Südkurier & Flug nach Arras

Antoine de Saint-Exupéry

1953

Inhaltsverzeichnis

I  Südkurier

Erster Teil

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Zweiter Teil

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Dritter Teil

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II  Flug nach Arras

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Teil I

Südkurier

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Erster Teil

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Radiomeldung. 6.10 h. Von Toulouse an alle Stationen: Südkurier Frankreich–Amerika von Toulouse ab 5.45 h stop.

Der Himmel, klar wie blaues Wasser, wusch die Sterne rein und ließ sie hell aufleuchten. Dann war es Nacht. Düne um Düne entfaltete sich die Sahara unter dem Schein des Mondes. Sein Lampenlicht, das keinen Gegenstand bloßstellt, aber alle richtig einordnet, umspielte unsere Stirnen und breitete einen zarten Schleier über alle Dinge. Unter seinen lautlosen Schritten dehnte sich die Pracht des dichtesten Sandes. Und wir gingen unbedeckten Hauptes dahin, befreit vom Druck der Sonnenstrahlen. Die Nacht: welche Heimstatt …

Durften wir aber dem Frieden trauen? Der Passatwind glitt ohne Unterlaß gegen Süden. Er strich über den Dünensand, daß es raschelte wie Seide. Das war kein europäischer Wind, der sich dreht, der bisweilen aussetzt; nein, er lastete auf uns, unaufhörlich wie der Luftstrom, den ein rasch fahrender Eisenbahnzug erzeugt. Besonders nachts wehte er uns oft so hart an, daß wir uns, nach Norden gewandt, gegen ihn stemmen mußten und doch das Gefühl hatten, von ihm fortgetragen zu werden, einem unbekannten Ziele zu. Immer nur Hast, immer Unruhe!

Die Sonne war herumgegangen und brachte den neuen Tag. Die Mauren rührten sich nur wenig. Die Sidi bis zum spanischen Fort heranwagten, fuchtelten mit den Armen und schwangen ihre Gewehre wie ein Spielzeug. Das war eine Sahara auf dem Theater: die wilden, nicht unterjochten Stämme hatten nichts Geheimnisvolles mehr und wirkten wie Statisten.

Da lebten wir, ganz aufeinander angewiesen, und hatten nichts anderes vor uns als das eigene Spiegelbild im engsten Rahmen. Deshalb fühlten wir uns auch nicht in die Wüste verbannt: wir hätten heimkehren müssen, um uns dieses Fernsein so recht vorzustellen und die Weite ganz zu erfassen.

Über fünfhundert Meter hinaus entfernten wir uns nicht; da begann das Heidenland. So waren wir Gefangene der Mauren und auch unsere eigenen Gefangenen. Nicht anders saßen unsere nächsten Nachbarn, in Cisneros, in Port-Etienne, siebenhundert und tausend Kilometer von uns entfernt, in der Sahara gefangen wie Erz in einer ungeheuren Masse tauben Gesteins. Auch sie spazierten um ihr Fort herum. Wir kannten sie, wußten ihre Spitznamen, ihre Eigenheiten, doch zwischen uns lagerte dasselbe undurchdringliche Schweigen wie zwischen bewohnten Planeten.

Heute morgen aber begann die Welt für uns sich zu rühren, und endlich reichte uns der Funker ein Telegramm — zwei Masten, in den Sand gerammt, verbanden uns einmal in der Woche mit dieser Welt: Kurier Frankreich–Amerika von Toulouse abgeflogen 5.45 h stop. Aus Alicante 11.10 h.

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Da sprach Toulouse, das ferne Toulouse, die Kopfstation. Ein Gott im Weltall.

In den nächsten zehn Minuten kann uns die Nachricht auch aus Barcelona, aus Casablanca, aus Agadir zu, und sie lief weiter, nach Dakar. Über eine Strecke von fünfhundert Kilometer hin waren alle Flughäfen lebendig geworden. Um sechs Uhr abends neue Nachrichten, man teilte uns mit:

Kurier wird 21 h Agadier landen, 21.30 h nach Cabo Juby weiterf-ahren‘ dort mit Michelin-Bombe niedergehen stop. Cabo Juby wird übliche Lichtzeichen vorbereiten stop. Befehl: In Kontakt mit Agadir bleiben.

Gezeichnet: Toulouse

So verfolgten wir in der tiefsten Einsamkeit der Sahara, vom Observatorium von Cabo Juby aus, einen fernen Kometen.

Gegen sechs Uhr abends regte sich auch der Süden: Aus Dakar für Port-Etienne, Cisneros, Juby: Mitteilt dringend Nachrichten Kurier.

Aus Juby für Cisneros, Port-Etienne, Dakar: Keine Nachrichten seit Abfahrt Alicante 11.10 h.

Irgendwo braust ein Motor. Von Toulouse bis zum Senegal ist man bemüht, ihn zu hören.

2

Toulouse 5.30 h.

Das Flughafenauto hält hart vor dem Eingang der Halle, das Tor steht weit offen, es ist Nacht und es regnet. Das fünfhundertkerzige Licht der Bogenlampen macht die Dinge kantig und bloß, alles steht klar da wie in einer hellen Auslage. Unter diesem Lichtgewölbe hallt das gesprochene Wort wider, es bleibt haften und wuchtet in der Stille.

Die Blechteile glänzen, der Motor zeigt keine Ölspuren. Das Flugzeug sieht wie neu aus. Das Ganze gleichsam ein empfindliches Uhrwerk, an das die Mechaniker zart, mit Erfinderhänden, rühren. Jetzt treten sie beiseite, das Ding ist in Ordnung.

»Schnell, meine Herren, schnell …«

Sack um Sack versinkt die Kurierpost im Innern des Apparats. Ein rasches Nachzählen: Buenos Aires … Natal … Dakar … Casa … Dakar … 39 Säcke. Stimmt’s?

»Es stimmt.«

Der Pilot zieht sich an. Wolleibchen, Halstuch, Lederanzug, gefütterte Stiefel. Sein Körper, so umschlossen, wird gewichtig. Man ruft ihm zu: »Schnell! Es ist Zeit …« Allerlei in den Händen tragend, die Uhr, den Höhenmesser, die Kartentasche, daß die Finger starr werden in den dicken Handschuhen, klettert er schwer und ungelenk auf seinen Führerplatz. Ein Taucher, der nicht in seinem Element ist. Endlich sitzt er auf seinem Platz, da wird alles leicht und recht.

Ein Mechaniker steigt hinter ihm ein:

»Sechshundertdreißig Kilogramm.«

»Gut. Passagiere?«

»Drei.«

Ohne sie zu sehen, nimmt er ihre Personalien zur Kenntnis. Der Diensthabende wendet sich halb um, zu den Arbeitern:

»Wer hat hier die Haube angeschraubt?«

»Ich.«

»Zwanzig Franken Strafe.«

Der Diensthabende kontrolliert ein letztes Mal: alles in Ordnung; jede Bewegung abgezirkelt, wie beim Ballett. Das Flugzeug steht in der Halle an seinem richtigen Platz, in fünf Minuten wird es den richtigen Weg in den Nachthimmel nehmen. Der Flug ist ebenso genau berechnet wie der Stapellauf eines Schiffs. Diese fehlende Schraube: ein Versehen, das in die Augen springt. Fünfhundertkerzige Bogenlampen, scharfe Blicke rundum, harte Energie, auf daß dieser Flug von Station zu Station bis Buenos Aires oder Santiago ein ballistischer Efiekt sei und nicht ein Werk des Zufalls. Auf daß, trotz Sturm, Nebelschwaden, Wirbelwind, trotz der tausendfältigen Tücken der Ventilfeder, des Kipphebels und des ganzen Materials, dennoch alles, was da läuft: Expreß, Schnellzug, Dampfer und Frachter, erreicht, überholt, ja weit überflügelt werde! Und eine Rekordzeit für die Landung in Buenos Aires oder in Santiago …

»Los!« Dem Piloten Bernis wird ein Blatt hineingereicht. Er liest: Perpignan meldet klaren Himmel, keinen Wind. Barcelona: Sturm. Alicante …

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Toulouse 5.45 h.

Die mächtigen Räder drücken die Bremsklötze nieder. Der Propeller macht Wind, daß das Gras bis auf zwanzig Meter hin wegweht. Mit einer Bewegung seiner Hand entfesselt oder beruhigt Bernis diesen Sturm.

Im Auf und Ab wird der Lärm immer dröhnender und ist bald wie etwas Festes, Dichtes, das alles Körperliche umfängt. Wenn der Pilot fühlt, wie ihm daraus eine Fülle, eine Sättigung steigt, denkt er: jetzt ist’s recht. Dann schaut er nach vorn, auf die schwarze Haube, die sich gegen den hellwerdenden Himmel stemmt, wie ein Geschütz. Über die Luftschraube hinaus zögert noch die Landschaft im ersten Morgengrauen.

Noch rollt das Flugzeug, langsam, bei Gegenwind; da zieht der Pilot den Gashebel. Im Bann des Propellers stößt der Apparat in die Höhe. Die ersten Sprünge wiegen sich in der elastischen Luft, dann scheint der Erdboden sich zu spannen, er leuchtet unter den Rädern auf wie ein Treibriemen, der in Gang kommt. Der Pilot prüft die Luft, die anfangs dünn ist, dann fließend wird, endlich fest genug, er stützt sich an ihr empor und steigt.

Die Bäume, die zunächst die Fahrt begleiteten, geben schon den Horizont frei, dann verschwinden sie. In zweihundert Meter Höhe kann man sich noch hinabbeugen wie zu einer Landschaft, die ein Kind aufgebaut hat, wo die Bäume gerade stehen, bemalte Häuser dazwischen, und auch der Wald hat etwas Künstliches an sich, wie ein grüner Pelz: bewohnte Erde …

Bernis sucht die beste Rückenhaltung, die richtige Ellbogenlage, die er braucht, um sich wohl zu fühlen. Hinter ihm bezeichnen die tiefliegenden Dünste über Toulouse die Stelle, wo die Bahnhofshallen liegen. Immer weniger bremst er seinen Apparat, der steigen will, und gibt etwas von der Kraft frei, die er mit der Hand zügelt. Jede Bewegung seines Handgelenks läßt eine Kraftwelle schießen, die ihn mit emporhebt und in seinem Körper höher und höher flutet.

In fünf Stunden Alicante, heute abend Afrika. Bernis kommt ins Träumen. Er ist zufrieden: »Ich habe Ordnung gemacht.« Gestern hat er Paris mit dem Nachtexpreß verlassen — es war ein sonderbarer Urlaub gewesen, von dem ihm nur die dumpfe Erinnerung an etwas Dunkles, Unruhiges bleibt. Später wird er vielleicht unglücklich sein, für den Augenblick aber läßt er alles hinter sich, als liefen die Dinge ganz ohne ihn weiter. Heute, jetzt meint er, mit dem jungen Tag da draußen zu werden und zu wachsen, meint, mithelfen zu müssen — o Morgenstunde! —, diesen Tag aufzubauen. Er denkt: Ich bin nichts als ein Arbeiter, ich habe den Kurier für Afrika zu besorgen. Fängt doch an jedem Morgen für den Arbeiter, der an dieser Welt zu bauen beginnt, die Welt von neuem an.

»Ich habe Ordnung gemacht …« Der letzte Abend in der Wohnung. Zeitungsblätter werden um die Bücherhaufen geschichtet, Briefe werden verbrannt, andere Briefe geordnet, die Möbel bekommen ihre Überzüge. Jedes Ding wird ans Licht gebracht, aus seiner Umgebung gerissen, irgendwohin gestellt. Und dieser Aufruhr im Herzen, der doch keinen Sinn mehr hat!

Bernis hat sich für den nächsten Tag vorbereitet wie für eine Reise, hat sich gleichsam eingeschifft, um den andern Morgen zu erleben, als wär’s Amerika. So vieles war noch nicht zu Ende gebracht und kettete ihn noch an sich selber. Und auf einmal — war er frei. Er erschrickt fast davor, daß er so verfügungsbereit, so sterblich dasteht.

Carcassonne, mit seinem Notlandung-splatz, venschwindet tief unter ihm. Wieder eine Welt, die so wohl geordnet ist. —- Dreitausend Meter! — Geordnet wie das Kinderspielzeug in der Schachtel. Häuser, Kanäle, Straßen, alles Spielzeug der Menschen. Eingeteilte Welt, Viereck um Viereck, jedes Feld grenzt an seinen Rain, jeder Garten hat seine Mauer. Carcassonne, wo jede Krämerin das Leben ihrer Großmutter wiederlebt. Armseliges Glück, kleingepflastert. Alles Spielereien des Menschenvolks, nett aufgehoben im Glaskasten.

Ja, diese Welt im Glaskasten, viel zu sehr zur Schau gestellt, zu ordentlich ausgebreitet, die Städte abgezirkelt auf der offenen Karte; die Erde entrollt sich langsam und bringt ihm alles so pünktlich dar wie Flut und Ebbe. Es fällt ihm ein, daß er allein ist. Auf dem Zifferblatt des Höhenmessens spielt die Sonne. Eine helle, kalte Sonne. Jetzt ein Hebelgriff, das Seitensteuer wirkt: die ganze Landschaft verrinnt. Das Licht wird plötzlich schimmernd, der Erdboden scheint zu leuchten: alles, was den Zauber, den Duft, die Weichheit der lebendigen Dinge ausmacht, ist weggeweht.

Und doch — unter dem Lederrock ist Fleisch, warm und vergänglich, Bernis! In den dicken Handschuhen leben Hände, wunderbare Hände — weißt du, Genoveva, Hände, die es verstanden, mit dem Rücken ihrer Finger ganz leicht über deine Wangen zu gleiten …

Da ist Spanien.

3

Jacques Bernis, heute wirst du über Spanien fliegen und dabei wohlgemut sein wie ein Hausbesitzer! Was sich deinen Blicken darbieten wird, eins ums andere, das kennst du schon, und mit Seelenruhe wirst du dich zwischen den Gewittern durchsteuern. Barcelona, Valencia, Gibraltar — an dich herangebracht und wieder fortgetragen. So ist’s recht. Du rollst die Karte auf, die vor dir liegt, und was überwunden ist, mag sich rückwärts wieder aufhäufen. Aber ich entsinne mich deiner ersten Schritte und meiner letzten Ratschläge, damals, als es deinen ersten Kurierflug galt. Am andern Morgen schon solltest du mit deinen Armen forttragen, was ein Volk fühlt und denkt. Mit deinen schwachen Armen. Forttragen inmitten von tausend Gefahren, wie man einen Schatz unter dem Mantel davonträgt. Ein kostbarer Kurier, hatte man dir eingeschätft, ein Kurier, wertvoller als das Leben. Und so heikel. Ein Schatz, den ein falscher Griff in Flammen aufgeben lassen oder in alle Winde verstreuen kann. Ich erinnere mich an diesen Abend vor dem Kampf:

»Und dann?«

»Dann müßtest du trachten, den Strand von Peniscola zu erreichen. Aber Vorsicht vor den Fischerbarken!«

»Und weiter?«

»Bis Valencia wirst du immer Notlandungsplätze finden; ich zeichne sie mit Rotstift: an. Im schlimmsten Falle mußt du auf ausgetrocknete Rios niedergehen.«

Bernis sah sich wieder im Lehrkurs, beim Schein des grünen Lampenschirms, vor den ausgebreiteten Landkarten. Aber heute wußte ihm der Lehrer von jedem Stück Erdboden ein lebensvolles Geheimnis zu enthüllen. Die fremden Länder gaben jetzt nicht mehr tote Ziffern kund, sondern wiesen ihm wirkliche Felder, und die Blumen blühten — nur freilich, dieser Baum ist zu meiden —, und hier war ein schöner Badestrand mit feinem Sand —, nur, wenn es dunkelt, hat man sich vor den Fischern zu hüten.

Das eine, Jacques Bernis, hast du ja schon verstanden, unsereins wird niemals Granada kennenlernen oder Almeria oder die Alhambra und die Moscheen, aber einen Bach, einen Orangenbaum und all das, was sie an leisen Heimlichkeiten bergen.

»Hör zu: Wenn es hier schönes Wetter gibt, so steuerst du immer geradeaus! Wenn das Wetter aber schlecht ist und du tief fliegst, so halte dich mehr links und biege in dieses Tal ein!«

»Ja, ich biege in dieses Tal.«

»Und über diesen Paß hier kommst du ans Meer.«

»Ich komme ans Meer über diesen Paß.«

»Und gib acht auf deinen Motor: da ist eine senkrecht ansteigende Steilküste mit Felsen.«

»Und wenn der Motor mich sitzenläßt?«

»Dann hilf dir, wie du kannst!«

Bernis mußte lächeln: junge Piloten sind Romantiker. Ein Felsstück kann herabstürzen und ihn erschlagen; ein Kind, das läuft, kann von einer Hand, die es zufällig berührt, zu Falle gebracht werden.

»Nein, nein, mein Lieber, man hilft sich schon.«

Bernis war stolz auf diese Lehre: in den Kindheitstagen hatte ihm die Äneis kein Geheimnis verraten, das vor dem Tode schützt.

Der Finger, den der Professor auf die Karte von Spanien legte, war ja nicht die Hand eines Rutengängers, offenbarte keinen Schatz und deckte keine Gefahr auf, und von der Hirtin, die da unten auf der Wiese hütet, wußte er nichts.

Heute, in der Erinnerung, ist das Licht der stillen Lampe so mild, als wäre es mit Öl gespeist, demselben Öl, das die Wellen des Meeres besänftigt. Draußen fegte der Wind. Dieses Zimmer war wirklich eine kleine Rettungsinsel in der weiten Welt, wie eine Matrosenherberge.

»Ein Gläschen Portwein?«

»Ja, gern.«

Pilotenzimmer, du ungewisse Heimstatt, die immer wieder neu aufzuschlagen war! Die Gesellschaft gab am Abend bekannt: »Der Pilot X ist nach dem Senegal bestimmt… nach Amerika …« Da hieß es, noch in der Nacht, sich losmachen, die Kisten zunageln, das Zimmer vom eigenen Ich entblößen, samt den Photos und den Büchern, und es endlich verlassen — so leergeräumt, daß auch kein Gespenst darin bleiben mochte. Manchmal auch galt es in dieser Nacht, zwei Arme weich zu biegen und die Kräfte eines Mädchens zu erschöpfen, nicht die Kleine gefügig zu machen (sie wehren sich doch alle), aber sie zu besitzen und, so gegen drei Uhr morgens, sie sanft in Schlummer zu bringen, als ein ergebenes Ding, nicht ergeben in die Trennung, aber versöhnt mit dem Abschiedsschmerz, und endlich sich sagen zu können: Sie nimmt das Leid auf sich, sie weint.

Jacques Bernis, was hast du eigentlich gelernt, hernach, als Weltenbummler? Fliegen? Ach, man kommt langsam vorwärts, wenn man immer weiterbohrt an seinem Loch im harten Kristall! Die Städte werden mit der Zeit einander immer ähnlicher, man muß landen, damit sie Gestalt annehmen. Und du weißt auch schon, daß alle diese Reichtümer sich uns nur anbieten, um bald wieder vom Wellenschlag der Stunden weggewaschen und fortgespült zu werden. Als du aber von deinen ersten Reisen heimkehrtest, da kamst du dir als ein rechter Kerl vor und hattest den sonderbaren Wunsch, diesem Kerl einmal das Gespenst aus der Bubenzeit gegenüberzustellen: so hast du mich schon in den Tagen deines ersten Urlaubs nach unserem Schulgebäude geschleppt. Und hier, in der Sahara, wo ich dich auf deinem Flug erwarte, denke ich trauernd zurück an diesen Besuch im Hause unserer Jugend. Ein weißes Haus, von Kiefern umstanden, ein Fenster wird hell, dann wieder eins. Und du sagtest: »Hier ist das Studierzimmer, da haben wir unsere ersten Verse gedichtet.«

Wir waren weit hergekommen. Die schweren Mäntel, die wir trugen, schlossen uns gleichsam von draußen ab, und unsere Weltfahrerherzen hielten mittendrin Wache. Wir waren es gewohnt, in fremde Städte zu kommen, schweigsam, mit Handschuhen an den Händen, wohlgeborgen. Wir schritten durch flutende Menschenmengen, ohne sie zu berühren. Die weiße Flanellhose, das Tennishemd holten wir nur in zahmen Städten hervor, in Casablanca, in Dakar. In Tanger aber gingen wir barhaupt: in dieser verschlafenen kleinen Stadt war kein Aufputz nötig.

Jetzt kehrten wir zurück, gefestigt, im Schutz einer männlich gewordenen Muskulatur. Wir hatten gekämpft, gelitten, hatten grenzenlos weite Länder durchmessen, hatten da und dort eine Frau geliebt, hin und wieder auch mit dem Tod zu Würfeln gehabt, alles das eigentlich nur, um die Angst loszuwerden, die unsere Jugend beherrscht hatte, die Angst vor den Strafaufgaben und den Hausarresten, um endlich einmal ruhigen Herzens dabeizusein, wenn am Samstagabend die Zensuren verlesen wurden.

In der Vorhalle begann es zuerst: ein Getuschel, dann ein Hinundherrufen, und nun liefen die Alten eilig herbei. Da waren sie wieder, im Lampenlicht, die bekannten Gesichter mit den vergilbten Wangen, aber ihre Augen leuchteten hell, so freundlich und froh. Und schon hatten wir begriffen, daß wir ihnen eine andere Welt bedeuteten: die ehemaligen Schüler kommen ja immer festen Schrittes zurück, als solche, die Genugtuung suchen.

Sie wunderten sich offenbar auch gar nicht über meinen tüchtigen Händedruck, nicht über den geraden Blick, mit dem Jacques Bernis sie ansah, denn sie behandelten uns ohne Umschweife als Männer; ja sie liefen gar, eine Flasche alten Samosweines zu holen, von dem dazumal nie die Rede gewesen war.

Man nahm Platz zum Abendessen. Da saßen sie nun im Lichtkegel der Hängelampe eng beisammen, wie Bauern um den Ofen, und wir nahmen wahr, daß :sie nichts anderes als schwache Menschlein waren.

Sie waren schwach, denn sie zeigten sich nachsichtig, und unsere Faulheit: von einst, die uns angeblich zur Lasterhaftigkeit und ins Elend hatte führen sollen, war jetzt nur mehr eine kindliche Unart, über die sie lächelten; und unseren Stolz, den sie uns einst mit so viel Eifer auszutreiben suchten, diesen Stolz rühmten sie heute, sie nannten ihn edle Gesinnung. Sogar der Philosophielehrer hatte uns Geständnisse zu machen.

Vielleicht hatte Descartes sein System nur auf eine theoretische Forderung aufgebaut. Pascal — ja, Pascal war grausam. Er selbst aber, der alte Lehrer, hatte an seinem Lebensabend trotz allen Bemühens für das ewige Problem der menschlichen Freiheit noch keine Lösung gefunden. Mit allen Kräften hatte er uns gegen den Determinismus, gegen Taine, zu wappnen gesucht und sah für junge Leute, die aus der Schule ins Leben traten, keinen erbarmungsloseren Feind als Nietzsche — jetzt aber bekannte er seine sträfliche Schwäche. Sogar Nietzsche beunruhigte ihn sehr. Und wie war es mit der Realität des Stoffs? … Er wußte es nicht und quälte sich … Dann aber fragten sie uns aus. Wir waren ja aus diesem Treibhaus in den großen Sturm des Lebens hinausgetreten, nun mußten wir ihnen erzählen, wie die Luft auf dieser Erde beschaffen ist. Ob denn ein Mann, der eine Frau liebt, ihr Sklave werden muß, ein Pyrrhus, oder ihr Henker, wie Nero. Ob Afrika mit den weiten Einsamkeiten und dem blauen Himmel wirklich dem Unterricht des Geographielehrers entspricht. (Macht der Vogel Strauß; tatsächlich die Augen zu, um sich zu schützen?) Jacques Bernis nickte nur ein wenig mit dem Kopf, denn er wußte viel Geheimnisvolles, aber die Professoren verstanden, es ihm zu entlocken.

Alle wollten sie wissen, wie die Tat trunken macht, wie das Brausen des Motors sich anhört, und daß es uns, um glücklich zu sein, nicht mehr genüge, —so wie sie an stillen Abenden die Rosenstöcke zu beschneiden. Jetzt war es an ihm, Lukrez auszulegen oder den Ecclesiasticus und Ratschläge zu erteilen. Er lehrte sie — sie sollten es noch zu rechter Zeit erfahren —, was man an Lebensmitteln und Wasser in der Wüste mitnehmen müsse, um nicht zugrunde zu gehen, wenn das Flugzeug havariert ist. Rasch gab er ihnen noch die letzten geheimen Winke: Wie der Pilot sich vor den Mauren retten kann, und die Reflexbewgungen, mit denen er dem Feuer entkommt. Und da saßen die Alten und wiegten die Köpfe, sehr beunruhigt, aber doch schon etwas zuversichtlicher geworden und ganz stolz, weil ja aus ihren Händen diese neuen Kräfte in die Welt gestiegen waren. Ihr Leben lang hatten sie Helden gepriesen, und jetzt rührten sie mit den eigenen Händen an Helden und konnten nun ruhig sterben, weil sie Helden kennengelernt hatten. Sie sprachen von Julius Cäsar, da er noch Knabe war.

Doch wir wollten sie nicht betrüben und sprachen auch von den Enttäuschungen und der Bitternis einer Ruhestellung nach erfolglosem Bemühen. Es tat uns weh, daß der älteste unter ihnen träumerisch geworden war, und so sagten wir noch, daß die einzige Wahrheit im Leben vielleicht in der friedvollen Welt der Bücher liege. Aber die Lehrer wußten das längst: man macht trübe Erfahrungen, wenn man anderen Geschichtsunterricht erteilt.

»Weshalb seid ihr in die Heimat zurückgekommen?« Darauf gab Bernis keine Antwort. Aber die alten Professoren kannten das Menschenherz, sie hatten ein Zwinkern in den Augen und dachten an die Liebe.

4

Von hoch oben gesehen, scheint die Erde kalt und tot. Das Flugzeug sinkt: da bekleidet sich die Erde. Sie umhüllt sich wieder mit Wäldern, Täler und Höhen zeichnen sich ein: da atmet sie. Jetzt überfliegt die Maschine einen Berg, und diese Brust eines schlafenden Riesen schwillt fort bis zu ihr empor.

Nun, in nächster Nähe, beschleunigt sich der Fluß der Dinge, ein Wildbach unter einer Brücke. Unsere wohlgeordnete Welt reißt in Stücke, Bäume, Häuser, Dörfer treten hervor aus dem gradlinigen Horizonte und sind schon nach rückwärts fortgerissen.

Die Gegend von Alicante steigt auf, kommt schaukelnd näher und ordnet sich ein, die Räder, schon ganz nahe, werden vom Erdboden angezogen wie von einem Walzwerk schon wetzen :sie sich daran …

Bernis entsteigt dem Flugzeug, die Beine sind ihm schwer. Er schließt die Augen, nur eine Sekunde lang, der Kopf schwirrt ihm noch vom Lärm des Motors und von den vielen farbigen Bildern; in seinen Gliedern liegt noch die Erschütterung vom Gang der Maschine. Gleich darauf betritt er die Kanzlei, nimmt gemütlich Platz, mit dem Arm schiebt er das Tintenfaß und einige Bücher weg, dann nimmt er das Flrugbuch 612 zur Hand.

Toulouse–Alicante: 5 Stunden 15 Minuten Flugzeit.

Er hält inne, von Müdigkeit umfangen, und träumt ein wenig. Sein Ohr vernimmt unbestimmte Geräusche, die von draußen kommen. Irgendwo wird eine Weiberstimme laut. Der Lenker des Fordwagens öffnet die Tür, entschuldigt sich und lächelt dabei. Bernis betrachtet aufmerksam die Wände, die Tür und den Kraftwagenlenker, der so groß da steht. Dann gibt es ein Gespräch, in das er zehn Minuten lang einbezogen wird, ohne es recht zu verstehen, mit Gebärden, die etwas abschließen, und anderen, die neues einleiten: unwirkliche Vision. Aber der Baum, der draußen vor der Tür steht, ist doch schon seit dreißig Jahren da. Seit dreißig Jahren.

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Motor: kein Anstand.

Flugzeug: Neigung nach rechts.

Bernis legt die Feder weg, denkt nur an das eine: Ich bin schläfrig. Und wieder folgt er dem Traum, der auf seinen Sduläfen lastet.

Ambrafarbenes Licht auf dieser hellen Landschaft. Da gibt es schon geeggte Felder und Wiesen. Rechts liegt ein Dorf, links weidet eine kleine Herde, darüber blaues Himmelsgewölbe. Da steht ein Haus, denkt Bennis. Es kommt ihm zum Bewußtsein, daß er eben mit jäher Klarheit diese Landschaft, den Himmel, die ganze Erde erkannt hatte: sie waren richtig gebaut wie ein Haus. Ein Familienhaus, alles stimmte, jeder Gegenstand lotrecht hingestellt. Keine rissige Stelle in der Einheit dieser Schau: Bernis kam sich vor wie in die Herzmitte dieser Landschaft versetzt.

So geht es vielleicht alten Damen, die wie ein Stückchen Ewigkeit an ihrem Salonfenster sitzen. Der Rasen ist frisch und. grün, bedächtig gießt der Gärtner die Blumen. Die Damen folgen mit den Blicken den ruhigen und beruhigenden Bewegungen seines Rückens. Der Geruch von Bohnerwachs, den das geglättete Parkett ausstrahlt, ist ihnen angenehm. Eine milde Ordnung waltet im Hause: der Tag ist vorübergegangen, hat Sonnenschein gebracht und ein wenig Wind und einen kleinen Platzregen, der kaum ein paar Rosen entblätterte.

»Es ist gut, adieu.« Bernis muß weiterfliegen.

Er steuert in einen Sturm hinein, der auf das Flugzeug loshämmert wie der Maurer, der ein Haus einreißt. Das kennt man, wir kamen schon durch. Bernis hat nur mehr rudimentäre Gedanken, ihn erfüllt das einzige Bestreben: aus diesem Bergkessel herauszukommen, wo der Wind ihn hinabdrückt, wo die Regenschwaden so dicht sind, daß es finster ist, über diesen Felsrand hinwegzusetzen und das Meer zu erreichen.

Ein Stoß — am Ende irgendein Bruch! Und plötzlich hat das Flugzeug Übergewicht nach links. Bernis stemmt sich mit der einen Hand dagegen, dann mit beiden Händen, endlich mit dem ganzen Körper. »Herrgott!« Jetzt sinkt das Flugzeug nach unten ab. Es ist aus mit Bernis. Nur eine Sekunde noch, dann wird er aus dieser trudelnden Behausung, die er kaum erst zu beherrschen gelernt hat, herausspringen — für immer. In Spiralen werden die Ebene, die Wälder, die Dörfer gleichsam zu ihm empomschwingen. Schatten der Dinge, Spiralschatten! Da liegt die ganze Schäferei, nach allen Himmelsrichtungen verstreut.

»Mir scheint, ich habe Angst gehabt.« Ein Tritt, er löst ein Kabel aus. Das Getriebe war verkeilt. Wieso? Ein Sabotageakt? Nein. Dreimal hat es versagt, ein Tritt hat die Weltordnung wiederhergestellt. Das war ein Abenteuer!

Wirklich ein Abenteuer? Nichts bleibt von dieser Sekunde als ein Geschmack auf der Zunge wie etwas Bitteres. Ja, aber dieser Abgrund, in den er geschaut hat? Alles war nur Sinnestäuschung: Straßen, Kanäle, Häuser — Menschen — Spielzeug! …

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Fertig. Vorbei. Nun ist der Himmel klar. Die Wetterwarte hatte es vorhergesagt: »Himmel zu einem Viertel mit Zirruswolken bedeckt.« Die Wetterwarte? Die Isobaren? Am Ende die Wolkensysteme des Professors Borjsen? Jawohl, ein Himmel wie für Volksfeste, wie für den 14. Juli. Es müßte heißen: »In Malaga ist heute Feiertag!« Jeder Bewohner hat zehntausend Quadratmeter Himmel über sich, klaren Himmel, der bis zu den Zirruswolken reicht. Und das Aquarium da unten war noch nie so groß und leuchtend. Wie daheim im Golf, an einem Regattenabend: blauer Himmel, blaues Meer, die Matrosenkragen sind blau und die Augen des Kapitäns auch. Urlaub in Freuden!

Fertig: dreißigtausend Briefe sind herübergebracht.

Die Fluggesellschaft hat gut predigen: der Kurier ist wertvoll, viel wertvoller als das Leben. Jawohl, Lebenselixier für dreißigtausend Verliebte … Geduld, ihr Liebenden! Wenn der Abend seine Lichter aufsteckt, sind wir bei euch. — Die schweren Wolken, vom Wirbelsturm wie in einen einzigen Riesenzuber zusammengepeitscht, liegen hinter Bernis. Vor ihm ein Land, von der Sonne in Glanz gehüllt; bekleidet mit dem hellen Gewand der Wiesen und der dunklen Wolle der Wälder, weiterhin schwebt der vielgefältete Schleier des Meeres.

Über Gibraltar wird es schon Nacht sein. Dann löst eine Linkskurve, gegen Tanger zu, Bernis total von Europa — mag es hinter ihm wie ein riesiger Eisberg zerrinnen …

Noch einige Städte, die aus braunem Lehm wachsen, dann Afrika. Und wieder einige Städte, aus schwarzem Lehm, dann die Sahara. Bernis darf heute abend zusehen, wie die Erde sich sacht entkleidet.

Er ist müde. Vor zwei Monaten war er nach Paris gefahren, sich Genoveva zu erobern. Gestern ist er wieder bei der Fluggesellschaft gelandet und hat vorher Ordnung gemacht, nach seiner Niederlage. Diese Ebenen, diese Städte, diese Lichter, die entschwinden — er selbst läßt all dies fahren. Er selbst tut all dies von sich. In einer Stunde wird der Leuchtturm von Tanger blinken: bis zu diesem Leuchtturm wird Jacques Bernis seiner Erinnerung leben.

Zweiter Teil

1

Ich muß zurückgreifen, muß die letzten zwei Monate heraufholen — was bleibt sonst wohl von ihnen? Wenn einmal die Ereignisse, die ich schildern will, ganz zur Ruhe gekommen sein werden, wenn die Wellenkreise über den Menschen, die das Wasser verschlungen hat, wieder zum stillen Teichspiegel geworden, wenn die Gemütsbewegungen abgeebbt sind, zuerst die aufrüttelnden, dann die gelinden, bis zu den seligsten, die mir aus diesen Ereignissen erwuchsen: dann wird die Welt wieder als etwas Sicheres um mich stehen. Kann ich mich doch schon heute da und dort, wo das Andenken an Genoveva und Bernis wie eine Qual sein müßte, ruhig ergeben, nur mehr von einem leisen Schmerz bewegt!

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Zwei Monate zuvor war er hinaufgefahren nach Paris. Aber nach längerer Abwesenheit findet man seinen richtigen Platz nicht mehr wieder: man fällt einer Stadt zur Last. Er war nicht mehr als ein Jacques Bernis, angetan mit einem Anzug, der nach Kampfer roch. Er bewegte sich steif und ungeschickt, und in seinem Zimmer verrieten die Lebensmittelvorräte, Flaschenbatterien, schön geordnet in einer Ecke, all das Wirtshausmäßige und Provisorische, das ihnen anhaftet: dieses Zimmer war noch nicht von sauberer Wäsche und von eigenen Büchern wohnlich gemacht.

»Hallo — bist du’s?« Er registriert die alten Freundschaften. Man ruft ihm zu, er wird beglückwünscht.

»Dein Gespenst? Nein, bravo!«

»Ja, ich bin’s. Wann kann ich dich sehen?«

Heute ist man eben nicht frei. Vielleicht morgen? Da wird Golf gespielt, aber er könnte ja auch dazu kommen. Keine Lust? Also übermorgen, zum Abendessen. Punkt acht Uhr.

Er betritt, schweren Schrittes, eine Tanzbar, behält unter all den Menschen seinen Mantel an, wie ein Forschungsreisender. Da verbringen sie ihre Nächte in diesem Käfig, wie Goldfische im Aquarium, drehen sich im Tanz herum, landen dann und wann beim Büfett, eins zu trinken. Bernis kommt sich in dieser flauen Gesellschaft, in der allein er seine fünf Sinne beisammen hat, plump vor, wie ein Lastträger, der auf breiten Beinen dasteht. Alles, was er denkt, ist scharf umgrenzt. Er geht weiter vor, strebt zwischen besetzten Tischen nach einem freien Stuhl. Die Augen der Frauen, die er mit den Blicken streift, schauen zerstreut, wie erloschen. Die jungen Männer machen höflich Platz, damit er vorbeigehen kann. Wie in der Nacht, wenn die Posten ihre Zigaretten fallen lassen, sobald der Wachoffizier in die Nähe kommt.

Diese Welt haben wir allemal wiedergefunden, nicht anders als der bretonische Matrose sein Ansichtskartendorf wiederfindet und seine unentwegt treue Braut, die je und je kaum älter geworden scheint. Immer dasselbe, Illustration aus einem Kinderbuch. Wenn wir alles so ganz an seinem Platz wiedererkannten, alles vom Schicksal so gut gereger fühlten wir etwas wie Angst vor der dunklen Zukunft. Bernis erkundigte sich nach einem Freund: »Ja, ja, immer der gleiche. Seine Geschäfte gehen nicht glänzend. Du weißt ja, das Leben …« Alle waren sie Gefangene ihrer selbst, gebunden von jener dunklen Fessel und so gar nicht wie er, der Flüchtling, halb armer Kerl, halb Zauberer.

Kaum ein bißchen verbraucht, vielleicht etwas schmäler geworden schienen die Gesichter seiner Freunde, seit zwei Winter und zwei Sommer vergangen waren. Diese Dame da, in der Ecke der Bar, erkannte er wieder: auch ihre Gesichtslinien hatten das ewige Lächeln, nur unmerklich verzogen. Dieser Baumann, wie einst und je. Der Gedanke, von ihm etwa erkannt zu werden, erschreckte Bernis, wie wenn diese Stimme in ihm selbst einen toten Bernis, einen ohne Flügel wiedererwecken müßte, einen, der gar nicht fortgewesen war.

Schon beim Rückflug hatte sich die Landschaft stückweise um ihn aufgebaut, fast wie ein Kerker. Die Sandhügel der Sahara, die spanischen Felsen waren allmählich zurückgewichen wie Theaterkulissen, die der freien Natur Raum geben. Endlich, gleich nach der Grenze, Perpignan und ringsherum die Ebene. Diese Ebene, auf der noch späte Sonne lag in schrägen, langgestredcten Strahlen, die immer durchscheinender werden wie alter Goldstoff; da und dort lag noch der Sonnenhauch auf den Wiesen, von Minute zu Minute blässer und luftiger, nicht erlöschend, aber hinschmelzend im Dunste. Und dann dieser zitronengrüne Streif, eine satte dunkle Farbe unter dem Blau des Himmels. Ein stiller Hintergrund. Endlich, mit verlaufendem Motor, dieses Hinabtauchen ins Dunkle, wie in ein Meer, in dem alles friedlich geworden ist und wo nun alles so fest und unbeirrbar ruht wie eine Mauer.

Dann ging’s im Wagen des Flughafens zur Bahn. Im Zug die Gesichter, gerade gegenüber verschlossene, hartgewordene Gesichter. Die Hände, in die das Lebenslos seine Runen gegraben hat, liegen flach auf den Knien und sind so schwer. Den Bauern, zwischen denen man sitzt, merkt man an, daß sie vom Feld kommen. Und dieses junge Mädchen, das daheim vor der Haustür auf den Mann wartet, der unter hunderttausend Männern zu ihr finden soll, und die schon hunderttausend Hoffnungsträume zerrinnen sah. Die Mutter aber, die ein Kind in Schlaf lullt, war ja schon Gefangene dieses Kindes, konnte ihm nicht mehr entfliehen.

Solcherart mitten ins Herzgeheimnis der Dinge gestellt, kam Bernis auf stillen Wegen in seine Heimat zurück, die Hände in den Taschen, ohne Koffer, der richtige Streckenpilot, zurück in die starrste aller Welten, in der man zwanzig Jahre prozessieren muß, um über eine Mauer hinüberzugreifen und ein Feld zu vergrößern.

Nach zwei Jahren, verbracht in Afrika und erfüllt von lebensvollen Landschaftsbildern, die ewig wechselten wie das Antlitz des Meeres, aber freilich jetzt, da sie in der Erinnerung versanken, auch nichts mehr übrigließen vom alten Lande, dem einzigen, ewigen, vom Lande, dem er entstammt war, setzte er nun den Fuß auf wirklichen Boden und fand, ein Erzengel der Traurigkeit: »Alles ist noch, wie es war …«

Er hatte befürchtet, die Dinge verändert zu finden, und nunlitt er darunter, daß sie gleichgeblieben waren. Was konnte er von Wiederbegegnungen, von alten Freundschaften anderes erwarten als vage Langeweile. In der Ferne träumt man gern. Das Rührende, das der Abschied gebracht hat, läßt man hinter sich, mit einem Stich im Herzen, aber auch mit dem seltsamen Bewußtsein von einem Schatz, der unter der Erde verborgen bleibt. Diese raschen Trennungen offenbaren manchmal so viel scheue Liebe. Eines Nachts, in der Sahara, unter dem leuchtenden Sternenhimmel, hatte Bernis träumerisch an all das Zärtliche in der Ferne gedacht, das warm in das Dunkel der Nacht und der Zeit gehüllt ruhte wie ein Samenkorn in der Erde, und plötzlich stand in seiner Seele das Gefühl: er habe sich nur ein wenig zur Seite gewandt, um das Schlafende anzuschauen. Angelehnt an sein Flugzeug, das havariert war, vor sich die Sanddüne, die sich weithin bis zum Horizont wellte, stand er da und hütete esein Liebstes wie ein Hirt …

»Und das ist alles, was ich wiederfinde!«

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Eines Tages schrieb mir Bernis:

»… Ich erzähle dir nichts über meine Heimkehr: ich werde, wie ich meine, mit den Dingen fertig, wenn Empfindungen in mir wach werden. Aber es ist keine wach geworden. Es ging mir so wie jenem Pilger, der um eine Minute zu spät nach Jerusalem gekommen war. Seine Sehnsucht, sein Glaube waren erloschen, er sah nur Steine. Diese Stadt: eine Mauer. Ich Will fort von hier. Erinnerst du dich an unseren ersten Flug? Wir haben ihn zusammen gemacht. Murcia, Granada lagen da wie kleine Schmuckstücke im Glaskasten und blieben in der Vergangenheit versunken — denn wir landeten nicht —, blieben so hingestellt, wie die Jahrhunderte sie gelassen hatten. Der Motor machte sein intensives Geräusch, das alles beherrscht und unter dem die Landschaft lautlos abrollt wie ein Film. Es war kalt, wir flogen ja so hoch und sahen die Städte wie durch Eis. Erinnerst du dich?

Ich habe noch die Zettel aufbewahrt, die du mir herüberreichtest:

›Du mußt auf dieses sonderbare Geräusch achthaben … nicht über die Meerenge fliegen, wenn es zunehmen sollte!‹

Zwei Stunden später, über Gibraltar: ›Erst bei Tarifa übers Meer, es ist besser.‹

Vor Tanger: ›Kein zu langes Landungsmanöver, der Boden ist weich.‹

Ganz einfach war’s. Aber mit diesen kurzen Sätzen gewinnt man die Welt. Ich empfand sie wie eine Strategie, die in so knappen Weisungen mächtig wirkte. Tanger, diese kleine nichtssagende Stadt, war meine erste Eroberung. Weißt du, das war sozusagen mein erster Zusammenstoß. Ja. Zunächst aus der Vertikalen, aber noch aus großer Ferne. Dann, im Gleitflug, blühte alles vor mir auf: die Wiesen die Blumen, die Häuser, als brächte ich eine untergegangene Stadt aus Licht herauf, als würde sie erst durch mich lebendig. Und nun plötzlich eine wunderbare Entdeckung: fünfhundert Meter unter mir jener Araber, der sein Feld bestellte, den ich allmählich zu mir heraufzog, bis er so groß war wie ich. Er war wahrhaftig meine Kriegsbeute oder meine Schöpfung oder mein Spielzeug. Ich hatte mir eine Geisel gefangen, Afrika war mein.

Zwei Minuten danach stand ich im Grase, ich fühlte mich so jung, wie in einen Stern versetzt, in dem das Leben neu beginnt. In einem neuen Klima. Auf diesem Boden, unter diesem Himmel stand ich wie ein junger Baum. Und ich streckte mich nadh der Fahrt und war so herrlich hungrig. Ich machte lange, elastische Schritte, um mich vom weiten Flug zu erholen, und mußte darüber lachen, daß ich meinen Schatten nun wieder hatte — das war die Landung.

Und dann: welcher Frühling! Siehst du ihn noch vor dir, nach den grauen Regentagen in Toulouse? Es war eine ganz neue Lust, die alles durchdrang. Jedes weibliche Wesen war von einem Geheimnis umwittert: oft war es nur ein Tonfall, eine Gebärde oder ein Verstummen. Und alle waren sie verlockend. Dann aber, du kennst mich ja, diese Hast, weiter zu steigen, weiter weg zu suchen, was ich vorausempfand und noch nicht verstehen konnte; denn ich war ja der Wünschelrutenmann, der den zitternden Weidenzweig in der Hand hält und über die ganze Erde gehen will, bis er den Schatz gefunden hat.

Aber, sag mir nur, was suche ich denn? Und weshalb stehe ich da am Fenster, in der Stadt, in der alle meine Freunde wohnen, wo meine Wünsche leben und meine Erinnerungen zu Hause sind, und bin doch so unglücklich! Warum kann ich denn hier, zum erstenmal, keine Quelle entdecken, warum weiß ich weit und breit keinen Schatz zu graben? Dunkel ist das Versprechen, das mir gegeben ist, und dunkel der Gott, der sein Versprechen nicht hält.

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Ich habe die Quelle wiedergefunden. Weißt du noch? Sie heißt Genoveva …«

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Genoveva — als ich diese Worte in Bernis Brief gelesen hatte, mußte ich die Augen schließen — und da sah ich dich wieder, kleines Mädchen. Fünfzehn Jahre, und wir, wir waren dreizehn Jahre alt. Wie hättest du auch in unserer Erinnerung älter werden sollen? Du warst für uns dasselbe schmächtige Kind geblieben, und nur dieses konnten wir uns vorstellen, wenn wir später von dir hörten.

Indes andere die Erwachsene zum Traualtar geleiteten, haben wir, Bernis und ich, im tiefsten Afrika ein kleines Mädchen zur Braut erwählt. Und so bist du, mit deinen fünfzehn Jahren, die jüngste der Mütter geworden. In einem Alter, in dem man die bloßen Beine beim Baumklettern wundscheuert, wolltest du schon eine richtige Wiege haben, dieses königliche Spielzeug. Und während du im Kreise der Deinen, die das Wunder nicht ahnten, das stille Leben einer jungen Frau führtest, lebtest du für uns ein Märchenleben, durch ein Zaubertor in unser Dasein eingetreten, verkleidet als Gattin, als Mutter, als Fee, wie auf Kostümfesten und Kinderbällen.

Denn du warst eine Fee. Ich weiß es noch gut. Du wohntest in einem alten Hause mit dicken Mauern. Ich sehe dich in der tiefen Fensternische stehen, auf die Ellbogen gestützt, um nach dem aufsteigenden Mond zu schauen. Ringsum in der Ebene wurden die abendlichen Geräusche laut, die Grillen ließen ihre Flügel zirpen, die Frösche quakten drauflos, und die Glocken der heimkehrenden Kühe läuteten. Der Mond stieg höher. Manchmal klang aus dem Dorf das Zügenglöcklein und trug über die Felder hin den Heimchen und den Zikaden das Unerklärliche zu, den Tod. Und du beugtest dich weiter vor, im Herzen bewegt, doch nur für die liebenden Brautleute, denn nichts ist bedrohter als grüne Hoffnung. Aber der Mond stieg höher. Da fingen die Nachtkäuze an, einander liebend zuzurufen, und übertönten das Totenglöckchen, und die umhenschweifenden Hunde sammelten sich im Kreis und heulten zum Mond hinauf. Jeder Baum, jeder Grashalm, jedes Schilfrohr war voll heimlichen Lebens. Und der Mond stieg noch immer. Du aber nahmst uns bei den Händen und wolltest, daß wir zuhören, denn das seien die Geräusche unserer Erde, die gut sind und Zuvensicht geben.

Du warst so wohlbehütet von diesem Hause und, rings um das Haus, von diesem lebendigen Gewand der Erde. Allerlei Bündnisse hattest du geschlossen mit den Linden, den Eichen und mit den weidenden Herden, daß wir dich ihre Königin nannten. Dein Antlitz wurde still und stiller, wenn die abendliche Welt allmählich für die Nacht in Ordnung gebracht wurde. »Der Pächter hat das Vieh heimgeführt.« Das wußtest du, wenn in den fernen Ställen die Lichter sich entzündeten. Ein dumpfer Lärm: »Man macht die Schleuse zu.« Alles war in Ordnung. Endlich der Schnellzug, der um sieben Uhr abends herandonnerte, das Land durchraste und entschwand, um deine Welt von dem zu säubern, was unruhig und unbeweglich war und ungewiß, wie ein Gesicht hinter dem Fensten eines Schlafwagens. Dann war das Essen in einem Speisezimmer, das zu hoch und schlecht beleuchtet war, und da warst du uns die Königin des Abends, denn wir überwachten dich ohne Unterlaß, wie zwei Spione. Da saßest du still zwischen alten Leuten, umgeben vom Holzgetäfel des Raumes; und wenn du dich vorbeugtest, bot sich nichts als dein Haar dem Goldglanz des Lichtkegels, den die Lampenschirme freiließen, du warst von Licht gekrönt, warst Königin, Als eine Ewige erschienst du uns, denn du warst mit allen Dingen so voll vertraut, warst ihrer sicher und sicher deiner Gedanken, deiner Zukunft. Du warst Königin …

Wir aber wollten wissen, ob es möglich sei, dich leiden zu machen, dich so fest in die Arme zu schließen, daß dr der Atem ausginge, denn wir fühlten in dir ein Menschliches schlummern und wollten es zum Leben wecken: eine Zärtlichkeit, ein Leid, und es sollte in deinen Augen aufleuchten. Da schlang Bernis die Arme um dich, deine Wangen wurden rot. Er umschlang dich fester, in deinen Augen glänzten Tränen, und es war doch kein häßlicher Zug um deine Lippen, wie bei alten Frauen, wenn sie weinen. Bernis aber sagte, daß deine Tränen aus dem Herzen kämen, das dir unversehens schwer geworden, daß sie kostbarer seien als Diamanten, und wer sie dir einst von den Lidern wegtränke, der würde unsterblich. Und er sagte auch, daß du in deinem Leib verborgen seist wie die Nixe unter dem Wasserspiegel und daß er vielerlei Zauberkünste wisse, um dich aus der Tiefe heraufzulocken, aber das sicherste Mittel sei, dich weinen zu machen. So also wußten wir dir Liebe abzulisten. Aber wenn wir dich freigaben, lachtest du, und dieses Lachen brachte uns in Verwirrung. Du warst wie ein Vogel, der jählings davongeflogen ist, weil die Hand, die ihn festhielt, sich ein wenig gelockert hatte.

»Genoveva, lies uns Verse vor!«

Man traf dich selten lesend, und wir meinten, du wüßtest schon alles. Nie hatten wir dich über etwas verwundert gesehen.

»Lies uns doch Verse vor!«

Da lasest du denn, und uns war das eine richtige Unterweisung, für die Welt, für das Leben, eine Unterweisung, die uns nicht vom Dichter herkam, sondern aus dem eigenen Wissen. Kummer, von Liebenden gelitten, und Tränen, von Königinnen geweint, wurden für uns große, stille Dinge. Die Menschen starben dahin an der Liebe, aber in deiner Stimme war eine solche Ruhe …

»Genoveva, sag, kann man wirklich an der Liebe sterben?«

Da hieltest du im Lesen inne und dachtest ernsthaft nach. Ohne Zweifel suchtest du Antwort bei deinen Farnkräutern, bei deinen Grillen und Bienen, und du sagtest: »Ja, weil doch die Bienen an der Liebe sterben.« Das war also notwendig und in Ordnung.

»Genoveva, was ist: das, ein Liebhaber?«

Wir wollten dich erröten machen, aber du wurdest nicht tot. Kaum berührt von dieser Frage, schautest du auf den Teichspiegel hinaus, der im Mondschein glitzerte. Da dachten wir, ein Liebhaber müsse für dich so sein wie dieser Lichtstrahl auf dem Wasser.

»Genoveva, hast du einen Liebhaber?«

Diesmal würdest du rot werden! Aber nein, du lächeltest ganz unbefangen und schütteltest den Kopf. In deinem Königreich bringt die eine Jahreszeit die Blumen, eine andere die Früchte, und wieder eine bringt die Liebe: das Leben ist so einfach.

»Genoveva, weißt du, was wir später tun werden?« (Wir wollten dich blenden und nannten dich: schwaches Weib.) »Ja, du schwaches Weib, wir werden Eroberer sein.« Und wir erklärten dir das Leben: der Eroberer kehrt ruhmbeladen heim und macht eine, die ihm lieb war, zu seiner Geliebten.

»Dann werden wir deine Liebhaber sein. Sklavin du, lies uns Verse vor!«

Aber du mochtest nicht mehr und warfst das Buch fort. Auf einmal stand dein Leben so sicher vor dir, wie wenn ein junger Baum spürt, daß er wächst und Früchte trägt. Es war nichts anderes da als das, was notwendig war. Wir, wir waren Eroberer aus Fabelland, du aber standest fest inmitten deiner Farukräuter, deiner Bienen und Ziegen und im Glanz deiner Sterne, du hörtest deine Frösche quaken und fandest deine Zuversicht in all diesem Leben, das um dich her aus der nächtlichen Stille wuchs und das aus dir selbst erblühte, aus dem Federn deines Schrittes bis hinauf zur Beuge deines Nackens, und es war eine Zuversicht in ein Geschick, das nicht in Worte zu fassen und dennoch so sicher war.

Aber der Mond stand schon hoch, es war Schlafenszeit, da schlossest du das Fenster, und weil nun das Mondlicht durch die Scheiben glänzte, sagten wir dir, du hättest den Himmel wie einen Glaskasten zugemacht, so daß der Mond und eine Handvoll Sterne darin gefangen wären — denn wir waren ja darauf aus, mittels aller möglichen Sinnbilder und aller erdenklichen Fallen dich hinter den Anschein der Dinge zu führen, hinab in die Tiefe der Meere, wohin die Unruhe unserer Herzen uns rief.

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»… Ich habe die Quelle wiedergefunden. Sie ist’s, die ich brauchte, um von der Reise auszuruhen. Sie ist da, die anderen … Es gibt Frauen, von denen wir sagten, sie seien nach dem Erlebnis der Liebe ins Ferne gerückt, zu den Sternen hinauf, und sie seien nichts als eine Erfindung des Herzens. Von Genoveva aber, du erinnerst dich, meinten wir, sie sei bewohnt. Ich habe sie wiedergefunden, wie man den Sinn der Dinge wiederfindet, und ich gehe an ihrer Seite in eine Welt ein, deren Innerstes ich endlich entdecken darf …«

Für ihn kam sie von den Dingen her. Sie wurde ihm Mittlerin, nach so vielen Trennungen, für so viele neue Bindungen. Die Kastanienbämne, die da standen, schenkte sie ihm wieder, diese Straße, jenen Brunnen. Und jedem der Dinge war wieder das Geheimnis eingegeben, das wir seine Seele nennen. Da war ein Garten: er war nicht mehr gepflegt, geschnitten und sauber aufgeräumt wie für einen Amerikaner, nein, es war nun mit einem Male etwas Unordentliches in der Allee zu sehen, hin und wieder ein dürres Blatt und da ein verlorenes Sdmupftuch, als wären Liebende hier gegangen. Und dieser Garten wurde zur Falle …

2

Nie hatte sie zu Bernis von Herrn Herlin, ihrem Gatten, gesprochen, erst heute abend: »Ein langweiliges Essen, massenhaft Menschen: Jacques, essen Sie doch mit, so werde ich weniger allein sein.«

Herlin gestikuliert viel, etwas zu viel. Weshalb diese betonte Sicherheit, die er im Alltag ja doch nicht beibehält? Seine Frau beobachtet ihn mit einiger Unruhe. Dieser Mann schiebt gleichsam eine Persönlichkeit vor sich her, die er zurechtgemachthat. Nicht aus Eitelkeit, aber um an sich glauben zu können. »Sehr richtig, Ihre Bemerkung, mein Lieber.« Genoveva wendet sich angewidert ab: diese ausladende Geste, dieser Tonfall, und so viel zur Schau getragene Sicherheit!

»Kellner, Zigarren!«

Noch nie hat sie ihn so lebendig geseheri, so erfüllt von seiner Bedeutung. Da sitzt man im Gasthaus, und von diesem Podest aus beherrscht man die Welt. Ein Wort, das man sagt, stößt auf einen Gedanken und. hat ihn auch schon umgestoßen. Ein einziges Wort dem Speisenträger, dem Oberkellner bringt sie beide in eilige Bewegung.

Genoveva muß lächeln: Wozu dieses politische Diner? Wozu, seit sechs Monaten, diese politischen Grillen? Herlin kommt sich als starker Mann vor, wenn große Gedanken durch seinen Kopf hindurchgehen, und er merkt, daß er stattliche Posen einzunehmen versteht. Dann ist er ganz beglückt und tritt ein wenig zurück, um sein eigenes Bild zu betrachten.

Genoveva läßt ihn und die anderen bei diesem Spiel und wendet sich zu Bernis: »Verlorener Sohn, erzählen Sie mir von der Wüste … Wann werden Sie uns ganz wiedergeschenkt sein?«

Bernis schaut sie an und erkennt das fünfzehnjährige Mädchen wieder, das ihn aus dem Antlitz einer fremden Frau zulächelt, wie es in Märchenbüchern zu lesen ist; ein Kind, das sich verbirgt, aber mit einer halben Bewegung alsbald wieder verrät: Genoveva, ich weiß das Zaubermittel, man muß Sie umarmen, so fest, daß es Ihnen weh tut, dann ist das junge Mädchen wieder da und will weinen …

Jetzt aber neigen sich die Herren wieder zu Genoveva, daß ihre steifen Hemdbrüste sich biegen, und benehmen sich verführerisch, wie wenn man eine Frau erobern könnte, indem man Gedanken formuliert und Bilder vor ihr aufbaut, als wäre sie der Siegerpreis eines steten Wettbewerbs. Auch ihr Gatte beginnt liebenswürdig zu werden, gewiß wird er hernach zärtlich sein wollen. Er entdeckt sie, wenn andere sie begehrenswert gefunden haben, wenn die Frau im Glanz des Abendkleides und im Wunsche zu gefallen ein wenig das Weib hat enblühen lassen. Sie aber denkt: Er liebt nur, was mittelmäßig ist. Warum liebt man sie nicht ganz? Man liebt nur einen Teil ihrer selbst, das übrige bleibt im Schatten. Man liebt sie, wie man die Musik liebt oder den Luxus. Gibt sie sich geistreich oder gefühlvoll, dann wird sie begehrt. Aber woran sie glaubt, was sie empfindet, was wirklich in ihr lebt — darum kümmert sich keiner. Die Liebe zu ihrem Kind, alle ihre Kümmernisse, mögen sie noch so ernsthaft sein — von diesem abseitigen Leben will niemand wissen.

Jeder Mann wird in ihrer Nähe zur Puppe: er entrüstet sich, wenn sie sich entrüstet, er wird rührselig, wenn sie es wird, als wolle er, um ihr zu gefallen, immer nur sagen: Ich werde der Mann sein, wie Sie ihn wünschen. Und das entspricht der Wahrheit, all dies hat eben für ihn keine Bedeutung. Was für ihn Bedeutung hätte, wäre einzig, ihr beizuwohnen.

Sie aber denkt nicht immer an die Liebe, sie hat keine Zeit dazu.

Und sie erinnert sich lächelnd an die ersten Tage ihres Brautstandes: Herlin hatte plötzlich entdeckt, daß er verliebt war (offenbar hatte er es vordem vergessen). Er will mit ihr reden, er will sie zahm machen und gewinnen: »Aber ich habe doch keine Zeit …« Und so schritt sie vor ihm auf dem Fußweg, trällerte ein Lied und hieb im Takt auf die jungen Zweige der Bäume. Die Erde war feucht und duftete, und von den Zweigen spritzten die Tropfen auf ihr Gesicht. Sie dachte immer wieder: »Ich habe doch keine Zeit, gar keine Zeit!« Sie geht jetzt doch ins Glashaus, nachzusehen, was die Blumen machen.

»Genoveva, Sie sind ein grausames Kind.«

»Ja, freilich, aber sehen Sie nur, wie schön diese Rosen sind! So eine schöne Blume ist doch etwas Wunderbares.«

»Genoveva, lassen Sie sich umarmen …«

»Ja, ja, warum nicht? Finden Sie meine Rosen schön?«

Und die Männer finden ihre Rosen immer schön.

»Aber nein, mein kleiner Jacques, nein, ich bin wirklich nicht traurig.« Sie neigt sich halb zu Bernis: »Wenn ich daran denke, was ich doch für ein sonderbares kleines Mädchen war! Ich hatte mir einen Gott nach meinem Sinn geschaffen. Wenn mich ein kindlicher Schmerz überkam, so weinte ich den ganzen Tag um das Unwiederbringliche. Aber des Nachts, sobald es finster war, rettete ich mich zu meinem Freund, und mein Gebet war so: ›Sieh, das ist mir geschehen, aber ich bin viel zu schwach, mein zerstörtes Leben wieder in Ordnung zu bringen. Ich will dir alles überlassen, du bist ja so viel stärker als ich. Mach wieder Ordnung!‹ So schlief ich ein.«

Und dann: unter all den zweifelhaften Dingen gibt es doch auch so viele, die fügsam sind. Sie gebot über ihre Bücher, ihre Blumen und über ihre Freunde. Mit ihnen allen unterhielt sie Verträge. Sie kannte das Zeichen, das ein Lächeln hervorzaubert, wußte das Losungswort, das einzig wirksame:

»Ah, da sind Sie ja, mein alter Astrolog …« —

Und wenn Bernis eintrat: »Setzen Sie sich, verlorener Sohn …« So war jeder mit ihr verbunden, durch ein Geheimnis, durch die zarte Gewißheit, von ihr entdeckt und erkannt zu werden. Und die harmloseste Freundschaft wurde dadurch reich und tief wie ein Verbrechen.

»Genoveva«, :sagte Bernis, »Sie sind Königin über alle Dinge.«

Sie rührte ein wenig an den Möbeln ihres Zimmers, rückte jenen Armsessel um ein geringes, und schon hatte der Freund das überraschende Gefühl, den Platz in der Welt gefunden zu haben, der für ihn der richtige war. War der Tag vorbei mit all dem Leben, das er gebracht hatte, so gab es allerlei stille Unordnung im Zimmer, verstreute Notenblätter, verwelkte Blumen — alles, was man hienieden liebt und doch durcheinanderbringt. Aber Genoveva verstand es, lautlos den Frieden in ihrem Königreich wiederherzustellen. Und Bernis erkannte an ihr, tief verborgen in ihrem Wesen und wohlbehütet, das kleine Mädchen, das da schlummerte und das ihn einst geliebt hatte …

Aber es kam ein Tag, an dem die Dinge sich jählings empörten.

3

»Laß mich doch schlafen …«

»Das ist unerhört! Steh auf, das Kind erstickt ja.«

Aus dem Schlaf gerissen, lief sie zum Bett. Das Kind schlief. Sein Gesicht war fieberglänzend, der Atem zwar kurz, aber ruhig. Schlaftrunken, wie sie war, sah Genoveva das hastige Schaufen eines Schleppers vor sich.

»Welche Anstrengung!« Und das war schon seit drei Tagen so. Unfähig, einen Gedanken zu fassen, blieb sie stehen, über den kranken Knaben gebeugt.

»Weshalb hast du mir gesagt, daß er erstickt? Hast du mir angstmachen müssen?«

Ihr Herz war noch unruhig von diesem Schrecken. Herlin antwortete:

»Ich habe es geglaubt.«

Sie wußte, daß er log. Er war plötzlich in Angst geraten und hatte, unfähig zu leiden, diese Angst mit jemand teilen müssen. Die Stille um ihn herum erschien ihm, da er leiden mußte, unerträglich. Und ihr tat doch nach drei durchwachten Nächten eine Stunde Schlaf dringend not. Sie hatte sich schon kaum mehr aufrecht halten können.

All diese Unaufrichtigkeiten verzieh sie ihm ja — was hatten schon Worte zu bedeuten? Aber dieses Kontrollieren ihres Schlafs war doch zu lächerlich!

»Du bist wirklich unvernünftig«, das war alles, was sie sagte, dann noch, um ihn mild zu stimmen: »Du bist ein Kind…«

Im gleichen Atemzug fragte sie die Pflegerin nach der - Zeit.

»Zwei Uhr zwanzig.«

»So?« Und Genoveva wiederholte: »Zwei Uhr zwanzig…«, als ob jetzt etwas Dringendes zu tun wäre. Aber nein, es war ja nichts zu tun als zu warten, wie auf einer Bahnfahrt. Sie strich über die Bettdecke, stellte die Arzneien zurecht, machte sich am Fenster zu schaffen. So erzeugte sie eine geheimnisvolle, unsichtbare Ordnung.

»Sie sollten ein wenig schlafen«, meinte die Pflegerin. Dann war alles still. Und wieder überkam sie die Vision einer Reise, wo die Landschaft ungesehen vorbeifließt.

»Dieses Kind, das man so lebendig sah, das man so lieb hat …«, deklamierte Herlin, der sich gern von Genoveva bedauern lassen wollte. Die Rolle des unglücklichen Vaters …

»Beschäftige dich, mein Lieber, tu doch etwas!« riet ihm Genoveva in freundlichem Ton. »Du hast eine geschäftliche Besprechung geh nur hin!«

Sie nahm ihn an den Schultern, er aber blieb dabei, seinen Schmerz zu hätscheln: »Wie könnte ich denn? In einem solchen Augenblick …«

In einem solchen Augenblick, gerade dann mehr denn je! Sie empfand einen seltsamen Drang, Ordnung zu machen. Diese Vase war von ihrer Stelle gerückt worden, hier lag Herlins Mantel auf einem Sessel, dort auf der Konsole war Staub zu sehen — alles das waren ja Stellungen, die der Feind genommen hatte, waren Anzeichen irgendeines Zusammenbruchs. Gegen diesen eben kämpfte sie an. Der Goldglanz der Nippsachen, Zimmermöbel, die richtig stehen, das ist hell, das sind Wirklichkeiten im vollen Tageslicht. Und alles, was gesund und nett und sauber war, schien für Genoveva wie ein Schutz vor dem Tod, der etwas so Dunkles war.

Der Arzt sagte: »Es kann wieder gut werden, das Kind ist kräftig.« Das war ja richtig: wenn es schlief; klammerte es sich mit seinen beiden kleinen, geschlossenen Fäustchen an das Leben an. Das war etwas so Schönes, so Festes.

»Gnädige Frau, Sie sollten ein wenig ausgehen, machen Sie einen Spaziergang«, meinte die Pflegerin. »Hernach gehe ich auch aus. Sonst halten wir beide nicht stand.«

Es war doch seltsam, wie dieses Kind zwei Frauen bis an die Grenzen ihrer Kräfte erschöpfte. Wie es da lag mit den geschlossenen Augen und dem kurzen Atem, nahm es sie mit sich fort, ans Ende der Welt.

Genoveva ging wirklich aus, um Herlin zu entkommen, der ihr Vorträge hielt: »Meine elementarste Aufgabe …«, »Dein Stolz …« Sie begriff nichts von allen diesen Redensarten, weil sie zu schläfrig war, aber einzelnes, wie dieses »Stolz«, ließ sie doch für einen Augenblick aufhorchen. Stolz — weshalb? Was hat das hier zu tun?

Den Arzt überraschte diese junge Frau, die nicht in Tränen ausbrach, die kein überflüssiges Wort sagte, ihm aber in allem zur Hand war wie eine geübte Wärterin. Er bewunderte diese stille Hüterin des Lebens. Für Genoveva aber waren seine Besuche die besten Augenblicke des ganzen Tages. Nicht, daß er sie etwa trösten wollte, nein, er machte keine Worte, aber weil in seiner Welt der Körper ihres Kindes seinen genau umzirkelten Platz hatte. Und weil alles, was erst war, dunkel und ungesund schien, hier zu bestimmtem Ausdruck kam. Was war das doch für eine Hilfe in diesem Kampf gegen das Reich der Schatten! Sogar die Operation am vorgestrigen Abend … Herlin jammerte nebenan, sie aber war dageblieben. Der Chirurg trat ein, im weißen Mantel, ruhevoll wie eine Gottheit. Er und der Internist nahmen den kurzen Kampf auf. Trockene Worte, Befehle, wie »Chloroform!« und »Noch etwas mehr!« und »Jod!«, wurden einzeln, mit leiser Stimme, gesprochen, ohne jegliche Gefühlsbetonung. Und plötzlich, vor dieser machtvollen Strategie, wußte Genoveva, nicht anders als Bernis in seinem Flugzeug, daß der Sieg gewiß war.

»Wie kannst du das glauben«, sagte Herlin, »bist du denn eine so herzlose Mutter?«

Eines Morgens, als gerade der Arzt da war, glitt sie still aus ihrem Armsessel zu Boden, ohnmächtig. Als sie wieder zu sich gekommen war, sprach der Arzt ihr nicht Mut zu, er redete nicht von Hoffnungschöpfen und äußerte keine Teilnahme. Er sah sie ernsthaft an und sagte: »Sie überanstrengen sich, das ist nicht vernünftig. Ich verordne Ihnen, daß Sie heute nachmittag ausgehen sollen. Gehen Sie nicht just ins Theater, das würden die Menschen in ihrer Beschränktheit nicht begreifen, aber irgend etwas Ähnliches sollten Sie tun!«

Und bei sich dachte er: Ein echteres Wesen, als dieses ist, habe ich in meinem Leben nicht kennengelernt.

Draußen auf dem Boulevard war es so angenehm frisch. Sie schritt dahin und fand eine Beruhigung daran, sich an Jugendzeiten zu erinnern. An die Bäume, an die Ebenen, an lauter einfache Dinge. Und dann, eines Tages, viel, viel später, war dieses Kind in ihr Leben gekommen, und das war etwas Unbegreifliches gewesen und zugleich etwas unendlich Einfaches. Eine Tatsache, die stärker war als alles andere. Diesem Kinde hatte sie zu dienen gelobt, inmitten aller Dinge, der toten und lebenden, und es war nicht mit Worten auszudrücken. was sie schon in der ersten Stunde empfunden hatte. Sie kam sich — wie war das nur gewesen? —, ja, sie kam sich so klug vor, so sicher ihrer selbst, richtig verbunden mit der übrigen Welt, als ein Teil des Ganzen. Damals hatte sie sich, als es Abend werden wollte, näher ans Fenster bringen lassen. Da standen die Bäume im vollen Leben, der Saft stieg in ihnen empor, sie zogen gleichsam den Frühling aus der Erde ins Tageslicht: nichts anderes hatte sie getan. Neben ihr lag das Kind und atmete leise: war das nicht der Motor der ganzen Welt, und die Welt wurde durch dieses zarte Atmen belebt?

Jetzt aber, seit drei Tagen, welche Verwirrung! Das Geringuste, das man tat, ob man etwa das Fenster öffnete, ob man es schloß, alles war von Verantwortung schwer belastet. Man wußte nicht mehr, was tun, man rührte an die Arzneigläser, an das Bettzeug, an das Kind, und man ahnte doch nicht, was in der dunkel gewordenen Welt ein solches Tun für eine Wirkung haben konnte.

Da war ein Antiquitätenladen. Genoveva dachte an die Nippsachen in ihrem Zimmer, an diese kleinen Sonnenfänger. Alles, was Licht aufnimmt, gefiel ihr, alles, was hell beleuchtet wieder Licht ausstrahlt. Sie blieb stehen, um an einem Kristallglas jenes stille Lächeln wahrzunehmen, das Lächeln, das alte, gute Weine an sich haben. In ihrem übermüdeten Hirn mengte sich alles: Licht, Gesundheit, Lebenszuversicht, und sie hatte den Wunsch, dem Kinde, das ihr zu entschwinden drohte, diesen Gegenstand ins Zimmer zu stellen, der ein Leuchten von sich gab, so klar wie Gold.

4

Herlin begann sein Lied von neuem: »Und du hast das Herz, dich zu unterhalten und bei Antiquaren zu stöbern! Das werde ich dir nie verzeihen! Das ist ja …« — er suchte nach dem richtigen Wort —, »das ist ungeheuerlich, ganz unbegreiflich und einer Mutter unwündig!« Mechanisch hatte er eine Zigarette hervorgezogen und schwenkte di rote Zigarettentasche in der Hand. Genoveva hörte noch: »Die Selbstachtung …« Da dachte sie: Wird er jetzt die Zigarette anzünden?"

»Ja,«, und er fügte noch etwas hinzu, das er sich fürs Ende vorbehalten hatte, »ja, und während die Mutter sich unterhält, spuckt das Kind Blut!«

Genoveva wunde leichenblaß. Sie wollte das Zimmer verlassen, doch er stellte sich in den Weg. »Bleib!« Er keuchte wie ein Tier. Diese Angst, die er allein zu tragen gehabt hatte, die würde sie ihm heimzahlen müssen!

»Du wirst mir weh tun, und dann wird es dir leid sein«, sagte Genoveva ganz ohne Erregung.

Aber diese Bemerkung gab dem Windbeutel, der er war, in seiner Nichtigkeit vor allen Tatsächlichkeiten, den entscheidenden Anstoß zur Exaltation. Er begann zu deklamieren. Ja, sie war immer, allen seinen Bemühungen zum Trotz, gleichgültig geblieben, sie war kokett und flatterhaft. Ja, und er hatte sich lange Zeit von ihr anführen lassen, er, Herlin, der doch so sehr auf sie baute. Ja. Aber all das war doch nichts gewesen: er allein hatte daran zu leiden, man ist ja immer allein im Leben … Genoveva wandte sich gequält ab, da nahm er sie bei den Schultern und rief: »Aber die Sünden der Frauen rächen sich!« Und weil sie sich ihm neuerdings entziehen wollte, wagte er die Beschimpfung: »Das Kind stirbt — das ist der Fingerzeig Gottes!«

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Mit diesem Wort ist sein Zorn mit einemmal dahin, wie nach einem Totschlag der Rausch verflogen ist. Da es herausgesagt ist, begreift er sich selbst nicht mehr. Genoveva, todbleich im Gesicht, macht einen Schritt zur Tür.

Er aber weiß, welches Bild von ihm sie davonträgt, und er hat doch nur ein so schönes Bild von sich vor ihr aufbauen wollen. So treibt ihn der Wunsch. jenes Bild zu verwischen, alles wiedergutzumachen, geradezu mit Gewalt in ihr ein anderes, freundlicheres Bild zu erwecken. Mit jählings gebrochener Stimme: »Verzeih — — komm her…ich war ja ein Narr!«

Sie hielt schon den Türgriff in der Hand und stand halb zu ihm gewandt, anzusehen wie ein scheues Tier, das fliehen würde, wenn er sich rührte. Aber er rührte sich nicht.

»Komm her, ich muß mit dir reden … es ist so schwer …«

Sie bleibt unbeweglich stehen — wovor fürchtet sie sich denn? Fast gerät er wieder in Wut über eine so unbegründete Angst. Er möchte ihr sagen, daß er von Sinnen war, grausam, ungerecht, daß sie allein im Recht ist, aber zuvor muß sie zu ihm kommen, muß Vertrauen zeigen, muß nachgeben. Dann wird er sich gern vor ihr demütigen, und sie wird ja verstehen … Aber schon drückt sie die Klinke nieder.

Da streckt er die Hand aus und faßt rasch ihr Handgelenk … Sie schaut ihn an, mit einem Blick voll niederschmetternder Verachtung. Das reizt ihn: jetzt muß er sie unter allen Umständen in seine Gewalt bringen, um ihr seine Kraft zu zeigen und ihr dann zu sagen: »Schau, ich lasse dich frei!«

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Anfangs preßte er den gefesselten Am ein wenig, dann aber heftiger. Sie hob die andere Hand, um ihm einen Schlag ins Gesicht zu versetzen, aber er nahm auch diese Hand gefangen. Jetzt tat er ihr ernstlich weh, er fühlte, daß es ihr weh tat, und mußte daran denken, wie Kinder, die eine herrenlose Katze gefangen haben, sie nun gewaltsam zähmen wollen und sie fast erwürgen, um sie streicheln zu können — alles nur in Güte. Er atmete tief auf: Ich habe ihr weh getan, jetzt ist alles verloren. Und einige Augenblicke lang empfand er eine tolle Lust, Genoveva zu erwürgen und mit ihr das Bild seiner selbst auszulöschen, das er da aufgerichtet hatte und das ihn jetzt so abstieß.

Endlich löste er den Griff seiner Hände, und es war in ihm ein seltsames Gefühl der Kraftlosigkeit und der Leere. Genoveva trat zurück, ohne Hast, als wäre er nun wirklich nicht mehr zu fürchten und als hätte sich etwas ereignet, was sie plötzlich aus seiner Reichweite entfernte: er war nicht mehr da. Sie blieb stehen, ordnete gemächlich ihr Haar, dann ging sie in aufrechter Haltung aus dem Zimmer.

Am Abend, als Bernis zu ihr kam, sprach sie davon kein Wort. Derlei bekennt man nicht. Aber sie ließ ihn erzählen, von den Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Jugend und von seinem eigenen Leben dort unten. Und das tat sie, weil sie ihm ein kleines Mädchen anvertraute, das getröstet sein wollte, und kleine Mädchen tröstet man mit einem Bildenbuch.

Sie lehnte ihre Stirn an seine Schulter, und Bernis meinte zu fühlen, daß sie da ihre Zuflucht gefunden habe. Gewiß glaubte sie das selbst. Aber es war auch gewiß, daß sie beide nicht ahnten, wie wenig man von sich herschenkt, wenn man ein bißchen zärtlich ist.

5

»Sie kommen zu mir, Genoveva, zu dieser Stunde … und wie blaß Sie sind …«

Genoveva schweigt. Die Pendeluhr ist unerträglich mit ihrem Ticktack. Der Schein der Lampe mischt sich schon mit dem ersten Morgendämmern zu einem trübseligen Licht, daß man zu fiebern glaubt. Dieses Fenster ist widerwärtig. Genoveva nimmt einen Anlauf: »Ich habe Licht gesehen und bin hereingekommen.« Mehr weiß sie nicht zu sagen.

»Ja, Genoveva, ich — ich blättere in meinen Büchern, sehen Sie …«

Die gehefteten Bücher, die umherliegen, geben allerlei Farbflecke, gelb, weiß, rot. Wie Blütenblätter, meint Genoveva. Bernis wartet, aber sie rührt sich nicht.

»Ich saß hier im Sessel und habe geträumt, habe hier ein Buch aufgeschlagen und dort eins, dabei meinte ich alles gelesen zu haben.«

Er spielt ihr die Figur eines alten Mannes vor, um seine Unruhe zu verbergen. Und man fragt er. so ruhig er kann: »Sie haben mir etwas zu sagen, Genoveva?«

Aber im Innersten denkt er: Das ist ein Wunder der Liebe.

Genoveva kämpft gegen den einen Gedanken an: Er weiß von nichts … Und schaut ihn erstaunt an. Dann sagt sie laut: »Ich bin gekommen …« und streicht mit der Hand über die Stirne.

Die Fensterscheiben werden heller, das einströmende Licht gibt dem ganzen Zimmer eine Tönung, als wäre es ein Aquarium. Die Lampe will auslöschen, denkt Genoveva.

Plötzlich in der Angst ihres Herzens: »Jacques, Jacques, nehmen Sie mich mit!«

Bernis ist bleich geworden, er nimmt sie in seine Arme, als wollte er sie wiegen.

Genoveva schließt die Augen: »Sie nehmen mich mit …«

An seine Schulter gelehnt, fühlt sie die Zeit hinfliegen, und es tut nicht weh. Es ist fast eine Freude, auf alles zu verzichten: man läßt sich gehen, die Strömung reißt uns mit sich, es ist, als ob das eigene Leben dahinschwände, vorbei …

Und ganz laut träumt sie: »Und es tut nicht weh.«

Bernis streichelt ihr Gesicht. Sie hat eine Erinnerung: »Fünf Jahre, fünf Jahre — und es ist erlaubt!« Und denkt noch: »Ich habe ihm so viel gegeben.«

»Jacques, Jacques, mein Sohn ist tot …

Sehen Sie, ich bin von daheim weggelaufen. Ich sehne mich so sehr nach Ruhe. Ich habe noch nicht begriffen und empfinde noch keinen Schmerz. Bin ich am Ende eine herzlose Frau? Die anderen weinen und möchten mich gerne trösten. Sie sind von ihrer eigenen Güte gerührt. Aber, siehst du …, ich kann mich noch nicht recht erinnern.

Dir aber kann ich ja alles erzählen. Der Tod kommt inmitten einer großen Unordnung: Injektionen. Wundverbände, Telegramme. Wenn man einige Nächte hindurch nicht geschlafen hat, glaubt man immer zu träumen. Während der ärztlichen Konsultationen lehnt man den Kopf an die Wand, und der Kopf ist leer.

Und dann die Szenen mit meinem Mann — ein Alpdruck! Heute, kurz vorher … hat er mich am Handgelenk gefaßt, daß ich glaubte, er wollte es brechen. Nur wegen einer Injektion. Aber ich wußte wohl … , es war noch nicht soweit. Dann sollte ich ihm verzeihen, aber das war doch ganz unwichtig. Ich antwortete: ›Ja … ja … Aber laß mich zu meinem Sohn!‹ Aber er stellte sich vor die Tür: ›Verzeih mir —, ich muß deine Verzeihung haben!‹ Das war doch wirklich nur eine Laune. ›Schau, laß mich gehen! Ich verzeihe dir.‹ Und er: ›Ja, mit den Lippen, aber nicht mit dem Herzen.‹ So ging es fort, es war zum Verrücktwerden.

Aber es ist wahr: wenn alles zu Ende ist, fühlt man noch keinen wirklichen Schmerz. Fast ist man erstaunt über das Schweigen, die große Stille. Ich dachte — ich dachte: Das Kind ruht aus. Sonst nichts. Es schien mir, als landete ich irgendwo im Morgengrauen und wüßte nicht, was ich jetzt zu tun hätte. Ich dachte nur: Jetzt ist man angekommen. Ich sah die Injektionsspritze daliegen, die Arzneiflaschen daneben, und sagte mir: Das hat ja keinen Sinn mehr, — wir sind angekommen. Dann bin ich ohnmächtig umgefallen.«

Plötzlich wunderte sich Genoveva: »Es war doch ein toller Einfall, herzukommen!«

Sie fühlt, daß dort drüben das Morgenlicht eine gewaltige Unordnung offenbar macht. Ein kaltes, zerwühltes Bett, Tücher liegen da und dort auf den Möbeln, ein Stuhl ist Umgeworfen. Sie muß sich beeilen, dieser Verwirrung aller Dinge zu steuern. Hier muß ein Sessel wieder an seinen Platz gerückt werden, dort eine Vase und ein Buch an die richtige Stelle zurück. Sie wird sich bemühen, umsonst bemühen, die Ordnung der Dinge wiederherzustellen, die das Leben umfrieden.

6

Man war gekommen, um Beileidsbesuche zu machen. Die Menschen reden und bereiten unterdes ihre nächste Pose vor. Zuerst wühlen sie die trüben Erinnerungen in ihr auf, dann sind sie bemüht, sie wieder zu beruhigen, und es entsteht ein Schweigen, das so lastend ist …

Genoveva hielt sich kerzengerade und sprach furchtlos die Worte aus, die von den anderen schonend umgangen wurden, auch das Wort »Tod«. Keiner sollte an ihr die Wirkung seiner Phrasen erkennen. Sie sah jedem voll ins Auge, damit niemand sie beobachten könne, aber sobald sie selbst die Blicke senkte …

Und die anderen … Da waren solche, die noch ruhigen Schrittes ins Vorzimmer kamen, dann aber so eilig das letzte Stück Wegs bis über die Türschwelle gingen, daß sie in der Umarmung fast das Gleichgewicht verloren. Zu denen sprach sie kein Wort, ihr Schmerz war wie erloschen. Und was jene umarmten, war nur ein verkrampftes Kind.

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Ihr Mann spricht jetzt davon, das Haus zu verkaufen: »Die traurigen Erinnerungen tun uns so weh!« Dabei lügt er, denn der Schmerz ist ihm fast etwas Angenehmes, aber er regt sich auf, und er liebt die großen Gesten. Heute abend fährt er nach Brüssel. Sie soll ihm nachkommen, aber: »Wenn Sie wüßten, in welcher Unordnung das ganze Haus ist …«

Ihr ganzes früheres Leben ist zerstört: ihr Zimmer, das sie mit so viel Liebe und Geduld zusammengestellt hat; die Möbel, die nicht von Menschenhand, nicht vom Antiquar gestellt wurden, nein, die die Zeit hergebracht hat. Diese Möbel richteten ja gar nicht ihr Zimmer ein, sondern ihr ganzes Leben. Da hat man nun diesen Sessel vom Kamin weit fortgeschoben und jene Konsole von der Wand weggerückt, und nun stimmt dies alles nicht mehr zur Vergangenheit und zeigt sich zum erstenmal in nackter Einsamkeit.

»Und Sie wollen auch wieder fortfahren?« Sie sagt das mit einer kleinen Geste der Verzweiflung.

Alles um sie herum ist entzweigerissen. Es war also ein Kind, das ihre Welt zusammenhielt, um das diese ganze Welt sich ordnete? Ein Kind, dessen Tod einen solchen Zerfall für Genoveva bedeutete? Sie läßt sich gehen: »Ich leide so …«

Bernis sagt ihr leise: »Ich nehme Sie mit fort, Sie gehen mit mir. Erinnern Sie sich nicht: ich sagte Ihnen, daß ich einmal zurückkehren würde. Ich sagte Ihnen …« Und er nimmt sie in seine Arme. Genoveva biegt den Kopf ein wenig zurück, ihre Augen glänzenvor Tränen, und Bernis hält nur mehr ein kleines Mädchen in den Armen, ein kleines Mädchen, das weint.

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»Cap Juby, den …

Bernis, mein lieber Alter, heute geht ein Kurier. Das Flugzeug ist schon von Cisneros abgeflogen. Bald wird es hier sein und mitnehmen können, was ich dir vorzuwerfen habe. Ich habe viel über deine Briefe nachgedacht und über unsere gefangene Prinzessin. Gestern erst, als ich den Strand entlangging, der so kahl und leer ist, den das Meer ewig bespült und wäscht, habe ich denken müssen, daß es mit uns ähnlich steht wie mit ihm. Ich weiß nicht recht, ob wir wirklich leben. Gewiß hast du manchmal abends, wenn die Sonne in gewaltigem Schauspiel untenging, gesehen, wie das spanische Fort sich in der leuchtenden Flut spiegelte. Aber dieser geheimnisvoll blaue Widerschein ist ja nicht das Fort selbst. Und von dieser Art ist dein Reich: nicht recht wirklich, nicht recht sicher … Aber — Genoveva mußt du leben lassen!

Ja, ich weiß, sie ist jetzt ganz verzweifelt. Immerhin, Tragödien sind nicht allzuhäufig in unserem Leben, das ja so wenig an Freundschaft, an Zärtlichkeit, an Liebe abzugeben hat. Und was immer du über Herlin sagen magst — ein Mann zählt nicht gar viel. Ich glaube, daß … daß das Leben anderswo verankert ist.

Unsere Gebräuche, Konventionen und Gesetze, kurz, alle diese Dinge, deren Notwendigkeit du nicht recht fühlst und denen du dich entzogen hast, diese sind es, die dem Leben seinen Rahmen geben. Um bestehen zu können, brauchen wir um uns herum Tatsächliches, das wirklich haltbar ist. Mag es auch irrsinnig und ungerecht sein — das ist schließlich nur eine Rederei. Wenn du Genoveva entführst nimmst du ihr Genoveva weg.

und dann: weiß sie denn, was sie zum Leben braucht? Sie ahnt ja gar nicht, daß sie an einen gewissen Wohlstand gewöhnt ist. Geld ist etwas, das den Erwerb von Gütern ermöglicht, das uns ein Leben nach außenhin erlaubt; ihr Leben aber ist innerlich. Wohlstand dagegen ist es, der die Dinge dauernd macht. Er ist das unsichtbare, unterirdische Fluidum, das ein Jahrhundert lang die Mauern eines Hauses erhält und die alten Erinnerungen lebendig sein läßt: die Seele. Und du wirst ihr Leben entblößen, wie man eine Wohnung von den tausend Gegenständen entblößt, die man gar nicht mehr sah und die doch die Wohnung zu dem machten, was sie war.

Ich kann mir denken, daß für dich Lieben so viel bedeutet wie Geborenwerden. Du wirst glauben, eine neue Genoveva mit dir zu nehmen. Für dich ist Liebe jener Glanz, den du manchmal in ihren Augen aufleuchten sahst und den du leicht wieder zu erwecken meinst, als gälte es eine Lampe wieder aufzufüllen. Und es ist ja wahr, daß in gewissen Augenblicken selbst die einfachsten Worte von solcher Macht getragen scheinen, daß es leicht wird, die Liebe lebendig zu erhalten.

Aber, da kann kein Zweifel sein: Leben ist etwas ganz anderes …«

7

Genoveva empfindet es als unangenehm, den Vorhang, der hier hängt, den Sessel, der da steht, zu berühren: auch das leiseste Spüren ist wie ein Bewußtwerden von Grenzen, die ihr gesetzt sind. Bisher schien es ihr nur ein Spielen mit den Dingen, denn dies alles war so gefügig, es war da und verschwand wieder, sobald sie wollte, wie Verwandlungen im Theater. Sie hatte einen sicheren Geschmack und war nie versucht gewesen zu fragen, was es eigentlich mit diesem Perserteppich, mit jenem Stoff aus Jouy sei. Bisher hatten sie zum Gesamtbild des Zimmers gehört, ihres lieben Zimmers, jetzt aber fielen sie ihr auf.

Das tut nichts, dachte Genoveva, ich bin eben noch fremd in einem Leben, das nicht das meine ist. Sie ließ sich in einem Lehnstuhl nieder und schloß die Augen. Es war nicht anders als im Abteil eines Expreßzuges: jede Sekunde, die verstreicht, wirft Häuser, Wälder, Dörfer hinter sich. Wenn man aber auf dem Lager die Augen aufschlägt, sieht man immer nur einen kupfernen Ring, immer den gleichen. Es geht eine Wandlung vor, und man weiß es nicht. »In acht Tagen werde ich die Augen auftun und ein neuer Mensch sein; er nimmt mich mit.«

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»Was meinen Sie zu unserer Wohnung?«

Weshalb sie schon aufwecken? Sie sieht sich um und kann nicht in Worte fassen, was sie empfindet: dieser Umgebung fehlt es an Haltbarkeit, sie hat kein festes Gerüst …

»Komm näher zu mir, Jacques, du, du lebst.« Ach, dieses Halbdunkel auf den Diwans und Tapeten der Junggesellenwohnung! Marokkanische Stoffe an den Wänden, Alles läßt sich in fünf Minuten aufhängen und wieder abnehmen.

»Weshalb bedecken Sie die Wände; Jacques, wollen Sie den Fingern nicht erlauben, die Mauern zu berühren …?«

Sie liebt es, mit der flachen Hand den Stein zu berühren, weil er das Sicherste und Dauerhafteste am ganzen Haus ist, etwas, das einen lange tragen kann, wie ein Schiff …

Er zeigt ihr seine Schätze: »Das sind Erinnerungen …« Sie begreift. Hat sie doch Kolonialoffiziere gekannt, die in Paris ein Gespensterdasein führten. Sie trafen sich auf den Boulevards und wunderten sich, daß sie noch am Leben waren. Irgendwie war, wo sie wohnten, immer noch ihr Haus in Saigon oder in Marrakesch wiederzuerkennen. Sie sprachen von Frauen, von Kameraden, von militärischen Beförderungen; aber all die Stoffe, die da hingen, waren vielleicht dort drüben die lebendige Wand gewesen, hier waren sie wie etwas Totes.

Sie griff nach einem Gegenstand aus dünnem Kupfer.

»Sie mögen meine Kleinigkeiten nicht?«

»Verzeihen Sie, Jacques, dies ist alles ein wenig …«

Sie wollte nicht sagen »gewöhnlich«. Aber die Sicherheit ihres Geschmacks, die daher kam, daß sie immer nur einen wirklichen Cézanne gesehen und geliebt hatte, keine Kopie, und echte Möbelstücke, keine Nachahmungen, diese Sicherheit ließ sie seine Schätze unbewußt ablehnen. Sie war bereit, alles zu opfern, aus ganzem Herzen; ein Leben in einer weißgetünchten Zelle schien ihr durchaus erträglich, aber hier hatte sie das Gefühl, daß ein Teil ihres innersten Wesens sich bloßstellte. Nicht die Empfindlichkeit des Kindes reicher Eltern, nein, aber — es war wirklich sonderbar — ihr gerader Sinn. Bernis erriet ihre Verlegenheit, ohne sie recht zu verstehen.

»Genoveva, ich kann Ihnen nicht so viel Behaglichkeit bieten, ich bin nicht …«

»Aber Jacques, Sie sind verrückt! Was haben Sie nur geglaubt! Das ist mir ganz gleichgültig«, sie schmiegte sich an seine Brust —, »nur wäre mir statt Ihres Teppichs ein einfacher, gut gewachster Boden lieber. Lassen Sie mich nur machen …«

Sie stockte. Es war ihr eingefallen, daß die Einfachheit, nach der sie sich sehnte, ja einen viel größeren Luxus bedeutete und von jedem Gegenstand viel mehr verlangte, als diese Masken hier zu bieten hatten. Die Halle, in der sie als Kind gespielt hatte, die glänzenden Nußholzböden, die mächtigen Tische, die Jahrhunderte überdauern konnten, ohne zu altern und aus der Mode zu kommen …

Eine seltsame Traurigkeit war über sie gekommen. Es war nicht ein Zurücksehnen nach Reichtum und nach dem, was er zu geben vermag: sicherlich hatte sie weniger als Jacques das Überflüssige kennengelernt, aber es war ihr ganz klar, daß sie nun von Überflüssigem umgeben sein würde. Und danach hatte sie kein Verlangen. Und jene Sicherheit der Dauer — die würde sie nicht mehr haben. Und sie dachte: einst dauerten die Dinge länger als ich; ich war von ihnen aufgenommen und begleitet, ich war sicher, daß sie mich immer umgeben und bewachen würden — jetzt aber, jetzt werde ich länger dauern als die Dinge.

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Genoveva denkt weiter: Wenn ich aufs Land kam …

Sie sieht das Haus vor sich, das von mächtigen Linden umstan-den ist, und ihr Blick bleibt zunächst an dem haften, was die größte Dauerhaftigkeit symbolisierte: am breiten steinernen Aufgang, der nach unten in den Erdboden überging.

Ja, dort … Sie denkt an den Winter, der aus dem Wald ein dürras Gehölz macht und alle Konturen des Hauses freigibt. Als bekäme man das Knochengerüst der Welt zu sehen.

Genoveva schreitet dahin und pfeift nach den Hunden. Unter ihren Schritten rascheln die Blätter, aber sie weiß, daß nach all der Arbeit des Iätens und Wegräumens, die der Winter verrichtet, ein Frühling kommen muß, der die Lücken wieder füllen wird, der in den Ästen emporsteigt und die Knospen sprengt, um die Wölbung wieder neu zu schaffen, die grüne Wölbung, der die Tiefe des Wassers und sein Wellenschlag eignet.

Dort ist ihr Sohn nicht völlig aus dem Leben geschwunden. Wenn sie in die Vorratskammer geht, um die halbreifen Quitten zu wenden, ist er eben noch dagewesen, nun läuft er irgendwo — aber sag, mein lieber Kleiner, nach all dem Laufen und Tollen, wäre es nicht brav von dir, wenn du schlafen gingest?

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Dort kennt sie auch den Wink der Toten und fürchtet ihn nicht. Ein jeder von ihnen fügt seine Stille ins Stillsein des Hauses ein. Siehe, du hebst die Augen vom Buch, du hältst den Atem an und spürst den Anruf — und alles ist wieder wie zuvor.

Sind sie verschwunden? Unter allen, die sich verändern, sind sie doch die einzigen, die dauern, die einzigen, deren letztes Angesicht so wahr gewesen, daß sie es nun und nimmermehr verleugnen können!

»Jetzt werde ich diesem Mann folgen, und ich werde leiden und an ihm zweifeln.« Denn dieses ewigmenschliche Auf und Ab von Zärtlichsein und Zurückstoßen schien ihr sinnvoll nur bei denen, deren Lose schon gefallen waren.

Genoveva öffnet die Augen wieder: Bernis träumt vor sich hin.

»Jacques, du mußt mich beschützen! Wenn ich fortgehe, bin ich arm, ganz arm.«

Sie wird länger dauern als jenes Haus in Dakar, und länger als die Menschenmassen von Buenos Aires; überall in der Welt wird es etwas zu sehen und zu erleben geben, aber ohne eigentliche Notwendigkeit, und dies alles wird, wenn Bernis sich nicht stark genug erweist, kaum mehr Wirklichkeit haben, als was in Büchern steht.

Er aber neigt sich zu ihr und spricht ihr freundlich zu. An dieses Bild, das er ihr bietet, und an seine Zärtlichkeit, die wie aus seligen Höhen kommt, möchte sie so gerne glauben können. Dieses Bild der Liebe will sie gern liebhaben, sie hat ja nichts anderes zu verteidigen als dies ferne Bild …

Heute, am Abend, wenn die Stunde der Lust gekommen ist, wird sie ihr Gesicht in seine Schulter vergraben, und es wird eine ärmliche Zuflucht sein, wie wenn ein Tier sich verbirgt, um zu sterben.

8

»Wohin führen Sie mich denn? Weshalb bringen Sie mich hierher?«

»Dieses Hotel gefällt Ihnen nicht, Genoveva? Sollen wir weiterfahren?«

»Ja, fahren wir weiter …«, antwortete sie kleinlaut.

Die Scheinwerfer gaben wenig Licht. Mühsam war die Fahrt in die Nacht hinaus, die wie ein schwarzes Loch gähnte. Hin und wieder warf Bernis einen Seitenblick auf Genoveva: sie war sehr bleich.

»Ist Ihnen kalt?«

»Ein wenig, aber das tut nichts. Ich vergaß, den Pelz mitzunehmen.«

War sie nicht ein recht vergeßliches kleines Mädchen? Sie mußte lächeln.

Jetzt begann es zu regnen. Verdammt! dachte Jacques, aber er dachte weiter: So sind wohl die Tore beschaffen, die zum irdischen Paradies führen.

In der Nähe von Sens mußte eine Zündkerze ausgewechselt werden. Bernis hatte nicht daran gedacht, den Anhängewagen mitzunehmen — wieder etwas vergessen! Im Regen mühte er sich mit einem Schlüssel, der nicht greifen wollte. »Wir hätten mit der Bahn fahren sollen«, murmelte er vor sich hin. Er hatte sich für den Wagen entschieden, weil er ihm die Freiheit zu versinnbildlichen schien — eine schöne Freiheit! Zudem hatte er auf dieser Flucht nichts als Kopflosigkeiten gemacht, und was hatte er alles vergessen!

»Gelingt es?« Genoveva war zu ihm getreten. Ihr war plötzlich zumut wie einer Gefangenen: ein Baum, und noch ein zweiter, als Schildwachen, dazwischen diese dumme kleine Hütte des Straßenwärters. Mein Gott, was war das doch für ein Einfall …

Würde sie am Ende ewig hier leben müssen?

Die Arbeit war fertig, Bernis griff nach ihrer Hand: »Sie haben Fieber!« — Sie lächelte: »Ja, ich bin müde, ich möchte schlafen …«

»Weshalb sind Sie dann ausgestiegen? Es regnet ja.«

Der Motor arbeitete noch immer schlecht, er zog nur rud‘weise und ließ ein Klappern hören.

»Werden wir hinkommen, mein kleiner Jacques?«

Sie wiederholte halb im Schlaf, halb fiebernd: »Werden wir hinkommen?«

»Ja, freilich, mein Liebes, gleich sind wir in Sens.«

Genoveva seufzte. Was sie da versucht hatte, ging über ihre Kräfte. Nur wegen dieses Motors, der erstickte. Jeder einzelne Straßenbaum mußte mühsam herangeholt werden, einer nach dem anderen. Immer wieder von neuem.

Es wird nicht weitergehen, dachte Bernis, wir werden wieder stehenbleiben müssen. Mit Schrecken sah er diesem Aufenthalt entgegen: er fürchtete das Schweigen der Landschaft, das allerlei schlummemde Gedanken weckte, und fürchtete das Starkwerden einer Macht, die im Aufsteigen begriffen war.

»Liebe kleine Genoveva, denken Sie nicht an diese Macht, denken Sie an später … Denken Sie an Spanien. Werden Sie gern in Spanien sein?«

Eine dünne Stimme antwortete, wie aus weiter Ferne: »Ja, Jacques, ich bin glücklich, aber — ich fürchte mich vor den Räubern.« Er sah ihr stilles Lächeln, und ihre Worte taten ihm weh, denn sie sagten ja nichts anderes als: Diese Reise nach Spanien, dieses Zaubermärchen … Kein Vertrauen. Ein Heer ohne Vertrauen. Aber ein Heer ohne Vertrauen kann doch nicht siegen. »Genoveva, es ist diese Macht und dieser Regen, der uns alle Zuversicht nimmt.«

Plötzlich wurde ihm klar, daß diese Nacht einer hoffnungslosen Krankheit glich. Und den Krankheitsgeschmack spürte er geradezu im Munde. Es war wirklich eine Nacht ohne Hoffnung auf Morgenlicht. Bernis kämpfte gegen diese Erkenntnis an und wiederholte immer wieder: »Das Morgenlicht wäre ein Labsal, nur regnen, regnen soll es nicht …« Es war da etwas Krankes, aber in ihnen selbst, doch war ihnen das nicht bewußt. Er meinte, es wäre die Erde, die in Fäulnis übergegangen, oder die Nacht, die krank geworden sei. So sehnte er den Morgen herbei, wie Schwerkranke, wenn sie sagen: »Wenn es hell wird, werde ich leichter atmen«, oder: »Wenn der Frühling kommt, werde ich wieder jung sein.«

»Genoveva, denken Sie doch an unser Haus dort drüben…« Aber schon hatte er begriffen, daß er dies nicht hätte sagen dürfen: wie sollte Genoveva sich dieses Haus vorstellen können? »Ja, unser Haus«, wiederholte sie, wie um dem Klang des Wortes zu erproben. Aber es schien ihr so ohne Wärme, so gehaltlos. Zugleich stürmten allerlei Gedanken auf sie ein, die ihr bisher fremd gewesen waren, die sich zu Worten verdichteten und ihr angst machten.

Da Bernis keines der Hotels in Sens kannte, hielt er unter einem Straßenkandelaber an und schlug im Reiseführer nach. Die kümmerliche Gasflamme schuf unruhige Schatten und ließ auf einer weißfarbigen Mauer die verwaschene und entfärbte Aufschrift erkennen: »Fahrräder…« Dieses Wort erschien Bernis als das trübseligste und gewöhnlichste, das er je gelesen hatte: Symbol eines dürftigen Lebens. Nun wollte ihm plötzlich so vieles dort drüben, in seinem eigenen Leben, dürftig erscheinen, und er hatte es doch vordem nie empfunden.

»He, Bürger, gib Feuer …« Drei magere Burschen standen da und sahen ihn lachend an. »Diese Amerikaner finden ihren Weg nicht …« Sie musterten Genoveva, aber Bernis brummte sie an: »Schaut, daß ihr weiterkommt!«

»Dein Mädel ist ganz nett. Aber du solltest die unsrige sehen, dort auf Nummer neunundzwanzig!«

Genoveva beugte sich zu ihm, ein wenig erschrocken: »Was sagen diese Leute? Ich bitte Sie, fahren Sie, fahren wir weiter!«

»Aber Genoveva …« Bernis zwang sich zu schweigen. Er mußte nun endlich ein Hotel auftreiben. Diese angetrunkenen Burschen — das hatte ja nichts zu bedeuten. Dann aber fiel ihm ein, daß sie Fieber hatte und leidend war und daß er ihr diese Begegnung wohl hätte ersparen müssen. Und mit fast krankhafter Beharrlichkeit wiederholte er sich den Vorwurf, daß er sie in Häßliches hineingemengt hätte. Ja …

Das Hotel »Globus« war geschlossen. Alle diese kleinen Hotels hatten in der Nacht das Aussehen von Krämereien. Er klopfte lange am Tor, bis ein schläfriger Schritt sich näherte. Der Nachtportier öffnete nur einen Spalt: »Alles besetzt.«

»Ich bitte Sie, meine Frau ist leidend!« Aber schon hatte sich das Tor geschlossen, und der Schritt verhallte wieder. Mußte sich denn heute alles gegen sie verschwören?

»Was hat er gesagt?« fragte Genoveva. »Warum hat er gar nicht geantwortet?«

Bernis wollte schon den Mund auftun, um zu bemerken, daß sie sich ja nicht am Vendômeplatz befänden und daß diese kleinen Hotels, einmal satt und schläfrig geworden, auch richtig zu entschlummern pflegten; so sei es überall — aber er setzte sich, ohne ein Wort zu sagen. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Er warf den Wagen nicht an, sondern sah starr auf das nasse Pflaster, während ihm die Regentropfen an den Hals schlugen; er meinte es mit der Trägheit der ganzen Erdkugel zu tun zu haben. Und wieder dieser dumme Gedanke: Wenn erst der Morgen da ist …

Es war in diesem Augenblick wirklich notwendig, daß ein Wort fiel, in dem ein wenig Menschlichkeit mitschwang. Geneveva wollte es versuchen: »Das alles hat ja gar nichts zu bedeuten, mein Liebster. Wir müssen uns zu unserem Glück durcharbeiten.« Bernis warf ihr einen vollen Blick zu: »Ja, Sie sind sehr gut zu mir.« Er war gerührt und hätte sie gern umarmt; aber der Regen, die Unbequemlichkeit, die Ermüdung …! Doch griff er nach ihrer Hand und fühlte, daß das Fieber gestiegen war, jede Sekunde nagte an diesem Leben. Er beruhigte sich durch Vorstellungen. Ich werde im einen recht heißen Grog brauen lassen. Dann wird es gleich vorüber sein. Einen beruhigenden Grog. Mit Decken will ich sie umwickeln, und wir werden uns anschauen und über diese beschwerliche Reise lachen. Dabei empfand er sogar etwas wie ein Glücksgefühl. Freilich — der Augenblick selbst wollte wenig zu diesen Vorstellungen passen: zwei andere Hotels blieben verschlossen. Ja, diese Vorstellungen — jedesmal mußte man sie neu erwecken, und jedesmal verloren sie etwas von ihrer Überzeugungskraft und von ihrer schon so geringen Fähigkeit, lebendig zu werden.

Genoveva war verstummt. Bernis fühlte, daß sie nicht klagen, daß sie gar nichts mehr sagen würde. Er mußte weiterfahren, stunden-, ja tagelang — sie würde schweigen, immer nur schweigen. Und wenn er ihr den Arm verrenkte — sie würde nichts sagen … »Ich bin anderswo, ich träume!«

»Genoveva, mein liebes Kind, fühlen Sie sich schlecht?«

»Nein, gar nicht, es ist vorbei, mit ist besser.«

Sie hatte jetzt an vielen Zweifeln gelernt, auf vieles verzichtet. Für wen? Für ihn. Verzichtet auf Dinge, die er ihr nicht geben konnte. Das erhoffte Schönere, das war ein Aufschwung, dessen Kraft gebrochen war. Sie wird künftig mehr Ergebenheit zeigen. So wird sie zum Schöneren und immer Schöneren aufsteigen, indem sie auf das Glück verzichtet. Und wenn es ihr dann endlich ganz gut gehen wird … »Aber! Ich bin doch recht dumm: da träume ich wieder!«

»Hotel zur Hoffnung und Englischer Hof: Sonderpreise für Geschäftsreisende.« — »Nehmen Sie meinen Arm, Genoveva … Aber ja, ein Zimmer! Die Dame ist leidend! Rasch einen Grog, einen heißen Grog! ›Sonderpreise für Geschäftsreisende.‹ Weshalb klingt das so trübselig. ›Setzen Sie sich doch, Sie werden sich bald erholen.‹ Warum will der Grog nicht kommen? Sonderpreise für Geschäfüsreisende …«

Das alte Zimmermädchen ereiferte sich: »Hier, gnädige Frau. Die arme Dame — sie zittert ja und ist ganz blaß. Ich werde ihr eine Wärmflasche bringen. Nummer vierzehn, ein schönes, großes Zimmer. Will der Herr den Bogen ausfüllen!«

Bernis nahm den fleckigen Federhalter und hielt inne: es war ihm zum Bewußtsein gekommen, daß sie verschiedene Namen trugen. Also mußte er Genoveva dem Wohlwollen des Personals anheimgeben … Und das um meinetwillen. Geschmacklos! Und wieder war es Genoveva, die ihm hinweghalf.

»Schreib ›Liebende!‹ Ist das nicht süß?«

Beide dachten sie an Paris, an das Aufsehen, und sahen schon allerlei erregte Gesichter. Etwas recht Schweres begann jetzt wohl für sie, aber sie hüteten sich, auch nur ein Wort darüber zu sagen, nur um einander nicht im gleichen Gedanken zu begegnen.

Doch wunde es Bernis klar, daß ja bisher nichts geschehen war, gar nichts; der Motor war schlapp geworden, es hatte ein bißchen geregnet, zehn Minuten waren verlorengegangen auf der Suche nach einem Hotel. Alle die ermüdenden Beschwerlichkeiten, die sie nach ihrer Meinung überwinden mußten, kamen ja nur aus ihnen selbst. Genoveva hatte einen Kampf gegen sich selbst auszufechten, aber was sich da von ihr losreißen wollte, war so stark, daß sie selber schon wie zerrissen war.

Er nahm ihre Hände in die seinen, aber wiederum wußte er, daß ihm kein helfendes Wort zu Gebote stand.

Sie war eingeschlafen. Bernis dachte nicht an Liebe, aber er träumte wunderliches Zeug vor sich hin. Lauter Erinnerungen; und dann der brennende Docht in der Lampe; man muß sich beeilen, die Lampe wieder aufzufüllen, aber man muß auch die Flamme vor dem Wind schützen, der so stark weht.

Doch vor allem diese Losgelöstheit …Er hätte lieber gesehen, wenn sie nach Gütern gestrebt hätte. Wenn sie nach gewissen Dingen Sehnsucht hätte, von ihnen erfüllt wäre und nach ihnen verlangte, wie ein Kind, das Nahrung braucht. Dann hätte er, trotz seiner Armut, ihr vieles geben können. So aber war er arm und kniete vor diesem Kinde, das keinen Hunger hatte.

9

»Nein, nichts … Laß mich … Ah, schon auf?«

Bernis war aufgestanden. Sein Schlaf war unruhig gewesen, er hatte die Arme bewegt wie ein Tauzieher oder wie ein Apostel, der uns die Seele aus dem Leib zieht. Nun ging er auf und ab, und jeder seiner Schritte war sinnvoll wie die Schritte eines Tänzers. »Du, mein Liebes …«

Da ging er nun auf und ab — es war eigentlich lächerlich.

Durch die Fenster drang, schmutziggrau, das enste Morgendämmern. Diese Nacht, war sie nicht etwas Tiefblaues gewesen, im Schein der Lampe durchsichtig wie ein Saphir? Diese Nacht hatte hinaufgereicht bis zu den Sternen. Man konnte träumen und sich allerlei vorstellen, als säße man ganz vorn am Bug eines Schiffes.

Genoveva zieht die Knie empor, ihr Körper ist schlaff, sie muß an Brotteig denken. der schlecht aufgegangen ist. Das Herz schlägt zu rasch, es tut weh. Man fühlt sich wie im Eisenbahnwagen, wenn das Klappern der Achsen im Takt die Fahrt begleitet. So schlägt ihr Herz. Da legt man die Stirn an die Scheibe. Draußen fließt die Landschaft: dunkle Wasser, die der Horizont verschluckt und in seinen Frieden hinübernimmt, und der Friede ist sanft wie der Tod.

Sie möchte dem Mann da zurufen: »Halt du mich fest!« Denn die Arme der Liebe halten dich gut, sie halten deine Gegenwart, deine Vergangenheit und deine Zukunft, die Arme der Liebe umfassen dich ganz …

»Nein, laß mich!«

Und Genoveva steht auf.

10

Der Entschluß, so überlegte Bernis, war von außen her an sie herangetreten. Alles war abgemacht worden, ohne daß ein Wort gefallen wäre. So war nun die Rückkehr scheinbar von Anfang an verabredet gewesen. Da Genoveva leidend war, kam eine Fortsetzung der Fahrt nicht in Frage. Man würde ja sehen. Ihre Abwesenheit war ganz kurz, Herlin nicht daheim, so konnte sich alles wieder schlichten. Bernis wunderte sich, daß die ganze Angelegenheit sich jetzt als so einfach erwies. Freilich wußte er, daß es sich in Wirklichkeit nicht so verhielt. Nur daß sie selbst handeln durften, wie sie wollten.

Übrigens zweifelte er an sich selber. Es war ihm klar, daß er wieder einmal bildhaften Vorstellungen nachgegeben hatte. Aber aus welcher Tiefe kommen denn diese Bilder herauf? Heute morgen, kaum erwacht, hatte er sich beim Anblick der niedrigen, mißfarbenen Zimmerdecke diesen Gedanken geholt: »Ihr Haus war ein Schiff, das Generationen trug, von einem Strand zum anderen. Das Reisen hat keinen Sinn, weder hier noch sonst, aber welche Sicherheit gewährt es, wenn man die Fahrkarte in Händen hat, wenn man seine Kabine hat und seinen eigenen Koffer aus gelbem Leder, wenn man so richtig eingeschifft ist …«

Er wußte noch nicht, ob er leiden müßte, weil er auf der schiefen Ebene glitt und weil die Zukunft an ihn herankam, ohne daß er selbst nach ihr zu greifen hatte. Wenn man sich gehen läßt, leidet man ja nicht. Selbst wer sich der Traurigkeit anheimgibt, leidet nicht mehr. Er aber würde später zu leiden haben, wenn er begänne, die einzelnen Bilder zu vergleichen. So würde ihm bewußt, daß sie beide diesen zweiten Teil ihrer Rolle deshalb ohne Schwierigkeiten zu spielen verstanden, weil dies in ihrem Wesen irgendwie begründet war. Das alles überdachte er, während er einen Motor steuerte, der auch nicht recht vorwärts wollte. Aber man würde doch ankommen. Es ging eine schiefe Ebene hinab. Immer dieses Bild von der schiefen Ebene …

Als sie sich Fontainebleau näherten, empfand Genoveva Durst. Hier war jede Einzelheit der Landschaft ihnen wohlbekannt und ordnete sich von selbst ein. Es war beruhigend. Ein Rahmen, der etwas Selbstverständliches war und alles immer fester umspannte.

In einer kleinen Schenke bot man ihnen Milch. Wozu sich beeilen? Genoveva trank die Milch langsam, schluckweise. Wirklich, wozu sich beeilen? Alles, was sich da begab, kam ja ganz selbstverständlich über sie: immer dieses Bild der Selabstverständlichkeit.

Sie war weich gestimmt und wußte ihm für vieles Dank. Ihre Beziehung zueinander war viel freier als gestern. Sie konnte lächeln und wies auf einen Vogel, der vor der Tür Krumen aufpickte. Ihre Züge schienen ihm einen neuen Ausdruck zu haben, aber wo hatte er diesen Ausdruck schon gesehen? Vielleicht bei Reisenden, die ihr Leben in wenigen Sekunden aus unserem Leben wieder fortträgt. Auf Bahnsteigen ist es so. Dieses Gesicht also konnte wieder lächeln und Leben zeigen, das aus unbekannten Tiefen kam.

Bernis hob wieder den Blick zu ihr. Er sah ihr Profil, sie saß vorgeneigt und schien zu träumen. Er fühlte, daß sie ihm entschwand, kaum daß sie den Kopf wandte.

Gewiß liebte sie ihn noch, aber von einem schwachen kleinen Mädchen darf man nicht zuviel verlangen. Er konnte nun freilich nicht etwa sagen: »Ich gebe Sie wieder frei«, oder etwas ähnlich Unsinniges, aber er begann davon zu reden, was er in Zukunft tun würde. Und in das Leben, das er da aufbaute, hatte er sie nicht mit eingefangen. Sie war ihm dankbar und legte die kleine Hand auf seinen Arm: »Sie sind, Sie sind mein alles.« Das war die Wahrheit, aber er erkannte doch auch an diesen Worten, daß sie nicht füreinander geschaffen waren.

Eigenwillig war sie, und doch weich. Aber auch ganz nah daran, hart und grausam und ungerecht zu sein, ohne es zu wissen. Und immer bereit, um jeden Preis irgendein geheimnisvolles Gut zu verteidigen, in aller Ruhe und Weichheit.

Aber sie war auch nicht für Herlin geschaffen. Das war Bernis klar. Ihr Leben, das sie nun wieder aufnehmen wollte, hatte ihr ja nur Schweres gebracht. Wofür war sie nun eigentlich geschaffen? Sie schien nicht dem Leiden unterworfen.

Dann fuhren sie weiter. Bernis wandte den Kopf mehr zur Linken. Er war sich bewußt, daß auch er nicht litt, aber es war wohl etwas Animalisches in ihm verletzt: er fühlte, wie die Tränen aufstiegen, und wußte doch nicht, weshalb das Weinen so nahe war.

In Paris gab es keine Spur von Aufsehen. Es war alles unverändert.

11

Wozu dies alles? Die Stadt umgab ihn wieder mit ihrem sinnlosen Wirbel. Er wußte wohl, daß aus diesem Durcheinander nichts Rechtes werden konnte. Langsam die Straße hinabschreitend, ließ er die fremde Masse der Entgegenkommenden an sich vorübergehen und dachte nur: »Ganz so, als wäre ich nicht da.« In Bälde würde er wieder zurückreisen müssen: es war gut so. Gewiß würde ihn die Anbeit in so materieller Weise zu binden wissen, daß sein Leben wieder Realität annehmen würde. Auch wußte er, daß der Alltag selbst unserem geringfügigsten Tun die Gewichtigkeit einer Tatsache verleiht und daß hierdurch jedes Erdenleid ein wenig von seiner Daseinsberechtigung einbüßt. Selbst die üblichen Pilotenwitze würden wieder erfrischend wirken. Das war sondenbar und doch nicht anders zu erwarten. Aber freilich — er hatte gar kein Interesse an sich selber.

Sein Weg führte just an Notre-Dame vorbei, er trat ein und war überrascht von der großen Zahl der Besucher. Er rettete sich zu einem Pfeiler und fragte sich, weshalb er überhaupt hergekommen war. Vielleicht deshalb, weil hier die Minuten doch zu etwas führten. Draußen führten sie ja zu gar nichts. Ja, das war es: draußen führten die Minuten zu gar nichts mehr. Auch empfand er das Bedürfnis, sich selbst zu erkennen, und war bereit, sich dem Glauben hinzugeben wie einem beliebigen anderen disziplinierten Denken. Er sagte sich: »Wenn ich eine Formel finde, die mein Ich ausdrückt, die mein Sein umspannt, wird sie für mich die Wahrheit bedeuten.« Dann aber fügte er lässig hinzu: »Und doch werde ich nicht daran glauben.« Und plötzlich wollte ihm scheinen, daß er hier wieder an einer Ausweichstelle angelangt sei und daß sein ganzes Leben sich in solchen Fluchtversuchen verbraucht habe. Nun erklangen die ersten Worte der Predigt, beunruhigend wie ein Signal zur Abfahrt.

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»Das Himmelreich«, begann der Prediger, »das Himmelreich …« Er stützte die Hände auf den breiten Rand der Kanzel und beugte sich über die Menge. Da saß sie dicht gedrängt, bereit, alles aufzunehmen, und verlangte nach Nahrung. Ihm aber fluteten Bilder zu voll unerhörter Eindringlichkeit. Er mußte an Fische denken, die in der Reuse gefangen waren, und setzte ohne jeden Übergang fort: »Als der Fischer von Galiläa…«

Er sprach weiter und fand lauter Worte, die ganze Züge von Erinnerungsbildern heraufführten, und diese Bilder waren nicht wieder zu bannen. Er fühlte, wie er Gewalt über die Menge zu üben begann und wie allmählich sein Schwung federnd wurde wie die Spur des Läufers im Sande.

»O wüßtet ihr, wüßtet ihr, wieviel an Liebe …« Er unterbrach sich und schöpfte Atem: die Gefühle, die ihn bestürmten, waren zu reich, um ihn den rechten Ausdruck finden zu lassen. Er begriff, daß auch die einfachsten, die abgebrauchtesten Worte ihm jetzt allzu sinnbeschwert erschiennen und daß er sie nicht mehr von den anderen Worten scheiden konnte, von denen, die den richtigen Klang hatten. Das Licht der Kerzen gab seinem Antlitz eine wächserne Farbe. Er straffte sich steil empor, die Hände noch immer aufgestützt, die Stirn hoch erhoben. Und als seine Haltung sich weiter entspannte, ging eine Bewegung durch die Menge wie Wellenschlag.

Nun strömten ihm die Worte zu, und er sprach. Sprach mit überraschender Sicherheit. Es war in ihm wie das Hochgefühl eines Athleten, der seine Kräfte spürt. Gedanken flogen ihm zu, die sich außerhalb seiner selbst schon formten, während er einen Satz zu Ende sprach, als wären sie eine Bürde, die man ihm reichte. Und im voraus fühlte er in seinem Geist das dunkle Aufsteigen des Bildes, in das er alsbald den geformten Gedanken legen würde, um ihn bildhaft in die versammelte Menge zu tragen.

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Bernis hörte jetzt aufmerksam der Predigt zu.

»Ich bin die Quelle allen Lebens. Ich bin die Flut, die in euch eindringt, um euch zu erwecken, und die wieder zurückfließt. Ich bin das Leid, das in euch eingeht, um euere Herzen zu zerreißen, und das wieder zurückströmt. Ich bin die Liebe, die in euere Herzen einzieht, und die in alle Ewigkeit währt.

Und ihr wollt mir Marcion amd das vierte Evangelium entgegensetzen? Wollt mir von Textverfälschungen sprechen? Ihr möchtet euere armselige Memschenlogik gegen mich aufstellen, gegen mich, der ich über euch throne und euch von dieser Logik frei machen will!

Ihr Gefangenen, versteht mich doch! Ich mache euch frei von euerer Wissenschaft, von euerem Formelkram, von eueren Gesetzen, von der Sklaverei des Geistes, vom Determinismus, der härter ist als das blinde Schicksal. Ich bin die verwundbare Stelle an euerer Rüstung: ich bin das Leben.

Ihr habt den Gang der Gestime bis ins letzte erforscht, als eine Generation von Helden des Laboratoriums, aber ihr kennt das Gestirn nicht mehr. Es ist nur noch ein Kapitel in eueren Büchern, aber es ist für euch nicht mehr ein Licht, denn ihr wißt weniger von ihm als ein kleines Kind. Ihr habt alles entdeckt, bis zu den Gesetzen, die das Lieben der Menschen beherrscht, aber dieses Lieben selbst können alle euere Zeichen nicht einfangen: ihr wißt davon weniger als jedes junge Mädchen! Nun denn, so kommt zu mir! Diesen milden Glanz des Lichts, dieses Licht der Liebe, ich gebe es euch wieder. Ich knechte euch nicht, nein, ich rette euch und mache euch frei von dem Menschen, der als erster den Fall einer Frucht errechnet und euch in diese Sklaverei gebracht hat. Meine Wohnung ist die einzige Pforte, die euch offen ist — was sollte aus euch werden, wenn ihr außerhalb bleiben müßtet?

Was würde aus euch, jenseits meiner Wohnung, außerhalb dieses Schiffes, in dem der Ablauf der Stunden erst seinen vollen Sinn erhält, so wie der Ablauf des Meerwassers auf dem schimmernden Gabälk des Schiffsleibs. Dieser Ablauf des Meerwassers ist geräuschlos und still, aber er bringt das Schiff zu den fernen Inseln. Das ist der Ablauf des Meerwassers.

Kommt zu mir alle, denen die Tat, die zu nichts führt, bitter geworden ist.

Kommt zu mir, ihr alle, denen der Gedanke, der nur zu Gesetzen führt, bitter geworden ist.«

Der Prediger spannte die Arme aus:

»Denn ich bin es, der euch aufnimmt. Ich habe die Sünden der Welt auf mich genommen. Ich habe ihr Leid getragen. Ich habe euere Schmerzen getragen, die Schmerzen von Tieren, die ihre Jungen verlieren müssen, habe euere unheilbaren Krankheiten auf mich genommen, und ihr habt die Erleichterung gefühlt. Aber dein Leid, du mein Volk der heutigen Zeit, ist ein Elend, das noch tiefer, noch unheilbarer ist, und dennoch werde ich es tragen, wie ich alles andere Leid getragen habe. Ich werde die schwersten Ketten tragen, die Ketten des Geistes.

Ich bin, der die Bürden der Welt auf sich nimmt.«

Der Mann auf der Kanzel erschien Bernis so hoffnungslos, weil er nicht danach schrie, daß ihm ein Zeichen gewährt würde, und weil er kein Zeichen offenbar machte. Nein, weil er selbst sich immer die Antwort gab.

»Ihr werdet die Kinder sein, die bei mir spielen. Kommt zu mir mit all den vergeblichen Bemühungen, die eueren Alltag erschöpfen: ich werde ihnen einen Sinn geben, daß sie euere Herzen neu aufbauen, ich werde ihnen wieder Menschlichkeit geben.«

Das Wort dringt in die Menge ein. Aber Bernis hört es nicht mehr, er hört etwas, das in diesem Wort lebt und das wie ein Leitsatz immer wiederkehrt: … wieder Menschlichkeit geben.

Das beunruhigt ihn.

»Ihr Liebenden von heutzutage, kommt zu mir, ich werde euerer trockenen, verzweifelten und grausamen Liebe Menschlichkeit geben.

Euerer Sucht nach dem Fleischlichen und der traurigen Umkehr davon — kommt zu mir, ich werde ihr Menschlichkeit geben …«

Bernis empfand eine tiefe Benommenheit.

»… denn ich bin, der am Menschen sein Wohlgefallen hat …«

Bernis ist ganz verzweifelt.

»Ich bin der einzige, der den Menschen zu sich selbst zurückführen kann.«

Der Priester verstummte. Erschöpft wandte er sich dem Hochaltar zu und betete zu Gott, zu dem Gott, den er verkündet hatte. Er fühlte sich gedemütigt, als hätte er alles hingegeben, als wäre seine körperliche Ermattung ein Gnadengeschenk. Und ohne es zu wissen, fühlte er sich eins mit Christus. Von neuem begann er zum Altar gewandt, diesmal mit erschütternder Ruhe:

»Mein Vater, ich habe an sie geglaubt, darum habe ich mein Leben hingegeben …«

Und indem er sich ein letztes Mal über die Menge beugte:

»Denn ich liebe sie …« Ein Zittern ging über seine Gestalt. Ein Schweigen folgte, das Bernis ungeheuer schien.

»Im Namen des Vaters …«

Und Bernis dachte: Welche Verzweiflung! Wo ist das Bekenntnis des Glaubens? Ich habe dieses Bekenntnis nicht vernommen, aber ich habe einen Aufischrei voll Verzweiflung gehört…

Er ging hinaus. Gleich würden die Bogenlampen aufstrahlen. Bernis schritt am Ufer der Seine entlang. Die Bäume standen, von keinem Hauch bewegt, ihre Äste verschwammen in der Abenddämmerung. Bernis schritt weiter. In ihm war Ruhe eingekehrt, wie sie das Stillwerden des Tages bringt, daß wir meinen, wir hätten endlich die Lösung eines Problems gefunden.

Aber diese Dämmerung — nichts als ein recht theaterhafter, leinwandener Hintengrund, der schon oft gedient hat, wenn Kaiserreiche untergingen, wenn Schlachten zu Niederlagen wurden, wenn eine armselige Liebe am Erlöschen war, der auch morgen wieder dienen wird, wenn es andere Komödien gibt. Ein leinwandener Hintergrund, der uns beunruhigt, wenn der Abend still ist, wenn das Leben schleppend wird, denn wir wissen nicht, welches Drama sich abspielen will. O gäbe es etwas, das ihm Rettung brächte aus all der menschlichen Unrast …

Da flammten, alle mit einemmal, ringsum die Bogenlampen auf.

12

Taxwagen. Autobusse. Ein namenloses Durcheinander — es ist gut, nicht wahr, Bernis, sich drin zu verlieren?

Ein Dickwanst, mitten auf dem Gehsteig — holla, mach Platz! Weiber, man sieht sie nur dies eine Mal im Leben: jetzt oder nie! Dort drüben Montmartre, da ist das Licht schon greller. Schon sind Weiber da, die mitwollen. — Du lieber Gott, fort mit euch! — Dann wieder andere Weiber, sie steigen aus Luxusautos, die schön wie Juwelenschreine sind und den Frauen, auch wenn sie wenig Reiz haben, ein prächtiges Aussehen geben. Fünf Hunderttausender an Palenschnüren, die ihnen bis zum Bauch hinunterhängen, und was für Ringe an den Händen! Dazu der matte Nachglanz der gepflegten Haut. Dort wieder ein erschrecktes Mädchen: »Laß mich, du! Ich weiß, wer du bist, ein Zuhälter! Mach dich fort! Laß mich vorbei, ich will leben!«

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Da war eine Frau, sie saß vor ihm, mit dem Abendessen beschäftigt. Das Abendkleid ließ am Rücken einen tiefen, dreieckigen Ausschnitt frei. Er sieht nichts anderes als den Nacken, die Schultern und diesen blinden Rücken, auf dem er wie ein Beben des Fleisches ahnt. Der Körper — dieses ewig neue, unergründliche Ding. Sie hatte sich eine Zigarette angesteckt, hielt das Kinn in die Hand gestützt, den Kopf vorgeneigt, so daß er nur mehr die leere Fläche des Rückens sah. Wie eine Mauer, dachte er.

Die Tänzerinnen begannen ihr Spiel. Ihr Schritt war elastisch, und die Seele der Tanzbewegungen lieh auch ihnen etwas Beseeltes. Bernis gefiel der Rhythmus, der ihnen Gleichgewicht gab, freilich ein schwankes Gleichgewicht, das sie dennoch stets mit erstaunlicher Sicherheit wiederfanden. Es ging eine stark sinnliche Wirkung von ihnen aus, wenn sie immer von neuem das Bild auflösten, das eben zur Form hatte wenden wollen und das sie im Augenblick des Erstarrens, gleichsam en der Schwelle des Todes, noch einmal zu Bewegungen des Lebens auflockerten. Es war der Ausdruck wahren Rhythmus.

Vor seinen Augen noch immer dieser geheimnisvolle Rücken, glatt wie der Spiegel aus Glas. Aber jede kaum wahrnehmbare Bewegung, vielleicht nur ein Gedanke oder eine Empfindung, ließ es wie einen Schatten über den ganzen Rücken gleiten. Und Bernis dachte: Mich lockt all dies Dunkle, das sich da bewegt.

Die Tänzerinnen verneigten sich, nachdem sie einige rätselhafte Zeichen in den Sand geschrieben und gleich wieder verwischt hatten. Bernis gab der leichtfüßigsten von ihnen einen leisen Wink.

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»Du kannst gut tanzen.« Er maß das Gewicht ihrer Körperlichkeit, wie einer das Fleisch einer Frucht prüft, und fand mit Überraschung eine gewisse Erdenschwere. Das war ja Reichtum. Sie setzte sich zu ihm. Ihr Blick war geruhig, und der rasierte Nacken war fast ein kleiner Stiernacken und schien an ihrem biegsamen Körper das wenigst Biegsame zu sein. Ihre Züge waren nicht fein zu nennen, aber der ganze Leib atmete Feinheit, es war eine friedliche Atmosphäre um ihn.

Dann aber bemerkte Bernis, daß ihr Haar stellenweise von Schweiß klebrig war. Unter der Schminke wurde eine Falte sichtbar. Und das Kleid war verknittert. Losgelöst von ihrem Element, dem Tanz, war sie ungelenk und fast entstellt.

»Woran denkst du?« Sie antwortete mit einer linkischen Geste. Alles, was sich ringsum tat, war nächtliches Treiben, begann irgendwie sinnvoll zu werden, das Treiben der Grooms, der Chauffeure, des Geschäftsführers. Sie alle taten ihren Dienst, der letztlich darin bestand, vor ihn, Bernis, diese Champagnerflasche hinzustellen und dieses müdgetanzte Mädchen hinzusetzen. Bernis nahm das Leben zwischen Kulissen wahr, die alles zum Beruf werden ließen. Da gibt es kein Laster, keine Tugend, keine unklare Gemütsbewegung, nur eine Arbeit, die so geschäftsmäßig geleistet wird und so neutral ist wie die Arbeit des Eisenbahnpersonals. Selbst der Tanz von vorhin, der die Gebärden bannte, um aus ihnen eine verständliche Sprache zu machen, konnte nur einem Fremden etwas sagen. Nur der Fremde konnte hier sozusagen einen Satzbau entdecken, den alle anderen längst schon vergessen hatten. So geht auch dem Musiker, der zum tausendsten Male dasselbe Stück spielt, der Sinn dieses Stückes verloren. Hier produzierten die Mädchen ihre Tanzschritte, zeigten ihre Mimik, alles im grellen Licht der Scheinwerfer, aber Gott weiß, was sie dabei für Bemerkungen machten. Da war die eine einzig mit ihrem Bein beschäftigt, das ihr weh tat, die andere mit einem Stelldichein, einem armseligen Stelldichein nach dem Tanz. Und die dritte überlegte: Ich bin hundert Franken schuldig, und die vierte dachte immer nur: Mir ist nicht gut.

Schon fühlte Bernis, wie all sein Schwung sich verlor. Er sagte sich: »Du kannst mir nichts von all dem geben, was ich ersehne.« Und doch wer sein Einsamsein so quälend, daß er ihrer bedurft hätte.

13

Sie hat ein wenig Angst vor dem stillen Mann. In der Nacht, neben dem Schläfer, wenn sie erwacht, hat sie den Eindruck, als liege sie vergessen auf einsamem Strande.

»Nimm mich in deine Arme!«

Ja, sie hat auch Ausbrüche von Zärtlichkeit …, aber das fremde Leben in diesem Körper, die unbekannten Träume hinter dem felsenharten Stirnbein! Sie legt sich quer auf seine Brust und spürt den Atem des Mannes auf und ab wogen, und es ist wie das aufregende Erlebnis einer Überfahrt. Wenn sie das Ohr an seinen Leib legt und das harte Klopfen seines Herzens hört, diesen Gang eines Motors oder vielleicht das Pochen eines Meißels, hat sie die Empfindung von etwas, das davonfließt und nicht aufzuhalten ist. Und dann dieses Schweigen, wenn sie ihm ein Wort zugerufen hat, das ihn aus den Träumen weckt. Sie zählt die Sekunden zwischen ihrem Zuruf und seiner Antwort, wie man bei einem Gewitter zählt: Eins … zwei … drei … Er ist jenseits von allem. Wenn er wieder die Augen geschlossen hat, greift sie nach seinem Kopf und hebt ihn ein wenig, wie den Kopf eines Toten, mit beiden Händen, als hielte sie einen Stein: »Mein Liebster, wie traurig ist doch das alles …«

Geheimnisvoll ist so ein Reisegefährte.

Dann liegen sie der Länge nach nebeneinander und schweigen beide. Da spürt man, wie das Leben uns durchrinnt wie ein Fluß in schwindelerregender Schnelligkeit. Der Menschenleib — ein Rudenboot in voller Fahrt.

»Wieviel Uhr ist es?«

Man stellt die Zeit fest. Ist das nicht eine sondenbare Reise? O mein Liebster! Und sie klammert sich an ihn an, den Kopf zurückgebogen, mit offenem Haar, wie eine Ertrinkende, die gerettet wird. Eine Frau, die vom Schlaf oder von der Liebe wieder ins Leben zurückehrt, eine wirre Locke, die an der Stirn klebt, die Züge wie verweht, eine Frau, aus den Wellen des Meeres gezogen.

»Wieviel Uhr ist es?«

Ja, warum denn? Die Stunden fliehen vorbei, wie in voller Fahrt die kleinen Provinzbahnhöfe fliehen — ein Uhr, zwei Uhr —, einer nach dem anderen nach rückwärts geworfen und schon verloren. Irgend etwas gleitet uns durch die Finger, und wir wissen es nicht zu halten. Altwerden, das ist doch gar nichts.

»Ich kann mir dich sehr gut vorstellen mit weißen Haaren, und ich bin deine würdige Freundin …«

Altwerden ist wirklich gar nichts.

Aber diese verlorene Sekunde, dieses Schweigen, das sich in die Länge zieht, das ist es, was so müde macht.

»Erzähl mir von deinem Land.«

»Dort drüben …«

Bernis weiß, daß das unmöglich ist. Städte, Meere, Heimatorte — das ist ja immer dasselbe. Nur manchmal eine flüchtige Vision, die man errät, ohne sie zu verstehen, und die man nicht wiedergeben kann.

Er legt die Hand an ihre Weiche, dort, wo der Leib am wenigsten bewehrt ist. Das Weib: bloß wie kein anderes lebendes Fleisch und leuchtend im zartesten Schimmer. Er denkt an das geheimnisvolle Leben, das diesen Leib beseelt, das ihn wärmt wie eine Sonne, als ein inneres Klima. Bernis denktnicht daran, daß sie zart oder schön ist, aber daß sie sich warm anfühlt. Warm wie ein Tier, lebendig. Und dieses Herz, das immerfort schlägt, des eine andere Quelle ist als die seine, eingesdulossen in einen anderen Leib.

Er muß an die Wollust denken, die ihn einige Augenblicke lang in ihren Bann geschlagen hat: an dieses tolle Tier, das seinen Bann ausübt und dann tot ist. Und jetzt …

Jetzt flimmert der Sternenhimmel durch die Fensterscheiben. O Weib, wenn die Stunde der Liebe vorüber ist, bist du zerstört und deiner Krone beraubt, die da ist das Begehren des Mannes nach dir. Zurückgeworfen bist du bis zu den kalten Sternen. Die Landschaft des Herzens wechselt zu schnell … Begierde, Zärtlichkeit, Feuersglut — dann wieder rein und kühl geworden, losgelöst vom eigenen Körper, gleichsam am Bug des Schiffes, das ins Meer zurückwill.

14

Das Zimmer, zur Abreise in Ordnung gebracht, ist öde wie ein Bahnsteig. Bernis durchlebt vor der Abfahrt des Schnellzuges einsame Stunden in Paris. Er lehnt die Stirn gegen das Fenster und schaut der Menge zu, die draußen hin und her läuft. Er fühlt sich durch dieses Aufundabfluten wie fortgerückt von den Menschen. Jeder Mensch hat da eine bestimmte Absicht und ist in Eile. Beziehungen knüpfen sich an, aber sie werden sich außerhalb seiner Person abwickeln und lösen. Da geht eine Frau, kaum zwanzig Schritte hat sie zu machen, und schon ist sie aus dem Bild und aus der Zeit geschwunden. Diese ganze Menge war doch der lebendige Stoff, aus dem das Weinen heraufstieg und das Lachen quoll, und jetzt ist sie nichts anderes mehr als ein Volk von toten Menschen.

Dritter Teil

1

Europa und Afrika rüsteten, fast zur gleichen Minute, für die Nacht. Hier wie dort waren die letzten Stürme dieses unruhigen Tages im Abflauen begriffen. In Granada beruhigte sich alles wieder, in Malaga war der Sturm in Landregen übergegangen. Aber in einzelnen Wetterwinkeln zerrten die Ausläufer des Orleans an den Baumkronen, als wären sie Haare zum Schütteln.

Toulouse, Barcelona, Alicante, die den Kurier schon abgefertigt hatten, räumten das Material ein, ließen die Maschinen einfahren und sperrten die Flugzeughallen ab. In Malaga, wo die nächste Landung erst untertags zu erwarten war, brauchte man keine Beleuchtung vorzubereiten. Überdies dachte Bernis nicht an eine Zwischenlandung. Er würde gegen Tanger weiterfliegen, allerdings in sehr geringer Höhe. Auch würde er wieder einmal die Meerenge, kaum zwanzig Meter hoch, überfliegen müssen, ohne die afrikanische Küste zu sehen, nur nach der Magnetnadel orientiert. Ein ausgiebiger Westwind wühlte das Meer auf, daß die stürzenden Wogen weiß aufschäumten. Was an Schiffen vor Anker lag, arbeitete, den Bug in Windrichtung, mit aller Kraft, wie auf hoher See. Ostwärts verursachte der englische Felsen eine Depression, in die der Regen wie aus Kannen schüttete. Im Westen waren die Wolken um ein ganzes Stockwerk höher gelagert. Am jenseitigen Ufer lag Tanger im Dunst, und der Regen wusch die Stadt. Am Horizont standen mächtige Haufenwolken.

Aber gegen Laradme war die Luft klar. Schon über Casablanca war freier Himmel. Festverankerte Segelboote markierten die Ufer, sie lagen da wie nach einer Schlacht. Nach dem Sturm, der alles aufgewühlt hatte, waren auf dem Meer nur mehr lange, regelmäßige Falten zu sehen, die in Fächerform auseinanderliefen. Die Felder waren vom tiefsten Grün, im Schein der untergehenden Sonne fast von der Farbe des Wassers. Da und dort kam von den regennassen Plätzen der Stadt wie ein Glanz herauf. Vor den Baracken des Kraftwerks standen die Mechaniker müßig und warteten. Ihre Kollegen in Agadir waren zum Essen in die Stadt gegangen, da sie noch vier Stunden frei waren. Die von Port-Etienne, von Saint-Louis und Dakar konnten ruhig schlafen.

Um acht Uhr abends gab Radio Malaga bekannt:

Kurier vorübergeflogen, ohne zu landen.

Und nun begann Casablanca probeweise zu beleuchten. Die Lichtreihe des Leuchtturms schnitt in roter Farbe ein schwarzes, dreieckiges Stück Nacht heraus. Stellenweise fehlte eine Lampe, es war wie eine Zahnlücke. Dann brachte ein zweiter Schalter die Landungsscheinwerfer in Tätigkeit. Sie gossen ihr Licht wie einen Milchstrahl ins Weite — es fehlte nur der Varietékünstler.

Ein Reflektor wurde gedreht. Das unsichtbare Strahlenbündel heftete sich auf einen regentriefenden Baum, daß er außglänzte wie ein Kristallüster; dann auf eine weiße Hütte, die nun plötzlich bedeutungsvoll ins Blickfeld rückte, mit wechselnden Schatten, und gleich darauf schon venschüttet war. Endlich senkte sich die Lichtgarbe wieder und nahm ihren Platz ein, um dem Flugzeug eine weiße Bahn zu schaffen.

»Gut«, sagte der Kommandant, »ausschalten!«

Er ging in seine Kanzlei hinauf, sah den letzten Einlauf durch und ließ dann zerstreut den Blick auf dem Telephonapparat haften. Bald würde Rabat anrufen. Alles war bereit. Die Mechaniker saßen herum, auf Ölfässern und Kisten.

In Agadir kannte man sich nicht recht aus. Nach den dortigen Berechnungen mußte der Kurier Casablanca schon verlassen haben, und nun wurde der Himmel abgesucht. Zehnmal wurde der Abendstern für das Bordlicht des Flugzeugs gehalten, dann kam der Polarstern dran, der just im Norden aufgegangen war. Man wartete, um die Scheinwerfer aufflammen zu lassen, nur darauf, bis man den überzähligen Stern entdeckt hätte, der unter den Konstellationen umherirrte und seinen Platz nicht finden konnte.

Der Postenkommandant war betroffen. Würde er seinerseits die Weiterfahrt anordnen können? Südwärts war Nebel zu befürchten, wohl bis zum Flußlauf des Nun, vielleicht gar bis nach Juby, und dieses Juby blieb hartnäckig stumm, trotz aller Radioanrufe. Man konnte die »France-Amérique« doch nicht in die Nacht hinausjagen, ins Ungewisse! Und der Posten in der Sahara schien sein Geheimnis für sich behalten zu wollen.

Wir aber saßen in Juby, von aller Welt abgeschnitten, und sandten Notsignale aus, wie ein Schiff:

Mitteilt Nachricht Kurier, mitteilt …

Aus Cisneros quälte man uns mit dunklen Fragen, aber wir gaben keine Antwort mehr. So riefen wir, von tausend zu tausend Kilometer, vergebliche Klagen in die Nacht hinaus.

Um 20 Uhr 50 hatte sich alles geklärt: Casablanca und Agadir konnten einander telephonisch verständigen, und auch unsere Radioverbindung klappte endlich. Casablanca sprach, und alles wurde bis nach Dakar weitergegeben.

Kurier abgeht 22 Uhr nach Agadir.

Von Agadir für Juby: Kurier eintrifft Agadir 0.30 stop. Ist Weiterflug zu euch möglich?

Von Juby für Agadir: Nebel. Tageslicht abwarten.

Von Juby für Cisneros, Port-Etienne, Dakar: Kurier nächtigt Agadir.

Der Pilot gab in Casablanca seine Unterschriften fürs Flugbuch. Das Lampenlicht machte ihn blinzeln. Vordem, auf der Fahrt, war immer nur so wenig in sein Blickfeld gefallen. Bernis war schon froh gewesen, wenn bisweilen der weiße Schaum der Wellen, die sich am Strande brechen, ihn geleitet hatte. Und jetzt, in der Kanzlei, was sah er nicht alles — Aktenregale, weißes Papier, handfeste Möbel. Das war doch eine massive Welt, die zeigte, was sie enthielt. Aber hinter der Türfüllung starrte die andere Welt, nächtlich und öde.

Sein Gesicht war gerötet vom Wind, der ihm zehn Stunden lang die Wangen gepeitscht hatte. Vom Haar rannen ihm Tropfen herab. Er war aus der Nacht gekommen wie ein Kanalräumer aus dem Tunnel mit den schweren Stiefeln, dem Lederrock, die Haare klebten auf seiner Stirn, und er mußte immerfort blinzeln. Er stockte im Schreiben: »Und — Sie haben die Absicht, mich weiterfliegen zu lassen?«

Der Postenchef ordnete die Blätter und brummte: »Sie werden tun, was man Ihnen sagen wird.«

Er wußte schon jetzt, daß er die Weiterfahrt nicht fordern würde, und der Pilot wußte, daß er seinerseits auf ihr bestehen würde. Aber jeder von ihnen wollte sich selber beweisen, daß er allein darüber zu befinden hätte.

»Sperren Sie mich in einen Wandschrank und verlangen Sie von mir, daß ich mit verbundenen Augen einen Gashebel bediene und so das ganze Möbel nach Agadir bringe: ungefähr das verlangen Sie von mir.«

Er war ein viel zu innerlicher Mensch, um auch nur einen Augenblick an einen Unfall zu denken, der ihm persönlich widerfahren könnte: an derlei denkt nur, wer leer im Herzen ist; aber das Bild vom Wandschrank belustigte ihn. Es gab ja unmögliches, aber er würde es doch fertigbringen.

Der Postenkommandant öffnete die Tür ein wenig, um seine Zigarette in die Nacht hinauszuwerfen.

»Na also, man sieht ja …«

»Was denn?«

»Man sieht Sterne.«

Der Pilot ereiferte sich: »Ich pfeife auf Ihre Sterne — ganze drei Sterne sind zu sehen. Sie schicken mich ja nicht auf den Mars, sondern nach Agadir.«

»Der Mond geht in einer Stunde auf.«

»Der Mond — der Mond …«

Dieser Mond reizte ihn noch mehr. Hatte er vorhin auf den Mond gewartet, um seine Nachtfahrt zu machen? War er noch ein Flugschüler?

»Also gut, einverstanden. Sie bleiben hier.«

Der Pilot war befriedigt, breitete die belegten Brote aus, die er, am Abend mitgenommen hatte, und begann friedlich zu kauen. In zwanzig Minuten würde er weiterfliegen. Der Kommandant lächelte und spielte mit dem Telephonhörer: er wußte schon, daß er binnen kurzem den Start zu melden haben würde.

Jetzt, da alles feststand, ergab sich plötzlich eine gewisse Leere. Es geschieht manchmal, daß die Zeit stillstehen will. Der Pilot saß unbeweglich auf seinem Stuhl, ein wenig vorgeneigt, die ölgeschwärzten Hände zwischen den Knien. Sein Auge haftete an einem Punkt, irgendwo, zwischen ihm und der Wand. Der Postenchef saß rittlings da, mit halboffenem Mund schien er auf ein geheimes Zeichen zu warten. Das Schreibfräulein gähnte, stützte das Kinn in die Hand und fühlte ein gewaltiges Schlafbedürfnis. Es war ein Augenblick lautlosen Ablaufens der Sanduhr. Ein Schrei, der aus der Ferne an ihr Ohr drang, gab das Stichwort, das den ganzen Mechanismus wieder zum Gehen brachte. Der Postenchef hob den Finger, der Pilot lächelte, richtete sich auf und tat einen Atemzug, als schöpfe er frische Luft.

»Ah! Adieu!«

So reißt manchmal ein Film ab. Der plötzliche Stillstand packt uns, mit jeder Sekunde wird die Unbeweglichkeit lastender, wie eine Ohnmacht — dann geht das Leben von neuem weiter.

Anfangs hatte Bernis nicht den Eindruck, aufzusteigen, sondern glaubte sich eingeschlossen in eine feuchte kalte Grotte, die unter dem Donner des Motors zitterte wie unter dem Anprall von Meereswogen. Dann schien ihm, daß ihn wenig oder gar nichts umgab. Bei Tag baut sich aus dem runden Rücken eines Hügels, aus der Strandlinie einer Bucht und dem blauen Himmel darüber eine Welt auf, die uns umfaßt; jetzt aber befand er sich außerhalb von allem, wie in einer Welt, die erst in Bildung begriffen war, deren Grundstoffe noch formlos durcheinanderiagen. Die Ebene zog sich weit hin, bald schwanden die letzten Städte, Mazagem, Safi, Mogador, die ihre Lichter wie aus Schaufenstern zu ihm heraufsandten. Dann noch die letzten beleuchteten Meierhöfe, gleichsam die letzten Bordlichter der Erde. Plötzlich war er wie erblindet.

»Schön! Jetzt kommt’s ganz dick.«

Die Augen bald auf den Neigungs-, bald auf den Höhenmesser heftend, ließ er sich hinab, um aus der Wolke herauszukommen. Der schwache Schein einer roten elektrischen Birne blendete ihn. Er drehte sie ab.

»Schön! Jetzt bin ich wieder draußen, aber ich sehe gar nichts.«

Die ersten Höhen des Kleinen Atlas fliegen vorüber, unsichtbar, still, zwischen zwei Wasserflächen, als wären sie schwimmende Eisberge. Er konnte sie über seine Schulter weg erraten.

»Schön! Es geht wieder einmal recht schlecht.«

Er wandte sich um. Ein Mechaniker, der einzige Passagier, saß da, auf den Knien eine Taschenlampe, und las ein Buch. Nur sein geneigter Kopf leuchtete aus der Karosserie empor und warf seltsame Schatten. Dieser Kopf schien ihm fremdartig, von innen her beleuchtet, als wäre er eine Laterne. Er rief: »Hallo!« Aber seine Stimme wurde übertönt. So trommelte er mit der Faust auf einen Blechbeschlag, aber der Mann las ruhig weiter, und sein Kopf tauchte nach wie vor selbstleuchtend aus dem Dunkel auf. Wenn er ein Blatt umwandte, war sein Gesicht sekundenlang verzerrt. »Hallo!« rief Bernis noch einmal, vergeblich: nur zwei Armlängen von ihm entfernt, war dieser Mann dennoch unerreichbar, Bernis verzichtete endlich und wandte sich wieder nach vorn.

»Ich muß jetzt nah bei Cap Gir sein, aber hängen soll man mich, wenn … es geht heute wirklich sehr schlecht.«

Und nun überlegte er: »Ich bin wohl zu weit aufs Meer abgekommen.« So stellte er mittels der Bussole den Flug wieder richtig. Es war sonderbar, wie er sich immerwährend nach rechts, gegen das Meer, hingedrängt fühlte, als ritte er eine scheue Stute und als übten wirklich von links her die Berge einen Druck aus.

»Es muß regnen.« Er streckte die Hand hinaus und spürte das peitschende Naß.

»Ich werde in zwanzig Minuten wieder landeinwärts fliegen, dann wird es eben vor mir sein — weniger Risiko.«

Aber nein, mit einem Schlag, welche Helligkeit! Der Himmel, von Wolken reingefegt, alle Sterne frisch gewaschen, wie neu. Der Mond — der Mond, die beste aller Lampen! Unten leuchtete der Flugplatz von Agadir in dreimaliger Schaltung auf wie eine Leuchtreklame.

»Laßt euch heimgeigen mit euren Lichtern — ich habe den Mond!«

2

In Cap Juby brach der Tag an, aber das Bild, das sich bot, schien mir öde: eine Theatendekoration ohne Schatten, ohne Hintergrund. Die Düne lag da wie immer,. hier das spanische Fort, dort die Wüste. Was da fehlte, war jene leichte Bewegtheit, die, selbst beim ruhigsten Wetter, die Prärie und das Meer so reich macht. Nomaden, die mit ihren langsamen Karawanen einherzogen, konnten am Kern des Wüstensandes den Wechsel erkennen und am Abend in einer neuen Gegend ihr Zelt aufschlagen. Auch ich hätte die Unendlichkeit der Wüste empfunden, wenn ich mich nur ein wenig hätte entfernen können, aber diese unveränderliche Landschaft hemmte alles Denken wie ein Farbendruck.

Dem einen Brunnen entsprach, dreihundert Kilometer weiter, ein anderer Brunnen. Derselbe Brunnen, anscheinend auch derselbe Sand und dieselbe Bodenbeschaffenheit. Aber es war doch hier das Zusammenspiel der Dinge ein anderes. Eine Erneuerung, so wie der ewig gleiche Schaum der Meereswellen von Sekunde zu Sekunde sich erneut. Am zweiten Brunnen hätte ich mein Einsamsein wahrgenommen, am nächsten wäre mir die Wildnis eine wirklich geheimnisvolle Welt gewesen.

Der Tag verlief leer, von keinem Ereignis belebt, nichts als der astronomische Gang der Gestirne und, während einiger Stunden, nichts als der Leib der Erde, im Sonnenlicht gebadet. Hier verloren die Worte allmählich den Nimbus, den ihnen unser Menschentum verliehen hat. Sie enthielten nichts anderes mehr als Sand. Selbst die sinnbeschwertesten Worte, wie »Zärtlichkeit«, »Liebe«, fielen ohne Gewicht in unsere Seelen.

Um fünf Uhr von Agadir weggeflogen — du müßtest schon hier gelandet sein.

»Er ist um fünf Uhr von Agadir weggeflogen, also müßte er schon hier sein.«

»Ja, mein Lieber, gewiß … aber wir haben Südwestwind.«

Der Himmel ist gelb. In einigen Stunden wird dieser Wind eine Wüste umstürzen, die monatelang vom Nordwind geformt worden ist. Tage voller Unordnung: von rückwärts erfaßt, lassen die Dünen den Sand in langen Fahnen fortwehen, jede Düne rollt sich auf, um sich ein wenig weiter umzuformen.

Man horcht. Nein, es ist das Meer.

… Ein Kurier in Fahrt, das ist nichts. Zwischen Agadir und Cap Juby, in dieser unerforschten Wildnis, ist er ein Kamerad im Niemandsland. Aber bald schon wird an unserem Himmel ein umbeweglicher Punkt auftauchen.

Um fünf Uhr von Agadir weggeflogen …

Soll man an ein Unglück denken? Ein Kurier, der steckengeblieben ist, das ist zunächst nichts als eine Wartezeit, die sich in die Länge zieht, ist nur ein Gespräch, das ein wenig erregt wird und dann abflaut. Aber nun wird die Zeit gar zu breit, und die kleinen Bewegungen, die abgerissenen Sätze wollen sie nicht recht ausfüllen …

Jählings aber fällt ein Faustschlag auf den Tisch, und der Ausruf: »Mein Gott, zehn Uhr!« strafft jeden von uns: ein Kamerad im Bereich der Mauren!

Der Funker spricht mit Las Palmas. Der Dieselmotor schnauft vernehmlich, und der Alkmotor brummt wie eine Turbine. Der Mann hat den Blick auf das Amperemeter gerichtet, das jede Veränderung anzeigt.

Ich stehe daneben und warte. Der Mann streckt die Linke über Kreuz nach mir aus und hantiert mit der Rechten weiter. Er schreit mir zu: »Was?« Ich hatte nichts gesagt. Kaum zwanzig Sekunden, und er schreit wieder, ich rufe: »Ah ja?« Rings um mich leuchtet es hell: durch die halboffenen Fensterläden fällt ein Sonnenstrahl, und die Pleuel des Dieselmotors geben feuchte Blitze von sich, die sich mit dem Sonnenlicht vermengen.

Endlich wendet sich der Funker jäh zu mir und nimmt die Haube ab. Der Motor spuckt, dann wird es still. Ich höre nur mehr die letzten Worte, die der Mann mit zubrüllt, als stünde ich hundert Meter weit: »… ist ihnen ganz egal!«

»Wem?«

»Denen dort.«

»So! Können Sie Agadir haben?«

»Es ist nicht die richtige Zeit.«

»Versuchen Sie es doch.«

Ich kritzle auf einen Notizblock: Kurier nicht eingetroffen. Ist der Start mißlungen? Stop, noch einmal Abfahrtuszeit geben.

»Sagen Sie ihnen das!«

»Gut, ich rufe an.«

Und das Getümmel ist wieder da.

»Nun?«

»…duld!«

Ich bin zerstreut und träume; er meinte: »Geduld!« — Wer mag wohl den Kurier steuern? Bist du es, Jacques Bernis, der so aus dem Raum, aus der Zeit fällt?

Der Funker bittet um Stille … und setzt seine Haube auf. Er klopft mit dem Bleistift auf den Tisch, sieht nach der Uhr und gähnt. Dann fragt er: »Flugzeug in Not? Und weshalb?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Ja, freilich … Jetzt … nein, Agadir hat nicht gehört.«

»Versuchen Sie wieder.«

»Ja.«

Und der Motor brummt von neuem.

___________

Agadir schweigt noch immer. Wir horchen jetzt mir auf diese Stimme. Wenn von dort mit einer anderen Station gesprochen wird, werden wir uns in diese Unterhaltung einschalten.

Ich setze mich wieder. Zufällig greife ich nach einem Hörer, und schon bin ich mitten im Taubenschlag, mitten in all den vielen Vogelstimmen.

Lange, kurze Töne, Triller, zu rasch vibrierend — ich kenne mich in dem Gemengsel nicht aus: wie viele Stimmen gibt es doch in diesem Himmel, den ich so still und leer glaubte!

Drei Stationen sprechen … eine verstummt, eine andere tritt auf den Plan.

»Das? Das ist Bordeaux …«

Eine Koloratur, scharf, eilig, aber weit entfernt, dann eine tiefere, ruhigere Stimme:

»Was ist das?«

»Das ist Dakar.«

Ein trauriges Stimmchen. Es verstummt, ertönt wieder, schweigt und beginnt von neuem.

»Barcelona ruft London an, aber London antwortet nicht.«

Assisi ist zu hören, irgendwo, ganz weit, und erzählt leise irgendwas.

Welches Stelldichein mitten in der Sahara! Ganz Europa hat sich versammelt, seine Hauptstädte tauschen mit ihren Vogelstimmen Vertraulichkeiten aus.

Jetzt rollt es nahe und vernehmlich. Schon bringt der Trennschärfer die anderen Stimmen zum Schweigen.

»War das Agadir?«

»Agadir.«

___________

Der Funker, den Blick immer noch, Gott weiß warum, auf die Uhr gerichtet, ruft wiederholt an.

»Hören Sie es?«

»Nein, aber Agadir spricht mit Casablanca, da wird man etwas erfahren.«

In aller Stille fangen wir die Geheimnisse der Engel ab. Der Bleistift zögert, senkt sich rasch aufs Papier, wirft einen Buchstaben bin, dann zwei, dann zehn, ganz schnell. Worte bilden sich, sie brechen auf wie Blüten.

»Avis für Casablanca …«

Herrgott! Teneriffa überschreit Agadir! Eine gewaltige Stimme füllt dröhnend die Hörer. Aber jetzt ist sie wieder still.

… landet sechs Uhr dreißig. Wieder abgeflogen um … Und wieder überrumpelt uns Teneriffa, dieser Eindringling.

Aber ich weiß genug. Um sechs Uhr dreißig ist der Kurier nach Agadir zurückgekehrt — Nebel? Oder ein Motordefekt? — Und ist offenbar erst um sieben Uhr weitergeflogen … Also nicht überfällig.

»Danke.«

3

Jacques Bernis, diesmal will ich vor deiner Ankunft ein wenig entschleiern, wer du bist. Du, den seit gestern die Radios genau verfolgen, der hier die vorschriftsmäßigen zwanzig Minuten verbringen wird, für den ich eine Konservenbüchse aufmachen und eine Flasche Wein entkorken werde, der mit uns weder von der Liebe reden wird noch vom Tode, von keinem der wirklichen Probleme, aber von der Windrichtung, von der Bewölkung des Himmels und von seinem Motor. Der, der über das Witzwort eines Mechanikers lachen, über die Hitze klagen wird und nichts anderes ist als irgendeiner von uns.

Ich werde sagen, welche Reise du eigentlich zu tun im Begriff bist. Wie du hinter alles Scheinbare schaust und weshalb die Schritte, die du neben uns gehst, doch nicht die unseren sind. Aus gleicher Jugend sind wir beide groß geworden. Und plötzlich ist mir, als sähe ich vor mir die gewisse alte Mauer, verfallen und dicht mit Efeu bewachsen. Wir waren kecke Kinder: »Warum hast du Angst? Mach doch die Tür auf …«

Eine alte Mauer, verfallen und von Efeu überwuchert. Ausgedörrt, wie verbrannt von der Sonne, sie steht in der hellsten Wirklichkeit. Zwischen den Blättern raschelten Eidechsen, wir aber nannten sie Schlangen, weil wir schon damals, wenngleich nur im Abbild, jene Flucht liebten, die man den Tod tauft. Hier war jeder Stein heiß, von der Sonne angebrütet wie ein Ei, rund war auch rund, wie Eier sind. Jedes Krümchen Erde, jedes dünne Ästchen war sonnbeschienen und hatte kein Geheimnis mehr. Auf dieser Seite der Mauer herrschte in allem Reichtum, in aller Fülle der ländliche Sommer. Wir sahen von hier einen Glockenturm und hörten eine Dreschmaschine arbeiten. Wohin die Blicke gingen, war blauer Himmel: die Bauern mähten das Korn, der Pfarrer schwefelte die Weinstöcke, zu Hause, im Wohnzimmer, spielten die Eltern Bridge. Wir pflegten alle, die schon seit sechzig Jahren diesen Erdenwinkel bewohnten, die von der Geburt bis zum Tode diese glutende Sonne, die Kornfelder, das Haus als ihr eigen betrachteten, wir pflegten diese Generation das »Wachbataillon« zu nennen. Aber wir sahen uns selbst immer auf der kleinsten, gefährdetsten der Inseln, zwischen zwei gewaltigen Ozeanen, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.

»Dreh doch den Schlüssel …« Es war den Kindern untersagt, die kleine Tür zu öffnen, die grün war, von der verschmierten Farbe eines alten grünen Kahns, es war verboten, ihr mächtiges Schloß zu berühren, das von der Zeit angerostet war wie ein alter Schiffsanker.

Offenbar war man unsertwegen auf der Hut wegen der offenen Zisterne und in Angst, daß ein Kind im Teich ertrinken könnte. Denn hinter jener Tür war eine stille Wasserfläche, die, wie wir vermeinten, seit tausend Jahren reglos lag und an die wir immer dachten, wenn von totem Wasser die Rede war. Winzige runde Blättchen deckten sie mit grünem Gespinst, und wir warfen Steine hinein, die ein Loch in die grüne Fläche rissen.

Es war so kühl unter dem dichten Geäst der alten Bäume, die das Vollgewicht der Sonne trugen. Nie hatte ein Sonnenstrahl den zarten Rasen des Uferdammes vergilbt, nie jenes grüne Wassergespinst berührt. Der Kieselstein, den wir hineingeworfen, begann nun seinen Lauf, wie ein Gestirn — denn für uns war dieses Gewässer von unergründlicher Tiefe.

»Setzen wir uns…« Kein Lärm drang bis zu uns. Wir genossen die Kühle, den Duft, die Feuchtigkeit, die unsere Körper wie mit neuem Leben erfüllte. Fortgetragen waren wir bis an die letzten Grenzen der Erde, und wir wußten ja, daß Reisen vor allem die Erfüllung mit neuem Leben bedeutet.

»Hier sieht man alles von der falschen Seite …«

Die falsche Seite dieser Sommerzeit war ihrer selbst so sicher, so sicher der Landschaft und all der Gesichter ringsum, die uns in Gefangenschaft hielten. Wir haßten diese uns aufgezwungene Welt. Wenn es Zeit zum Abendessen wurde, gingen wir nach Hause, von Geheimnis beschwert, wie die indischen Taucher, die an Perlen rühren durften. Und im Augenblick, da die Sonne vensinken will und der tiefe Himmel sich rosenrot färbt, hörten wir Worte, die uns weh tun mußten:

»Die Tage werden länger …«

Da fühlten wir uns wieder eingefangen in den engen Kehrreim, eingeschlossen in das Leben, das nach Jahreszeiten berechnet wird, das Ferien bringt und Hochzeiten und Todesfälle: all das müßige Treiben der Oberfläche.

Fliehen — das war das Richtige. Mit zehn Jahren fanden wir unsere Zuflucht im Gebälk des Dachbodens. Tote Vögel, alte Koffer mit geborstenen Wänden, sonderbare Kleidungsstücke: sozusagen Kulissen des Lebens. Und dann der Schatz, den wir da versteckt wähnten, der Schatz der alten Häuser, ganz wie er im Zaubermärchen vorkommt: Saphire, Opale, Diamanten. Der Schatz, von dem ein stilles Leuchten ausgeht und der jeder Mauer, jedem Balken erst den wahren Sinn gibt. Diese mächtigen Balken, die das Haus gegen Gott weiß was verteidigten. Ja, freilich, gegen die Zeit. Denn das war für uns der große Feind. Man wehrte sich gegen ihn durch die Traditionen, durch den Kult der Vergangenheit, durch die mächtigen Balken. Aber nur wir allein wußten, daß dieses Haus wie ein Schiff ins Weite ausgesandt war. Wir allein stiegen hinab bis in den Kiel und in die tiefsten Kojen, nur wir wußten, wo das Wasser eindrang. Wir kannten die Fugen im Dach, wo die Vögel einschlüpften, um zu sterben, und wußten, wo es Risse im Gebälk gab. Unten, in den Zimmern, saßen die Gäste und tanzten schöne Frauen. Welche trügerische Sicherheit! Gewiß wurden da Schnäpse angeboten, schwarz livrierte Diener gingen umher und hatten weiße Handschuhe an. Ja, die Passagiere! Wir aber, hoch oben, wir sahen die blaue Nacht durch den Spalt im Dach hereinfluten. Ein winziger Spalt: nur eben ein einziger Stern blinkte zu uns nieder, ein einziger vom ganzen Firmament, der sich für uns verklärte. Und das war der Stern, der die Menschen krank macht. Da wandten wir uns ab: es war der Stern, der den Tod bringt.

Jäh schraken wir auf: es arbeitete dumpf in den Dingen um uns, die den zersplitternden Balken einer Schatzkammer ähnelten. Bei jedem Krach untersuchten wir das Holz. Alles war ja wie reife Ähren, bereit, das Korn herzugeben, oder wie von alter Rinde umkleidet, unter der ganz gewiß etwas anderes steckte. Und wäre es nur jener Stern, als kleiner, harter Diamant. Eines Tages werden wir ihn suchen gehen, im Norden oder im Süden, oder vielleicht in uns selbst. Fliehen!

Der Stern, der den Schlaf bringt, verschwand, der Dachschiefer deckte dieses Wahrzeichen aller Helligkeit. So stiegen wir denn hinab in unser Zimmer und nahmen auf die große Reise, die man Halbschlaf nennt, unser Wissen um eine Welt mit, wo der geheimnisvolle Stern ohne Ende ins Wasser fällt, wie im Himmelsraum die Lichtfäden herabzucken, die tausend Jahre brauchen, um bis zu uns zu gelangen; wo das Haus, das im Wind ächzt, bedroht ist wie ein Schiff; wo die Dinge, eins ums andere, sich auftun müssen, bedrängt von der dunklen Gewalt des Schatzes.

___________

»Setz dich her! Ich habe gemeint, du seist in Flugnot. Trink doch! In Flugnot, und ich war drauf und dran, dich zu suchen. Du siehst, das Flugzeug ist schon startbereit. Die Ait-Tusse haben die Izargin angegriffen, und ich glaubte, du wärst in dieses Getümmel gefallen. Ich war besorgt. Trink! Was willst du essen?«

»Laß mich weiterfahren.«

»Du hast noch fünf Minuten Zeit. Schau mir ins Gesicht! Was ist mit Genoveva los? Warum lächelst du?«

»Nein, nichts. Vorhin, im Flugzeug, ist mir ein altes Lied eingefallen, und ich habe mich auf einmal so jung gefühlt.«

»Und Genoveva?«

»Ich weiß nicht — laß mich weiterfahren.«

»Jacques, gib mir Antwort: hast du sie wiedergesehen?«

»Ja …« Er hielt inne. »Auf der Fahrt nach Toulouse habe ich den Umweg gemacht, um sie noch einmal zu sehen…«

Und nun erzählte mir Jacques Bernis sein Abenteuer.

4

Es war nicht ein kleiner Provinzbahnhof, nein, es war eine heimliche Tür, die scheinbar nur aufs freie Feld führte. An einem gemütlichen Mann vorbei, der die Karten kontrolierte, kam man auf die weiße Landstraße, die nichts Geheimnisvolles hatte. Daneben ein kleiner Bach und Heckenrasen. Der Stationsvorsteher pflegte seine Blumenstöcke, der Bahnanbeiter schob einen leeren Karren ein wenig umher. Unter diesen Verkleidungen wirkten drei Hüter einer geheimen Welt.

Der Kontrollmann tippte auf die Fahrkarte: »Sie fahren von Paris nach Toulouse. Warum steigen Sie hier aus?«

»Ich will mit dem nächsten Zug weiterfahren.«

Der Mann betrachtete ihn kurz. Vielleicht zögerte er, ihm dies alles auszuliefern, nicht die Landstraße, mit dem Bach und den Heckenrosen, aber jenes Königreich, das seit Merlins Zeiten uns hinter dem Anschein aller Dinge lockt. Offenbar erkannte er an Bernis die drei Tugenden des Orpheus, die zu solcher Reise berechtigen: den Mut, die Jugend, die Liebe …

»Bitte«, sagte er.

Die Schnellzüge rasten an diesem Bahnhof vorüber, der nur als Attrappe dastand, wie jene kleinen Zauberbars, mit ihren falschen Kellnern, falschen Musikern und dem falschen Barmann. Schon im Personenzug hatte Bernis das Gefühl gehabt, daß sein Leben sich verlangsamte und einen anderen Sinn bekam. Jetzt, da er im Wägelchen saß, neben dem Bauern, der es lenkte, entfernte er sich noch mehr von uns. Er drang ins Geheimnis ein. Der Mann neben ihm, dessen Gesicht schon mit dreißig Jahren so viele Runzeln trug, daß das Alter ihm nichts mehr anhaben würde, wies auf ein Feld: »Das wächst schnell.«

O dieses Eilende, das uns unsichtbar bleibt, dieser Drang des Getreides auf die Sonne zu!

Und noch zum vieles weiter ließ Bernis uns, die Unruhvollen, die Armseligen, zurück, als der Bauer auf eine Mauer zeigte: »Das war der Großvater meines Großvatens, der sie gebaut hat.«

Bernis rührte schon an eine ewige Mauer, hinter der ein ewiger Baum stand, und er erriet, daß er angekommen war.

»Da ist das Grundstück. Soll ich auf Sie warten?«

Märchenreich, das unter dem tiefen Wasser schlummert: hier wird Bernis hundert Jahre sein und doch kaum eine Stunde älter werden.

Am gleichen Abend nach wird ihm das Wägelchen, der Personenzug, endlich der Expreß wieder zur Flucht verhelfen, die uns in die Welt zurückführen muß, seit den Tagen, da Orpheus’ Leier erklang und die ersten Märchen erzählt wurden. Er wird wieder ein Reisender sein wie die anderen auch, auf der Fahrt nach Toulouse begriffen, die blasse Wange an die Fensterscheibe gelehnt. Aber er wird in der Tiefe seines Herzens eine Erinnerung hüten, die nicht in Worte zu fassen ist, — wer weiß die Farbe des Mondes, wer die Tönung der Zeit …

___________

Sonderbarer Besuch: keine Stimme erhob sich, keine Überraschung gab sich kund. Nur ein dumpfes Rollen von der Landstraße her. Bernis sprang über die Hecke, wie er einst getan. Aus den Kieswegen wuchs Gras — ja, das war der einzige Unterschied. Das Haus schimmerte weiß zwischen den Bäumen, aber wie im Traum gesehen und wie in unerreichbarer Ferne. Sollte es nur eine Spiegelung sein, im Augenblick, da das Ziel so nahe ist? Er stieg die breiten Steinstufen der Freitreppe hinan. Sie war ein Bau, zu realem Bedarf errichtet, aber von leichter, sicherer Linienführung. Hier ist gar nichts vorgeschwindelt. Die Halle war dunkel, ein weißer Hut lag auf einem Stuhl — war es der ihre? Eine angenehme Unordnung nach einem Aufbruch, aber jene vernünftige Unordnung, die Anwesenheit verrät und noch Bewegung erkennen läßt. Ein Stuhl, nur ganz wenig verschoben: man war aufgestanden und hatte sich dabei auf den Tisch gestützt — die Gebärde war zu sehen. Ein geöffnetes Buch — wer hatte es wohl beim Fortgehen liegenlassen? Und weshalb? Vielleicht klang noch der letzte Satz in der Seele eines Menschen nach.

Bernis mußte lächeln, er dachte an die tausend kleinen Arbeiten und Mühseligkeiten, die ein Haushalt mit sich bringt. Den ganzen Tag schritt man ab und auf und sorgte stets für die gleichen Bedürfnisse, steuerte immer wieder derselben Unordnung. Da war alles Dramatische gar so unwichtig: man brauchte nur als Reisender, als Fremder herzukommen, um darüber lächeln zu müssen …

Freilich, dachte er, der Abend kam hier immer heran, wie anderwärts ein ganzes Jahr herumgeht, es war ein richtiger Kreislauf. Der nächste Morgen, das hieß, das Leben neu beginnen. Und nun bewegte man sich dem Abend zu. Dann aber hatte man auch für gar nichts mehr zu sorgen: die Fensterläden waren geschlossen, die Bücher in ihre Reihe zurückgestellt und die Kamingitter gesichert. Der Friede, den dies alles brachte, war wie etwas Ewiges, er schmeckte sozusagen danach. Meine Nächte aber, die sind weniger noch als kurze Atempausen …

Bernis setzte sich nieder, jedes Geräusch vermeidend. Er wagte es nicht, sich bemerkbar zu machen; alles schien so still, so in Ordnung zu sein. Ein Fenstervorhang, der sorgsam herabgelassen war, ließ einen Sonnenstrahl herein: Ein kleiner Riß, dachte Bernis, hier altert man, ohne es zu wissen …

Was werde ich nur erfahren? Ein Schritt im Nebenzimmer brachte Leben in das Haus. Ein leiser Schritt, wie von einer Nonne, die Blumen auf den Altar stellt.

Welche kleinwinzige Verrichtung mag das sein?

Mein Leben ist geladen wie ein Drama. Hier ist so viel Raum, so viel Luft zwischen allem, was man tut, was man denkt …Er beugte sich zum Fenster hinaus, um die Landschaft zu sehen. Sie lag in voller Sonne, mit ihnen meilenlangen weißen Straßen, auf denen man zur Kirche ging, oder zur Jagd, oder um einen Brief aufzugeben. In der Ferne war eine Dreschmaschine in Gang, aber man mußte sich Mühe geben, um sie zu hören: wenn ein Schauspieler eine zu schwache Stimme hat, liegt es wie ein Druck auf dem ganzen Saal.

Wieder war der Schritt vernehmbar: »Man macht Ordnung, die kleinen Gegenstände im Glaskasten haben allmählich überhand genommen. Jedes Jahrhundert, das vergeht, hinterläßt all dieses Kleinzeuug …«

Man unterschied Stimmen, Bernis lauschte:

»Glaubst du,. daß sie diese Woche noch überlebt? Der Arzt …«

Die Schritte entfernten sich. Bernis schwieg beklommen. Wer mochte da am Tode sein? Er rief sich alle Zeugnisse des Lebens ins Gedächtnis, den weißen Hut, das aufgeschlagene Buch …

Wieder Stimmen. Sie sprachen liebevoll und so ruhig. Man war sich bewußt, daß der Tod im Hause eingekehrt war, und nahm ihn wie einen guten Bekannten auf, ohne sich abzuwenden. Da war nichts Phantastisches zu spüren. Wie einfach das alles ist, dachte Bernis, man lebt, man ordnet die Kleinigkeiten im Glaskasten, man stirbt …

»Hast du die Blumen fürs Zimmer gepflückt?«

»Ja.«

Es wurde leise gesprochen, mit gedämpfter Stimme, aber in aller Ruhe. Von tausend kleinen Dingen, nur daß der nahe Tod alles in Grau färbte. Ein Lachen wurde hörbar, aber es erstarb wieder. Ein Lachen ohne tiefe Wurzel, aber auch nicht von würdevoller Pathetik unterdrückt.

»Geh nicht hinauf«, sagte eine Stimme, »sie schläft.«

Bernis kam sich vor wie im Mittelpunkt des Leidens, wie in heimlicher Vertraulichkeit. Er mußte befürchten, entdeckt zu werden. Ein Fremder, vor dem man alles aussprechen muß, läßt den Schmerz weniger ergebungsvoll erscheinen. Man ruft ihm vielleicht zu: »Sie haben sie ja gekannt, haben sie geliebt …« So wird die Sterbende in ihrer ganzen Lieblichkeit gezeigt — das ist nicht zu ertragen.

Aber er hatte doch Grund zu solcher Vertraulichkeit: »… ich habe sie ja geliebt.«

Er mußte sie wiedersehen, stieg leise die Treppe empor und öffnete die Tür. Im Zimmer war heller Sommer. Die Wände waren licht, das Bett weiß. Durch das offene Fenster flog der Sonnentag herein. Von einem weit entfernten Kirchturm klang der Glockenschlag, geruhig und still, wie ein Herz schlägt, ein Herz ohne Fieber, wie man es haben soll. Sie schlief. Kostbarer Schlummer in der tiefen Sommermitte!

»Sie wird sterben…« Bernis schritt leise weiter auf dem gebohnerten Parkett, das die Sonne widerspiegelte. Er wunderte sich über die Ruhe, die in ihm war. Aber nun seufzte sie auf, da wagte er nicht mehr näher zu kommen, denn er fühlte eine machtvolle Gegenwart: wo ein Kranker liegt, füllt seine Seele weithin den Raum, und das ganze Zimmer ist wie eine einzige Wunde. Da wagt man es nicht, an ein Möbelstück anzustoßen, wagt es nicht, einen Schritt zu tun.

Kein Lärm. Nur die Fliegen summten. Ein Rufen in der Ferne, wie eine bange Frage. Von draußen wehte ein frischer Windhauch leise ins Zimmer. Es wird bald Abend, dachte Bernis; da werden die Fensterläden geschlossen werden, die Lampe wird brennen; bald wird die Nacht auf der Kranken lasten wie ein Stück Weg, das gegangen werden muß. Die abgeblendete Lampe zieht den Blick magisch an, und die Gegenstände ringsum, die immer denselben Schatten werfen und die man zwölf Stunden lang unter dem gleichen Winkel anschauen muß, prägen sich endlich dem Gehirn genau ein und bekommen ein zentnerschweres Gewicht.

»Wer ist da?« fragte sie.

Bernis trat heran. Er wollte ein zärtliches Wort, ein Wort der Teilnahme sagen, sich zu ihr niederbeugen, ihr helfen, sie in die Arme schließen, ihr Halt, ihre Kraft sein.

Er nannte sich: »Jacques.« Sie sah ihn starr an. »Jacques«, wiederholte sie, und es war, als müsse sie ihn mühsam aus der Tiefe ihres Gedächtnisses heraufholen. Sie wollte sich nicht an seine Schulter lehnen, nein, sie suchte in ihrer Erinnerung nach ihm. Sie hielt seinen Rockärmel fest, wie ein Schiffbrüchiger, der sich emporziehen möchte, aber nicht um etwas festzuhalten, was da ist und Hilfe bringt, sondern wie um ein Bild heraufzubeschwören …Und sie schaute nur immerzu …

Allmählich aber schien er ihr fremd zu werden. Sie erkennt diese Züge, diesen Blick nicht. Sie drückt seine Finger in ihrer Hand, wie um ihn erst herbeizurufen. Er kann ihr keine Hilfe bringen, er ist ja nicht der Freund, dessen Bild sie im Herzen trägt. Schon ist sie müde von seiner Gegenwart, sie drängt ihn von sich und wendet den Kopf ab.

Bernis ist weit, unendlich weit von ihr …

Er entfernte sich ganz leise und durchschritt wieder die Halle, als einer, der von einer langen, langen Reise wiederkehrt, von einer seltsamen Reise, an die er sich nicht mehr erinnert. Fühlte er nun Schmerz? War er traurig? Er blieb stehen. Der Abend flog still herein, wie Wasser in einen lecken Schiffsraum sickert, die Gegenstände ringsum schwanden im Dämmerlicht. Die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt, sah er die Schatten der Linden länger werden und sich eneinanderschließen, bis der Rasen ganz dunkel war. In der Ferne wurden die Lichter eines Dorfes sichtbar, kaum eine Handvoll Lichter. Sie schienen ganz nah, und er hätte den Hügel gegenüber mit dem Finger berühren können. Im Haus waren keine Stimmen mehr laut, es war wohl alles schon in Ordnung gebracht worden. Bernis rührte sich nicht. Er mußte an ähnliche Abende denken: Da stand man auf und fühlte sich schwer wie ein Taucher. Und die Frau, mit der man war, bekam plötzlich etwas Verschlossenes in ihr junges Gesicht, und jäh war die Angst: vor der Zukunft da, die Angst vor dem Tode.

Bernis verließ das Haus. Er mußte sich umwenden und hatte den brennenden Wunsch, gesehen und zurückgerufen zu werden. Das Herz wäre ihm übergegangen vor Leid und Glück. Aber nein, nichts war, was ihn zurückhalten wollte. Nichts hemmte seinen Schritt, als er unter den Bäumen davonging. Nun sprang er über die Hecke. Da war die Straße, und die Straße war hart. Es war aus, es gab für ihn kein Wiederkommen mehr.

5

Bevor Bernis weiterflog, erklärte er mir das ganze Abenteuer:

»Weißt du, ich habe versucht, Genoveva in meine Welt hineinzuziehen. Aber alles, was ich ihr zeigte, wurde so matt, so grau. Die erste Nacht war von einer Undurchdringlichkeit ohnegleichen, der wir nicht gewachsen waren. Ich habe ihr ihr Haus, ihr Leben, ihre Seele zurückgeben müssen. Eines nach dem anderen, wie die Pappeln auf der Straße, und je näher wir gegen Paris kamen, desto mehr verlor sich dieses Undurchdringliche zwischen der Welt und uns. Fast als ob ich sie hätte unter die Oberfläche des Meeres hinablocken wollen. Und wenn ich späterhin wieder versuchte, mich enger an sie zu schließen, konnte ich ihr wohl näherkommen und sie berühren: es war ja nichts Räumliches, das uns trennte. Aber es lag viel mehr zwischen uns, ich kann es nicht recht ausdrücken — tausend Jahre schieden uns voneinander. Man ist ja so weit entfernt vem Leben des anderen. Sie blieb festgeklammert an ihr weißes Leinen, an ihren Sommer, an all ihr Klares, und ich habe sie nicht mit mir fortnehmen können. — Laß mich weiterfahren!«

Wohin gehst du jetzt, wo wirst du noch den Schatz suchen, du indischer Taucher, der wohl die Perlen anfaßt, der sie aber nicht heraufzuholen versteht! Diese Wüste, in der ich gehe und stehe, ich, der ich auf diesem Boden festgehalten bin, schwer wie ein Stück Blei — ich wüßte hier nichts zu entdecken. Aber für dich, du Magier, ist diese Wüste nur ein Schleier aus Sand, nur der Schein einer Wüste …

»Jacques, es ist Zeit!«

6

Jetzt sitzt er wie erstarrt und träumt. Aus solcher Nähe scheint der Boden sich nicht zu verändern. Die Sahara läuft mit ihrem gelben Sand das blaue Meer entlang, wie ein unendlicher Gehsteig. Bernis ist ein guter Lenker, er bringt immer wieder die Küste, die einmal nach rechts ab, schweift dann wieder nach links biegt, in die Richtung seines Motors. Bei jeder Kurve des afrikanischen Strandes neigt er ein wenig das Flugzeug. Noch zweitausend Kilometer bis Dakar.

Vor ihm die strahlende Helligkeit dieses wilden, noch nicht unterworfenen Gebiets. Zuweilen tritt der nackte Fels zutage. Der Wind hat den Sand fortgeweht und da und dort zu regelmäßigen Dünen gehäuft. Die Luft ist reglos und umschließt das Flugzeug wie in einem Netz. Kein Schlingern, kein Stampfen und, in dieser Höhe, keine Veränderung der Landschaft. Eingeklemmt in die Windstille, scheint der Apparat fast unbewegt. Port-Etienne, die erste Etappe, steht zwar nicht in jeder Stationsliste, aber die Zeit muß stimmen, und Bernis sieht nach der Uhr. Noch sechs Stunden unbeweglich und schweigsam — dann schlüpft man aus dem Flugzeug wie der Schmetterling aus der Puppe, und die Welt ist wieder neu.

Bernis betrachtet diese Uhr, die ein solches Wunder schafft. Dann den regungslos weisenden Drehzahlmesser. Wenn diese Nadel von der Ziffer abirrt, wenn ein Motordefekt den Menschen in den Sand befördert, dann werden Zeit und Raum einen neuen Sinn annehmen, einen Sinn, den er noch gar nicht begreift. Er fliegt seinen Flug in der vierten Dimension.

Dennoch kannte er dieses Schwindelgefühl. Wir alle haben es erlebt. Da jagten sich unzählige Bilder vor unserem Auge — aber wir sind einem einzigen verschworen, das seiner Dauer, seiner Sonne, seiner Einsamkeit das wahre Gesicht — abliest. Eine Welt ist auf uns niedergestürzt. Wir sind schwach, wir verfügen über ein armes Gebärdenspiel, das vielleicht, wenn die Nacht sich über uns senkt, eben noch die Gazellen zu verscheuchen imstande ist. Wir verfügen über eine Stimme, die keine dreihundert Meter weit trägt und zu keinem Menschen gelangt. Wir alle sind eines Tages auf diesen unbekannten Planeten gefallen …

Aber da war die Zeit viel zu weiträumig geworden für den Rhythmus unseres Lebens. In Casablanca rechneten wir nach Stunden, denn da gab es doch abgemachte Stelldicheins, und nach jedem von ihnen schlug uns ein neues Herz im Leib. Im Flugzeug war in jeder halben Stunde das Klima verändert: da war auch der Körper ein anderer. Hier aber, hier rechneten wir nach Wochen.

Die Kameraden haben uns immer wieder Erlösung gebracht. Und wenn wir schwach wurden, haben sie uns in ihre Gondel. Das war der eiserne Griff der Freunde, die uns aus dieser Welt in die ihre zogen.

Bernis schwebt im Gleichgewichtsflug über all dem Unbekannten hin und muß daran denken, daß er sich selbst schlecht kennt. Was würde wohl der Durst, die Verlassenheit oder die Grausamkeit der maurischen Stämme in ihm für Gefühle wachrufen? Und etwa die Station von Port-Etienne, die jetzt schon einen ganzen Monat weit hinter ihm liegt? Er meint: »Ich brauche keinen Mut.«

Alles bleibt ja im Abstrakten. Wenn ein junger Pilot mit Loopings sein Glück versucht, läßt er in seinem Kopf Hindernisse wirbeln, die, so nahe sie ihm sein mögen, doch nicht so gegenständlich sind, daß ihn das geringste unter ihnen zermalmen müßte, sondern Bäume oder Mauern, die ätherisch sind, wie im Traum geschaut. Mut — Bernis?

Aber doch — es geht um sein Herz, denn ein Zucken ist durch den Motor gegangen, und dieser Unbekannte kann sich aufrecken, kann den Piloten verdrängen.

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Endlich das Cap, der Golf! Eine Stunde ist herum, mit ihr der neutrale Boden, der entwaffnete, den die Luftschraube hinter sich gebracht hat. Aber was da vom sich dehnt, jeder Zoll Landes ist eine geheimnisvolle Festung.

Noch tausend Kilometer: da gilt es, diese ungeheure Tischfläche zu überwinden.

Von Port-Etienne für Cap Juby: Kurier gut gelandet 16 h 30’.

Von Port-Etienne für Saint-Louis: Kurier weitergeflogen 16h 45’.

Von Saint-Louis für Dakar: Kurier verläßt Port-Etienne 16 h 45’, wird von hier bei Nacht weiterfliegen.

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Ostwind. Er kommt aus dem Inneren der Sahara, und der Sand weht in gelbem Wirbel hoch empor. Früh am Morgen zeichnet sich am Horizont eine bleiche, elastisch gedehnte Sonne, die der warme Dunst aus der Form gebracht hat. Eine blasse Seifenblase. Aber sie steigt ällmählich zum Zenit, sich zusammenziehend, bis sie wieder rund ist und nun wie ein glühender Pfeil wirkt, der heiß im Nacken steckt.

Ostwind. Man fliegt von Port-Etienne ab in stiller, fast frischer Luft, aber schon in einer Höhe von hundert Metern ist man mittendrin im Lawastram. Und schon geht es los.

Öltemperatur: 120.

Wassertemperatur: 110.

Man muß auf zweitausend, auf dreitausend Meter kommen, das ist klar, um diesen Sandsturm unter sich zu kriegen. — Klar! Aber keine fünf Minuten gestiegen: Selbstzündung und heiße Ventile. Da soll man höher steigen — leicht gesagt. Das Flugzeug schwebt, versinkt geradezu in dieser weichen Luft.

Ostwind. Man wird blind. Die Sonne verschwindet in diesen gelben Wirbeln. Zuweilen taucht ihre blasse Scheibe wieder auf und haucht Glut; Die Erde ist nur in der Vertikalen zu sehen, kaum mehr zu sehen. Steige ich? Sinke ich? Neigt sich’s? Was weiß ich! Hundert Meter Höhe — auch recht, gehen wir noch tiefer.

Knapp über dem Boden ein Windhauch aus Norden. Das geht an. Da kann man einen Arm aus der Gondel hinaushängen lassen, wie man bei rascher Bootfahrt die Hand im frischen Wasser spielen läßt.

Öltemperatur: 110.

Wassertemperaer 95.

Kühl wie ein Flüßchen? Ja, vergleichsweise. Man tanzt ein bißchen auf und ab, jede Bodenfalte gibt einen Hieb. und es ist dumm, daß man nichts sieht.

Aber in der Nähe von Cap Timeris streicht der Ostwind unmittelbar über den Boden hin. Nirgends mehr eine Zuflucht. Riecht es nicht nach verbranntem Kautschuk? Der Magnet? Die Dichtungen? Die Nadel des Tachymeters gerät ins Schwanken und gibt auf zehn Touren nach — »Wenn auch du dich da hineinmischst …«

Wassertemperatur: 115.

Ausgeschlossen, nur zehn Meter höher zu steigen. Ein Blick auf die Düne, die so nah herankommt wie ein Sprungbrett, dann ein Blick auf die Druckmesser. Hopp, das war eine Welle in der Düne! Da sitzt man und lenkt gar nicht mehr — lange kann dass nicht mehr so gehen: in seinen Händen das Flugzeug im Gleichgewicht halten wie ein übervolles Gefäß.

Zehn Meter unter den Rädern wirbelt Mauretanien seinen Sand, sein Salz, seine ganze Küste auf — jetzt hinaus mit dem Ballast.

1520 Touren.

Dieser erste Auftrieb des entleerten Flugzeugs wirkt wie ein Fausthieb auf den Piloten. Auf zwanzig Kilometer Entfernung gibt es einen französischen Posten, den einzigen. Man muß ihn erreichen.

Wassertemperatur: 120.

Dünen, Felsen, Salzgruben sind wieder überwunden, aber es geht hart auf hart. Nur weiter! Neue Umrisse tauchen auf, dehnen sich weithin, verschwinden. Die Räder am Boden — verdammt! Diese schwarzen Felsen dort, eng aneinandergereiht, sie scheinen langsam näher zu kommen, aber auf einmal sind sie riesengroß. Man stürzt fast auf sie, als wollte man sie zersplittern.

1430 Touren.

»Ob wir den Kopf anrennen …?« Ein Blechteil, den er zufällig berührt, verbrennt ihm die Finger. Der Kühler dampft stoßweise. Das Flugzeug wird zu schwer, der Kahn ist überladen.

1400 Touren.

Jetzt schnell den letzten Ballast hinaus — die Räder hängen zwanzig Meter über dem Boden! Rasche Schaufelwürfe, goldene Schaufelwürfe: über der Düne wird der Posten sichtbar. Ah! Bernis bremst. Es war hohe Zeit.

Der Ansturm der Landschaft verlangsamt sich und kommt zum Stillstand. Die Welt, die in Staub vergehen wollte, baut sich wieder auf.

___________

Ein kleines französisches Port in der Sahara. Ein alter Sergeant begrüßte Bernis und lachte freudig beim Anblick des Landsmannes. Zwanzig Senegalesen präsentieren das Gewehr: ein Weißer, das ist zum mindesten ein Sergeant; wenn er jung ist, ist er gar Leutnant.

»Guten Tag, Sergeant.«

»Ja, kommen Sie zu mir, ich bin ja so froh! Ich bin aus Tunis …«

Seine Jugend, seine Erinnerungen, seine Seele — alles legte er vor Bernis hin, auf den ersten Anhieb.

Ein kleiner Tisch, an der Wand aufgespießte Photographien.

»Ja, das sind Bilder von Verwandten. Ich kenne sie noch nicht alle, aber nächstes Jahr will ich nach Tunis gehen. Das da? Das ist die Geliebte meines Kameraden. Ich habe dieses Bild immer auf seinem Tisch gesehen. Er sprach immer von ihr. Nach seinem Tod habe ich die Photos behalten, zum Fortsetzen — ich habe keine Geliebte gehabt.«

»Sergeant, ich habe Durst.«

»Ah, trinken Sie nur! Es macht mir Freude, Ihnen Wein anbieten zu können. Ich hatte keinen mehr für den Kapitän, als er vor fünf Monaten hier durchkam. Hernach habe ich mir lange Zeit düstere Gedanken gemacht, ja, wirklich. Ich habe sogar geschrieben, daß man mich ablösen möge: ich schämte mich gar so sehr.

Was ich hier mache? Ich schreibe Briefe, jede Nacht. Schlaf habe ich nicht, aber Kerzen habe ich. Wenn aber dann, alle sechs Monate, die Post herkommt, taugen die Briefe nicht mehr zur Antwort, — dann fange ich eben wieder von neuem an.«

Bernis steigt mit dem alten Sergeanten auf die Terrasse des Forts, um zu rauchen. Weit und leer ist die Wüste im Mondenschein. Was bewacht der Mann eigentlich an diesem Posten! Gewiß die Sterne, ja, und den Mond …

»Sie sind also Sergeant für die Sterne?«

»Bitte, nicht ablehnen, rauchen Sie nur, ich habe noch Tabak. Als der Kapitän kam, hatte ich auch keinen Tabak mehr.«

Alles erfuhr Bernis, was vom Leutnant, vom Kapitän zu erzählen war. Bald wußte er Bescheid über ihre einzigen Fehler: der eine war ein Spieler, der andere war viel zu gut. Er erfuhr auch, daß der letzte Besuch des jungen Leutnants beim alten Sergeanten in der Sandwüste fast wie ein Liebeserlebnis nachwirkte.

»Er hat mir die Sterne erklärt …«

»Ja«, meinte Bernis, »Sie haben sie von ihm ins Wachprotokoll bekommen.«

Und nun begann er selbst, ihm die Sterne zu erklären. Der Sergeant lernte die einzelnen Entfernungen kennen und mußte dabei an Tunis denken, das so weit weg war. Als sie beim Polarstern waren, verschwor er sich, ihn an seinem Gesicht erkennen zu wollen; er würde nur ein wenig links zu suchen haben. Und nun mußte er wieder an Tunis denken, es war doch gar nicht so weit.

»Und auf diese Sternbilder sausen wir mit schwindelerregender Schnelligkeit zu …« Da hielt sich der Sergeant alsbald an der Mauer fest.

»Sie wissen ja alles.«

»O nein. Ich habe sogar unter einem Sergeanten gedient, der mir sagte: ›Schämen Sie sich dann nicht, als Sohn von guter Familie, unterrichtet und wohlerzogen, daß Sie das Kehrtmachen so schlecht treffen?‹«

»Aber — da brauchen Sie sich nicht zu schämen, das ist ja so schwer.« Damit wollte er Bernis trösten.

»Sergeant, Sergeant, deine Wachlaterne …« Und er wies nach dem Mond.

»Du, Sergeant, kennst du das, dieses Lied:

Regnet’s, junge Schäferin? …

«

Und er trällerte die Melodie.

»Ja, freilich kenne ich es, das ist ja ein Lied aus Tunis.«

»Sag, Sergeant. wie geht es weiter? Ich möchte es gerne wieder wissen.«

»Warten Sie, warten Sie:

Führ die weißen Schafe hin

nach der kleinen Hütte …

«

»Sergeant, jetzt erinnere ich mich:

Hörst du, wie die Blätter wehn?

Schwere Tropfen niedergehn,

schon ist das Gewitter da …

«

»Das ist so wahr,« sagte der Sergeant.

Sie verstanden sich auf die gleichen Dinge.

»Es wird Tag, Sergeant, gehen Wir an die Arbeit.«

»Ja, an die Arbeit.«

»Gib mir den Schlüssel dort, zu den Zündkerzen.«

»Ja, da ist er.«

»Und jetzt mußt du hier die Zange ansetzen.«

»Befehlen Sie nur — ich mache alles.«

»Siehst du, Sergeant, es war nur eine Kleinigkeit, jetzt werde ich losfahren.«

Der Sergeant schaut auf ihn wie auf einen jungen Gott, der aus dem Nichts erschienen ist und nun leider wieder fortfliegen will, erschienen, um ihn an ein Lied zu erinnern, an Tunis, an ihn selbst zu erinnern. Aus welchem Paradies, jenseits der Sandwüste, kamen sie wohl herab, lautlosen Fluges, diese schönen Boten …?

»Auf Wiedersehen, Sergeant!«

»Auf Wiedersehen.«

Der Sergeant bewegte noch die Lippen, aber er wußte selbst nicht, was er sagen wollte. Und er war sich auch noch kaum bewußt, daß er im Herzen für die nächsten sechs Monate etwas Liebes bewahrte.

7

Von Saint-Louis nach Port-Etienne: Kurier in Saint-Louis nicht angekommen stop. Erbitten dringend Nachricht.

Von Port-Etienne nach Saint-Louis: Wissen nichts seit Abfahrt gestern 16 h 45’ stop. Werden unverzüglich Nachsuche einleiten.

Von Saint-Louis im Senegal nach Port-Etienne: Flugzeug 632 verläßt Saint-Louis 7 h 25’ stop. Schiebt Abfahrt auf bis zu seiner Ankunft in Port-Etienne.

Von Port-Etienne nach Saint-Louis: Flugzeug 632 gut gelandet 13 h 40’ stop. Pilot hat nichts gesehen, trotz ausreichender Sicht stop. Pilot glaubt, er hätte Kurier auf normalem Flugweg auffinden müssen stop. Dritter Pilot nötig für staffelweise Nachsuche.

Von Saint-Louis nach Port-Etienne: Einverstanden. Befehle erteilt.

Von Saint-Louis nach Juby: Ohne Nachrichten von Frankreich—Armérika stop.

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Juby.

Ein Mechaniker kommt zu mir.

»Ich gebe Ihnen Wasser in den Koffer links vorn, die Lebensmittel in den Koffer rechts, rückwärts ein Reserverad und den Apothekerkasten. In zehn Minuten. Einverstanden?«

»Ja.«

Aufträge auf dem Notizblock:

»In meiner Abwesenheit das Tagesjournal führen. Am Montag Auszahlung der Mauren. Die leeren Trinkfässer sind auf das Segelschiff zu laden.«

Ich lehne mich ans Fenster. Das Segelschiff, das uns einmal im Monat mit Trinkwasser versorgt, schaukelt leicht auf dem Meer. Ein entzückender Anblick. Es gibt meiner ganzen Wüstenei ein wenig Lebensschwung, frische Wäsche in meinen Alltag. Ich bin Noah, den die Taube in der Arche aufsucht.

Das Flugzeug ist startbereit.

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Von Juby mach Port-Etienne: Flugzeug 236 fliegt von Juby ab 14 h 20’ nach Port-Etienne.

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Der Karawanenweg ist durch Skelette kenntlich, den unseren bezeichnen einige Flugzeuge: »Noch eine Stunde zum Flugzeug von Bojador …« Auch das sind Skelette, ausgeplündert von den Mauren. Und Merkzeichen.

Tausend Kilometer über Sand bis nach Port-Etienne: vier Gebäude mitten in der Wüste.

»Wir haben dich schon erwartet. Wir fliegen sofort ab, um noch das Tageslicht auszunutzen. Einer die Küste entlang, der zweite zwanzig Kilometer, der dritte fünfzig Kilometer weiter. Im kleinen Fort machen wir halt, wegen der Dunkelheit. Du wechselst Maschine?«

»Ja, Ventilverstopfung.«

Umschiffung.

Abfahrt.

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Nichts. Es war nur ein dunkler Felsen. Immer weiter suche ich die Wüste auf das sorgfältigste ab. Jeder schwarze Punkt ist wie ein Fehler, der mich beunruhigt. Aber der Sand wälzt mir nichts anderes zu als einen dunklen Felsen.

Meine Kameraden sehe ich nicht mehr. Jeder ist in seiner Himmelsgegend tätig, geduldig wie Sperber, die in der Höhe planen. Das Meer sehe ich auch nicht mehr. Über einem weißen Glutherd schwebend, sehe ich nichts Lebendes. Mein Herz schlägt: ein Trümmerhzaufen dort in der Ferne …?

Wieder ein dunkler Felsen.

Mein Motor braust wie ein Fluß in Strömung. Dieser strömende Fluß umwirbelt mich und macht müde.

Bernis, — oft habe ich gesehen, wie deine unerklärbare Zuversicht dich wieder aufgerichtet hat. Ich kann das nicht wiedergeben, mir fällt ein Wort von Nietzsche ein, das dir vertraut war, das Wort vom heißen, kurzen, melancholischen und glückseligen Sommer.

Die Augen schmerzen mich vom vielen Suchen. Und die schwarzen Punkte beginnen zu tanzen. Ich weiß nicht mehr recht, wohin ich fliege.

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»Sergeant, Sie haben ihn also gesehen?«

»Er ist im Morgengrauen abgeflogen.«

Wir setzen uns vor dem kleinen Fort nieder. Die Senegalesen lachen, der Sergeant läßt den Kopf hängen. Der Abend ist farbenschön, aber was hilft das!

Einer von uns rückt mit der Sprache heraus: »Wenn das Flugzeug zertrümmert ist, … du weißt ja, … fast unauffindbar.«

»Freilich.«

Einer steht auf, geht einige Schritte auf und ab: »Es steht schlecht. Eine Zigarette?«

Die Nacht kommt, alles wird schwarz: Tiere, Menschen, Gegenstände.

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Die Nacht kommt, in der Finsternis glüht nur mehr der Rand der Zigarette; da bekommt die Welt wieder ihr richtiges Maß. Auf dem Weg nach Port-Etienne werden die Karawanen müde und alt. Saint-Louis im Senegal liegt schon am Ende aller Träume. Diese Wüste war vorhin nur ein Sandhaufen, der kein Geheimnis barg. Die Städte boten sich so nahe dar, und der Sergeant, der auf Geduld, auf Schweigen und Einsamkeit eingestellt war, fand dies alles überflüssig. Aber eine Hyäne schreit, und der Sand lebt, ein Ruf ertönt und stellt das Geheimnis wieder her, und irgend etwas steht auf, entflieht und kommt wieder …

Die Sterne geben uns die wirklichen Entfernungen kund. Das geruhige Leben, die treue Liebe, die Freundin, die wir im Herzen zu tragen meinen — sie alle werden wieder vom Polarstern in die Reihe gebracht.

Und das Südliche Kreuz bewacht einen Schatz.

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Am frühen Morgen, gegen drei Uhr, wurden unsere Decken so dünn, so durchlässig: eine Bosheit, die uns der Mond antut. Ich erwache halb erfroren und steige auf die Terrasse des kleinen Forts, um zu rauchen. Eine Zigarette nach der anderen — so will ich den Tagesanbruch erwarten.

Dieser kleine Posten im Mondenschein, das ist ein Hafen in einer stillen Bucht. Die Sterne spielen ihr volles Spiel, für alle Seefahrer. Die Magnetnadeln unserer drei Fahrzeuge zeigen freilich brav nach Norden — und damals? …

Dein letzter Schritt auf Erden, hast du ihn hier getan? Hier hat die erspürbare Welt ein Ende. Dieses kleine Fort ist ein Abfahrtsteg, eine Schwelle zum Eintritt ins Mondlicht, wo nichts mehr seine Wirklichkeit behält.

Wundervoll ist die Nacht. Jacques Bernis, wo bist du? Vielleicht noch hier, vielleicht schon drüben? Wie ist dein Sein schon so schwerelos geworden! Und auch die Sahara rings, um mich ist ohne Schwere; nur dann und wann fühlt sie den Sprung einer Antilope; kaum daß sie, wo der Sand sich am vollsten bauscht, das leichte Gewicht eines Kindes ertrüge.

Der Sergeant hat sich zu mir gestellt: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Sergeant.«

Er horcht. Nichts. Tiefe Stille, gewoben aus deinem Stillsein, Jacques Bernis.

»Eine Zigarette?«

»Ja.«

Der Sergeant kaut an seiner Zigarette.

»Sergeant, morgen muß ich meinen Kameraden finden, Wo, glaubst du, mag er sein?«

Der Sergeant weist, als wäre er seiner Sache sicher, mit der Hand auf den ganzen Horizont …

Ein Kind ist verlorengegangen, aber es macht die ganze Wüste reich.

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Bernis, einmal hast du mir ein Geständnis gemacht: »Ich habe ein Leben liebgehabt, das ich nicht verstand, ein Leben, das nicht ganz treu war. Ich weiß nicht einmal recht, wonach ich mich sehnte: es war ein unbewußter Heißhunger …«

Und wieder einmal hast du mir gestanden: »Was ich erriet, war hinter den Dingen verborgen. Mir schien, als könnte ich es mit ein wenig Bemühung begreifen und richtig erkennen und mit mir davontragen. So gehe ich durchs Leihen, bedrückt von der Gegenwart eines Freundes, den ich doch nie aus dem Dunkel hervorholen konnte.«

Mir ist, als ob ein Schiff scheiterte. Als ob ein Kind in Schlaf gewiegt würde. Als ob all dies Gewoge von Segeln und Masten und Hoffnungen ins Meer versänke.

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Morgenlicht. Wüstes Schreien der Mauren. Ihre Kamele liegen da, halbtot vor Erschöpfung. Ein Stamm, dreihundert Gewehre stark, sei in aller Stille aus dem Norden hereingebrochen, sei plötzlich ostwärts aufgetaucht und habe eine Karawane niedergemacht. Ob wir nicht dort suchen sollten, wo dieser Stamm sein mußte?

»Also in Fächerform, einverstanden? Der mittlere fliegt genau nach Osten …«

Samum: kaum sind wir fünfzig Meter hoch, und schon dörrt uns dieser Wind aus wie ein Heißluftappanat.

___________

Mein Kamerad …

Hier also ist der Schatz gewesen: du hast ihn so lange gesucht!

Auf dieser Düne, die Arme gekreuzt, das Gesicht dem dunkelblauen Golf zugewandt, über dir all das Sternenvolk — in dieser Nacht hast du nicht schwer gewogen …

Als du herabflogst, nach dem Süden, da lösten sich leise alle Taue, die dich hielten: ein Luftgeist warst du schon, Bernis, ein einziger Freund war dir geblieben, aber kaum noch band dich dieser Sommerfaden …

In dieser Nacht wogst du noch leichter. Ein Schwindel hat dich erfaßt. In dem einen Stern, der lotrecht über dir, du Entflohener, stand, hat der Schatz gefunkelt!

Der Sommerfaden meiner Freundschaft hat dich nicht festhalten können: ich war ein ungetreuer Hirt, in Schlaf gesunken.

___________

Von Saint-Louis nach Toulouse: France-Amérique östlich Timeris aufgefunden stop. Kugellöcher im Steuer stop. Feindlicher Stamm in nächster Nähe stop. Pilot tot, Flugzeug zerbrochen, Kurier intakt stop. Ich fliege weiter nach Dakar.

8

Von Dakar nach Toulouse: Kurier glücklich Dakar gelandet. Stop.

Teil II

Flug nach Arras

2

Herrn Major Alias, allen meinen Kameraden der Fernaufklärergruppe 2/33, insbesondere dem Beobachter-Hauptmann Moreau und den Beobachter-Oberleutnanten Azambre und Dutertre, die nacheinander meine Bordkameraden im Laufe aller meiner Kriegseinsätze im Feldzug 1939/40 gewesen sind, in lebenslänglicher, treuer Freundschaft.

1

Kein Zweifel: Ich träume. Ich bin wieder auf dem Pennal, ein Junge von fünfzehn Jahren. Ich sitze brav über meine Geometrieaufgabe. Ich stütze mich auf den schwarzen Arbeitstisch und hantiere eifrig, friedlich mit Zirkel, Lineal und Winkelmesser. Kameraden plaudern leise neben mir. Einer schreibt Zahlenreihen an die schwarze Wandtafel. Andere, weniger arbeitsam, spielen Bridge. Von Zeit zu Zeit vertiefe ich mich weiter in meinen Traum und werfe einen Blick zum Fenster hinaus. Ein Baum schwankt leise im Sonnenlicht. Lang schaue ich ihm zu, ich bin wenig bei der Sache… Beglückt spüre ich die Sonne von damals, koste jenen Geruch der Kindheit, der von Pult, Kreide und Schultafel ausströmt. Mit welcher Wonne kapsele ich mich in jene wohlbehütete Kinderzeit ein! Ich weiß es nur zu gut: Mit dem Kindsein fängt es an, dem Gymnasium, den Kameraden, dann kommt der Tag, da heißt es Examina bestehen, da bekommst du dein Abgangszeugnis. Beklommenen Herzens gehst du durch eine gewisse Pforte, dahinter bist du dann auf einmal ein Mann. Dann lastet dein Schritt gewichtiger auf der Erde, du gehst schon deinen eigenen Lebensweg. Die allerersten Schritte. Schließlich versuchst du deine Waffen an richtigen Gegnern. Lineal, Winkelmaß und Zirkel, die brauchst du nun und baust dir damit eine Welt oder triumphierst mit ihnen über deine Feinde. Aus ist das Spiel!

Ich weiß schon: sonst hat ein Pennäler keine Angst, es mit dem Leben aufzunehmen. Er brennt vor Ungeduld. Qualen, Gefahren, Bitternisse des Lebens als Mann schrecken keinen Pennäler.

Doch ich bin ein ganz merkwürdiger Kerl von einem Pennäler. Ich bin einer, der weiß um sein Glück und hat es gar nicht eilig, es mit dem Leben aufzunehmen…

Da geht Dutertre. Ich rufe ihn.

»Setz dich her, wir spielen uns eins…«

Wie glücklich bin ich, wenn ich ihm sein Pique-As hole. Dutertre sitzt mir gegenüber auch auf so einem schwarzen Arbeitstisch wie meiner und läßt die Beine baumeln. Er grinst. Ich lächle still vergnügt. Pénicot kommt dazu und legt den Arm um meine Schulter: »Na, Alter?«

Mein Gott! Wie warm wird mir dabei!

___________

Einer von der Aufsicht — ist es auch wirklich einer?… — öffnet die Tür und ruft zwei Kameraden heraus. Sie legen Lineal und Zirkel hin, stehen auf und gehen. Wir sehen ihnen nach. Für sie ist die Schule aus. Sie werden ins Leben entlassen, werden ihr Wissen anwenden. Als Männer werden sie an ihren Gegnern das Fazit ihres Rechnens erproben. Was für eine merkwürdige Schule, einer nach dem andern verläßt sie! Ohne groß Abschied zu nehmen. Eben die beiden Kameraden haben nicht einmal nach uns hingesehen. Dabei wirbelt sie der Zufall im Leben vielleicht weiter weg als nach China. So viel weiter! Wenn das Leben die Männer nach der Schule zerstreut, sind sie dann so sicher, sich wiederzusehen?

Und wir, die in der wohligen, friedlichen Wärme Zurückbleiben, wir senken die Köpfe…

»Hör doch, Dutertre, heut abend…«

Doch dieselbe Tür öffnet sich ein zweites Mal. Ich höre wie einen Vollstreckungsbefehl:

»Hauptmann de Saint-Exupéry und Oberleutnant Dutertre zum Kommandeur!«

Aus ist die Schule. Das Leben beginnt.

___________

»Du, hast du gewußt, daß wir jetzt dran sind?«

»Pénicot ist heute morgen geflogen.«

Zweifellos fliegen wir in besonderem Auftrag, da wir gerufen werden. Es ist Ende Mai 1940, mitten im Rückzug, im vollen Zusammenbruch. Besatzungen werden geopfert, als gösse man glasweise Wasser in einen Waldbrand. Wie soll einer die einzelne Gefahr auch abwägen, da alles zusammenbricht? Für ganz Frankreich sind wir noch fünfzig Fernaufklärerbesatzungen. Fünfzig Besatzungen zu je drei Mann. Davon haben wir dreiundzwanzig in unserer Gruppe 2/33. In drei Wochen haben wir siebzehn von unseren dreiundzwanzig Besatzungen verloren. Wie Wachs in der Sonne sind wir zusammengeschmolzen. Gestern habe ich zu Oberleutnant Gavoille gesagt:

»Erst nach dem Kriege werden wir dahinterkommen.« Und Oberleutnant Gavoille hat mir geantwortet:

»Sie denken doch wohl nicht, diesen Krieg zu überleben, Herr Hauptmann?«

Gavoille spaßte nicht. Wir wissen nur zu gut, daß gar nichts anderes übrigbleibt, als uns in den Brand zu schleudern, so nutzlos die Geste auch sein mag. Wir sind fünfzig für ganz Frankreich. Auf unseren Schultern ruht die gesamte Kampfführung der französischen Armee! Ein riesiger Wald brennt lichterloh, und zum Löschen stehen nur ein paar Glas Wasser zur Verfügung: Sie werden geopfert.

Ist ganz in der Ordnung. Wer denkt daran, sich zu beklagen? Hat die Antwort je anders gelautet als: »Jawohl, Herr Major. Gewiß, Herr Major. Vielen Dank, Herr Major. Verstanden, Herr Major«? Doch im Laufe dieses zu Ende gehenden Krieges überwiegt ein Eindruck alle andern, der des Absurden. Rings um uns kracht alles. Alles bricht zusammen. Das ist so allgemein, daß selbst der Tod einem absurd vorkommt. Der Tod hat nicht den richtigen Ernst in diesem Durcheinander…

Wir treten bei Kommandeur Alias ein. — Er befehligt heute noch in Tunis dieselbe Gruppe 2/33. —

»Guten Morgen, Saint-Ex. Guten Morgen, Dutertre. Nehmen Sie Platz!«

Wir setzen uns. Der Kommandeur breitet auf dem Tisch eine Karte aus und wendet sich nach der Ordonnanz:

»Holen Sie mir den Wetterbericht.«

Dann trommelt er mit dem Bleistift auf den Tisch. Ich beobachte ihn. Er ist übermüdet. Er hat nicht geschlafen. Auf der Suche nach einem sagenhaften Stab, dem Divisionsstab, dem Geschwaderstab ist er mit seinem Wagen kreuz und quer im Gelände herumgefahren … Er hat versucht, gegen die Nachschublager anzugehen, die keine Ersatzteile lieferten. Auf der Straße ist er in heillose Verstopfungen hineingeraten. Er hat auch unsere letzte Verlagerung geleitet, unseren letzten Platz bezogen; denn wir ändern unsern Standort wie arme Teufel, hinter denen der Vollstreckungsbeamte unerbittlich her ist. Jedesmal noch hat Alias seine Flugzeuge, seine Lastwagen und zehn Tonnen Material retten können. Wir ahnen jedoch, daß er am Ende seiner Kräfte, seiner Reserven ist.

»Also, folgendes …«

Er trommelt noch auf den Tisch und sieht an uns vorbei.

»Es ist sehr unangenehm…«

Dann zuckt er mit den Schultern.

»Ein unangenehmer Auftrag. Beim Stab legen sie aber Wert darauf. Großen Wert sogar. Ich habe dagegen geredet, aber sie lassen nicht davon ab … Es ist nun mal so.«

Dutertre und ich sehen durchs Fenster einen ruhigen Himmel. Ich höre die Hühner gackern; denn das Geschäftszimmer des Kommandeurs ist in einem Bauernhof, die Nachrichtenstelle in einer Schule eingerichtet. Ich kann den Sommer, die Früchte, die reifen, die Küken, die wachsen, das Korn, das sich streckt, nicht gegen den Tod anführen, der uns naht. Ich verstehe nicht, wieso die sommerliche Ruhe zum Sterben nicht passen will, auch nicht, wieso das süße Leben zur Ironie wird. Doch eines wird mir undeutlich bewußt: Dies ist ein Sommer, der aus dem Geleise geriet, der eine Panne bekam… Ich habe verlassene Dreschmaschinen, verlassene Mähbinder gesehen. In den Straßengräben aufgegebene Wagen, die eine Panne hatten. Verlassene Dörfer. Dort lief in einem menschenleeren Dorf der Brunnen weiter. Das klare Wasser wurde zur Pfütze und hatte die Menschen doch so viel Mühe gekostet. Plötzlich kommt mir ein absurdes Bild: Die Uhren, die stehengeblieben sind. Alle die Uhren, die nicht mehr gehen. Kirchturmuhren in den Dörfern, Bahnhofsuhren, Wanduhren über dem Kamin in den leeren Häusern. Auch im Schaufenster des Uhrmachers, der geflüchtet war, all die Gerippe toter Uhren. So ist der Krieg… Keiner zieht die Uhren mehr auf. Keiner erntet die Rüben, keiner setzt die Wagen instand. Und das Wasser, das aufgespeichert wurde, um den Durst zu löschen oder herrliche Spitzen vom ländlichen Sonntagsstaat zu bleichen, wird zur Pfütze vor der Kirche. Und es heißt sterben, jetzt zur Sommerszeit…

Mir ist, als wäre ich krank. Eben sagt der Arzt zu mir: »Es ist sehr unangenehm…« Eigentlich müßte ich an den Notar, an die Hinterbliebenen denken. Dutertre und ich haben jedenfalls verstanden, daß es sich um einen Auftrag auf Leben und Tod handelt:

»Unter den jetzigen Umständen«, schließt der Kommandeur, »kann man sich um das Gefahrenmoment nicht allzusehr kümmern…«

Gewiß. Man kann »nicht allzusehr«. Und jeder hat recht. Wir, die melancholisch werden, auch der Kommandeur, dem nicht recht wohl ist. Auch der Stab, der seine Befehle gibt. Der Kommandeur ist verdrießlich, weil seine Befehle absurd sind. Wir wissen es auch, der Stab weiß es sogar selber. Er befiehlt; denn es muß befohlen werden. Im Kriege gibt der Stab eben seine Befehle. Er vertraut sie schmucken Kavalleristen oder zeitgemäßen Motorfahrern an. Da, wo Durcheinander und Verzweiflung herrschen, springt dann ein jeder von den schmucken Reitern vom dampfenden Roß. Er weist die Zukunft, wie der Stern der Weisen. Er bringt die Wahrheit. Und die Befehle rücken die Welt wieder zurecht.

So sieht der Krieg, das farbige Phantasiegemälde des Krieges aus. Und jeder strengt sich an, so gut er kann, damit dieser Krieg dem wahren Kriege gleicht. Gewissenhaft bemüht sich ein jeder, die Spielregeln brav einzuhalten. Vielleicht kommt es dahin, daß dieser Krieg doch noch einem richtigen Krieg ähnlich wird. Und eben damit er einem wirklichen Kriege gleicht, werden ohne genaues Ziel Besatzungen geopfert. Keiner gibt sich selbst zu, daß dieser Krieg mit nichts zu vergleichen ist, daß an ihm alles sinnlos ist, kein Schema auf ihn paßt, daß in allem Ernst an Fäden gezogen wird, die nicht mehr zu den Marionetten führen. Pflichtgemäß erlassen die Stäbe ihre Befehle, die nie an Ort und Stelle eintreffen. Sie verlangen Erkundungen von uns, die unmöglich einzuholen sind. Die Fliegerei kann nicht die Aufgabe übernehmen, den Stäben den Krieg zu erklären. Mit Hilfe ihrer Beobachtungen kann die Fliegerei zwar Annahmen nachprüfen; hier gibt es aber gar keine Annahmen mehr. Dabei verlangt man von etwa fünfzig Besatzungen in allem Ernst, sie sollten das Gesicht eines Krieges verändern, der gar keines hat. Sie wenden sich an uns wie an ein Volk von Wahrsagern. Ich betrachte Dutertre, meinen Beobachtungswahrsager. Gestern wandte er einem Obersten von der Division ein: »Und wie soll ich Ihnen zehn Meter über dem Boden bei fünfhundert Stundenkilometern die Stellungen ausfindig machen?«

»Na, das merken Sie schon, wenn Sie beschossen werden. Wo auf Sie geschossen wird, da sind die deutschen Stellungen.«

»Ich hab’ hinterher richtig lachen müssen«, schloß Dutertre.

Denn der französische Soldat hat niemals einen französischen Flieger gesichtet. Es sind knapp tausend, von Dünkirchen bis ins Elsaß verstreut. Oder richtiger gesagt, sie sind ins Unendliche aufgelöst. Wenn also an der Front ein Flieger herunterbraust, ist es bestimmt ein deutscher. Daher sucht man ihn auch abzuschießen, bevor er seine Bomben abwirft. Sein Brummen allein schon löst das Bellen der Maschinengewehre und leichten Flak aus.

»Mit einer solchen Methode«, fuhr Dutertre fort, »bekommen sie ein herrliches Nachrichtenmaterial.« Und darauf bauen sie auf; denn theoretisch muß man sich im Kriege nach den Erkundungen richten!… Gewiß! Aber auch der ganze Krieg ist aus dem Leim. Zum Glück — und das wissen wir sehr wohl — verwertet kein Mensch unsere Erkundungen. Wir können sie gar nicht weitergeben. Die Straßen sind verstopft, die Telefone gehen nicht, der Stab wird in aller Eile wieder verlegt sein. Die wichtigen Nachrichten über die feindlichen Stellungen liefert der Feind selber. Vor ein paar Tagen diskutierten wir in der Nähe von Laon über die mögliche Lage der Stellungen. Wir schickten einen Verbindungsoffizier zum General. Halbwegs zwischen unserm Gefechtsstand und dem General stößt der Wagen des Oberleutnants auf eine schwere Zugmaschine, die, quer über die Straße gestellt, zwei Panzerwagen zur Deckung dient. Der Oberleutnant macht kehrt. Doch eine Maschinengewehrgarbe tötet ihn auf der Stelle und verwundet den Fahrer. Es waren deutsche Panzerwagen.

___________

Im Grunde ähnelt der Stab einem Bridge-Spieler, der aus dem Nebenzimmer gefragt wird:

»Was soll ich mit meiner Pique-Dame machen?«

Er würde nebenan mit der Schulter zucken. Was sollte er auch antworten, da er nichts vom Spiel zu sehen bekommen hat?

Doch ein Stab darf nicht mit der Schulter zucken. Wenn er noch einige Truppenteile an der Hand hat, muß er sie handeln lassen, um sie in der Hand zu behalten und alle Möglichkeiten zu versuchen, solange eben der Krieg noch dauert. Wenn er auch nichts sehen kann, muß er sich doch rühren und andere in Bewegung halten.

Es ist jedoch schwierig, aufs Geratewohl mit einer Pique-Dame aufzutrumpfen. Wir haben schon, und zwar zunächst überrascht, dann mit einer gewissen Selbstverständlichkeit festgestellt — was wir übrigens hätten voraussehen können —, daß einem nichts zu tun bleibt, wenn der Zusammenbruch beginnt. Man meint, der Unterlegene ersticke unter einer Flut von Problemen, setze, um sie zu lösen, mit letzter Anspannung seine Infanterie, Artillerie, Panzer und Flugzeuge ein… Die Niederlage sabotiert jedoch zunächst einmal alle Probleme. Man versteht überhaupt nichts mehr vom Spiel, weiß nicht, was man mit den Flugzeugen, den Panzern, der Pique-Dame anfangen soll… Man wirft sie aufs Geratewohl auf den Tisch, nachdem man sich zuvor den Kopf zerbrochen hat, eine wirksame Rolle für sie ausfindig zu machen. Es wird einem übel und keineswegs fiebrig. Der Sieg allein bringt einen in Fieber. Nur der Sieg bringt Ordnung, baut auf. Dann plagt sich jeder ab und trägt sein Teil zu ihm bei. Die Niederlage jedoch schafft um die Menschen eine Atmosphäre des mangelnden Zusammenhangs, des Müßig- und vor allem des Überflüssigseins.

Denn zunächst sind sie überflüssig, die Aufträge, die von uns verlangt werden. Jeden Tag überflüssiger. Blutiger und dabei überflüssiger. Um sich dem Bergrutsch entgegenzustemmen, wissen die Befehlenden sich nicht anders zu helfen, als daß sie ihre letzten Trümpfe auf den Tisch werfen.

Dutertre und ich sind solche Trümpfe und hören dem Kommandeur zu. Er entwickelt uns den Plan für den Nachmittag. Wir sollen befehlsgemäß in siebenhundert Meter Höhe die Panzerwagenansammlungen in der Gegend von Arras auf dem Rückweg von einem langen Rundflug in zehntausend Meter Höhe erkunden. Seine Stimme klingt dabei, als wollte er sagen:

»Dann gehen Sie die zweite Straße rechts, bis Sie an die Ecke eines freien Platzes kommen. Dort ist ein Tabakladen, da holen Sie mir eine Schachtel Streichhölzer…«

»Jawohl, Herr Major.«

Der Auftrag bezweckt nicht mehr und nicht weniger. Die Sprache, in der er angekündigt wird, ist ganz ebenso prosaisch.

Ich sage mir: Ein Auftrag auf Leben und Tod. Ich denke… denke so vielerlei. Wenn ich am Leben bleibe, will ich die Nacht abwarten zum Überlegen. Wenn ich am Leben bleibe… Ist der Auftrag leicht, dann kommt von dreien einer wieder. Ist er etwas »unangenehm«, dann wird es offenbar mit dem Wiederkommen schwieriger. Und hier im Geschäftszimmer des Kommandeurs kommt mir der Tod weder erhaben noch majestätisch, weder heroisch noch erschütternd vor. Er ist nichts weiter als ein Zeichen, eine Auswirkung der Verwirrung. Die Gruppe verliert uns, wie einem beim Umsteigen auf der Eisenbahn Gepäckstücke abhanden kommen.

Nicht etwa, daß ich nicht an den Krieg, an Tod, Opfer, an Frankreich, an alles mögliche denke, mir fehlt jedoch ein leitender Gedanke, eine klare Sprache. Ich denke in Widersprüchen. Meine Wahrheit besteht aus Bruchstücken, und ich kann nur eines nach dem andern von ihnen betrachten. Wenn ich am Leben bleibe, will ich die Nacht zum Überlegen abwarten. Die heißgeliebte Nacht. Nachts, da schläft der menschliche Verstand, und die Dinge sind nur noch ganz einfach da. Alles, was wirklich wichtig ist, gewinnt wieder Gestalt, ersteht neu aus der zerstörenden Zergliederung des Tages. Der Mensch setzt seine Bruchstücke aneinander und wird wieder geruhsam, einem Baume gleich.

Der Tag gilt häuslichen Auseinandersetzungen, kommt aber die Nacht, dann mündet der Streit in die große Liebe ein. Denn die Liebe ist größer als all der Schwall von Worten. Und unter dem gestirnten Himmel lehnt sich der Mann ans Fenster, tritt wieder ein für seine schlafenden Kinder, sein Brot für morgen, sein schlummerndes Weib, das schwach, zart wie ein Hauch dort ruht. Um Liebe streitet sich niemand. Sie ist einfach da. Daß doch die Nacht käme und mir jene Klarheit brächte, die der Liebe würdig ist! Damit Gesittung, Menschenlos und Drang nach Liebe für mein Land mein Denken erfülle! Auf daß ich der Wahrheit dienen mag, die bezwingt, auch wenn sie noch nicht in Worte faßbar ist…

Nun bin ich ganz dem Christen gleich, den die Gnade verworfen hat. Wohl spiele ich mit Dutertre meine Rolle in Ehren — das versteht sich —, doch so, wie einer Riten achtet, die ihren Inhalt verloren haben, nachdem die Gottheit aus ihnen entwichen ist. Ich warte auf die Nacht. Wenn ich noch am Leben bleibe, werde ich mich ein wenig auf der Landstraße ergehen, die durch das Dorf führt. Meine geliebte Einsamkeit wird mich umfangen. Dann werde ich zu begreifen suchen, warum ich sterben soll.

2

Ich erwache aus meinem Traum. Der Kommandeur überrascht mich mit einem seltsamen Vorschlag:

»Wenn Ihnen dieser Auftrag lästig ist… Wenn Sie sich nicht in Form fühlen, dann kann ich …«

»Aber Herr Major!«

Der Kommandeur weiß sehr wohl, wie absurd ein solcher Vorschlag ist. Doch wenn die Besatzung vom Feindflug nicht zurückkehrt, fallen einem die ernsten Gesichter vor dem Abflug wieder ein. Dieser Ernst wird dann als Zeichen einer Vorahnung gedeutet. Man wirft sich vor, daß man nicht darauf geachtet habe.

Das Bedenken des Kommandeurs erinnert mich an Israel. Vorgestern rauchte ich am Fenster des Nachrichtenraumes. Als ich Israel vom Fenster aus gewahrte, hatte er es sehr eilig. Seine Nase war ganz rot, eine große, richtig jüdische, dabei feuerrote Nase. Diese rote Nase Israels fiel mir plötzlich auf.

Ich war diesem Israel, dessen Nase ich bemerkte, herzlich zugetan. Er war einer der schneidigsten Fliegerkameraden der Gruppe. Einer der schneidigsten und dabei einer der bescheidensten. Sie hatten ihm so oft von der jüdischen Vorsicht gesprochen, daß er seinen Schneid für Vorsicht halten mußte. Siegen heißt vorsichtig sein. Seine große rote Nase fiel mir also auf. Bei der Schnelligkeit, mit der Israel und seine Nase vorbeieilten, leuchtete sie nur einen kurzen Augenblick. Ganz im Ernst drehte ich mich nach Gavoille um:

»Wo hat er bloß so eine Nase her?«

»Die hat er von seiner Mutter«, antwortete Gavoille. Doch fuhr er fort:

»Ein verrückter Auftrag zum Tiefflug. Er startet.«

»Ach!«

Und abends, als wir es aufgaben, auf Israels Rückkehr zu warten, erinnerte ich mich noch ganz genau an diese Nase, die mitten in einem völlig bewegungslosen Gesicht ganz für sich allein in geradezu genialischer Weise das tiefste Nachdenken ausdrückte. Hätte ich den Befehl zum Abflug Israels zu geben gehabt, dann wäre mir das Bild dieser Nase noch lange wie ein Vorwurf nachgegangen. Sicherlich hatte Israel beim Startbefehl nichts weiter geantwortet als: »Jawohl, Herr Major. Gewiß, Herr Major. Verstanden, Herr Major.« Sicherlich hatte Israel mit keinem Muskel seines Gesichts gezuckt. Doch langsam, heimlich, verräterisch war die Nase angegangen. Seine Gesichtszüge konnte Israel beherrschen, doch nicht die Farbe seiner Nase. Das hatte die Nase denn auch wahrgenommen und manifestierte schweigend ganz für sich. Ohne daß Israel es merkte, hatte seine Nase dem Kommandeur ihre starke Mißbilligung ausgedrückt.

Aus diesem Grunde will der Kommandeur vielleicht keine Leute starten lassen, von denen er die Empfindung hat, sie fühlten sich von schlimmen Vorahnungen bedrückt. Zwar täuschen Vorahnungen fast immer, doch geben sie militärischen Befehlen einen Beigeschmack nach Verurteilung. Alias ist ein Chef, kein Richter.

So war es auch neulich mit Feldwebel T.

So mutig Israel war, so angstbesessen war T. Er ist der einzige Mann, den ich kennengelernt habe, der wirklich Furcht empfand. Ein militärischer Befehl, den T. erhielt, löste in ihm einen bizarren Schwindelanfall aus. Die Sache vollzog sich ganz einfach, unabänderlich und langsam. Nach und nach wurde T. von unten nach oben ganz steif. Aus seinem Gesicht war jeder Ausdruck wie weggewischt. Und seine Augen begannen zu glimmen.

Im Gegensatz zu Israel, an dem seine Nase mir so verdutzt, verdutzt und gleichzeitig über Israels möglichen Tod empört vorkam, zeigte T. keinerlei innere Bewegungen. Er reagierte überhaupt nicht, er sah aus wie ein Vogel in der Mauser. Hatte man mit T. zu Ende geredet, dann merkte man, daß man ganz einfach die Angst in ihm heraufbeschworen hatte. Ganz allmählich überzog die Angst glimmend sein ganzes Gesicht. Von da ab war T. wie unzugänglich. Man fühlte, wie sich zwischen dem All und ihm eine leere, öde Gleichgültigkeit ausbreitete. Nirgends sonst bei einem Menschen auf der ganzen Welt habe ich diese Form des Außersichseins kennengelernt.

»Ich hätte ihn damals einfach nicht starten lassen sollen«, sagte der Kommandeur hinterher.

Als der Kommandeur damals T. den Flugauftrag erteilte, war dieser nicht nur blaß geworden, sondern hatte sogar zu lächeln begonnen. Ganz einfach zu lächeln. Vielleicht handeln so die Gemarterten, wenn der Folterknecht sein Maß wirklich überschreitet.

»Sie fühlen sich nicht recht wohl. Ein anderer wird an Ihrer Stelle…«

»Nein, Herr Major. Ich bin an der Reihe, ich bin dran.« Und T. steht vor dem Kommandeur stramm und sieht ihm unbeweglich ins Gesicht.

»Wenn Sie sich aber nicht ganz in der Hand haben…«

»Ich bin an der Reihe, Herr Major, ich bin dran.«

»Aber so hören Sie doch, T. …«

»Herr Major…«

Der Mann war wie versteinert.

Und Alias schloß:

»Da hab ich ihn eben starten lassen.«

Was dann kam, hat sich nie ganz aufklären lassen. T., der als Bordschütze eingesetzt war, wurde von einem feindlichen Jäger angegriffen. Doch der Jäger bekam Ladehemmung und drehte ab. Der Flugzeugführer und T. unterhielten sich miteinander, bis sie in die Nähe ihres Landeplatzes kamen, ohne daß dem Flugzeugführer irgend etwas Ungewöhnliches auffiel. Doch fünf Minuten vor der Landung bekam er keine Antwort mehr.

Abends fand man T. auf. Sein Kopf war von der hinteren Stabilisierungsfläche des Flugzeuges gespalten worden. Er war unter den unglücklichsten Bedingungen bei voller Geschwindigkeit mit dem Fallschirm über eigenem Gebiet abgesprungen, als überhaupt keine Gefahr mehr drohte. Das Intermezzo mit dem Jäger hatte ihn unwiderstehlich angezogen.

»Machen Sie sich einsatzbereit«, sagte uns der Kommandeur, »und starten Sie um fünf Uhr dreißig.«

»Ich melde mich ab, Herr Major.«

Der Kommandeur antwortete mit einer vagen Geste. Ist es Aberglaube? Meine Zigarette ist ausgegangen, und da ich vergebens in meinen Taschen suche, sagt er: »Warum haben Sie denn nie Streichhölzer bei sich?« Stimmt. Und nach diesem Abschied gehe ich durch die Türe und frage mich dabei: »Warum habe ich denn nie Streichhölzer bei mir?«

»Der Auftrag paßt ihm gar nicht«, sagt Dutertre.

Ich denke: Es ist ihm ganz egal. Doch meine ich gar nicht Alias bei dieser grundlosen Übellaune. Zu meiner Bestürzung werde ich mir über etwas klar, was keiner zugeben will: Das Geistige lebt nur mit Unterbrechungen. Die Intelligenz allein lebt dauernd oder doch nahezu ständig. Meine Fähigkeiten im Zergliedern schwanken wenig. Der Geist dagegen betrachtet nicht die Dinge, sondern den Sinn, der sie miteinander verknüpft. Er liest das Gesicht durch und durch. Und eben der Geist wechselt von völliger Hellsicht zu völliger Blindheit. Für den, der sein Gut liebt, kommt die Stunde, da er in ihm nur noch wahllose Dinge angehäuft findet. Wer seine Frau liebt, für den kommt der Augenblick, da er in der Liebe nur noch Sorgen, Widrigkeiten, Zwang erkennt. Wer eine bestimmte Musik liebt, für den schlägt die Stunde, wo sie nicht mehr zu ihm findet. Kommt die Stunde, wie eben jetzt, wo ich mein Land nicht mehr verstehe. Eine Heimat ist nicht die Summe von Landschaften, Bräuchen, Dingen, die mein Verstand jederzeit zu erfassen vermag. Sie ist ein lebendiges Wesen. Es kommt die Stunde, wo ich entdecke, daß ich für lebendige Wesen blind bin.

Kommandeur Alias hat die Nacht beim General verbracht und über reine Logik diskutiert. Eine Logik aber zerrüttet das Leben des Geistes. Auf der Straße hat er sich dann in endlosen Verstopfungen erschöpft. Bei der Rückkehr zur Gruppe ist er auf hunderterlei äußerliche Schwierigkeiten gestoßen, die einem zusetzen, wie sich ein Bergrutsch tausendfältig auswirkt, der sich nicht aufhalten läßt. Schließlich hat er uns kommen lassen und uns in ein unmögliches Unternehmen geworfen. Wir sind weiter nichts als Objekte in dem allgemeinen Tohuwabohu. Für ihn sind wir nicht Saint-Exupéry oder Dutertre mit ihrer eigenen Gabe, die Dinge zu betrachten oder nicht zu betrachten, zu denken, zu marschieren, zu trinken und zu lachen. Wir sind Bruchstücke eines großen Baues, den in seinem Zusammenhalt zu erkennen mehr Zeit, mehr Schweigen und mehr Abstand erfordert. Hätte ich ein nervöses Zucken im Gesicht gehabt, würde Alias nur dieses Zucken erkennen. Er würde über Arras nur diese Vorstellung eines Gesichtszuckens schicken. In dem Gewirr der Probleme, die da auftauchen, in diesem Zusammenbruch zerfallen wir selbst in Einzelteile. Hier eine Stimme, da eine Nase, dort dieses Zucken. Und die Bruchstücke sind ohne Gefühl.

Es geht hier nicht um Kommandeur Alias, sondern um alle Menschen. Wenn wir einen Toten beerdigen, lieben wir ihn, doch mit dem Tod selbst haben wir keine Berührung. Der Tod ist etwas Großes. Er knüpft neue Bande mit den Ideen, Dingen, den Gewohnheiten des Toten. Er ordnet die Welt neu. Scheinbar hat sich nichts geändert, und doch ist alles anders geworden. Die Seiten des Buches sind wohl noch die gleichen, aber der Sinn des Buches fehlt. Um ein Verständnis für den Tod zu bekommen, müssen wir uns die Stunden vorstellen, wo wir des Toten bedürfen. Dann fehlt er uns. Müssen wir uns die Stunden vorstellen, da er uns gebraucht hätte. Aber er braucht uns nicht mehr. Müssen wir uns die Stunde eines Freundesbesuches vorstellen. Und wir finden sie inhaltslos. Wir müssen das Leben aus der Perspektive betrachten. Aber am Tag der Beerdigung sind Perspektive und Abstand dahin. Der Tote besteht nur noch aus Bruchstücken. Am Tage seiner Beerdigung finden wir keine rechte Zeit vor lauter Herumstehen, Händeschütteln bei wahren und falschen Freunden, äußerlichen Beschäftigungen. Erst morgen wird der Tote sterben, wenn es still geworden ist. Dann zeigt er sich in seiner Ganzheit und reißt sich erst völlig von unserem Wesen los. Dann schreien wir auf; denn dann erst geht er wirklich von uns, und wir können ihn nicht halten.

Ich mag die hergebrachten Bilder vom Kriege nicht leiden. Der rauhe Krieger unterdrückt auf ihnen eine Träne und verbirgt seine Erregung unter mürrischem Gebaren. Das ist falsch. Der rauhe Krieger verbirgt überhaupt nichts. Wenn er sich unwirsch benimmt, meint er es wirklich so.

Es geht nicht um den Wert des Menschen. Kommandeur Alias hat ein volles Verständnis. Kommen wir nicht wieder, wird er vielleicht mehr darunter leiden als irgendein anderer. Wofern es sich natürlich um uns selbst handelt und nicht um einen Wust von Kleinkram. Wofern er sich in der Stille alles zurechtlegen kann. Denn wenn heute nacht der Vollstreckungsbeamte, der hinter uns her ist, die Gruppe noch einmal zum Verlagern zwingt, kann ein Traktorrad, das nicht weiter will, in einer Lawine von Problemen unseren Tod auf später verschieben. Und Alias wird gar nicht dazu kommen, darunter zu leiden.

Auch ich, wenn ich jetzt starte, denke nicht im geringsten an die Auseinandersetzung des Westens mit dem Nazitum. Ich denke nur an das Nächstliegende. Ich denke an die Verrücktheit, in siebenhundert Meter Höhe über Arras zu fliegen. An die Sinnlosigkeit der Erkundungen, die man von uns fordert. An die lange Dauer des Umkleidens, das mir wie eine Toilette für den Henker vorkommt. Und dann an meine Handschuhe. Wo, zum Teufel, finde ich meine Handschuhe? Ich habe meine Handschuhe verloren.

Ich sehe die Kathedrale nicht mehr, in der ich wohne. Und kleide mich an für den Dienst eines toten Gottes.

3

»Eil dich … Wo sind meine Handschuhe? … Nein… Die sind es nicht… Such sie in meinem Gepäck…«

»Kann sie nicht finden, Herr Hauptmann.«

»Dummer Kerl.«

Sie sind lauter dumme Kerle. Der da, der meine Handschuhe nicht finden kann. Und der andere, der vom Stab, mit seiner fixen Idee von einem Befehl zum Tiefflug.

»Ich habe einen Bleistift von dir verlangt. Schon vor zehn Minuten habe ich einen Bleistift von dir verlangt… Hast du keinen Bleistift?«

»Doch, Herr Hauptmann.«

So intelligent ist der Kerl.

»Mach mir an diesen Bleistift eine Schnur. Und binde mir die Schnur hier an dieses Knopfloch… Na, Schütze, Sie sehen nicht so aus, als ob Sie es eilig hätten…«

»Ich bin bereits fertig, Herr Hauptmann.«

»Ah! So! Gut!«

Und der Beobachter, ich wende mich zu ihm:

»Wie steht es, Dutertre? Fehlt nichts? Haben Sie die Kurse berechnet?«

»Ich habe sie, Herr Hauptmann…«

Gut. Die Kurse hat er. Ein verzweifelter Auftrag… Nun frage ich Sie so nebenbei: Ist es vernünftig, eine Besatzung für Erkundungen zu opfern, die kein Mensch braucht, und die, wenn, wirklich einer von uns am Leben bleibt, sie zu überbringen, niemals jemandem weitergemeldet werden?…

»Sie müßten beim Stab schon Spiritisten einstellen …«

»Warum?«

»Damit wir ihnen ihre Auskünfte heute abend beim Tischrücken mitteilen.«

Ich bin nicht besonders stolz auf meine Witzelei, aber ich knurre weiter:

»Die vom Stab, die vom Stab! Sollen sie sie doch selber ausführen, die verzweifelten Aufträge, die vom Stab!«

Denn es dauert lange, das Zeremoniell des Umkleidens, wenn der Auftrag einem verzweifelt vorkommt und man sich so sorgfältig anschirrt, um sich lebendig braten zu lassen. Es ist anstrengend, so eine dreifache Kleidung übereinander anzuziehen, sich mit einer Menge Zusatzgeräten zu vermummen, die man wie ein Trödler mitschleppt, die Sauerstoff röhren, den Heizkreislauf, die Sprachrohre, um die Telefonverbindung zwischen den einzelnen Besatzungsmitgliedern herzustellen. Die Atmung hole ich mir aus dieser Maske. Ein Kautschukschlauch verbindet mich mit dem Flugzeug, er ist genauso wichtig wie die Nabelschnur. Das Flugzeug schaltet sich in meine Bluttemperatur ein. Das Flugzeug schaltet sich in meine menschlichen Verbindungen ein. Ich habe Organe hinzubekommen, die sich gewissermaßen zwischen mich und mein Herz einschalten. Von Minute zu Minute werde ich schwerer, überladener, schwerfälliger. Ich bewege mich wie ein Klotz, und wenn ich mich bücke, um Riemen zuzuschnallen oder Verschlüsse zu betätigen, die nicht gehen wollen, dann knacken alle meine Gelenke. Meine alten Knochenbrüche schmerzen mich.

»Gib mir eine andere Haube. Ich hab dir schon fünfhundertzwanzigmal gesagt, daß ich meine nicht mehr will. Sie sitzt zu stramm.«

Denn, weiß Gott aus welchem geheimnisvollen Grund quillt der Schädel in großer Höhe. Und eine auf dem Erdboden normalsitzende Haube preßt in zehntausend Meter Höhe die Knochen wie ein Schraubstock.

»Aber Ihre Haube ist ja eine andere, Herr Hauptmann. Ich habe sie ausgewechselt…«

»So! Gut!«

Denn ich bin richtig am Knurren, so ganz hemmungslos. Ich habe allen Grund dazu! Im übrigen ist das alles gar nicht so wichtig. Jetzt eben macht man so richtig dieses innere Grauen durch, von dem ich sprach. Man geht aus den Fugen. Ich schäme mich nicht einmal, das Wunder herbeizuwünschen, das den Ablauf dieses Nachmittags ändern kann. Das Versagen des Kehlkopf-Mikrophons zum Beispiel. Sie streiken ja ständig, die Kehlkopf-Mikrophone! Reiner Schund! Das könnte uns vor dem verzweifelten Auftrag retten, so ein Versagen des Kehlkopf-Mikrophons…

___________

Hauptmann Vezin spricht mich mit düsterer Miene an. Hauptmann Vezin spricht jeden von uns vor dem Abflug in besonderem Auftrag mit düsterer Miene an. Hauptmann Vezin kümmert sich bei uns auftragsgemäß um den Stand der feindlichen Fliegerbeobachtung. Seine Aufgabe besteht darin, uns über ihre Bewegungen zu unterrichten. Vezin ist ein Freund, den ich zärtlich liebe, aber ein Unglücksbote. Ungern bemerke ich ihn.

»Mein Lieber«, sagt Vezin zu mir, »es ist zu dumm, zu dumm, zu dumm.«

Und er holt Papiere aus seiner Tasche. Dann sieht er mich bedenklich an.

»Welchen Weg nimmst du?«

»Über Albert.«

»Stimmt schon. Stimmt schon. Ach, es ist zu dumm!«

»Sei nicht so blöd; was ist denn?«

»Du kannst nicht starten!«

Ich kann nicht starten!… Er ist wirklich gut, Vezin! Hoffentlich bekommt er vom lieben Gott ein Versagen des Kehlkopf-Mikrophons geschenkt!

»Du kommst unmöglich durch.«

»Warum soll ich nicht durchkommen?«

»Weil ständig über Albert drei deutsche Jagdmaschinen stehen, die sich ablösen. Eine in sechstausend, eine in siebentausendfünfhundert und eine in zehntausend Meter Höhe. Keine verläßt den Himmel, bevor ihr Ersatz da ist. Sie sperren von vornherein. Du stößt in ein Netz. Und dann, hier schau doch!…« Und er zeigt mir ein Papier, auf dem er unverständliche Erläuterungen skizziert hat.

Vezin ließe mich besser in Ruhe. Die Worte »sperren von vornherein« haben Eindruck auf mich gemacht. Ich denke an rote Lichter und an Polizeistrafen. Aber Polizeistrafe heißt hier Tod. Ich kann vor allem dieses »von vornherein« nicht ausstehen. Ich meine, das geht auf mich ganz persönlich.

Ich strenge meinen Verstand gehörig an. Natürlich verteidigt der Feind immer von vornherein seine Stellungen. Solche Redensarten sind der reine Quatsch… Und dann ist mir die Jägerei ganz egal. Wenn ich auf siebenhundert Meter heruntergehe, schießt mich die Flak ab. Sie kann mich nicht verfehlen. Ich werde plötzlich ausfallend:

»Also, kurz und gut, du kommst daher und teilst mir dringendst mit, daß das Bestehen einer deutschen Luftwaffe meinen Abflug sehr unüberlegt erscheinen läßt. Willst du das nicht schleunigst dem General melden?« Es hätte Vezin nicht schwerfallen können, mich auf nette Weise zu beruhigen, wenn er seine berühmten Flieger in Jäger umgetauft hätte, die »sich irgendwo bei Albert herumtreiben«.

Der Sinn war genau der gleiche!

4

Es ist alles so weit. Wir sind an Bord. Bleiben nur noch die Kehlkopf-Mikrophone auszuprobieren …

___________

»Verstehen Sie mich gut, Dutertre?«

»Verstehe Sie gut, Herr Hauptmann.«

»Und Sie, Schütze, verstehen Sie mich gut?«

»Ich… jawohl… sehr gut.«

»Dutertre, verstehen Sie ihn, den Schützen?«

»Ich verstehe ihn gut, Herr Hauptmann.«

»Schütze, verstehen Sie Herrn Oberleutnant Dutertre?«

»Ich… jawohl… sehr gut.«

»Warum sagen Sie immer: Ich … jawohl… sehr gut?«

»Ich suche meinen Bleistift, Herr Hauptmann.«

___________

Die Kehlkopf-Mikrophone sind nicht gestört.

___________

»Schütze, ist der Flaschendruck normal?«

»Ich… jawohl… normal.«

»In allen drei Flaschen?«

»In allen drei Flaschen.«

»Fertig, Dutertre?«

»Fertig.«

»Fertig, Schütze?«

»Fertig.«

»Also los.«

Und ich starte.

5

Die Angst rührt vom Verlust des eigentlichen Selbst her. Wenn ich einen Auftrag erwarte, von dem mein Glück oder meine Verzweiflung abhängt, werde ich wie ins Nichts geschleudert. Solange die Ungewißheit mich in der Schwebe hält, ist mein Empfinden und mein Verhalten nur eine behelfsmäßige Fassade. Die Zeit hört auf, Sekunde um Sekunde, wie sie einen Baum wachsen läßt, meine eigentliche Persönlichkeit aufzubauen, die mich in einer Stunde ausfüllen wird. Dieses unbekannte Ich kommt von außen her wie ein Gespenst auf mich zu. Deshalb empfinde ich ein Gefühl der Angst. Die üble Ankündigung an sich ruft keine Angst, nur Mißbehagen hervor. Das ist ganz etwas anderes.

Nun aber hat der Leerlauf der Zeit aufgehört. Endlich bin ich in mein Amt eingesetzt. Ich stürze mich nicht mehr in eine ausdruckslose Zukunft. Jetzt bin ich keiner mehr, der vielleicht in den wirbelnden Brand hineintrudelt. Die Zukunft verfolgt mich nicht mehr wie eine fremde Erscheinung. Meine Handlungen bilden sie, eine nach der andern. Ich bin’s, der den Kompaß kontrolliert und 313 Grad auf ihm einhält, der den Gang der Propeller und die Ölheizung regelt. Das sind unmittelbare, gesunde Sorgen. Das sind Sorgen um das Haus, die kleinen Pflichten des Tages, die einem die Lust nehmen, sich alt vorzukommen. Der Tag wird zu einem hellerleuchteten Heim, einem spiegelnden Armaturenbrett, einer guten Versorgung mit Sauerstoff. Ich kontrolliere tatsächlich die Sauerstoffabgabe; denn wir steigen schnell:

Sechstausendsiebenhundert Meter.

»Ist der Sauerstoff in Ordnung, Dutertre? Fühlen Sie sich wohl?«

»In Ordnung, Herr Hauptmann.«

»Hallo, Schütze, ist der Sauerstoff in Ordnung?«

»Ich … jawohl… in Ordnung, Herr Hauptmann.«

»Haben Sie Ihren Bleistift nicht gefunden?«

Ich bin’s auch, der auf den Knopf S und den Knopf A drückt, um meine Maschinengewehre zu überprüfen. Bei dieser Gelegenheit …

»Hallo, Schütze, haben Sie nicht gerade eine größere Stadt hinten in Ihrem Schußfeld?«

»Ha… nein, Herr Hauptmann.«

»Also los! Probieren Sie Ihre Maschinengewehre aus!«

Ich höre seine Stöße.

»Hat gut funktioniert?«

»Hat gut funktioniert.«

»Alle Maschinengewehre?«

»Ha… jawohl… alle.«

Nun schieße ich selber und frage mich dabei, wohin diese Kugeln gehen, die man bedenkenlos über Freundesland regnen läßt. Sie töten nie jemand. Die Erde ist groß.

So nährt mich jede Minute mit ihrem Inhalt. Ich bin ebensowenig ängstlich wie eine reifende Frucht. Sicherlich werden die Flugbedingungen sich um mich ändern. Die Bedingungen und die Probleme. Aber ich bin in den Werdegang dieser Zukunft eingeschaltet. Die Zeit knetet mich nach und nach zurecht. Das Kind hat keine Angst davor, auf Dauer zum Greise zu werden. Es ist Kind und spielt mit seinem Kinderspielzeug. Auch ich spiele. Ich zähle die Zeigerstellungen, die Griffe, die Knöpfe, die Hebel in meinem Reich. Ich zähle einhundertdrei Dinge zum Nachsehen, Ziehen oder Drücken. (Ich habe kaum geflunkert, wenn ich die Auslösung meiner Maschinengewehre doppelt zähle: sie trägt einen Sperrhebel.) Heute abend werde ich den Bauern verblüffen, bei dem ich wohne. Ich werde ihm sagen: »Wissen Sie auch, wieviel Instrumente ein Flieger heutzutage bedienen muß?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Das macht nichts. Sagen Sie eine Zahl.«

»Was für eine Zahl soll ich denn sagen?«

Denn mein Bauer hat keinerlei Verständnis.

»Sagen Sie irgendeine Zahl.«

»Sieben.«

»Einhundertunddrei.«

Das wird mir Spaß machen.

Es befriedigt mich aber auch, daß alle Instrumente, mit denen ich überladen war, ihren Platz und ihre Bedeutung bekommen haben. Dieses ganze Gewirr von Röhren und Kabeln ist zu einem Kreislaufsystem geworden. Ich bin ein Organismus, der sich zu einem Flugzeug ausgeweitet hat. Das Flugzeug schafft mir mein Wohlbefinden, wenn ich einen bestimmten Knopf drehe, der nach und nach meine Kleidung und meinen Sauerstoff aufwärmt. Der Sauerstoff ist übrigens überhitzt worden und verbrennt mir die Nase. Dieser Sauerstoff wird je nach der Höhe durch ein kompliziertes Instrument dosiert. Das Flugzeug nährt mich also. Es schien mir unmenschlich vor dem Flug, und jetzt, da ich an seiner Brust liege, empfinde ich für das Flugzeug eine Art kindlicher Zärtlichkeit. Eine Art säuglingshafter Zärtlichkeit. Mein Gewicht hat sich nunmehr auf Unterlagen verteilt. Meine dreifach dicken Kleider übereinander, mein schwerer Fallschirm am Rücken ruhen auf dem Sitz. Meine ungeheuren Fliegerpelzstiefel stützen sich auf die Fußsteuerung. Meine Hände mit den dicken steifen Handschuhen, die auf dem Erdboden so ungeschickt sind, betätigen das Höhensteuer mit Leichtigkeit… betätigen das Höh… betätigen das Höh…

»Dutertre!«

»… ptmann?«

»Prüfen Sie gleich Ihre Kontakte nach! Ich verstehe Sie nur stückweise. Verstehen Sie mich?«

»… stehe Sie … Haupt…«

»Schütteln Sie doch Ihren Klimbim! Verstehen Sie mich?«

Die Stimme Dutertres wird wieder deutlich:

»Verstehe Sie sehr wohl, Herr Hauptmann!«

»Gut. Na ja, heute frieren die Verbindungen also auch wieder ein. Das Höhensteuer geht schwer; das Fußsteuer ist blockiert!«

»Das wird ja lustig. Wie hoch?«

»Neuntausendsieben.«

»Wie kalt?«

»Achtundvierzig Grad. Und bei Ihnen, Sauerstoff in Ordnung?«

»In Ordnung, Herr Hauptmann.«

»Schütze, Sauerstoff in Ordnung?«

Keine Antwort.

»Schütze, Hallo!«

»Hören Sie den Schützen, Dutertre?«

»Höre nichts, Herr Hauptmann…«

»Rufen Sie ihn!«

»Schütze, hallo, Schütze!«

Keine Antwort.

Bevor ich jedoch tiefer gehe, schüttle ich mit aller Gewalt das Flugzeug, um den andern zu wecken, falls er schläft.

»Herr Hauptmann?«

»Sind Sie’s, Schütze?«

»Ich… ha… jawohl…«

»Sind Sie’s auch sicher?«

»Doch.«

»Warum gaben Sie keine Antwort?«

»Ich probierte das Radio aus. Ich hatte abgeschaltet!«

»Sie sind ein Ekel! Man sagt vorher Bescheid! Ums Haar wäre ich heruntergegangen: Ich hielt Sie für tot!«

»Ich… nein.«

»Ich glaub’s Ihnen aufs Wort. Reiten Sie mir diese blöde Tour nicht wieder. Geben Sie mir Bescheid, verdammt noch mal, bevor Sie abschalten!«

»Verzeihung, Herr Hauptmann. Zu Befehl, Herr Hauptmann. Gebe vorher Bescheid.«

Denn der Organismus spürt das Aussetzen des Sauerstoffs nicht. Es macht sich durch ein vages Wohlbefinden bemerkbar, das in einigen Sekunden zur Ohnmacht und in wenigen Minuten zum Tode führt. Die ständige Überprüfung der Sauerstoffzufuhr ist daher unbedingt erforderlich, wie auch die Kontrolle des Befindens seiner Besatzung durch den Flugzeugführer. Ich quetsche also ruckweise die Zuleitung meiner Maske etwas, um auf meiner Nase die warmen, lebenspendenden Gasstöße zu spüren.

___________

Jetzt bin ich in meinem Element. Ich empfinde nichts anderes als das physische Wohlbehagen sinnvoller Handlungen, die sich selbst genügen. Ich empfinde weder das Gefühl einer großen Gefahr (beim Umkleiden war ich ganz anders aufgeregt), noch das Gefühl einer großen Leistung. Der Kampf zwischen dem Westen und dem Nazitum wird diesmal nach der Reihenfolge meiner Handlungen zu einer Betätigung von Griffen, Hebeln und Hähnen. Es ist wirklich so. Die Liebe zu seinem Gott wird beim Küster zum liebevollen Kerzenanzünden. Der Küster geht abgemessenen Schritts in einer Kirche, die er nicht gewahr wird, und findet seine Befriedigung darin, der Reihe nach die Kandelaber aufflammen zu lassen. Wenn alle angesteckt sind, reibt er sich die Hände. Er ist stolz auf sich.

Und ich habe den Gang meiner Propeller wundervoll eingespielt und halte meinen Kurs auf den Grad genau. Das muß Dutertre bewundern, wenn er überhaupt ein wenig auf den Kompaß schaut…

»Dutertre … ist… der Kurs nach dem Kompaß … in Ordnung?«

»Nein, Herr Hauptmann. Kommen zu stark ab. Halten zu weit rechts.«

»Um so schlimmer.«

»Herr Hauptmann, wir passieren die Kampflinien. Ich beginne mit meinen Aufnahmen. Wie hoch nach Ihrem Höhenmesser?«

»Zehntausend.«

6

»Herr Hauptmann … Kompaß!«

Richtig: ich bin nach links abgewichen. Keineswegs aus Zufall … Die Stadt Albert treibt mich ab. Ich ahne sie in der Ferne vor mir. Doch sie bedrückt schon meinen Körper mit dem ganzen Gewicht des »von vornherein gesperrt«. Was für ein Gedächtnis steckt doch tief im Innern meiner Glieder! Mein Körper erinnert sich noch genau an die Abstürze, die er erlebt hat, die Schädelbrüche, die lähmenden Erschöpfungen und die Nächte im Lazarett. Mein Körper fürchtet die Schläge. Er sucht vor Albert auszuweichen. Wenn ich nicht auf ihn aufpasse, biegt er nach links aus. Er zieht nach links wie ein alter Gaul, der sein Leben lang einem Hindernis mißtraut, das ihn einmal geschreckt hat. Es ist einfach mein Körper … nicht mein Geist… Wenn ich nämlich zerstreut bin, nimmt der Körper heimlich die Gelegenheit wahr und drückt sich um Albert.

Denn ich empfinde nichts, was wirklich unangenehm wäre. Ich möchte meinen Auftrag nicht mehr verfehlen. Vorhin habe ich noch einen solchen Wunsch erwogen. Ich sagte mir: »Die Kehlkopf-Mikrophone werden nicht in Ordnung sein. Ich bin sehr müde. Ich gehe schlafen.« Von diesem bequemen Lager her baute ich mir ein herrliches Bild. Tief in mir wußte ich aber auch, daß man von einem aufgegebenen Auftrag nichts weiter zu erwarten hat als eine Art starkes Unbehagen. Als wenn eine notwendige Mauser fehlgeschlagen hätte.

Das erinnert mich an das Pennal… Als ich ein kleiner Junge war…

»… Hauptmann!«

»Was gibt’s!«

»Nein, nichts … Ich meinte bloß, ich sähe…«

Ich mag das nicht, was er zu sehen meinte.

Ja… So als kleiner Junge auf dem Gymnasium steht man frühzeitig auf. Morgens um sechs geht es heraus. Es ist kalt. Man reibt sich die Augen, und schon im voraus drückt einen die böse Grammatikstunde. Deshalb träumt man vom Krankwerden, um im Krankenhaus aufzuwachen, wo einem die Schwestern mit den weißen Flügelhauben gesüßten Tee ans Bett bringen. Tausend Trugbilder malt man sich von diesem Paradies aus. Ganz klar, wenn ich dann eine leichte Erkältung hatte, hustete ich etwas mehr als nötig. Und von der Krankenstube, in der ich aufwachte, hörte ich die Glocke für die andern schlagen. Wenn ich ein wenig zu stark gemogelt hatte, strafte mich diese Glocke ordentlich: sie verwandelte mich in ein Gespenst. Draußen schlug sie die eigentliche Zeit für die strengen Unterrichtsstunden, für das Tollen in den Pausen und die Wärme im Speiseraum. Für die Lebendigen draußen schuf sie eine dichte Existenz, reich an Elend, Ungeduld, Jubel und Kummer. Ich allein war dem entzogen, war vergessen, angeekelt von dem faden Teegebräu, dem feuchten Bett und den ausdruckslosen Stunden.

Es kommt nichts dabei heraus, wenn man sich um einen erhaltenen Auftrag drücken will.

7

Ja, zuweilen, wie eben heute, kann einen ein Auftrag nicht befriedigen. Wir treiben da offensichtlich ein Spiel, das den Krieg nachahmt. Wir spielen Räuber und Gendarm. Wir richten uns genau nach der Sittenlehre unserer Geschichtswerke und den Regeln unserer Handbücher. So bin ich heute nacht im Wagen über den Flugplatz gefahren. Und die Wache hat vorschriftsmäßig vor dem Wagen die Ehrenbezeigung gemacht, der auch ein Panzer hätte sein können! Zum Spiel machen wir vor Panzern unsere Ehrenbezeigung.

Warum sollten wir mit diesem etwas grausamen Spiel wichtig tun, bei dem wir so offensichtlich eine Statistenrolle spielen, wenn man von uns verlangt, daß wir sie bis zum Tode durchführen? Er ist doch zu ernst, der Tod, für eine Spielerei.

Wer würde sich beim Umkleiden wichtig Vorkommen? Niemand. Selbst Hochedé, eine Art Heiliger, der diesen Zustand einer ständigen Gnade, zweifellos die Vollendung des Menschen, erreicht hat, selbst Hochedé hüllt sich in Schweigen. Die Kameraden, die sich umkleiden, schweigen also mürrisch und durchaus nicht als schamhafte Helden. Dieses mürrische Wesen verdeckt keinerlei Wichtigtuerei. Es gibt sich, wie es ist. Und ich erkenne es. Es ist das verdrießliche Wesen eines Geschäftsführers, der nichts von den Anweisungen versteht, die ihm sein abwesender Chef aufgegeben hat. Und der sie doch treu befolgt. Alle Kameraden träumen von ihrem ruhigen Zimmer, und doch ist unter ihnen kein einziger bei uns, der wirklich schlafen gehen möchte!

Denn das Wesentliche ist nicht, daß man sich wichtig vorkommt. Bei der Niederlage besteht keine Hoffnung, sich wichtig zu machen. Wichtig ist, daß man sich umkleidet, an Bord geht und startet. Was man selbst darüber denkt, ist völlig unwichtig. Und das Kind, das sich im Gedenken an die Grammatikstunde etwas einbildete, käme mir wie anmaßend und verdächtig vor. Wichtig ist, daß man sich auf ein Ziel hinbewegt, das sich vorläufig noch nicht zeigt. Dieses Ziel gilt nicht dem Verstand, sondern dem Geist. Der Geist versteht sich aufs Lieben, aber er schläft. Worin die Versuchung besteht, weiß ich ebensogut wie ein Kirchenvater. Versucht werden heißt sich versuchen lassen, wenn der Geist schläft, heißt den Gründen des Verstandes nachgeben.

Was nützt es, wenn ich mein Leben in diesem Bergrutsch einsetze? Ich weiß es nicht. Hundertmal hat man mir wiederholt: »Lassen Sie sich da- oder dorthin abkommandieren! Dort ist Ihr Platz. Dort können Sie nützlicher sein als im Geschwader. Flugzeugführer lassen sich zu Tausenden ausbilden…« Der Beweis war überzeugend. Alle Beweise sind überzeugend. Mein Verstand sagte ja, aber mein Instinkt war stärker als der Verstand.

Warum kam mir diese Überlegung so sinnlos vor, wo ich doch nichts dagegen einzuwenden hatte? Ich sagte mir: »Die Intellektuellen halten sich in Reserve wie Marmeladentöpfe auf den Regalen der Propaganda, um nach dem Krieg aufgegessen zu werden.« Das war keine Antwort.

Auch heute wieder bin ich wie alle Kameraden gegen alle Überlegungen, alle Wahrscheinlichkeiten, alle augenblicklichen Hemmungen gestartet. Die Stunde wird schon noch kommen, wo ich weiß, daß ich gegen meinen Verstand recht behielt. Wenn ich am Leben bleibe, habe ich mir jene nächtliche Wanderung durch mein Dorf versprochen. Dann werde ich mich vielleicht selbst zurechtfinden. Und sehen.

Vielleicht werde ich nichts über das zu sagen haben, was ich dann sehe. Wenn eine Frau mir schön vorkommt, kann ich nicht über sie sprechen. Ich sehe sie ganz einfach lächeln. Die Intellektuellen zerlegen das Gesicht, um es aus seinen Teilen zu erklären, aber das Lächeln sehen sie nicht mehr.

Erkennen heißt nicht zerlegen, auch nicht erklären. Es heißt, Zugang zur Schau finden. Aber um zu schauen, muß man erst teilnehmen. Das ist eine harte Lehre…

Den ganzen Tag habe ich mein Dorf nicht geschaut. Vor meinem Auftrag waren es Lehmwände und mehr oder weniger schmutzige Bauern. Jetzt ist es ein bißchen Kies zehn Kilometer unter mir. Das ist mein Dorf.

Doch heute nacht vielleicht wird ein Hofhund wach werden und anschlagen. Ich habe immer den Zauber eines Dorfes genossen, das im Laut eines einzigen Wachhundes vernehmbar in der klaren Nacht dahinträumt.

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Ich habe keine Hoffnung, mich verständlich zu machen, es ist mir auch völlig gleichgültig. Wenn mir doch einfach mit seinen über den Kornlagern, dem Vieh und dem Tageslauf geschlossenen Türen mein zum Schlafen wohlgeordnetes Dorf erschiene! Heimgekehrt vom Feld haben die Bauern ihr Mahl abgetragen, die Kinder schlafen gelegt, die Lampe ausgeblasen und gehen in sein Schweigen ein. Dann ist nichts weiter unter dem schönen steifen Bauernlinnen als das langsame Gehen des Atems wie ein Überbleibsel des Seegangs nach dem Sturm auf dem Meer.

Gott versagt uns, den Reichtum zu nutzen, solange die nächtliche Abrechnung dauert. Das aufgespeicherte Erbe wird mir deutlicher werden, wenn die Menschen ruhen und dabei die Hände öffnen im Spiel des unabwendbaren Schlafs, der die Finger bis zum Tagesanbruch entspannt.

Dann schaue ich vielleicht das Namenlose. Dann werde ich wie ein Blinder gegangen sein, den seine Handflächen zum Feuer geleitet haben. Er könnte es nicht beschreiben, und doch hat er es gefunden. So zeigt sich vielleicht dann, was es zu schützen gilt, was unsichtbar ist und doch dauert gleich der Glut unter der Asche der dörflichen Nächte.

Ich hatte nichts von dem verfehlten Auftrag zu hoffen. Um ein einfaches Dorf zu verstehen, muß man erst…

»Herr Hauptmann!«

»Ja?«

»Sechs Jäger, sechs, vorne links!«

Das hat wie ein Donnerschlag geklungen! Muß man … muß man… Und doch möchte ich vorerst was dafür haben. Ich möchte erst mein Recht auf Liebe geltend machen. Ich möchte gern wissen, für wen ich eigentlich sterbe…

8

»Schütze!«

»Herr Hauptmann?«

»Haben Sie verstanden? Sechs Jäger, sechs, vorne links!«

»Verstanden, Herr Hauptmann!«

»Dutertre, haben sie uns gesehen?«

»Haben uns gesehen. Schwenken auf uns ein. Sind fünfhundert Meter über ihnen.«

»Schütze, haben Sie verstanden? Sind fünfhundert Meter über ihnen. Dutertre! Noch weit weg?«

»… einige Sekunden.«

»Schütze, haben Sie verstanden? Sind in einigen Sekunden hinter uns.«

Da, ich sehe sie! Winzig. Ein Schwarm giftiger Wespen.

»Schütze! Sie kommen unten durch. Sichten sie in einer Sekunde. Da!«

»Ich… ich sehe nichts. Ja! Ich sehe sie!«

Ich selbst sehe sie nicht mehr.

»Machen sie Jagd auf uns?«

»Sie machen Jagd auf uns.«

»Steigen sie schnell?«

»Ich weiß nicht… ich glaube nicht… nein!«

»Was entscheiden Sie, Herr Hauptmann?«

Dutertre hat eben gesprochen.

»Was soll ich entscheiden?«

Alles schweigt.

Da ist nichts zu entscheiden. Das geht Gott allein an. Wenn ich vom Kurs abwiche, würde ich den Zwischenraum verringern, der uns trennt. Da wir direkt auf die Sonne zusteuern und man in großer Höhe keine fünfhundert Meter steigt, ohne einige Kilometer vom Wild abzukommen, kann es sein, daß sie uns in der Sonne verloren haben, bevor sie unsere Höhe erreichen und ihre Geschwindigkeit wieder auf nehmen können.

»Schütze, immer noch?«

»Immer noch.«

»Bekommen wir Vorsprung?«

»Ah… nein… doch!«

Das geht Gott und die Sonne an.

In Voraussicht eines etwaigen Kampfes (wenn auch eine Jagdstaffel eher meuchelt als kämpft) stemme ich mich mit aller Gewalt gegen mein vereistes Fußsteuer und suche es zu lockern. Ich bekomme ein sonderbares Empfinden, ich habe aber die Jäger noch vor Augen. Und ich wuchte mit meinem ganzen Gewicht auf die blockierten Hebel.

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Wieder einmal merke ich, daß ich bei dieser Aktion, die mich doch zu einem sinnlosen Abwarten nötigt, tatsächlich sehr viel weniger erregt bin, als ich es vorhin beim Umkleiden war. Auch empfinde ich eine Art Wut. Eine wohltuende Wut.

Aber keine trunkene Opferbegeisterung. Lieber möchte ich beißen.

»Schütze, geben Sie’s ihnen?«

»Geb’s ihnen schon, Herr Hauptmann.«

»In Ordnung.«

»Dutertre… Dutertre…«

»Herr Hauptmann?«

»Nein… nichts.«

»Was war denn, Herr Hauptmann?«

»Oh! Nichts … ich meinte bloß … nichts.«

Ich sage ihnen nichts davon. Ich spiele ihnen damit keinen Streich. Wenn ich abzutrudeln beginne, merken sie es schon. Sie werden es schon merken, daß ich zu trudeln beginne…

Es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ich vor Schweiß triefe bei fünfzig Grad Kälte. Das ist nicht normal. Aha, eben habe ich begriffen, was los ist: Ganz allmählich verliere ich das Bewußtsein. Ganz allmählich…

Ich sehe das Armaturenbrett. Ich sehe das Armaturenbrett nicht mehr. Meine Hände schlafen am Steuer ein. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft zum Sprechen. Ich lasse mich gehen. Sich einfach so gehen lassen…

Ich habe die Kautschukleitung geklemmt. Ich habe in die Nase den belebenden Gasstoß bekommen. Es liegt also nicht am Versagen des Sauerstoffs. Es liegt… Ach ja, natürlich. Ich war auch zu dumm. Es liegt am Fußsteuer. Ich habe mich gegen mein Fußsteuer wie ein Trimmer, ein Kutscher gebärdet. In zehntausend Meter Höhe habe ich mich wie ein Schaubudenkämpfer aufgeführt. Mein Sauerstoff war aber bemessen. Ich sollte sparsam mit ihm umgehen. Nun büße ich die Orgie…

Ich atme in raschen Zügen. Mein Herz schlägt schnell, sehr schnell. Es ist wie ein schwaches Ticken. Ich sage meiner Besatzung nichts. Wenn ich zu trudeln beginne, werden sie es schon früh genug merken! Ich sehe das Armaturenbrett… Ich sehe das Armaturenbrett nicht mehr… Und ich fühle mich abgespannt in meinem Schweiß.

Ganz langsam bin ich wieder zum Leben zurückgekehrt.

»Dutertre!…«

»Herr Hauptmann?«

Am liebsten hätte ich ihm anvertraut, was eben passiert ist.

»Es … kam… mir … so … vor …«

Doch ich gebe es auf, mich zu erklären. Die Worte verbrauchen zuviel Sauerstoff, und meine paar Worte haben mich schon außer Atem gebracht. Ich bin ein schwacher, ein ganz schwacher Rekonvaleszent…

»Was war denn, Herr Hauptmann?«

»Nein … nichts …«

»Herr Hauptmann, Sie sind wahrhaftig ein Rätsel!«

Ich bin ein Rätsel, aber ich bin am Leben.

»Haben … haben uns … nicht erwischt…«

»O! Herr Hauptmann! Es geht erst los!«

Es geht erst los! Wir haben noch Arras.

___________

So habe ich einige Minuten lang gemeint, ich komme nicht mehr zu mir, und doch habe ich in mir nicht diese heiße Angst beobachtet, die einem angeblich die Haare bleicht. Und da fällt mir Sagon ein. Der Bericht Sagons, den wir einige Tage nach dem Luftkampf besuchten, der ihn vor nunmehr zwei Monaten auf französischem Gebiet herunterholte. Was hatte Sagon empfunden, als die Jäger ihn umstellt, ihn gewissermaßen an seinen Marterpfahl genagelt hatten und er sich in den nächsten zehn Sekunden für erledigt gehalten hatte?

9

Ich sehe ihn genau vor mir in seinem Krankenhausbett liegen. Beim Absprung mit dem Fallschirm ist Sagon am Leitwerk des Flugzeuges hängengeblieben und hat sein Knie gebrochen, doch hat er den Anprall nicht gespürt. Sein Gesicht und seine Hände sind ziemlich schwer verbrannt, aber alles in allem hat er nichts Besorgniserregendes abbekommen. Er erzählt uns langsam, mit gleichgültiger Stimme seine Geschichte wie einen dienstlichen Bericht.

»… Ich merkte, daß sie auf mich schossen, als ich mich von Leuchtspuren umgeben sah. Mein Armaturenbrett ist zersplittert worden. Dann habe ich ein wenig Rauch bemerkt, oh, gar nicht viel! Er schien von vorn zu kommen. Ich habe gedacht, es ist… Sie wissen doch, da ist so ein Verbindungsrohr… Oh, es brannte nicht stark…«

Sagon verzieht sein Gesicht. Er überlegt. Er hält es für wichtig, uns zu sagen, ob es stark oder nicht stark brannte. Er zögert:

»Immerhin… es brannte… Da habe ich ihnen gesagt, sie sollten abspringen…«

Denn das Feuer verwandelt das Flugzeug binnen zehn Sekunden in eine Fackel!

»Dann habe ich meine Absprungluke geöffnet. Es war verkehrt. Das hat Zugluft gebracht… das Feuer… Ich ärgerte mich.«

Die Feuerung einer Lokomotive spuckt Ihnen ein Flammenmeer in den Bauch bei siebentausend Meter Höhe, und Sie werden ärgerlich. Ich verrate Sagon nicht, wenn ich seinen Heldenmut oder seine Scham hervorhebe. Er würde weder diesen Heldenmut, noch diese Scham zugeben. Er würde sagen: »Doch, doch! Ich ärgerte mich…« Er bemüht sich übrigens sichtlich, genau zu sein.

Und ich weiß wohl, daß der Bereich des Bewußtseins äußerst beschränkt ist. Es übernimmt nur ein Problem auf einmal. Wenn Sie mitten im Boxkampf ganz in Anspruch genommen sind von der Taktik des Kampfes, spüren Sie den Schmerz der Faustschläge nicht. Als ich während eines Unfalls mit einem Wasserflugzeug fast zu ertrinken drohte, kam mir das eisige Wasser lauwarm vor. Oder genauer gesagt, mein Bewußtsein hat die Wassertemperatur nicht beachtet. Es war anderweitig beschäftigt. Die Wassertemperatur hat in meinem Gedächtnis gar keine Spur hinterlassen. So war das Bewußtsein Sagons von der Technik des Absprungs in Anspruch genommen. Die Welt Sagons beschränkte sich auf die Kurbel, die die Luke betätigt, auf einen bestimmten Griff am Fallschirm, dessen Lage ihn beschäftigte, und auf das technische Verhalten seiner Besatzung. »Sind Sie abgesprungen?« Keine Antwort. »Keiner mehr an Bord?« Keine Antwort.

»Ich habe gemeint, ich bin allein. Ich habe gemeint, ich kann aussteigen … (Gesicht und Hände waren ihm bereits versengt.) Ich habe mich erhoben, bin über die Bordwand aus der Führerkanzel herausgeklettert und habe mich zunächst auf der Tragfläche gehalten. Nachdem ich einmal da war, habe ich mich nach vorn gebückt: Ich habe den Beobachter nicht gesehen…« Der Beobachter, vom Jägerbeschuß auf der Stelle getötet, lag auf dem Boden der Zelle.

»Dann bin ich nach hinten gegangen und habe den Bordschützen nicht gesehn…«

Der Schütze war ebenfalls zusammengebrochen.

»Ich habe gemeint, ich bin allein …«

Er dachte nach:

»Wenn ich gewußt hätte… hätte ich wieder an Bord steigen können … es brannte gar nicht so heftig … Ich bin lange so auf der Tragfläche geblieben… Vor dem Verlassen der Kanzel hatte ich die Maschine angezogen. Der Flug war in Ordnung, der Luftzug erträglich, und ich fühlte mich ganz wohl. Oh ja, ich bin lange auf der Tragfläche geblieben … Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte…«

Nicht, daß Sagon sich unlösbare Probleme gestellt hätte! Er glaubte sich allein an Bord, das Flugzeug brannte, und die Jäger flogen immer wieder vorbei und beharkten ihn mit ihren Geschossen. Sagon wollte uns nur bedeuten, daß er keinen besonderen Wunsch hegte. Er empfand überhaupt nichts. Er war völlig Herr seiner Zeit. Er fühlte sich gewissermaßen von einem unendlichen Wohlbehagen durchdrungen. Und Punkt für Punkt erkannte ich dieses außergewöhnliche Empfinden wieder, das manchmal dem Tod unmittelbar vorausgeht: Ein unerwartetes Wohlbehagen … Wie wird doch dieses Bild vom atemberaubenden Absturz durch die Wirklichkeit Lügen gestraft! Sagon blieb dort auf seiner Tragfläche, wie ausgestoßen von der Zeit!

»Und dann bin ich abgesprungen, ich bin schlecht abgekommen. Ich habe mich wirbeln sehen. Ich habe gefürchtet, wenn ich ihn zu früh öffnete, möchte ich mich in meinen Fallschirm verwickeln. Ich wartete, bis ich ausgerichtet war. Oh, ich habe lange gewartet…«

So behält Sagon in seiner Erinnerung, daß er von Anfang bis zu Ende seines Abenteuers gewartet hat. Gewartet, bis es stärker brannte. Dann auf der Tragfläche auf irgend etwas gewartet. Und im freien Absprung jäh in die Tiefe zum Erdboden wiederum gewartet.

Das war so richtig Sagon, vielleicht sogar ein Überrest von Sagon, gewöhnlicher als sonst, ein etwas betretener Sagon, der gelangweilt und verdrossen sich in die Tiefe gleiten ließ.

10

Nun baden wir schon zwei Stunden lang in einem Luftdruck, der nur ein Drittel des normalen beträgt. Langsam wird die Besatzung mürbe. Wir sprechen kaum miteinander. Noch ein- oder zweimal habe ich vorsichtig auf mein Fußsteuer einzuwirken versucht. Jedesmal kam dasselbe Gefühl einer wohligen Ermüdung über mich.

Wegen der Kurven, die das Photographieren erforderte, sagt mir Dutertre schon lange im voraus Bescheid. Ich versuche mit dem, was mir an Beweglichkeit bleibt, fertigzuwerden, so gut ich kann. Ich drücke die Maschine und ziehe sie hoch. Und führe für Dutertre Kurven in zwanzig Stufen aus.

»Wie hoch?«

»Zehntausendzweihundert.«

Wieder denke ich an Sagon … Mensch bleibt immer Mensch. Wir sind eben Menschen. Und in mir bin ich immer nur mir selber begegnet. Sagon weiß nur von Sagon. Wer stirbt, stirbt so, wie er war. Im Tod eines gewöhnlichen Bergmanns stirbt ein gewöhnlicher Bergmann. Wo findet man jenen aufgestörten Wahnsinn, den die Literaten erfinden, um uns zu verblüffen?

In Spanien habe ich gesehen, wie ein Mann nach tagelanger Arbeit aus dem Keller eines durch eine Luftmine völlig zerstörten Hauses hervorkroch. Schweigend, und wie mir schien, völlig verängstigt umstand die Menge den Mann, der, wie aus dem Jenseits zurückgekehrt, noch ganz von Schutt bedeckt war und halb irrsinnig vor Luftmangel und Hunger beinahe einem Gespenst glich. Als einige ihn zu fragen getrauten und er den Fragen nur eine lässige Aufmerksamkeit widmete, schlug die Ängstlichkeit der Menge in Ärger um.

Man fing es ungeschickt mit ihm an; denn die eigentlichen Fragen wußte keiner zu stellen. Man sagte ihm: »Was für eine Empfindung hatten Sie? … Was dachten Sie?… Was taten Sie?…« Aufs Geratewohl warf man so Brücken über einen Abgrund, als gälte es nach Möglichkeiten der Verständigung zu suchen, um bei Nacht einen blinden Taubstummen zu erreichen, dem man gerne helfen möchte.

Doch als der Mann uns antworten konnte, erwiderte er:

»Ach ja, ich hörte lange klopfen…«

Oder auch…

»Ich habe mir viele Sorgen gemacht. Es war lang… Ach, es war sehr lang…«

Oder auch…

»Ich hatte Schmerzen im Kreuz, üble Schmerzen …«

Und dieser brave Mann sprach uns nur vom braven Mann. Vor allem sprach er von seiner Uhr, die er verloren hatte…

»Ich habe sie gesucht… ich hing sehr an ihr… aber in der Dunkelheit…«

Und sicherlich hatte ihm das Leben die Empfindung für das Verstreichen der Zeit oder die Liebe zu vertrauten Gegenständen beigebracht. Und er bediente sich des Menschen, der er war, um seiner Umwelt bewußt zu werden, wenn es auch eine Welt des Zusammenbruchs im Dunkeln war. Und auf die grundlegende Frage, die keiner ihm zu stellen wußte, die aber allen Versuchen vorschwebte: »Wer waren Sie? Wer kam in Ihnen zum Durchbruch?« hätte er nicht anders antworten können als: »Ich selbst…«

Keine Begebenheit erweckt in uns einen Fremdling, von dem wir nichts geahnt hätten. Leben heißt langsam geboren werden. Es wäre auch zu bequem, wenn man sich fix und fertige Seelen besorgen könnte!

Eine plötzliche Erleuchtung scheint manchmal ein Schicksal anders zu wenden. Doch die Erleuchtung ist nichts anderes, als daß man im Geiste plötzlich einen sich langsam vorbereitenden Weg visionär erkennt. Ich habe langsam die Grammatik gelernt. In der Syntax bin ich gedrillt worden. Mein Empfinden wurde geweckt. Und plötzlich greift mir ein Gedicht ans Herz.

Gewiß empfinde ich augenblicklich keine Liebe, wenn mir jedoch heute abend etwas offenbar wird, dann rührt es daher, daß ich gewichtig Stein um Stein für den noch nicht geschauten Bau zusammengetragen habe. Ich bereite ein Fest vor. Ich werde nicht von einer plötzlichen Erscheinung in mir sprechen dürfen, von einem anderen als ich selbst; denn jenes andere Ich baue ich selbst auf.

Ich habe vom Abenteuer des Krieges nichts zu erwarten als eben diese langsame Vorbereitung. Sie trägt später ihre Früchte wie die Grammatik…

Das ganze Leben ist in uns abgestumpft wegen dieses langsamen Mürbewerdens. Wir altern. Der Flugauftrag mit. Was kostet die große Höhe? Ist eine Stunde, in zehntausend Metern durchlebt, eine Woche, drei Wochen, einen Monat organisches Leben, Betätigung von Herz, Lungen und Adern wert? Das ist mir übrigens ziemlich gleichgültig. Meine halben Ohnmachten haben mir Jahrhunderte hinzubeschert: Ich durchtränke mich mit einer greisenhaften Heiterkeit. Die Aufregungen des Umkleidens kommen mir wie unendlich fern in der Vergangenheit verloren vor. Arras unendlich fern in der Zukunft. Das kriegerische Abenteuer? Wo ist ein kriegerisches Abenteuer?

Vor zehn Minuten wäre ich ums Haar weggewesen und weiß nichts zu berichten als diesen Vorbeiflug winziger Wespen, die ich drei Sekunden zu sehen bekam. Das eigentliche Abenteuer hätte eine Zehntelsekunde gedauert. Und bei uns kommt keiner wieder, kommt nie einer zurück, es zu sagen.

»Ein wenig Fußsteuer nach links, Herr Hauptmann.« Dutertre hat vergessen, daß mein Fußsteuer festgefroren ist. Ich träume gerade von einem Kupferstich, der mir in meiner Jugend einen tiefen Eindruck gemacht hat. Man sah da vor einem Polarlicht im Hintergrund einen seltsamen Friedhof regloser Wracks in der Südsee. Im ersterbenden Licht einer Art ewiger Dämmerung öffneten sie kristallene Arme. In einer Toten-Atmosphäre spannten sie noch Segel aus, die vom Winde gebläht blieben, wie ein Bett den Abdruck einer zarten Schulter bewahrt. Doch fühlte man, wie starr und brüchig sie waren.

Hier ist alles vereist. Meine Schaltungen sind vereist. Meine Maschinengewehre sind vereist. Und als ich den Bordschützen nach den seinen fragte: »Was machen Ihre Maschinengewehre …«

»Nichts zu machen.«

»Ah, gut.«

In das Abluftrohr meiner Maske spucke ich Eisnadeln. Von Zeit zu Zeit muß ich durch den weichen Kautschukschlauch den Reifpfropfen zerdrücken, der mich erstickt. Wenn ich drücke, spüre ich ihn in der Hand knirschen.

»Schütze, Sauerstoff in Ordnung?«

»In Ordnung …«

»Flaschendruck?«

»Ha… siebzig.«

»Ah, gut.«

Auch die Zeit ist für uns eingefroren. Wir sind drei alte weißbärtige Männer. Nichts rührt sich. Nichts drängt. Nichts peinigt.

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Das kriegerische Abenteuer? Kommandant Alias hat eines Tages gemeint, er müsse mir sagen:

»Versuchen Sie achtzugeben!«

Worauf denn achtgeben, Kommandant Alias? Die Jäger kommen über einen wie der Blitz. Die Jagdstaffel, fünfzehnhundert Meter höher, nimmt sich ruhig Zeit, nachdem sie einen unter sich entdeckt hat. Sie schwenkt ein, ordnet und verteilt sich. Sie selbst haben noch keine Ahnung davon. Sie sind die Maus, die der Schatten des Raubvogels umkreist. Ahnungslos lebt die Maus weiter. Noch hüpft sie im Korn umher. Doch schon hat die Netzhaut des Habichts sie eingefangen, sie haftet fester auf dieser Netzhaut als auf Vogelleim; denn der Habicht läßt sie nicht mehr los.

Und auch Sie steuern, träumen, beobachten weiter den Erdboden, dabei hat schon ein kaum merklicher dunkler Eindruck Ihr Urteil gesprochen, der sich auf einer menschlichen Netzhaut gebildet hat.

Die neun Flugzeuge der Jagdstaffel werden senkrecht herunterstoßen, wenn es ihnen paßt. Sie haben gemächlich Zeit. Mit neunhundert Stundenkilometern werden sie dann ihren herrlichen Fangstoß versetzen, der seine Beute nie verfehlt. Ein Bombengeschwader hat eine Abwehrkraft, die Aussichten zur Verteidigung bietet, aber die Besatzung eines Aufklärers, einsam am kalten Himmel, wird nie mit zweiundsiebzig Maschinengewehren fertig, die sich im übrigen nicht anders als durch die Leuchtgarbe ihrer Geschosse zeigen.

Im selben Augenblick, wo Sie merken, daß es zum Kampf kommt, hat der Jäger sein Gift auch schon schlagartig verspritzt, wie die Kobra das tut, und zieht harmlos und unerreichbar wieder hoch. Genauso wiegen sich die Kobras, schleudern ihre Blitze und schlängeln sich weiter.

Wenn so die Gruppe verschwunden ist, hat sich noch nichts geändert. Nicht einmal die Gesichter haben sich geändert. Jetzt ändern sie sich erst, nachdem der Himmel leer ist und wieder Friede herrscht. Schon ist der Jäger nur noch ein unparteiischer Zeuge, wenn am Kopf des Beobachters aus der durchschlagenen Ader der erste Blutschwall aufquillt, wenn von der Haube des rechten Motors zögernd das erste Schmiedeflämmchen züngelt. So hat sich die Kobra schon wieder zusammengerollt, wenn das Gift ins Herz dringt und der erste Muskel im Gesicht sich zusammenkrampft. Die Jagdstaffel tötet nicht, sie sät den Tod. Er geht erst auf, wenn sie vorüber ist.

Worauf denn achten, Major Alias? Als wir die Jäger kreuzten, habe ich nichts zu entscheiden gehabt. Es hätte sein können, daß ich sie überhaupt nicht gesehen hätte. Wenn sie über uns gewesen wären, hätte ich sie gar nicht wahrgenommen! Worauf denn achten? Der Himmel ist leer.

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Die Erde ist leer.

Der Mensch existiert nicht mehr, wenn man aus zehn Kilometer Entfernung beobachtet. Das Tun des Menschen ist in diesem Maßstab nicht mehr erkennbar. Unsere langbrennweitigen Aufnahmeapparate dienen uns hier als Mikroskop. Man braucht das Mikroskop, nicht um den Menschen — er entschlüpft auch noch diesem Instrument —, wohl aber um die Zeichen seiner Gegenwart, die Straßen, Kanäle, Kolonnen, Transportkähne zu erfassen. Der Mensch impft einen Objektträger fürs Mikroskop. Ich bin ein eisgrauer Gelehrter, und ihr Krieg ist für mich nur noch ein Experiment im Laboratorium.

»Schießen sie, Dutertre?«

»Ich glaube, sie schießen.«

Dutertre weiß es nicht. Die Geschosse krepieren zu weit ab und die Rauchwölkchen zerlaufen mit dem Erdboden. Sie können nicht die Absicht haben, uns durch ein so ungenaues Schießen herunterzuholen. Wir sind in zehntausend Meter Höhe praktisch unverwundbar. Sie schießen. Sie schießen, um unsere Lage festzuhalten und vielleicht die Jäger auf uns zu lenken. Eine Jagd, die sich im Himmel verliert wie ein unsichtbares Stäubchen.

Die am Boden erkennen uns wegen der blendend weißen Schärpe, die ein hochfliegendes Flugzeug wie einen Brautschleier hinter sich herzieht. Die Erschütterung beim Durchgang des Flugkörpers bringt den Wasserdampf der Atmosphäre zum Kristallisieren. Und wir spulen hinter uns eine Zirruswolke von Eisnadeln ab. Bei günstigen äußeren Bedingungen für Wolkenbildung verdichtet sich diese Spur langsam und wird dann zur Abendwolke über der Landschaft.

Die Jäger werden auf uns gelenkt durch das Bordradio, durch die Pakete von Explosionswolken und dann durch den prahlerischen Luxus unserer weißen Schärpe. — Indessen treiben wir in einer nahezu sternenhaften Leere.

Wir fliegen, wie ich wohl weiß, mit fünfhundertdreißig Stundenkilometern … Und doch ist alles unbeweglich geworden. Die Schnelligkeit zeigt sich auf einer Rennbahn. Doch hier taucht alles in den weiten Raum. So macht die Erde trotz ihrer zweiundvierzig Kilometer in der Sekunde langsam ihren Umlauf um die Sonne. Sie braucht ein Jahr dazu. Auch wir werden vielleicht langsam bei dieser Betätigung der Gravitation erfaßt. Die Dichte des Luftkrieges? Staubkörnchen in einem Dom! Als Staubkörnchen ziehen wir vielleicht einige Dutzend oder Hundert Stäubchen an. Und wie von einem Teppich geschüttelt steigt dieser ganze Staub langsam zur Sonne hoch.

Worauf denn achten, Major Alias? Senkrecht unter mir sehe ich nur Spielzeug aus einer andern Zeit unter einer klaren reglosen Kristallglocke. Ich beuge mich über Schaukästen im Museum. Doch schon zeigen sie sich im Gegenlicht. Ganz in der Ferne vor uns liegen zweifellos Dünkirchen und das Meer. Doch schräg kann ich nicht viel erkennen. Die Sonne steht nun schon zu tief, und ich überfliege eine große spiegelnde Fläche.

»Können Sie durch diese Schweinerei etwas erkennen, Dutertre?«

»Senkrecht schon, Herr Hauptmann…«

»Hallo, Schütze, nichts Neues von den Jägern?«

»Nichts Neues …«

In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, ob wir noch verfolgt werden oder nicht und ob man vom Boden aus sieht, wie wir einen ganzen Schwarm von Marienfäden gleich unsern eigenen hinter uns herziehen.

»Marienfäden«, das bringt mich zum Träumen. Ein Bild steigt in mir auf, das mich begeistert: »… unnahbar wie eine wunderschöne Frau verfolgen wir unsere Bestimmung und, langsam unser Gewand mit seiner Schleppe von Eissternen nachziehend…«

»Geben Sie etwas Fußsteuer nach links!«

So sieht die Wirklichkeit aus. Doch ich kehre zu meiner rührseligen Poesie zurück:

»… lockt jetzt unsere Kurve einen ganzen Himmel schmachtender Anbeter an …«

Fußsteuer nach links … Fußsteuer nach links …

Erst muß man können!

Die wunderschöne Frau verpaßt ihre Wendung.

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»Wenn Sie singen… werden Sie die Augen auf sich lenken … Herr Hauptmann.«

Habe ich denn gesungen?

Übrigens nimmt mir Dutertre alle Lust zu leichter Musik:

»Ich bin mit den Aufnahmen beinahe fertig. Sie können bald in Richtung Arras heruntergehen.« Ich kann… ich kann… Gewiß! Man muß die Gelegenheit wahrnehmen.

Da! Die Gashebel sind auch festgefroren…

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Und ich sage mir:

»Diese Woche ist nur jede dritte Erkundung vom Feindflug zurückgekommen. Das Gefahrenmoment ist also sehr groß. Wenn wir aber zu denen zählen, die zurückkehren, werden wir nichts zu berichten haben. Früher habe ich Abenteuer erlebt: Die Einrichtung von Postlinien, die Überwindung der Sahara, Südamerika …, aber der Krieg ist kein richtiges Abenteuer, er ist nur Abenteuerersatz. Das Abenteuer beruht auf dem Reichtum der Beziehungen, die es anknüpft, der Probleme, die es stellt, der Schöpfungen, die es hervorruft. Man kann ein einfaches Spiel ›Wappen oder Adler‹ keineswegs in ein richtiges Abenteuer verwandeln, indem man es um Tod und Leben gehen läßt. Der Krieg ist kein Abenteuer. Der Krieg ist eine Krankheit. Wie der Typhus.«

Vielleicht verstehe ich später einmal, daß mein einziges echtes Kriegsabenteuer in meinem Zimmer in Orconte stattgefunden hat.

11

Ich wohnte in Orconte, einem Dorf in der Gegend von Saint-Dizier, wo meine Gruppe den sehr strengen Winter 1939 über lag, in einem Bauernhaus aus Lehmfachwerk. Da fiel nachts die Temperatur so tief, daß sie das Wasser in meinem ländlichen Topf in Eis verwandelte, und meine erste Handlung vor dem Ankleiden bestand einfach darin, Feuer zu machen. Doch diese Handlung erforderte, daß ich das Bett verließ, in dem ich midi warm fühlte und mich wohlig zusammenrollte.

Nichts schien mir herrlicher als dieses einfache Feldbett in dieser leeren, eiskalten Stube. In ihm genoß ich die Seligkeit der Ruhe nach anstrengenden Tagen. In ihm genoß ich auch die Sicherheit. Nichts drohte mir in ihm. Tagsüber war mein Körper den Anforderungen des Höhenklimas und pfeifenden Geschossen ausgesetzt. Tagsüber konnte sich mein Körper in ein Schmerzenslager verwandeln und wahllos zerrissen werden. Tagsüber gehörte mein Körper nicht mir. Mir nicht mehr. Man konnte ihm Glieder abnehmen, ihm Blut abzapfen. Denn das ist auch eine Kriegserscheinung, daß dieser Körper zu einer Rumpelkammer von Requisiten geworden ist, die einem selbst nicht mehr gehören. Der Vollstreckungsbeamte kommt und verlangt die Augen. Und Sie überlassen ihm Ihr Sehvermögen. Der Vollstreckungsbeamte kommt und verlangt die Beine. Und Sie überlassen ihm Ihr Gehvermögen. Der Vollstreckungsbeamte kommt mit seiner Fackel und verlangt von Ihnen die ganze Gesichtshaut. Und Sie sind nur noch ein Ungeheuer, haben Sie ihm doch als Lösegeld Ihre Fähigkeit hingegeben, zu lächeln und den Menschen Freundschaft zu bezeigen. Nun war dieser Körper, der sich eben noch am Tag als mein Feind erwiesen und mir weh tut, dieser Körper, der nichts wie Jammer erzeugen konnte, wieder mein Freund, lag, gefügig und brüderlich, fein zusammengerollt unter der Decke in seinem Halbschlummer und ließ mich nichts anderes spüren als seine Lebenslust, sein wohliges Schnarchen. Aber ich mußte ihn doch aus dem Bett herausbringen, ihn mit dem eiskalten Wasser abwaschen, rasieren und anziehen, um ihn standesgemäß den Granatsplittern hinzuhalten. Und dieses Verlassen des Bettes war, als risse ich mich aus den Armen der Mutter, aus dem mütterlichen Schoß, aus allem, was in den Jahren der Kindheit einen kindlichen Körper zärtlich liebt, streichelt und umhegt.

Nachdem ich so meinen Entschluß lange erwogen hatte, reiflich überlegt, immer wieder hinausgeschoben hatte, biß ich die Zähne zusammen und sprang mit einem Satz zum Kamin, wo ich einen Holzstoß umwarf und mit Benzin übergoß. Sowie ich ihn dann angesteckt hatte und ein zweites Mal glücklich durch die Stube gesaust war, vergrub ich mich von neuem in meinem Bett, in dem ich meine herrliche Wärme wiederfand, und von dem aus ich, in Decken und Überbett bis aufs linke Auge vergraben, mein Feuerchen beobachtete. Zunächst kam es noch gar nicht recht in Gang, dann aber gab es ein kurzes Aufflackern, das bis zur Decke strahlte. Dann begann es sich darin einzunisten wie ein Fest, das in Gang kommt. Es fing an zu knistern, zu fauchen, zu singen. Es war lustig wie eine Bauernhochzeit auf dem Dorf, wenn die Menge anfängt zu trinken, warm zu werden und sich in die Seiten zu stoßen.

Oder aber es kam mir so vor, als würde ich von meinem üppigen Feuer wie von einem rührigen, treuen und flinken Schäferhund bewacht, der seine Sache gut verstand. Wenn ich es so betrachtete, empfand ich ein inneres Jubeln. Und wenn das Fest im schönsten Gange war mit seinen Schatten, die an der Decke tanzten, und seiner goldig-warmen Musik, und sich an den Seiten schon die Glut aufbaute, wenn meine Stube ganz erfüllt war von jenem geheimnisvollen Rauch- und Harzgeruch, dann wechselte ich mit einem Satz von einem Freund zum andern, ich lief von meinem Bett zu meinem Feuer, ich ging zu dem freigebigeren, und ich weiß nicht recht, briet ich mir an ihm den Bauch oder erwärmte ich mir an ihm das Herz. Zwischen zwei Versuchungen hatte ich kraftlos der stärkeren, der glänzenderen, jener nachgegeben, die mit ihrer Fanfare und ihren Blitzen sich besser aufs Werben verstand.

So hatte ich dreimal, erst um mein Feuer anzustecken, dann mich wieder hinzulegen und schließlich um die Flammenglut auszukosten, dreimal mit klappernden Zähnen die leeren und vereisten Steppen meine Stube durchmessen und so etwas von Polarexpeditionen kennengelernt. Ich hatte die Wüste durchquert zu einer glücklichen Rast hin und war dafür belohnt worden durch dieses üppige Feuer, das vor mir, für mich seinen Schäferhundtanz tanzte.

Diese Geschichte sieht nach nichts aus. Und doch war das ein großes Abenteuer. Meine Stube zeigte mir zum Greifen deutlich, was ich nie hätte entdecken können, wenn ich diesen Bauernhof eines Tages als Sommerfrischler besucht haben würde. Sie hätte mir nur ihre nichtssagende Leere mit ihrer dürftigen Einrichtung von Bett, Wassertopf und schlechtem Kamin gewiesen. Ich hätte mich in ihr einige Minuten gelangweilt. Wie hätte ich eins vom andern, ihre drei Bezirke, ihre drei Zivilisationen, Schlaf, Feuer und Wüste unterscheiden können? Wie hätte ich das Abenteuer des Körpers vorausahnen können, erst ein Kinderleib, der gehegt und beschützt an der Mutterbrust liegt, dann ein zum Leiden geschaffener Soldatenleib, schließlich der Leib eines Mannes, den Freuden über die Errungenschaft des Feuers erfüllen, diesen Leitstern der Menschheit. Das Feuer ehrt den Gast und ehrt seine Kameraden. Wenn sie ihren Freund besuchen, nehmen sie teil an seinem Fest, ziehen ihren Stuhl an den seinen heran, plaudern mit ihm über die Geschehnisse des Tages, die Sorgen und Mühen, reiben sich die Hände, stopfen die Pfeife und sagen: »Immerhin, so ein Feuerchen, das macht doch Spaß!« Aber jetzt brennt kein Feuer mehr, das mich an Zärtlichkeiten glauben ließe. Keine eisige Stube mehr, die mich an Abenteuer erinnern könnte. Ich erwache aus meinem Traum. Nur noch eine absolute Leere umgibt mich. Nur noch grenzenloses Altern. Nur noch eine Stimme spricht zu mir, Dutertre, der sich in seinen aussichtslosen Wunsch versteift:

»Etwas Fußsteuer nach links, Herr Hauptmann…«

12

Ich versehe gewissenhaft meinen Dienst. Das hindert nicht, daß ich eine Besatzung der Niederlage bin. Ich wate in der Niederlage. Die Niederlage sickert überall durch, und ich halte ihr Zeichen in meiner Hand.

Die Gashebel sind durch die Kälte blockiert. Ich bin dazu verdammt, Vollgas zu fliegen. Dabei stellen mich meine beiden Eisenbügel vor unlösliche Probleme.

Auf der Maschine, die ich steuere, ist die Drehzahl meiner Propeller viel zu niedrig begrenzt. Ich kann nicht verlangen, wenn ich mit Vollgas heruntergehe, daß ich dann eine Geschwindigkeit von nahezu achthundert Stundenkilometern und eine Überbeanspruchung meiner Motoren vermeide. Nun hat aber die Überbeanspruchung eines Motors Bruchgefahr zur Folge.

Notfalls könnte ich die Verbindungen unterbrechen. Ich würde mir so aber eine endgültige Störung aufzwingen. Diese Störung würde den Fehlschlag meines Auftrags und womöglich den Verlust des Flugzeuges nach sich ziehen. Nicht jedes Gelände ist zur Landung eines Flugzeuges geeignet, das mit hundertachtzig Stundenkilometern Geschwindigkeit auf den Boden aufsetzt.

Es ist also wesentlich, daß ich die Hebel frei bekomme. Nach einem ersten Versuch komme ich mit dem linken zurecht. Aber der rechte sitzt weiterhin fest.

Nun könnte ich mein Heruntergehen mit erträglicher Geschwindigkeit ausführen, wenn ich wenigstens den Motor zurücknähme, den ich bereits regulieren kann, nämlich den linken Motor. Wenn ich aber den linken Motor droßle, muß ich den seitlichen Zug des rechten Motors ausgleichen, der offensichtlich das Bestreben hat, das Flugzeug nach links zu drücken. Ich muß diesem Drall begegnen. Nun ist aber das Fußsteuer, das diese Bewegung betätigt, völlig festgefroren. Ein Ausgleich ist mir nicht möglich. Wenn ich den linken Motor droßle, komme ich ins Trudeln.

Es bleibt mir gar nichts weiter übrig, als das Risiko auf mich zu nehmen und während des Heruntergehens die theoretische Vorbedingung für Bruch zu überschreiten. Dreitausendfünfhundert Umdrehungen heißt Bruchgefahr.

Das Ganze ist verrückt. Nichts klappt. Unsere Welt besteht aus Rädern, die nicht ineinandergreifen. Das liegt nicht am Material, es liegt am Uhrmacher. Der Uhrmacher fehlt.

Nach neun Monaten Krieg haben wir es noch nicht fertiggebracht, in der Herstellung, auf die es ankommt, die Maschinengewehre und die Schaltungen dem Höhenklima anzupassen. Und dabei stoßen wir uns nicht an der Sorglosigkeit der Menschen. Die Menschen sind meist anständig und gewissenhaft. Ihre Tätigkeit ist fast immer eine Wirkung und nicht eine Ursache ihrer Unzulänglichkeit.

Diese Unzulänglichkeit lastet auf uns allen wie ein Verhängnis. Sie lastet auf dem Infanteristen, der gegenüber Panzern mit Bajonetten bewaffnet ist. Sie lastet auf den Flugzeugbesatzungen, die gegen eine zehnfache Übermacht kämpfen. Sie lastet gerade auf jenen, deren Aufgabe es sein sollte, Maschinengewehre und Schaltungen umzubauen.

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Wir leben im blinden Bauch einer Verwaltung. Eine Verwaltung ist eine Maschine. Je vollendeter eine Verwaltung ist, desto mehr schließt sie die menschliche Willkür aus. In einer vollkommenen Verwaltung, bei der der Mensch die Rolle eines Triebwerks spielt, haben Nachlässigkeit, Unehrlichkeit und Unkorrektheit keine Gelegenheit mehr, sich auszuwirken.

Doch wie die Maschine dafür gebaut ist, eine Folge von Bewegungen auszuführen, die ein für allemal vorgesehen sind, so besitzt auch die Verwaltung keinerlei schöpferische Kraft. Sie lenkt. Sie hat eine bestimmte Strafe für einen bestimmten Fehler, eine bestimmte Lösung für ein bestimmtes Problem bei der Hand. Eine Verwaltung ist nicht dazu ausersehen, neue Probleme zu lösen. Wenn man in eine Hohlpresse Holzstücke einführt, kommen keine Möbel heraus. Damit die Maschine sich darauf einstellt, müßte ein Mensch über das Recht verfügen, sie völlig umzustellen. Doch in einer Verwaltung, die dazu erdacht ist, die Nachteile menschlicher Willkür auszuschalten, erlaubt das Triebwerk den Eingriff des Menschen nicht. Es weist den Uhrmacher zurück.

Seit November gehöre ich der Gruppe 2/33 an. Gleich bei meiner Ankunft haben mich meine Kameraden darauf aufmerksam gemacht:

»Du wirst über Deutschland herumspazieren ohne Maschinengewehre und ohne Schaltungen.«

Und dann zum Trost:

»Beruhige dich. Das schadet dir weiter nichts. Die Jäger schießen dich auf alle Fälle ab, bevor du sie bemerkt hast.«

Sechs Monate später, im Mai, frieren die Maschinengewehre und die Schaltungen immer noch ein.

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Ich denke an einen Spruch, der so alt ist wie meine Heimat: »Wenn in Frankreich alles verloren scheint, wird Frankreich durch ein Wunder gerettet.« Ich habe begriffen, weshalb. Es ist manchmal vorgekommen, daß ein Unglück die schöne Verwaltungsmaschine außer Gebrauch gesetzt hat, und da sie sich nicht mehr instand setzen ließ, hat man sie in Ermangelung von etwas Besserem durch einfache Menschen ersetzt. Und die Menschen haben alles gerettet.

Wenn eine Bombe das Luftfahrtministerium in Schutt und Asche legt, holt man eilends einen Unteroffizier her und sagt zu ihm:

»Sie haben den Auftrag, die Schaltungen frostsicher zu machen. Sie haben sämtliche Vollmachten. Sehen Sie zu, wie Sie fertig werden. Wenn sie aber in vierzehn Tagen noch vereisen, werden Sie eingesperrt.«

Vielleicht werden die Schaltungen dann frostsicher.

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Ich kenne hundert Beispiele für diesen Mißstand. Die Requirierungs-Kommissionen eines Departements im Norden z. B. haben trächtige Färsen requiriert und so die Schlächtereien in Friedhöfe für Embryonen verwandelt. Kein Rad der Maschine, kein Oberst im Requisitionsamt war befugt, anders denn als Rad zu handeln. Sie gehorchten alle einem andern Rad wie in einem Uhrwerk. Jede Auflehnung war nutzlos. Nachdem diese Maschine einmal angefangen hatte, verkehrt zu arbeiten, ließ sie sich ohne weiteres auch dazu gebrauchen, trächtige Färsen abzuschlachten. Vielleicht war dies ein geringeres Übel. Wenn sie noch ernstlicher irrgelaufen wäre, hätte sie anfangen können, Obersten abzuschlachten.

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Ich fühle mich bis ins Mark durch diesen allgemeinen Verfall entmutigt. Da es mir jedoch nutzlos erscheint, in kurzem einen meiner Motoren zum Ausfallen zu bringen, drücke ich den linken Hebel von neuem. In meinem Mißmut übertreibe ich die Anstrengung. Dann gebe ich es auf. Diese Bemühung hat meinem Herzen einen neuen Stich versetzt. Der Mensch ist entschieden nicht dazu geschaffen, in zehntausend Meter Höhe Körperkultur zu treiben. Dieser Stich ist ein dumpfer Schmerz, eine Art seltsam geweckten örtlichen Bewußtseins im Dunkel der Organe.

Die Motoren mögen in die Brüche gehen, wenn es ihnen paßt. Mich bekümmert das nicht. Ich schnappe nach Luft. Es kommt mir so vor, als ob ich keine Luft mehr bekäme, wenn ich mich ablenken ließe. Die Blasebälge von früher fallen mir ein, mit denen man das Feuer anfachte. Ich fache mein Feuer wieder an. Ich möchte es gern wieder zum Angehen bringen.

Was habe ich unwiderruflich verdorben? In zehntausend Metern kann eine etwas gewalttätige körperliche Anstrengung die Herzmuskulatur zum Reißen bringen. Es ist gebrechlich, so ein Herz. Es soll lange halten. Es ist verrückt, es für so grobe Arbeiten aufs Spiel zu setzen. Geradesogut könnte man Diamanten verbrennen, um einen Apfel zu braten.

13

Es ist, als ob man alle Dörfer Nordfrankreichs in Brand steckte, ohne durch ihre Zerstörung den deutschen Vormarsch auch nur einen halben Tag aufzuhalten. Und doch sehe ich jetzt diese vielen, vielen Dörfer, diese alten Kirchen, diese alten Häuser und ihre ganze Fracht an Erinnerungen, ihre schönen, gewachsten Nußbaumdielen und ihre schöne Wäsche in den Schränken und die Spitzenvorhänge an ihren Fenstern, die bis heute unversehrt in Gebrauch gewesen waren — ich sehe das alles von Dünkirchen bis zum Elsaß in Flammen aufgehen.

In Flammen aufgehen ist ein großes Wort, wenn man aus zehntausend Meter Entfernung beobachtet; denn über den Dörfern wie über den Wäldern steht nur eine unbewegliche Rauchfahne, eine Art weißlicher Reif. Das Feuer ist nur ein heimliches Zehren. Im Maßstab von zehntausend Metern ist die Zeit wie stehengeblieben, da es keine Bewegung mehr gibt. Da sind keine knisternden Flammen, keine krachenden Balken, keine schwarzen Rauchschwaden. Nichts als diese graue, gelbrot umsäumte, geronnene Milch.

Wird man diesen Wald, dieses Dorf wieder heilen? Das Feuer frißt sich wie eine Krankheit langsam weiter.

Auch hier ist vieles zu sagen. »Wir werden keine Dörfer sparen«, habe ich reden hören. Und das Wort war notwendig. Im Gang eines Krieges ist ein Dorf kein Sammelbecken von Erinnerungen. In den Händen des Feindes ist es nur noch ein Nest voller Ratten. Alles ändert seinen Sinn. So umgaben manche dreihundert Jahre alten Bäumen Ihren alten Familiensitz. Aber sie stören das Schußfeld eines zweiundzwanzigjährigen Oberleutnants. Er kommandiert also ein Dutzend Leute ab und vernichtet bei Ihnen daheim das Werk der Zeit. Für eine Handlung von zehn Minuten verbraucht er dreihundert Jahre Geduld und Sonne, dreihundert Jahre Heimatgefühl und erstes Liebeswerben im schattenden Park. Sie rufen ihn an: »Das sind meine Bäume!«

Er hört Sie nicht. Er führt Krieg. Er hat recht.

Nun aber verbrennt man die Dörfer, nur um Krieg zu spielen, genau wie man Parks vernichtet und Besatzungen opfert, und wie man Infanterie gegen Panzer einsetzt. Und es wird einem schauderhaft übel dabei. Denn alles ist nutzlos.

Der Feind hat seine Chance erkannt und nutzt sie aus. In der Unendlichkeit des Landes nehmen die Menschen nur wenig Platz ein. Hundert Millionen Mann würden benötigt, um eine zusammenhängende Mauer aufzurichten. Zwischen den Truppen sind daher Lücken. Diese Lücken werden grundsätzlich durch die Beweglichkeit der Truppen wettgemacht, aber vom Standpunkt eines Panzers aus gesehen ist eine schwach motorisierte Gegenarmee wie unbeweglich. Die Lücken werden zu wirklichen Öffnungen. Daher diese einfache taktische Anwendungsregel: »Die Panzerdivision soll wie Wasser verfahren. Sie soll schwach auf die Wand des Gegners drücken und nur da vorgehen, wo sie keinem Widerstand begegnet.« So drücken die Panzer gegen die Wand. Es finden sich immer Löcher. Sie kommen immer durch. Diese Panzerschwärme nun, die sich unbehindert bewegen, da keine Panzer vorhanden sind, die man ihnen entgegenwerfen könnte, ziehen nicht wieder gutzumachende Folgen nach sich, wenn sie auch nur vermeintlich oberflächliche Zerstörungen vollziehen (die Gefangennahme von örtlichen Stäben etwa, Unterbrechung von Fernsprechlinien oder die Vernichtung von Dörfern). Sie haben die Rolle von chemischen Katalysatoren gespielt, die zwar nicht den Organismus, wohl aber die Nerven und die Ganglien zerstören würden. Auf dem Gebiet, durch das sie blitzartig gefegt sind, hat jede Armee, selbst wenn sie so gut wie intakt erscheint, den Charakter einer Armee verloren. Sie hat sich in unabhängige Klumpen verwandelt. Dort, wo ein Organismus bestand, findet sich nur noch eine Summe von Einzelorganen, deren Verbindungen abgerissen sind. Zwischen den einzelnen Klumpen — so kampflustig die einzelnen Männer auch sein mögen — rückt der Feind dann nach Belieben vor. Eine Armee verliert ihre Stoßkraft, wenn sie nur noch aus einer Summe von Soldaten besteht. Fehlendes Material läßt sich nicht in vierzehn Tagen herstellen. Auch nicht… der Rüstungswettlauf konnte gar nicht anders als vernichtend ablaufen. Wir waren vierzig Millionen Bauern gegen achtzig Millionen Fabrikarbeiter!

Wir stehen dem Feind eins zu drei gegenüber. Ein Flugzeug gegen zehn oder zwanzig, und seit Dünkirchen ein Panzer gegen hundert. Wir haben keine Zeit, gemächlich über die Vergangenheit nachzudenken. Wir erleben die Gegenwart. Die Gegenwart ist so. Kein Opfer, jemals, irgendwo, ist imstande, den deutschen Vormarsch aufzuhalten.

Auch herrscht von oben bis unten in der zivilen und militärischen Hierarchie, vom kleinen Angestellten bis zum Minister, vom einfachen Soldaten bis zum General eine Art schlechtes Gewissen, das sich nicht aussprechen kann und mag. Das Opfer verliert jede Größe, wenn es nur noch zur Farce oder zum Selbstmord wird. Es ist schön, sich aufzuopfern: Einige sterben, damit die andern gerettet werden. Man nimmt mit seinem Feuer am allgemeinen Brand teil. Man kämpft im verschanzten Lager bis zum Tod, um den Rettern Zeit zu geben. Gewiß, aber man mag tun, was man will, das Feuer greift überall um sich. Da ist kein Lager, in dem man sich verschanzen könnte. Da ist keine Hoffnung auf Retter. Und sie, für die man kämpft, für die man zu kämpfen behauptet, es sieht so aus, als ob man ganz einfach ihren Mord herausfordert; … denn das Flugzeug, das die Städte im Rücken der Truppen zermalmt, hat den Krieg verwandelt.

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Ich höre schon, wie Ausländer später Frankreich ein paar Brücken vorhalten werden, die nicht gesprengt wurden, ein paar Dörfer, die nicht verbrannt, und Menschen, die nicht gefallen sind. Doch das Gegenteil, das genaue Gegenteil davon beeindruckt mich so stark: nämlich unser ungeheuer guter Wille, Augen und Ohren zu verschließen. Eben unser verzweifelter Kampf wider das, was klar zutage liegt. Obwohl alles völlig zwecklos ist, sprengen wir dennoch die Brücken in die Luft, um die Spielregeln zu wahren. Wir verbrennen richtige Dörfer, um die Spielregeln zu wahren. Um die Spielregeln zu wahren, sterben unsere Männer.

Gewiß werden einzelne vergessen! Brücken werden vergessen, Dörfer werden vergessen, Menschen bleiben am Leben. Aber das Drama dieser Auflösung liegt darin, daß sie den Handlungen jede Sinngebung nimmt. Wer eine Brücke sprengt, kann sie nur mit Widerwillen sprengen. Der betreffende Soldat hält den Feind nicht auf. Er schafft eine zerstörte Brücke. Er schädigt sein Land, um daraus eine herrliche Karikatur vom Kriege zu bilden.

Damit eine Handlung mit innerer Überzeugung geschieht, muß ihr Sinn offenbar werden. Es ist schön, Ernten zu verbrennen, die den Feind unter ihrer Asche begraben. Aber gestützt auf seine hundertsechzig Divisionen pfeift der Feind auf unsere Brände und unsere Toten.

Die Bedeutung vom Brand des Dorfes muß der Bedeutung des Dorfes die Waage halten. Aber das verbrannte Dorf spielt nur noch ein Zerrbild von einer Rolle.

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Die Bedeutung des Todes muß dem Tod die Waage halten. Schlagen die Männer sich gut oder schlecht? Selbst diese Frage verliert ihren Sinn! Man weiß, daß die Verteidigung eines Fleckens theoretisch drei Stunden dauert! Und doch haben die Männer den Befehl, dort durchzuhalten. Ohne Verteidigungsmittel verlangen sie selbst vom Feind die Zerstörung des Dorfes, damit den Spielregeln des Krieges genügt wird. Wie der liebenswürdige Gegner im Schachspiel: »Du hast vergessen, diesen Bauern zu nehmen.«

Man fordert also den Feind heraus:

»Wir sind die Verteidiger dieses Dorfes. Ihr seid die Angreifer. Also los!«

Die Sache ist abgemacht. Durch einen Druck mit dem Stiefelabsatz zerschmettert eine Fliegergruppe das Dorf.

»Bravo! Gut gespielt!«

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Sicherlich gibt es untätige Menschen, aber die Untätigkeit ist eine abgeschwächte Form der Verzweiflung. Sicherlich gibt es auch fliehende Menschen. Kommandeur Alias selbst hat zwei oder dreimal trübselige Absprengsel, die sich auf den Straßen fanden und seinen Fragen ausweichend antworteten, mit seinem Revolver bedroht. Man hat solche Lust, den Verantwortlichen eines Unglücks zu fassen und dadurch, daß man ihn ausschaltet, alles zu retten. Die flüchtenden Menschen sind für die Flucht verantwortlich; denn ohne flüchtende Menschen gäbe es keine Flucht. Wenn man also seinen Revolver zückt, kommt alles in Ordnung … Aber das heißt soviel wie Kranke beerdigen, um die Krankheit zu unterdrücken. Zu guter Letzt steckte Kommandeur Alias seinen Revolver wieder in die Tasche; denn plötzlich kam ihm dieser Revolver in seinen eigenen Augen allzu pompös vor, wie ein Operettensäbel. Alias merkte wohl, daß diese armseligen Soldaten Folgen und nicht Ursachen des Unglücks waren.

Alias weiß wohl, daß diese Männer dieselben, genau dieselben sind, die sonstwo auch heute noch zu sterben bereit sind. Hundertfünfzigtausend sind dazu in den letzten vierzehn Tagen bereit gewesen. Es gibt aber Starrköpfe, die verlangen, daß man ihnen einen guten Grund dafür angibt.

Es ist schwierig, ihn in Worte zu kleiden.

Der Läufer ist im Begriff, im entscheidenden Rennen um die Wette mit Läufern seiner Klasse anzutreten. Er merkt aber schon beim Start, daß er gleich einem Galeerensträfling eine Kugel am Fuße mitschleppt. Die Mitbewerber aber sind leicht beschwingt. Der Kampf hat keinen Sinn mehr. Der Mann gibt auf:

»Das gilt nicht…«

»Doch, doch!…«

Was soll man sich ausdenken, um den Mann dazu zu bestimmen, daß er trotzdem von sich aus alles in einem Wettlauf hergibt, der kein Wettlauf mehr ist? Alias weiß wohl, was die Soldaten denken. Sie denken auch:

»Das gilt nicht…«

Alias steckt seinen Revolver wieder ein und sucht nach einer richtigen Antwort.

Es gibt nur eine richtige Antwort. Eine einzige. Ich fordere jeden heraus, eine andere zu finden:

»Dein Tod ändert nichts. Die Niederlage ist vollkommen. Es gehört sich aber, daß eine Niederlage sich durch Tote ausweist. Trauer soll da sein. Dein Dienst verpflichtet dich, diese Rolle zu übernehmen.«

»Zu Befehl, Herr Major.«

Alias verachtet die Flüchtenden nicht. Er weiß nur zu gut, daß seine richtige Antwort immer genügt hat. Er nimmt selbst den Tod auf sich. Alle seine Besatzungen nehmen den Tod auf sich. Auch uns hat diese richtige, kaum verschleierte Antwort genügt.

»Es ist sehr unangenehm… Beim Stab legen sie aber Wert darauf, großen Wert sogar… Es ist nun mal so …«

»Zu Befehl, Herr Major.«

Ich glaube ganz einfach, daß die Gefallenen den andern als Bürgschaft dienen.

14

Ich bin derart gealtert, daß ich alles hinter mir gelassen habe. Ich schaue durch die große spiegelnde Scheibe meines Windschutzes hinaus. Da unten sind die Menschen. Infusorien auf einem Objektträger. Kann man sich für Familiendramen von Infusorien interessieren? Hätte ich nicht diesen Stich im Herzen, den ich lebhaft empfinde, dann versänke ich in vage Träumereien wie ein altgewordener Tyrann. Vor zehn Minuten erfand ich diese Statistengeschichte. Sie war zum Brechen falsch. Als ich die Jäger gewahr wurde, habe ich da an zärtliche Seufzer gedacht? Ich habe an stechende Wespen gedacht. Allerdings. Sie waren winzig klein, diese Ekel.

Ich habe ohne Bitterkeit jenes Bild vom Schleppenkleid erfinden können! Tatsächlich habe ich gar nicht an ein Schleppenkleid gedacht, aus dem einfachen Grund, weil ich meine eigene Luftspur ja noch nie zu sehen bekommen habe! Aus diesem Führersitz, in dem ich wie eine Pfeife in ihrem Futteral verpackt bin, kann ich hinter mir überhaupt nichts beobachten. Ich schaue nach rückwärts mit den Augen meines Bordschützen. Und das auch nur, wenn die Kehlkopf-Mikrophone nicht versagen! Und mein Bordschütze hat mir niemals gesagt: »Da kommen Verehrer von uns, die unserem Schleppenkleid folgen.«

Nichts wie Mißmut und Spiegelfechterei liegt darin. Sicherlich möchte ich gern glauben, gern kämpfen, gern siegen. Aber man mag noch so schön tun, als glaubte, kämpfte, siegte man, und steckt dabei seine eigenen Dörfer in Brand, es ist recht schwer, sich darauf etwas zugute zu halten.

Es ist wirklich schwer, durchzuhalten. Der Mensch ist nichts wie ein Bündel von Beziehungen, und meine Bindungen taugen nicht mehr viel.

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Was versagt eigentlich in mir? Worin liegt das Geheimnis der Veränderungen? Woher kommt es, daß, was mir jetzt völlig fernliegt, mich unter andern Umständen außer Fassung bringen kann? Woher kommt es, daß ein Wort, eine Geste in einem Schicksal endlos umgehen können? Woher kommt es, da ich nun einmal Pasteur bin, daß das Spiel selbst der Infusorien mich derart ergreift, daß ein Objektträger mir als ein weit umfassenderes Gebiet vorkommt als der Urwald, und mich beim Darüberbeugen die Höchstform von Abenteuer durchleben läßt?

Woher kommt es, daß dieser dunkle Fleck, eine menschliche Behausung, da unten…

Und da fällt mir eine Erinnerung ein.

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Als ich ein kleiner Junge war… Ich gehe weit in meine Kindheit zurück. In die Kindheit, jenes weite Land, von dem jeder herkommt! Woher stamme ich? Ich stamme aus meiner Kindheit. Ich stamme aus meiner Kindheit wie aus einem Land … Als ich also ein kleiner Junge war, habe ich eines Abends etwas Merkwürdiges erlebt.

Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Es war acht Uhr abends. Acht Uhr, eine Zeit, wo die Kinder schlafen sollen. Zumal im Winter; denn es ist Nacht. Man hatte mich jedoch vergessen.

Nun war im Erdgeschoß jenes großen Landhauses ein Flur, der mir endlos vorkam, auf den das warme Zimmer führte, in dem wir Kinder zu Abend aßen. Ich hatte mich immer vor diesem Hausflur geängstigt, vielleicht wegen der schwachen Lampe, die nach der Mitte zu sein Dunkel kaum erhellte und wohl eher ein Merkzeichen als eine Leuchte darstellte wegen der hohen Holzvertäfelungen, die in der Stille und wohl auch vor Kälte knackten. Denn man trat auf diesen Flur aus den erleuchteten warmen Zimmern wie in eine Höhle hinaus.

Als ich mich an jenem Abend vergessen sah, folgte ich einem bösen Geist, stellte mich auf die Fußspitzen, bis ich die Türklinke erreichte, drückte sie leise hinunter, kam auf den Flur und machte mich verstohlen daran, die Welt zu erkunden. Das Knacken der Täfelungen kam mir jedoch wie eine Ankündigung himmlischen Zornes vor. Im Halbdunkel ahnte ich die abweisende Gebärde der hohen Täfelungen. Da ich mich nicht weiterzugehen getraute, kletterte ich so gut es ging auf ein Pfeilertischchen, lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, ließ die Beine herunterhängen und blieb da klopfenden Herzens sitzen, wie alle Schiffbrüchigen auf ihrem Riff auf offener See das tun.

Da öffnete sich die Tür eines Salons, und zwei Onkel, die mir einen höllischen Schreck einjagten, schlossen diese Tür über dem Stimmengewirr und Lichterschein hinter sich wieder und fingen an, im Flur auf- und abzuwandeln.

Ich zitterte davor, entdeckt zu werden. Der eine von ihnen, Hubert, war für mich die Verkörperung von Strenge. Ein Abgesandter der göttlichen Gerechtigkeit. Dieser Mann, der niemals einem Kind einen Nasenstüber versetzt hätte, sagte mir mit schrecklich hochgezogenen Augenbrauen bei jeder meiner Verfehlungen immer wieder: »Das nächste Mal, wenn ich nach Amerika gehe, bringe ich von dort eine Maschine zum Auspeitschen mit. Sie haben in Amerika alles vervollkommnet. Deshalb sind die Kinder dort die Bravheit selber. Und das ist auch eine große Beruhigung für die Eltern…« Ich mochte Amerika nicht leiden.

Nun wandelten sie also in diesem eisigen, endlosen Flur, ohne mich zu bemerken, hin und her. Ich folgte ihnen mit Aug’ und Ohr, mit angehaltenem Atem, halb benommen. »Die heutige Zeit«, sagten sie… Dabei entfernten sie sich mit ihrem Geheimnis für große Leute, und ich wiederholte für mich: »Die heutige Zeit…« Dann kehrten sie wieder wie eine Flutwelle, die von neuem ihre rätselhaften Schätze auf mich zurollte. »Es ist sinnlos«, sagte der eine zum andern, »es ist wirklich sinnlos …« Ich fing den Satz auf wie etwas ganz Besonderes. Und ich wiederholte langsam, um die Zauberkraft dieser Worte auf mein fünfjähriges Bewußtsein zu erproben: »Es ist sinnlos, es ist wirklich sinnlos …«

Die Welle nahm also die Onkel mit, die Welle brachte sie wieder her. Dieser Vorgang, der mir noch unklare Aussichten auf das Leben eröffnete, wiederholte sich mit astronomischer Regelmäßigkeit wie ein Gravitationsphänomen. Ich war auf meinem Tischchen für alle Ewigkeit festgenagelt, ein heimlicher Horcher einer feierlichen Beratung, in der meine beiden allwissenden Onkel miteinander die Welt erschufen. Das Haus konnte noch tausend Jahre bestehen, tausend Jahre hindurch würden zwei Onkel im Flur ständig hin- und hergehend mit der Langsamkeit eines Uhrpendels mir dort einen Vorgeschmack der Ewigkeit geben.

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Dieser Fleck, den ich betrachte, ist ohne Zweifel eine menschliche Behausung, zehn Kilometer unter mir. Und doch handelt es sich dabei vielleicht um ein großes Landhaus, in dem zwei Onkel hin- und herpendeln und langsam im Bewußtsein eines Kindes etwas Märchenhaftes gleich der Unendlichkeit der Meere aufbauen. Aus meinen zehntausend Metern Höhe überschaue ich ein Gebiet vom Ausmaß einer Provinz, und doch ist alles beängstigend zusammengeschrumpft. Ich habe hier weniger Raum für mich, als ich in jenem dunklen Flur hatte.

Ich habe das Gefühl für die Weite verloren. Ich bin blind für die Weite. Und doch dürste ich geradezu nach ihr. Und ich meine, ich berühre hier ein gemeinsames Maß alles menschlichen Strebens.

Wenn ein Zufall die Liebe erweckt, ordnet sich im Menschen alles nach dieser Liebe, und die Liebe bringt ihm das Gefühl für die Weite. Wenn zur Zeit meines Aufenthaltes in der Sahara Araber plötzlich aus dem nächtlichen Dunkel um unsere Feuer auftauchten und uns auf ferne Gefahren aufmerksam machten, dann nahm die Wüste Gestalt an und bekam einen Sinn. Diese Boten hatten ihre Weite bestimmt. So geschieht es auch mit der Musik, wenn sie schön ist. So auch mit dem einfachen Geruch eines alten Schranks, wenn er Erinnerungen weckt und verdichtet. Das Erhabene bringt das Gefühl für die Weite.

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Ich verstehe aber auch, daß nichts von dem, was den Menschen selbst angeht, sich zählen oder messen läßt. Die wirkliche Weite ist nicht für das Auge, sie wird nur dem Geist offenbart. Sie hat die Bedeutung der Sprache: denn die Sprache verbindet die Dinge.

Von nun an meine ich besser zu erkennen, was Kultur ist. Eine Kultur ist eine Erbmasse von Glauben, Gewohnheiten und Erkenntnissen, die langsam im Lauf von Jahrhunderten erworben, rein logisch manchmal schwer zu rechtfertigen sind, die sich aber ganz von selbst rechtfertigen wie Wege, wenn sie irgendwohin führen, da sie dem Menschen seine innere Weite auftun.

Eine schlechte Literatur hat uns von dem Drang gesprochen, aus uns herauszugehen. Sicherlich entflieht man sich beim Reisen auf der Suche nach der Weite. Aber die Weite läßt sich nicht finden. Sie baut sich auf. Und die Flucht hat noch niemals irgendwohin geführt.

Wenn der Mensch, um sich als Mensch zu fühlen, das Bedürfnis hat, um die Wette zu laufen, im Chor zu singen oder Krieg zu führen, sind dies schon Bande, die er sich auferlegt, um sich mit dem Nächsten und der Welt zu verbinden. Doch wie armselig sind sie! Wenn eine Kultur stark ist, erfüllt sie den Menschen gänzlich, selbst wenn er sich nicht von der Stelle rührt.

Im trüben Licht eines Regentages sehe ich in irgendeiner stillen Kleinstadt eine schwache Klosterfrau ans Fenster gelehnt sinnend vor mir. Wer ist sie? Was hat man ihr getan? Ich für mein Teil beurteile die Kultur einer Kleinstadt nach der Dichte dieser Gegenwart. Was taugen wir, wenn wir uns nicht von der Stelle rühren?

Im betenden Dominikaner ist eine verdichtete Gegenwart. Dieser Mensch ist niemals mehr Mensch als jetzt, da er regungslos in sich versunken ist. In Pasteur, der über seinem Mikroskop seinen Atem anhält, ist eine verdichtete Gegenwart. Pasteur ist nie mehr Mensch, als wenn er beobachtet. Dann kommt er weiter. Dann hat er es eilig. Dann geht er mit Riesenschritten vorwärts, wenn er sich auch nicht von der Stelle rührt, und entdeckt die Weite. So ist Cézanne, unbeweglich und stumm vor seiner Skizze, unschätzbar gegenwärtig. Er ist nie mehr Mensch, als wenn er schweigt, prüft und urteilt. Dann wird ihm seine Leinwand weiter als das Meer.

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Eine Weite, wie sie das Haus der Kindheit, eine Weite, wie sie die Stube in Orconte, eine Weite, wie sie das Gesichtsfeld seines Mikroskops einem Pasteur gewährt, eine Weite, wie sie das Gedicht eröffnet, das sind lauter recht zerbrechliche, herrliche Dinge, wie sie nur die Kultur verschenkt; denn die Weite ist für den Geist und nicht für die Augen, und es gibt keine Weite ohne Sprache.

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Doch wie soll ich den Sinn meiner Sprache gerade jetzt beleben, wo alles sich verwirrt? Wo die Bäume im Park zugleich Heimstatt für die Generationen einer Familie und zugleich nichts weiter als eine Schranke sind, die den Artilleristen behindert. Wo der Auslösehebel der Bomber, der schwer über den Städten droht, ein ganzes Volk die Straßen entlanggetrieben hat wie eine dunkle Brühe. Wo Frankreich das schmutzige Wirrwarr eines aufgestöberten Ameisenhaufens darstellt. Wo man nicht gegen einen faßbaren Gegner, sondern gegen eingefrorene Fußhebel, gegen blockierte Bügel, gegen streikende Knöpfe ankämpft…

»Sie können niedergehen!«

Ich kann niedergehen. Ich werde niedergehen. Ich werde tief über Arras fliegen. Ich habe tausend Jahre Kultur dabei zur Hilfe hinter mir. Aber sie helfen mir nicht dabei. Jetzt ist zweifellos nicht die Stunde der Belohnung.

Mit achthundert Stundenkilometern und dreitausendfünfhundertdreißig Umdrehungen in der Minute verlasse ich meine Höhe.

Kurvend habe ich eine übertrieben rote Polarsonne verlassen. Vor mir, fünf oder sechs Kilometer unter mir, gewahre ich in gerader Front eine Wolkenbank. Frankreich ist größtenteils in ihrem Schatten begraben. Arras liegt in ihrem Schatten. Ich stelle mir unter meiner Wolkenbank alles schwarzgrau vor. Gleich dem Bauch einer Riesensuppenschüssel, in der der Krieg brodelt. Verstopfte Straßen, Brände, herumliegendes Gerät, zerschmetterte Dörfer, Durcheinander… grenzenloses Durcheinander. Sie zappeln sich unter ihrer Wolke im Sinnlosen ab wie Kellerasseln unter einem Stein.

Dieser Abstieg gleicht einem Zusammenbruch. Wir werden in ihrem Kot patschen müssen. Wir kehren in eine Art hemmungsloser Barbarei zurück. Alles löst sich auf da unten! Wir sind wie reiche Reisende, die lang im Lande der Korallen und Palmen gelebt haben und plötzlich ruiniert nun heimkehren, um in der armseligen Heimat die ranzigen Gerichte einer geizigen Familie, die gereizten häuslichen Auseinandersetzungen, die Gerichtsvollzieher, das schlechte Gewissen ständiger Geldsorgen, die getäuschten Hoffnungen, das schmähliche Umziehen, die Anmaßungen der Quartiergeber, das ganze Elend und den stinkenden Tod im Krankenhaus zu teilen! Bei uns ist wenigstens der Tod sauber. Ein Tod in Eis und Feuer. In Sonne, Himmel, Eis und Feuer. Da unten aber wird man vom Schlamm verschlungen.

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»Südkurs, Herr Hauptmann. Es wäre schon besser, auf französischem Gebiet herunterzugehen!«

Wenn man diese schwarzen Straßen sieht, die ich schon erkennen kann, versteh ich, was Frieden ist. Im Frieden ist alles wohl in sich geborgen. Die Bauern kommen abends heim ins Dorf. Das Korn kommt in die Speicher. Und die Wäsche kommt zusammengefaltet in die Schränke. In Friedenszeiten weiß man, wo jeder Gegenstand zu finden ist. Man weiß auch, wo man sich abends schlafen legt. Ach! Der Friede stirbt, wenn die Ordnung in die Brüche geht, wenn man keinen Platz mehr hat auf der Welt, wenn man nicht mehr weiß, wo man seine Liebe trifft, wenn der Gatte, der aufs Meer hinausgeht, nicht heimgekehrt ist.

Friede bedeutet in einem Gesicht lesen, das sich hinter den Dingen zeigt, wenn sie ihren Sinn und ihren Platz bekommen haben. Wenn sie einen Teil von etwas Umfassenderem bilden als sie selbst, wie all die verschiedenen Mineralien des Erdbodens, sobald sie sich im Baum zusammengefunden haben.

Doch hier ist Krieg.

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Ich überfliege also die Straßen, die schwarz sind vom endlosen Strom, der nicht mehr aufhört zu fließen. Die Bevölkerung wird evakuiert, so heißt es. Das ist schon nicht mehr wahr. Die evakuiert sich selbst. Es herrscht eine sinnlose Ansteckung in diesem Auszug. Wo wollen sie denn hin, diese Landstreicher? Sie machen sich auf nach Süden, als ob man sie dort liebevoll aufnähme. Dabei gibt es im Süden nur noch zum Brechen volle Städte, wo sie in den Werkhallen schlafen und die Vorräte zur Neige gehen. Wo die Gebefreudigsten allmählich bösartig werden wegen der Verrücktheit dieser Überschwemmung, die sie nach und nach mit der Langsamkeit eines Schlammstromes verschlingt. Eine einzelne Provinz ist nicht imstande, das ganze Frankreich zu beherbergen und zu verpflegen! Wo wollen sie hin? Sie wissen es nicht! Sie marschieren nach gespenstischen Rastplätzen; denn kaum hat diese Karawane eine Oase erreicht, dann ist schon keine Oase mehr da. Jede Oase quillt gleichsam über und ergießt sich ihrerseits in die Karawane. Und wenn die Karawane ein richtiges Dorf erreicht, das noch Lebenszeichen von sich gibt, dann zehrt sie gleich am ersten Abend seine ganze Substanz auf. Sie nagt es kahl, wie Würmer einen Knochen abnagen.

Der Feind rückt schneller vor als der Flüchtlingsstrom. Panzerwagen überholen an gewissen Stellen den Strom, der dann stockt und zurückflutet. Deutsche Divisionen patschen in diesen Brei, und man stößt auf das überraschende Paradoxon, daß an einzelnen Stellen die Gleichen zu trinken geben, die anderwärts töten.

Wir haben während des Rückzuges hintereinander in einem Dutzend Dörfer gelegen. Wir sind selbst in den langsamen Haufen geraten, der unaufhaltsam jene Dörfer durchzog:

»Wo wollen Sie hin?«

»Wissen wir nicht.«

Sie wissen es nie. Kein Mensch wußte irgend etwas. Sie evakuierten. Kein Unterschlupf war mehr frei. Keine Straße war mehr gangbar. Sie evakuierten trotzdem. Im Norden hatte man gewaltig in den Ameisenhaufen getreten, und die Ameisen zogen ab. Geschäftig. Ohne Panik. Ohne Hoffnung. Ohne Verzweiflung. Wie aus Pflichtgefühl.

»Wer hat Ihnen den Befehl zur Räumung gegeben?« Immer war es der Bürgermeister, der Lehrer oder der Amtsgehilfe des Bürgermeisters. Eines Morgens gegen drei Uhr hatte plötzlich die Losung das Dorf auf geschreckt:

»Es wird geräumt.«

Sie waren darauf gefaßt. Seit vierzehn Tagen sahen sie die Flüchtlinge durchziehen, sie wollten nicht mehr an den ewigen Bestand ihrer Häuser glauben. Und doch hatte der Mensch schon längst das Nomadendasein aufgegeben. Er baute sich Dörfer, die Jahrhunderte überdauerten. Er polierte Möbel, die die Urenkel noch benutzten. Das Heimathaus empfing ihn bei seiner Geburt und hegte ihn bis zum Tode. Dann, wie ein fester Kahn von einem Ufer zum andern, setzte es den Sohn seinerseits über. Aber das Wohnen hat aufgehört. Sie gingen auf und davon und wußten nicht einmal warum!

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Sie bedrückt uns schwer, diese Erfahrung mit der Landstraße! Manchmal haben wir den Auftrag, im Lauf desselben Vormittags einen Blick auf Elsaß, Belgien, Holland, Nordfrankreich und das Meer zu werfen. Doch der größte Anteil unserer Probleme ist örtlicher Natur, und unser Horizont verengt sich meistens derart, daß er sich auf die Verstopfung einer Wegkreuzung beschränkt! So haben wir, Dutertre und ich, vor kaum drei Tagen das Dorf aus den Fugen gehen sehen, in dem wir lagen.

Wohl nie in meinem Leben werde ich diese zäh festhaftende Erinnerung loswerden. Dutertre und ich stoßen gegen sechs Uhr morgens beim Weggehen von zu Hause auf ein unbeschreibliches Durcheinander. Alle Garagen, alle Schuppen, alle Scheunen haben in die Gassen die verschiedenartigsten Vehikel ausgespien, nagelneue Wagen und uralte Gefährte, die seit fünfzig Jahren außer Betrieb im Staub schlummerten, Handwagen für Heu und Lastwagen, Omnibusse und zweirädrige Karren. Wenn man richtig suchte, fände man auf diesem Trödelmarkt noch Postkutschen! Alle auf Räder montierten Kisten sind ausgegraben worden. In sie verstauen sie die Schätze ihrer Häuser. In aufgeplatzten Bettlaken wirr durcheinander werden sie auf die Wagen verfrachtet. Und nun sind sie mit nichts mehr zu vergleichen.

Zusammen bilden sie das Gesicht des Hauses. Sie waren Gegenstand einer besonderen religiösen Verehrung. Jeder an seinem richtigen Platz, durch Gewohnheit zur Notwendigkeit geworden, durch Erinnerungen verschönt, hatte seine Bedeutung durch den ganz privaten Bezirk, den er mitbegründete. Man hat sie für wertvoll an sich gehalten, hat sie von ihrem Kamin, ihrem Tisch, ihrer Wand weggeholt, auf einen Haufen geworfen, und nun ist das alles nichts weiter als Warenhauskram, der seinen Verschleiß offenbart. Wenn man ehrwürdige Reliquien auf einen Haufen zusammenwirft, dann wird einem übel.

Schon beginnt vor uns etwas sich zu zersetzen.

»Ihr seid wohl verrückt hier! Was ist denn los?«

Die Wirtin des Cafes, in dem wir einkehren, zuckt die Achseln.

»Es wird geräumt.«

»Warum denn? Um Himmels willen!«

»Was weiß ich! Der Bürgermeister hat’s gesagt.«

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Sie hat alle Hände voll zu tun. Sie verschwindet auf der Kellertreppe. Wir schauen auf die Straße, Dutertre und ich. Oben auf den Lastwagen, den Autos, den Karren, den Kremsern ist ein Durcheinander von Kindern, Matratzen und Küchengeräten.

Zumal die alten Autos sind erbarmenswert. Ein wohlgenährtes Pferd zwischen den Deichseln eines Karrens macht einen gesunden Eindruck. Ein Pferd verlangt keine Ersatzteile. Einen Karren repariert man mit drei Nägeln. Aber all diese Überbleibsel eines mechanischen Zeitalters! Diese Anhäufung von Kolben, Ventilen, Magnetzündungen und Getrieben, wie lange werden sie funktionieren?

»… Herr Hauptmann… Könnten Sie nicht helfen?«

»Gewiß. Wobei?«

»Meinen Wagen aus der Scheune herausbringen…«

Ich betrachte sie verblüfft:

»Ja… Können Sie denn nicht fahren?«

»Oh! Auf der Straße geht es schon… da ist es weniger schwierig…«

Sie sind sie, ihre Schwägerin und sieben Kinder… Auf der Straße! Auf der Straße kommt sie in Etappen von zweihundert Metern zwanzig Kilometer am Tag vorwärts! Alle zweihundert Meter muß sie bremsen, halten, auskuppeln, einkuppeln, schalten in dem Durcheinander einer unentwirrbaren Verstopfung. Sie wird restlos Bruch machen. Und das Benzin, das dann ausgeht. Und das Öl. Und selbst das Wasser, das sie vergessen hat.

»Achten Sie aufs Wasser! Ihr Kühler rinnt wie ein Sieb.«

»Ach ja! Der Wagen ist nicht mehr neu…«

»Sie brauchen für die Fahrt acht Tage… Wie bringen Sie das fertig?«

»Ich weiß nicht…«

Noch keine zehn Kilometer von hier wird sie drei Wagen angefahren, ihre Kuppelungen zum Festfressen, ihre Reifen zum Platzen gebracht haben. Dann fangen sie, die Schwägerin und die sieben Kinder zu weinen an. Dann sehen sie, die Schwägerin und die sieben Kinder sich vor Probleme gestellt, die über ihre Kräfte gehen, sie geben es auf, auch nur irgend etwas zu unternehmen, und setzen sich an den Straßenrand, um auf den Schäfer zu warten. Aber die Schäfer… Eben… eben die Schäfer fehlen. Sonderbar! Dutertre und ich erleben diese Unternehmungslust von Schafen. Und diese Schafe machen sich in einem furchtbaren Geknatter beweglicher Teile auf den Weg. Dreitausend Kolben. Sechstausend Ventile. Alle diese Teile scheppern, klappern und klopfen. Das Wasser kocht in einigen Kühlern. So beginnt sich mühselig diese Karawane von Verdammten in Bewegung zu setzen! Eine Karawane ohne Ersatzteile, ohne Reifen, ohne Benzin, ohne Techniker. Welch ein Wahnsinn!

»Könnten Sie denn nicht zu Hause bleiben?«

»O ja! Gewiß blieben wir lieber daheim!«

»Warum gehen Sie dann weg?«

»Es ist uns so gesagt worden …«

»Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Der Bürgermeister.«

Immer der Bürgermeister.

»Gewiß. Wir blieben alle lieber daheim.«

Das stimmt. Wir finden hier keine Panikstimmung, sondern eine Atmosphäre blinder Mühsal. Dutertre und ich nehmen sie wahr, um einige aufzurütteln:

»Ihr würdet besser den ganzen Kram wieder abladen. Ihr würdet wenigstens das Wasser von euerm eigenen Brunnen trinken…«

»Sicher wären wir besser dran!…«

»Es steht euch aber doch frei!«

Wir haben gewonnenes Spiel. Eine Gruppe hat sich gebildet. Sie hören uns zu. Sie nicken zustimmend.

»… hat ganz recht, der Hauptmann!«

Ich erfahre Zustimmung. Ich habe einen Straßenwärter bekehrt, der sich noch mehr ereifert als ich:

»Ich hab’ es immer gesagt! Einmal unterwegs, kannst du auf dem Steinpflaster grasen gehn.«

Sie streiten sich. Sie werden sich einig. Sie bleiben. Ein paar gehen weg, es den andern weiterzusagen. Aber da kommen sie auch schon mutlos wieder zurück:

»Es geht nicht, wir müssen auch mit weg.«

»Warum?«

»Der Bäcker ist fort. Wer soll denn Brot backen?«

Das Dorf ist schon auseinander. Da und dort rinnt es. Und alles läuft durch dasselbe Loch ab. Es ist hoffnungslos.

Dutertre hat eine Idee:

»Das Tragische dabei ist, daß man den Leuten weisgemacht hat, der Krieg sei nicht normal. Früher blieben sie daheim. Krieg und Leben vermischten sich…«

Die Wirtin taucht wieder auf. Sie schleppt einen Sack hinter sich her.

»Wir starten in drei Viertelstunden… Hätten Sie noch ein bißchen Kaffee für uns?«

»Ach! Ihr armen Kerle…«

Sie wischt sich die Augen ab. Ach, sie weint nicht über uns. Über sich selbst ebensowenig. Sie weint schon aus Erschöpfung. Sie fühlt sich schon verschlungen von der Auflösung einer Karawane, die mit jedem Kilometer etwas stärker in Unordnung gerät.

Weiter weg, wie es gerade das Gelände ergibt, spucken von Zeit zu Zeit feindliche Tiefflieger eine Maschinengewehrgarbe in diese jämmerliche Herde. Das Erstaunlichste ist jedoch, daß sie meist nicht damit fortfahren. Einige Wagen brennen; aber schwach. Auch wenige Tote. Es ist eine Art Spiel, etwas wie ein guter Rat. Oder auch die Geste eines Hundes, der in die Kniekehle beißt, um die Herde anzutreiben. Hier um sie durcheinanderzubringen. Warum dann aber diese vereinzelten örtlichen Aktionen, die kaum ins Gewicht fallen? Der Feind gibt sich wenig Mühe, die Karawane in Unordnung zu bringen. Sie braucht ihn ja auch nicht dazu, in Unordnung zu geraten. Die Maschine besorgt das ganz von selbst. Die Maschine ist für eine friedliche, ausgeglichene Gesellschaft erdacht, die geruhsam Zeit hat. Wenn der Mensch nicht mehr da ist, sie zu flicken, zu regulieren, zu putzen, altert die Maschine in einem schwindelerregenden Tempo. Heute abend sehen diese Wagen aus, als wären sie tausend Jahre alt.

Es kommt mir so vor, als erlebte ich den Todeskampf der Maschine.

Dort treibt einer sein Pferd mit königlicher Würde an. Aufgebläht thront er auf seinem Sitz. Ich vermute allerdings, daß er dem Glas zugesprochen hat:

»Sie sehen ganz zufrieden aus, Sie!«

»Die Welt geht unter!«

Ich empfinde ein dumpfes Mißbehagen. Sage ich mir doch, daß alle diese Arbeiter, alle diese kleinen Gewerbetreibenden mit ihren ganz bestimmten Tätigkeitsbereichen, ihren so verschiedenen und wertvollen Eigenschaften heute abend nur noch Schmarotzer und Ungeziefer sein werden. Sie werden über das Land ausschwärmen und es kahlfressen.

»Wer wird Sie verpflegen?«

»Wissen wir nicht…«

Wie soll man Millionen von Flüchtlingen verpflegen, die sich die Straßen entlang verlieren, auf denen der Verkehr mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zwanzig Kilometern im Tag vor sich geht? Wenn Verpflegung vorhanden wäre, wäre es unmöglich, sie heranzubringen!

Dieses Durcheinander von Menschen und altem Eisen erinnert mich an die Libysche Wüste. Prévot und ich hausten in einer unbewohnbaren Gegend, die mit schwarzen, in der Sonne glänzenden Steinen übersät war, einer Landschaft, wie mit einer Eisenkruste überzogen…

Und ich betrachte dieses Schauspiel mit einer Art Verzweiflung: Lebt ein Schwarm von Heuschrecken lange, der über Steinpflaster herfällt?

»Und zum Trinken warten Sie auf den Regen?«

»Wissen wir nicht…«

Schon seit zehn Tagen zogen unablässig Flüchtlinge aus dem Norden durch ihr Dorf. Zehn Tage lang haben sie diesen endlosen Durchzug erlebt. Nun sind sie an der Reihe. Sie nehmen ihren Platz in der Prozession ein. Ach! Ohne Zuversicht:

»Ich, ich möchte lieber daheim sterben.«

»Wir möchten alle lieber daheim sterben.«

Und es stimmt auch. Das ganze Dorf stürzt wie eine Sandburg zusammen, und dabei ging keiner gerne weg. Selbst wenn Frankreich noch Reserven besäße, wäre das Heranbringen dieser Reserven durch die Verstopfung der Straßen völlig unmöglich. Man kann zur Not trotz der steckenbleibenden, der ineinander verkeilten Wagen, der unentwirrbaren Knäuel an Wegkreuzungen mit dem Strom schwimmen, wie sollte man aber gegen ihn ankommen?

»Es sind keine Reserven mehr da«, sagte Dutertre, »damit erledigt sich alles …«

Es geht das Gerücht um, daß die Regierung seit gestern die Räumung von Dörfern verboten hat. Doch die Befehle verbreiten sich weiß der Himmel wie; denn auf den Straßen ist kein Verkehr mehr möglich. Telefonverbindungen sind verstopft, abgeschnitten oder verdächtig. Und zudem geht es gar nicht darum, Befehle zu erteilen. Es geht darum, eine neue Moral aufzurichten. Seit tausend Jahren wird den Menschen erklärt, daß Frauen und Kinder aus dem Krieg herauszuhalten sind. Der Krieg geht die Männer an. Die Bürgermeister kennen dieses Gesetz sehr wohl, auch ihre Amtsgehilfen und die Lehrer kennen es. Plötzlich erhalten sie den Befehl, die Räumungen zu verbieten, das heißt, Frauen und Kinder zu zwingen, Bombardierungen auszuhalten. Sie brauchten einen Monat Zeit, ihr Verständnis auf diese neuen Zeiten umzustellen. Man wirft nicht mit einem Schlag ein ganzes Denksystem um. Aber der Feind rückt vor. Also schicken die Bürgermeister, die Amtsgehilfen, die Lehrer ihre Leute auf die Landstraße. Was sollen sie tun? Wo ist die Wahrheit? Da gehen sie hin, die Schafe ohne Hirten.

»Ist hier kein Arzt?«

»Sie sind nicht aus dem Dorf?«

»Nein, wir kommen weiter nördlich her.«

»Wozu ein Arzt?«

»Für meine Frau, die im Karren in die Wehen kommt…«

Zwischen dem Küchengerät, in der Wüstenei dieses Alteisens ringsum, wie auf Dornen.

»Konnten Sie das nicht voraussehen!«

»Wir sind seit vier Tagen unterwegs.«

Denn die Straße ist ein erbarmungsloser Strom. Wo soll einer bleiben? Die Dörfer, durch die er sich wälzt, entleeren sich, eines nach dem andern, selbst in ihn, als stürzten sie ihrerseits in die große Kloake hinein.

»Nein, hier ist kein Arzt. Der Kreisarzt ist zwanzig Kilometer von hier.«

»Na, gut!«

Der Mann wischt sich das Gesicht ab. Alles löst sich auf. Die Frau kommt mitten auf der Straße zwischen dem Küchengerät nieder. Es ist weiter nichts Grausames dabei. Es ist zunächst und vor allem ungeheuerlich, außerhalb alles Menschlichen. Niemand beklagt sich, Klagen haben keinen Sinn mehr. Seine Frau wird sterben, er klagt nicht. Es ist nun mal so. Das ist wie ein böser Traum.

»Wenn man wenigstens irgendwo bleiben könnte.«

Irgendwo ein richtiges Dorf finden, eine richtige Herberge, ein richtiges Krankenhaus, aber auch die Krankenhäuser werden geräumt. Gott weiß warum! So ist die Spielregel. Man hat keine Zeit, neue Spielregeln zu erfinden. Irgendwo einen richtigen Tod zu finden! Es gibt aber keinen richtigen Tod mehr. Nur Leiber, die umkommen wie Automobile.

Und ich fühle überall eine Eile, die sich überschlagen, eine Eile, die sich selbst aufgegeben hat. Sie flüchten mit einer täglichen Geschwindigkeit von fünf Kilometern vor Panzern, die querfeldein mehr als hundert Kilometer vorrücken, und vor Flugzeugen, die stündlich sechshundert Kilometer zurücklegen. So läuft der Sirup aus, wenn man die Flasche umgeworfen hat. Dem hier kommt seine Frau nieder, doch hat er endlos Zeit. Es ist dringend. Und ist es wieder nicht. Es bleibt in der Schwebe zwischen Eile und Ewigkeit.

Alles vollzieht sich langsam mit den Reflexbewegungen eines Sterbenden. Eine ungeheure Herde zappelt hier erschöpft vor dem Schlachthaus. Sind es fünf, sind es zehn Millionen, die auf der Straße liegen? Ein ganzes Volk zappelt vor Ermattung und Verdruß auf der Schwelle der Ewigkeit. Und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie sie lebendig durchkommen sollen. Der Mensch lebt nicht vom Laub der Bäume. Sie ahnen es selbst undeutlich, entsetzen sich aber kaum darüber. Aus ihrem gewohnten Rahmen, ihrer Arbeit, ihrem Pflichtenkreis herausgerissen, haben sie jegliche Sinngebung verloren. Ihr eigenes Selbst welkt dahin. Sie sind kaum mehr sie selber. Sie existieren kaum noch. Später werden sie sich ihre Leiden erfinden, vor allem aber schmerzt ihnen der Rücken von all den vielen Paketen, die sie zu karren haben, bei all den vielen Knoten, die gerissen sind und die Laken ihre Eingeweide entleeren lassen, all den vielen Vehikeln, die sie anschieben müssen, um sie in Marsch zu setzen.

Nicht ein Wort über die Niederlage. Das ist klar. Man hat kein Bedürfnis, sich über das auszulassen, was seine eigene Substanz ausmacht. Sie sind die Niederlage.

Mit einem Male habe ich ganz deutlich die Vorstellung von einem Frankreich, das seine Eingeweide verliert. Man müßte es schnell wieder vernähen. Keine Sekunde ist zu verlieren. Sie sind verdammt…

Es geht schon los. Schon schnappen sie nach Luft wie Fische auf dem Trocknen:

»Gibt es hier keine Milch?«

Es ist zum Totlachen, eine solche Frage!

»Mein Kleiner hat seit gestern nichts getrunken…« Es ist ein halbjähriger Säugling, der noch heftig schreit. Aber das Schreien wird ihm vergehen: Fische auf dem Trocknen… Hier gibt es keine Milch. Hier gibt es nur Alteisen. Hier gibt es nur unnützes altes Eisen, das mit jedem Kilometer mehr auseinanderfällt, seine Muttern, Schrauben, Bleche verliert und dabei dieses Volk in einem herrlich nutzlosen Auszug nach dem Nichts verfrachtet.

Das Gerücht verbreitet sich, Flugzeuge beschössen die Straße einige Kilometer weiter südlich. Selbst von Bomben erzählt man sich. Wir hören tatsächlich dumpfe Explosionen. Das Gerücht ist zweifellos richtig.

Aber die Menge entsetzt sich nicht darüber. Sie scheint mir sogar ein wenig lebendiger geworden. Diese wirkliche Gefahr scheint ihr gesunder, als im alten Eisen zu versacken.

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Ach ja! Die Darstellung, die sich die Historiker später zurechtlegen! Die Gesichtspunkte, die sie erfinden werden, um diesem Wirrwarr einen Sinn zu geben! Sie werden das Wort eines Ministers, die Entscheidung eines Generals, die Diskussion einer Abordnung hernehmen und aus diesem Gespenster-Aufzug historische Gespräche mit weittragenden Verantwortlichkeiten und Richtlinien verfertigen. Sie werden Ergebenheiten, Auflehnungen, theatralische Verteidigungsreden, Feigheiten erfinden. Ich weiß recht wohl, was ein verlegtes Ministerium bedeutet. Der Zufall ließ mich ein solches besichtigen. Ich habe sofort begriffen, daß eine Regierung, wenn sie einmal umgezogen ist, keine Regierung mehr darstellt. Das ist wie ein lebendiger Körper. Wenn sie anfangen, auch ihn zu verlagern — dort den Magen, hier die Leber, die Gedärme wieder woandershin —, dann stellt diese Sammlung keinen Organismus mehr dar. Zwanzig Minuten habe ich im Luftfahrtministerium verbracht. Nun ja, ein Minister wirkt sich auf seinen Amtsdiener aus! Eine phantastische Wirkung. Weil eine Klingelleitung den Minister noch mit seinem Amtsdiener verbindet. Eine unversehrte Klingelleitung. Der Minister drückt auf einen Knopf, und der Amtsdiener erscheint.

Das klappt noch.

»Meinen Wagen«, verlangt der Minister.

Hier hört seine Autorität auf. Er exerziert mit seinem Amtsdiener. Aber der Amtsdiener hat keine Ahnung, ob es auf Erden noch ein ministerielles Auto gibt. Kein elektrischer Draht verbindet den Amtsdiener mit irgendeinem Chauffeur. Der Chauffeur ist irgendwo im Universum verlorengegangen. Was können die Regierenden vom Krieg auch wissen? Selbst wir brauchen heutzutage acht Tage — so unmöglich sind die Verbindungen —, um einen Befehl zum Bombardement einer Panzerdivision auszulösen, die wir ausfindig gemacht haben. Welches Gerücht vermag ein Regierender von diesem Land zu erhalten, das seine Eingeweide verliert? Die Nachrichten bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von täglich zwanzig Kilometern von der Stelle. Die Telefone sind überlastet oder gebrauchsunfähig und sind nicht imstande, in seiner Dichte das eigentliche Wesen zu übertragen, das sich augenblicklich zersetzt. Die Regierung schwebt im leeren Raum, in einem polaren Vakuum. Von Zeit zu Zeit dringen verzweifelt dringliche Rufe zu ihr, aber unverständlich, auf drei Linien zusammengezogen. Wie sollten die Verantwortlichen wissen, ob nicht schon zehn Millionen Franzosen Hungers gestorben sind? Und dieser Hilferuf von zehn Millionen Menschen ist in einem Satz enthalten. Man braucht einen Satz, um zu sagen:

»Gehen Sie um vier Uhr zu X.«

Oder:

»Angeblich sind zehn Millionen Menschen umgekommen.«

Oder:

»Blois brennt.«

Oder:

»Ihr Chauffeur hat sich wiedergefunden.«

Alles in derselben Ebene. Unvermittelt. Zehn Millionen Menschen. Der Wagen. Die Ost-Armee. Die westliche Zivilisation. Der Chauffeur hat sich wiedergefunden. England. Brot. Wie spät ist es?

Ich gebe Ihnen sieben Buchstaben. Es sind sieben Buchstaben aus der Bibel. Stellen Sie mir die Bibel damit wieder her!

Die Historiker vergessen später die Wirklichkeit. Sie erfinden dann denkende Wesen, die durch geheimnisvolle Bande mit einer in Worten ausdrückbaren Welt verbunden sind, die über feststehende Grundsätze verfügen und schwerwiegende Entscheidungen nach den vier Regeln der kartesianischen Logik abwägen. Sie unterscheiden die Mächte des Guten von den Mächten des Bösen. Die Helden von den Verrätern. Aber ich stelle eine einfache Frage:

»Um einen Verrat zu begehen, muß man für etwas verantwortlich sein, etwas leiten, auf etwas einwirken, etwas kennen. Heutzutage heißt das: Genie beweisen. Warum werden Verräter nicht dekoriert?«

Schon blickt der Friede überall ein wenig durch. Es ist nicht einer jener wohl erwogenen Frieden, wie sie als neue Geschichtsabschnitte auf Kriege folgen, die mit einem klar abgeschlossenen Vertrag enden. Hier ist es ein namenloser Abschnitt, das Ende aller Dinge. Ein Ende, das nie zu Ende geht. Ein Morast, in dem nach und nach jede Regung untergeht. Man hat nicht das Gefühl vom Herannahen eines guten oder bösen Abschlusses. Ganz im Gegenteil. Nach und nach gerät man in ein mulmiges Übergangsstadium, das einer Ewigkeit gleicht. Nichts kommt zum Abschluß; denn es gibt keine Handhabe mehr, mit der man das Land fassen könnte, wie man eine Ertrunkene mit der Faust an ihren Haaren ergriffe. Alles hat sich zersetzt. Auch die heftigste Anstrengung vermag höchstens ein Büschel Haare heraufzuholen. Der kommende Friede wird nicht die Frucht einer Entscheidung sein, die der Mensch trifft. Er greift um sich wie eine Pestbeule.

Da, unter mir auf jenen Straßen, wo die Karawane sich auflöst, wo deutsche Panzer töten oder tränken, geht es zu wie in jenen schlammigen Untiefen, wo Erde und Wasser sich, mischen. Der Friede, der sich bereits mit dem Krieg vermengt, verdirbt den Krieg.

Einer meiner Freunde, Léon Werth, hat unterwegs ein ungeheuerliches Wort vernommen, das er in einem bedeutenden Buch erzählen wird. Links von der Straße sind die Deutschen, rechts die Franzosen, zwischen beiden der träge Strudel der Flüchtlinge. Hunderte von Frauen und Kindern, die sich, so gut sie können, aus ihren brennenden Wagen herauswinden. Und da ein Artillerie-Oberleutnant, der wider Willen in die Verstopfung hineingeriet, ein 75-mm-Geschütz in Stellung zu bringen sucht, auf das der Feind feuert, — und da der Feind das Geschütz verfehlend die Straße bestreicht —, laufen Mütter zu jenem Oberleutnant, der schweißtriefend in seiner unbegreiflichen Pflicht beharrt und eine Stellung zu retten sucht, die keine zwanzig Minuten zu halten ist (sie sind zu zwölft): »Macht, daß ihr weiterkommt! Macht, daß ihr weiterkommt! Ihr Feiglinge!«

Der Oberleutnant und seine Leute gehen. Überall stoßen sie auf solche Probleme des Friedens. Gewiß dürfen die Kleinen nicht auf der Straße umgebracht werden. Oder jeder feuernde Soldat müßte in den Rücken eines Kindes schießen. Jeder Lastwagen, der nach vorne fährt oder zu fahren versucht, läuft Gefahr, ein Volk zu verderben. Denn dadurch, daß er gegen den Strom fährt, verstopft er unweigerlich eine ganze Straße.

»Sie sind verrückt! Lassen Sie uns durch! Die Kinder kommen um!«

»Wir führen Krieg…«

»Was für einen Krieg? Wo führen Sie Krieg? In drei Tagen kommen Sie in dieser Richtung sechs Kilometer vorwärts!«

Es sind ein paar Soldaten, die sich mit ihrem Lastwagen verfahren haben auf dem Weg nach einem Sammelplatz, der zweifellos schon seit Stunden keinen Sinn mehr hat. Aber sie stecken in ihrer elementaren Pflicht:

»Wir führen Krieg…«

»Besser wäre es, ihr nähmt uns mit! Das ist ja unmenschlich!«

Ein Kind heult.

»Und das da …«

Das schreit nicht mehr. Keine Milch, kein Schreien!

»Wir führen Krieg…«

Sie wiederholen ihren Spruch mit verzweifeltem Stumpfsinn.

»Aber ihr trefft ihn ja nie, den Krieg! Ihr verreckt hier mit uns!«

»Wir führen Krieg …«

Sie wissen nicht mehr recht, was sie sagen. Sie wissen nicht mehr recht, ob sie Krieg führen. Sie haben den Feind nie zu sehen bekommen. Sie rollen mit ihrem Lastwagen nach Zielen, die sie ärger narren als eine Fata Morgana. Sie treffen nur auf diesen angefaulten Frieden.

Da die Verwirrung alles ineinander verkeilt hat, sind sie von ihrem Wagen heruntergeklettert. Sie werden umringt:

»Habt ihr Wasser?«

Sie verteilen also ihr Wasser.

»Brot?«

Sie verteilen ihr Brot.

»Laßt ihr die da verrecken?«

In einem Wagen, der nicht mehr weiterkommt und im Straßengraben abgestellt ist, liegt röchelnd eine Frau. Sie holen sie heraus, heben sie auf den Lastwagen.

»Und hier das Kind?«

Sie tragen es auch auf den Lastwagen.

»Und dort, die in den Wehen liegt?«

Auch sie wird aufgeladen.

Und dann jene andere, weil sie weint.

Nach einstündiger Bemühung haben sie den Wagen wieder frei bekommen. Sie haben ihn nach Süden umgedreht. Gleich einem erratischen Block von ihm mitgenommen, folgt er nun dem Zivilistenstrom. Die Soldaten sind zum Frieden bekehrt worden. Weil sie den Krieg nicht fanden.

Weil das Gewebe des Krieges unsichtbar bleibt. Weil der Schuß, den sie abfeuern, ein Kind trifft. Weil sie sich zum Krieg stellen und auf kreischende Frauen stoßen. Weil es ebenso vergeblich ist, eine Erkundung weiterzugeben oder einen Befehl empfangen zu wollen, wie sich mit dem Sirius in eine Unterhaltung einzulassen. Es ist keine Armee mehr da. Nur noch Menschen.

Sie sind zum Frieden bekehrt. Durch die Gewalt der Umstände sind sie in Schlosser, Ärzte, Hirten, Krankenhelfer verwandelt. Sie reparieren ihnen ihre Wagen, jenen kleinen Leuten, die ihr altes Eisen nicht zu flicken verstehen. Und bei der Mühe, die sie sich geben, wissen diese Soldaten nicht recht, ob sie Helden sind oder vor ein Kriegsgericht gehören. Sie würden sich gar nicht wundern, wenn sie eine Auszeichnung erhielten. Aber auch nicht, wenn sie an eine Mauer gestellt zwölf Kugeln in den Schädel bekämen. Oder wenn sie entlassen würden. Nichts könnte sie in Erstaunen setzen. Schon seit langem wundern sie sich über nichts mehr.

Es ist ein ungeheures Gebrodel, in dem keine Ordnung, keine Bewegung, keine Nachricht, keine Welle irgendwelcher Art sich über drei Kilometer hinaus verbreiten kann. Und ebenso wie die Dörfer eines nach dem andern in den allgemeinen Ausguß laufen, lassen sich diese Militärlastwagen, mit friedlichen Dingen beschäftigt, einer nach dem andern zum Frieden bekehren. Diese Handvoll Männer, die den Tod vollkommen auf sich genommen hätten — aber die Frage des Sterbens wird ihnen nicht einmal gestellt —, nehmen die Pflichten auf sich, denen sie begegnen, und reparieren hier die Deichsel vor dem alten Karren, auf dem drei Nonnen für weiß Gott welche Wallfahrt nach weiß Gott welchem märchenhaften Zufluchtsort ein Dutzend vom Tode bedrohter Kinder verpackt haben.

Ähnlich wie Alias, als er seinen Revolver wieder in die Tasche steckte, will ich die Soldaten, die die Flinte ins Korn werfen, nicht verurteilen. Welcher frische Hauch hätte sie beleben sollen? Wo kommt die Welle her, die sie erreicht hätte? Wo ist das Gesicht, das sie zusammengeschlossen hätte? Sie wissen nichts von der übrigen Welt außer jenen stets unsinnigen Gerüchten, die alle drei, vier Kilometer auf der Straße in Form von albernen Vermutungen aufkommen und dann bei ihrer langsamen Verbreitung durch jenen drei Kilometer langen Brei bestätigenden Charakter angenommen haben. Die Vereinigten Staaten sind in den Krieg eingetreten. Der Papst hat Selbstmord verübt. Die russischen Flieger haben Berlin in Brand geworfen. Der Waffenstillstand ist vor drei Tagen unterzeichnet worden. Hitler ist in England gelandet.

Für die Frauen oder für die Kinder ist kein Schafhirt da, es ist aber auch keiner für die Männer da. Der General erreicht seine Ordonnanz. Der Minister erreicht seinen Amtsdiener. Und vielleicht vermag er ihn durch seine Überredung umzuwandeln. Alias erreicht seine Besatzungen. Und er kann aus ihnen den Einsatz ihres Lebens herausholen. Der Feldwebel vom Militär-Lastwagen erreicht sein Dutzend Leute, die ihm unterstehen. Aber es ist ihm unmöglich, sich an irgend etwas anderes anzuschließen. Angenommen, ein genialer Führer, durch ein Wunder zu einem allgemeinen Überblick befähigt, ersänne einen Plan, der uns retten könnte; dieser Führer verfügt, um sich kenntlich zu machen, nur über einen Klingeldraht von zwanzig Metern. Und als einsatzfähige Masse für den Sieg verfügt er über den Amtsdiener, sofern am andern Ende des Drahts noch ein Amtsdiener vorhanden ist.

Wenn diese vereinzelten Soldaten, auseinandergerissenen Einheiten angehörend, sich vom Zufall der Straße treiben lassen, diese Männer, die ja nichts weiter sind als Kriegsarbeitslose, dann zeigen sie nicht jene Verzweiflung, die man dem besiegten Vaterlands Verteidiger zuschreibt. Sie wünschen unklar den Frieden, das ist richtig. Aber der Friede stellt in ihren Augen nichts weiter dar als das Ende dieses unsagbaren Durcheinanders und die Rückkehr zu einem wenn auch noch so bescheidenen Selbstsein. So mancher frühere Schuster träumt davon, daß er Nägel einschlägt. Und mit dem Einklopfen der Nägel hämmerte er die Welt zusammen.

Und wenn sie stur weitergehen, geschieht es unter der Einwirkung der allgemeinen Zusammenhanglosigkeit, die sie voneinander trennt, und nicht aus Furcht vor dem Tode. Vor nichts haben sie Angst, sie sind einfach ausgepumpt.

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Es gibt ein Grundgesetz: An Ort und Stelle lassen sich die Besiegten nicht in Sieger verwandeln. Wenn man von einer Armee spricht, die erst zurückweicht, sich dann zur Wehr setzt, so handelt es sich dabei nur um eine abgekürzte Redeweise; denn die Truppen, die zurückgegangen sind, und die, welche jetzt den Kampf aufnehmen, sind nicht die gleichen. Die Armee, die zurückging, war keine Armee mehr. Nicht daß jene Männer nicht zu siegen verständen, sondern weil ein Zurückweichen alle Verbindungen materieller und geistiger Art abreißen läßt, welche die Männer untereinander verknüpften. Jene Masse von Soldaten, die man nach rückwärts durchsickern läßt, ersetzt man durch frische Reserven, die einen organischen Charakter besitzen. Sie stellen den Feind. Die Flüchtlinge fängt man auf, um sie wieder zu einer Armee umzuformen. Sind keine Reserven da, die man in die Aktion werfen kann, dann ist der erste Rückzug nicht wieder gutzumachen.

Der Sieg allein schließt zusammen. Die Niederlage trennt nicht allein den Mann von den andern Männern, sondern sie spaltet ihn in sich selbst. Wenn die Flüchtlinge nicht über das zusammenbrechende Frankreich weinen, dann eben, weil sie besiegt sind. Weil Frankreich unterlegen ist, nicht um sie herum, sondern in ihnen selbst. Über Frankreich weinen, das hieße schon wieder Sieger sein.

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Beinahe allen, auch denen, die noch Widerstand leisten, wie denen, die den Widerstand aufgegeben haben, erscheint das Gesicht des besiegten Frankreichs erst später in stillen Stunden. Heute verbraucht sich jeder im Kampf gegen eine ganz gewöhnliche Kleinigkeit, die sich sperrt oder vorkommt, gegen einen steckengebliebenen Lastwagen, gegen eine verstopfte Straße, gegen einen blockierten Gashebel, gegen das Widersinnige eines Befehls. Das Zeichen des Zusammenbruchs besteht darin, daß Befehle widersinnig werden. Daß die Handlung selbst widersinnig wird, die sich gegen den Zusammenbruch stemmt. Denn alles sperrt sich innerlich gegen sich selbst. Man weint nicht über das allgemeine Unglück, sondern über den Gegenstand, für den man verantwortlich, der allein faßbar ist und in Unordnung gerät. Das zusammenbrechende Frankreich ist nichts weiter als eine Sintflut von Bruchstücken, von denen keines ein eigenes Gesicht trägt. Weder dieser Befehl, noch dieser Lastwagen, noch diese Straße, noch diese Schweinerei mit dem Gashebel.

Sicher ist ein Zusammenbruch ein trauriges Schauspiel. Erbärmliche Menschen zeigen sich dabei erbärmlich. Plünderer erweisen sich als Plünderer. Einrichtungen gehen aus den Fugen. Übersättigt von Ekel und Überanstrengung zersetzen sich die Truppen ins Widersinnige. Alle diese Wirkungen gehören zu einer Niederlage, wie die Beulen zur Pest gehören. Doch wenn ein Lastwagen die überfährt, die du liebst, wirst du über ihre Häßlichkeit abfällig reden?

Darin liegt eben die Ungerechtigkeit der Niederlage, daß sie den Opfern den Anschein der Schuld gibt. Wie sollte die Niederlage die Opfer, die strenge Pflichterfüllung, die Härte gegen sich selbst, die Wachsamkeit aufzeigen, die Gott, der Lenker der Schlachten, nicht in Rechnung gezogen hat? Wie sollte sie die Liebe bezeigen? Die Niederlage zeigt die Führer in ihrer Ohnmacht, die Männer als Treibgut, die Massen in ihrer Trägheit. Oft gab es ein richtiges Versagen, doch dieses Versagen selbst, was bedeutet es? Die Nachricht von einem russischen Umschwung oder einem amerikanischen Eingreifen brauchte bloß umzugehen, um die Männer zu verwandeln. Um sie in einer gemeinsamen Hoffnung zusammenzuschließen. Jedesmal hat ein solches Gerücht alles aufgefrischt wie ein Windstoß vom Meer. Man darf Frankreich nicht nach den Wirkungen des Zusammenbruchs beurteilen. Man muß Frankreich nach seiner Opferbereitschaft beurteilen. Frankreich hat den Krieg gegen alle logische Wahrscheinlichkeit auf sich genommen. Sie haben uns gesagt: »Es sind achtzig Millionen Deutsche. Wir können in einem Jahr die fehlenden vierzig Millionen Franzosen nicht herzaubern. Wir können unsere Getreidefelder nicht in Kohlengruben verwandeln. Wir können nicht auf die Hilfe der Vereinigten Staaten hoffen. Warum sollten uns die Deutschen mit ihrem Anspruch auf Danzig die Pflicht auferlegen, — nicht Danzig zu retten, das ist unmöglich — aber uns selbst umzubringen, um der Schande zu entgehen? Was für eine Schande sollte es sein, ein Land zu besitzen, das mehr Korn als Maschinen hervorbringt, und im Verhältnis Eins gegen Zwei zu stehen? Warum sollte die Schande auf uns lasten, und nicht auf der ganzen Welt?« Sie hatten recht, Krieg bedeutete für uns Unglück. Aber sollte Frankreich, um sich die Niederlage zu ersparen, den Krieg verweigern? Ich glaube nicht. Rein instinktiv urteilte Frankreich ebenso, da solche Aussichten es nicht von diesem Krieg abgehalten haben. Der Geist wurde bei uns Herr über den Verstand.

Das Leben sprengt immer die Formeln. Die Niederlage kann sich als der einzige Weg zur Erneuerung erweisen, trotz ihrer Häßlichkeiten. Ich weiß wohl: Um einen Baum zu schaffen, verurteilt man ein Samenkorn zum Verderben. Der erste Akt des Widerstandes, kommt er zu spät, ist immer verlustreich. Aber er ruft den Widerstand wach. Vielleicht geht aus ihm wie aus einem Samenkorn ein Baum hervor. Frankreich hat seine Rolle gespielt. Sie bestand darin, sich der Vernichtung anheimzugeben, da die Welt, ohne mitzuarbeiten, ohne mitzukämpfen den Schiedsrichter spielte, und sich eine Zeitlang in Schweigen versinken zu sehen. Wenn es zum Angriff geht, müssen notwendigerweise Männer an der Spitze sein. Sie fallen meistens. Damit aber der Angriff erfolgt, müssen die ersten fallen.

Diese Rolle ist uns zugefallen, da wir es ohne Selbsttäuschung auf uns genommen haben, einen Soldaten gegen drei und unsere Bauern gegen ihre Fabrikarbeiter zu werfen! Ich verwahre mich dagegen, daß man uns nach den Häßlichkeiten der Niederlage zu richten versucht. Wer es auf sich nimmt, im Flug zu verbrennen, wird man den nach seinen Brandblasen beurteilen? Auch er wird verunstaltet sein.

18

Nichtsdestoweniger ist uns dieser Krieg, ganz abgesehen vom geistigen Sinn, der ihn uns notwendig machte, in der Ausübung als ein verrückter Krieg vorgekommen. Ich habe mich nie geschämt, es auszusprechen. Kaum hatten wir den Krieg erklärt, als wir abzuwarten begannen, da wir ja nicht in der Lage waren anzugreifen, bis man uns zu vernichten beliebte!

Das ist geschehen.

Wir verfügten über Getreidegarben, um mit den Panzern fertig zu werden. Die Garben haben nichts ausgerichtet. Und heute ist unsere Vernichtung vollkommen. Wir haben keine Armee, keine Reserven, keine Verbindungen, kein Material mehr.

Und doch setze ich meinen Flug mit unerschütterlichem Ernst fort. Ich stürze mich auf die deutsche Armee mit achthundert Stundenkilometern und dreitausendfünfhundertdreißig Umdrehungen in der Minute herunter. Warum? Na! Um sie zu schrecken! Damit sie das Land räumt! Da die Erkundungen, die man von uns verlangt, nutzlos sind, kann dieser Befehl kein anderes Ziel haben.

Ein verrückter Krieg.

Im übrigen übertreibe ich. Ich habe viel an Höhe verloren. Die Schaltungen und Hebel sind aufgetaut. Ich habe wieder die normale Drehgeschwindigkeit erreicht. Ich stürze mich auf die deutsche Armee nur mit fünfhundertdreißig Stundenkilometern und zweitausendzweihundert Umdrehungen in der Minute. Ich jage ihr einen wesentlich geringeren Schrecken ein.

Sie werden uns einen Vorwurf daraus machen, daß wir diesen Krieg einen verrückten Krieg nennen.

Wir sind es doch, die diesen Krieg einen verrückten Krieg nennen! Das können wir auch. Wir dürfen uns erlauben, über ihn nach Herzenslust zu spotten; denn alle Opfer nehmen wir auf unsere Kappe. Ich darf mir erlauben, über meinen Tod zu spotten, wenn der Spott mir Spaß macht. Dutertre ebenfalls. Ich darf die Verrücktheiten auskosten. Warum brennen denn die Dörfer noch? Warum wird diese Bevölkerung wirr auf die Straße geworfen? Warum stürzen wir uns in unerschütterlicher Überzeugung herunter und lassen uns unweigerlich abschlachten?

Ich bin vollkommen berechtigt dazu; ich weiß wohl in dieser Sekunde, was ich tue. Ich nehme den Tod auf mich. Ich nehme nicht die Gefahr auf mich. Ich nehme nicht den Kampf auf mich. Sondern den Tod. Ich habe eine große Wahrheit gelernt. Krieg heißt nicht, die Gefahr auf sich nehmen, heißt nicht, den Kampf auf sich nehmen. Es heißt zu gewissen Stunden für den Kämpfenden ganz einfach, den Tod auf sich nehmen.

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In diesen Tagen, wo die Meinung des Auslandes unsere Opfer für ungenügend hielt, habe ich mich gefragt, wenn ich die Besatzungen starten und umkommen sah: »Wozu geben wir uns her, wer gibt uns noch etwas dafür?«

Denn wir sterben. Denn hundertfünfzigtausend Franzosen sind in den letzten vierzehn Tagen schon gefallen. Diese Toten sind vielleicht kein Zeichen eines außerordentlichen Widerstandes. Ich verherrliche auch keinen außerordentlichen Widerstand. Er ist unmöglich. Es gibt aber Gruppen von Infanteristen, die sich in einem unmöglich zu verteidigenden Gehöft abschlachten lassen. Es gibt Fliegergruppen, die zusammenschmelzen wie Wachs, das man ins Feuer wirft.

Warum nehmen wir von der Gruppe 2/33 es noch auf uns, zu sterben? Wegen der Anerkennung der Welt? Doch Anerkennung setzt das Vorhandensein eines Richters voraus. Wer unter uns gewährt irgendeinem das Recht zum Urteilen? Wir kämpfen im Namen einer Sache, der wir die Bedeutung einer gemeinsamen Sache beimessen. Die Freiheit, nicht nur Frankreichs, sondern der Welt steht auf dem Spiele: Wir halten den Posten des Schiedsrichters für zu bequem. Wir sind es, die die Schiedsrichter richten. Die Leute meiner Gruppe 2/33 richten die Schiedsrichter. Man komme nur nicht und sage uns: ausgerechnet uns, die wir, ohne ein Wort zu sagen, starten mit der Aussicht eins zu drei auf eine Rückkehr (wenn der Auftrag leicht ist) — auch nicht denen von den andern Gruppen — auch nicht jenem Freund, dem ein Granatsplitter das Gesicht entstellt hat, der so sein Leben lang darauf verzichtet hat, je die Liebe einer Frau zu erregen, um ein fundamentales Recht genau so betrogen, wie man hinter Kerkermauern darum betrogen wird, wohl verwahrt in seiner Häßlichkeit, wohl aufgehoben in seiner Tugend hinter dem Schutzwall seiner Entstellung, man komme uns bloß nicht und sage uns, daß die Zuschauer uns richten! Die Stierkämpfer leben für die Zuschauer, wir sind keine Stierkämpfer. Wenn man Hochedé versicherte: »Du sollst starten, weil die Augenzeugen nach dir schauen«, dann würde Hochedé antworten: »Irrtum! Ich, Hochedé, schaue nach den Augenzeugen…«

Denn warum kämpfen wir schließlich noch? Für die Demokratie? Wenn wir für die Demokratie fallen, sind wir solidarisch mit den Demokratien. Also sollen sie mit uns kämpfen! Doch die mächtigste, die allein uns hätte retten können, hat sich gestern für unzuständig erklärt und erklärt sich heute noch für unzuständig. Gut. Das ist ihr Recht. Aber sie bedeutet uns so, daß wir allein für unsre eigenen Interessen kämpfen. Nun wissen wir aber sehr wohl, daß alles verloren ist. Warum sterben wir dann noch?

Aus Verzweiflung? Von Verzweiflung ist gar keine Rede! Sie verstehen nichts von einer Niederlage, wenn Sie sich erwarten, Verzweiflung in ihr zu entdecken.

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Es gibt eine höhere Wahrheit als die Aussagen des Verstandes. Etwas steckt in uns und lenkt uns, das ich erfahre, ohne es noch zu fassen. Ein Baum hat keine Sprache. Wir gehören zu einem Baum. Es gibt Wahrheiten, die offensichtlich sind und sich doch nicht aussprechen lassen. Ich sterbe durchaus nicht, um mich der Besatzung entgegenzuwerfen; denn es gibt keinen Schutzwall, hinter dem ich mich mit denen verschanzen könnte, die ich liebe. Ich sterbe keineswegs, um eine Ehre zu retten, die meiner Überzeugung nach überhaupt nicht auf dem Spiele steht: Ich lehne die Zuständigkeit der Richter ab. Ich sterbe ebensowenig aus Verzweiflung. Und doch hat Dutertre, der die Karte studiert, ausgerechnet, daß Arras da unten, irgendwo um hundertsiebzig Grad liegt, und wird mir — das sehe ich schon kommen — gleich sagen:

»Kurs hundertfünfundsiebzig, Herr Hauptmann…« Meinetwegen.

19

»Hundertzweiundsiebzig.«

»Verstanden. Hundertzweiundsiebzig.«

Von mir aus hundertzweiundsiebzig. Grabschrift: »Hat einwandfrei Kurs hundertzweiundsiebzig gehalten.« Wie lange wird diese verrückte Herausforderung anhalten? Ich fliege in siebenhundertfünfzig Meter Höhe unter der schweren Wolkendecke. Wenn ich dreißig Meter höher ginge, könnte Dutertre schon nichts mehr sehen. Wir müssen gut sichtbar bleiben und so dem deutschen Beschuß eine Zielscheibe für Anfänger bieten. Siebenhundert Meter ist eine verbotene Höhe. Wir dienen als Zielscheibe für eine ganze Ebene. Wir lenken das Feuer einer ganzen Armee auf uns. Wir sind für alle Kaliber erreichbar. Wir bleiben eine Ewigkeit im Schußfeld jeder einzelnen Waffe. Das ist schon kein Schießen mehr, eher ein Zuschlagen. Es ist, als ob wir tausend Stangen herausforderten, um eine einzige Nuß herunterzuschlagen.

Ich habe mir das Problem genau überlegt: Mit dem Fallschirm abspringen kommt nicht in Frage. Wenn das Flugzeug getroffen wird und zu Boden stürzt, braucht das öffnen der Absprungluke allein mehr Sekunden, als der Sturz zuläßt. Dieses öffnen erfordert sieben Umdrehungen einer Kurbel, die schwer geht. Außerdem deformiert sich die Luke bei voller Geschwindigkeit und geht nicht in den Falz.

Es ist schon so. Eines schönen Tages mußte man diese Medizin hinunterschlucken. Das Zeremoniell ist weiter nicht schwierig: Hundertzweiundsiebzig, auf dem Kompaß einhalten. Ich bin umsonst alt geworden. Das ist es eben. Ich war so glücklich in der Jugend. Ich sage so, ist es aber auch wirklich wahr? Ich ging schon in meinen Hausflur mit hundertzweiundsiebzig nach dem Kompaß. Der Onkel wegen.

Jetzt wird sie herrlich, die Jugend. Nicht nur die Jugend, sondern das ganze Leben, das hinter mir liegt. Ich sehe es ausgebreitet wie eine Landschaft. Und ich meine, ich bin Jemand. Was ich empfinde, habe ich immer gekannt. Meine Freuden und meine Leiden haben sicher ihren Gegenstand gewechselt, aber die Empfindungen sind die gleichen geblieben. Auf solche Weise war ich glücklich oder unglücklich. Wurde ich bestraft oder gelobt. Arbeitete ich gut. Arbeitete ich schlecht. Das kam auf die Tage an…

Meine allerfrüheste Erinnerung? Ich hatte ein Kindermädchen aus Tirol, das Paula hieß. Aber es ist eigentlich gar keine Erinnerung: Es ist die Erinnerung einer Erinnerung. Damals auf dem Flur, als ich fünf Jahre alt war, da war Paula bereits nur noch eine Legende. Jahrelang hat uns meine Mutter zu Neujahr gesagt: »Es ist ein Brief von Paula da!« Das war eine große Freude für uns Kinder. Warum waren wir denn eigentlich glücklich? Keines von uns erinnerte sich an Paula. Sie war in ihr Land Tirol zurückgekehrt. In ihr Tiroler Häuschen also. Eine Art Wetterhäuschen, ganz versteckt im Schnee. Und Paula zeigte sich an sonnigen Tagen in der Türe wie bei allen Wetterhäuschen.

»Paula ist doch hübsch?«

»Entzückend.«

»Ist oft schönes Wetter in Tirol?«

»Immer.«

Es war immer schönes Wetter in Tirol. Das Wetterhäuschen stellte Paula ganz weit hinaus auf seine Schneedecke. Als ich schreiben konnte, ließ man mich an Paula Briefe schreiben: »Liebe Paula!« schrieb ich ihr, »ich freue mich mächtig, daß ich Dir schreiben kann…« Es war so ein wenig wie im Gebet, da ich sie ja nicht kannte…

»Hundertvierundsiebzig.«

»Verstanden. Hundertvierundsiebzig.«

Von mir aus hundertvierundsiebzig. Die Grabschrift muß abgeändert werden. Wie merkwürdig sich das Leben mit einem Schlag zusammengedrängt hat. Ich habe meine Erinnerungen gebündelt. Sie werden zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Auch für niemand. Ich erinnere mich an eine große Liebe. Meine Mutter sagte uns: »Paula schreibt, wir sollten euch alle in ihrem Namen küssen.« Und meine Mutter küßte uns alle für Paula.

»Weiß Paula, daß ich groß geworden bin?«

»Natürlich weiß sie das.«

Paula wußte alles.

»Herr Hauptmann, sie schießen.«

Paula, sie schießen auf mich! Ich werfe einen Blick auf den Höhenmesser: sechshundertfünfzig Meter. Die Wolken sind in siebenhundert Metern gut. Ich kann nichts dagegen tun. Aber unter meiner Wolke ist die Welt gar nicht schwarzgrau, wie ich vermutet hatte: sie ist blau. Herrlich blau. Es ist Dämmerstunde, und die Ebene ist ganz blau. Stellenweise regnet es. Regenblau…

»Hundertachtundsiebzig.«

Von mir aus hundertachtundsiebzig. Er macht allerhand Zacken, der Weg in die Ewigkeit… Doch wie ruhig kommt er mir vor, dieser Weg! Die Welt gleicht einem Obstgarten. Eben noch erwies sie sich als nüchterner Entwurf. Alles kam mir unmenschlich vor. Doch nun fliege ich niedrig, in einer Art Vertrautheit. Da finden sich Bäume, einzeln oder in Gruppen, in kleinen Parzellen. Wir begegnen ihnen. Und grüne Felder. Und Häuser mit roten Ziegeldächern, und einer steht vor der Türe. Und ringsum herrlich blaue Regenschauer. Bei so einem Wetter ginge Paula zweifellos schnell ins Häuschen zurück…

»Hundertfünfundsiebzig.«

Meine Grabschrift verliert viel von ihrer rauhen Würde: »Er hat Kurs hundertzweiundsiebzig, hundertvierundsiebzig, hundertachtundsiebzig, hundertfünfundsiebzig gehalten…« Ich mache eher einen flatterhaften Eindruck. Sieh da! Mein Motor hüstelt! Er verkühlt sich. Ich schließe also die Kühlerklappen. Gut. Da es Zeit wird, den Reservetank einzuschalten, stelle ich den Hebel um. Vergesse ich auch nichts? Ich werfe einen Blick nach dem Öldruck. Alles in Ordnung.

»Es fängt an, mulmig zu werden, Herr Hauptmann.«

Hörst du, Paula? Es fängt an, mulmig zu werden. Und doch kann ich über das Blau dieses Abends nicht genug staunen! Es ist so ungewöhnlich. Seine Farbe ist so tief. Und hier die Obstbäume, vielleicht Pflaumenbäume, die vorbeimarschieren. Ich bin mitten in der Landschaft. Vorbei ist es mit den Schaukästen! Ich bin ein Dieb, der über die Mauer geklettert ist. Mit großen Sätzen springe ich durch die regennasse Luzerne und klaue Pflaumen. Paula, es ist doch ein verrückter Krieg! Ein melancholischer, tiefblauer Krieg. Ich habe mich ein wenig verlaufen. Im Alter habe ich dieses seltsame Land gefunden… Ach nein, ich habe keine Angst. Es ist ein wenig traurig, weiter nichts.

»Kurven, Hauptmann!«

Aha, ein neues Spiel, Paula! Ein Fußtritt rechts, ein Fußtritt links, so wird der Gegner irregeführt. Wenn ich hinfiel, holte ich mir Beulen. Sicher pflegtest du mich mit Arnika-Umschlägen. Ich werde schrecklich viel Arnika brauchen. Und doch, weißt du… Das Abendblau ist ganz herrlich!

Ich habe vorn drei gespreizte Lanzenstiche gesehen. Drei lange, senkrechte, leuchtende Ruten. Leuchtspuren von Kugeln oder kleinkalibrigen Granaten. Es war ganz golden. Ich habe plötzlich im Abendblau diesen dreiarmigen Kronleuchter aufblitzen sehen…

»Hauptmann! Von links starker Beschuß! Abdrehen!« Ein Fußtritt.

»Aha, es wird Ernst…«

Vielleicht…

Es wird Ernst, aber nun bin ich mitten drin. Alle meine Erinnerungen und alle meine Zukunftspläne, alle meine Neigungen sind mir gegenwärtig. Meine Kindheit wird mir lebendig, die sich im Dämmern gleich einer Wurzel verliert. Ich habe das Leben mit einer melancholischen Erinnerung begonnen… Es wird Ernst, doch finde ich in mir nichts von dem, was ich mir vorgestellt hatte, wenn blitzende Ungeheuer mit ihren Tatzen nach mir greifen.

Ich bin in einer Landschaft, die mir ans Herz greift. Der Tag geht zur Neige. Links zwischen den Gewittern stehen strahlende Lichtflächen, wie Kirchenfenster aufgerichtet. Zwei Schritt neben mir fühle ich beinahe handgreiflich lauter gute Dinge. Da sind die Pflaumenbäume mit ihren Früchten. Diese Erde mit ihrem Erdgeruch. Es muß sich gut wandern lassen durch regenfeuchtes Land. Weißt du, Paula, ich gehe ganz vorsichtig weiter, schaukle nach rechts, nach links wie ein Heuwagen. Du hältst das für schnell, so ein Flugzeug … gewiß, wenn du nachdenkst! Wenn du aber die Maschine vergißt, wenn du nur schaust, gehst du ganz einfach in der Landschaft spazieren…

»Arras…«

Richtig. Ganz weit voraus. Aber Arras ist keine Stadt. Arras ist nichts weiter als ein glimmender Docht auf nächtlich blauem Grund. Auf gewittrigem Grund. Denn sicher braut sich links und geradeaus ein gewaltiges Hagelwetter zusammen. Von der Dämmerung kann dieses Halbdunkel nicht herrühren. Es braucht Berge von Wolken, um so ein düsteres Licht durchzulassen…

Die Flamme von Arras ist größer geworden. Das ist nicht die Flamme einer Feuersbrunst. Eine Feuersbrunst breitet sich wie ein fressendes Geschwür, umgeben von einem einfachen, gesunden Fleischwulst, aus. Aber dieser rote Docht nährt sich ständig und gehört zu einer blakenden Lampe. Es ist eine ganz geruhsame Flamme, die sicher ist, daß sie anhält, mit ausreichend Öl versorgt. Ich fühle, sie besteht aus einem dichten, beinahe schweren Stoff, den der Himmel manchmal bewegt, wie er einen Baum zur Seite neigen würde. Ganz richtig… ein Baum. Dieser Baum hat in Arras Wurzel geschlagen. Und alle Säfte von Arras, alle Vorräte von Arras, alle Schätze von Arras steigen auf, verwandeln sich in Saft und nähren den Baum.

Ich sehe diese Flamme manchmal überschwer nach rechts oder nach links ihr Gleichgewicht verlieren, einen noch schwärzeren Rauch ausstoßen und sich dann von neuem wieder aufrichten. Aber die Stadt kann ich immer noch nicht erkennen. Der ganze Krieg ballt sich in diesem Schein zusammen. Dutertre sagt, es wird Ernst. Er kann von vorn besser beobachten als ich. Trotzdem bin ich zunächst über eine Art Schonung überrascht; diese giftbrauende Ebene schickt nur wenig Sterne.

Gewiß, aber …

Du weißt doch, Paula, in den Kindermärchen zog der Ritter durch schreckliche Prüfungen hindurch nach einem geheimnisvollen, wunderbaren Schloß. Er kletterte über Gletscher, er stieg über Abgründe, er vereitelte jeden Verrat. Schließlich tauchte, inmitten einer Ebene, deren weicher Rasen zum Galoppieren einlud, das Schloß vor ihm auf. Schon sah er sich als Sieger… Ach, Paula, eine alte Märchenerfahrung läßt sich nicht täuschen! Nun kam immer erst das Schwerste…

Ich laufe im Dämmerblau auf mein Feuerschloß zu, genau wie damals… Du bist zu früh von uns weggegangen, um unsere Spiele zu kennen, du hast beim »Ritter Alkin« gefehlt. Das war ein selbsterfundenes Spiel; denn wir machten uns nichts aus den Spielen der andern. Wir spielten es an den schweren Gewittertagen. Wenn nach den ersten Blitzen alles so eigenartig roch und die Zweige plötzlich erbebten, spürten wir, daß der Platzregen gleich losgehen mußte. Das dichte Astwerk wirbelte dann einen Augenblick lang rauschend auf. Das war das Zeichen… nichts konnte uns mehr zurückhalten!

Ganz hinten aus dem Park stürmten wir quer über den Rasen atemlos auf das Haus zu. Die ersten Tropfen eines Platzregens fallen schwer und vereinzelt. Wer als erster getroffen wurde, gab sich besiegt. Dann der zweite. Dann der dritte. Dann die andern. Der letzte Überlebende erwies sich so als der Schützling der Götter, als unverwundbar! Er durfte sich bis zum nächsten Gewitter »Ritter Alkin« nennen.

Das gab jedesmal binnen wenigen Sekunden eine Hekatombe von Kindern…

Ich spiele noch den Ritter Alkin. Langsam laufe ich auf mein Feuerschloß zu. Man könnte den Atem verlieren…

Doch jetzt:

»Oh, Herr Hauptmann. Das habe ich noch nie gesehen …«

Das habe ich auch noch nie gesehen. Ich bin nicht mehr unverwundbar. Ach, ich wußte nicht, daß ich hoffte…

20

Trotz der siebenhundert Meter hoffte ich. Trotz der Panzeransammlungen, trotz der Flamme von Arras hoffte ich. Ich hoffte verzweifelt. Ich ging in meinem Gedächtnis bis zur Kindheit zurück, um das Gefühl eines höheren Schutzes wiederzufinden. Männer genießen keinen Schutz. Bist du Mann, läßt man dich laufen… Doch wer kommt gegen einen kleinen Jungen an, den eine allmächtige Paula fest an der Hand hält? Paula, ich habe deinen Schatten als Schild benutzt…

Ich habe alle Finten angewandt. Als Dutertre zu mir sagte: »Es wird Ernst…«, habe ich, um mir Hoffnung zu machen, selbst diese Drohung ausgenutzt. Wir waren im Krieg: der Krieg mußte sich irgendwie zeigen. Er beschränkte sich dabei auf einige Leuchtspuren. »Das soll also die berühmte tödliche Gefahr über Arras sein? Rein zum Lachen …«

Der Verurteilte hatte sich den Henker als einen blassen Roboter vorgestellt. Kommt da so ein braver Mann, der niesen und gar lachen kann. Der Verurteilte klammert sich an das Lachen wie an einen Weg in die Freiheit… Es ist nur ein Hirngespinst von Weg. Wenn der Henker auch niest, er wird dieses Haupt doch abschlagen. Doch wie soll man die Hoffnung fahren lassen?

Warum hätte ich mich auch nicht selbst durch einen gewissen Empfang täuschen sollen, da alles so freundlich und ländlich zuging, da die regennassen Schiefer- und Ziegeldächer so freundlich blinkten, da von Minute zu Minute sich nichts änderte und auch nicht so aussah, als ob es sich ändern sollte. Denn wir, Dutertre, der Bordschütze und ich, waren nichts weiter als drei Spaziergänger übers Feld, die gemächlich heimkehren, ohne groß den Mantelkragen hochzustülpen, da es kaum mehr regnet. Weil sich mitten in den deutschen Linien nichts besonders Erwähnenswertes bemerkbar machte und gar kein Grund vorlag, daß der Krieg weiter weg anders werden sollte. Weil es so aussah, als ob der Feind sich zerstreut hätte und wie mit der Unendlichkeit der Felder verwachsen wäre, so daß ein Soldat vielleicht auf ein Haus, ein Soldat vielleicht auf einen Baum gekommen wäre. Von Zeit zu Zeit fiel einem von ihnen der Krieg ein, und er schoß. Man hatte ihm die Anweisung eingehämmert: »Du hast auf Flugzeuge zu schießen.« Die Anweisung fiel ihm traumhaft ein. Er gab seine drei Schüsse ab, ohne recht daran zu glauben. So habe ich abends Enten gejagt, und sie waren mir eigentlich recht gleichgültig, wenn der Spaziergang etwas empfindsamer Natur war. Ich schoß auf sie und sprach dabei von ganz anderen Dingen: Das störte sie kaum…

Man sieht so genau, was man sehen will: Dort der Soldat nimmt mich aufs Korn, aber ohne innere Überzeugung, und verfehlt mich. Die andern lassen mich laufen. Die, welche uns ein Bein stellen könnten, genießen vielleicht in diesem Augenblick vergnüglich die Abendluft, stecken sich Zigaretten an oder erzählen einen Witz zu Ende — und lassen uns laufen. Andere sind in dem Dorf, in dem sie liegen, vielleicht gerade beim Essenfassen. Ein Brummen schwillt an und erstirbt wieder. Ist es Freund oder Feind? Sie haben keine Zeit, es herauszubringen, sie achten auf ihr Kochgeschirr, das sich füllt: Sie lassen uns laufen. Und ich versuche, die Hände in den Hosentaschen, vor mich hinpfeifend und auf die selbstverständlichste Weise von der Welt durch diesen Garten zu gehen, der für Spaziergänger verboten ist. Aber jeder Wächter darin verläßt sich auf den andern und läßt mich laufen…

Ich bin so leicht verletzlich! Meine Schwäche selbst ist für sie eine Falle: »Warum sollen sie sich rühren? Ein Stückchen weiter holt man mich ja doch herunter…« Das ist doch klar. »Geh nur, laß dich woanders schnappen…!« Sie schieben das Geschäft auf den nächsten, damit sie beim Essen nicht zu kurz kommen, ihren Witz nicht unterbrechen oder einfach, weil sie die Abendluft genießen wollen. So nutze ich ihre Nachlässigkeit aus, ich verdanke meine Rettung dieser Minute, wo sie alle den Krieg leid sind, alle miteinander, rein zufällig — und warum auch nicht? Und schon rechne ich halbwegs damit, daß ich von Mann zu Mann, von Zug zu Zug, von Dorf zu Dorf so weit komme, daß ich meine Tour beende. Schließlich sind wir nichts weiter als ein Flugzeug, das lohnt nicht aufzugucken!

Gewiß hoffte ich auf eine Heimkehr. Aber gleichzeitig wußte ich, daß noch etwas kommen würde. Du bist verurteilt worden, aber das Gefängnis, das dich erwartet, ist noch stumm. Du klammerst dich an diese Stille. Eine Sekunde gleicht der andern. Es liegt eigentlich kein Grund vor, daß die nächste Sekunde die Welt verändern sollte. Diese Arbeit ist ihr zu schwer. Jede Sekunde, eine nach der andern, rettet die Stille. Schon scheint die Stille ewig…

Doch der Schritt dessen, von dem man weiß, daß es kommen wird, ist schon vernehmbar.

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Irgend etwas in der Landschaft ist eben abgerissen. So knistert das Holzscheit, das erloschen schien, plötzlich und sprüht einen Funkenregen. Durch welchen Zauber ist diese ganze Ebene im selben Augenblick lebendig geworden? Wenn der Frühling da ist, streuen die Bäume ihre Pollen aus. Warum dieser plötzliche Frühling der Waffen? Warum diese Lichterflut, die zu uns hochsteigt und sich mit einem Mal ringsum zeigt?

Im ersten Gefühl, das mich überkommt, meine ich, ich hätte es an Vorsicht fehlen lassen. Ich habe alles verdorben. Manchmal genügt ein Wink mit den Augen, eine Geste, wenn das Gleichgewicht zu sehr auf der Schneide steht! Ein Bergsteiger hustet und löst die Lawine. Und nun, da er sie gelöst hat, geht alles seinen Gang.

Schwerfällig sind wir durch diesen blauen Sumpf hindurchgewatet, der schon in Nacht versinkt. Wir haben diesen ruhigen Schlamm aufgewühlt, und nun läßt er Zehntausende von goldenen Blasen zu uns hochsteigen.

Ein Volk von Jongleuren beginnt den Reigen. Ein Volk von Jongleuren läßt Zehntausende seiner Wurfbälle auf uns los. Da sie ihren Winkel nicht ändern, scheinen sie uns zunächst unbeweglich; doch jenen Kugeln gleich, die die Kunst des Jongleurs nicht schleudert, sondern sich überläßt, beginnen sie langsam ihren Aufstieg. Ich sehe Tränen von Licht auf uns zuwogen durch eine Flut von Schweigen. Jenem Schweigen, das das Spiel der Jongleure einhüllt.

Jede Garbe der Maschinengewehre oder der leichten Flak speit zu Hunderten Granaten oder Leuchtkugeln aus, die wie die Kugeln eines Rosenkranzes aufeinanderfolgen. Tausend biegsame Rosenkränze spannen sich bis zum Reißen und platzen in unserer Höhe.

Quer gesehen weisen die Projektile, die uns verfehlt haben, im Vorbeisausen wirklich eine schwindelnde Schnelligkeit auf. Die Tränen verwandeln sich in Blitze. Und nun sehe ich mich büschelweise von strohfarbenen Geschoßbahnen umringt. Nun stechen die Lanzen in dichten Gebinden nach mir. Nun bin ich umdroht von einer geheimnisvollen, schwindelerregenden Nadelarbeit. Die ganze Ebene hat sich mit mir verknüpft und webt um mich ein blitzendes Netz von Goldfäden.

Ach! Beuge ich mich zur Erde herab, dann bemerke ich reihenweise Leuchtkugeln, die mit der Langsamkeit von Nebelschwaden hochsteigen. Ich sehe langsam diese Samen aufwirbeln: so fliegt die Spreu auf, wenn Korn gedroschen wird! Schaue ich aber waagerecht, dann sind es nur noch Garben von Lanzen! Werde ich beschossen? Ach nein! Ich werde mit blanker Waffe angegriffen! Ich sehe nur Degen aus Licht! Ich habe das Empfinden … Von Gefahr ist gar keine Rede! Die Lichterpracht, in die ich tauche, blendet mich.

»Ah!«

Ich bin zwanzig Zentimeter von meinem Sitz hochgefahren. Wie ein Keulenschlag saß das auf dem Flugzeug. Es ist geborsten, zerschellt… aber nein … nein … ich fühle, wie es beim Schalten noch anspricht. Es ist nichts weiter als der erste Hieb in einer Sintflut von Schlägen. Von Explosion habe ich nichts bemerkt. Der Rauch der Explosionen mischt sich ohne Zweifel mit dem Dunkel des Erdbodens: Ich hebe den Kopf und schaue.

Das ist ein Schauspiel ohnegleichen!

21

Zur Erde hinabgebeugt hatte ich den Abstand nicht beachtet, der sich nach und nach zwischen den Wolken und mir erweitert hat. Die Geschoßbahnen verbreiten ein strohfarbenes Licht. Wie hätte ich wissen können, daß sie am Scheitel ihres Aufstiegs eine nach der andern, wie man Nägel einschlägt, diese düstern Stücke ausstreuten? Ich sehe sie schon dicht gedrängt in schwindelnden Pyramiden nach hinten absinken mit der Langsamkeit von Gletschern. Verglichen mit diesem Schauspiel habe ich das Empfinden, unbeweglich zu sein.

Ich weiß wohl, daß diese Gebilde, kaum entstanden, ihre Wirkung auch schon verloren haben. Jedes von diesen Rauchwölkchen hat nur eine hundertstel Sekunde lang über Leben oder Tod zu entscheiden gehabt. Aber sie waren um mich, ohne daß ich es wußte. Ihre Erscheinung läßt plötzlich das Gewicht einer fürchterlichen Verdammung auf meinen Nacken sinken.

Diese Kette dumpfer Explosionen, deren Geräusch vom Brummen der Motoren übertönt wird, zwingt mir die Illusion eines ungewöhnlichen Schweigens auf. Ich empfinde rein nichts. Eine leere Erwartung macht sich in mir breit, als ob ich nachdächte.

Ich denke… ich denke jedoch: »Sie schießen zu hoch!« und werfe den Kopf zurück, um nach hinten wie unter Bedauern ein Büschel Nadeln heruntertaumeln zu sehen. Die geben es auf. Aber es ist hoffnungslos.

Die Waffen, die uns verfehlt haben, schießen sich ein. Die Explosionswand bildet sich neu in unserer Höhe. Jeder Feuerschlund baut in wenigen Sekunden seine Explosions-Pyramide auf, kaum zerknallt gibt er sie auf und baut sie woanders. Das Feuer geht uns nicht nach, es schließt uns ein.

»Dutertre, noch weit?«

»Könnten wir noch drei Minuten durchhalten, dann hätten wir’s geschafft… aber…«

»Vielleicht kommen wir durch…«

»Ausgeschlossen!«

Es ist unheimlich, dieses Grauschwarz, diese dunklen Brocken, die durcheinanderwirbeln. Die Ebene war blau. Ungeheuer blau. Tief-meerblau…

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Wie lange habe ich noch zu leben? Zehn Sekunden? Zwanzig Sekunden? Die Erschütterung der Explosionen hämmert nunmehr ständig auf mir. Die ganz nahen wirken auf das Flugzeug, wie Felsbrocken in eine Karre poltern. Dann gibt das ganze Flugzeug einen beinahe musikalischen Ton von sich. Einen komischen Seufzer… Doch das sind die Hiebe, die danebengegangen sind. Es ist hier wie beim Blitz. Je näher er ist, um so einfacher wird er. Manche Schläge sind elementar: Dann hat uns die Explosion mit ihren Splittern gezeichnet. Die Bestie wirft den Stier nicht um, den sie tötet. Sie gräbt ihre Pranken ein, ohne zu reißen. Sie ergreift vom Stier Besitz. So haken sich die Griffe nach dem Ziel nur einfach im Flugzeug fest, wie in einem Muskel.

»Verwundet?«

»Nein.«

»Hallo, Schütze, verwundet?«

»Nein.«

Doch diese Schläge, die sich schildern lassen, zählen nicht. Sie hämmern auf einer Rinde, auf einer Trommel. Statt die Vorratsbehälter zu durchlöchern, hätten sie uns ebensogut den Leib aufreißen können. Doch der Leib selbst ist nichts wie eine Trommel. Man pfeift auf seinen Körper. Er zählt überhaupt nicht… Das ist das Merkwürdige!

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Über den Körper habe ich zwei Worte zu sagen. Im täglichen Leben ist man augenscheinlich doch blind. Damit man sich dessen bewußt wird, müssen solche Verhältnisse auf einen eindringen. Braucht es diesen hochsteigenden Lichterreigen, braucht es diesen Ansturm von Lanzenstichen, braucht es schließlich den Anbruch dieses Jüngsten Gerichts. Dann versteht man. Während des Umkleidens fragte ich mich: »Wie sehen sie eigentlich aus, die letzten Augenblicke?« Das Leben hat die Gespenster, die ich erfand, noch immer Lügen gestraft. Doch diesmal ging es darum, nackt unter dem Hagel sinnloser Fäuste durchzugehen und dabei nicht einmal den Ellbogen schützend vors Gesicht halten zu können.

Die Probe darauf, ich machte eine solche Probe für mein Fleisch. Ich glaubte, ich hätte sie in meinem Fleisch durchgemacht. Der Gesichtspunkt, den ich mir zwangsweise zu eigen machte, war der meines Körpers selber. Man hat sich so viel mit seinem Körper abgegeben! Man hat ihn bekleidet, gewaschen, gepflegt, rasiert, getränkt, genährt. Man hat sich mit diesem Haustier identifiziert. Man hat ihn zum Schneider, zum Arzt, zum Chirurgen gebracht. Man hat mit ihm gelitten. Man hat mit ihm geschrien. Man hat mit ihm geliebt. Man sagte von ihm: Das bin ich. Und jetzt auf einmal bricht diese Selbsttäuschung zusammen. Man pfeift auf seinen Körper! Man degradiert ihn zum Bedientenpack. Wenn der Zorn etwas anschwillt, die Liebe in Ekstase gerät, der Haß aufkeimt, dann geht diese berühmte Solidarität aus den Fugen.

Dein Sohn ist in Feuersgefahr? Du wirst ihn retten! Du kannst dich nicht zurückhalten! Du brennst! Das ist dir gleich. Du gibst diese Fleischfetzen jedem dafür, der sie nur mag, zum Pfand. Du entdeckst, daß du gar nicht so sehr an dem hingst, was dir so wichtig war. Wenn es darum ginge, ein Hindernis zu beseitigen, gäbst du deine Schulter her für die Wonne, es damit umzustoßen! Du bist mitten in deiner Handlung drin. Deine Handlung bist du selbst. Du findest dich sonst nirgends mehr. Dein Körper gehört dir, er ist nicht mehr du selber. Du willst schlagen? Keiner wird mit dir fertig werden, wenn er dich in deinem Körper bedroht. Du? Du bist der Tod des Feindes, du? Du bist die Rettung deines Sohnes. Du vertauschst dich. Und du hast nicht das Empfinden, daß du beim Tausch verlierst. Deine Glieder? Werkzeuge. Was kümmert einen ein Werkzeug, das in die Brüche geht, wenn man einhaut. Und du tauschst dich gegen den Tod deines Nebenbuhlers, die Rettung deines Sohnes, die Heilung deines Kranken, deine Entdeckung ein, wenn du ein Erfinder bist! Dort, der Kamerad von der Gruppe ist tödlich verwundet. Im Armeebefehl heißt es: »Hat dann zu seinem Beobachter gesagt: Ich bin futsch. Eil dich! Rette die Bordpapiere …!« Wichtig allein ist die Rettung der Dokumente oder des Kindes, die Heilung des Kranken, der Tod des Nebenbuhlers, die Entdeckung! Deine Sinngebung tritt klar zutage. Es ist deine Pflicht, dein Haß, deine Liebe, deine Treue, deine Erfindung. Du findest sonst nichts mehr in dir.

Das Feuer hat nicht nur das Fleisch, sondern mit einem Male auch den Kult des Fleisches mißachten lassen. Der Mensch interessiert sich nicht mehr für sich selbst. Allein wichtig wird ihm, wem er angehört. Er verschanzt sich nicht, wenn er stirbt: Er verschmilzt. Er verliert sich nicht, er findet sich. Das ist nicht der Wunsch eines Moralisten. Das ist eine gängige Wahrheit, eine alltägliche Wahrheit, die eine alltägliche Selbsttäuschung mit einer undurchdringlichen Maske überdeckt. Während ich mich umkleidete und meines Körpers wegen Furcht empfand, wie hätte ich da voraussehen können, daß ich mich mit Unsinn abgab? Erst im Augenblick, wo sie diesen Körper hingeben, entdecken immer alle verblüfft, wie wenig sie am Körper hängen. Gewiß aber kenne ich im Lauf meines Lebens, wenn mich nichts Dringendes leitet, wenn meine Sinngebung nicht auf dem Spiele steht, keine schwerwiegenderen Probleme als die meines Körpers.

Mein Körper, ich pfeife auf dich! Ich bin aus dir heraus, ich habe keine Hoffnung und dabei fehlt mir nichts! Ich verleugne alles, was ich bis zu dieser Sekunde war. Nicht ich bin es, der dachte, noch ich, der empfand. Mein Körper war es. So wohl oder übel als es eben ging, habe ich ihn bis hierher mitgeschleppt, und nun muß ich entdecken, daß er gar nichts wert ist.

Mit fünfzehn Jahren habe ich meine erste Lektion empfangen: Ein jüngerer Bruder von mir wurde seit einigen Tagen aufgegeben. Eines Morgens gegen vier Uhr weckt mich seine Krankenschwester:

»Ihr Bruder verlangt nach Ihnen.«

»Fühlt er sich schlecht?«

Sie gibt keine Antwort. Ich kleide mich eilig an und gehe zu meinem Bruder.

Er sagt mir mit seiner gewöhnlichen Stimme:

»Ich wollte mit dir sprechen, bevor ich sterbe. Ich werde sterben.«

Eine Nervenkrise krampft ihn zusammen und verschlägt ihm seine Stimme. Während der Krise winkt er ab mit der Hand. Und ich verstehe die Geste nicht. Ich bilde mir ein, daß das Kind den Tod von sich weist. Nachdem er sich aber wieder beruhigt hat, erklärt er mir:

»Hab keine Angst… Ich leide nicht. Es tut mir nicht weh. Ich kann nichts daran machen. Es ist mein Körper.«

Sein Körper, ein fremdes, schon ein anderes Gebiet. Aber er will ernst sein, dieser jüngere Bruder, der in zwanzig Minuten ausgelitten haben wird. Er empfindet ein dringendes Bedürfnis, sein Erbe zu übergeben. Er sagt mir: »Ich möchte mein Testament machen…« Er errötet, er ist sicherlich stolz, daß er als Erwachsener handelt. Wenn er Turmbaumeister wäre, würde er mir die Fertigstellung seines Baues anvertrauen. Wenn er Vater wäre, würde er mir seine Söhne zur Unterweisung anvertrauen. Wenn er Flugzeugführer einer Kriegsmaschine wäre, würde er mir seine Bordpapiere anvertrauen. Er ist aber nur ein Kind. Er vertraut mir nur seine Dampfmaschine, ein Fahrrad und ein Terzerol an.

Du stirbst nicht. Die Furcht vor dem Tode bildest du dir ein: Du fürchtest das Unerwartete, die Explosion, du fürchtest dich selbst. Den Tod? Nein. Er ist kein Tod mehr, wenn du ihm begegnest. Mein Bruder hat mir gesagt: »Vergiß nicht, das alles aufzuschreiben…« Wenn der Körper abfällt, kommt das Wesentliche zum Vorschein. Der Mensch ist nichts wie ein Bündel von Beziehungen. Die Beziehungen allein zählen beim Menschen.

Den Körper, den alten Schinder, gibst du auf. Wer denkt an sich selbst beim Sterben? So jemand habe ich noch nie getroffen…

»Hauptmann?«

»Was ist?«

»Fabelhaft!«

»Schütze…«

»Ha … Ja …«

»Was …«

Meine Frage hat der Ruck abgerissen.

»Dutertre!«

»… ptmann?«

»Getroffen?«

»Nein.«

»Schütze…«

»Ja?«

»Getr…«

Es ist, als ob ich eine Mauer von Bronze eingebeult hätte. Ich höre:

»Ah! la! la!«

Ich schaue hoch nach dem Himmel, um die Entfernung von den Wolken abzumessen. Je schräger ich offenbar schaue, um so gehäufter erscheinen die schwarzen Wölkchen. Senkrecht nach oben gesehen sehen sie weniger dicht aus. Deshalb entdecke ich aneinander gereiht uns zu Häupten dieses großartige Diadem aus schwarzen Blumen.

Die Beinmuskeln entwickeln eine erstaunliche Kraft. Ich wuchte mit einem Tritt auf das Fußsteuer, als ob ich eine Mauer eindrückte. Ich habe das Flugzeug quer geworfen. Ich biege brutal unter knirschendem Zittern nach links. Das Diadem ist nach rechts abgeglitten. Ich habe es über meinem Kopf ins Wanken gebracht. Ich habe das Schießen überrascht, das anderswo hämmert. Rechts sehe ich nutzlose Pakete von Explosionen. Bevor ich jedoch mit dem andern Bein die entgegengesetzte Bewegung eingeleitet habe, steht das Diadem schon wieder über mir. Die Bodenabwehr hat sich wieder eingeschossen. Mit Hollah stürzt sich das Flugzeug wieder in Schlammlöcher. Doch das ganze Gewicht meines Körpers hat ein zweites Mal das Fußsteuer gepreßt. Ich habe das Flugzeug in die entgegengesetzte Kurve oder richtiger in das entgegengesetzte Schleudern geworfen (zum Teufel mit den einwandfreien Kurven) und das Diadem schaukelt nach links.

Dauern? So ein Spiel kann nicht dauern. Umsonst versetze ich diese riesenhaften Fußtritte, das Stahlgewitter baut sich dort vor mir wiederum auf. Das Diadem stellt sich wieder ein. Nun packen mich die Stöße vom Bauch her. Und wenn ich nach unten sehe, finde ich, wie gut auf mich gezielt diese Blasen mit einer schwindelerregenden Langsamkeit hochsteigen. Es ist unbegreiflich, daß wir noch ganz sind. Und doch entdecke ich mich als unverletzlich. Ich fühle mich als Sieger! Ich bin in jeder Sekunde Sieger!

»Getroffen?«

»Nein…«

Sie sind nicht getroffen. Sie sind unverletzlich. Sie sind Sieger. Ich bin Führer einer siegreichen Mannschaft…

Von nun an kommt mir jede Explosion nicht als Drohung, sondern als Abhärtung für uns vor. Jedesmal denke ich mir eine Zehntelsekunde lang meine Maschine in Stücke gerissen. Aber sie spricht immer auf die Schaltungen an, und ich richte sie hoch wie ein Pferd und reiße dabei kräftig an den Zügeln. Dann entspanne ich mich und fühle mich von einem dumpfen Jubel durchdrungen. Ich habe keine Zeit gehabt, die Furcht anders als eine physische Verkrampfung zu empfinden, wie sie ein lautes Geräusch hervorruft, und schon darf ich erleichtert aufseufzen. Ich sollte das Zupacken des Schlags, dann die Furcht, schließlich die Entspannung durchleben. Das denken Sie sich so! Ich habe keine Zeit! Ich empfinde das Zupacken, dann die Entspannung. Zupacken, Entspannung. Es fehlt eine Zwischenstufe: die Furcht. Ich lebe auch nicht in Erwartung des Todes für die folgende Sekunde, ich lebe in der Auferstehung vom Ende der vorhergehenden Sekunde. Ich lebe in einer Art Kometenschweif der Freude. Ich lebe im Kielwasser meines inneren Jubels. Und ich beginne, ein herrlich unerwartetes Vergnügen zu empfinden… Es ist, als ob mir mein Leben mit jeder Sekunde neu geschenkt würde. Als ob mir mein Leben mit jeder Sekunde fühlbarer würde. Ich lebe. Ich bin am Leben. Ich bin noch am Leben. Ich bleibe immer am Leben. Ich bin nur noch ein sprudelndes Leben. Die Trunkenheit des Lebens kommt über mich. Man spricht von der »Trunkenheit des Kampfes…«, es ist die Trunkenheit des Lebens! Oh! Die da unten auf uns schießen, wissen sie eigentlich, daß sie uns zurechtschmieden?

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Öl-, Benzinbehälter, alles ist angeschlagen. Dutertre hat gesagt: »Schluß! Hochgehen!« Einmal noch messe ich mit den Augen den Abstand, der mich von den Wolken trennt, dann reiße ich die Maschine hoch. Einmal noch werfe ich das Flugzeug nach links, dann nach rechts. Einmal noch werfe ich einen Blick zur Erde. Ich werde diese Landschaft nicht vergessen. Die ganze Ebene blinkert von kurzem Aufleuchten. Zweifellos die Schnellfeuergeschütze. Das Aufsteigen der Blasen geht im ungeheuren bläulichen Aquarium weiter. Die Flamme von Arras leuchtet düster rot wie Eisen auf dem Amboß, jene Flamme von Arras, sicher entzündet an unterirdischen Behältern, in der menschlicher Schweiß, menschliche Erfindung, menschliche Kunst, menschliche Erinnerungen und menschliches Erbe in diesem Schopf vereint aufsteigen und sich in Brand verwandeln, den der Wind forttreibt.

Schon spüre ich die ersten Nebelschwaden. Noch steigen um uns goldene Pfeile hoch und durchlöchern unten den Bauch der Wolke. Das letzte Bild bietet sich mir, als die Wolke mich schon umschließt, durch ein letztes Loch. Eine Sekunde lang erscheint mir die Flamme von Arras für die Nacht wie ein Ewiges Licht im tiefen Dom entzündet. Sie dient einem Kult, doch er kommt sie teuer zu stehen. Morgen wird sie alles verzehrt und aufgebraucht haben. Ich nehme zum Beweis die Flamme von Arras mit.

»Geht’s gut, Dutertre?«

»Gut, Herr Hauptmann. Zweihundertvierzig. In zwanzig Minuten durchstoßen wir die Wolke nach unten. Wir finden uns irgendwo nach der Seine zurecht…«

»Geht’s gut, Schütze?«

»Ha … jawohl… Herr Hauptmann… geht gut.«

»Hat’s nicht zu warm gemacht?«

»Ha … nein … doch.«

Er weiß es nicht. Er ist zufrieden. Ich denke an den Bordschützen Gavoilles. Eines Nachts über dem Rhein haben achtzig Scheinwerfer Gavoille in ihre Bündel gefaßt. Sie bauen um ihn einen gigantischen Dom. Schon geht auch das Schießen los. Da hört Gavoille seinen Bordschützen leise Selbstgespräche führen. (Die Kehlkopf-Mikrophone sind so indiskret.) Der Schütze beichtet sich selbst: »Na, mein Alter… Na, mein Alter… Da kann einer lange laufen, wenn er in Zivil so was sehen will!…« Das machte ihm Spaß, dem Bordschützen.

Ich hole langsam Luft. Ich fülle meine Brust ordentlich voll. Es ist herrlich zu atmen. Es gibt so vieles, was ich jetzt verstehen werde… doch zunächst denke ich an Alias. Nein. Erst denke ich an meinen Bauern. Ich werde ihn also nach der Zahl der Instrumente fragen… Na, was denn! Ich denke ganz folgerichtig. Einhundertdrei. Übrigens bei dieser Gelegenheit… die Benzinstände, die Öldrücke… Wenn die Behälter angeschlagen sind, sehen wir doch besser nach diesen Instrumenten! Ich sehe sie nach. Die Kautschukumhüllungen halten dicht. Das ist doch eine herrliche Verbesserung! Ich sehe auch nach den Gyroskopen: Diese Wolke ist recht ungemütlich. Eine Gewitterwolke. Sie schüttelt uns heftig.

»Meinen Sie nicht, wir könnten niedriger gehen?«

»In zehn Minuten… Warten besser noch zehn Minuten…«

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Ich warte also noch zehn Minuten. Ach ja! Ich dachte an Alias. Rechnet er stark damit, uns wiederzusehen? Neulich hatten wir uns eine halbe Stunde verspätet. Eine halbe Stunde ist im allgemeinen bedenklich… Ich eile schnell nach der Gruppe, die beim Essen ist. Ich stoße die Türe auf, ich falle auf meinen Stuhl neben Alias. Gerade in diesem Augenblick hebt der Kommandeur seine Gabel mit einem Knäuel Nudeln hoch. Eben will er sie einschieben. Da fährt er hoch, verdutzt, und starrt mich offenen Mundes an. Unbeweglich hängen die Nudeln herunter.

»Ah… Fein… freut mich, Sie zu sehen!«

Und er schiebt die Nudeln ein.

Meiner Meinung nach hat der Kommandeur einen schweren Fehler. Er fragt die Piloten hartnäckig über die Erfahrungen ihres Auftrags aus. Er wird mich ausfragen. Er wird mich mit einer schrecklichen Geduld anschauen, bis ich ihm grundlegende Wahrheiten heruntersage. Er wird sich mit einem Blatt Papier und einem Schreibstift bewaffnet haben, um auch nicht einen einzigen Tropfen dieses Wundertranks umkommen zu lassen. Das erinnert mich an meine Jugend: »Wie integrieren Sie die Bernoullischen Gleichungen, Kandidat Saint-Exupéry?«

»O weh!…«

Bernoulli… Bernoulli… Und da steckst du nun reglos unter diesem Blick und trägst wie ein Insekt zum Schmuck eine Nadel durch die Brust gespießt.

Sie gehn Dutertre an, die Erfahrungen dieses Fluges. Er beobachtet senkrecht nach unten, Dutertre. Er sieht eine Menge Dinge. Lastwagen, Schleppkähne, Panzer, Soldaten, Kanonen, Pferde, Bahnhöfe, Züge in den Bahnhöfen, Bahnhofsvorsteher. Ich beobachte viel zu schräg. Ich sehe Wolken, das Meer, Flüsse, Berge, die Sonne. Ich beobachte ganz grob. Ich bilde mir eine Gesamtvorstellung.

»Sie wissen doch, Herr Major, daß der Flugzeugführer…«

»Nun ja! Nun ja! Man sieht immer etwas.«

»Ich… Ach ja, Brände! Ich habe Brände gesehen. Das ist wirklich interessant…«

»Nein. Alles brennt doch. Und sonst?«

Warum ist Alias so grausam?

22

Wird er mich diesmal ausfragen?

Was ich von meinem Auftrag mitbringe, läßt sich nicht in einen Bericht fassen. Ich werde wie ein Schüler an der schwarzen Tafel versagen. Ich werde sehr unglücklich aussehen und es doch nicht sein. Das Unglück ist zu Ende… Es ging auf und davon, als die ersten Kugeln aufleuchteten. Hätte ich eine Sekunde zu früh beigedreht, dann hätte ich nichts über mich erfahren.

Ich hätte nichts von der süßen Zärtlichkeit gewußt, die mir ans Herz greift. Ich komme zu den Meinen zurück. Ich kehre heim. Ich komme mir vor wie eine Hausfrau, die sich nach Erledigung ihrer Besorgungen auf den Heimweg macht und über die Gerichte nachdenkt, mit denen sie ihre Lieben erfreuen wird. Sie schwenkt ihren Einkaufskorb nach rechts, nach links. Von Zeit zu Zeit lüftet sie die Zeitung, die darüberliegt: es ist alles da. Sie hat nichts vergessen. Sie lächelt über die Überraschungen, die sie vorhat, und bummelt ein wenig. Sie wirft einen Blick in die Auslagen.

Ich würde mit Wonne einen Blick in die Auslagen werfen, wenn Dutertre mich nicht in diesem weißgestrichenen Gefängnis zu bleiben nötigte. Ich würde schauen, wie die Landschaft vorbeimarschiert. Zwar ist es besser, damit noch abzuwarten: Hier ist die Landschaft vergiftet. Alles in ihr ist verschworen. Selbst die kleinen Provinzschlösser, die mit ihrem etwas lächerlichen Rasen und ihrem Dutzend Zierbäume harmlos unschuldige junge Mädchen zu beherbergen scheinen, sind nichts wie Kriegsfallen. Beim Tiefflug holt man sich statt Freundschaftsbeweisen explodierende Flakgeschosse.

Trotz der tiefhängenden Wolke kehre ich doch vom Einkauf heim. Sie hatte ganz recht, die Stimme des Kommandeurs: »Sie gehen bis zur ersten Straßenecke rechts und besorgen mir Streichhölzer …« Mein Gewissen ist beruhigt. Ich habe die Streichhölzer in meiner Tasche. Oder genauer gesagt, sie befinden sich in der Tasche meines Kameraden Dutertre. Wie bringt er es fertig, daß er alles behält, was er gesehen hat? Doch das ist seine Sache. Und ich denke an das Wesentliche. Wenn uns nach der Landung das Durcheinander einer neuen Verlagerung erspart bleibt, werde ich Lacordaire zum Schach auffordern und ihn schlagen. Er verträgt es nicht, wenn er verliert. Ich auch nicht. Aber diesmal gewinne ich.

Gestern war Lacordaire betrunken. Zum mindesten … etwas: Ich möchte nichts Schlechtes über ihn sagen. Zu seinem Trost hatte er sich betrunken. Bei der Rückkehr von einem Flug hatte er vergessen, sein Fahrgestell auszufahren und hatte eine Bauchlandung gemacht. Unglücklicherweise war Alias gerade zugegen und hatte tiefbekümmert die Maschine betrachtet, jedoch kein Wort gesagt. Ich sehe Lacordaire, den alten Piloten, noch vor mir. Er machte sich auf Alias’ Vorwürfe gefaßt. Er hoffte auf Alias’ Vorwürfe. Heftige Vorwürfe hätten ihm wohlgetan. Diese Entladung hätte auch ihn zum Platzen gebracht. Beim Herausgeben hätte er seine Wut abreagiert. Doch Alias schüttelte den Kopf. Alias dachte über die Maschine nach; Lacordaire war ihm völlig gleichgültig. Dieser Unfall war für den Kommandeur nur ein anonymes Unglück, eine Art statistischer Auflage. Es war nichts weiter als so eine blöde Geistesabwesenheit, wie sie bei den ältesten Flugzeugführern vorkommen kann. Ganz zu Unrecht war sie Lacordaire passiert. Lacordaire war, abgesehen von dieser kleinen Sauferei, ein ganz tadelloser Könner. Deshalb interessierte sich Alias nur für das Opfer und fragte rein mechanisch Lacordaire selbst nach seiner Meinung über die Schäden. Und ich merkte, wie mit einem Schlag die ganze Wut in Lacordaire hochkam. Sie legen vertraulich Ihre Hand auf die Schulter des Folterknechts und sagen zu ihm: »Das arme Opfer … hm … wie es doch leiden muß!…« Die Regungen des Menschenherzens sind unergründlich. Diese zärtliche, sein Mitgefühl heischende Hand reizt den Folterknecht. Er wirft dem Opfer einen düsteren Blick zu. Er bedauert, daß er es nicht völlig erledigt hat.

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Es ist schon so. Ich komme heim. Die Gruppe 2/33 ist mein Heim. Und ich verstehe meine Leute. Ich kann mich über Lacordaire nicht täuschen. Lacordaire kann sich über mich nicht tauschen. Ich empfinde diese Gemeinschaft mit einem ganz ungewöhnlich lebhaften Gefühl: »Wir von der Gruppe 2/33.« Ja! Schon schließen sich die einzelnen Teile des Durcheinanders zusammen…

Ich denke an Gavoille und an Hochedé. Ich empfinde diese Gemeinschaft, die mich mit Gavoille und mit Hochedé verbindet. Ich frage mich bei Gavoille: Wo stammt er her? Er weist eine schöne ländliche Grundsubstanz auf. Warm wird mir eine Erinnerung wieder lebendig und greift mir plötzlich ans Herz. Als wir in Orconte lagen, wohnten Gavoille und ich in einem Bauernhaus. Eines Tages sagte er zu mir:

»Die Bäuerin hat ein Schwein geschlachtet. Sie lädt uns zur Blutwurst ein.«

Zu dritt, Israel, Gavoille und ich, knackten wir die schöne, schwarze, knusprige Pelle. Die Bäuerin hatte uns einen weißen Landwein vorgesetzt. Gavoille sagte zu mir: »Um ihr eine Freude zu machen, hab’ ich ihr das da gekauft. Du mußt signieren.« Es war eines meiner Bücher. Und ich fühlte mich gar nicht geniert. Um eine Freude zu machen, habe ich mit Freuden signiert. Israel stopfte seine Pfeife, Gavoille kratzte sich hinten, die Bäuerin schien glücklich, ein vom Verfasser signiertes Buch zu erben. Die Blutwurst duftete. Ich war ein wenig benebelt vom weißen Landwein und fühlte mich gar nicht fremd, obwohl ich ein Buch signierte, was mir immer ein wenig lächerlich vorgekommen ist. Ich fühlte mich nicht zurückgestoßen. Trotz dieses Buches spielte ich weder den Autor noch den Zuschauer. Ich kam nicht als ein Fremder dazu. Israel schaute mir beim Signieren freundlich zu. Gavoille kratzte sich harmlos hinten weiter. Und ich empfand ihnen gegenüber eine Art dumpfer Dankbarkeit. Dieses Buch hätte mir den Anschein eines unbeteiligten Zuschauers geben können. Und doch machte ich trotz seiner nicht den Eindruck eines Intellektuellen oder eines Zuschauers. Ich gehörte zu ihnen.

Der Beruf des Zuschauers war mir immer gräßlich. Was bin ich, wenn ich nicht teilhabe? Um zu sein, muß ich teilhaben. Ich lebe von den wertvollen Eigenschaften der Kameraden, jenen Eigenschaften, die nichts von sich wissen, aus Gleichgültigkeit, keineswegs aus Bescheidenheit. Gavoille beschaut sich nicht, Israel ebensowenig. Sie sind innig verbunden mit ihrer Arbeit, ihrem Beruf, ihrer Pflicht. Mit dieser dampfenden Blutwurst. Und ich berausche mich an der Dichte ihrer Gegenwart. Ich kann schweigen. Ich kann meinen Landwein trinken. Ich kann sogar dieses Buch signieren, ohne mich von ihnen abzusondern. Nichts vermag dieser Bruderschaft Abbruch zu tun.

Es geht für mich nicht darum, das Verhalten der Intelligenz, noch die Überlegenheit des Bewußtseins anzuschwärzen. Ich bewundere die durchsichtigklaren Intelligenzen. Was ist aber ein Mensch, wenn ihm die Grundsubstanz fehlt? Wenn er nur ein Blick und kein Sein ist? Ich entdecke die Grundsubstanz in Gavoille oder in Israel. Wie ich sie in Guillaumet entdeckte.

Die Vorteile, die ich aus meiner Schriftstellertätigkeit ziehen kann, jene Freiheit z. B., von der ich Gebrauch machen könnte und die mir erlaubt, wenn meine Tätigkeit in der Gruppe 2/33 mir nicht mehr zusagt, mich von ihr zu anderer Verwendung entbinden zu lassen, ich lehne sie mit einer Art Entsetzen ab. Dies ist nur die Freiheit des Nichtseins. Jede Verpflichtung führt zum Werden.

Wir sind in Frankreich vor substanzloser Intelligenz beinahe geplatzt. Gavoille ist. Er liebt, verabscheut, freut sich, knurrt. Er bleibt mit allen Fasern verhaftet. Und ebenso wie ich ihm gegenübersitzend diese knusprige Blutwurst koste, so koste ich die Verpflichtungen unseres Berufes, die uns in einen gemeinsamen Stamm zusammenschweißen. Ich liebe die Gruppe 2/33, weil ich zu ihr gehöre, weil sie mich nährt und weil ich sie mit ernähre.

Und nun, da ich von Arras zurückkehre, gehöre ich meiner Gruppe mehr denn je. Ich bin ihr noch enger verbunden. Ich habe in mir dieses Gefühl der Gemeinschaft verstärkt, das man schweigend genießt. Israel und Gavoille haben vielleicht schlimmere Gefahren bestanden als ich. Israel ist geblieben. Aber vom heutigen Ausflug sollte ich ja auch nicht zurückkommen. Er gibt mir ein größeres Recht, mich an ihren Tisch zu setzen und mit ihnen zu schweigen. Solch ein Recht wird sehr teuer erkauft. Es ist aber auch sehr viel wert: Nämlich das Recht des Seins. Deswegen habe ich diesen Schmöker anstandslos signiert … er konnte nichts verderben.

Und nun werde ich rot bei der Vorstellung, wie ich gleich stammeln werde, wenn der Kommandeur mich ausfragen wird. Ich werde mich meiner selbst schämen. Der Kommandeur wird denken, ich sei ein wenig blöde. Wenn diese Geschichten im Buch mich nicht genieren, so können mich solche Berichte, und wenn ich mit einer ganzen Bibliothek niedergekommen wäre, nicht vor der Scham retten, die mir droht. Diese Scheu ist nicht geschauspielert. Ich bin nicht der Skeptiker, der sich den Luxus leistet, sich für irgendeine rührselige Gewohnheit herzugeben. Ich bin nicht der Städter, der sich in den Ferien als Landbewohner aufspielt. Ich habe über Arras wieder einmal den Beweis meines guten Glaubens erbracht. Ich habe bei dem Abenteuer meine Haut aufs Spiel gesetzt. Meine ganze Haut. Und ich habe dabei aufs Verlieren gesetzt. Ich habe bei diesen Spielregeln alles hergegeben, was ich nur konnte. Sie sollten etwas anderes sein als nur Spielregeln. Ich habe mir das Recht erworben, mich bald etwas verdutzt zu fühlen, wenn der Kommandeur mich ausfragt. Das heißt, ich habe das Recht, teilzuhaben. Verbunden zu sein. Teilzunehmen. Zu empfangen und zu geben. Mehr als ich selbst zu sein. Zutritt zu dieser Fülle zu erhalten, die mich so stark bewegt. Jene Liebe zu erfahren, die ich meinen Kameraden gegenüber empfinde, jene Liebe, die kein Antrieb von außen ist, die sich nicht ausdrücken will — niemals — außer höchstens beim Abschiedsmahl. Dann sind sie ein wenig benebelt, und der wohltuende Alkohol läßt einen sich zu seinem Tischgenossen neigen wie ein gebefreudiger, früchtebeladener Baum. Meine Liebe zur Gruppe hat nicht nötig, sich auszusprechen. Sie besteht aus nichts als Bindungen. Sie ist meine Grundsubstanz selber. Ich gehöre zur Gruppe. Das ist alles.

Wenn ich an die Gruppe denke, muß ich unbedingt an Hochedé denken. Ich könnte von seinem Schneid im Kriege erzählen, doch würde ich mir lächerlich vorkommen dabei. Es handelt sich hier gar nicht um Schneid: Hochedé hat sich mit Leib und Seele dem Krieg hingegeben. Wahrscheinlich besser als wir alle. Hochedé ist ständig in jenem Zustand, der für mich so schwer zu erreichen war. Ich tobte, wenn ich mich umzog. Hochedé tobte nicht. Hochedé ist da angelangt, wo wir hingehen. Wo ich hinwollte.

Hochedé ist ein ehemaliger Unteroffizier, der kürzlich zum Leutnant befördert wurde. Zweifellos besitzt er eine mäßige Bildung. Er versteht nicht, über sich selbst ins klare zu kommen. Aber er ist organisch gewachsen, er ist ein fertiger Mann. Wenn es sich um Hochedé handelt, verliert das Wort Pflicht jedes Pathos. Man möchte seine Pflicht so auf sich nehmen, wie Hochedé sie auf sich nimmt. Hochedé gegenüber werfe ich mir alle meine kleinen Verzichte, meine Nachlässigkeiten, meine Bequemlichkeiten und vor allem bei Gelegenheit meine Bedenken vor. Das ist kein Zeichen meiner Anständigkeit, sondern einer richtig verstandenen Eifersucht. Ich möchte so existieren, wie Hochedé existiert. Ein Baum ist schön wohl aufgerichtet auf seinen Wurzeln. Sie ist schön, die Beharrlichkeit Hochedés. Hochedé könnte nicht enttäuschen.

Ich werde also nichts von den Kriegsaufträgen Hochedés erzählen. Freiwillig? Wir melden uns alle immer freiwillig zu allen Aufträgen. Einfach aus jenem dunklen Drang, an uns zu glauben. Man übersteigert sich dann ein wenig. Hochedé ist Freiwilliger von Natur. Er ist dieser Krieg. Das ist so natürlich, daß, wenn es sich um eine Besatzung handelt, die geopfert werden soll, der Kommandeur sogleich an Hochedé denkt: »Sagen Sie mal, Hochedé …« Hochedé wurzelt im Krieg wie ein Mönch in seiner Religion. Warum schlägt er sich? Er schlägt sich für sich selber. Hochedé geht in einer gewissen Grundsubstanz auf, die es zu retten gilt, seiner eigenen Sinngebung. Auf dieser Stufe gehen Leben und Tod etwas ineinander über. Hochedé steht schon dazwischen. Ohne es vielleicht zu wissen, fürchtet er den Tod kaum. Dauern, dauern lassen… für Hochedé versöhnen sich Sterben und Leben.

Zunächst hat mich an ihm seine Bangigkeit verblüfft, als Gavoille ihm sein Chronometer entleihen wollte, um Geschwindigkeiten an der zurückgelegten Strecke abzustoppen.

»Herr Oberleutnant… nein… ich tue das nicht gern …«

»Du bist blöde! Es ist für eine Kontrolle von zehn Minuten!«

»Herr Oberleutnant… Im Magazin der Gruppe ist eines.«

»Gewiß. Aber seit sechs Wochen ist es auf zwei Uhr sieben stehengeblieben.«

»Herr Oberleutnant… so etwas wie ein Chronometer verleiht man nicht… Ich bin nicht verpflichtet, mein Chronometer auszuleihen … Das können Sie nicht verlangen!«

Die militärische Zucht und die geheiligte Rangordnung können von einem Hochedé verlangen, daß er, kaum in Flammen abgeschossen und wie durch ein Wunder unversehrt, ein anderes Flugzeug besteigt für einen weiteren, und zwar ganz besonders gefahrvollen Auftrag … nicht aber, daß er respektlosen Händen ein sehr kostbares Chronometer anvertraut, das ein Dreifaches seines Monatsgehaltes gekostet hat und allabendlich mit geradezu mütterlicher Sorgfalt aufgezogen wurde. Wenn man die Männer aufgeregt hantieren sieht, kann man sich denken, daß sie von Chronometern nichts verstehen.

Und als Hochedé als Sieger, sobald sein gutes Recht einmal feststand, sein Chronometer ans Herz drückend und noch ganz dampfend vor Entrüstung das Geschäftszimmer verließ, da hätte ich ihn umarmen können. Ich entdeckte die heimliche Liebe eines Hochedé. Er wird für sein Chronometer kämpfen. Sein Chronometer existiert. Und er wird für sein Land sterben. Sein Land existiert. Hochedé existiert und ist mit ihnen verbunden. Mit allen seinen Fasern ist er mit der Welt verbunden.

Darum liebe ich Hochedé, ohne daß ich ein Bedürfnis empfinde, es ihm zu sagen. So habe ich Guillaumet verloren, er wurde abgeschossen — der beste Freund, den ich gehabt habe — und vermeide es, von ihm zu sprechen. Wir haben dieselben Linien beflogen, an denselben Aufbauarbeiten teilgenommen. Wir waren aus demselben Stoff. Mit ihm ging ein Teil von mir selbst dahin. Ich habe Guillaumet zum Genossen meines Schweigens gemacht. Ich bin ein Stück von Guillaumet.

Ich bin ein Stück von Guillaumet, von Gavoille, von Hochedé. Ich bin ein Stück der Gruppe 2/33. Ich bin ein Stück meiner Heimat. Und sie alle von der Gruppe 2/33 sind Stücke dieses Landes…

23

Ich habe mich sehr verändert! In diesen Tagen war ich verbittert, Kommandeur Alias. Während in diesen Tagen der Panzereinbruch nur noch ins Leere vorstieß, haben die verzweifelten Flüge der Gruppe 2/33 siebzehn von dreiundzwanzig Besatzungen gekostet. Sie als erster, wir alle nahmen die Aufgabe auf uns, so meinte ich, aus Regiegründen die Totenrolle zu spielen. Ach! Kommandeur Alias, ich war verbittert, ich täuschte mich!

Wir krampften uns, Sie als erster, an den Buchstaben einer Pflicht, deren Geist sich verdunkelt hatte. Sie trieben uns instinktiv nicht mehr zum Siegen, das war unmöglich, aber zur Selbstvollendung. Sie wußten so gut wie wir, daß die Erkundungen, die wir einholten, an niemand weitergegeben würden. Doch sie retteten ein Dekorum, dessen Sinn verborgen lag. Sie fragten uns ernsthaft, als ob unsere Antworten von Nutzen sein könnten, über Panzeransammlungen, Kähne, Lastwagen, Bahnhöfe, Züge in den Bahnhöfen aus. Ihre Ungläubigkeit schien mir geradezu aufreizend:

»Doch, doch! Vom Führersitz aus kann man recht gut beobachten.«

Und doch hatten Sie recht, Kommandeur Alias!

Diese Menge, die ich überfliege, über Arras habe ich sie wohl in acht genommen. Ich bin nur dem verbunden, den ich beschenke. Ich verstehe nur, wem ich mich liebend nahe. Ich existiere nur, insoweit mich die Quellen meiner Wurzeln tränken. Ich bin ein Teil dieser Menge. Diese Menge ist ein Teil von mir. Nachdem ich mit fünfhundertdreißig Stundenkilometern und in zweihundert Meter Höhe nun nach unten meine Wolke durchstoßen habe, umfange ich sie im Abendlicht wie ein Schäfer, der mit einem Blick die Herde überzählt, sammelt und vereint. Diese Menge ist keine Menge mehr: sie ist ein Volk. Wie sollte ich ohne Hoffnung sein?

Trotz der Verwesung der Niederlage trage ich wie beim Verlassen eines Sakraments jenes ernste dauernde Jubeln in mir. Ich bewege mich im Unzusammenhängenden und bin doch wie siegreich. Wer ist der Kamerad, der von seinem Auftrag heimkehrt und nicht diesen Sieger in sich trägt? Hauptmann Pénicot hat mir seinen Flug von heute früh erzählt: »Als eine der Abwehrbatterien mir zu genau zu schießen schien, kurvte ich direkt auf sie zu mit voller Geschwindigkeit dicht über dem Boden und ließ eine Maschinengewehrgarbe los, die schlagartig dieses rötliche Licht auslöschte, wie ein Windstoß eine Kerze. Eine Zehntelsekunde später fiel ich wie der Wirbelwind über die Besatzung her … Es war, als ob ihre Waffe explodiert wäre! Die Bedienungsmannschaft fand ich zerstreut, Hals über Kopf auf der Flucht. Ich hatte den Eindruck, ich spielte Kegel.« Pénicot lachte großartig, Pénicot, siegreicher Hauptmann!

Ich weiß, daß der Auftrag auch jenen Bordschützen Gavoilles mit verwandelt haben wird, der in der Nacht, von dem Dom aus achtzig Scheinwerfern gefaßt, wie zu einer Soldatenhochzeit unter gezücktem Degen durchging.

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»Sie können auf vierundneunzig gehen.«

Dutertre hat sich nach der Seine zurechtgefunden. Ich bin auf hundert Meter heruntergegangen. Der Boden saust auf uns zu mit fünfhundertdreißig Stundenkilometern. Große Rechtecke mit Luzerne oder Getreide und dreieckige Waldparzellen. Ich empfinde ein tolles körperliches Wohlbehagen, dieses Hagelunwetter zu beobachten, das mein Bug unablässig spaltet. Die Seine taucht vor mir auf. Wie ich sie schräg überfliege, entzieht sie sich, als ob sie taumelte. Diese Bewegung macht mir den gleichen Spaß wie die Mahd, die unter dem Hieb der Sense sich biegend umlegt. Ich fühle mich richtig wohl. Ich bin der Chef an Bord. Die Behälter halten dicht. Nachher knöpfe ich Pénicot beim Pokern ein Glas ab, dann schlage ich Lacordaire beim Schach. Das ist bei mir so Sitte, wenn ich Sieger bin. »Herr Hauptmann … Sie schießen … Wir sind auf Sperrgebiet…«

Er berechnet ja die Navigation. Mich kann kein Vorwurf treffen.

»Schießen sie stark?«

»Sie schießen, so gut sie können …«

»Biegen wir ab?«

»Ach nein…«

Es klingt verbraucht. Wir haben ja die Sintflut kennengelernt. Bei uns ist das Flakschießen nur so ein Frühlingsgeträufel.

»Dutertre…Wissen Sie … es ist doch blödsinnig, sich so daheim abschießen zu lassen!«

»Schießen nichts ab … Sind beim Üben.«

Dutertre ist verbittert.

Ich bin nicht verbittert. Ich bin glücklich. Am liebsten möchte ich mit meinen Landsleuten sprechen.

»Ha… ja… schießen wie die …«

Sieh da, nun wird einer lebendig! Ich merke, daß mein Bordschütze bisher von sich aus kein einziges Lebenszeichen gegeben hat. Er hat das ganze Abenteuer verdaut, ohne ein Mitteilungsbedürfnis zu haben. Höchstens, daß er beim heftigsten Flakbeschuß ein »Ah, la, la« von sich gegeben hat. Jedenfalls war er nicht übertrieben aussprachebedürftig.

Aber hier geht es um sein Fachgebiet: das Maschinengewehr. Wenn es sich um ihr Fachgebiet handelt, sind die Fachleute nicht mehr zu halten.

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Ich kann nicht anders, als diese beiden Welten einander gegenüberzuhalten: die Welt des Flugzeugs und die Welt des Erdbodens. Ich habe Dutertre und meinen Bordschützen über die erlaubten Grenzen hinaus mitgerissen. Wir haben Frankreich lodern sehen. Wir sind in großer Höhe zu Greisen geworden. Wir haben uns nach einer fernen Erde wie über Museumsschaukästen gebeugt. Wir haben in der Sonne mit dem Staub feindlicher Jäger gespielt. Dann sind wir wieder heruntergegangen. Wir haben uns in den Brand geworfen. Wir haben alles geopfert. Und dabei haben wir mehr über uns selber gelernt, als wir in zehn Jahren Nachdenken gelernt hätten. Schließlich sind wir aus diesem zehnjährigen Kloster herausgekommen… Und nun ist auf dieser Straße, die wir vielleicht auf dem Weg nach Arras überflogen, die Karawane beim Wiederbegegnen um höchstens fünfhundert Meter weitergekommen.

Während sie einen steckengebliebenen Wagen in den Graben schaffen, ein Rad auswechseln, unverrückt auf dem Steuerrad trommeln, um eine Querstraße ihre eigenen Trümmer vorbeischaffen zu lassen, in dieser Zeit werden wir unseren Landeplatz wieder erreicht haben.

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Wir durchmessen die Niederlage in ihrem ganzen Ausmaß. Wir gleichen jenen Pilgern, die die Wüste nicht schreckt, wenn sie dort auch zu leiden haben; denn in ihrem Herzen wohnen sie schon in der heiligen Stadt. Die Nacht, die hereinbricht, wird diese durcheinandergewürfelte Menge in ihrem elenden Stall zusammenpferchen. Die Herde drängt sich zusammen. Wonach sollte sie rufen? Doch uns ist es beschert, zu unseren Kameraden zu eilen, und mir scheint, wir eilen zu einem Fest. So verwandelt eine einfache Hütte, wenn sie in der Ferne ihr Licht entzündet, die härteste Winternacht in eine Weihnacht. Dort, wo wir hineilen, werden wir empfangen. Dort, wo wir hineilen, werden wir am gemeinsamen Abendbrot teilhaben.

Für heute reicht es mit dem Abenteuer: Ich bin glücklich und müde. Ich überlasse das Flugzeug mit seinen vielen Löchern dem technischen Personal. Ich lege dann meine schwere Fliegerkleidung ab, und da es zu spät ist, mit Pénicot um ein Glas zu spielen, werde ich mich ganz einfach zum Abendessen unter die Kameraden setzen…

Wir haben uns verspätet. Kameraden, die sich verspäten, kehren nicht wieder. Sie haben sich verspätet? Sind überfällig. Um so schlimmer für sie. Die Nacht schaukelt sie in die Ewigkeit. Beim Abendessen zählt die Gruppe ihre Toten.

Die Verschollenen gewinnen in der Erinnerung. Man kleidet sie für immer in ihr hellstes Lachen. Wir müssen auf diesen Vorteil verzichten. Wir tauchen verstohlen auf wie böse Geister und Wilderer. Der Kommandeur wird seinen Bissen Brot nicht einschieben. Er wird uns anschauen. Er wird vielleicht sagen: »Ach!… Da sind Sie ja…« Die Kameraden werden schweigen. Sie werden uns kaum beachten.

Früher hatte ich wenig Achtung vor großen Männern. Es war nicht recht. Man altert nie. Kommandeur Alias! Die Männer sind in Ordnung, auch wenn sie einmal zurückkommen: »Da bist du ja, du, einer von uns…« Doch die Scham läßt sie schweigen.

Kommandeur Alias! Kommandeur Alias! Diese Gemeinschaft bei Ihnen habe ich wie ein Feuer für Blinde genossen. Der Blinde setzt sich hin und breitet seine Hände aus, er weiß nicht, woher ihm seine Freude kommt. Von unseren Aufträgen kommen wir heim, bereit, einen unerhörten Dank zu empfangen: Nichts weiter als einfach die Liebe.

Wir erkennen darin die Liebe gar nicht wieder. Die Liebe, an die wir für gewöhnlich denken, hat ein stürmischeres Gebaren. Doch hier haben wir die wahre Liebe: Ein Gewebe von Bindungen, das einen werden läßt.

24

Ich habe meinen Bauern nach der Anzahl der Instrumente gefragt. Und mein Bauer gab mir zur Antwort: »Ich verstehe nichts von Ihrem Kram. Von den Instrumenten müssen, denk ich, ein paar fehlen: die uns den Krieg hätten gewinnen lassen … Wollen Sie mit uns zusammen zu Abend essen?«

»Danke, ich habe schon gegessen.« —

Sie haben mich aber mit Gewalt zwischen die Nichte und die Bäuerin gesteckt:

»Du, Mädchen, rück’ ein bißchen… Mach Platz für den Hauptmann.«

Und ich merke, ich bin nicht nur mit meinen Kameraden verbunden. Sondern durch sie mit meiner ganzen Heimat. Hat die Liebe einmal gekeimt, dann treibt sie Wurzeln, die endlos weiterwachsen.

Der Bauer verteilt das Brot schweigend. Die Sorgen des Tages haben ihn mit einem eigenen Ernst geadelt. Zum letztenmal vielleicht besorgt er diese Teilung, als versehe er ein heiliges Amt.

Und ich denke an die Felder ringsum, die die Substanz dieses Brotes gebildet haben. Morgen wird der Feind sie überfluten. Man braucht sich nicht auf ein Getümmel bewaffneter Männer gefaßt zu machen! Die Erde ist groß. Vielleicht wird die Besetzung an dieser Stelle nur einen einsamen Wachtposten aufweisen, weithin verloren in der Unendlichkeit der Felder, einen grauen Fleck am Rande des Korns. Dem äußeren Schein nach wird sich nichts geändert haben, doch wenn es sich um den Menschen handelt, genügt ein Zeichen, um alles zu verändern.

Der Windstoß, der übers Erntefeld streicht, gleicht immer dem Wind überm Meer. Doch der Windstoß übers Erntefeld umfaßt, so scheint uns, noch mehr, überschlägt er doch im Wehen ein Erbe. Er gedenkt der Zukunft. Er liebkost eine Gattin, streicht ihr friedlich durchs Haar.

Morgen wird dieses Korn sich verändert haben. Korn ist etwas anderes als fleischliche Nahrung. Den Menschen ernähren ist etwas anderes als ein Stück Vieh mästen. Das Brot spielt so mancherlei Rollen! Wir haben im Brot ein Werkzeug menschlicher Gemeinschaft kennengelernt, um des Brotes willen, das gemeinsam gebrochen wird. Wir haben im Brot das Bild der Größe der Arbeit kennengelernt, um des Brotes willen, das im Schweiße des Angesichts verdient wird. Wir haben im Brot den wesentlichen Träger der Barmherzigkeit kennengelernt um des Brotes willen, das in der Stunde des Elends ausgeteilt wird. Der Geschmack des geteilten Brotes hat nicht seinesgleichen. Nun aber ist die ganze Macht dieser geistigen Nahrung, des geistigen Brotes, das diesem Kornfeld entwachsen wird, in Gefahr. Wenn mein Bauer morgen das Brot bricht, wird er vielleicht nicht mehr dieselbe häusliche Kulthandlung vollziehen. Morgen wird das Brot vielleicht nicht mehr dieselben leuchtenden Blicke nähren. Brot gleicht dem Öl in der Lampe. Es wandelt sich im Licht. Ich beobachte die Nichte, die sehr schön ist, und sage mir: Durch sie verwandelt sich das Brot in sehnsüchtige Anmut. Es wird zur Scham. Es wird zu süßem Schweigen. Wenn dasselbe Brot nun aber dank einem einfachen grauen Fleck am Rande eines Ährenmeeres morgen dieselbe Lampe nährt, wird es vielleicht nicht mehr dieselbe Flamme bilden. Das Wesen der Macht des Brotes wird sich gewandelt haben.

Ich habe viel mehr noch darum gekämpft, die Güte eines Lichts zu wahren, als die körperliche Nahrung zu retten. Ich habe um den besonderen Schimmer gekämpft, in den sich das Brot in den Häusern bei mir daheim verwandelt. Was mich zunächst an diesem stillen jungen Mädchen erregt, ist die unkörperliche Hülle. Ist irgendein geheimnisvolles Band zwischen den Linien eines Gesichts. Ist das Gedicht, das auf der Seite zu lesen steht — und nicht die Seite selber.

Sie hat sich beobachtet gefühlt. Sie hat die Augen nach mir erhoben. Mir scheint, sie hat mir zugelächelt… Es war nur eben wie ein Hauch über einem stillen Gewässer. Diese Erscheinung verwirrt mich. Geheimnisvoll gegenwärtig fühle ich unsere eigene Seele, die sich hier und sonst nirgends findet. Ich koste einen Frieden, von dem ich mir sage: »In stillen Bereichen wohnt der Friede…«

Ich habe den Schimmer des Korns aufleuchten sehen.

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Das Antlitz der Nichte glättete sich wieder auf geheimnisvollem Grund. Die Bäuerin seufzt, schaut um sich und schweigt. Der Bauer, der den kommenden Tag überdenkt, verschließt sich in seine Weisheit. In ihrem allgemeinen Schweigen liegt ein innerer Reichtum gleich dem Erbe eines Dorfes — auch er ist bedroht.

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Seltsam hellsichtig fühle ich mich verantwortlich für diesen unsichtbaren Hort. Ich verlasse den Hof. Ich gehe langsamen Schrittes. Ich nehme diese Bürde mit mir, süßer noch als drückend, gleich einem Kind, das an meiner Brust eingeschlummert lehnte.

Ich hatte mir dieses Zwiegespräch mit meinem Dorf versprochen. Aber ich habe nichts zu sagen. Ich gleiche einer Frucht, die fest am Baume haftet, an den ich eben vor einigen Stunden dachte, als die Angst sich legte. Ich fühle mich mit den Leuten meiner Heimat ganz einfach verbunden. Ich bin ein Teil von ihnen wie sie von mir. Als mein Bauer das Brot verteilte, hat er nichts hergegeben. Er hat geteilt und ausgetauscht. Dasselbe Korn kreiste in uns. Der Bauer ist nicht ärmer geworden. Er wurde reicher: Er nährte sich von einem besseren Brot, da es sich in Brot der Gemeinschaft verwandelt hatte. Als ich heute nachmittag für sie zu meinem Kriegsauftrag startete, habe ich ihnen ebensowenig etwas hergegeben. Wir geben ihnen nichts her, wir von der Gruppe. Wir sind ihr Anteil am Kriegsopfer. Ich verstehe, warum Hochedé ohne große Worte Krieg führt, wie ein Schmied, der für sein Dorf schmiedet. »Wer sind Sie?« »Ich bin der Schmied vom Dorf.« Und der Schmied ist glücklich bei seiner Arbeit.

Wenn ich jetzt hoffe, während sie zu verzweifeln scheinen, unterscheide ich mich ebensowenig von ihnen. Ich bin einfach ihr Anteil an der Hoffnung. Gewiß sind wir schon besiegt. Alles ist in der Schwebe. Alles bricht zusammen. Und doch empfinde ich weiterhin die Ruhe eines Siegers. Die Worte widersprechen sich? Ich pfeife auf die Worte. Ich bin wie Pénicot, Hochedé, Alias, Gavoille. Wir verfügen über keine Sprache, um unser Siegesgefühl zu rechtfertigen. Aber wir fühlen uns verantwortlich. Niemand kann sich gleichzeitig verantwortlich und verzweifelt fühlen.

Niederlage… Sieg… Ich weiß mit diesen Formeln nichts Rechtes anzufangen. Es gibt Siege, die erheben, und andere, die erniedrigen. Niederlagen, die töten, und andere, die erwecken. Das Leben drückt sich nicht im Zustand, sondern im Verhalten aus. Der einzige Sieg, an dem ich nicht zweifeln kann, ist der, der in der Keimkraft der Samen schlummert. Ist erst das Korn weithin in die schwarze Erde gepflanzt, dann ist es schon siegreich. Man muß jedoch Zeit verstreichen lassen, um seinen Triumph im Korn zu erleben.

Heute morgen war nur ein wehrloses Heer und eine wirre Menge da. Doch ist nur ein einziges Bewußtsein da, in dem sie sich bereits zusammenfindet, dann ist eine wirre Menge nicht mehr verwirrt. Die Steine vom Bau sind nur scheinbar ein wirrer Haufen, wenn verloren auf der Baustelle ein Mensch, nur ein einziger Mensch ist, der in Domen denkt. Ich sorge mich nicht um den einzelnen Klumpen Schlamm, wenn er ein Samenkorn birgt. Das Korn wird ihn trockenlegen für den Bau.

Wer den Weg zur inneren Schau findet, verwandelt sich in Samenkorn. Wer einen Lichtschimmer entdeckt, zupft jeden am Ärmel, ihn ihm zu zeigen. Wer erfindet, gibt seine Erfindung sogleich weiter. Ich weiß nicht, wie ein Hochedé sich ausdrücken oder handeln wird. Das ist auch nicht so wichtig für mich. Er wird seinen unerschütterlichen Glauben um sich verbreiten. Schon ahne ich das Prinzip aller Siege deutlicher: Wer sich einen Posten als Küster oder Stuhlvermieter im fertigen Dom sichert, ist schon besiegt. Wer aber im Herzen einen künftigen Dombau trägt, der ist schon Sieger. Der Sieg ist die Frucht der Liebe. Die Liebe allein erkennt das Gesicht, das es zu formen gilt. Die Liebe allein leitet zu ihm hin. Die Intelligenz taugt nur im Dienst der Liebe.

Der Bildhauer ist trächtig von seinem Werk: Es ist kaum wichtig, ob er weiß, wie er es formen wird. Von Daumendruck zu Daumendruck, von Irrtum zu Irrtum, von Widerspruch zu Widerspruch wird er geradeaus durch den Lehm hindurch zur Schöpfung schreiten. Weder Intelligenz noch Urteilsvermögen sind schöpferisch. Wenn der Bildhauer nur Wissenschaft und Intelligenz ist, werden seine Hände genielos sein.

Zu lange haben wir uns über die Rolle der Intelligenz getäuscht. Wir haben die Grundsubstanz des Menschen vernachlässigt. Wir haben gemeint, die Kunstfertigkeit niedriger Seelen könne zum Triumph edler Vorhaben mithelfen, der wendige Egoismus könne den Geist des Opfers übertrumpfen, die Nüchternheit des Herzens könne mit schönen Reden Brüderlichkeit oder Liebe gründen. Wir haben das Wesen vernachlässigt. Das Samenkorn der Zeder wird zur Zeder, es mag wollen oder nicht. Das Samenkorn eines Brombeerstrauches wird zum Brombeerstrauch. Von nun an denke ich nicht mehr daran, den Menschen nach den Formeln zu beurteilen, die seinen Entscheidungen zugrunde liegen. Man täuscht sich zu leicht über die Bürgschaft der Worte wie über die Richtung der Taten. Wer auf sein Heim zugeht, weiß nicht, geht er zum Streit oder geht er zur Liebe. Ich werde mich fragen: »Was für ein Mensch ist er?« Dann erst werde ich erkennen, wohin es ihn zieht und wohin er gehen wird. Am Ende geht einer doch immer dahin, wohin es ihn zieht.

Von der Sonne betreut findet der Keim immer seinen Weg durch das Geröll des Bodens. Wenn keine Sonne ihn zu sich zieht, ertrinkt der reine Logiker immer in der verwirrenden Fülle der Probleme. Ich werde die Lehre im Sinn behalten, die mir mein Feind selbst gegeben hat. Welche Richtung muß die Panzerkolonne nehmen, um den Gegner im Rücken abzuschnüren? Man weiß keine Antwort darauf. Was muß die Panzerkolonne sein? Sie muß der Wucht der Meeresbrandung gegen den Damm gleichen.

Was muß einer tun? Dieses. Oder das Gegenteil. Oder etwas anderes. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Was muß einer sein? Das erst ist die wesentliche Frage; denn der Geist allein befruchtet den Verstand. Er ist vom künftigen Werke trächtig. Der Verstand wird ihn zum Ziele führen. Was muß der Mensch tun, um das erste Schiff zu erschaffen?

Die Formel ist zu verwickelt. Im Grunde wird dieses Schiff aus tausend widersprechenden Tastversuchen erstehen. Aber dieser Mensch, was muß er sein? Hier halte ich die Schöpfung an ihrer Wurzel. Er muß Kaufmann oder Soldat sein; denn dann wird er erfüllt von der Sehnsucht nach fernen Ländern, Techniker herbeirufen, Arbeiter einsetzen und eines Tages sein Schiff vom Stapel lassen! Was muß einer tun, damit ein ganzer Wald davonfliegt? Ach! Das ist zu schwierig … Was muß einer sein? Er muß Feuersbrunst sein! Morgen kommt die Nacht über uns. Möge mein Land noch bestehen, wenn der neue Tag anbricht! Was muß einer tun, um es zu retten? Wie läßt sich eine einfache Lösung formulieren? Die Notwendigkeiten widersprechen sich. Wichtig ist, das geistige Erbe zu retten, ohne welches das Volk seiner Seele beraubt wäre. Wichtig ist, das Volk selbst zu retten, ohne welches die Seele verlorenginge. In Ermangelung einer Sprache, die die beiden Rettungen miteinander vereinte, werden die Logiker versucht sein, entweder die Seele oder den Körper zu opfern. Aber ich pfeife auf die Logiker. Ich will, daß mein Volk besteht — geistig und leiblich —, wenn der neue Tag anbricht. Um zum Wohle meines Landes zu handeln, muß ich jeden Augenblick meine ganze Liebe in diese Richtung werfen. Es gibt keinen Durchgang, den das Meer nicht fände, wenn es drückt. Ich kann nicht mehr an der Rettung zweifeln. Nun verstehe ich das Bild meines Feuers für Blinde besser.

Wenn der Blinde auf das Feuer zugeht, dann geschieht dies darum, weil in ihm das Bedürfnis nach dem Feuer erstanden ist. Das Feuer leitet ihn schon. Wenn der Blinde das Feuer sucht, hat er es auch schon gefunden. So besitzt der Bildhauer seine Schöpfung schon, wenn er auf den Lehm drückt. Bei uns ist es ebenso. Wir empfinden die Wärme unserer Bindungen: darum sind wir bereits siegreich.

Unsere Gemeinschaft wird uns schon fühlbar. Sicherlich müssen wir sie ausdrücken, um sie zum Sammelpunkt zu machen. Das ist die Aufgabe des Bewußtseins und der Sprache. Um nichts von ihrer Grundsubstanz zu verlieren, müssen wir uns aber auch taub für die Fallen der behelfsmäßigen Logiken, der Erpressungen und Polemiken machen. Wir dürfen vor allem nichts von dem verleugnen, wozu wir gehören. Darum beginne ich im Schweigen meiner Dorfnacht an eine Mauer gelehnt nach der Heimkehr von meinem Auftrag über Arras — und wie mir scheint, erleuchtet durch meinen Auftrag — mir einfache Regeln aufzuerlegen, die ich niemals übertreten werde.

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Da ich ein Teil von ihnen bin, werde ich niemals die Meinen verleugnen, was sie auch tun mögen. Ich werde nie vor jemand anderem gegen sie predigen. Wenn ich ihre Verteidigung übernehmen kann, werde ich sie verteidigen. Wenn sie mich mit Schande bedecken, werde ich diese Schande in meinem Herzen verschließen und schweigen. Was ich dann auch über sie denken mag, ich werde nie als Belastungszeuge dienen. Ein Gatte geht nicht von Haus zu Haus, um selber seine Nachbarn davon zu unterrichten, daß seine Frau eine Dirne ist. So wird er seine Ehre nicht retten. Denn seine Frau ist ein Teil von seinem Heim. Er kann sich nicht gegen sie besser machen. Erst wenn er heimgekehrt ist, hat er das Recht, seinem Zorn Luft zu machen.

So werde ich mich mit einer Niederlage völlig solidarisch erklären, die mich oft erniedrigen wird. Ich gehöre zu Frankreich. Frankreich formte Leute wie Renoir, Pascal, Pasteur, Guillaumet, Hochedé. Es formte auch Unfähige, Politikaster wie Betrüger. Aber es scheint mir zu bequem, sich den einen zuzuzählen und jede Verwandtschaft mit den andern zu leugnen. Die Niederlage spaltet. Die Niederlage zerlegt, was ganz war. Darin liegt eine tödliche Drohung: ich werde nicht zu diesen Spaltungen beitragen, indem ich die Verantwortung für das Unglück auf Andersdenkende unter den Meinen abwälze. In solchen Verfahren, bei denen der Richter fehlt, ist nichts zu holen. Wir sind alle besiegt worden. Ich bin besiegt worden. Hochedé ist besiegt worden. Hochedé schiebt die Niederlage nicht auf andere ab. »Ich, Hochedé, ich, der ich Frankreich angehöre, ich bin schwach gewesen. Das Frankreich Hochedés ist schwach gewesen. Ich bin schwach in ihm und es ist schwach in mir gewesen.« Hochedé weiß genau, daß es eitle Selbstverherrlichung wäre, wenn er sich von den Seinen löst. Er wird dann nicht mehr der Hochedé eines Heims, einer Familie, einer Gruppe, einer Heimat sein. Er wird nur noch der Hochedé einer Wüste sein.

Wenn ich es auf mich nehme, mich durch meine Familie erniedrigen zu lassen, kann ich auf meine Familie einwirken. Sie ist ein Teil von mir, wie ich ein Teil von ihr bin. Wenn ich aber die Erniedrigung ablehne, wird meine Familie zerfallen, wie es gerade kommt, und ich werde stolz, aber leer wie ein Toter, einsam meinen Weg gehen.

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Um zu sein, ist es zunächst einmal wichtig, daß man eine Verantwortung übernimmt. Eben, vor einigen Stunden noch, war ich blind. Ich war verbittert. Doch nun urteile ich klarer. Ebenso wie ich nicht daran denke, mich über andere Franzosen zu beklagen, seitdem ich mich als ein unlösbarer Teil Frankreichs empfinde, ebenso verstehe ich nicht mehr, daß Frankreich sich über die Welt beklagt. Jeder ist für alle verantwortlich. Frankreich war verantwortlich für die Welt. Frankreich hätte der Welt das gemeinsame Maß zeigen können, das sie geeint hätte. Frankreich hätte der Welt als Schlußstein dienen können. Wenn Frankreich ein wundersames Frankreich, ein strahlendes Frankreich gewesen wäre, dann hätte sich die Welt durch Frankreich zum Widerstand aufgerafft. Ich widerrufe von nun an meine Vorhaltungen der Welt gegenüber. Wenn die Welt kein Gewissen besaß, war Frankreich es sich selber schuldig, ihr als Gewissen zu dienen.

Frankreich hätte als Sammelpunkt dienen können. Meine Gruppe 2/33 hat sich nacheinander freiwillig für den Krieg in Norwegen, dann in Finnland gemeldet. Was bedeuteten Norwegen und Finnland für die Soldaten und Unteroffiziere bei mir daheim? Es kam mir immer so vor, daß sie sich unbewußt mit dem Sterben abfanden aus einer gewissen Freude an Weihnachten. Die Rettung dieser Seligkeit in der Welt schien ihnen das Opfer ihres Lebens wert zu sein. Wenn wir das Weihnachten der Welt gewesen wären, hätte sich die Welt durch uns gerettet.

Die geistige Gemeinschaft der Menschen in der Welt hat sich nicht zu unseren Gunsten ausgewirkt. Indem wir aber diese menschliche Gemeinschaft in der Welt gegründet hätten, würden wir die Welt und uns selbst gerettet haben. Wir haben bei dieser Aufgabe versagt. Jeder ist für alle verantwortlich. Jeder ist allein verantwortlich. Jeder ist allein für alle verantwortlich. Ich verstehe zum ersten Male eines der Geheimnisse der Religion, aus der die Kultur hervorging, die ich als die meine anspreche: »Die Sünden der Welt zu tragen…« Und jeder trägt alle Sünden der ganzen Welt.

25

Wer sieht darin die Lehre eines Schwächlings? Führer ist der, der alles auf seine Kappe nimmt. Er sagt: Ich bin geschlagen worden. Er sagt nicht: Meine Soldaten sind geschlagen worden. So spricht der wahrhafte Mann. Hochedé würde sagen: »Ich bin verantwortlich.«

Ich verstehe den Sinn der Demut. Sie ist kein Verächtlichmachen seiner Selbst. Sie ist das eigentliche Prinzip des Handelns. Wenn ich in der Absicht, mich freizusprechen, mein Unglück mit dem Schicksal entschuldige, unterwerfe ich mich dem Schicksal. Wenn ich es durch Verrat entschuldige, unterwerfe ich mich dem Verrat. Wenn ich den Fehler auf mich nehme, beanspruche ich mein Vermögen als Mann. Ich kann auf das einwirken, an dem ich teilhabe. Ich bin ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Gemeinschaft. Es ist also einer in mir, den ich bekämpfe, um mich über mich selbst hinauswachsen zu lassen. Ich mußte diese schwierige Fahrt unternehmen, um so in mir wohl oder übel das Individuum, das ich bekämpfe, vom Menschen zu unterscheiden, der wächst. Ich weiß nicht, was das Bild taugt, das mir einfällt, aber ich sage mir: »Das Individuum ist nur ein Weg. Der Mensch allein, der ihn einschlägt, zählt.«

Ich kann kein Genüge mehr an polemischen Wahrheiten finden. Was nützt es, die Individuen anzuklagen. Sie sind nur Wege und Durchgänge. Ich kann für das Einfrieren meiner Maschinengewehre nicht mehr Nachlässigkeiten von Beamten, für das Ausbleiben befreundeter Völker auch nicht mehr deren Egoismus verantwortlich machen. Gewiß drückt sich die Niederlage durch Verfehlungen Einzelner aus. Aber eine Kultur knetet sich ihre Menschen zurecht. Wenn die, die ich für mich in Anspruch nehme, durch das Versagen von Individuen bedroht ist, habe ich das Recht, mich zu fragen, warum sie sie nicht anders zurechtgeformt hat.

Eine Kultur wie eine Religion klagt sich selbst an, wenn sie sich über die Schlaffheit ihrer Getreuen beklagt. Sie ist es sich schuldig, sie anzuspornen. Genauso ist es, wenn sie sich über den Haß der Abtrünnigen beschwert. Sie ist es sich schuldig, sie zu bekehren. Meine eigene nun hat zwar früher einmal ihren Beweis erbracht, hat ihre Apostel entflammt, die Gewalttätigen zerbrochen, die Sklavenvölker befreit, aber heute hat sie nicht mehr anzuspornen noch zu bekehren verstanden. Wenn ich die Wurzel der verschiedenen Ursachen meiner Niederlage bloßzulegen suche, wenn ich den Ehrgeiz habe, ein neues Leben zu beginnen, muß ich zunächst die Triebkraft wiederfinden, die ich verloren habe.

Denn mit der Kultur verhält es sich wie mit dem Korn. Das Korn nährt den Menschen, aber der Mensch seinerseits bewahrt das Korn und speichert das Saatgut. Von Korngeneration zu Korngeneration wird das Saatgut als ein Erbe geachtet.

Es genügt mir nicht, zu wissen, welches Korn ich aufgehen lassen möchte. Wenn ich einen Menschentyp — samt seinem inneren Vermögen — retten will, muß ich auch die Prinzipien retten, die ihn formen.

Ich habe nun zwar das Bild der Kultur bewahrt, die ich als meine eigene beanspruche, aber ich habe die Regeln verloren, die sie weitergaben. Ich entdecke heute abend, daß die Worte, die ich gebrauchte, nicht mehr das Wesentliche trafen. So predigte ich die Demokratie, ohne zu ahnen, daß ich damit über die Eigenschaften und das Schicksal des Menschen nicht mehr eine Gesamtheit von Regeln, sondern eine Gesamtheit von Wünschen aussprach. Ich wünschte die Menschen brüderlich, frei und glücklich. Ganz gewiß. Wer ist nicht dafür? Ich wußte auseinanderzusetzen, wie der Mensch sein soll. — Und nicht, wer er sein soll.

Ohne die Worte zu verdeutlichen, sprach ich von der Gemeinschaft der Menschen. Als ob das Klima, das ich meinte, nicht die Frucht eines besonderen Aufbaus wäre. Es schien mir etwas von Natur Selbstverständliches zu bedeuten. Es gibt nichts von Natur Selbstverständliches. Eine Faschistentruppe, ein Sklavenmarkt sind auch menschliche Gemeinschaften.

Ich wohnte in dieser menschlichen Gemeinschaft nicht mehr als Baumeister. Ich genoß ihren Frieden, ihre Duldsamkeit, ihr Wohlsein. Ich wußte nichts von ihr, außer daß ich in ihr wohnte. Ich wohnte in ihr als Küster oder als Kirchendiener. Also als Parasit. Also als Besiegter.

So sind die Passagiere auf einem Schiff. Sie benutzen das Schiff, ohne ihm etwas zu geben. In Salons geschützt, die sie für einen unumgänglichen Rahmen halten, setzen sie ihre Spiele fort. Sie wissen nichts von der Arbeit der gewaltigen Spanten unter dem ewigen Druck des Meeres. Mit welchem Recht beschweren sie sich, wenn der Sturm ihr Schiff zerschlägt? Wenn die Individuen aus der Art geschlagen sind, wenn ich besiegt worden bin, worüber dürfte ich mich beklagen?

Es gibt ein gemeinsames Maß für die Eigenschaften, das ich für die Menschen meiner Kultur wünsche. Es gibt einen Schlußstein im Gewölbe der besonderen Gemeinschaft, die sie gründen müssen. Es gibt ein einziges Prinzip, aus dem früher alles hervorgegangen ist: Wurzeln, Stamm, Zweige und Früchte. Welches ist es? Es war ein mächtiges Samenkorn auf dem Grund der Menschen. Es allein kann mich zum Sieger machen.

Vielerlei Dinge, scheint mir, begreife ich in meiner seltsamen Dorfnacht. Das Schweigen ist von ganz besonderer Güte. Das geringste Geräusch erfüllt den ganzen Raum wie eine Glocke. Nichts ist mir fremd. Nicht dieses Brüllen des Viehs, nicht jener ferne Ruf, noch dieses Knarren einer Türe, die sich schließt. Alles vollzieht sich wie in mir selbst. Ich muß mich beeilen, den Sinn einer Empfindung zu fassen, die sich verflüchtigen kann.

Ich sage mir: »Das ist das Schießen von Arras …« Das Schießen hat eine Rinde gesprengt. Diesen ganzen Tag über habe ich zweifellos in mir die Wohnung bereitet. Ich war nur ein mürrischer Verwalter. So sieht das Individuum aus. Doch der Mensch kam zum Durchbruch. Er hat sich ganz einfach an meiner Stelle eingerichtet. Er hat die wirre Menge betrachtet und hat dabei ein Volk gesehen. Sein Volk. Der Mensch, das gemeinsame Maß von diesem Volk und mir. Deshalb meinte ich auf dem Weg zur Gruppe, ich eilte auf ein großes Feuer zu. Der Mensch schaute mit meinen Augen. Der Mensch das gemeinsame Maß der Kameraden.

Ist es ein Zeichen? Ich bin so bereit, an Zeichen zu glauben … Heute abend stimmt alles schweigend überein. Jedes Geräusch dringt zu mir gleich einer klaren und zugleich dunklen Botschaft. Ich höre einen ruhigen Schritt durch die Nacht hallen:

»Hallo, guten Abend, Hauptmann…«

»Guten Abend!«

Ich kenne ihn nicht. Es ist zwischen uns wie ein Hallo von Schiffern gewesen, von einem Boot zum andern. Wieder einmal habe ich das Gefühl einer wundersamen Verwandtschaft empfunden. Der Mensch, der heute abend in mir wohnt, hört nicht auf, die Seinen zu zählen. Der Mensch, das gemeinsame Maß der Völker und Rassen…

Jener kam heim mit seinem Sack voll Sorgen, Gedanken und Bildern. Mit seinem eigenen Packen, wohl in ihm verwahrt. Ich hätte ihn anreden und mit ihm sprechen können. Auf dem hellen Dorfweg hätten wir ein paar Erinnerungen ausgetauscht. So tauschen Händler ihre Schätze aus, wenn sie sich auf der Heimfahrt von fernen Inseln begegnen.

Wer in meiner Kultur anders ist als ich, verletzt mich durchaus nicht, er bereichert mich. Unsere Gemeinschaft, die mehr bedeutet als wir selbst, beruht auf dem Menschen. So sind unsere abendlichen Diskussionen in der Gruppe 2/33 weit entfernt, unserer Bruderschaft zu schaden, sie schließen sie dichter; denn keiner will sein eigenes Echo vernehmen oder sich in einem Spiegel betrachten.

Im Menschen finden sich ebenso die Franzosen Frankreichs wie die Norweger Norwegens wieder. Der Mensch verknüpft sie in seiner Einheit, während er gleichzeitig, ohne sich zu widersprechen, ihre besonderen Eigentümlichkeiten hervorhebt. Auch der Baum drückt sich durch Zweige aus, die keine Ähnlichkeit mit den Wurzeln haben. Wenn man also dort oben Märchen über den Schnee schreibt, wenn man in Holland Tulpen züchtet, wenn man in Spanien Nationaltänze improvisiert, dann werden wir alle dadurch im Menschen bereichert. Deshalb haben wir vielleicht, wir von unserer Gruppe, für Norwegen kämpfen wollen…

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Und nun, scheint mir, komme ich am Ziel einer langen Pilgerfahrt an. Ich entdecke nichts Neues, aber als ob ich vom Schlaf erwachte, erkenne ich ganz einfach wieder, was ich nicht mehr beachtet hatte.

Meine Kultur beruht auf dem Kult des Menschen durch die Individuen hindurch. Sie hat jahrhundertelang den Menschen zu zeigen versucht, wie sie gelehrt hätte, einen Dom durch Steine hindurch zu erkennen. Sie hat diesen Menschen gepredigt, der über dem Individuum stand…

Denn der Mensch meiner Kultur bestimmt sich nicht von den Individuen her. Die Individuen werden durch ihn bestimmt. In ihm wie in jedem Wesen ist etwas, das die Bausteine, die es zusammensetzen, nicht erklären. Ein Dom ist etwas ganz anderes als eine Summe von Steinen. Er ist Rechen- und Baukunst. Nicht die Steine bestimmen ihn, er bereichert die Steine durch seine eigene Sinngebung. Diese Steine sind dadurch geadelt, daß sie zu Steinen eines Domes werden. Die verschiedenartigsten Steine dienen seiner Einheit. Der Dom bezieht in sein Hoheslied sogar die fratzenhaftesten Dachspeier ein.

Aber nach und nach habe ich meine Wahrheit vergessen. Ich habe gemeint, der Mensch fasse die Menschen zusammen, wie der Stein an sich die Steine zusammenfaßt. Ich habe den Dom und die Ansammlung von Steinen verwechselt, und nach und nach hat sich das Erbe verflüchtigt. Man muß den Menschen wiederherstellen. Er ist das Wesen meiner Kultur. Er ist der Schlußstein meiner Gemeinschaft. Er ist der Ursprung meines Sieges.

26

Es ist leicht, die Ordnung einer Gesellschaft auf die Unterwerfung jedes einzelnen unter feststehende Regeln zu gründen. Es ist leicht, einen Menschen zu formen, der blind und ohne Widerspruch sich einem Meister oder einer Heilslehre unterordnet. Doch das Gelingen, das darin besteht, den Menschen zu befreien, um ihn über sich selbst herrschen zu lassen, ist viel höher zu bewerten.

Doch was heißt befreien? Wenn ich in einer Wüste einen empfindungslosen Menschen befreie, was bedeutet dann seine Freiheit? Es gibt nur Freiheit eines Jemand, der eine bestimmte Richtung einschlägt. Einen solchen Menschen befreien hieße, ihn den Durst lehren und ihm einen Weg nach einem Brunnen weisen. Dann allein würden sich ihm Mittel und Wege zeigen, die sinnvoll wären. Einen Stein befreien bedeutet nichts, wenn es nicht von der Schwere geschieht. Denn ist der Stein erst einmal frei, dann wird er sich nirgends einfügen.

Meine Kultur hat nun versucht, die menschlichen Beziehungen auf den Kult des Menschen über das Individuum hinaus zu gründen, damit das Verhalten eines jeden gegenüber sich selbst oder seinem Nächsten kein blindes Anpassen an den Brauch des Termitenbaus, sondern eine freie Betätigung der Liebe ist. Der unsichtbare Weg der Schwere befreit den Stein. Der unsichtbare Fluß der Liebe befreit den Menschen. Meine Kultur hat aus jedem Menschen den Sendboten eines und desselben Fürsten zu machen versucht. Sie hat das Individuum als einen Weg oder eine Botschaft eines Größeren als es selbst betrachtet, sie hat der Freiheit seines Aufstiegs magnetische Kraftlinien gewiesen.

Ich kenne wohl den Ursprung dieses Kraftfeldes. Jahrhundertelang hat meine Kultur durch die Menschen hindurch Gott betrachtet. Der Mensch war nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Man achtete Gott im Menschen. Die Menschen waren Brüder in Gott. Dieser Abglanz Gottes verlieh jedem Menschen eine unveräußerliche Würde. Die Beziehungen des Menschen zu Gott begründeten ganz klar die Pflichten eines jeden gegenüber sich selbst und dem Nächsten.

Meine Kultur ist Erbin der christlichen Werte. Ich will über den Bauplan des Domes nachdenken, um seinen Aufbau besser zu verstehen.

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Die innere Schau Gottes machte die Menschen gleich, weil gleich in Gott. Und diese Gleichheit hatte eine deutliche Sinngebung. Denn man kann nur in einer bestimmten Hinsicht gleich sein. Der Soldat und der Hauptmann sind gleich in der Nation. Gleichheit ist nur noch ein sinnloses Wort, wenn nichts vorhanden ist, worin sich diese Gleichheit knüpfen läßt.

Ich verstehe vollkommen, warum diese Gleichheit, eine Gleichheit der Rechte Gottes durch die Individuen hindurch, den Aufstieg eines Individuums zu begrenzen verbot: Gott konnte sich dazu entschließen, ihn zum Weg zu nehmen. Da es sich aber auch um die Gleichheit der Rechte Gottes über die Individuen handelte, verstehe ich, warum die Individuen, wer sie auch sein mochten, denselben Pflichten und derselben Achtung vor den Gesetzen unterworfen waren. Als Ausdruck Gottes waren sie gleich in ihren Rechten. Als Diener Gottes waren sie gleich in ihren Pflichten.

Ich verstehe, warum eine in Gott bestehende Gleichheit keinen Widerspruch und keine Unordnung nach sich zog. Die Demagogie tritt auf, wenn in Ermangelung eines gemeinsamen Maßes das Prinzip der Gleichheit zum Prinzip der Selbstheit entartet. Dann verweigert der Soldat dem Hauptmann den Gruß; denn wenn der Soldat den Hauptmann grüßte, würde er ein Individuum und nicht die Nation ehren.

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat die Menschen im Menschen gleichgemacht.

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Ich verstehe den Ursprung der Achtung der Menschen voreinander. Der Gelehrte schuldete selbst dem Kohlenträger Achtung; denn durch den Kohlenträger achtete er Gott, dessen Sendbote auch der Kohlenträger war. Was auch der hohe Wert des einen und der bescheidene des andern sein mochten, kein Mensch konnte Anspruch darauf erheben, einen andern zu versklaven. Man demütigt keinen Sendboten. Aber diese Achtung vor dem Menschen hatte nicht das erniedrigende Kriechen vor der Mittelmäßigkeit, vor der Dummheit oder Unwissenheit zur Folge, weil in erster Linie diese Eigenschaft eines Sendboten Gottes geehrt wurde. So gründete die Liebe zu Gott zwischen den Menschen edle Beziehungen, da die Angelegenheiten sich von Sendboten zu Sendboten auf einer höheren Ebene als ihrer individuellen Eigenschaft regelten.

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat durch die Individuen hindurch die Achtung vor dem Menschen begründet.

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Ich verstehe den Ursprung der Bruderschaft der Menschen. Die Menschen waren Brüder in Gott. Man kann nur innerhalb einer Einheit Bruder sein. Wenn es kein einendes Band für sie gibt, sind die Menschen nebeneinandergestellt und nicht miteinander verbunden. Man kann nicht Bruder schlechtweg sein. Meine Kameraden und ich sind Brüder in der Gruppe 2/33. Die Franzosen in Frankreich.

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat die Menschen zu Brüdern im Menschen gemacht.

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Ich verstehe die Bedeutung der Pflichten der Nächstenliebe, die mir gepredigt wurden. Die Nächstenliebe diente Gott durch das Individuum hindurch. Sie gebührte Gott, wie gewöhnlich das Individuum auch war. Diese Nächstenliebe erniedrigte den Empfänger nicht, band ihn auch nicht durch die Fesseln der Dankbarkeit, da das Geschenk sich ja nicht an ihn, sondern an Gott richtete. Die Betätigung dieser Nächstenliebe war dagegen niemals eine Ehre, die der Gewöhnlichkeit, der Dummheit oder der Unwissenheit erwiesen wurde. Der Arzt war es sich schuldig, sein Leben in der Pflege des gemeinsten Pestkranken einzusetzen. Er diente Gott. Er verlor nichts dadurch, daß er die Nacht wachend am Lager eines Diebes verbrachte.

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat so aus der Nächstenliebe eine Gabe an den Menschen durch das Individuum hindurch geschaffen.

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Ich verstehe die tiefe Bedeutung der Demut, die vom Individuum verlangt wurde. Sie erniedrigte es keineswegs. Sie erhöhte es. Sie klärte es über seine Rolle als Sendbote auf. Wie sie es nötigte, Gott im Nächsten zu achten, nötigte sie es, jenen in sich selbst zu achten, sich zum Boten Gottes zu machen, der auf dem Wege zu Gott ist. Sie machte ihm zur Pflicht, sich zu vergessen, um sich zu steigern; denn wenn das Individuum sich mit seiner eigenen Bedeutung brüstet, wandelt sich die Straße sogleich in eine Sackgasse.

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat auch die Selbstachtung gepredigt, d. h. die Achtung vor dem Menschen durch sich selbst hindurch.

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Ich verstehe schließlich, warum die Liebe zu Gott die Menschen füreinander verantwortlich gemacht und ihnen die Hoffnung als eine Tugend auferlegt hat. Da sie aus jedem von ihnen einen Sendboten desselben Gottes machte, ruhte in den Händen eines jeden das Heil aller. Als Sendbote eines Größeren als er selbst brauchte keiner zu verzweifeln. Verzweiflung bedeutete Verleugnung Gottes in einem selbst. Die Pflicht zur Hoffnung hätte sich folgendermaßen ausdrücken lassen: »Du hältst dich also für so wichtig? Was bildest du dir mit deiner Verzweiflung ein?«

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Meine Kultur, ein Erbe Gottes, hat jeden für alle Menschen und alle Menschen für jeden einzelnen verantwortlich gemacht. Ein Individuum soll sich für die Rettung einer Gemeinschaft opfern, doch dreht es sich hierbei nicht um ein albernes Rechenkunststück. Es geht um die Achtung vor dem Menschen durch das Individuum hindurch. Tatsächlich besteht die Größe meiner Zivilisation darin, daß hundert Bergleute sich in ihr dazu verpflichtet fühlen, ihr Leben für die Rettung eines einzigen verschütteten Bergmanns zu wagen. Sie retten den Menschen.

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In diesem Lichte verstehe ich vollkommen die Bedeutung der Freiheit. Sie bedeutet freies Wachstum eines Baumes im Kraftfeld seines Samens. Sie bedeutet Lebensbedingung für den Aufstieg des Menschen. Sie gleicht einem günstigen Wind. Dank dem Wind allein sind die Segler frei auf den Wogen.

Ein so gebauter Mensch würde über Baumeskräfte verfügen. Welchen Raum würde er nicht mit seinen Wurzeln bedecken! Welchen menschlichen Rohstoff würde er nicht aussaugen, tun ihn im Sonnenlicht zu entfalten!

27

Doch ich habe alles verdorben. Ich habe das Erbe verschleudert. Ich habe den Begriff des Menschen verkommen lassen.

Um diesen Kult eines Fürsten, den wir durch die Individuen hindurch erschauen, und den hohen Wert menschlicher Beziehungen, die dieser Kult begründete, zu retten, hatte meine Kultur jedoch beträchtliche Energie und Begabung verausgabt. Alle Bemühungen des Humanismus waren nur auf dieses Ziel gerichtet. Der Humanismus hat sich ausschließlich zur Aufgabe gestellt, den Vorrang des Menschen vor dem Individuum klarzumachen und zu verewigen. Der Humanismus hat den Menschen gepredigt.

Wenn es aber darum geht, über den Menschen zu sprechen, versagt die Sprache. Der Mensch unterscheidet sich von den Menschen. Man sagt nichts Wesentliches über den Dom aus, wenn man nur von den Steinen spricht. Man sagt nichts Wesentliches über den Menschen aus, wenn man ihn durch menschliche Eigenschaften zu bestimmen sucht. Der Humanismus hat sich auf diese Weise in einer Richtung betätigt, die von vornherein versperrt war. Er hat den Begriff des Menschen durch eine logische und moralische Beweisführung zu fassen und ihn so in das Bewußtsein zu übertragen versucht.

Keine Erklärung mit Worten kann je die Schau ersetzen. Die Einheit des Wesens ist nicht durch Worte übertragbar. Wenn ich Menschen, die von Kultur nichts wissen, die Liebe zum Heimatland oder zu einem Bauernhof lehren wollte, verfügte ich über kein Beweismittel, sie zu packen. Felder, Weiden und Vieh setzen einen Bauernhof zusammen. Jedes einzelne und alle zusammen haben die Aufgabe, den Wohlstand zu mehren. In dem Bauernhof liegt jedoch etwas, das einer stofflichen Untersuchung entgeht; gibt es doch Besitzer, die aus Liebe zu ihrem Gut sich für seine Rettung zugrunde richten würden. Ganz im Gegenteil ist es dieses Etwas, das die Bestandteile in ganz besonderer Weise adelt. Sie werden zu Vieh eines Gutes, zu Wiesen eines Gutes, zu Feldern eines Gutes…

So wird man auch zum Menschen eines Vaterlandes, eines Berufes, einer Kultur, einer Religion. Um sich aber solchen Wesen zuzurechnen, ist es zunächst erforderlich, daß man sie in sich selbst aufbaut… Und da, wo kein Gefühl für das Vaterland besteht, wird es keine Sprache vermitteln. Man baut in sich selbst nur durch Handlungen das Wesen auf, dem man sich zurechnet. Ein Wesen wird nicht durch die Sprache, sondern durch Handlungen beherrscht. Unser Humanismus hat die Handlungen vernachlässigt. Er hat bei seinem Versuch Schiffbruch gelitten.

Die wesentliche Handlung hat hier einen Namen erhalten. Sie heißt Opfer.

Opfer bedeutet nicht Verstümmelung, auch nicht Buße. Es ist seinem Wesen nach eine Handlung. Es ist ein Geschenk seiner selbst an das Wesen, dem man sich zurechnen will. Nur der allein wird verstehen können, was ein Bauerngut ist, der ihm einen Teil seines Selbst geopfert hat, der für seine Rettung gekämpft und sich abgemüht hat, es zu verschönen. Dann kommt ihm die Liebe zum Anwesen. Ein Gut ist nicht die Summe der Einkünfte, darin liegt der Fehler. Es ist die Summe der gebrachten Opfer.

Solange meine Kultur sich auf Gott gestützt hat, hat sie diesen Begriff des Opfers gewahrt, den Gott in das Herz des Menschen verlegte. Der Humanismus hat die wesentliche Rolle des Opfers vernachlässigt. Er hat den Menschen durch Worte und nicht durch Taten vermitteln wollen.

Um die Vision vom Menschen durch die Menschen hindurch zu retten, hatte er nur noch ein leeres Wort zu seiner Verfügung. Wir liefen Gefahr, auf einer gefährlichen Ebene abzugleiten und eines Tages den Menschen mit dem Symbol des Durchschnittsmenschen oder der Gesamtheit der Menschen zu verwechseln. Wir liefen Gefahr, unsern Dom mit der Summe der Steine zu verwechseln.

Und nach und nach haben wir das Erbe verdorben.

Statt die Rechte des Menschen durch die Individuen hindurch zu bestätigen, haben wir begonnen, von den Rechten der Kollektivität zu sprechen. Wir haben zugesehen, wie unmerklich eine Moral des Kollektivs sich einschlich, die den Menschen vernachlässigt. Diese Moral erklärt deutlich, warum das Individuum es sich schuldig ist, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Ohne Wortkünsteleien kann sie nicht mehr erklären, warum eine Gemeinschaft es sich schuldig ist, sich für einen einzelnen Menschen zu opfern. Warum es recht und billig ist, daß tausend sterben, um einen einzigen aus dem Gefängnis der Ungerechtigkeit zu befreien. Wir erinnern uns noch daran, aber wir vergessen es nach und nach. Und doch beruht auf diesem Prinzip, das uns so deutlich vom Termitenhaufen unterscheidet, vor allem unsere Größe.

Mangels einer wirksamen Methode sind wir von der Humanität, die auf dem Menschen beruhte, auf jenen Termitenhaufen abgeglitten, der auf der Summe der Individuen beruht.

Was hatten wir den Religionen vom Staat oder von der Masse entgegenzusetzen? Was war aus unserem großen Bild vom gottgeborenen Menschen geworden? Es war durch einen Wortschatz, der seinen Inhalt entleert hatte, kaum noch kenntlich.

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Nach und nach haben wir den Menschen vergessen und unsere Moral auf die Probleme des Individuums beschränkt. Wir haben von jedem verlangt, daß er das andere Individuum nicht verletzt. Von jedem Stein, daß er den nächsten Stein nicht verletzt. Gewiß verletzen sie einander nicht, wenn sie wirr auf dem Felde herumliegen. Sie verletzen aber den Dom, den sie aufbauen könnten, und der wiederum ihre eigene Sinngebung bedeuten würde.

Wir haben ständig die Gleichheit der Menschen gepredigt. Da wir aber den Menschen vergaßen, haben wir nichts mehr von dem verstanden, wovon wir sprachen. Da wir nicht mehr wußten, worauf wir die Gleichheit gründen sollten, haben wir von ihr einen undeutlichen Begriff gegeben, mit dem wir nichts mehr anzufangen gewußt haben. Wie soll man die Gleichheit auf der Ebene der Individuen, zwischen dem Weisen und dem Rohling, dem Dummkopf und dem Genie definieren? Wenn wir sie festlegen und verwirklichen wollen, verlangt die Gleichheit auf der Ebene der Stoffe, daß diese alle denselben Platz einnehmen und dieselbe Rolle spielen. Das ist absurd. Das Prinzip der Gleichheit entartet dann zu einem Prinzip der Selbstheit.

Wir haben ständig die menschliche Freiheit gepredigt. Da wir aber den Menschen vergessen haben, haben wir unsere Freiheit als eine unklare Fessellosigkeit definiert, einzig begrenzt durch den Schaden, der dem Nächsten angetan wird. Das entbehrt jeder Sinngebung; denn es gibt keine Handlung, die den Nächsten nicht mitbetrifft. Wenn ich mich als Soldat verstümmele, werde ich erschossen. Es gibt kein Individuum für sich. Wer sich von ihr ausschließt, verletzt die Gemeinschaft. Wer mutlos ist, nimmt den andern den Mut.

Unseres Anspruchs auf eine so verstandene Freiheit haben wir uns nicht mehr ohne unüberwindliche Widersprüche zu bedienen gewußt. Da wir nicht mehr zu bestimmen wußten, wann unser Anspruch galt und wann nicht mehr, haben wir uns verstellt und die Augen zugedrückt, um ein unklares Prinzip über zahllose Fesseln hinweg zu retten, die notwendigerweise jede Gesellschaft unseren Freiheiten auferlegte.

Was die Nächstenliebe angeht, so haben wir sie nicht einmal mehr zu predigen gewagt. Früher nahm wirklich das Opfer, das die Wesen begründet, den Namen der Nächstenliebe an, wenn es Gott durch sein menschliches Ebenbild hindurch ehrte. Durch das Individuum hindurch beschenkten wir Gott oder den Menschen. Da wir aber Gott und den Menschen vergaßen, beschenkten wir nur noch das Individuum. Daher nahm die Nächstenliebe oft die Gestalt eines unannehmbaren Verhaltens an. Die Gesellschaft und nicht die Laune des Einzelnen ist es sich schuldig, die rechte Verteilung der Vorräte sicherzustellen. Die Würde des Individuums verlangt, daß es durch die Freigebigkeiten eines andern nicht geknechtet wird. Es wäre sinnwidrig, wenn man erlebte, daß die Besitzenden, abgesehen vom Besitz ihrer Habe, den Dank der Nichtbesitzenden beanspruchten.

Aber über all das hinaus wandte sich unsere mißverstandene Nächstenliebe gegen ihr Ziel. Ausschließlich auf den Empfindungen des Mitleids gegenüber dem Individuum beruhend, hätte sie uns jede erzieherische Strafe untersagt. Während die wirkliche Nächstenliebe als Betätigung eines Kultes, der dem Menschen über das Individuum hinaus erwiesen wird, eine Bekämpfung des Individuums verlangte, um den Menschen in ihm zu fördern.

So haben wir den Menschen verloren. Und indem wir den Menschen verloren, haben wir die ganze innere Wärme jener Brüderlichkeit selbst vertan, die unsere Kultur uns predigte — denn Bruder ist einer ja nur in irgend etwas und nicht Bruder schlechthin. Teilung sichert nicht Bruderschaft. Diese knüpft sich allein im Opfer. Sie knüpft sich in der gemeinsamen Hingabe an etwas Umfassenderes als wir selbst. Indem wir jedoch diese Wurzel jeder wahrhaften Existenz mit einer unfruchtbaren Verkümmerung verwechselten, haben wir unsere Brüderlichkeit derart verkleinert, daß sie nur noch eine gegenseitige Rücksichtnahme geworden ist.

Wir haben mit dem Schenken aufgehört. Wenn ich nun aber nur noch mir selbst zu geben gewillt bin, empfange ich nichts; denn ich baue nichts auf, an dem ich teilhaben will, und daher bin ich nichts. Wenn man dann zu mir kommt und von mir verlangt, ich solle für bestimmte Interessen und Zwecke sterben, dann weigere ich mich zu sterben. Mein Interesse verlangt zunächst, daß ich lebe. Welche überquellende Liebe würde meinen Tod vergelten? Man stirbt für ein Heim. Nicht für Möbel und Mauern. Man stirbt für einen Dom. Nicht für Steine. Man stirbt für ein Volk. Nicht für eine Menge. Man stirbt aus Liebe zum Menschen, wenn er der Schlußstein im Gewölbe einer Gemeinschaft ist. Man stirbt für das allein, aus dem man leben kann.

Unser Wortschatz schien beinahe unberührt, doch wenn wir unsere Worte benutzen wollten, verleiteten sie uns, ihres wirklichen Inhalts bar, zu unentwirrbaren Widersprüchen. Es blieb uns nur übrig, die Augen über diesen strittigen Punkt zu schließen. Da wir uns auf das Bauen nicht verstanden, blieb uns nur übrig, die Steine wirr auf dem Feld liegenzulassen und ganz behutsam von der Kollektivität zu sprechen, ohne daß wir genauer anzugeben wagten, wovon wir sprachen; denn in Wirklichkeit sprachen wir von nichts. Kollektivität ist ein Wort ohne jede Sinngebung, solange sich die Kollektivität nicht mit irgend etwas verbindet. Eine Summe ist kein Wesen.

Wenn unsere Gesellschaft noch wünschenswert erscheinen konnte, wenn der Mensch noch irgendeine Geltung bewahrte, dann geschah es in dem Maße, als die wahrhafte Kultur, die wir durch unsere Unkenntnis verrieten, noch weiter über uns ihre Strahlen aussandte, die wir ablehnten, und uns wider unseren eigenen Willen rettete.

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Wie hätten unsere Gegner verstehen sollen, was wir nicht mehr begriffen? Sie haben von uns nur diese wirren Steine gesehen. Sie haben versucht, einer Kollektivität Sinn zu verleihen, die wir nicht mehr zu bestimmen wußten, da uns die Erinnerung an den Menschen fehlte.

Die einen sind gleich von vornherein frisch-fröhlich bis zu den äußersten Folgerungen der Logik vorgegangen. Aus dieser Ansammlung haben sie eine absolute Ansammlung gemacht. Steine sollen eben Steine bleiben. Und jeder Stein herrscht allein über sich selbst. Die Anarchie denkt noch an den Kult des Menschen, wendet ihn jedoch streng auf das Individuum an. Und die Widersprüche, die aus dieser Strenge folgen, sind schlimmer als unsere.

Andere haben diese wirr auf dem Felde verstreuten Steine gesammelt. Sie haben die Rechte der Masse gepredigt. Die Formel befriedigt kaum. Denn wenn es sicherlich unerträglich ist, daß ein einzelner Mensch eine Masse tyrannisiert — dann ist es genauso unerträglich, daß die Masse einen einzelnen Menschen erdrückt.

Andere haben diese ohnmächtigen Steine an sich genommen und haben aus dieser Summe einen Staat gemacht. Ein solcher Staat greift ebensowenig über die Menschen hinaus. Er ist ebenfalls der Ausdruck einer Summe. Er ist das Vermögen der Kollektivität, den Händen eines Einzelnen anvertraut. Er ist der Bereich eines Steines, der sich mit den andern Steinen über die Gesamtheit der Steine zu identifizieren vorgibt. Dieser Staat predigt ausdrücklich eine Moral des Kollektivs, die wir noch ablehnen, auf die wir uns selbst aber ganz langsam zubewegen, da wir uns nicht mehr an den Menschen erinnern, der allein unsere Weigerung rechtfertigen würde.

Diese Anhänger der neuen Religion werden es ablehnen, daß mehrere Bergleute ihr Leben für die Rettung eines einzigen verschütteten Bergmanns aufs Spiel setzen. Denn der Haufen von Steinen wird dadurch gestört. Sie werden dem Schwerverwundeten den Todesstoß versetzen, wenn er den Vormarsch einer Armee aufhält. Das Wohl der Gemeinschaft werden sie nach der Rechenkunst studieren — und die Rechenkunst wird sie beherrschen. Das Vermögen, über sich selbst hinauszuwachsen, werden sie dabei verlieren. Sie werden daher hassen, was anders ist als sie; denn sie haben über sich hinaus nichts zur Verfügung, worin sie sich finden könnten. Jede fremde Gewohnheit, jede fremde Rasse, jeder fremde Gedanke wird ihnen notwendigerweise zur Beleidigung. Sie verfügen über kein Assimilationsvermögen; denn um bei sich selbst den Menschen zu bekehren, dürfte man ihn nicht verstümmeln, sondern ihn sich selbst gegenüber zum Ausdruck bringen, seinem Streben ein Ziel und seinen Energien ein Betätigungsfeld bieten. Bekehren heißt immer befreien. Der Dom kann die Steine in sich aufnehmen, die dabei einen Sinn erlangen. Aber der Steinhaufen nimmt nichts in sich auf, und da er nichts aufzunehmen vermag, erdrückt er. So steht es damit — doch wer trägt die Schuld?

Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß der schwerlastende Steinhaufen stärker war als die wirren Steine. Und doch bin ich der Stärkere.

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Ich bin der Stärkere, wenn ich zu mir zurückfinde. Wenn unser Humanismus den Menschen wiederherstellt. Wenn wir unsere Gemeinschaft aufzubauen verstehen und wenn wir als Grundlage dazu das einzig wirksame Mittel benutzen: Das Opfer. So wie unsere Kultur sie aufgebaut hatte, war unsere Gemeinschaft keineswegs eine Zusammenfassung unserer Einkünfte — sie war unsere gesammelte Hingabe.

Ich bin der Stärkere, weil der Baum stärker ist als die Stoffe des Bodens. Er zieht sie an sich. Er verwandelt sie in Baum. Der Dom ist strahlender als der Steinhaufen. Ich bin der Stärkere, weil meine Kultur allein die verschiedenen Eigenarten, ohne sie zu verkümmern, in ihrer Einheit zusammenzuschließen vermag. Sie steigert die Quelle ihrer Kraft im gleichen Maße, wie sie von ihr trinkt.

Beim Abflug hatte ich erst zu empfangen und dann zu geben verlangt. Mein Verlangen war eitel. Damit war es wie mit der freudlosen Grammatikstunde. Du mußt geben, bevor du nimmst — und bauen, bevor du wohnst.

Ich habe die Liebe zu den Meinen durch diese Hingabe des Blutes begründet, wie die Mutter ihre Liebe mit dem Geschenk der Muttermilch nährt. Darin liegt das Geheimnis. Du mußt mit dem Opfer beginnen, um die Liebe zu gründen. Dann mag die Liebe andere Opfer erbitten und sie für alle Siege einsetzen. Der Mensch muß immer den ersten Schritt tun. Er muß entstehen, bevor er besteht.

Ich bin von meinem Auftrag heimgekehrt und habe dabei den Grund zu meiner Verwandtschaft mit der Bauerntochter gelegt. Ihr Lächeln wurde mir wie durchscheinend, ich sah durch es hindurch und erkannte mein Dorf. Durch mein Dorf mein Land. Durch mein Land die andern Länder. Denn ich gehöre einer Kultur an, die den Menschen zum Schlußstein gewählt hat. Ich gehöre der Gruppe 2/33 an, die für Norwegen kämpfen wollte.

Morgen mag mich Alias für einen andern Auftrag bestimmen. Heute habe ich mich für den Dienst eines Gottes umgekleidet, für den ich bisher blind war. Das Schießen von Arras hat den Star gestochen und ich bin sehend geworden. Alle die Meinen sind auch sehend geworden. Wenn ich also morgen früh starte, weiß ich, warum ich noch kämpfe. Ich will aber in Erinnerung behalten, was ich gesehen habe. Ich brauche ein einfaches Credo, um mich zu erinnern.

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Ich kämpfe von nun an für den Vorrang des Menschen vor dem Individuum — wie des Allgemeinen vor dem Besonderen.

Ich glaube, daß der Kult des Universellen die Fülle des Einzelnen steigert und zusammenschließt — und die einzig wahrhafte, lebendige Ordnung aufbaut. Ein Baum ist eine Ordnung, wenn seine Wurzeln auch anders sind als seine Zweige.

Ich glaube, daß der Kult des Besonderen nur den Tod nach sich zieht — denn er baut die Ordnung auf der Ähnlichkeit auf. Er verwechselt die Einheit des Wesens mit der Identität seiner Teile. Er zerstört dabei den Dom, um die Steine auszurichten. Ich werde also jeden bekämpfen, der anderen Gewohnheiten eine besondere Gewohnheit, anderen Völkern ein besonderes Volk, anderen Rassen eine besondere Rasse, anderen Gedanken einen besonderen Gedanken aufzuzwingen gewillt ist.

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Ich glaube, daß der Vorrang des Menschen allein die Gleichheit und allein die Freiheit begründet, die einen Sinn haben. Ich glaube an die Gleichheit der Menschenrechte durch jedes Einzelwesen hindurch. Und ich glaube, daß die Freiheit im Aufstieg des Menschen besteht. Gleichheit ist nicht Selbstheit. Freiheit ist nicht Überheblichkeit des Individuums gegen den Menschen. Ich werde jeden bekämpfen, der gewillt ist, die Freiheit des Menschen einem Individuum — wie einer Masse von Individuen — zu unterwerfen.

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Ich glaube, daß meine Kultur mit Nächstenliebe das Opfer bezeichnet, das dem Menschen dargebracht wird, um sein Reich aufzurichten. Die Nächstenliebe ist ein Geschenk an den Menschen durch die Mittelmäßigkeit des Individuums hindurch. Sie ist die Grundlage des Menschen. Ich werde jeden bekämpfen, der mit der Behauptung, meine Nächstenliebe ehre die Mittelmäßigkeit, den Menschen leugnet und so das Individuum in einer endgültigen Mittelmäßigkeit gefangenhält.

Ich werde für den Menschen kämpfen. Gegen seine Feinde. Aber auch gegen mich selbst.

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28

Ich bin wieder bei meinen Kameraden. Wir sollten uns alle um Mitternacht zur Befehlsausgabe einfinden. Die Gruppe 2/33 ist schlafmüde. Die Flamme des großen Feuers hat sich zur Glut gewandelt. Die Gruppe scheint noch zu halten, doch ist es nur eine Täuschung. Hochedé sieht mißmutig nach seinem berühmten Chronometer. Pénicot lehnt in einer Ecke den Nacken an die Wand und schließt die Augen, Gavoille sitzt auf einem Tisch, starrt vor sich hin, läßt die Beine hängen und macht ein brummiges Gesicht wie ein Kind, das dem Heulen nahe ist. Azambre nickt über einem Buch ein. Allein munter, aber beängstigend blaß hält der Kommandeur seine Papiere unter eine Lampe und diskutiert leise mit Geley. »Diskutiert« ist übrigens nur bildlich. Der Kommandeur spricht. Geley nickt mit dem Kopf und sagt: »Jawohl, gewiß!« Geley krampft sich an sein »Jawohl, gewiß!« Er klammert sich immer enger an das, was der Kommandeur sagt, wie ein Ertrinkender an den Hals des Schwimmers. Wenn ich Alias wäre, würde ich im gleichen Tonfall sagen: »Hauptmann Geley… Morgen früh werden Sie erschossen…« Und würde auf seine Antwort gespannt sein.

Die Gruppe hat seit drei Tagen nicht geschlafen und hält sich noch wie ein Kartenhaus auf den Beinen.

Der Kommandeur steht auf, geht zu Lacordaire und stört ihn aus einem Traum auf, in dem Lacordaire mich vielleicht im Schach mattsetzte.

»Lacordaire… Sie starten beim Morgengrauen. Tiefstflug.«

»Jawohl, Herr Major.«

»Sie sollten schlafen gehen…«

»Jawohl, Herr Major.«

Lacordaire setzt sich wieder. Im Hinausgehen zieht der Kommandeur Geley hinter sich her, als wenn er einen toten Fisch an seiner Leine zöge. Jetzt sind es zweifellos nicht drei Tage, sondern eine Woche, seit Geley sich nicht hingelegt hat. Wie Alias hat er nicht nur seine Feindeinsätze geflogen, sondern auch noch die Verantwortung für die Gruppe auf den Schultern getragen.

Die menschliche Widerstandskraft hat ihre Grenzen. In Geley sind sie überschritten. Und doch gehen sie alle beide, der Schwimmer und der Ertrinkende, und holen sich geisterhafte Befehle. Ahnungsvoll kommt Vezin auf mich zu. Vezin, der selbst im Stehen schläft, sagt wie ein Schlafwandler: »Schläfst du?«

»Ich…«

Ich habe meinen Nacken gegen das Rückenpolster eines Sessels gelehnt; denn ich habe einen Sessel entdeckt. Ich war auch am Einschlafen, aber die Stimme Vezins schreckt mich auf:

»Das endet übel!«

»Das endet übel… von vornherein gesperrt… endet übel…«

»Du schläfst ja!«

»Ich … nein … was endet übel?«

»Der Krieg.«

Etwas ganz Neues! Ich verfalle wieder in meinen Schlaf. Ich antworte ins Blaue hinein:

»… Was für ein Krieg?«

»Wieso: Was für ein Krieg!«

So geht die Unterhaltung nicht lange weiter. Ach, Paula, gäb’s doch für Fliegergruppen Tiroler Kindermädchen, dann läge die ganze Gruppe 2/33 schon längst im Bett!

Der Kommandeur stößt die Türe wie ein Windstoß auf. »Es ist entschieden. Wir verlagern.«

Hinter ihm hält sich Geley, völlig munter. Er verschiebt sein »Jawohl, gewiß!« auf morgen. Heute nacht noch holt er sein Letztes aus Reserven, die er selbst an sich nicht gekannt hat.

Wir stehen auf. Es heißt: »So … Gut…«, sollten wir auch sagen?

Wir sagen überhaupt nichts. Wir bereiten die Verlagerung vor. Lacordaire wartet auftragsgemäß mit dem Abflug bis zum frühen Morgen. Wenn er von seinem Auftrag zurückkommt, wird er unmittelbar unseren neuen Platz anfliegen.

Morgen sagen wir ebensowenig. Für den Zuschauer sind wir morgen die Besiegten. Der Besiegte hat zu schweigen. Wie das Samenkorn.

1Aus dem Französischen übertragen von Paul Graf Thun-Hohenstein

2Aus dem Französischen übertragen von Fritz Montfort