29

Um Punkt acht klingelten zwei Handys gleichzeitig. Mein Herz setzte zwei Schläge aus, als ich auf meinem »Sarah« las.

»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Loui sagt, du wolltest was von mir?«

»Wo steckst du?«

»Daheim.«

»Und wo warst du die ganze Zeit?«

»In der Stadt. Ich musste was … für die Schule besorgen.« Vermutlich hatte sie eine Tour durch die Boutiquen gemacht.

»Warst du nicht beim Zahnarzt?«

»Doch … Ich … Ich bin auch hingegangen, ganz ehrlich. Ich war in der Praxis, aber da war das Zahnweh auf einmal wieder weg, und da …«

»Hast du gekniffen«, seufzte ich und hätte sie gerne in die Arme genommen und ganz fest und sehr lange an mich gedrückt.

»Ehrlich, ich kann das nicht, Paps«, sagte sie mit weinerlicher Stimme. »Ich geh da nur hin, wenn du mitgehst. Hast du vergessen, dass Mama gestorben ist, nachdem sie beim Zahnarzt war?«

Natürlich hatte ich es nicht vergessen. Wie könnte ich. »Ich liebe dich«, sagte ich zugleich erschöpft und überglücklich.

»Ähm … was?«

Balke bedeutete mir aufgeregt, ich müsse Schluss machen.

»Er verlangt, dass wir ihn erschießen!«

In der Zwischenzeit hatte er mit Seligmann gesprochen.

»Ähm … wie bitte?«

»Er tritt jetzt ans Fenster, sagt er, und dann sollen wir ihn erschießen. Er will sterben. Selbst kann er es nicht, sagt er. Er hätte es oft genug probiert.«

Wieder einmal versank ich in meinem Sofa. »Geben Sie ihn mir, um Gottes willen.«

Balke drückte ein paar Knöpfe und reichte mir sein Handy. Seligmann nahm sofort ab.

»Was soll denn das jetzt schon wieder?«, fragte ich. »Lassen Sie Ihre Geiseln frei, werfen Sie die Waffe weg und kommen Sie raus. Sie werden ein bisschen bestraft werden, klar, aber vermutlich kriegen Sie sogar Bewährung. Noch ist ja nichts passiert.«

»Nichts passiert?« Er lachte rau. »Sie sind gut. Nichts passiert!« Aber immerhin – er legte nicht auf.

Endlich ließ er mit sich reden.

»Was Sie Jule angetan haben, müssen Sie mit Ihrem Gewissen ausmachen, da kann Ihnen keiner helfen. Aber an dem, was danach geschah, tragen Sie keine Schuld.«

»Wäre ich vernünftig gewesen …«

»Niemand ist immer vernünftig.«

»Ich war ihr Lehrer!«

»Auch Lehrer nicht.«

Alle im Raum beobachteten mich mit starren Mienen. Ich nickte beruhigend in die Runde. Frau Glasers Mund stand halb offen. Ihre graublauen Augen glänzten. Seligmann legte immer noch nicht auf. Noch fünf Minuten, und ich hatte ihn so weit.

»Sie haben wirklich nichts zu fürchten.«

»Ich fürchte mich vor mir selbst. Jetzt habe ich auch noch Rebecca auf dem Gewissen.«

»Sie war eine erwachsene Frau, die wusste, was sie tat. Sie hat sich ins Unglück gestürzt und die Konsequenzen gezogen.«

Vangelis schob mir einen Zettel zu. Ich las zwei Worte: Davids Geständnis.

»Wir wissen übrigens jetzt, wer wirklich an Jules Unglück schuld ist«, sagte ich ins Telefon. »Wollen Sie es hören?«

»Das weiß ich seit Jahren. Rebecca hat es mir gesagt. Aber er war es ja nicht allein.« Er hustete seinen schleimigen Raucherhusten. »Und die Burschen waren ja noch halbe Kinder, und …«

»Für jeden finden Sie eine Entschuldigung, nur für sich selbst nicht.«

»Ich kann’s nicht ändern.«

Die Mienen meiner Zuhörer entspannten sich allmählich. Auch sie fühlten, dass es zu Ende ging. Zu einem glimpflichen Ende.

Seligmann schwieg lange.

»Was soll aus Jule werden ohne Sie?« Dran bleiben. Den Faden nicht abreißen lassen. »Sie dürfen sie nicht allein lassen.«

»Sie reden schon wieder Blech«, brummte er. Aber ich spürte das Zögern. Ich fühlte, wie er ins Schwanken kam. Die Perspektive, aufzugeben, alles hinzuschmeißen, endlich Ruhe zu haben, erschien ihm jetzt mit jeder Sekunde verlockender.

»Sie braucht Sie wirklich.«

»Ja, natürlich …«

»Ich verspreche Ihnen, ich werde jeden Hebel …«

»Sie müssen mir nichts versprechen«, fiel er mir mit plötzlicher Kälte ins Wort. »Ich brauche nichts mehr.«

Seine letzten Worte ließen meine Hoffnung wieder schwinden. »Herr Seligmann …«

»Nein«, sagte er entschlossen. »Ich trete jetzt ans Fenster. Und Sie sorgen dafür, dass man mich erschießt. Die richtigen Leute dafür haben Sie inzwischen ja wohl zur Hand.«

»Aber ich bitte Sie!« Ich sagte das in einem Ton, als hätte er einen schlechten Scherz gemacht. »Das geht doch nicht!«

»Wieso? Die Straße ist nicht mal zwanzig Meter breit. Ihre Helden werden doch auf zwanzig Meter einen Menschen treffen?«

»Sie werden es nicht mal versuchen, weil ich den Befehl dazu nicht geben kann.«

Ächzend stemmte ich mich aus dem Sofa und trat neben Balke ans Fenster. Gegenüber fuhr langsam die Jalousie zur Seite. Seligmann trat wie angekündigt ans Fenster, öffnete es sogar, vermutlich damit es keinen unnötigen Sachschaden gab bei seinem irrwitzigen Plan. Das Handy hatte er am Ohr.

Ich hörte seinen gepressten Atem im Telefon.

»Selbst wenn ich es wollte, ich dürfte den Befehl nicht geben.«

»Wieso nicht? Sind Sie nicht der Boss hier?«

»Auch ich bin an Gesetze gebunden. Ich darf doch nicht einfach …«

»Was muss geschehen, dass Sie dürfen? Muss man erst selbst jemanden umgelegt haben?«

»Von mir aus können Sie die ganze Nacht am Fenster stehen«, sagte ich so locker wie möglich. »Vielleicht sterben Sie am Ende an einer Lungenentzündung. Das ist dann Ihre Sache. Aber meine Leute werden Sie sogar ins Krankenhaus fahren, um es zu verhindern.«

Da stand er, in seinem rot karierten Flanellhemd, der Rücken ein wenig gebeugt, die Miene ratlos, fast blöde. Ich konnte sehen, wie er blinzelte.

»Ich meine es aber ernst«, sagte er nach Sekunden trotzig.

»Es ist trotzdem Unsinn. Das geht so nicht.«

Die letzten Worte waren falsch gewählt, das begriff ich, noch während ich sie aussprach.

»Was muss denn noch passieren, damit Sie schießen dürfen?«

Meine einzige Entschuldigung ist: Auch ich war inzwischen müde. Erschöpft. Nicht mehr Herr meiner Sinne. Und nur deshalb sagte ich: »Wenn zum Beispiel eine Geisel in unmittelbarer Gefahr …«

Ich war im Begriff, den Fehler meines Lebens zu begehen. Nein, ich hatte ihn bereits begangen.

»Wenn das alles ist«, sagte er trocken und trat zurück. »Das können Sie haben.«

Auf einmal war es sehr still.

Unten war der Verkehrslärm verstummt. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass Balke an meiner Stelle dafür gesorgt hatte, dass die Straße gesperrt wurde.

»Ich sehe nur noch ihn und den Doktor«, murmelte Balke, der mit einem Feldstecher neben mir stand. »Wo ist der Rest?«

»Da!« Der Scharfschütze, der gelassen am Fensterrahmen lehnte, wies mit dem Kinn nach unten. »Da kommen sie.«

Als ich mich vorbeugte, verschwanden die beiden Sprechstundenhilfen und ein junges Mädchen gerade um die Ecke. Ein älterer, leicht gehbehinderter Mann folgte humpelnd mit einigem Abstand. Dann war auch er nicht mehr zu sehen.

»Er kommt!« Der Scharfschütze kniete sich hin und legte ohne meinen Befehl sein Gewehr auf der Fensterbank auf.

Seligmann hielt einen weiß gekleideten Mann im Schwitzkasten, dessen Alter ich auf vierzig schätzte. Er war relativ klein und ziemlich rundlich, und bei seinem Anblick verstand ich auch ohne Fernglas, warum diese Art, einen Menschen festzuhalten, »Schwitzkasten« genannt wird.

Der Mann dort drüben fürchtete um sein Leben.

Wieder mein Handy.

»Wir wären dann so weit«, sagte Seligmann ruhig. »Ich mache jetzt das Handy aus und halte ihm die Pistole an den Kopf. Die Geisel befindet sich in Lebensgefahr, wie Sie es wünschten. Sie haben sechzig Sekunden zum Nachdenken.«

Er schaltete das Handy nicht aus, er warf es aus dem Fenster auf die Straße, wo es fast ohne Geräusch zerschellte. Dann zog er Heribert Brauns Beretta aus dem Hosenbund und drückte den Lauf an Doktor Novotnys Schläfe. Dabei hielt er ihn so neben sich, dass er selbst nicht von seiner Geisel verdeckt wurde.

Sechzig Sekunden.

Würde er es tun, würde er wirklich abdrücken?

Natürlich nicht.

Aber konnte ich das Risiko eingehen?

Nein, konnte ich nicht.

War die Waffe überhaupt geladen? Konnte er damit umgehen? Ein Lehrer für Mathematik und Biologie?

Der Atem des Scharfschützen ging völlig ruhig und gleichmäßig.

Die Gewehrmündung zielte ohne jedes Zittern auf diesen Narren dort drüben.

Die anderen standen wie erfroren hinter und neben mir. Frau Glaser hielt sich die Hände vor den Mund.

Ich hätte sie wegschicken sollen.

Dafür war es jetzt zu spät.

Ich musste mich konzentrieren.

Schweiß lief meinen Rücken hinab.

»Chef«, sagte Balke leise. »Chef!«

Die Gewehrmündung bewegte sich kaum merklich und unendlich langsam ein klein wenig nach links.

Was für ein Glück, dass Sarah solche Angst vor Zahnärzten hatte.

Die Hälfte meiner Minute war schon vergangen.

Der Scharfschütze zog leise die Nase hoch.

Aber ich konnte das doch nicht! Ich war Polizist, mein Beruf war es doch, Menschen zu beschützen, Leben zu retten und nicht, über ihren Tod zu bestimmen!

Seligmann in seinem dämlichen karierten Hemd, an dem immer irgendein Knopf offen stand. Diese widerlichen Tränensäcke unter seinen Augen. Dieser hilflose Hundeblick, den sein Nachbar so verabscheute und der auf alle möglichen Frauen offenbar eine unerklärlich anziehende Wirkung hatte.

Ich musste etwas sagen, damit im entscheidenden Moment meine Stimme funktionierte.

»Sie schießen nur auf meinen Befehl«, sagte ich leise.

Es ging ganz gut.

Ob Braun wusste, dass seine Frau ein Verhältnis mit seinem verhassten Nachbarn hatte? Vielleicht rührte daher seine Antipathie gegen Seligmann?

»Zwanzig Sekunden«, sagte Balke leise.

Seligmann straffte sich. Ich konnte sehen, wie er die Augen schloss.

So sieht also einer aus, der auf seine Erschießung wartet.

Im Grunde ganz normal.

Und ich hatte ihn zu liefern, den Tod, weil er ein Feigling war.

Worauf wartete ich noch? Gefahr im Verzug, finaler Rettungsschuss, kein Mensch würde mir einen Vorwurf machen.

Was für ein Glück, dass Sarah …

»Fünfzehn«, sagte Balke etwas lauter.

Der Zahnarzt stand offensichtlich kurz vor der Ohnmacht.

Seligmanns Daumen spannte den Hahn.

Der wusste ganz genau, wie die Beretta funktionierte. Hoffentlich traf unser Schütze gut, damit Seligmann nicht noch im Augenblick seines Todes abdrückte, ohne es zu wollen.

Sein Zeigefinger krümmte sich langsam.

Wenn die Pistole überhaupt geladen war.

»Zehn.«

Und plötzlich war diese Wut da. Diese alles vernichten wollende, gnadenlose Wut, die meine Zähne ganz von alleine knirschen ließ. Sollte er doch verrecken dort drüben. Was ging es mich an.

»Kopfschuss«, wollte mein Mund sagen, »Feuer frei.«

Aber Jule …?

»Fünf!«, sagte Balke.

»Rechte Schulter.« Plötzlich war ich ganz ruhig. »Jetzt.«

Der Gewehrlauf ruckte eine Winzigkeit nach links. Die Kugel riss Seligmann in einer halben Drehung zurück, weg von seiner Geisel, die Beretta flog irgendwohin, und im nächsten Augenblick war drüben niemand mehr zu sehen.

Jemand atmete sehr geräuschvoll aus.

Eine kurze Weile war es vollkommen still. Diese Stille nach dem Schuss, der gar nicht so übertrieben laut gewesen war. Gewehrschüsse sind viel leiser als Pistolenschüsse. Was für ein Kaliber hatte eigentlich diese Beretta?

Drüben erschien der rote Kopf des Arztes am unteren Rand des Fensters. Er sah um sich, als wäre er eben erst in diese Welt gefallen, und wollte nun herausfinden, ob sie ihm gefiel. Er öffnete den Mund, um etwas zu rufen, es kam aber nichts. Wieder und wieder wischte er sich über die Stirn.

Irgendwer brüllte etwas, unten auf dem Gehweg, was ich nicht verstand, und dann war auf einmal überall Bewegung.

»Wir müssen rüber«, sagte Balke entschlossen und rannte davon.

Wir brauchten keine zwanzig Sekunden auf die Straße und weitere vierzig bis vor die Tür der Praxis. Balke blieb nicht einmal stehen, sondern rammte sie aus vollem Lauf mit der Schulter auf. Im selben Augenblick öffnete jedoch der Zahnarzt von innen, so dass beide ziemlich unelegant übereinanderpurzelten.

Dann standen wir schwer atmend vor Xaver Seligmanns blutendem Körper. Er war bewusstlos. Der Schuss hatte exakt die rechte Schulter getroffen und ihn mit großer Wucht einige Meter ins Wartezimmer hineingeschleudert.

Balke steckte seine Heckler & Koch weg und hob die Beretta auf, die unter einem Heizkörper lag.

»Das Magazin ist leer«, stellte er nach kurzer Überprüfung fest. »Sie haben richtig getippt.«

Inzwischen war auch ein Arzt da und kümmerte sich um den Verletzten.

»Was für ein Irrsinn!«, murmelte er vor sich hin. »Was hat er nur gewollt?«

»Sterben«, antwortete ich, »aber er hat kein Talent dazu.«

Vierzehn Patronen fand Balke in Seligmanns Hosentasche. Die fünfzehnte, die fehlende Kugel, war die, an der Rebecca Braun gestorben war.

»Mein Vater fragt mich jede Woche mindestens drei Mal, ob ich nicht die Taverne übernehmen will«, hörte ich die erschöpfte Stimme von Klara Vangelis neben mir.

»Und?« Balke zog eine Grimasse, die vielleicht ein Grinsen darstellen sollte, und rieb sich die schmerzende Schulter. »Wirst du?«

»Ach«, seufzte sie. »Ich hätte ja genauso bescheuerte Arbeitszeiten. Und besser verdienen würde ich vermutlich auch nicht.«

Balke wankte mit plötzlich unsicheren Schritten zum nächsten Stuhl und setzte sich vorsichtig. Dann stieß er die Luft aus seinen Lungen, als müsste er einen riesigen Ballon aufpusten.

Immer mehr Menschen kamen hinzu. Sanitäter brachten eine Trage. Mit einem dramatischen Seufzer fiel der Zahnarzt in Ohnmacht. Ein zweiter Arzt wurde gerufen, eine zweite Trage gebracht. Von draußen, durch das immer noch offen stehende Fenster, hörte ich auf einmal wieder Verkehr.

Klara Vangelis stand ratlos da und hielt sich an ihrem Handtaschenriemen fest.

Seligmann machte ein leises Geräusch und bewegte den Kopf wie im Schlaf. Zwei bullige Kerle hoben die Trage an. Als sie gingen, wackelte sein Kopf durch die Bewegung.

Natürlich würde er bestraft werden müssen. Aber bestimmt würde sich etwas organisieren lassen, sodass er auch weiterhin sein Julchen besuchen konnte.

Irgendwas geht immer, wie Balke zu sagen pflegte.