9
Genau einen Speerwurf weit von den Kadaitjamännern machte Neil Adams halt. Aufrecht saß er im Sattel und beobachtete die bemalten Männer, die sich lauernd und gespannt in einer Reihe vor dem Eingang zu der geweihten Stätte aufgestellt hatten. Ihre Speere steckten in den Einkerbungen der Wurfstöcke – eine einzige unbedachte Bewegung, und augenblicklich würden sie die Reiter umzingeln und niederschlagen. Zwar könnte man sie mit Gewehrschüssen abwehren; doch das bedeutete Mord, und nach den ungeschriebenen Gesetzen der Territoriumspolizei war das Barbarei, ein Eingeständnis des Scheiterns. Zwanzig Jahre Mühe, mit den Eingeborenen auszukommen, wären umsonst gewesen.
Ruhig sagte er zu Mary: »Ich gehe jetzt mit Billy-Jo hin und rede mit ihnen. Sollte es Ärger geben, reitest du wie der Teufel zum Fluß und holst die Viehtreiber her.«
»Ja, Neil.«
»Aber bleib erst einmal hier. Beweg dich nicht, ehe sie nicht den ersten Speer geworfen haben.«
»Glaubst du …?«
»Tu, was ich dir sage.«
»Ja, Neil.«
»Billy-Jo!«
»Ja, Boss?«
»Wir gehen zu Fuß.«
Der Spurenleser zuckte die Achseln und stieg vom Pferd. Neil Adams schob mit einer ostentativen Geste seine Flinte in die Satteltasche zurück, dann stieg auch er ab, und langsam schritten sie beide auf die bemalten Männer zu, die Arme weit nach vorn gestreckt, mit nach oben gerichteten Handflächen, zum Zeichen, daß sie in friedlicher Absicht und ohne Waffen kamen.
Kreidebleich und voller Angst verfolgte Mary Dillon die Situation. Die Kadaitjamänner blickten ihnen entgegen und maßen ihre Schritte mit den Augen ab. Ihre Finger umklammerten fest die Waffen, und die Muskeln waren gespannt. Sie waren jeden Moment zum Wurf bereit. Zwanzig Meter vor den Pfählen blieben Adams und der Späher breitbeinig mit vorgestreckten Armen stehen. Die Feindseligkeit der anderen wirkte wie eine Mauer. Adams befeuchtete seine trockenen Lippen und sagte zu Billy-Jo: »Sag ihnen, wir kommen in friedlicher Absicht; und sag ihnen auch, daß wir wüßten, was mit Mundaru geschehen ist. Außerdem wüßten wir, daß er Willinjas Gattin vergewaltigt und umgebracht hat. Sag ihnen, wo die Leiche ist und daß sie sie mit zum Lager nehmen sollen.«
Der Spurenleser brummte zustimmend, und nach einem Augenblick der Sammlung erhob er seine heisere Stimme wie ein Stammesprediger. Sie klang hoch und dramatisch durch die Stille, dann rollte sie in langen, widerhallenden Sätzen, begleitet von eindringlichen und weit ausladenden Gebärden. Während er sprach, sah Adams, wie die Kadaitjamänner sich gegenseitig mit fragenden Blicken anschauten, und er spürte, daß ihre Feindseligkeit ein wenig nachließ. Als Billy-Jo seine Rede beendet hatte, tuschelten sie eine Weile leise miteinander; schließlich legte einer seine Speere auf die Erde, trat in den freien Raum vor und begann zu sprechen. Billy-Jo übersetzte für Adams: »Mundaru tot. Gefressen von Geisterschlange. Bleibt an Geisterplatz. Ist schwarzer Mann Sache. Weißer Mann nicht anrühren.«
»Sag ihnen, wir verstehen, daß das Sache des schwarzen Mannes ist. Sag ihnen, Boss Dillon wird vermißt und wir glauben, Mundaru hat ihn getötet. Darum ist das jetzt auch Sache des weißen Mannes. Ich möchte zu ihrem Geisterplatz gehen und mit Mundarus Geist reden. Wenn sie versuchen, mich daran zu hindern, gibt es Ärger für sie und ihren Stamm. Sag, daß wir Willinja einen Dienst erwiesen und versucht haben, seiner Frau zu helfen. Er steht in unserer Schuld. Er wird wütend werden, wenn sie es ihm nicht ermöglichen, seine Schuld zu begleichen.«
Billy-Jo nahm das Thema wieder auf, schmückte es, wie unter seinen Leuten üblich, weitschweifig aus und übertrug die pragmatische Logik des weißen Mannes in die verwickelte Denkweise der Eingeborenen. Adams verstand die Sprache gut genug, um mitzubekommen, daß der Späher großes Gewicht auf das persönliche Ansehen legte, das der Polizist bei den Stämmen genoß. Er betonte wieder und wieder, daß Adams stets seine Schulden beglichen, daß er sich niemals in ihre Rechte und Gebräuche eingemischt, daß er nie mit der gespaltenen Zunge des Lügners gesprochen, daß er die Eingeborenen vor plündernden Herumtreibern geschützt habe und daß seine Freundschaft fest und seine Rache furchtbar sei.
Die Antwort des Kadaitjamannes war eindeutig und klar. Er verstand all die Forderungen des Polizisten, doch Mundarus Leben gehörte den Geistern, und der weiße Mann durfte die Geisterstätte nicht betreten.
Nachdem ihm Billy-Jo diese Antwort übersetzt hatte, fand sich Adams in einer peinlichen Zwangslage. Die Myalls wußten, daß der weiße Mann die Opfer von Stammestötungen zu retten und auf seine Art zu verhören versuchte. Sie kannten aber auch die ungeschriebene Abmachung, daß ihre eigenen geheimen Plätze respektiert werden mußten. Eine Mißachtung dieser Vereinbarung würde seinem Ansehen nur schaden und ihm nichts weiter einbringen als einen Speerstoß zwischen die Rippen. Er wollte Zeit gewinnen.
»Frag sie, Billy-Jo, ob sie wissen, daß Mundaru den großen Bullen getötet hat und daß er Boss Dillon gejagt hat, um auch ihn zu töten.«
Ja, das wußten sie, hieß die Antwort.
»Wissen sie, was dem weißen Mann zugestoßen ist?«
Nein, das wußten sie nicht. Aber wenn er tot war, so war die Schuld durch Mundarus Tod gesühnt.
Adams holte tief Atem. Er spielte jetzt – mit seinem eigenen Leben, mit dem von Billy-Jo und vielleicht auch mit Marys.
»Dann sag ihnen folgendes: Ich glaube, daß Mundaru den weißen Mann bis hierher verfolgt und in die Geisterhöhle getrieben hat oder daß er ihn getötet und seine Leiche dort versteckt hat. Wenn das stimmt, wird sein Geist nicht ruhen, sondern ewig an dieser Stelle herumwandern und die Zauberkraft des Stammes zerstören …« Und auf seine sarkastische Art fügte er leise hinzu: »Um Christi willen, mach deine Sache ja gut!«
Der Späher warf ihm einen kurzen zweifelnden Blick zu und richtete sich wieder an die Jäger. Diesmal klang die Antwort des Myalls nicht mehr so feindselig, sondern eher verhandlungsbereit.
»Er sagt, du nicht sicher, Boss. Du gehen runter, vielleicht kommen rauf mit Boss Dillon, vielleicht nicht. Aber du nicht Mundaru nehmen. Mundaru gehören Geisterschlange.«
Trotz der Gefährlichkeit dieser Situation empfand Adams ein ironisches Vergnügen darüber, wie sie ihn zu überrumpeln versuchten. Sie wollten Mundaru unter allen Umständen für sich behalten. Er verstand auch, warum. Sie waren die auserwählten Scharfrichter. Sie mußten eine vollzogene Hinrichtung melden – andernfalls würden sie selbst bestraft werden. Um zu erreichen, was er wollte, mußte er das Gesetz zu ihren Gunsten beugen; denn solange ihre Speere auf seine Brust gerichtet waren, blieb ihm keine andere Wahl.
Er wandte sich zu Billy-Jo: »Sag ihnen, ich sei einverstanden. Sag ihnen, sie sollen jetzt gehen und das Mädchen holen. Ich werde Mundaru in der Geisterhöhle lassen. Gib ihnen eine Botschaft an Willinja mit, daß ich ihn bei Sonnenaufgang aufsuchen werde.«
Billy-Jo übersetzte, und die Antwort kam umgehend.
»Sie wollen bleiben, Boss. Sehen dich runtergehen. Sehen dich raufkommen.«
Adams Gesicht verfinsterte sich vor verhaltenem Zorn.
»Ich habe sie nie belogen. Wenn sie mir nicht glauben, sollen sie mich töten!«
Noch während Billy-Jo sprach, riß Adams sein Hemd auf und schritt, ihnen seine nackte Brust bietend, auf sie zu. Dies war eine Geste, die bei den Primitiven üblich war: Bestätigung der Männlichkeit durch Prahlerei und Provokation. Drei Schritte vor dem Sprecher der Kadaitjamänner hielt er an, und der bemalte Mann und der Polizist standen sich herausfordernd gegenüber und blickten sich mit zusammengekniffenen Augen gegenseitig in die versteinerten Gesichter. Dann knurrte der Kadaitjamann zufrieden und wendete sich ab. Adams tat dasselbe. Er hatte das Spiel gewonnen, ohne daß sein Gegner sein Gesicht verlieren mußte.
Die Kadaitjamänner brachen auf, liefen zurück zum Grasland und auf den Fluß zu. Adams und Billy-Jo gingen zu den Pferden. Adams' Hände zitterten, als er in den Sattel kletterte und die Zügel ergriff. Mary fragte ihn ängstlich: »Du hast dort so klein und einsam ausgesehen. Worum ist es gegangen?«
Er zuckte mit den Achseln und grinste. »Ein reiner Handel. Die wollten mich nicht an ihren heiligen Ort lassen. Ich hab' sie überredet – oder vielmehr Billy-Jo.«
Der dunkle Späher kicherte leise.
»Boss Adams großer Spieler, Missus. Vielleicht gewinnen, vielleicht kriegen ganzen Bauch voll Speere.«
»Vielleicht.«
Adams ging gleichgültig über das Thema hinweg, doch Marys Anteilnahme und Bewunderung wärmten ihn wie Whisky und gaben ihm etwas von seinem Selbstvertrauen zurück, das er am Flußufer eingebüßt hatte. Als sie über das offene Land zu dem großen Flaschenbaum galoppierten, fragte sie ihn ernsthaft: »Hast du mir weiter nichts mitzuteilen, Neil?«
»Über deinen Mann? Nichts. Wir wissen nur, daß Mundaru da unten in der Höhle ist. Wir haben gesehen, wie sie ihn hineingestoßen haben. Es besteht die Möglichkeit, daß er noch lebt – es ist unsere einzige Chance.«
»Ich hatte Angst um dich, Neil. Als ich dich auf die Speere zugehen sah, dachte ich – ich dachte, wenn dir etwas passierte, könnte ich es nicht ertragen.«
Er versuchte, einen Scherz zu machen.
»Ist ja schrecklich, was du alles aushalten mußt.«
»Mach dich nicht lustig über mich, Neil.«
»Mach' ich ja gar nicht, Mary. Ich wollte dich bloß daran erinnern, daß uns noch einiges Unerfreuliche bevorsteht.«
»Ich weiß. Ich denke die ganze Zeit daran.«
Ein paar Meter vor den bemalten Pfählen hielten sie an. Adams stieg vom Pferd und übergab Billy-Jo die Zügel. Der Eingeborene starrte ihn fragend an. Adams erriet seine unausgesprochenen Gedanken.
»Ich geh' erst mal allein, Billy-Jo. Die Myalls beobachten uns bestimmt, um zu sehen, was wir machen. Ich muß mein Versprechen halten. Wenn Mundaru noch lebt, schicke ich dich hinunter, um mit ihm zu reden. Warte hier mit Mrs. Dillon.«
Er kramte in der Satteltasche und brachte eine Taschenlampe zum Vorschein. Er knipste sie probehalber an und ging auf die zwischen den Blättern sichtbare Öffnung zu. Marys Stimme hielt ihn zurück.
»Bitte sei vorsichtig, Neil.«
Er lachte und winkte ihr beruhigend zu.
»Das ist doch bloß eine Höhle voller Knochen und Fledermäuse. In ein paar Minuten bin ich zurück.«
Er stand noch einen Moment und leuchtete mit der Lampe in das Gewölbe hinein, dann trat er auf die abschüssige Sandrampe und war im nächsten Augenblick nicht mehr zu sehen. Eine schreckliche Sekunde lang schien es Mary Dillon, als wäre er in einer tiefen geheimen Hölle verschwunden, aus der er niemals zurückkehren würde.
Auf halbem Wege die Schräge hinunter blieb Adams stehen, lauschte und leuchtete mit seiner Taschenlampe in das Dunkle. Nichts war zu hören als das leise Knirschen des Sandes unter seinen Stiefeln. Der trockene Moderduft war durchsetzt mit dem beißenden Geruch von Blut und menschlichen Ausdünstungen. Die umherirrenden Lichtstrahlen erfaßten die vom Gewölbe herabhängenden Fledermäuse, die mit geheimnisvollen Gegenständen vollgestopften Höhlennischen und die hell schimmernden Stalaktiten.
Adams richtete die Lampe auf den Boden, und als er das letzte schräge Stück abwärts ging, ließ er sie weit kreisen. Aus dem Schatten drang der helle Ton eines einzelnen Wassertropfens zu ihm; Adams richtete den Strahl aufwärts und erblickte im Schein der Lampe die beiden Körper: flach in den Sand gestreckt der eine, und darüber wie ein schlaffer Sack der andere.
Der Schock dieses Anblicks ließ Adams entsetzt zurückfahren und laut aufstöhnen, dann trat er vorsichtig an die Gestalten heran. Beide lagen bewegungslos und still da. Er kniete sich nieder, um sie zu untersuchen, und bemerkte, daß der Darüberliegende ein Weißer war. Behutsam rollte er ihn auf den Rücken. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, mußte er würgen; er wandte sich ab und erbrach sich.
Das Gesicht war eine einzige geschwollene Masse, Augen und Nasenlöcher aufgedunsen, vor dem verzerrten Mund stand Schaum. Die eine Schulter war eine einzige eiternde Wunde, und die Haut darum herum war aufgequollen und entzündet. Der Rumpf war über und über zerkratzt, wund von Sonnenbrand und mit Staub und getrocknetem Blut überkrustet. Die Hände waren auf dem Bauch gefaltet, und die Finger krampften sich um einen Kalksteinsplitter. Von dem Aufsprung schien eine Rippe gequetscht zu sein.
Adams ließ den Strahl der Taschenlampe über den Körper des Myalls gleiten und sah die ausgebrannte Speerwunde und daneben den Stalaktiten in seinem Rücken. Bei der Berührung des starren kalten Körpers fuhr er zusammen und zog die ausgestreckte Hand schnell wieder zurück. Dann leuchtete er nach oben und entdeckte die Felsenplatte, auf der Dillon gelegen hatte. Jetzt wurden ihm die grausamen Vorgänge mit einemmal klar: Dillon, an seinem letzten Zufluchtsort in die Enge getrieben. Der sterbende, in der Höhle herumtappende Eingeborene. Der letzte Verzweiflungssprung des weißen Mannes auf seinen Jäger. Nun waren beide tot, und all ihre Probleme waren gelöst – und noch eine Menge mehr, von denen keiner der beiden vorher etwas geahnt hatte.
Eine ungeheure Erleichterung kam über ihn, und er fühlte sich seltsam gelöst und befriedigt. Sein Ruf blieb gewahrt. Der Bericht konnte ehrlich und diskret abgefaßt und das Begräbnis so arrangiert werden, daß Mary dieser grausige Anblick erspart blieb. Und nach einer angemessenen Zeit konnten sie an ihre eigene Zukunft denken.
Doch dann erwachte wieder der routinierte Polizist in ihm; er beugte sich herab, um die Leichen nochmals genau zu untersuchen. Er hob den Arm des Myalls und fühlte nach dem Puls. Nichts. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Mit einem Ruck zog Adams den Stalaktiten heraus und schleuderte ihn in eine Ecke der Höhle. Warum sollte er den Bericht komplizieren? Todesursache: Speerverletzungen. Ein Kadaitjamord. Punktum.
Danach neigte er sich über Dillon, um auch ihn zu untersuchen. Er hob die geschwollenen Lider und sah die aufwärts gerollten Augen. Er hielt sein Ohr lauschend gegen den gebrochenen Brustkorb. Kein Herzschlag war zu hören. Doch als er den Puls fühlte, stockte ihm der Atem, und sein Herz wurde schwer wie ein Stein. Der Puls war da, flach und unregelmäßig. Aber er war da. Lance Dillon lebte.
Zum erstenmal in seinem Leben begriff Adams, was Mord bedeutete. Da gab es nur ein Motiv, eindeutig und abscheulich, und zwar war das der überwältigende Drang, mit einem Streich das Hindernis zum Glück zu beseitigen. Es war eine großartige, einmalige Gelegenheit. Laß Dillon noch ein paar Stunden allein, und er wird ganz sicher sterben. Er, Adams, brauchte nur hinaufzugehen und Mary und Billy-Jo zu erzählen, er habe beide Männer tot aufgefunden. Dann könnte er, um der Witwe den grauenhaften Anblick zu ersparen, zurück zu den Viehhirten reiten. Die würden später die Leiche holen und zur Polizeistation bringen, und die Untersuchung würde zweifellos ergeben: Tod durch Verletzung mit einem Speer, Infektion und Erfrieren.
Ein paar entsetzliche, endlos scheinende Minuten lang war er von diesem Gedanken wie besessen. Er konnte es tun. Er wollte es tun. Straffreiheit war ihm garantiert. Hier in dem nackten Land vertrat Neil Adams das Gesetz. Sein Wort stand außer Zweifel. Er brauchte nur Mut genug, um sich abzuwenden und ins Sonnenlicht hinauszutreten.
Doch diese grauenvolle Vorstellung verließ ihn allmählich, und er stand bloß noch schwitzend und zitternd vor Dillon, der zu seinen Füßen wie eine von spielenden Kindern vergessene schmutzige Stoffpuppe lag. Und bevor ihn weitere derartige Vorstellungen heimsuchen konnten, lud er Dillon wie einen Sack über seine Schultern und stolperte die steile Rampe hinauf ins Tageslicht.
Sie hüllten Lance Dillon in Decken und legten ihn unter den Flaschenbaum in den Schatten. Sie wuschen sein Gesicht, träufelten ihm Wasser und Whisky zwischen die Zähne und sahen die schwache Lebensflamme in ihm einen Moment aufflackern und gleich wieder verlöschen. Sie taten dies alles mit entschlossener und schweigsamer Konzentration, so als ob auch der leiseste Wortwechsel ihre Geheimnisse in den Himmel hinaufschreien könnte.
Tränenlos beugte sich Mary Dillon über ihren Mann, trocknete ihm die Lippen, wischte ihm den Eiter aus den Augen und hielt ihm den Kopf, damit Adams ihm die Flüssigkeit aus seinem Becher einflößen konnte. Nach einem ersten entsetzten Aufschrei bei dem furchtbaren Anblick war sie in Schweigen verfallen, doch ihrem Gesicht sah man an, wie es in ihr kämpfte. Ihre Wangen waren bleich, die Haut straffte sich über den Backenknochen, und alles Blut war aus ihren Lippen gewichen. In ihren starren Augen spiegelten sich Bestürzung, Mitleid, Aufruhr, Schmerz, Verwirrung und bloßes physisches Grauen wider. Doch zärtlich wie eine Liebende und geschickt wie eine Krankenschwester bemühte sie sich um das, was von Lance Dillon übriggeblieben war.
Neil Adams stand ein wenig abseits, rauchte nervös eine Zigarette und unterhielt sich leise mit Billy-Jo. Nach einer Weile kam er wieder zu ihr und sagte behutsam: »Es wird Zeit, daß wir aufbrechen. Gilligan kommt heute morgen zurück. Ich möchte sichergehen, daß die Landebahn für ihn fertig ist.«
Mary Dillon nickte und fragte tonlos: »Wie bringen wir Lance dorthin?«
»Wir legen ihn vornüber auf das Packpferd. Wir polstern alles mit Decken aus und binden ihn fest. Bequemer können wir's ihm nicht machen.«
»Wird er die Strecke überstehen?«
»Das weiß nur Gott, Mary. Unten in der Höhle dachte ich, er wäre tot. Ich kann nicht sagen, daß es ihm jetzt besser ginge. Gilligan soll nach Ochre Bluffs funken, daß der Doktor sich bereit hält. Lance muß sofort ins Krankenhaus. Mehr können wir nicht tun.«
»Ich hätte nie geglaubt, daß er soviel aushalten kann.«
Sie sprach mit einer unverändert tonlosen Stimme, und ihr Gesicht war nur noch eine weiße Maske.
»Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Gib ihm noch einen Schluck Whisky, und dann laß uns aufbrechen.«
Ihre nächsten Worte trafen ihn wie ein Blitz.
»Wenn er stirbt, Neil, mach dir keine Vorwürfe. Du hättest ihn auch in der Höhle zurücklassen können, und niemand hätte es je erfahren – wenn ich auch vielleicht etwas vermutet hätte. Falls es sein muß, werde ich ihm das erzählen.«
Das war für ihn wieder eine neue Lektion über die komplexe Logik der Frauen. Er kaute immer noch an ihr herum, als sie den Fluß überquerten und bei der Landebahn ankamen, um die Botschaft für Gilligan mit Steinen auf der Erde auszulegen.
Das Flugzeug drehte zwei niedrige Runden, bevor es auf der Piste aufsetzte. Es rumpelte über die holperige Fläche, rollte aus und kam gegenüber der kleinen, im Schatten der Niaulibäume versammelten Gruppe zum Stehen. Gilligan stellte den Motor ab, kletterte aus der Maschine und rannte zu ihnen hinüber. Als er Lance Dillon unter den Decken erblickte, verengten sich seine Augen, und er stieß einen leisen, überraschten Pfiff aus.
»Armer Teufel! Wo habt ihr ihn gefunden?«
Adams deutete mit dem Daumen über seine Schulter und antwortete knapp: »Auf der anderen Flußseite. Sein Zustand ist schlimm. Du mußt ihn sofort nach Ochre Bluffs bringen. Funk nach dem Doktor und gib dem Krankenhaus Bescheid. Speerwunden, Sonnenbrand, schwere Infektion und Erfrierungen. Mrs. Dillon fliegt mit dir. Sie sollen auch für sie ein Bett im Krankenhaus bereithalten. Frag morgen als erstes auf der Minardoo Farm nach mir.«
Mary warf ihm einen schnellen verstörten Blick zu. »Kommst du nicht mit uns, Neil?«
Er schüttelte den Kopf. »Erstens ist kein Platz für mich da. Zweitens muß ich zum Myallager hinüber und diese Kadaitjageschichte erledigen. Dann muß ich eure Pferde zur Farm zurückbringen. Außerdem braucht ihr jetzt einen Arzt und keinen Polizisten. Wir sehen uns morgen in Bluffs.«
»Ja natürlich. Ich – ich kann noch nicht wieder klar denken.«
Adams wandte sich Gilligan zu. »Kannst du ihn in deiner Kiste bequem unterbringen?«
Der Pilot nickte. »Wir können einen Sitz zurückschieben und Dillon auf den Boden legen. Wir brauchen höchstens eine Stunde, wenn ich alles aus der Maschine raushole. Er hat's ganz komfortabel.«
»Dann also los.«
Die Viehhirten hoben Lance Dillon auf und trugen ihn zum Flugzeug hinüber. Gilligan kletterte hinein, um Platz für seine Passagiere zu schaffen. Mary Dillon und Neil Adams standen ein wenig abseits und sahen zu. Adams meinte verlegen: »Ich laufe nicht weg, Mary. Ich muß diese Sache hier erst erledigen. Uns bleibt später noch Zeit zum Reden.«
Sie blickte ihn nicht an, als sie ruhig erwiderte: »Ich verstehe, Neil. Es ist besser so. Und – und ich muß auch eine Zeitlang allein sein.«
Gilligan steckte den Kopf aus dem Cockpit und rief: »Seid ihr soweit? Hebt ihn rein.«
Sie hoben den schlaffen Körper vorsichtig in den Bauch der Maschine. Der Pilot streckte seine Hand aus, half Mary ins Cockpit und schloß die Tür. Er warf den Motor an, wendete und steuerte die Maschine so, daß sie gegen den Wind starten konnte.
Durch die Windschutzscheibe konnte Mary Neil Adams mit Billy-Jo und den Viehtreibern sprechen sehen. Sie winkte ihm zu, doch er bemerkte sie nicht, und bevor die Räder von der roten Erde abgehoben hatten, schien es, als hätte er sie bereits vergessen.
Das Flugzeug stieg steil in die Höhe, ging in die Kurve und nahm Kurs auf Ochre Bluffs. Als sie wieder Kurs geradeaus genommen hatte, bückte sich Mary, um nach ihrem Mann zu sehen, der, mit Polstern und Decken gegen das Ruckeln des Flugzeugs geschützt, an der Wand lag. Er hatte die Augen noch immer geschlossen, das verzerrte Gesicht war ihm auf seine Schulter gesunken, und sein Puls schlug noch immer schwach und flatternd. Sie kniete sich mühsam hin und zwängte seine Lippen auseinander, um ihm noch ein paar Tropfen Wasser und Whisky einzuflößen. Ein wenig Flüssigkeit rann ihm den Mundwinkel hinab. Mary wischte sie mit einem Zipfel ihres Taschentuches ab, dann sank sie auf den Sitz hinter dem Piloten.
Gilligan drehte sich um und überschrie den Motorenlärm: »Wie geht's ihm?«
Sie zuckte die Achseln und breitete hilflos die Hände aus. Gilligan nickte verständnisvoll und versuchte sie zu ermutigen. »Bleiben Sie sitzen und drücken Sie die Daumen. Ich tu' mein Bestes.«
Sie war froh, als er sich wieder den Kontrollgeräten zuwandte und sie aus dem Fenster schauen konnte, anstatt in das jammervolle Gesicht zu ihren Füßen zu starren. Sie hatten den Fluß und das Grasland hinter sich gelassen, und das nackte Land breitete sich unter ihnen aus, eine weite rote Fläche, bestanden mit spärlichen Krüppelwäldern, Sandsteinhügeln und verstreuten Ameisenhaufen, die wie Liliputanerberge aussahen. Die Hitze brannte vom blaßblauen Himmel herunter und stieg von der heißen Erde in Wellen und Wirbeln hoch, zwischen denen das kleine Flugzeug wie ein Insekt hin- und herschwankte.
Kalter Schweiß brach auf Marys Stirn aus, und um gegen die Übelkeit anzukämpfen, beugte sie ihren Kopf auf die Knie herunter. Auf keinen Fall konnte sie jetzt ein neues Mißgeschick, eine weitere Demütigung ertragen. Mehr als alles andere brauchte sie Kraft, um auch den letzten Akt des Dramas zu überstehen. Nach ein paar Minuten flog die Maschine wieder ruhig, die Schwäche ließ nach, und Mary wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch über Gesicht und Hände.
Sie hatte die Wahrheit gesprochen, als sie zu Neil Adams gesagt hatte, sie müßte allein sein. Von dem Augenblick an, als er Lance aus der Höhle getragen hatte, schien jede Geste wie einstudiert und jedes Wort eine schamhafte Lüge zu sein. Die aufwallende Zärtlichkeit und das Mitleid für Lance wurden zurückgedrängt durch die Anwesenheit des Mannes, mit dem sie ihn betrogen hatte. Alles war so schnell gegangen, daß dem Geschehen noch immer ein Hauch von Unwirklichkeit anhaftete, wie ihn die Zuschauer bei einem Theaterstück empfinden mochten. Es war ein Stück von der Ehrlichkeit und ihren Folgen gewesen, wobei die Ehrlichkeit nur teilweise zum Ausdruck gekommen war und die Folgen noch nicht abzusehen waren.
Hier in der blendenden Weite zwischen Himmel und Erde, wo das Dröhnen des Flugzeugs ihre Sinne betäubte, löste sich der Schock allmählich, und ihr Verstand begann wieder zu arbeiten. Ihr Mann lebte. Sie konnte noch für ihn empfinden und mit ihm fühlen. Das Gefühl hatte sich verändert, es war schwächer geworden und hatte sich mit neuen Empfindungen für einen anderen Mann vermischt; doch es lebte – es war ein Rest von Liebe für das, was von ihrem Mann übrig war.
Noch war nicht abzusehen, wo alles enden würde. Die Liebe war zuerst langsam verwittert und dann geschwind verweht. Auch der Mann war gebrochen, und selbst wenn er überlebte – was würde von ihm bleiben? Von seinem zähen, kräftigen Körper, von seinem strebsamen, ehrgeizigen und doch kurzsichtigen Geist?
Und Neil Adams? Auch er hatte den Schauplatz verkrampft und stumm wie eine Marionette verlassen. Was dachte er jetzt? Was erhoffte oder befürchtete er von der kurzen leidenschaftlichen Begegnung unter dem Sternenhimmel? Mit welchen inneren Teufeln hatte er unten in der Geisterhöhle gerungen? Wie würde er sie, Mary, morgen um diese Zeit begrüßen?
So viele Fragen – und ihre Antwort war von demselben dünnen Faden abhängig, an dem das Leben von Lance Dillon hing. Sie schloß die Augen und lehnte ihren Kopf gegen die schwingende Wand des Flugzeugrumpfes, während sich der weite öde Teppich des Landes unter ihr ausbreitete.
Das Land …! Eines wußte sie ganz sicher. Sie würde sich nie wieder vor ihm fürchten. Sie mochte es lieben oder verabscheuen, in ihm leben oder es verlassen, aber nie wieder würde sie es fürchten. Sie hatte seine schlimmsten Seiten kennengelernt – Schmerz, blinde Grausamkeit und Blut, das in seinem Staub trocknete. Doch sie hatte auch seiner Melodie gelauscht, sie hatte unter seinen Sternen geschlafen und sie hatte sich beim Liebesakt seinem herben Zauber hingegeben. Jetzt war es ihr Land, und sie gehörte zu ihm; genau wie sie jedem der beiden Männer gehörte, ohne zu wissen, ob sie bei dem einen bleiben oder mit dem anderen gehen sollte.
Willinja, der Zauberer, saß im Schatten des spitzen Felsens und beobachtete die beiden Reiter, die wie eine Fata Morgana auftauchten und über die Ebene näher kamen. Er hatte keine Angst vor ihnen, doch er wäre froh gewesen, wenn er die Begegnung schon hinter sich gehabt hätte. An Tagen wie heute spürte er die Jahre in seinen müden Knochen, und die Last der Sorge um sein Volk drückte schwer auf seine Schultern. Er wünschte, er könnte sie ablegen wie eine Schlangenhaut, um wie die anderen alten Männer in der Sonne zu sitzen und sich von seinen jungen Frauen versorgen zu lassen.
Doch dafür war es noch zu früh, denn bis jetzt war kein junger Mann bereit und fähig, sich dem Todesritual zu unterziehen und die Last der Macht und des Wissens auf sich zu nehmen. Vielleicht würde es überhaupt nie mehr dazu kommen. Immer mehr junge Burschen zog es in die Städte der Weißen, zu den Farmen und den Lagern der Erzbergleute. Die übrigen waren viel zu sehr mit den Problemen des täglichen Lebens beschäftigt, als sich einer so langwierigen Vorbereitungszeit unterziehen zu wollen. Andere Stämme waren bereits davon betroffen, deren Namen nun für immer ausgelöscht waren. Es begann damit, daß sie ihr Wissen vernachlässigten, welches der Schlüssel zum Überleben war. Darauf schwanden allmählich ihre Fertigkeiten, die Fruchtbarkeit der Frauen ließ nach, und die Totemgeister nahmen eine immer feindseligere Haltung ein. Eines Tages blieben dann nur noch die Alten übrig, verschrumpelte Weiber und zahnlose Greise, die im Sand hockten und an Lilienwurzeln kauten, weil sie kein Fleisch mehr essen konnten.
Die beiden Männer, die jetzt langsam auf ihn zugeritten kamen, verkörperten für Willinja sowohl den Wandel wie auch den Grund dazu. Der dunkelhäutige Mann war zum Diener des Weißen herabgewürdigt worden und ahmte dessen Verhalten, dessen Kleidung und Gewohnheiten nach, er verschmähte das alte Wissen und eignete sich neues an. Der weiße Mann nahm das Land in Besitz, verringerte den Wildbestand, errichtete Grenzbarrieren, brachte neue Gesetze und neue Krankheiten mit; er vermischte sein Blut allmählich mit dem der Stämme und zerstörte sie dadurch. Auch heute konnte der weiße Polizist eine Strafe verhängen, durch die man dem Tag des Endes wieder zwei Schritte näherrückte.
Die Kadaitjamänner waren zurückgekommen, um von Mundarus Tod, Menyans Ermordung und der Begegnung mit Adamidji draußen vor der Geisterhöhle zu berichten. Sie hatten von ihrem Abkommen berichtet und es zu rechtfertigen versucht; doch er hatte sie ohne ein Wort zu sagen fortgeschickt. Das Abkommen bedeutete nichts, wenn der weiße Mann nicht gewillt war, sich daran zu halten. Willinjas Augen verengten sich und suchten durch die heiße flimmernde Luft zu dringen. Falls sie Mundarus Leichnam brachten, wäre das ein böses Omen. Wenn nicht, gab es noch Hoffnung auf einen günstigen Ausgang. Doch die Reiter waren noch zu weit entfernt, um zu erkennen, was das für eine Ladung war, die das Packpony auf seinem Rücken trug.
Die Leiche seiner Gattin Menyan war am Flußufer begraben worden. Sie sollte dort bleiben; vielleicht würden sie die Stelle mit einem Rindenstreifen oder einem Steinhügel markieren. Das einfache Begräbnis war für eine Frau ausreichend, vorausgesetzt, daß sie geziemend zur letzten Ruhe gesungen wurde. Im Lager bereiteten sie sich gerade darauf vor: alle Gegenstände, die Menyan benutzt oder berührt hatte, wurden zusammengetragen und in einem Erdloch aufgehäuft, um bei Sonnenuntergang verbrannt zu werden. Geschah das nicht, würden die ›Wingmalungs‹ sich darin festsetzen und Krankheit über den Stamm bringen. Schon allein der Name der toten Frau konnte sie herbeirufen, und darum sprach ihn niemand mehr aus – nicht einmal ihr Mann, der doch so mächtig war.
Willinja trauerte nicht um sie. Er war zu alt, um mehr als ein bloßes Bedauern zu empfinden; zudem konnte er sich doch bald eine neue mädchenhafte Gattin kaufen. Allerdings konnte er noch zornig werden, und sein Zorn richtete sich gegen den toten Mundaru, dessen törichte Gier eine blühende Frau vernichtet und den gesamten Stamm in Gefahr gebracht hatte. Die Vergeltung war vollzogen; der Blutpreis war entrichtet; doch nur Willinja wußte, daß die Folge eines Verbrechens ein fortgesetzter Fluch war, den keine Strafe völlig auslöschen konnte.
Die Reiter waren inzwischen näher herangekommen, und Willinja war ein wenig erleichtert, als er sah, daß das Packpony seine gewöhnliche Ladung trug und keine Leiche über seiner Kruppe hing.
Als sie abstiegen und zu ihm traten, ließ er sich nicht anmerken, daß er sie gesehen hatte, sondern blieb mit gekreuzten Beinen sitzen und zeichnete mit der Fingerspitze Muster in den Sand.
Neil Adams setzte sich ihm gegenüber und wartete. Billy-Jo blieb einen Schritt abseits neben Adams stehen. Es vergingen ungefähr drei Minuten, bis der Magier sein Haupt erhob und den Polizisten ansah, und es dauerte noch länger, bevor sie zu sprechen begannen. Obgleich Billy-Jo ihnen als Dolmetscher diente, schien es, als wäre er gar nicht vorhanden, als unterhielten sie sich ganz normal über allgemeine Themen.
»Jemand ist getötet worden«, begann Adams ruhig. »Mundaru, der Mann des Anaburu.«
»Und Menyan, mein Weib«, sagte Willinja. »Und der weiße Mann?«
»Der weiße Mann lebt. Doch er kann noch sterben.«
»Ich wollte es verhindern.« Der Zauberer zeichnete ein kompliziertes Muster in den Sand und wischte es mit seiner Handfläche wieder weg.
»Du hast die Männer mit den Federstiefeln ausgeschickt«, sagte Adams nun grob. »Das ist verboten. Du weißt es.«
»Würde der weiße Mann noch leben, wenn die Geisterschlange Mundaru nicht getötet hätte?«
Ein schwaches Lächeln erschien in Neil Adams' Mundwinkeln. »Würden nicht alle noch leben, wenn eure Burschen den Bullen nicht getötet hätten?«
Willinja schaute ihn prüfend an.
»Du sagst, wir müssen das Gesetz des weißen Mannes befolgen. Ist der weiße Mann denn hier, um meine Männer in Schach zu halten? Ist er hier, um mein Weib zu schützen? Er kommt und geht, und wenn er nicht hier ist, wer sollte ihn dann fürchten? Aber vor den Kadaitjastiefeln haben sie stets alle Angst.«
Diese Logik leuchtete Adams ebenso ein, wie sie dem Manne selbstverständlich war, der sie äußerte. Ob farbig oder weiß, niemand würde ein Gesetz beachten, wenn es keine Strafandrohungen gäbe. Wenn du nicht hier bist, um deine Maßnahmen durchzuführen, dann müssen wir eben auf unsere eigenen zurückgreifen! Adams nickte ernst und dachte über Willinjas Ausführungen nach.
Eine Weile später sagte er: »Du bist der Mann, der mit den Geistern spricht, Willinja. Du wirst mir diese Frage beantworten: Wer hat Mundaru getötet? Die Kadaitjamänner oder die Geisterschlange?«
»Die Geisterschlange.«
»Hätten es die Kadaitjamänner getan, würdest du dann verstehen, daß ich sie mit nach Ochre Bluffs nehmen und bestrafen müßte?«
»Das würde ich verstehen.«
»Doch mit einer Geisterschlange ist es etwas anderes; eine Geisterschlange darf ich nicht anrühren. Ich glaube, was du mir erzählst …«
Ein schwacher Schimmer der Anerkennung leuchtete in den alten Augen des Magiers auf. Hier hatte er einen Mann vor sich, der etwas von den Feinheiten der Umgangsformen verstand, der nachgab, wenn es sein mußte, dessen Speer jedoch stets scharf und mit Widerhaken versehen war. Ernst erwiderte er: »Heute wird Mundaru von der Geisterschlange gefressen. Heute abend singen wir die ›Wingmalung‹ aus … aus diesem Mädchen. Morgen wird das Vieh des weißen Mannes sicher sein.«
»Das freut mich«, erklärte Neil Adams.
Aber Willinja hatte ihn bereits entlassen und zeichnete neue Muster in den warmen Sand.
Als sie wieder auf ihre Pferde stiegen und zur Farm ritten, fühlte Adams eine stille Zufriedenheit in sich aufkeimen. Er war mit Willinja gut zurechtgekommen. Er hatte in einem Punkt nachgegeben, doch am Prinzip festgehalten. Er war respektiert worden, doch der andere hatte dabei nichts von seinem Ansehen eingebüßt. Er hatte die rostige Verbindung zwischen einem Mann des zwanzigsten Jahrhunderts und seinem steinalten Bruder etwas geglättet. Und obgleich ihm das niemand je danken würde, verhalf es ihm doch zu einer gewissen Selbstzufriedenheit. Solange ein Mann seinen Job beherrschte und jede Situation unter Kontrolle behielt, konnte er nachts ruhig schlafen. Doch passierte die kleinste Kleinigkeit, gab es schon Scherereien. Die Verfehlungen eines Polizisten waren öffentliches Eigentum. Er lebte in einem Glashaus, und den Steuerzahlern war es recht so; sie bezahlten sein Gehalt, und als Gegenwert für ihr Geld verlangten sie Sicherheit für ihre Familien und keine krummen Geschäfte unter dem Schreibtisch.
In den Ausdrücken des Rinderlandes gesprochen, war Neil Adams bis jetzt eine reine Haut gewesen, ohne Zeichnung auf seinem Fell. Doch wenn er morgen nach Ochre Bluffs zurückkam, würde er sich dann selber gezeichnet haben? Als Liebhaber der Witwe von Lance Dillon oder als Mitbeklagter bei dessen Scheidung? Bei Mondschein und unter Sternen ließ es sich leicht von Liebe sprechen; aber bei Tageslicht gab es ein Dutzend schmutzigere Bezeichnungen dafür, und die derben Männer des Territoriums kannten sie alle.
Während sie ritten, drehte er sich zu Billy-Jo um und fragte sich, wieviel der dunkle Späher wohl am Flußufer mitbekommen hatte und wie er diesen ungewohnten Umgang von Boss Adams beurteilen mochte.
Sein eigener Zynismus widerte ihn plötzlich an. Er liebte diese Frau, und er hätte fast gemordet, um sie behalten zu können. Liebe bedeutete Aufrichtigkeit und Mut, Stolz und Selbstbewußtsein sowie eine Herausforderung an alle Welt, sich heranzuwagen und zu versuchen, diese Liebe zu zerstören.
Warum schlich er dann davon – vor Mary, vor sich selbst? Warum drückte er sich dann vor dem Tuscheln in einer Landkneipe?
Mit einem Schlag war ihm die Wahrheit bewußt. Nicht die Liebe stand zur Debatte, weder Marys noch seine, sondern der Tribut, den er dafür leisten mußte: er mußte den Willen aufbringen, sich mehr oder weniger an eine Frau zu binden. Ein Liebhaber war frei von Sorgen und Verantwortung. Aber ein Ehemann – der trug außer den Sorgen und der Verantwortung auch noch einen Trauring, wie ein Zuchthengst seine Kette. Es war ein Vergnügen, das Preisschild zu betasten; doch das Geld auf die Theke zu legen, die Ware einzupacken und zum Vor- oder Nachteil davonzutragen – ah! – das war etwas ganz, ganz anderes.
Die Pferde trotteten durch Staub und flimmernde Hitze nach Hause. Neil Adams hing locker im Sattel und dachte an Mary Dillon, die zurückflog und allein mit der Krise fertig werden mußte, in die er sie gestürzt hatte.