27
Niemand öffnete auf mein stürmisches Läuten. Wieder und wieder drückte ich den polierten Messingknopf. Der Drei-klang-Gong im Inneren des Hauses dröhnte und dröhnte. Vom Gehweg her beobachteten uns Möricke und sein Fotograf. Alle anderen Vertreter der Presse hatten sich inzwischen anscheinend wichtigeren Ereignissen zugewandt.
»Versuchen wir es hinten!«, rief ich hablaut.
Wir liefen um das Haus herum, und wie ich gehofft hatte, stand die Terrassentür ein wenig offen. Innen war alles still. Niemand antwortete auf unser Rufen.
Es war diese Art von Stille, die einen sofort das Schlimmste fürchten lässt.
Wir fanden Rebecca Braun im ehelichen Schlafzimmer. Gekleidet war sie in demselben dunkelgrünen Kleid, das sie auch getragen hatte, als ich sie zum ersten Mal sah, und das so schön mit der Farbe ihres Haars harmonierte. Der scharfe Geruch verbrannter Nitrozellulose hing in der Luft.
In der Schläfe ein kleines, unscheinbares Loch.
Sie konnte noch nicht lange tot sein.
Wie aufgebahrt lag sie auf diesem Bett, unter ihr eine schwere karmesinrote Tagesdecke. Frau Braun trug Ohrringe, ihr Mund war heute sogar ein wenig geschminkt. Offenbar hatte sie sich eigens fein gemacht für die letzten Sekunden ihres Lebens. Ihre linke Hand ruhte entspannt auf dem Bauch, die rechte hing seitlich vom Bett herab. Sie hatte kaum Blut verloren.
»Nahschuss«, konstatierte ich und sah unters Bett. »Aber ich sehe hier keine Waffe. Das war vielleicht doch kein Selbstmord.«
»Sehen Sie nur«, murmelte Vangelis erschüttert, »jemand hat ihr die Augen zugedrückt!«
»Da kommt eigentlich nur einer in Frage.«
Sie telefonierte schon nach der Spurensicherung.
Ich zückte ebenfalls mein Handy und ließ mich mit der Einsatzzentrale verbinden.
»Fahndung nach Xaver Seligmann.« Ich beschrieb seinen hellblauen Mazda. »Die Nummer und alles, was Sie sonst noch brauchen, erfahren Sie von meiner Sekretärin. Dringende Warnung: Der Mann ist vermutlich bewaffnet und unberechenbar.«
»Da, ein Brief.« Vangelis deutete auf einen schmalen Umschlag, der auf dem Nachttisch an einem teuer aussehenden Tiffany-Lämpchen lehnte. »Er ist an Sie adressiert.«
Also doch Selbstmord?
»Stopp!«
Ihre Hand zuckte zurück. Auch sie schien inzwischen erschöpft zu sein, denn in wachem Zustand wäre meiner Kollegin ein solcher Anfängerfehler niemals unterlaufen. Durch das offen stehende Fenster hörte ich Möricke draußen aufgeregt telefonieren. Er musste gerochen haben, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war.
»Aber warum?«, fragte Vangelis tonlos. »Weil wir ihren Sohn verhaftet haben?«
»Nein, da steckt mit Sicherheit mehr dahinter. Vergessen Sie nicht den Bankraub, den sie ja möglicherweise organisiert hat. Warten Sie, bis wir den Inhalt des Briefs kennen. Dann wissen wir mehr.«
Vangelis betrachtete mich mit dem dunklen Blick eines angeschossenen Rehs.
»Es gibt Tage, da hasse ich diesen Job aus tiefster Seele«, sagte sie rau.
Mein Handy.
Es war Sönnchen.
»Das Auto von dem Seligmann ist vor ungefähr einer Stunde in Ladenburg gesehen worden. In der Nähe von dem Haus, wo seine geschiedene Frau wohnt. Die Streife wollte ihm nur ganz freundlich sagen, dass er im Parkverbot steht. Aber da ist er gleich durchgedreht und hat rumgeschrien wie ein Verrückter. Drum haben sie sich auch gleich an ihn erinnert, als die Fahndung über den Funk ging.«
»Und wo steckt er jetzt?«
»In Ladenburg jedenfalls nicht mehr.«
Unten rief jemand meinen Namen. Ich ging hinunter und ließ die zwei Kollegen von der Spurensicherung herein. Mörickes Fotograf schoss eine Bilderserie von diesem sensationellen Ereignis.
Hoffentlich machte Seligmann keinen Unsinn! Hoffentlich drehte er jetzt nicht durch! Ein Mann in seiner Verfassung und mit einer geladenen Pistole …
Mutlos stapfte ich hinter den zwei Kollegen die Marmortreppe hinauf. Unter uns nannten wir sie Dick und Doof.
Mit der üblichen makabren Heiterkeit betraten die zwei das Schlafzimmer. »Was haben wir denn heute Schönes?«, fragte Dick leutselig.
Vangelis warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Wir gingen hinunter. Ohne ein Wort zu wechseln, wussten wir beide, dass wir das, was nun kam, nicht ertragen würden.
Schon wieder mein Handy.
Wieder meine unermüdliche Sekretärin.
»Ich fürchte, Sie werden Ihren Job gleich noch viel mehr hassen«, sagte ich zu Vangelis, als ich gehört hatte, was Sönnchen mir mitzuteilen hatte.
»Geiselnahme in der Bergheimer Straße. Irgendein Irrer mit einer Pistole in einer Arztpraxis.«
»Was wissen wir sonst?«, fragte sie ergeben.
»Nichts. Aber ich denke, uns beiden ist klar, wer der Geiselnehmer ist.«
Noch während der rasenden Blaulicht-Fahrt in Richtung Stadt erfuhren wir mehr. Einer geistesgegenwärtigen Sprechstundenhilfe war es gelungen, sich in der Toilette einzuschließen, und plötzlich fand ich es gar nicht mehr so verrückt, dass meine Töchter immer und überall ihre Handys mitschleppten. Sönnchen diktierte mir die Nummer, und Sekunden später hatte ich eine atemlose, nach der Stimme zu schließen blutjunge Frau am Telefon, die mit den Tränen kämpfte. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht«, jammerte sie im Flüsterton. »Ich weiß gar nichts. Nur, dass da auf einmal dieser Mann war. Er wollt mit Moni reden, sofort. Das geht aber nicht, hab ich ihm erklärt, weil, die war doch beim Doc, assistieren, und da kann ich sie doch nicht einfach so rausholen. Da hat er erst ein bisschen rumgemeckert, und dann hat er angefangen zu brüllen, und dann ist Robby gekommen, das ist unser Doc, und wollt wissen, was los ist. Der Typ ist immer mehr ausgeflippt, und da hat Robby gesagt, er soll jetzt verschwinden, oder er holt die Polizei. Aber der wollt einfach nicht gehen. Er muss mit Moni reden, hat er immer wieder gebrüllt, und dann geht er schon freiwillig. Da hat Robby das Telefon genommen, und da hat der Typ auf einmal eine Pistole gehabt! An mich hat er da zum Glück gar nicht mehr gedacht, weil, ich stand so halb hinter dem Schrank mit den Patientenakten, und zum Glück sind’s von da nur ein paar Schritte zur Klotür. Und jetzt sitz ich hier und hab ganz furchtbare Angst.«
»Das ist nicht nötig. Wir kennen den Mann. Der ist gar nicht so gefährlich, wie er tut. Bleiben Sie einfach ganz ruhig sitzen. Er hat Sie bestimmt längst vergessen in der Aufregung.«
Vangelis bog mit quietschenden Reifen in den Czernyring ein. Blaulicht und Signalhorn scheuchten die Fahrzeuge aus unserem Weg. Ein kleiner Gemüselastwagen mit Mannheimer Kennzeichen wusste sich nicht zu helfen, ohne zu bremsen wich Vangelis auf die Gegenfahrbahn aus, trat das Gaspedal durch, um in der letzten Zehntelsekunde wieder in ihre Spur einzuscheren, zwang dabei den entgegenkommenden Tanklastzug zu einer Notbremsung. Währenddessen hatte sie ununterbrochen ihr Handy am Ohr. Falls wir die Fahrt überleben sollten, mussten wir in wenigen Augenblicken den Ort des Geschehens erreichen. Balke sei ebenfalls unterwegs, erklärte sie mir, als sie das Handy endlich beiseite legte.
»Hat es Verletzte gegeben?«, fragte ich die Sprechstundenhilfe.
Vangelis schaltete das Signalhorn aus und ging vom Gas. Die Bergheimer Straße kam in Sicht.
»Ich glaub nicht. Bisher hat er nicht geschossen.«
»Wie viele Menschen sind in dieser Praxis?«
»Robby, ich meine, Doktor Novotny. Moni natürlich, meine Kollegin. Dann der Herr Bayer, das ist der Patient, der in Zimmer zwei war, als es losging. Im Wartezimmer sitzt eine ältere Frau. Das Gesicht hab ich schon mal gesehen, aber der Name fällt mir nicht ein. Und dann ist da noch ein Mädchen, die wartet auch. Die hab ich aber noch nie gesehen. Meinen Sie, er wird durch die Tür schießen?«
»Ganz bestimmt nicht. Er weiß ja nicht mal, dass Sie sich da versteckt haben. Und im Moment hat der ganz andere Sorgen. Gibt es eine Möglichkeit, aus dem Fenster zu klettern?«
»Wir sind im zweiten Stock!«
Vangelis bremste. Wir waren da. Wir parkten in einer Seitenstraße, nur fünfzig Meter vom Ort der Geiselnahme entfernt.
»Hören Sie irgendwas? Reden sie? Streiten sie sich?«
»Es ist ganz still. Vorhin, da hat wer geschrieen, ich glaub, das war Moni. Dann hat sie geweint. Aber jetzt ist alles still. Vielleicht sind sie alle zusammen im Wartezimmer.«
Inzwischen telefonierte auch Vangelis wieder.
»In welche Richtung geht das Wartezimmer?«, fragte ich die junge Frau, die sich jetzt ein wenig beruhigt hatte. »Zur Straße oder nach hinten?«
»Zur Straße.«
Nahezu gleichzeitig drückten Vangelis und ich die roten Knöpfe unserer Handys.
»Was soll der Scheiß?« Balke war kurz vor uns angekommen, und nun standen wir zu dritt auf dem Gehweg gegenüber dem Haus, in dem sich die Arztpraxis befand, keine zweihundert Meter von unseren Büros entfernt. »Was will der Blödmann da oben?«
»Seine Frau besuchen«, antwortete ich. »Frau Eichner arbeitet da als Sprechstundenhilfe.«
Ratlos sahen wir die Fassade des hässlichen, sechs- oder siebenstöckigen grauen Gebäudes hinauf. Es stammte vermutlich aus den Sechzigerjahren. Im Erdgeschoss eine Metzgerei, die zum Glück gerade keine Kundschaft zu haben schien. Links daneben ein Altbau mit Apotheke im Erdgeschoss, dann ein Pelzgeschäft, wenn ich das merkwürdige Schild richtig entzifferte. Alles weitgehend menschenleer. Auch an der Straßenbahnhaltestelle in der Mitte der breiten Straße warteten nur drei Personen. Die Leute in den anderen Stockwerken des Hauses wussten noch nichts von dem Drama, das sich in ihrer Nähe abspielte. In sicherer Entfernung hielt ein Krankenwagen, der ebenfalls ohne Martinshorn angerückt war. Und in der für Seligmann nicht einsehbaren Thiebaut-Straße, einem Seitensträßchen, das zum Neckar hinabführte, kam inzwischen ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen an. Sobald unser Truppenaufmarsch abgeschlossen war, musste ich das Gebäude räumen lassen.
Balke schlug vor, mit Hilfe der Feuerwehr die junge Frau aus der Toilette zu befreien. Aber nach kurzem Nachdenken verwarfen wir den Plan.
»Und sie hat wirklich den Bankraub organisiert?«, fragte Balke, der natürlich auch schon von Rebecca Brauns Tod erfahren hatte.
»Es sieht alles danach aus.«
Eine Straßenbahn hielt, fuhr dann friedlich summend weiter in Richtung Stadt. Jetzt war die Haltestelle mit den hellblau lackierten Wartehäuschen menschenleer. Zum Glück herrschte auch auf der Straße nicht viel Verkehr. Der Himmel war schwach bewölkt. Fast minütlich wechselten sich Schatten und Sonnenschein ab.
»Und Seligmann? Hat er von dem Bankraub gewusst?«
»Ich denke eher nicht«, erwiderte ich. »Er hätte versucht, ihr die Schnapsidee auszureden.«
»Ausgerechnet diese Frau.« Balke sah mich kopfschüttelnd an. »Auf mich hat die gewirkt wie eine Nonne!«
»Sie war Schauspielerin«, gab ich zu bedenken. »Und zwar eine ziemlich gute, wie es scheint. Jedenfalls hat sie ihre Rolle der betrogenen, hilflosen Ehefrau perfekt gespielt.«
Mein Handy vibrierte. Der Chef der Spurensicherer erstattete mir einen ersten, knappen Bericht.
»Punkt A: das Geld haben wir gleich gefunden. Im Keller, hinter einem alten Schrank. Und B: sie hat Schmauchspuren an der rechten Hand.«
»Also doch Selbstmord«, meinte Vangelis mit krauser Stirn, als ich das Telefonat beendet hatte.
»Den Abschiedsbrief öffnen Sie, sobald alle Spuren gesichert sind.«
Wieder sahen wir hinauf zu den Fenstern, hinter denen wir die Praxis vermuteten. »Ich nehme an, er hat sie heute Vormittag wie üblich erwartet«, überlegte ich laut, »aber sie ist nicht gekommen.«
»Und da ist er rüber«, ergänzte Balke, »und hat sie gefunden.«
»Und dann ist er ausgerastet, hat ihr die Augen zugedrückt und die Pistole an sich genommen.« Vangelis schüttelte den Kopf. »Wozu auch immer.«
Was mochte Seligmanns Plan sein? Ich atmete tief ein und aus. Meine Augen brannten. Ich schloss sie und riss sie wieder auf. Es half nichts.
»So ein Blödmann!«, schimpfte Balke. »Was für ein gottverdammter Mist!«
Ich war absolut seiner Ansicht.
Vangelis hatte sich inzwischen die Nummer der Zahnarztpraxis besorgt, aber dort nahm niemand ab.
»Wir müssen nach oben. An ein Fenster auf gleicher Höhe.«
Hinter uns, auf der Nordseite der Straße, stand ein rosa gestrichenes Haus. Unten ein Feinkostgeschäft und ein Frisör. Darüber anscheinend Wohnungen.
Inzwischen wimmelte die Gegend von Einsatzfahrzeugen und Polizisten. In Kürze konnten wir mit der Evakuierung beginnen. Und dann musste ich wohl oder übel die Straße sperren lassen.
Fünf Minuten später stellten wir fest, dass wir immer noch nicht in die Praxis hineinsehen konnten. Zwar versperrten uns die Bäume am Straßenrand nicht die Sicht, da genau vor uns eine Lücke war, aber die blickdichten Senkrecht-Jalousien an den Fenstern gegenüber waren zugeklappt.
Wir standen am Wohnzimmerfenster der nach Tannennadeln und Kaffee duftenden Wohnung einer aufgekratzten älteren Dame, Frau Glaser, die eindeutig zu viele Krimis sah. Ihr weißes Haar hatte sie färben lassen. Der Frisör musste jedoch ein Stümper sein, denn ihr Kopf schimmerte grünlich, was sie jedoch nicht zu stören schien.
Ständig wollte sie wissen, wann wir denn nun die Praxis stürmten, ob auch in ihrem Wohnzimmer Scharfschützen postiert würden, ob mit vielen Toten zu rechnen sei.
Sie schien etwas enttäuscht zu sein, dass unten nicht im Sekundentakt Streifenwagen mit heulenden Sirenen vorfuhren. Ich erklärte ihr, es sei für alle Beteiligten wesentlich günstiger, wenn sich der Aufmarsch in aller Stille vollziehe, und nur in billigen amerikanischen Filmen führen hundert Streifenwagen mit Karacho und qualmenden Reifen vor. Als sie hörte, dass wir dennoch inzwischen über vierzig Polizisten vor Ort hatten, von denen sie außer uns dreien nicht einen sehen konnte, machte sie große Augen und war fürs Erste zufrieden.
Das Fenster war zum Glück breit genug, sodass wir zu dritt hinaussehen konnten. Die Gardinen ließen wir in Ruhe. Balke telefonierte ständig und sorgte dafür, dass unten jeder wusste, was er zu tun hatte. Einige unserer Leute bereiteten sich darauf vor, auf mein Kommando hin sekundenschnell die Straße zu sperren. Aber noch ließ ich den Verkehr laufen. Jede Störung, jede plötzliche Veränderung konnte zum jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe auslösen. Einige Kollegen und Kolleginnen in Zivil klingelten jetzt drüben an jeder Tür und baten die Menschen, die sich dahinter aufhielten, leise und ohne Hektik das Haus zu verlassen. Im Sekundentakt drängelten sich unten kleine Gruppen durch die zweiflügelige, gläserne Haustür ins Freie und suchten das Weite. Das Sondereinsatzkommando war inzwischen im Anmarsch, hörten wir von Balke.
Seligmann bemerkte von all dem nichts. Noch konnte er sich in der Illusion wiegen, er sei allein mit seinen Geiseln.
»Was will er von seiner Frau?«, fragte Balke zwischen zwei Telefonaten. »Händchen halten? Die zwei sind doch seit Ewigkeiten geschieden!«
»Vermutlich genau das«, erwiderte ich. »Händchen halten. Wen hat er sonst noch, mit dem er reden könnte?«
Vangelis wählte wieder einmal erfolglos die Nummer der Praxis. Die Jalousien drüben bewegten sich kein einziges Mal.
Als mein Handy wieder Alarm schlug, kannte ich die Nummer schon.
»Ich hör was«, wisperte die junge Sprechstundenhilfe. »Er … Er kommt … O Gott!«
Geräusche. Jemand rüttelte an einer Tür.
»Was ist denn … Ist da einer drin?« Eindeutig Seligmanns Stimme.
Es folgte ein Krachen. Dann brach das Gespräch ab.
Augenblicke später bimmelte mein Handy erneut.
»Das haben Sie ja sauber eingefädelt, Herr Gerlach«, bellte mir Seligmann ins Ohr.
»Ich habe überhaupt nichts eingefädelt«, antwortete ich ruhig. »Aber schön, dass Sie sich melden. Ich wollte sowieso mit Ihnen sprechen.«
»Wo stecken Sie überhaupt?«
»In der Wohnung gegenüber.«
Auf meinen Wink hin schob Balke die Gardine beiseite. Ehrlich sein, mit offenen Karten spielen, Vertrauen schaffen. Das war jetzt, in dieser ersten und kritischsten Phase der Geiselnahme, das Wichtigste. Seligmann musste mir glauben, sich beruhigen, allmählich seine Angst verlieren. In den nächsten Stunden würde ich der einzige Mensch sein, auf den er sich verlassen konnte. Sein Partner, sein Freund sogar, wenn alles gut ging. Nur dann bestand die Chance, ihn zum Aufgeben zu überreden. Drüben bewegte sich kurz die Jalousie.
»War das der Killer?«, flüsterte Frau Glaser ehrfürchtig. »Warum haben Sie nicht geschossen?«
»Wir würden ihn von hier aus gar nicht treffen«, klärte Vangelis sie freundlich auf. »Und außerdem könnte er ja zurückschießen.«
Frau Glaser erblasste. Aber nur ein wenig.
»Was haben Sie vor?«, fragte ich Seligmann. »Was verlangen Sie?«
Das Gespräch in Gang halten. Bloß den Kontakt nicht abreißen lassen.
»Das kann Ihnen ja wohl egal sein.«
»Sie können nichts dafür, dass sie sich erschossen hat.«
»Und ob!« Sein heiseres Keuchen klang, als versuchte er zu lachen. »Ich hab ihr gesagt, sie ist verrückt, als sie mir gestern Abend das von dem Bankraub gestanden hat. Herrgott, ich hätte bei ihr bleiben müssen, auf sie aufpassen, sie trösten. Und stattdessen schrei ich sie an und lasse sie allein in ihrem Zustand! Selbstverständlich bin ich schuld!«
»Sie können nicht für alles, was geschieht, die Verantwortung auf sich nehmen.«
»Reden Sie kein Blech.« Plötzlich klang er sehr erschöpft. »Hättet ihr mich sterben lassen, als ich die Tabletten genommen hatte. Dann würde Rebecca jetzt noch leben.«
»Was verlangen Sie? Wir können über alles reden.«
»Meine Ruhe. Lasst mich einfach nur in Ruhe. Wenn ihr Stress macht, dann gibt’s ein Drama. Mir ist jetzt alles egal. Jetzt ist sowieso alles kaputt.«
»Komische Art, seine Ruhe zu finden, meinen Sie nicht auch?« Ich brachte sogar ein ziemlich echt klingendes Lachen zustande.
»Das lasst mal meine Sorge sein, ich werd schon …« Das Gespräch brach mitten im Satz ab.
»Und?«, fragte unsere Gastgeberin mit fiebrigem Blick. »Hat er ein Ultimatum gestellt? Droht er, seine erste Geisel abzuknallen?«
»Der wird nicht schießen.« Ich steckte das Handy in die Jacketttasche. »Der Mann ist völlig harmlos. Er muss nur erst mal wieder zu sich kommen. Alles andere hier sind reine Vorsichtsmaßnahmen.«
Inzwischen hatten vor der Praxistür einige Kollegen in schusssicheren Westen Position bezogen, berichtete Balke. »Das Haus ist geräumt. Sie müssen nur noch das Kommando geben, dann legen wir los. In fünf Sekunden sind wir drin.«
»Niemand legt hier los!«, fuhr ich ihn an. »Wir warten, bis er sich wieder meldet.«
»Und wenn nicht?«