresa, ich finde das nicht lustig. Und ich möchte jetzt nicht mehr über dieses Thema sprechen. Ich liebe deine Brüste, du verdorbenes Weib.«

»Lenk nicht ab!« Zärtlich schob sie meine Hand weg. »Es war so unglaublich schön mit ihm«, murmelte sie nach einer Weile andächtigen Erinnerns. »Er hatte so sensible Hände.«

Plötzlich öffnete sie die Augen, sah mir ins Gesicht. Ihr Lächeln war erloschen. »Und weißt du was? Es war tausendmal besser, als es mit einem dieser pickligen, ständig schwitzenden und nach Hammel riechenden Jungs in meinem Alter jemals hätte sein können. Bei Gerald habe ich in wenigen Wochen so vieles gelernt.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Dass Sex, Lust auf Sex, etwas ist, wofür man sich nicht schämen muss. Alle meine Freundinnen haben sich schrecklich geschämt nach dem ersten Mal. Hatten Gewissensbisse nach dem ersten Versuch mit einem dieser pickligen Amateure. Ich dagegen habe mich nie geschämt, weil Gerald mir das Gefühl gab, dass alles richtig und normal war, was wir taten. Dass es so sein muss. Weil die Natur es so will.«

Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach.

»Der einzige kleine Nachteil bei der Geschichte …« Theresa gluckste. »… ich kann seither nicht mehr Klavier spielen, ohne an Sex zu denken. Hätte ich Musik studiert, ich wäre zur Nymphomanin geworden.«

Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Er hat so gut gerochen«, murmelte sie dann verträumt. »Ein wenig nach wildem Tier. So wie du.«

»Was macht er heute?«

»Ich weiß es nicht. Unser Verhältnis dauerte nicht einmal drei Monate. Und auch wenn es bestimmt gegen irgendwelche Paragraphen verstößt, auch wenn du es unmoralisch findest, weil er doppelt so alt war wie ich – wir waren glücklich.«

Ich streichelte sie eine Weile still.

»Jetzt könntest du es noch mal sagen«, gurrte sie und schmiegte sich in ganzer Länge an mich.

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Das mit meinen Brüsten.«