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Am Mittwoch hatte Möricke es endlich in die überregionale Presse geschafft. Die Bild-Zeitung brachte seine Geschichte sogar als Aufmacher, und aus einem Faustschlag aufs Reporterauge war ein nur knapp gescheiterter Mordversuch an einem Vertreter der vierten Gewalt geworden, der im Dienste der Wahrheit unerschrocken sein Leben riskierte. Der Artikel im Kurpfalz-Kurier nahm fast eine ganze Seite ein. Ein großes Foto zeigte genau den Moment, in dem Seligmanns Faust in Mörickes ziemlich dümmlich dreinschauendes Gesicht fuhr. Die Frage, ob Seligmann juristisch oder moralisch schuldig war, stellte sich nun nicht mehr. In den Augen der Öffentlichkeit war er durch diese Tat zur Bestie geworden. In gewählten Worten diskutierte Möricke die Frage, wie lange die Strafverfolgungsbehörden einen solchen Sittlichkeitsverbrecher und gefährlichen Gewalttäter noch frei herumlaufen lassen wollten.

»Der Professor hat vorhin schon angerufen«, eröffnete mir Sönnchen, als sie das Frühstück servierte. »Ob Sie um zehn Zeit für ihn hätten. Der Herr Braun möchte nämlich ein Geständnis ablegen.«

Und wie ich Zeit hatte!

»Und dann möchte die Frau Vangelis gerne mit Ihnen reden. Es sei wichtig.«

Als Erstes versuchte ich jedoch, Seligmann zu erreichen, um ihn zu besänftigen, falls er den Artikel schon gelesen haben sollte, und zu fragen, ob ihm noch etwas zu Jules Geschenken eingefallen war. Aber sein Telefon war besetzt.

Dann rief ich Vangelis an.

»David Braun und Thorsten Kräuter haben tatsächlich einige Zeit zusammen in Marburg studiert«, teilte sie mir aufgeräumt mit. »Kräuter kam ein Jahr später als David Braun nach Marburg, und sie haben sogar in derselben WG gewohnt. Bis Kräuter von der Uni flog, weil irgendetwas vorgefallen war. Was, lasse ich gerade recherchieren.«

»Damit hätten wir also über seinen Sohn eine mögliche Verbindung zwischen Braun und Bonnie and Clyde. Er wird seinen David vielleicht mal in Marburg besucht haben. Dabei hat er Kräuter kennen gelernt, und später, als er auf die Idee kam, seine eigene Bank auszurauben, hat er sich an ihn erinnert.«

Bevor wir auflegten, erzählte ich Vangelis noch von Jules Geburtstagsgeschenken. Vangelis reagierte nicht gerade euphorisch.

»Schön und gut«, sagte sie. »Aber wie sollen wir diese Sachen finden, jetzt, nach zehn Jahren? Wir wissen doch nicht einmal, wo wir anfangen sollen zu suchen.«

Da hatte sie natürlich Recht. Sönnchen hatte durch die offene Tür mitgehört, aber nur die Hälfte verstanden.

»Ein Discman?«, rief sie neugierig. »Gibt’s die Dinger denn überhaupt noch? Meine Nichten und Neffen haben jetzt alle diese kleinen MP3-Player. Was ist mit dem Ding?«

So erzählte ich die Geschichte mit größerer Lautstärke ein zweites Mal und bat sie, nur sicherheitshalber, mir noch einmal die Liste der Dinge zu bringen, die Jule bei der Einlieferung ins Krankenhaus bei sich gehabt hatte. Minuten später brachte sie mir ein einziges kopiertes Blatt. Während ich an meinen Croissants knabberte, las ich, dass Jule damals eine schwarze Handtasche aus glattem Leder mit sich geführt hatte. Darin die Utensilien, wie ich sie auch bei meinen Töchtern gefunden hätte: zwei Lippenstifte, ein Labello, ein buntes Puderdöschen, ihr schmales Schlüsselbund mit einem Plüschbärchen als Anhänger, der Kinderausweis, der sicherlich am nächsten Tag gegen einen richtigen, echten »Perso« ausgetauscht worden wäre, der Traum jedes Menschen zwischen vierzehn und sechzehn. Daneben Jules Schülerausweis, die Monatskarte für die Straßenbahn, mehrere Sorten Kaugummi und der übrige Krimskram, der sich mit der Zeit in jeder Handtasche anzusammeln pflegt.

Am Hals hatte sie eine billige Kette aus bunten Glaskugeln getragen, am linken Unterarm einen silbernen Reif mit eingraviertem Namen, an den Ohren ebenso silberne, leichte Ringe. Sonst hatte sie nichts bei sich gehabt, außer dem, was sie am Leib trug. Was ja nicht viel war.

Ich probierte noch einmal Seligmanns Nummer. Aber es war immer noch besetzt. Vermutlich hatte er den Hörer neben sein vorsintflutliches Telefon gelegt.

 

Pünktlich um zehn Uhr klopfte es – der Einzug der Gladiatoren. Voran Professor Breitenbach, gefolgt von Braun, Vangelis und natürlich Balke, der sich das Erlebnis auch nicht entgehen lassen wollte. Sönnchen schloss die Tür hinter ihnen, alle nahmen Platz, der Anwalt klappte eine in hellbraunes Kalbsleder gebundene Mappe auf, sah sich um, ob auch alle aufmerksam zuhörten, und begann mit leiernder Stimme zu lesen. Es kam eine Menge Paragraphen. Aber es waren nicht die richtigen. Ich verstand Worte wie »Insidergeschäfte«, »Veruntreuung« und noch ein paar andere, die absolut nicht in den erwarteten Kontext passten. Nicht nur Balkes Gesicht wurde länger und länger.

Professor Breitenbach klappte seine Mappe achtsam zu. »Mein Mandant wird weiterhin von seinem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen.«

Dann schwieg er.

»Das heißt also …«, begann ich endlich mit belegter Stimme. »… Herr Braun behauptet, er hätte mit dem Bankraub gar nichts zu tun?«

»So ist es.«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat er lediglich ein paar nicht ganz legale Aktiengeschäfte getätigt?«

»So ist es.«

»Aber es gibt keinen Geschädigten!«, erklärte Braun mit heiserer Stimme. »Ich lege Wert auf die Feststellung, dass niemand geschädigt wurde!«

So viel hatte ich während des Paragraphengewitters doch verstanden: Braun war einem Bekannten gefällig gewesen. Der war ein hohes Tier in der Finanzverwaltung einer Münchner Versicherung. Kennen gelernt und angefreundet hatten sie sich bei einem Tennisturnier in Ulm. Der Münchner hatte Braun später regelmäßig gebeten, von seinem Geld, aber auf Brauns Namen, Aktien seines Arbeitgebers zu kaufen oder zu verkaufen. Immer dann, wenn einige Tage später gute Unternehmensnachrichten über die Agenturen gingen, hatte es Kauforders gegeben, immer kurz vor schlechten Nachrichten wurde verkauft.

Im Lauf von zweieinhalb Jahren hatte Brauns Bekannter auf diese als Insidergeschäft natürlich unter Strafe stehende Weise runde fünf Millionen verdient, rechnete Braun uns vor. Er selbst habe fünf Prozent bekommen, später zehn. Und vor einem halben Jahr etwa hatte er beschlossen, das sei ein bisschen wenig. Sein ebenso einfacher wie einträglicher Gedanke war, immer dieselben Orders zu geben wie sein Kompagnon. Zu kaufen, wenn der kaufte, und zu verkaufen, wenn der andere seine Aktien abstieß. Da er nicht über genügend flüssige Mittel verfügte, hatte er ohne deren Wissen Kundengelder investiert und einige Zeit später wieder auf die Konten zurücktransferiert, wohin sie gehörten. Keiner dieser Kunden hatte etwas davon bemerkt, und in der Tat war offenbar niemandem ein Schaden entstanden, wenn man davon absah, dass an der Börse zu jedem, der Gewinne macht, ein anderer gehört, der diese durch seine eigenen Verluste bezahlt.

Anfang April hatte die Unternehmensleitung in München die Übernahme eines schweizerischen Konkurrenten bekannt gegeben, und der Kurs der Aktie war innerhalb einer Woche um nahezu vierzig Prozent gestiegen. Selbstverständlich waren auch Braun und sein Partner unter den Profiteuren dieses Glücksfalls gewesen. Und anschließend war Heribert Braun reich. Damit er nicht aufflog, war Braun selbst nie in Erscheinung getreten, sondern hatte seine Céline als Strohfrau vorgeschoben. Alle Geschäfte waren an der Luxemburger Börse getätigt worden, über ein Konto, das auf ihren Namen lief, und die Gewinne waren dort geblieben.

Ich warf Balke einen alarmierten Blick zu, der verstand sofort, sprang auf und verließ eilig den Raum. Augenblicke später war er wieder da.

»Sie nimmt das Telefon nicht ab«, flüsterte er mir, von Braun argwöhnisch beobachtet, ins Ohr. »Die eifersüchtige Nachbarin sagt, sie sei am frühen Morgen mit auffallend viel Gepäck in ihren Flitzer gestiegen und weggefahren.«

Brauns Augen wurden rund. »Das Dreckstück!«, knurrte er und schlug auf den Tisch, dass es schepperte. »Dieses gottverdammte, miese Dreckstück!«

 

»Und jetzt?«, fragte Balke betreten, nachdem Braun samt Anwalt abgezogen war. Natürlich würden wir Braun noch heute auf freien Fuß setzen müssen. Irgendwann würde er zu einer Geldstrafe verurteilt werden, und seinen Posten war er natürlich los. »Wie geht’s jetzt weiter?«

»Jetzt gucken wir erst mal dumm«, meinte Vangelis gut gelaunt. »Und dann knöpfen wir uns David vor.«

»Warum?«, fragte ich verdutzt.

»Schließlich hat auch er Kräuter gekannt. Und auch er hat gewusst, dass Geld im Tresor lag.«

»Dafür ist es zu früh«, entschied ich nach kurzem Nachdenken. »Ich will nicht noch eine Blamage erleben. Jetzt warten wir erst mal die Ergebnisse der DNA-Analysen ab. Sie haben doch auch von ihm eine Probe genommen?«

Sie nickte. »Selbstverständlich!«

Sönnchen streckte den Kopf herein. »Die Frau Doktor Steinbeißer würde Sie gerne zu einem Gespräch sehen.«

»Doch nicht etwa heute?«, fragte ich frustriert.

»Sofort, hat sie gesagt.«

Der gute Draht zur Staatsanwaltschaft ist für einen Kripochef eines der höchsten Güter. Und mein Draht zu Frau Doktor Steinbeißer war leider alles andere als gut. Seufzend erhob ich mich.

»Nehmen Sie lieber meinen Schirm, Herr Kriminalrat«, meinte meine Sekretärin. »Es sieht nach Regen aus.«

Da ich mich aber ungern mit einem geblümten Knirps in der Öffentlichkeit blicken ließ, lehnte ich ihr Angebot dankend und vermutlich ziemlich mürrisch ab. Ich überquerte den Römerkreis bei Rot, und so stand ich kaum zehn Minuten später vor der Leitenden Oberstaatsanwältin. Das Gespräch dauerte zum Glück nicht lange. Frau Doktor Steinbeißer zählte nicht zu den Menschen, die gerne Zeit mit Freundlichkeiten vergeuden.

Ich legte ihr das Verhörprotokoll vor, das Sönnchen vorhin eilig getippt und Braun unterzeichnet hatte, und sie ließ sich von mir die Zusammenhänge noch einmal erläutern. Zu meiner Verblüffung schien sie mit mir und meinen Leuten zufrieden zu sein, und am Ende brachte sie sogar so etwas wie ein anerkennendes Lächeln zustande. Aber natürlich konnte sie es sich nicht verkneifen, mich in ernsten Worten darauf hinzuweisen, dass der wirkliche Hintermann des Bankraubs nun noch immer frei herumlief. Als ob ich das nicht selbst gewusst hätte.

»Wir haben da auch ein paar neue Erkenntnisse«, erklärte ich, ohne rot zu werden. »Mit einem bisschen Glück kann ich Ihnen noch heute Nachmittag den Täter präsentieren.«

Ich berichtete ihr von unserem Anfangsverdacht gegen David Braun. Meiner Bitte, einen Durchsuchungsbefehl für das Haus der Familie auszustellen, kam sie nicht nach.

»Dazu müssten Sie mir schon ein wenig mehr bringen als einen so vagen Verdacht, mein lieber Herr Gerlach.«

»Mein lieber« hatte sie mich noch nie genannt. Sie würde doch nicht auf ihre alten Tage rührselig werden? Das Pflaster an ihrer Wange war schon wieder verschwunden. Die parallel laufenden Kratzer sahen wirklich aus, als stammten sie von einer Katze. Das Tier war mir spontan sympathisch.

So stand ich kurz nach elf schon wieder draußen in dem leichten Regen, der inzwischen eingesetzt hatte. Aber immer noch lieber feuchte Haare als ein Schirm mit gelben Rosen. Auf dem eiligen Rückweg erinnerte ich mich wieder an Jules Discman und das rote Tagebuch. Aber Vangelis hatte natürlich Recht. Falls die Sachen nicht längst im Müll gelandet waren, dann verstaubten sie heute in irgendeiner dunklen und seit Jahren nicht mehr geöffneten Schublade. Und wie sollten wir in einer Stadt von der Größe Heidelbergs diese eine Schublade finden?

Zwei Enten in dem großen Bassin vor dem futuristischen Gebäude der Polizeidirektion beobachteten interessiert, wie ich mein Handy zückte, um noch einmal Seligmann anzurufen. Immer noch besetzt. Die Enten schienen ein wenig enttäuscht, als ich das Handy wieder einsteckte. Vielleicht hatten sie erwartet, dass ich es in Stücke riss und nach und nach ins Wasser warf.

Nein, dieser Discman war wirklich nichts weiter als eine Spur mehr, die ins Nirgendwo führte. Nun hatten wir also einen Fall aufgeklärt, von dem wir heute Morgen noch gar nichts wussten. Und sowohl in der Bankraub-Sache als auch im Fall Jule Ahrens standen wir wieder am Anfang.

Meine Haare waren nicht feucht, sondern triefend nass, als ich langsamer als sonst die Treppen zu meinem Büro hochstieg.

Es erwartete mich eine strahlende Sekretärin. Ich hatte keine Lust auf eine unserer üblichen Plaudereien und wollte an ihr vorbei. Aber irgendetwas in ihrem Blick ließ mich zögern.

»Was gibt’s?« Ich sank auf einen Stuhl. »Ihre Schwester ist doch nicht etwa schon wieder schwanger?«

»Ich hab beim Fundbüro angerufen!«, sagte sie, als wäre dies eine sensationelle Heldentat.

»Hatten Sie was verloren? Entschuldigen Sie, vermutlich haben Sie mir davon erzählt, aber ich weiß zur Zeit nicht …«

»Nicht ich. Jule Ahrens hat was verloren.«

»Aha.«

»Ich kenn doch den Friedrich beim Fundamt. Wir singen seit Ewigkeiten zusammen im Chor. Und da hab ich gedacht, rufst du den doch einfach mal an. Zum Glück heben die ja alle Unterlagen bis zum Jüngsten Tag auf.«

»Sie wollen doch nicht etwa andeuten, der Discman sei damals gefunden worden?«, fragte ich langsam.

»Zwei Tage später, am neunten Juli. Natürlich ist er nie abgeholt worden, und sechs Monate später haben sie ihn dann versteigert. Einer von diesen Trödlern in der Altstadt hat ihn gekauft. Für dreiundzwanzig Mark, stellen Sie sich das mal vor, und dabei hatte er mindestens zweihundert gekostet und war noch ganz neu …«

»Sönnchen«, stöhnte ich. »Bitte!«

Sie lachte auf. »Sie möchten wissen, wo er gelegen hat? Das konnte mir der gute Friedrich leider auch nicht sagen. Aber dafür hat er mir die Adresse von der Finderin gegeben, einer gewissen Frau Poschardt. Sie wohnt in Handschuhsheim, zum Glück immer noch. Ich hab grad mit ihr telefoniert. Sie war damals nämlich jeden Morgen joggen in der Gegend, hat sie mir erzählt, jetzt hat sie aber Probleme mit …«

»Bitte«, stöhnte ich. »Seien Sie gnädig!«

»Bei einer Grillhütte im Mühltal. Das ist nördlich vom Heiligenberg, falls Sie es nicht wissen.«

»Daher das verkohlte Holz in ihrem Haar, das Laub …«

»Und jetzt?«, wollte sie wissen. »Was passiert jetzt?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Haben Sie nicht eine Idee?«

»Aber klar«, rief sie fröhlich. »Das Forstamt! Für Grillhütten ist doch das Forstamt zuständig.«

Tage-, wochenlang quält man sich herum. Es ist wie Rühren in einem unendlich zähen, klebrigen Teig. Es ist so unsäglich schweißtreibend und frustrierend und führt zu nichts und nichts und noch einmal nichts. Und dann fällt irgendwo ein Groschen, und plötzlich ist alles ganz einfach.

Sönnchen brauchte keine zwei Minuten, dann hatte ich einen Förster an der Strippe, der zum Glück über eine Eselsgeduld und ein phänomenales Gedächtnis verfügte.

»Ja, ich erinnere mich«, brummte er ohne Begeisterung. »In dem Sommer haben da manchmal ein paar junge Burschen rumgehangen. Fast jeden Abend hat man sie bei der Hütte gesehen. Ich hab sie dann ein bisschen im Auge behalten. Manchmal ist später irgendwas kaputt, und dann will’s keiner gewesen sein.«

»Können Sie sich an die Gesichter erinnern?«

»Das wär ein bisschen viel verlangt, meinen Sie nicht?«, lachte er spöttisch. Offenbar ging ich ihm auf die Nerven. »Vier oder fünf sind es gewesen. Der Älteste muss schon achtzehn gewesen sein, da war immer ein Auto, ein kleiner aufgemotzter Fiat. Die anderen waren jünger, die sind immer auf Mopeds gekommen. Und so haben die Bürschchen ja auch ausgesehen. Möchtegern-Rocker halt, Hell’s Angels fürs Kinderzimmer, hat mein Kollege mal gesagt. Dicke Lederjacke, großes Getue und möglichst viel Bier. Aber die waren keine von der schlimmen Sorte. Die sind aus ordentlichen Familien gewesen, das hat man gemerkt. Am nächsten Morgen war immer alles im Mülleimer, was da reingehört. Was ist mit denen? Warum wollen Sie das überhaupt wissen?«

»Es geht um einen verschwundenen Discman.«

»Haben die Burschen geklaut?«

Sönnchen stand mit vor Aufregung blasser Nase in der Tür. Ihr Blick klebte an meinem Mund.

»Ich habe jetzt keine Zeit, es Ihnen zu erklären. Sind Sie sicher, dass es wirklich Anfang Juli war?«

»Sie stellen vielleicht Fragen. Lassen Sie mich überlegen.« Ich wechselte den Hörer ans linke Ohr. Hörte Papier rascheln. Sönnchen konnte nicht mehr still stehen und setzte sich gespannt wie eine Feder mir gegenüber auf den Besucherstuhl.

»Ich heb mir die alten Kalender ja immer auf. Auch wenn die jungen Kollegen drüber lästern, mit ihren elektronischen Dingern. Bin gespannt, was die mal machen, wenn sie in zehn Jahren gefragt werden, was heute war. Ich sag immer, man weiß nie, wozu es mal nütze ist, und so ein Kalender frisst ja kein Brot. Ah, richtig, Anfang Juli, genau, da war damals dieser Brand.«

»Welcher Brand?«

»Ein paar Kilometer weiter hat ein Wäldchen gebrannt. Das Übliche. Illegales Grillfest im Freien, Feuer nicht ordentlich gelöscht und todsicher besoffen heimgefahren. Natürlich haben wir sie nicht gekriegt. Wir kriegen diese Typen ja so gut wie nie, und den Schaden hat dann der Staat. Aber er war zum Glück nicht so groß, der Schaden. Der Bestand war nicht mal zehnjährig. Das ist schon wieder nachgewachsen.«

Wieder raschelte er eine Weile herum. »Also, ich würd mal sagen …«, erklärte er mir schließlich bedächtig. »Ich weiß es nicht. Im Juni sind sie jedenfalls fast jeden Abend da gewesen. Und irgendwann sind sie nicht mehr gekommen. Mehr kann ich nicht dazu sagen.«

»Tja«, seufzte ich. »Dann haben wir wohl keine Chance, sie noch zu identifizieren.«

Sönnchen sank mit einem leisen Pfeifen in sich zusammen.

»Wieso?«, fragte der Förster verständnislos. »Klar kriegen Sie die.«

»Wie das?«

Sönnchen nahm wieder Haltung an.

»Ich kann Ihnen die Kennzeichen von den Mopeds geben und das von dem Fiat auch. Ich schreib mir so Sachen nämlich gern auf. Falls später mal was ist.«

In aller Regel küsse ich keine Männer. Aber diesen hier hätte ich geküsst, selbst wenn er noch so sehr nach Pfeifenrauch gestunken und mich mit Tannenharz verklebt hätte. Geduldig diktierte er mir die Nummern.

»Dieser Discman, was ist denn damit? Ist das nicht ein bisschen viel …?«

»Wenn es klappt, dann werden Sie es morgen lang und breit in der Zeitung lesen«, unterbrach ich ihn und legte einfach auf.

Eine halbe Stunde später lag ein Blatt auf meinem Schreibtisch, auf dem Sönnchen mit ihrer reinlichen Handschrift vier Namen notiert hatte: Sebastian Kohl, Ferdinand Vollmer, Ralf Zweibrodt und David Braun.