8

Es ist nicht jedem Menschen vergönnt, das Innere seiner eigenen Grabkammer besichtigen zu können, bevor er sie nach seinem Tod bezieht. Lance Dillon empfand geradezu eine gewisse Dankbarkeit für diese Gnade. Er besichtigte das Grab aus eben der Position, die er am Ende einnehmen würde – in flacher Rückenlage auf sandigem Grund, von schummrigem Dämmerlicht umgeben. Nur ein einzelner Mondstrahl fiel schräg durch die Luke herab, durch die Dillon gestürzt war.

Die Öffnung befand sich hoch über ihm, und er stellte sich die unsinnige Frage, wie er wohl ausgesehen hatte, als er hier heruntergefallen war. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte er, daß er über eine lange schräge Sandbahn heruntergerollt sein mußte. Versuchsweise bewegte er Glieder, Kopf und Rumpf. Sie schmerzten zwar, funktionierten aber normal. Seine Knochen waren heil und sein Verstand war klar geblieben – welch ungewöhnlicher Triumph für einen Menschen, der in seinem eigenen Grab ruhte!

Trockene, warme und klare Luft umgab ihn, jedoch mit einem schwachen Modergeruch durchsetzt, den er sich nicht erklären konnte, bis sein Blick auf die Fledermäuse traf, die von den ausgehöhlten Kalksteinen über ihm herabhingen. Eine oder zwei, von dem Eindringling aufgestört, flatterten mit einem leisen mausähnlichen Quieken in der Dunkelheit umher. Diese wunderlichen, scheuen Geschöpfe, wie geschaffen für Friedhofsruhe, waren gewiß eine angenehmere Gesellschaft als die Geier, die mit der ersten Morgenwärme herbeigeflogen wären, um über ihm zu kreisen.

Er schloß die Augen und tastete mit den Fingern durch den Sand. Der war fein und pulvrig und vollkommen trocken. Schwerfällig reimte sich Dillons Gedächtnis das Geschehen zusammen. Er war in eine jener Höhlen geraten, die vor Jahrhunderten durch unterirdische Wasserläufe unter der Oberfläche des Stone Country entstanden waren. Um diese eine Höhle herum mußte es noch weitere geben, große und kleine, verbunden durch einen Tunnel, der einst das Bett des Flusses gebildet hatte. Wenn jemand sich ein besonders tiefes Grab wünschte, hier war eines, vorausgesetzt er war stark und willens genug, um es aufzusuchen.

Fürs erste war Dillon zufrieden. Der Sand war weich. Die Wärme tat ihm nach der bitteren Kälte oben auf der Erde wohl, und nach dem Mondlicht würde die Sonne durch das Guckloch hereinscheinen. Vielleicht würde er die Sonne gar nicht mehr lebend erblicken, aber es freute ihn, daran zu denken und sich seine Hoffnung zu bewahren, solange er bei Bewußtsein blieb.

Langsam nahmen die vagen Umrisse seiner Umgebung Gestalt an; das Gewölbe aus Felsen, von dem Tropfsteine herabhingen, der dunkle sich verengende Schlund, der wie ein Tunnel ins Innere der Erde lief; die Wandnischen, die vollgestapelt waren mit Steinen und in Baumrinde eingewickelten Bündeln, die er nicht identifizieren konnte; er vermutete jedoch, daß sie Waffen und Knochen längst verstorbener Krieger enthielten, welche die Myalls an ihrer heiligen Stätte aufbewahrten.

Er fragte sich, ob sie ihm wohl das gleiche Privileg zugestehen würden, nachdem sie ihn getötet hatten – oder ob ihm selbst diese primitive Würdigung versagt bliebe. Nicht, daß es ihm etwas ausmachte. Für ihn war nur noch wichtig, wie er von den Trümmern seines Lebens ohne große Anstrengung Abschied nehmen konnte.

Er hatte sich nie um religiöse Dinge gekümmert. Die Philosophie war für ihn ein unenträtselbares Geheimnis. Sein ganzes Leben war nach dem pragmatischen Kreis von Geburt, Wachstum, Broterwerb und Tod ausgerichtet. Der Mensch konnte nur in seinen Nachkommen fortbestehen, und wohl dem, der starb, bevor sie ihn enttäuschten. Mit dem Tod kam die allerletzte Angst, doch war diese einmal überwunden, blieb nur noch die stille Enttäuschung übrig, daß das Leben von so geringer Bedeutung war.

Plötzlich wurde die Stille durch ein Geräusch unterbrochen, von einem einzelnen klaren Ton, als ob jemand mit dem Fingernagel gegen ein Kristallgefäß schnippte. Der Klang hallte eine Sekunde in dem Höhlengewölbe nach, bevor er erstarb. Eine ganze Minute lang lag Dillon und lauschte; doch das Geräusch wiederholte sich nicht, und seine Gedanken schweiften wieder ab.

 … Der Sohn des Treibers, der ein Viehkönig sein wollte … Der Rotzbengel, der dem großen Kidman persönlich die Steigbügelriemen hielt und staunend auf das goldene Zehnschillingstück glotzte, das man ihm zugeworfen hatte … Der junge Rinderhirte, der zum erstenmal tausend Stück Vieh über fünfhundert Meilen ausgedörrtes Land zur Bahnstation trieb … Der ledergesichtige Schütze im Japankrieg, der seine Zigaretten- und Bierration verschacherte, um sein Soldbuch aufzubessern … Der sich im Urlaub von den Weibern fernhielt, weil zwei Nächte in der Stadt soviel kosteten wie eine einjährige Färse … Der Tag, an dem das Los bei der Zuteilung von Pachtland im Territorium auf seine Nummer fiel … Das Zelt mitten im Niemandsland, während sein Vieh in den Flußniederungen weidete … Die mühsamen Jahre des Sparens und Darbens, mit kümmerlichem Verdienst und teuren Krediten, bis er sein erstes Haus bauen, seine erste Hypothek zahlen und seine erste Reise nach Osten unternehmen konnte, um anständiges Vieh zu kaufen. Solange er ein Niemand war, dem es dreckig ging, der sich mit minderwertigen Schlachtbullen und zähem Fleisch abgab, so lange konnten die großen Viehbetriebe ihn sich selbst überlassen … Doch von dem Tag an, als er ins Zuchtgeschäft einstieg, begannen sie Druck auf ihn auszuüben – immer mit dem gleichen lockenden Angebot: Kredit. Als er heiratete, einen Haushalt einrichtete und seinen Betrieb aufzubauen begann, verstärkte sich der Druck, doch je mehr der sich steigerte, um so entschlossener und hartnäckiger wurde er, bis sich schließlich der ganze Inhalt seines Lebens, seine Sicherheit und sein Glück in den Genitalien eines Bullen konzentrierten.

Hier, in dem schummrigen Zwielicht seiner Grabkammer, kam ihm das alles wie eine ungeheure, an Wahnsinn grenzende Torheit vor. Und doch war es wahr. Andere Männer hatten gelacht und geküßt, hatten sich betrunken und Söhne gezeugt, die sie nicht ernähren konnten, und hatten ihren letzten Schilling verjubelt, während er, diszipliniert wie ein Mönch, sein Leben im Dienst eines einzigen Tieres verbracht hatte. Wer war nun besser dran – die anderen oder er? Um wen würde wohl länger, liebevoller und mitleidiger getrauert werden?

Wie um diese unlösbare Frage zu unterstreichen, klang der kurze, melodische Laut von neuem auf. Dillon lauschte angestrengt auf das zarte Echo, doch gleich war es wieder verklungen, während sich sein Hirn noch abplagte, die Herkunft dieses Geräusches herauszufinden.

 … Sonntagsessen auf der Farm … Die Mahlzeit fast vorüber … Zwei Menschen, die sich nichts Neues mehr zu sagen hatten und sich vor ihrem Kaffee und dem letzten Schluck Wein langweilten. Mary, die abwesend mit einem Kaffeelöffel auf den Rand ihres Weinglases klopfte, so daß die schwere Luft erfüllt war von dem dünnen, anhaltenden Klingen. Seine eigene Stimme, streng und unerwartet laut: »Um Himmels willen, Mary! Muß das sein?«

»Das macht dich wohl fertig?«

»Warum tust du's dann?«

»Rindvieh am Morgen, Rindvieh am Mittag, Rindvieh am Abend, Rindvieh im Bett.«

Bei jeder Wiederholung traf der Löffel das Glas.

»Das macht mich fertig, Lance. Ich bin eine Frau und keine Zuchtkuh. Siehst du denn nicht, wie weit es mit uns gekommen ist? Ich will einen Ehemann und keinen Zuchtmeister.«

»Um Gottes willen, Mary! Hab doch Geduld! Ich hab' dir schon ein dutzendmal gesagt, wir müssen uns eben abrackern; aber nicht mehr lange. Noch ein paar Jahre, und …«

»Und dann haben wir größere Herden und bessere dazu – und unterdessen wird die Liebe kleiner und kleiner, und unsere Ehe wird immer mieser.«

»Ich finde eigentlich, es klappt ganz gut mit unserer Ehe.«

»Du hast doch noch nie darüber nachgedacht. Und ich hab' allmählich die Nase voll!«

»Verdammt, du weißt überhaupt nicht, was du willst …«

Und so ging es immer weiter, das ganze öde Gespräch voller Enttäuschungen, törichter Beschuldigungen und verstecktem Groll, den in Worte zu fassen sie beide zu stolz waren …

Jetzt, da er keinen Stolz mehr hatte, war es zu spät. Er war bereit, die Wahrheit auszusprechen, aber seine geschwollenen Lippen konnten die Worte nicht formen – außerdem war ja auch niemand da, der sie hätte hören können.

Wieder schwang der gläserne Ton durch das Gewölbe! Und diesmal begriff Dillon, was es war: ein einzelner Wassertropfen, der auf eine Pfütze aufschlug. Hinter seinen müden Lidern entstand ein Bild: winzige Tröpfchen, die langsam durch die Erde sickern; die sich am oberen Ende eines rostroten Stalaktiten sammeln; die langsam die Kalksteinsäule hinabrinnen; die an der Spitze einen Augenblick innehalten; und die schließlich in ein Becken fallen, wo schon Millionen andere Tropfen sich gesammelt haben, unerreichbar für die Sonne und für den Durst von Mensch und Tier.

Wasser …! Der letzte Wunsch des Sterbenden an eine Welt voller Reichtümer. Er wartete, bis sich der Klang wiederholte, und fixierte in Gedanken die Richtung, aus der er kam. Dann rollte er sich auf den Bauch und kroch auf das Geräusch zu, mit dem inständigen Wunsch, daß sich das Wasser nicht außerhalb seiner Reichweite befinden möge.

Schließlich berührten seine Hände eine Art Wand. Er fühlte, wie diese sich über ihm zu einer Säule verdickte. Der nächste Tropfen schien unmittelbar über seinem Kopf aufzutreffen. Er mußte versuchen, sich aufzurichten und dort hinaufzugelangen. Er zog seinen Leib und die Füße so dicht wie möglich an die Kalksteinsäule; dann ergriff er den nächsten Vorsprung und begann sich aufzurichten. Mit den Händen zog er, und mit den Füßen schob er, und wenn seine Kräfte erlahmten, hielt ihn die Reibung seiner Haut auf der rauhen Fläche fest.

Dann war die Säule zu Ende, und seine Finger umklammerten einen Vorsprung. Mit einer letzten krampfhaften Anstrengung kletterte er hinauf und warf sich mit dem Oberkörper über den Rand der ausgehöhlten Säule, so daß er vornüber hing und sein Gesicht in ein flaches Becken mit eiskaltem Wasser tauchte. Die Berührung wirkte wie ein Messerschnitt auf seiner zerfetzten Haut, doch er schlürfte gierig und fühlte beim Schlucken ein Brennen in seiner Gurgel. Als er genug getrunken hatte, blieb er einfach so liegen und wartete, bis die Stärkung seinen ganzen Körper erquickt hatte.

Seine Finger tasteten den Beckenrand ab; der war breiter, als er fühlen konnte – vielleicht war er sogar so breit, daß ein Mensch in Reichweite des Wassers darauf liegen konnte. Außerdem lag dort noch mehr: kleine Kalksteinscherben, die von oben heruntergefallen waren, und Stalaktiten, lang wie Dolche und fast ebenso scharf. Seine Finger wischten ein paar davon ins Wasser, aber einen hielten sie fest, lang wie ein Unterarm, dünn, glatt und spitz wie eine Ahle.

Es traf Dillon wie eine kalte Dusche, daß es ihm nicht vergönnt sein sollte, in Frieden zu sterben; daß auch sein letzter Augenblick von Gewalt und Schrecken erfüllt sein würde. Vorher war ihm alles gleichgültig gewesen. Doch jetzt, an dieser stillen Stätte, stieg Ärger in ihm auf. Er hatte genug gelitten und war bis an den Rand der letzten düsteren Gruft gelangt. Warum sollte er gefügig abwarten, bis sie ihn hineinstießen? Seine Finger krampften sich fest um das glatte Ende des Stalaktiten und entspannten sich dann langsam wieder.

Zuerst mußte er sich ganz zum Rand des Wasserbeckens hochziehen. Hier konnte er liegen und mit dem Rest seiner Kräfte haushalten. Er konnte sich auch abkühlen, wenn das Fieber wieder stieg. Von hier aus konnte er, den steinernen Dolch in der Hand, den letzten verzweifelten Sprung gegen den ersten seiner Angreifer tun. Mit Wut, Ernüchterung und Reue war er für den hoffnungslosen Kampf gerüstet.

In der letzten dunklen Stunde vor der Morgendämmerung stand Neil Adams auf, legte die Decke fest um Mary und ging zum Flußufer, um Billy-Jo bei der Wache abzulösen.

Der Späher wußte nichts zu berichten. Die Kadaitjamänner hatten lange Zeit geschwiegen. Das würde wohl noch bis zum Tagesanbruch so bleiben. Er schlenderte den Strand hinauf, warf sich auf seine Decke und rollte sich, ganz wie ein Geschöpf des Busches, zum Schlaf zusammen.

Neil Adams setzte sich auf eine Felsplatte, zündete sich eine Zigarette an und hing mit seinen Gedanken den Rauchringen nach, während sein Körper sich entspannt der traurigsüßen Zufriedenheit überließ, die so gern dem Liebesakt folgt.

Er hatte viele Frauen gehabt. Aber bei Mary erlebte er zum erstenmal, daß Besitz auch Hingabe bedeutete und nicht bloß Eroberung. Der Schutzwall des Egoismus war eingestürzt, die Barrieren der Gesellschaftsmoral waren kampflos überwunden worden. Die Legende von der Unbezwinglichkeit war für immer zerstört. Jetzt war er ein Mann, der die Frau eines anderen genommen, ein Polizist, der einen Vertrauensbruch begangen hatte und jederzeit auf den Verlust seiner Ehre gefaßt sein mußte, sobald jemand anfing, in seinen Geheimnissen herumzustöbern.

Diese bittere Pille vergiftete ihm den Nachgeschmack der Liebe, doch er mußte sie schlucken, ob er wollte oder nicht. Also verzieh das Gesicht und würg sie hinunter! Ehebruch und Pflichtverletzung. Jetzt ist es passiert. Daran ist nichts mehr zu ändern – und vielleicht ist es ja auch gar nicht nötig. Alles spricht für Dillons Tod, und an einem Verhältnis mit einer jungen und willigen Witwe ist schließlich nichts Böses. Falls er aber lebt, weiß er nichts davon; und wem liegt schon daran, es ihm zu erzählen – es sei denn, unsere Lady kriegt einen komischen Anfall von Gewissensbissen …?

Er sah ein, daß es viel schwieriger war, diese zynische Rechtfertigung aufrechtzuerhalten, als sich einfach die Wahrheit einzugestehen. Zum erstenmal in seinem Leben war er der Liebe so nahe gekommen – mit all ihrer Qual, ihrer Macht und ihrer Heimlichkeit. Und Mary Dillon liebte ihn auch; die Liebe war da – legal oder nicht – und mit ihr der Schmerz und die quälenden Fragen: Wird es noch genauso sein, wenn der neue Tag beginnt? Und wenn ja, wie soll es dann weitergehen?

Er spähte über das Wasser zu der Treibholzverschanzung hinüber, hinter welcher sich Lance Dillon vor erst vierundzwanzig Stunden versteckt hatte. Unwillkürlich ergriff ihn wieder Bewunderung für die Ausdauer und Geistesgegenwart dieses Mannes, der es nackt, verwundet und allein mit den Primitiven aufnahm, die im Busch so zu Hause waren wie ein Stadtbewohner auf den Straßen. Wie lange hatte er durchgehalten? Wie war er gestorben? Hatte er gewußt, daß seine Frau ihn verlassen wollte? War er im Haß gegen sie gestorben oder voller Trauer, daß er sie nicht zu halten vermocht hatte? Was hätte er an Neil Adams' Stelle getan? Lauter sinnlose Fragen – bis auf eine: Wo war Dillon jetzt? Wenn jemand sie beantworten konnte, dann Mundaru, der Mann des Büffels; und der rückte mit jeder Minute, die bis zum Anbruch der Morgendämmerung verging, dem Tod näher.

Neil Adams lauschte in die Nacht; er wartete auf die Rufe der Kadaitjamänner. Nichts geschah. Wenn Billy-Jo recht behielt, würde kein Laut ertönen, bis der Todesgesang mit dem Bullen-Brüllen begann. Er warf seine Zigarette in den Fluß und sah zu, wie sie von der Strömung in die Dunkelheit gezogen wurde. So waren all seine anderen Liebesabenteuer gewesen – ein rasches Aufglühen, ein rasches Verlöschen. Doch wer konnte voraussagen, wie lange diese neue Liebe dauern und welche Flamme aus der warmen Glut auflodern mochte?

Bei dem Geräusch von Schritten im Sand drehte er sich abrupt um. Mary stand blaß und lächelnd im Mondschein neben ihm. Er erhob sich, nahm sie in seine Arme, und so standen sie lange still und hielten sich umschlungen. Dann saßen sie gemeinsam auf dem flachen Felsen, Hand in Hand, doch die Gesichter voneinander abgewandt, umhüllt von der zärtlichen Zufriedenheit der Neuverliebten.

»Neil!«

Ihre Stimme klang sanft und bekümmert.

»Ja, Mary?«

»Ich möchte dir etwas sagen!«

»Nur zu.«

»Kennst du den alten Spruch: ›Das Schwierigste an der Liebe ist, daß man nie weiß, was man hinterher sagen soll?‹«

Er glaubte, in ihrer Stimme versteckten Spott zu hören, und sah sie an, doch in ihren Augen lag keinerlei Ironie, nur ein zärtliches Lächeln. Er schmunzelte und nickte. »Ja, den kenne ich. Und jetzt stehst du vor diesem Problem?«

Sie verneinte nachdrücklich. »Nein. Und du brauchst dir deswegen auch keine Sorgen zu machen. Da gibt's nichts zu sagen und nichts zu bereuen. Ich bin froh, daß es so gekommen ist, und ich werde immer daran denken. Aber wenn du es nicht willst, werde ich nie mehr davon sprechen. Das wäre alles.«

»Wirklich?«

»Was mich betrifft – ja.«

»Soll das heißen, daß du Schluß machst?«

Ihr Gesicht wurde ernst. Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Es soll dir meine Liebe beweisen, Neil. Ich weiß nicht, wie ich es dir sonst erklären soll, daß du jetzt genauso frei bist – so frei wie vorher bei den anderen.«

»Vielleicht will ich das gar nicht, Mary.«

»Dann bist du so lange frei, bis du deiner sicher bist.«

»Und dann?«

»Bis dahin bin ich meiner vielleicht auch sicher.«

Er packte sie heftig bei den Armen und schwenkte sie zu sich herum. Seine Augen blickten streng, und sein Mund war hart geworden.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Mary! Wir sind hier nicht auf einem Buschrennen, wo du beiden Seiten die Daumen drücken und dir auf deinem Tippschein ein Feld für den Außenseiter freihalten kannst!«

»Glaubst du, das will ich?«

»Ja.«

Sie hob stolz den Kopf und sah ihn herausfordernd an.

»Also gut, Neil! Dann sage ich jetzt alles. Was heute nacht passiert ist, habe ich gewollt. Ich würde nichts davon zurücknehmen, selbst wenn ich könnte. Falls Lance tot ist, bin ich frei. Wenn er lebt und gesund ist … Ich wollte ihn sowieso verlassen. Und ich liebe dich, Neil. Bloß, wie stellst du dir das Weitere vor?«

Sein Griff um ihre Arme lockerte sich. Der barsche Kommandoton verschwand aus seiner Stimme.

»Ich – ich denke, wir sollten einfach abwarten.«

»Genau das habe ich dir die ganze Zeit zu sagen versucht, Neil«, meinte sie trocken. »Ich liebe dich genug, um dir deine Freiheit zu lassen. Aber sag nie mehr, ich wollte jeder Seite die Daumen drücken. Das hab' ich einmal gemacht und nie wieder.«

»Entschuldige, Mary.«

»Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber du darfst mir auch keine machen. Wenn ich mir selbst etwas vorwerfe, geht das nur mich etwas an, und ich würde dich nie damit belasten. Und jetzt küß mich, Darling – und laß uns nicht mehr reden.«

Doch selbst in dem Kuß spürte er die Bitternis der Reue und der Erkenntnis, daß Schuld eine einsame Bürde ist – und daß ein Mensch schon eine besondere Beherztheit braucht, um diese Bürde geduldig zu tragen. Mary Dillon hatte diesen Mut, und Adams wünschte, er selbst wäre sich seiner wenigstens halb so sicher.

Als das Morgengrauen sich über den östlichen Himmel breitete, verharrte Mundaru, der Mann des Büffels, am Rande des Graslandes. Er war durchfroren, schwach, hungrig und vor allem verwirrt. Die ganze Nacht war er auf den Spuren des weißen Mannes entlanggekrochen. Jeden Moment hatte er damit gerechnet, ihn einzuholen, tot oder lebendig; aber er hatte ihn noch immer nicht gefunden.

Zehn Schritte weiter ging das hohe Gras in einzelne Büschel über, zwischen denen verkrüppelte Korkeichen wuchsen. Es war eine breite Dürrezone ohne Wasser, die an jenem Kalksteinhügel endete, zu dessen Füßen sich bemalte Pfähle um den geweihten Flaschenbaum gruppierten. Kein Leben, keine Bewegung, nichts rührte sich in dem weiten Raum. Der weiße Mann war verschwunden, und Mundaru flüchtete sich in den letzten verzweifelten Glauben, daß jener schon lange tot war und er eine Geistergestalt verfolgt hatte, die ihn ins Verderben lockte.

Dieser Gedanke hatte etwas Besänftigendes. Der Tod wohnte bereits in seinem Körper. Er konnte nicht mehr hoffen, nicht weiterfliehen. Wenn die Kadaitjamänner kämen – und bald würde es soweit sein –, sollten sie ihn, das Opfer des Sühnerituals, bereit finden.

Steif richtete er sich auf und trat aus dem Grasland in die freie Ebene hinaus. Das Tageslicht kam auf und ließ die Sterne zu Nadelspitzen verblassen. Ein leichter Wind schüttelte die Blätter der Korkeichen. Der Chor der Ochsenfrösche erstarb allmählich, und der erste Vogel des jungen Morgens flog als unheimlicher schwarzer Schatten gegen den Himmel. Es war ein Geier, und bald würden mehr, viel mehr über Mundaru kreisen und darauf warten, daß er starb.

Auf halbem Wege zu dem Hügel blieb er stehen, legte seine Speere zur Seite, wickelte seine Feuerstäbchen aus und kauerte sich auf die Erde, um in einem der trockenen, harten Grasbüschel eine kleine Flamme zu entfachen. Eine unnütze Arbeit. Schließlich hatte er nichts, was er kochen konnte. Auch würde das Feuer ihn nicht wärmen. Doch einen Stab zwischen seinen Handflächen zu rollen und dessen Spitze gegen die harte Kante eines zweiten Holzes zu reiben, um dann den ersten Funken zu einer winzigen Flamme zu blasen – das alles erforderte so viel Konzentration, daß es seine Gedanken von den heranpirschenden Männern ablenkte.

Als er damals selbst die Kadaitjastiefel getragen hatte, hatte sein Opfer wie ein verschrecktes Tier auf dem Boden gekauert und sich erbrochen. So wollte er nicht sterben. Er vermochte nicht zu kämpfen und die geweihten Speere herauszufordern; doch er konnte wenigstens ein letztesmal die Tat eines Mannes vollbringen, die Fähigkeit des Traumvolkes noch einmal beweisen: eine Flamme unter seinen Händen erblühen zu lassen.

Im Osten glühte der Himmel blutrot, und die Sonne hob sich langsam über den Horizont. Die Spitze des rotierenden Stabes rieb sich an dem hohlen Hartholz heiß, und ein dünner Rauchfaden stieg aus dem Grasbüschel auf. Mundaru knurrte zufrieden und blies ständig weiter, um den ersten Funken nicht ersterben zu lassen. Längliche Schatten verdunkelten die Erde, und als er aufschaute, standen sechs bemalte Männer bewegungslos wie Felsen vor ihm. In ihren erhobenen Armen hielten sie Wurfspeere, und die langen gezackten Spitzen deuteten auf seine Brust.

Die Feuerstäbchen fielen ihm aus den Händen. Der Rauch erlosch. Mundarus Arme hingen schlaff herab, und sein Blick erforschte die bemalten Gesichter, die ihn umstanden, und deren Augen zwischen den ockergelben Streifen kalt wie Granit starrten.

Dann erklang hinter ihm der Bullenschrei, ein dünnes Jaulen zuerst, das zu einem tiefen, donnernden Brüllen anschwoll. Es erfüllte die ganze Luft und ließ die Erde vibrieren. Es hämmerte in seinem Schädel, kroch in das Mark seiner Knochen und blähte seine Eingeweide auf. Es verstopfte seine Ohren, versengte seine Augäpfel und drückte ihm die Nase zu, daß er nicht mehr atmen konnte.

Die Kadaitjamänner warteten und lauschten regungslos, ihre Speerspitzen waren bereit. Das Brüllen hielt fast zwanzig Minuten an, dann brach es plötzlich ab. Blind, taub und zitternd wartete Mundaru in der Stille. Dann erklang ein Geräusch wie flatternde Vogelschwingen in seinem Rücken, und er kippte vornüber, den heiligen Speer zwischen den Nieren.

Lange vor Beginn des Bullenschreis hatte Billy-Jo die Pferde gesattelt und das Packpony beladen. Mary Dillon und Neil Adams standen am Feuer und tranken heißen Kaffee. Die Spannung zwischen ihnen war gewichen, und sie unterhielten sich ernsthaft und ungezwungen über den bevorstehenden Tag.

»Ich möchte dir erklären, wie ich die Lage beurteile, Mary. Das kann falsch sein, aber im Moment sehe ich keine andere Möglichkeit.«

»Du kannst wirklich nicht mehr von dir verlangen, Neil. Also fang an.«

»Ich bin dafür, daß wir die Myalls vergessen und uns nur noch auf die Suche nach deinem Mann konzentrieren. Die Stammesfehde ist jetzt nicht so wichtig, um die kann ich mich später immer noch kümmern. Auf der anderen Seite könnten wir einen ganzen Tag verlieren, ohne die geringste Spur von deinem Mann zu finden. Billy-Jo ist der beste Fährtenleser im Territorium. Aber auch er kann keine Wunder vollbringen, verstehst du?«

»Natürlich.«

»Dabei gehe ich von der Voraussetzung aus, daß dein Mann tot ist. Alle Anzeichen sprechen dafür. Heute ist schon der dritte Tag, und wir wissen ja, daß er ziemlich schwer verletzt war. Der einzige Mensch, von dem wir irgend etwas erfahren können, ist der Mann, der ihn verfolgt hat – Mundaru. Hinter dem sind die Kadaitjamänner her, und sie werden ihn erwischen – todsicher.«

»Aber wie kann er dir dann weiterhelfen?«

»Bei einem Kadaitjamord bleibt das Opfer noch ein paar Stunden am Leben. Das ist der Sinn des Rituals: nicht die Hand eines Menschen, sondern eine magische Kraft bringt den Tod. Wenn ich den Mann erwische, bevor er stirbt, kann ich vielleicht noch etwas aus ihm herauskriegen. Aber versprechen kann ich das nicht … Wenn wir das nicht schaffen, wollen Billy-Jo und ich für den Rest des Tages das Sumpfgebiet durchkämmen.«

»Neil?«

Zärtlichkeit und ein Anflug von Mitgefühl lagen in ihrer Stimme.

»Du bist ein guter Polizist, glaube ich.«

»Ich freue mich, daß jemand so von mir denkt.«

Er küßte sie flüchtig, goß den Rest seines Kaffees ins Feuer und wollte sich gerade den Pferden zuwenden, als der erste dröhnende Laut des Bullengebrülls über den Sumpf herüberschallte. Alle drei erstarrten: Billy-Jo beim Festzurren eines Gurtes, Adams mitten im Gehen, Mary mit dem Blechbecher vor dem Mund. Selbst in dem nüchternen, kalten Morgenlicht schlugen die primitiven Mächte sie in ihren Bann.

Billy-Jo warf den Kopf zurück wie ein lauschender Hund, und mit eindringlicher Gebärde stieß seine Hand nach vorn.

»Da hinten, Boss. Weit weg. Hinter Sumpfland.«

Adams nickte.

»Wir wollen versuchen, es zu umgehen. Kein Grund, uns da mitten durchzuschlagen.« Er wandte sich an Mary. »Bevor wir aufbrechen, Mary … du reitest zwischen Billy-Jo und mir. Gleichgültig, was passiert, behalt deine Nerven. Und tu genau, was ich dir sage, klar?«

»Klar.«

»Dann also los.«

Er hob sie in den Sattel, und sie ritten los, Neil Adams voran, hinter ihm Mary, als letzter Billy-Jo, der auch das Packpony führte. Sie ritten durch die Furt, erkletterten die steile Böschung und trabten dann auf dem schmalen Streifen zwischen den Büschen und dem Rand des Graslandes stromaufwärts.

Sie waren vielleicht eine halbe Meile geritten, als das Brüllen jäh abbrach. Neil Adams hielt an, und sie warteten, während er sich in den Steigbügeln aufrichtete und das Sumpfgebiet überblickte, dessen Gräser leicht im Morgenwind wogten. Nach ein paar Minuten ließ er sich wieder in den Sattel fallen, gab dem Pferd die Sporen und setzte im Galopp davon; die anderen dicht hinter ihm her.

Mary Dillon war wie in einer Art Trance. Sie war sich ihrer Umgebung zwar bewußt, aber völlig in ihre Erinnerungen versunken. Sie spürte alles und sah alles: das Muskelspiel ihres Pferdes, die peitschenden Äste und Zweige, den sausenden Wind in ihrem Gesicht, das junge Morgenlicht, welches sich über Land und Himmel ergoß, und vor sich Neil Adams als galoppierenden Zentauren. Doch ihre Gedanken schweiften zurück: zum Flußufer, zur Farm, zu der plötzlich aufgeflammten Leidenschaft, welche sie in Neil Adams' Arme getrieben hatte, zu dem langsamen Sterben ihrer Liebe zu Lance, zu dem einen wichtigen Augenblick, der ihre Welt und ihre Beziehung dazu so völlig verwandelt hatte.

Sie hatte solche Veränderungen schon früher bei anderen Frauen beobachtet, ohne sie jedoch zu begreifen – bis jetzt. Die Wandlung zum Besseren oder Schlechteren war erschreckend endgültig. Man ging sonderbar befreit daraus hervor, man war plötzlich frei in einem fremden Land, das Geheimnisse barg, die man in der Zeit der Gebundenheit und Treue nicht vermutet hatte. Es war die uralte Geschichte von Eva und dem Baum der Erkenntnis, als die Welt sich beim ersten Biß in eine unbekannte Frucht über Nacht verändert hatte.

Sie war noch immer eine verheiratete Frau, aber sie war nicht mehr dieselbe Frau wie früher. Vom Gläubiger in ihrer Ehe war sie zum Schuldner geworden. Sie hatte ihre Rechte verwirkt. Sie war in sich selbst gespalten: für den einen Mann war sie wertlos, für den anderen nur soviel wert, wie er dafür zu zahlen bereit war.

Wieviel würde er zahlen? Wieweit reichte seine Zurückhaltung aus Angst vor sich selbst, und wie weit gab er sie ihretwegen auf? Wieviel machte es ihr aus, ob er zahlte oder nicht, vorausgesetzt, sie konnte trotz seiner Bemühungen, es zu verbergen, noch Liebe und Achtung in seinen Augen lesen? Und Lance? Konnte sie nur deshalb noch zärtlich an ihn denken, weil er tot war? Falls er aber lebte, konnte sie ihm dann noch mit Würde gegenübertreten? Aber auch nach der schonungslosesten Gewissensprüfung war sie sich dessen sicher. Kaum eine Ehe zerbrach, ohne daß beide Seiten schuldig waren, und der Finger des Moralapostels wies oft in die falsche Richtung.

Plötzlich hielt Adams vor ihr an. Ihr eigenes Pferd bäumte sich auf, und sie konnte es nur mit Mühe zügeln. Adams drehte sich im Sattel um und zeigte über das Grasland auf eine dünne braune Rauchsäule, die zum Himmel aufstieg.

»Was hältst du davon, Billy-Jo?«

Der dunkelhäutige Späher rief ihm zu: »Kadaitjamänner, Boss. Greifen Mann. Brennen ihm Geisterschlange in Rücken.«

Adams nickte und wendete sich an Mary.

»Es ist also soweit. Komm näher.«

Sie brachte ihr Pferd seitlich ganz dicht an das seine heran, so daß sich ihre Steigbügel fast berührten.

»Wie weit sind sie weg, Neil?«

»Etwa eine halbe Meile. Wir reiten durchs Gras hin.«

»Ich hab' schreckliche Angst, Neil.«

Seine Hand langte herüber und schloß sich um ihre. Seine Stimme war ganz sanft: »Keine Sorge. Von jetzt ab bleiben wir zusammen.«

Als sie ihre Pferde durch das hohe üppige Gras lenkten, fragte sie sich, wie er diese acht simplen Worte wohl gemeint hatte.

Mundaru, der Mann des Büffels, lag ausgestreckt im Staub. Die Kadaitjamänner hockten um ihn herum und hielten seinen zuckenden Leib fest, während ihr Anführer die Speerspitze aus seinem Rücken zog. Neben ihnen brannte ein kleines Feuer; in dessen Mitte lag ein elliptisch geformter, auf beiden Seiten abgeflachter Stein. Die um den Stein herum entstehende Glut fegten sie sorgfältig zur Seite, damit das geweihte Objekt stets sichtbar blieb.

Als die Speerspitze aus dem Körper entfernt wurde, schoß das Blut aus der Wunde. Die Kadaitjamänner preßten rasch die Wundränder zusammen, während ihr Anführer in dem kleinen Rindenkorb kramte, den Willinja ihm anvertraut hatte. Er brachte einen weißen Quarzsplitter von der Länge eines Fingers zum Vorschein; diesen stieß er tief in die Wunde und verschloß sie dann mit einer Masse aus braunem Gummiharz. Mundarus Körper zog sich bei der Operation zusammen, und er bäumte sich in Krämpfen auf; die Kadaitjamänner hielten ihn jedoch fest und drückten seinen Mund tief in den Staub, damit er nicht schreien konnte.

Schließlich richtete der Anführer sich auf und ging zum Feuer. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, fuhr er mit der Hand in die Glut und ergriff den heiligen Stein. Er war fast weißglühend, doch er hielt ihn fest. Er fühlte keinen Schmerz, und als er den Stein auf die Wunde in Mundarus Rücken legte, wurden Fleisch und Harz augenblicklich versengt, während seine eigene Hand unverletzt blieb. Danach legte er den Stein wieder zurück auf die Erde, füllte seinen Mund mit Speichel und besprühte den heiligen Gegenstand damit, um jeden Makel abzuwaschen, der von Mundarus Körper an ihm haften könnte. Nachdem er abgekühlt war, legte er ihn in den Rindenkorb zurück und erhob sich. Die anderen stellten sich neben ihn und sahen auf Mundaru herab, der zuckend zu ihren Füßen stöhnte.

Ihr Werk war beinahe vollbracht. Jetzt fehlte nur noch der zeremonielle Todesgang. Sie zerrten Mundaru auf die Füße und stützten ihn, bis er stand, dann stießen sie ihn vorwärts. Beim ersten Schritt brach er zusammen, doch sie zwangen ihn wieder hoch, drehten sein Gesicht der geweihten Stätte zu und schoben ihn mit ihren Speeren voran. Wie durch ein Wunder blieb er auf den Beinen, und eine Hand auf seine zerfleischten Rückenmuskeln gepreßt, stolperte er los. Die Kadaitjamänner folgten mit ausgestreckten Speeren; ihr Tempo war dem seinen angepaßt.

Einen Schritt vor dem Bannkreis der bemalten Pfähle packten sie Mundaru wieder und drehten seinen Kopf hin und her, damit seine leblosen Augen das Symbol all jener Macht erblickten, welche er beleidigt hatte. Da versuchte er, angesichts des unabwendbaren Todes, sich zum erstenmal zu wehren. Gleichgültig, wie lange er noch lebte, sein letzter Kampf begann jetzt und hier. Die anderen hatten kein Mitleid mit ihm. Gemeinsam hoben sie ihn auf und schleuderten ihn zwischen die Blätter und sahen zu, wie ihn die Erde verschlang.

Noch hing das Echo seines letzten Verzweiflungsschreis in der Luft, als der Aufprall dumpf widerhallte; und als sie sich zum Gehen wandten, sahen sie die Reiter, die scharf auf sie zugeritten kamen.

Der Schrei weckte Lance Dillon aus fiebrigem Halbschlaf. Er lag am Rande des Wasserbeckens; der eine Arm baumelte taub und schlaff ins Wasser, der andere umklammerte noch immer den spitzen Stalaktiten. Als er die Augen öffnete, sah er zunächst nur einen verschwommenen Lichtfleck; aber als sein Blick klarer wurde, erkannte er, daß schräg durch den Höhleneingang die Sonne hereinschien. Es war also Morgen. Er hatte die Nacht überstanden. Er fragte sich, ob er auch den Mittag noch erleben würde. Vorsichtig rührte er sich auf seinem steinigen Podest und versuchte, wieder Leben in seinen tauben Arm zu bringen. Durch die Bewegung geriet er gefährlich nahe an den Beckenrand, und dabei bekam er genau die Stelle ins Blickfeld, wo der Sonnenstrahl den Sandboden der Höhle erhellte.

Panischer Schrecken durchfuhr ihn. Auf allen vieren kauerte dort die Gestalt eines dunkelhäutigen Myalls im Sonnenlicht. Der hob gerade seinen Kopf, und Dillon erkannte die vorstehenden Augäpfel und den grinsend verzogenen Mund über den weißen Zähnen. Er wußte sofort, wer es war. Das war der Mann, der ihn im Tal verletzt, der die Verfolger zwei Nächte und einen Tag auf seine Spur gehetzt und der ihn endlich hier gefunden hatte, wo er eingeschlossen den Tod erwartete. Der Myall bewegte sich und verließ den hellen Lichtfleck; er ließ den Kopf sinken, sein Körper verschmolz mit der Dunkelheit, und Dillon verlor ihn eine Zeitlang aus den Augen. Er hörte nur noch die kurzen heftigen Atemstöße, als der Myall sich der niedrigen Kalksteinsäule näherte. Jede Sekunde mußte er aufstehen, um sein Opfer von dem Podest zu stoßen.

So wollte Dillon nicht sterben, gefangen in einem dunklen Loch wie eine Ratte. Ein instinktiver Überlebenswille hielt jeden Nerv in seinem Körper hellwach. Seine Finger schlossen sich fest um den steinernen Dolch, und mit einer ungeheuren Willensanstrengung raffte er seine letzten Lebenskräfte zusammen.

Er stemmte sich auf die Knie, schwenkte seinen Körper herum, so daß seine Beine über die Kante des Beckenrandes hingen, bis er schließlich mehr oder weniger aufrecht dasaß. Vor Anstrengung brach ihm der Schweiß aus, und er stöhnte laut; kleine Steinsplitter lockerten sich und fielen ins Wasser. Als der Schwächeanfall vorüber war, wunderte er sich, warum der Myall ihn nicht angegriffen hatte, dessen keuchender tierischer Atem ihm näher schien als vorher.

Dillon wischte sich den Schweiß ab, der in seinen Augen biß, und spähte in die dunklen Nischen der Höhle nach seinem Gegner. Jetzt sah er ihn, einen Schritt entfernt vom Fuß der Plattform, wie er heftig schnaufend im Sand kniete. Ein schwacher Lichtstrahl erhellte die Umrisse von Schultermuskeln und Wirbelsäule.

Jetzt mußte er es tun. Wenn der Myall seinen Kopf hob, war es zu spät. Dillons Finger krampften sich um den dicken Knauf des Stalaktiten, und mit beiden Händen stieß er ihn in den Körper des Myalls.

Er fühlte, wie sich die Spitze tief in das Fleisch bohrte, er hörte den Kalkstein unter seinem Gewicht knirschen, dann schlug die Finsternis wie eine Welle über ihm zusammen und vermischte sich mit dem Geruch des Todes.