Hotel

Arthur Hailey

1965

1

Es herrscht Hochbetrieb im luxuriösen St. Gregory Hotel in New Orleans. Alles klapt wie am Schnürchen: beim Empfang, auf den Etagen, in den Restaurationsräumen, in der Bar, in Küche und Keller.

Doch unter der gleißenden Oberfläche knistert es, denn das Hotel befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten. Nicht nur der Hotelbesitzer Warren Trent ist davon betroffen, auch seine Assistentin Christine Francis, der tüchtige Geschäftsführer Peter McDermott, der bestechliche Chefportier, der Hoteldetektiv…

Aber auch Gäste werden davon berührt: Curtis O’Keefe, Besitzer einer internationalen Hotelkette, der dekadente Herzog von Croydon und seine eiskalte Gattin, der unscheinbare Albert Wells und zahlreiche andere, die mit dem Hotel durch unsichtbare und mitunter geheimnisvolle Fäden verbunden sind.

Inhaltsverzeichnis

I  Montagabend

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II  Dienstag

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III  Mittwoch

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IV  Donnerstag

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V  Freitag

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Teil I

Montagabend

1

Wenn es nach mir ginge, dachte Peter McDermott, ich hätte den Hausdetektiv längst rausgeworfen. Aber es geht nicht nach mir, und jetzt ist der feiste Expolizist wieder mal nicht da, wie immer, wenn man ihn dringend braucht.

McDermott, athletisch gebaut und einsachtundneunzig groß, beugte sich über den Schreibtisch und rüttelte ungeduldig an der Gabel des Telefons. »Im Hotel ist der Teufel los, und der verflixte Kerl ist nirgends aufzufinden«, sagte er zu dem Mädchen, das am Fenster des geräumigen, mit Teppichen ausgelegten Büros stand.

Christine Francis warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. »Versuchen Sie’s doch mal mit der Bar in der Baronne Street.«

Peter McDermott nickte. »Die Zentrale ruft der Reihe nach Ogilvies Stammkneipen an.« Er zog eine Schreibtischschublade auf, holte Zigaretten heraus, bot sie Christine an und gab ihr Feuer. Während er sich selbst eine anzündete, beobachtete er, wie Christine den Rauch tief einatmete.

Christine Francis hatte Überstunden gemacht und ihr eigenes kleines Büro im Verwaltungstrakt des St.-Gregory-Hotels erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie wollte eigentlich nach Hause gehen, aber der Lichtschein unter der Tür des stellvertretenden Direktors hatte sie magisch angezogen.

»Unser Mr. Ogilvie macht, was er will«, sagte sie. »So war’s von jeher. Und W.T. hält ihm die Stange.«

McDermott sprach kurz ins Telefon und wartete weiter. »Stimmt«, sagte er zu Christine. »Ich habe vor kurzem ja einmal versucht, unseren lahmen Detektivtrupp ein bißchen aufzumöbeln. Prompt wurde ich zurückgepfiffen.«

»Das wußte ich nicht«, sagte sie leise.

Er sah sie forschend an. »Und ich dachte, Sie wüßten alles.«

Im allgemeinen traf das auch zu. Als persönliche Assistentin von Warren Trent, dem launenhaften und jähzornigen Eigentümer des größten Hotels in New Orleans, war Christine über die wohlgehüteten Geheimnisse des Hotels ebenso genau im Bilde wie über die täglichen Routineangelegenheiten. Sie wußte beispielsweise, daß Peter, der vor ein oder zwei Monaten zum stellvertretenden Direktor befördert worden war, das riesige, von emsiger Geschäftigkeit erfüllte St. Gregory praktisch allein leitete, aber ein keineswegs angemessenes Gehalt bezog und nur über begrenzte Befehlsgewalt verfügte. Sie kannte auch die Gründe dafür, die in einer Akte mit der Aufschrift »Streng vertraulich« zusammengetragen waren und Peter McDermotts Privatleben betrafen.

»Wo brennt’s denn?« erkundigte sie sich.

Peter McDermott verzog sein kantiges, derbes, beinahe häßliches Gesicht zu einem fröhlichen Grinsen. »Überall. In der elften Etage beschwert sich jemand über eine Art Orgie; die Herzogin von Croydon in der neunten beklagt sich über einen Zimmerkellner, der angeblich ihren Herzog beleidigt hat; in 1439 stöhnte jemand so laut, daß seine Nachbarn nicht schlafen können; der Nachtmanager ist krank geschrieben, der Hausdetektiv treibt sich Gott weiß wo rum, und seine beiden Leute sind anderweitig beschäftigt.«

Er sprach wieder ins Telefon, und Christine ging zurück zum Fenster, das sich im ersten Stock befand. Sie bog den Kopf leicht zurück, um die Augen vor dem Zigarettenrauch zu schützen, und blickte abwesend hinaus auf die Stadt. Durch eine breite Schlucht, die sich unmittelbar vor ihr zwischen hochragenden Gebäuden auftat, konnte sie in das enge, von Menschen wimmelnde Französische Viertel hineinsehen. Eine Stunde vor Mitternacht war für diese Gegend noch früh am Abend; die Lampen vor den Nachtbars, Bistros, Jazzkellern und Striptease-Lokalen — und die Lichter hinter den heruntergelassenen Jalousien — würden bis weit in den nächsten Morgen hinein brennen.

Irgendwo im Norden, vermutlich über dem See Pontchartrain, braute sich im nächtlichen Dunkel ein Sommergewitter zusammen. Mit dumpfen Grollen und Wetterleuchten kam es näher. Wenn sie Glück hatten und das Unwetter nach Süden zum Golf von Mexiko zog, würde es vielleicht noch vor dem Morgen regnen.

Der Regen wäre eine Wohltat, dachte Christine. Seit drei Wochen lag New Orleans im Bann schwüler, lähmender Hitze, die an den Nerven zerrte, Spannungen erzeugte und Unfrieden stiftete. Auch für das Hotel wäre er eine Entlastung. Erst am Nachmittag hatte der Chefingenieur wieder einmal seinem Kummer Luft gemacht. »Wenn ich die Klimaanlage noch lange auf vollen Touren laufen lassen muß, kann ich für nichts mehr garantieren.«

Peter McDermott legte den Hörer auf, und Christine fragte: »Wissen Sie, wie der Gast heißt, der so schrecklich stöhnt?«

Er schüttelte den Kopf und griff erneut nach dem Hörer. »Nein, aber ich kann mich erkundigen. Wahrscheinlich war’s nur ein Alptraum, aber wir wollen doch lieber mal nachsehen.«

Als sich Christine in einen tiefen Ledersessel vor dem großen Mahagonischreibtisch sinken ließ, merkte sie plötzlich, wie müde sie war. Sonst war sie um diese Zeit schon längst daheim in ihrer Wohnung in Gentilly. Aber es war ein ungewöhnlich arbeitsreicher Tag gewesen, da nicht nur eine Menge regulärer Gäste, sondern auch die Teilnehmer zweier Kongresse eingetroffen waren, und viele der auftretenden Schwierigkeiten hatte schließlich sie selbst lösen müssen.

»Das war’s, danke.« McDermott machte sich eine Notiz und legte den Hörer auf. »Der Name ist Albert Wells, aus Montreal.«

»Dann kenn’ ich ihn«, sagte Christine. »Ein netter kleiner Mann, der jedes Jahr herkommt. Wenn Sie wollen, kümmere ich mich um ihn.«

Er betrachtete unschlüssig ihre zarte schlanke Gestalt.

Das Telefon schrillte, und er hob den Hörer ab. »Tut mir leid, Sir«, sagte das Mädchen aus der Zentrale, »aber wir können Mr. Ogilvie nirgends finden.«

»Da kann man nichts machen. Geben Sie mir den Chefportier.« Wenn er auch den Chefdetektiv nicht hinauswerfen konnte, dachte McDermott, so würde er wenigstens gleich morgen früh ordentlich Krach schlagen. Im übrigen konnte er ebensogut jemand anderen mit Nachforschungen in der elften Etage betrauen, und mit der Beschwerde des Herzogs und der Herzogin von Croydon würde er sich selbst befassen.

»Chefportier«, tönte es aus der Muschel, und Peter McDermott erkannte die fade näselnde Stimme Herbie Chandlers. Der Chefportier des St. Gregory gehörte wie Ogilvie zu den langjährigen Angestellten und betrieb angeblich mehr dunkle Nebengeschäfte als irgend jemand sonst vom Personal.

McDermott erklärte Chandler kurz, worum es sich handelte, und beauftragte ihn, der Sache nachzugehen. Es überraschte ihn nicht sonderlich, als der Chefportier protestierte. »Das geht mich nichts an, Mr. Mac, und außerdem kann ich jetzt hier unten nicht weg. Wir haben alle Hände voll zu tun.« Der Tonfall war typisch für Chandler — kriecherisch und unverschämt zugleich.

»Keine Ausreden. Sie werden sich um die Angelegenheit kümmern.« Nachträglich fügte er hinzu: »Und noch eins: Schicken Sie einen Boy mit einem Hauptschlüssel in den ersten Stock zu Miss Francis.« Er legte rasch auf, bevor Chandler antworten konnte.

»Gehen wir.« Er berührte Christines Schulter leicht mit der Hand. »Nehmen Sie den Boy als Leibwache mit und sagen Sie Ihrem Freund Mr. Wells, wenn er Alpdrücken hat, soll er künftig unter die Bettdecke kriechen.«

2

Herbie Chandler lehnte nachdenklich an seinem Stehpult in der Halle des St. Gregory. Auf seinem Wieselgesicht malte sich inneres Unbehagen.

Von seinem Befehlsstand aus, neben einer der kannelierten Betonsäulen, die bis zur reichdekorierten, gewölbten Decke hinaufreichten, hatte er einen ausgezeichneten Überblick über das Kommen und Gehen in der Halle. Im Moment herrschte reger Betrieb. Die Kongreßteilnehmer waren den ganzen Abend über auf den Beinen gewesen, und je später es wurde, desto mehr bestärkte sie der konsumierte Alkohol in ihrem Entschluß, sich nach Kräften zu amüsieren.

Während Chandler gewohnheitsmäßig die Augen schweifen ließ, kam eine Gruppe lärmender Zecher von der Carondelet Street herein, drei Männer und zwei Frauen; in den Händen schwenkten sie Schnapsgläser, die sie in Pat O’Briens Bar im Französischen Viertel für einen Dollar pro Stück als Souvenir erstanden hatten. Einer der Männer, der nicht mehr fest auf den Beinen war, mußte von den beiden anderen gestützt werden. Alle drei waren Kongreßteilnehmer und trugen eine Plakette am Rockaufschlag mit dem Aufdruck »Gold Crown Cola« und darunter ihren Namen. Als sie im Zickzack durch die Halle steuerten, machten die anderen Gäste gutmütig Platz, bis das schwankende Quintett schließlich in der Bar verschwand.

Noch immer trafen neue Gäste ein — mit den späten Zügen und Verkehrsmaschinen. In kleinen Gruppen sammelten sie sich vor dem Empfang und wurden dann von Chandlers Boys in ihre Zimmer geführt. Die Bezeichnung »Boy« bezog sich hier allerdings nur auf die Berufsgattung, denn keiner der sogenannten Boys war unter vierzig, und einige arbeiteten schon ein Vierteljahrhundert oder länger im Hotel.

Herbie Chandler, der in seinem Ressort frei entscheiden konnte, stellte lieber ältere Männer ein. Ein alter Mann, der nur mühsam unter Schnauben und Grunzen mit dem Gepäck zurechtkam, kassierte aller Voraussicht nach größere Trinkgelder als ein junger Bursche, der schwere Koffer auf den Schultern balancierte, als wären sie leicht wie Balsaholz. Einer der langjährigen Angestellten, ein kräftiger, sehniger Kerl, hatte sich einen speziellen Trick ausgedacht. Wenn er vor dem Gast herging, setzte er die Koffer alle paar Meter ab, drückte sich japsend die Hand aufs Herz und schleppte die Last kopfschüttelnd weiter. Der Kniff brachte ihm selten weniger als einen Dollar ein, weil seine zerknirschten Opfer überzeugt waren, daß ihn an der nächsten Ecke ein Herzschlag treffen würde. Was sie nicht wußten, war, daß zehn Prozent aller Trinkgelder in Herbie Chandlers Tasche wanderten und daß jeder Boy ihm außerdem täglich zwei Dollar zahlen mußte, wenn er seinen Posten behalten wollte.

Chandlers privates Besteuerungssystem erboste seine Untergebenen, obwohl ein Boy, der seine Sache verstand, es trotzdem auf 150 Dollar Reinverdienst in der Woche bringen konnte, wenn das Hotel voll besetzt war. Bei starkem Andrang, wie in dieser Nacht, blieb der Chefportier weit über die normale Dienstzeit auf seinem Posten. Er traute niemandem und zog es vor, selbst ein Auge auf seine Prozente zu haben. Die Genauigkeit, mit der er Gäste und Trinkgelder einschätzte und erriet, wieviel ein Ausflug in die obersten Etagen einbringen würde, war unheimlich. Es gab immer wieder verstockte Individualisten, die Herbie zu betrügen versuchten und ihm einen Teil ihrer Einnahmen unterschlugen. Aber die Strafe ließ nie auf sich warten und erfolgte mit so unfehlbarer, grausamer Treffsicherheit, daß die armen Ketzer schnell zu Kreuze krochen.

Chandlers Ausdauer hatte jedoch in dieser Nacht noch einen anderen Grund. Seine Nervosität hatte seit Peter McDermotts Anruf ständig zugenommen. McDermott hatte ihm befohlen, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen. Aber Chandler brauchte ihr nicht nachzugehen, weil er sich ohnedies so ziemlich vorstellen konnte, was oben los war. Er selbst hatte die Orgie arrangiert.

Vor etwa drei Stunden hatten zwei junge Leute ihm ihre diesbezüglichen Wünsche ganz offen mitgeteilt, und da beider Väter reiche ortsansässige Bürger und gute Kunden des Hotels waren, hatte Herbie respektvoll zugehört. »Also, Herbie«, hatte der eine gesagt, »heute abend steigt hier der Verbindungsball … der gleiche alte Krampf wie jedes Jahr, und wir möchten gern mal was anderes erleben.«

»Was, zum Beispiel?« hatte er gefragt, obwohl er die Antwort im voraus wußte.

»Wir haben eine Suite genommen, und« — der Junge errötete — »wir wollen ein paar Mädchen.«

Herbie entschied sofort, daß die Sache zu riskant war. Die beiden waren nicht viel mehr als Schulbuben, und außerdem kam es ihm ganz so vor, als hätten sie getrunken. Er schüttelte den Kopf und fing an: »Tut mir leid, meine Herren …« Aber der zweite Junge unterbrach ihn.

»Kommen Sie uns bloß nicht mit dummen Ausreden. Wir wissen doch, daß Sie hier die Gäste mit Callgirls beliefern.«

Chandler zeigte seine Frettchenzähne und verzerrte das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln. »Ich möchte wissen, wer Ihnen das eingeredet hat, Mr. Dixon.«

Der Junge, der zuerst gesprochen hatte, ließ nicht locker. »Wir können zahlen, Herbie, das wissen Sie doch.«

Der Chefportier war noch immer unschlüssig, aber seine Gedanken kreisten gierig um das verlockende Geschäft. Gerade in den letzten Wochen hatte sein Nebenverdienst nachgelassen. Vielleicht war die Sache doch nicht so gefährlich.

»Also, los«, sagte der Junge namens Dixon. »Geben Sie sich einen Ruck. Wieviel?«

Herbie musterte die Kunden, dachte an ihre wohlhabenden Väter und multiplizierte den Einheitstarif mit zwei. »Hundert Dollar.«

»Abgemacht«, erklärte Dixon nach kurzem Zögern und wandte sich an seinen Kameraden. »Hör zu, Lyle, den Schnaps haben wir schon bezahlt, und was dir zu deinem Anteil fehlt, pump’ ich dir.«

»Na gut …«

»Gezahlt wird im voraus, meine Herren.« Herbie fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen. »Und noch eins. Machen Sie bloß keinen Lärm. Falls es zu laut wird und die anderen Gäste sich beschweren, kann das für uns alle sehr unangenehme Folgen haben.«

Vor einer Stunde hatten die Mädchen wie üblich die Halle durch den Haupteingang betreten, und nur ein paar eingeweihte Hotelangestellte hatten gemerkt, daß es sich nicht um reguläre Gäste handelte. Normalerweise hätten die zwei schon längst wieder auf demselben Weg unauffällig verschwunden sein müssen.

Die Beschwerde aus der elften Etage, in der ausdrücklich auf eine Orgie hingewiesen wurde, ließ darauf schließen, daß irgend etwas schiefgegangen war. Aber was? Herbie fiel Dixons Bemerkung über die Schnapsvorräte ein, und ihm wurde noch unbehaglicher zumute.

Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war es drückend heiß in der Halle, und Herbie zog ein seidenes Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Zugleich verfluchte er insgeheim seinen idiotischen Leichtsinn und fragte sich, ob er hinaufgehen oder sich, in diesem Stadium, nicht lieber vom Schauplatz des Geschehens fernhalten sollte.

3

Peter McDermott fuhr im Lift bis zur neunten Etage. Dort verließ er Christine, die mit dem Boy bis zum 14. Stock fuhr. An der offenen Lifttür blieb er zögernd stehen. »Rufen Sie mich, falls es zu Unannehmlichkeiten kommt.«

Sie lächelte. »Wenn’s brenzlig wird, schrei’ ich laut um Hilfe.« Während die Türen geräuschlos zuglitten, blickte sie ihn einen Moment lang voll an. Dann schlossen sich die Türen, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Peter starrte nachdenklich auf die leere Stelle, wo er eben noch ihr Gesicht gesehen hatte, wandte sich ab und eilte mit großen Schritten durch den mit Teppich ausgelegten Korridor auf die Präsidentensuite zu.

Die größte und eleganteste Suite des St. Gregory — von den Angestellten auch »Prominentenstall« genannt — hatte im Laufe der Jahre viele distinguierte Gäste beherbergt, darunter auch Präsidenten, Fürstlichkeiten und gekrönte Häupter.

Die meisten Prominenten mochten New Orleans. Die Stadt besaß eine eigene, sympathische Form von Gastlichkeit. Sie begrüßte ihre Gäste — und ließ sie dann tun, was sie wollten. Sie respektierte ihr Privatleben, auch wenn es ein wenig über die Stränge schlagen sollte.

Die gegenwärtigen Bewohner der Präsidentensuite, nicht gerade Staatsoberhäupter, aber doch wichtig genug, um als Renommiergäste gelten zu können, waren der Herzog und die Herzogin von Croydon mit ihrem Gefolge: einem Privatsekretär, der Kammerzofe der Herzogin und fünf Bedlington-Terriern. Peter McDermott blieb vor der doppelt gepolsterten, mit vergoldeten Wappenlilien geschmückten Tür stehen und drückte einen Perlmuttknopf. Er hörte innen den gedämpften Ton des Summers und, Sekunden später, das aufgeregte Gekläff der Hunde. Während er wartete, rief er sich ins Gedächtnis, was er vom Hörensagen und aus eigener Erfahrung über die Croydons wußte. Der Herzog, Abkömmling eines alten Geschlechts, hatte sich mit untrüglichem Gefühl für Popularität den Erfordernissen einer neuen Zeit angepaßt. In den letzten zehn Jahren war er, unterstützt von der Herzogin, die selbst eine profilierte Persönlichkeit war und als Verwandte des englischen Königshauses im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, als Gesandter der britischen Regierung zu besonderer Verwendung immer wieder mit schwierigen und heiklen diplomatischen Missionen betraut worden. In der letzten Zeit waren allerdings ab und zu Gerüchte aufgetaucht, daß die Popularität des Herzogs sich Gebieten zuwandte, die seiner diplomatischen Karriere nicht eben förderlich sein konnten. Man munkelte von einer gewissen Vorliebe für Alkohol und verheiratete Frauen. Andere Gerüchte wollten allerdings wissen, daß solche Vorkommnisse die Aussichten des Herzogs nicht getrübt hätten und daß die energische Herzogin die Situation fest in der Hand habe. Man sprach sogar davon, die Ernennung des Herzogs von Croydon zum britischen Botschafter in Washington stehe bevor.

»Verzeihen Sie, Mr. McDermott«, murmelte eine Stimme hinter Peters Rücken, »haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

McDermott schwenkte herum und erkannte Sol Natchez, einen der älteren Etagenkellner, der lautlos den Korridor heruntergekommen war. Natchez war ein hagerer Mann, leichenhaft blaß mit eingefallenen Gesichtszügen. Er trug eine kurze weiße Jacke mit Bordüren in Rot und Gold — den Farben des Hotels. Seine Haare waren mit Pomade geglättet und in einer altmodischen Stirnlocke nach vorn gekämmt. Die fahlen Augen tränten, und die Adern auf seinen dürren Händen, die er nervös knetete, ragten wie Stränge hervor.

»Was gibt’s, Sol?«

Mit einer Stimme, die vor unterdrückter Erregung bebte, sagte der Kellner: »Ich nehme an, Sie sind wegen der Beschwerde hier … der Beschwerde über mich.«

Peter warf einen Blick auf die Tür, die bisher nicht geöffnet worden war. Aus dem Inneren der Suite war außer dem Kläffen der Hunde bisher kein Laut gedrungen. »Erzählen Sie mir schnell, was passiert ist.«

Der andere schluckte krampfhaft. Ohne auf die Frage einzugehen, flüsterte er hastig und flehend: »Wenn ich meine Stellung verliere, Mr. McDermott, ist’s für mich in meinem Alter schwer, eine neue zu finden.« Er betrachtete die Präsidentensuite mit halb besorgter, halb gehässiger Miene. »Im allgemeinen komme ich gut mit ihnen aus … aber heute abend war’s wie verhext. Sie sind ziemlich anspruchsvoll, aber das hat mir nie was ausgemacht, obwohl sie keine Trinkgelder geben.«

McDermott mußte unwillkürlich lächeln. Angehörige des englischen Adels gaben selten ein Trinkgeld, vielleicht weil sie glaubten, daß die Ehre, sie bedienen zu dürfen, Belohnung genug sei.

»Sie haben mir noch immer nicht gesagt —«

»Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen, Mr. McDermott.« Peter war die Zerknirschtheit dieses Mannes, der alt genug war, um sein Großvater zu sein, fast peinlich. »Es ist ungefähr eine halbe Stunde her. Sie hatten ein spätes Nachtmahl bestellt … der Herzog und die Herzogin, meine ich … Austern, Champagner und Shrimps Creole.«

»Schön, und was ist dann passiert?«

»Es ist bei den Shrimps Creole passiert, Sir. Als ich sie servierte … also, ich weiß selbst nicht, wie’s zuging … in all den Jahren ist mir das kaum jemals passiert —«

»Mein Gott, kommen Sie zur Sache, Sol!« Peter ließ die Tür nicht aus den Augen, um das Gespräch sofort abzubrechen, falls sie sich öffnete.

»Ja, Mr. McDermott. Als ich die Creole servierte, stand die Herzogin vom Tisch auf, und als sie zurücktrat, stieß sie mich am Arm. Also, wenn ich’s nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie hätte es absichtlich getan.«

»Das ist doch absurd!«

»Ich weiß, Sir. Aber das Theater danach …! Es hat nur einen kleinen Fleck gegeben … ich schwöre Ihnen, Sir, er war nicht größer als ein halber Zentimeter, auf dem einen Hosenbein des Herzogs.«

»Und das ist alles?« fragte Peter zweifelnd.

»Ja. Ich kann beschwören, daß es nicht mehr war, Mr. McDermott. Aber bei dem Theater, das die Herzogin machte … hätte man denken können … ich hätte einen Mord begangen. Ich entschuldigte mich, holte eine saubere Serviette und Wasser, um den Fleck wegzumachen, aber das genügte ihr nicht. Sie wollte unbedingt mit Mr. Trent sprechen —«

»Mr. Trent ist nicht im Hotel.«

Peter beschloß, sich zunächst die Version der anderen Seite anzuhören, bevor er eine Entscheidung fällte. »Wenn Sie für heute fertig sind, gehen Sie am besten nach Hause. Melden Sie sich morgen wie immer zum Dienst. Dann werden Sie erfahren, was weiter geschieht.«

Als der Kellner verschwunden war, drückte Peter McDermott wieder auf die Klingel. Kaum hatten die jungen Hunde von neuem zu bellen begonnen, als die Tür von einem jungen Mann geöffnet wurde, der ein rundes Gesicht hatte und einen Kneifer auf der Nase trug — dem Sekretär der Croydons.

Bevor einer der beiden etwas äußern konnte, rief eine weibliche Stimme aus dem Inneren der Suite: »Wer immer auch an der Tür ist, sagen Sie ihm, er soll endlich aufhören zu klingeln.« Es war eine Stimme, fand Peter, die trotz ihres herrischen Tonfalls anziehend wirkte und durch ihre rauhe Klangfülle Interesse erregte.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zum Sekretär, »ich dachte, Sie hätten das Klingeln vielleicht nicht gehört.« Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Man hat mir berichtet, daß die Bedienung Anlaß zur Klage gab. Ich kam her, um zu fragen, ob ich Ihnen behilflich sein kann.«

»Wir erwarteten Mr. Trent«, antwortete der Sekretär.

»Mr. Trent ist heute abend nicht im Hotel.«

Während des Gesprächs hatten sich die beiden Männer von der Tür entfernt und standen nun in der Diele, einem mit dicken Teppichen ausgelegten und mit zwei Polstersesseln und einem Tischchen geschmackvoll ausgestatteten Raum. Ein Stich von Morris Henry Hobbs zeigte das alte New Orleans. Am einen Ende der Diele befand sich die Doppeltür zum Korridor, am anderen die Tür zum Salon, die einen Spalt breit offen stand. Rechts und links führte je eine Tür in die kleine Küche und in ein Schlaf-Wohnzimmer, das gegenwärtig vom Sekretär bewohnt wurde und ihm auch als Büro diente. Die zwei nebeneinanderliegenden Hauptschlafzimmer der Suite waren sowohl durch die Küche als auch durch den Salon zu erreichen, eine wohlüberlegte Anordnung des Architekten, die es heimlichen Schlafzimmerbesuchen ermöglichte, notfalls durch die Küche herein- und hinauszuschlüpfen.

»Warum kann man ihn nicht holen lassen?« Die Herzogin war in der Tür zum Salon aufgetaucht, drei wild kläffende Terrier auf den Fersen, und schoß die Frage auf Peter ab, ohne sich mit Vorreden aufzuhalten. Mit einem Fingerschnippen, das sofortigen Gehorsam erzwang, brachte sie die Hunde zum Schweigen und richtete ihren Blick forschend auf Peter. Er betrachtete das wohlgeformte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das ihm von zahllosen Fotos her vertraut war, und bemerkte, daß die Herzogin auch in salopper Kleidung ihre Eleganz nicht verleugnete.

»Offengestanden, Durchlaucht, ich wußte nicht, daß Sie Mr. Trent persönlich verlangt hatten.«

Graugrüne Augen musterten ihn abschätzend. »Wenn Mr. Trent schon nicht da ist, hätte ich wenigstens seinen Stellvertreter erwartet und nicht einen jungen Mann.«

Peter errötete unwillkürlich. Die Haltung der Herzogin von Croydon war von einer erhabenen Arroganz, die seltsamerweise etwas Anziehendes hatte. Peter fiel dabei ein Foto ein, das er in einer Illustrierten gesehen hatte. Es zeigte die Herzogin, wie sie auf einem Hengst über ein hohes Gatter setzte. Unter Nichtachtung jeder Gefahr war sie völlig Herr der Lage. Bei der Erinnerung daran überkam ihn das Gefühl, als wäre er in diesem Moment zu Fuß und die Herzogin hoch zu Roß.

»Ich bin stellvertretender Direktor. Deshalb bin ich selbst gekommen.«

In ihren Augen schimmerte es belustigt auf. »Sind Sie nicht noch ein bißchen jung für solch einen Posten?«

»Nicht unbedingt. Heutzutage haben viele junge Männer leitende Posten in der Hotelbranche inne.« Er stellte fest, daß sich der Sekretär diskret zurückgezogen hatte.

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig.«

Die Herzogin lächelte. Wenn sie wollte — wie jetzt —, strahlte ihr Gesicht bezaubernde Wärme aus. Dann war ihr vielgerühmter Charme nicht zu übersehen. Sie mochte fünf oder sechs Jahre älter sein als er, aber um einiges jünger als der Herzog, der fast fünfzig war. Nun fragte sie: »Haben Sie einen Kursus besucht oder so etwas?«

»Ich habe das Diplom der Cornell-Universität — der Hotelfachhochschule. Bevor ich hierher kam, war ich stellvertretender Direktor des Waldorf.« Es kostete ihn Überwindung, das Waldorf zu erwähnen, und fast hätte er hinzugefügt: wo man mich mit Schimpf und Schande davongejagt hat, so daß ich jetzt auf der schwarzen Liste aller Hotelkonzerne stehe und froh sein kann, daß ich hier, in einem konzernfreien Haus, unterkriechen konnte. Aber natürlich sagte er nichts dergleichen, denn mit seiner privaten Hölle mußte er allein fertig werden, auch wenn jemand durch Fragen unwissentlich alte, kaum verharschte Wunden aufriß.

»Das Waldorf hätte einen Zwischenfall wie den von heute abend nie geduldet«, entgegnete sie.

»Falls wir im Unrecht sind, Durchlaucht, kann ich Ihnen versichern, daß auch das St. Gregory so etwas nicht durchgehen läßt.«

»Falls Sie im Unrecht sind? Ist Ihnen eigentlich klar, daß der Kellner meinem Mann die Shrimps Creole über den Anzug geschüttet hat?«

Das war so offensichtlich eine Übertreibung, daß er sich verblüfft fragte, was die Herzogin eigentlich damit bezweckte. Es fiel auch völlig aus dem Rahmen des Üblichen, denn bisher waren die Beziehungen zwischen dem Hotel und den Croydons ausgezeichnet gewesen.

»Ich weiß, daß es eine kleine Panne gegeben hat, die vermutlich auf eine Unachtsamkeit des Kellners zurückzuführen ist. Und ich bin gekommen, um mich im Namen des Hotels zu entschuldigen.«

»Der ganze Abend ist uns durch diese ›kleine Panne‹ verdorben. Mein Mann und ich wollten ihn hier in der Suite verbringen — ganz für uns allein. Wir machten nur einen kurzen Gang ums Viertel und freuten uns aufs Souper, und dann passierte das!«

Peter nickte mitfühlend und ohne sich seine Verwunderung über die Haltung der Herzogin anmerken zu lassen. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie ihm den Zwischenfall fest ins Gedächtnis einprägen.

Er sagte: »Könnte ich vielleicht auch dem Herzog unser Bedauern über —«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte die Herzogin entschieden.

Er war im Begriff, sich zu verabschieden, als die Tür zum Salon, die angelehnt gewesen war, sich vollends öffnete, und der Herzog auf der Schwelle erschien.

Er war nachlässig gekleidet und trug nur ein zerknittertes weißes Oberhemd und Smokinghosen. Instinktiv suchte Peter nach den Spuren der Shrimps Creole, die Natchez, wie die Herzogin behauptete, über den Anzug ihres Mannes geschüttet hatte. Er entdeckte einen kaum wahrnehmbaren Fleck, so winzig, daß der Kellner ihn sofort hätte entfernen können. Hinter dem Herzog, an einer Wand des Salons, flimmerte der Bildschirm des eingeschalteten Fernsehgerätes.

Das Gesicht des Herzogs war gerötet und faltig und wirkte älter als auf seinen letzten Fotos. Er hielt ein Glas in der Hand, und seine Stimme klang verschwommen. »Oh, Verzeihung! Hör mal, altes Mädchen«, sagte er zur Herzogin gewandt, »muß meine Zigaretten im Wagen liegengelassen haben.«

Sie erwiderte scharf: »Ich bring’ dir welche.« Ihr Ton war schroff abweisend. Der Herzog machte mit einem Nicken kehrt und verschwand im Salon. Der kurze Wortwechsel hatte etwas seltsam Beklemmendes und schien den Zorn der Herzogin aus unerfindlichen Gründen noch stärker anzufachen.

»Ich bestehe darauf, daß Mr. Trent ein ausführlicher Bericht zugeht«, fauchte sie, »und ich erwarte, daß er sich persönlich bei uns entschuldigt.«

Noch verdutzter als zuvor trat Peter den Rückzug an, und er war kaum draußen, als die Tür hinter ihm energisch geschlossen wurde.

Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit. Auf dem Korridor wartete der Boy, der Christine in die 14. Etage begleitet hatte. »Mr. McDermott«, sagte er eindringlich, »Miss Francis braucht Sie in der Nummer 1439. Kommen Sie, bitte, schnell!«

4

Etwa eine Viertelstunde früher, während sie zum 14. Stock hochfuhren, sagte der Boy grinsend zu Christine: »Sie spielen wohl ein bißchen Detektiv, Miss Francis?«

»Wenn der Hausdetektiv da wäre, könnte ich mir das sparen«, antwortete Christine.

Der Boy, Jimmy Duckworth, ein untersetzter Mann mit beginnender Glatze und einem verheirateten Sohn, der in der Buchhaltung des St. Gregory arbeitete, machte nur verächtlich: »Ach der!« Gleich darauf hielt der Lift.

»Es ist Nummer 1439, Jimmy«, sagte Christine, und ganz automatisch schwenkten beide nach rechts. Sie waren beide mit der Geographie des Hotels vertraut, wenn auch auf sehr verschiedene Weise; der Boy hatte sich diese Sicherheit erworben, indem er jahraus, jahrein Gäste aus der Halle in ihre Zimmer führte, Christines Ortskenntnis beruhte auf einer Serie geistiger Bilder, die sich ihr beim Studium des Hotelplans mit seinen einzelnen Stockwerken eingeprägt hatten.

Falls jemand vor fünf Jahren auf der Universität von Wisconsin die Frage gestellt hätte, womit sich die zwanzigjährige Chris Francis, eine begabte Studentin mit einem Flair für moderne Sprachen, später wohl beschäftigen würde, dann wäre selbst die ausschweifendste Phantasie nicht darauf verfallen, daß sie als Direktionsassistentin in einem Hotel von New Orleans landen könnte. Zu jener Zeit kannte sie die mondsichelförmige Stadt kaum und interessierte sich denkbar wenig für sie. Sie hatte in der Schule im Geschichtsunterricht die Erwerbung von Louisiana durchgenommen und sich »Endstation Sehnsucht« angesehen. Aber sogar das Theaterstück war überholt, als sie nach New Orleans kam. Die Straßenbahn hatte einem Dieselbus Platz gemacht, und Sehnsucht war ein unbedeutender Vorort im Osten der Stadt, den Touristen selten aufsuchten. Vermutlich war es in gewisser Weise gerade die völlig fremde Umgebung, die sie nach New Orleans zog. Nach der Katastrophe in Wisconsin hatte sie dumpf und fast planlos nach einem Fleck Ausschau gehalten, wo man sie nicht kannte und der auch für sie neu war. Vertraute Dinge, ihre Berührung, ihr Anblick, ihr Klang verursachten ihr ein Herzweh, das sie ganz durchdrang, ihre Tage erfüllte und sie sogar bis in den Schlaf verfolgte. Seltsamerweise — und damals schämte sie sich dessen beinahe — litt sie nie unter Alpträumen; sie sah nur immer wieder die Geschehnisse vor sich, so wie sie sich an jenem denkwürdigen Tag auf dem Madison-Flughafen vor ihren Augen abgespielt hatten. Sie hatte ihre Familie, die einen Europatrip plante, dorthin begleitet; ihre Mutter, fröhlich und aufgeregt und geschmückt mit einer Orchidee, die eine Freundin ihr zum Abschied übersandt hatte; ihren Vater, entspannt und herzlich zufrieden darüber, daß die wirklichen und eingebildeten Leiden seiner Patienten einen Monat lang jemand anderen in Trab halten würden. Er hatte seine Pfeife am Schuh ausgeklopft, als die Maschine ausgerufen wurde. Babs, ihre ältere Schwester, hatte Christine umarmt; und sogar Tony, die zwei Jahre jünger und öffentlichen Gefühlsergüssen abgeneigt, ließ sich gnädig küssen.

»Auf Wiedersehen, Stubbs!« hatten Babs und Tony gerufen, und Christine hatte über den alten kindischen Spitznamen gelächelt. Und alle hatten versprochen, ihr zu schreiben, obwohl sie zwei Wochen später, nach Semesterschluß, in Paris wieder mit ihnen zusammentreffen sollte. Ganz zum Schluß hatte ihre Mutter sie fest an sich gedrückt und gesagt, sie solle gut auf sich achtgeben. Dann war die große Düsenmaschine zur Startbahn gerollt und hatte sich mit Dröhnen majestätisch vom Boden abgehoben. Aber sie hatte noch nicht richtig an Höhe gewonnen, da sackte sie mit einem herabhängenden Flügel ab, wurde zu einem wirbelnden purzelnden Katharinenrad, dann einen Moment lang zu einer Staubwolke, flammte auf wie eine brennende Fackel und war endlich nur noch ein Haufen weitverstreuter Trümmer — von Metallteilen und menschlichen Überresten.

Das war vor fünf Jahren. Einige Wochen nach dem Unglück hatte sie Wisconsin verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt.

Christine und der Boy gingen den Korridor entlang, und der dicke Läufer dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Jimmy Duckworth dachte laut nach. »Nummer 1439 … das ist doch der alte Herr … Mr. Wells. Vor ein paar Tagen haben wir ihn aus einem Eckzimmer dahin umquartiert.«

Einige Meter weiter unten öffnete sich eine Tür, und ein gutgekleideter Mann, Mitte der Vierzig, trat auf den Korridor. Er machte die Tür hinter sich zu und war im Begriff, den Schlüssel einzustecken, zögerte aber, als er Christine erblickte und musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Als er zum Sprechen ansetzte, schüttelte der Boy fast unmerklich den Kopf. Christine, der das stumme Gebärdenspiel nicht entgangen war, dachte, daß sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen müßte, für ein Callgirl gehalten zu werden. Sie wußte vom Hörensagen, daß sich unter Herbie Chandlers Damenflor einige außerordentlich schöne Mädchen befanden.

Im Weitergehen fragte sie: »Warum hat man Mr. Wells umquartiert?«

»Wie ich gehört hab’, Miss, hat der Gast, der die Nummer 1439 vorher hatte, Krach geschlagen, und da haben sie die Zimmer einfach ausgetauscht.«

Christine erinnerte sich nun wieder an die Nummer 1439; es hatte schon öfter Beschwerden über dieses Zimmer gegeben. Es lag unmittelbar neben dem Personalaufzug und war anscheinend Treffpunkt sämtlicher Rohrleitungen. Infolgedessen war es sehr laut und unerträglich heiß. Fast in jedem Hotel gab es mindestens einen solchen Raum — bei manchen hieß er die Folterkammer —, und im allgemeinen wurde er nur dann vermietet, wenn das Hotel bis zum letzten Platz belegt war.

»Wenn Mr. Wells ein besseres Zimmer hatte, warum hat man ihn dann gebeten, umzuziehen?«

Der Boy zuckte mit den Schultern. »Danach sollten Sie lieber die Burschen am Empfang fragen.«

Sie gab nicht nach. »Aber Sie haben sich doch sicher Ihre Gedanken gemacht.«

»Tjah, also ich glaube, es liegt daran, weil er sich nie beschwert. Der alte Herr kommt seit Jahren her und hat noch nie auch nur einen Mucks gesagt. Und es gibt welche, die scheinen sich ‘nen Spaß daraus zu machen.« Christine preßte ärgerlich die Lippen zusammen, als Jimmy hinzufügte: »In der Küche hab’ ich gehört, daß sie ihm unten im Speiserestaurant den Tisch direkt neben der Küchentür angewiesen haben, den sonst niemand haben will. Dem macht’s ja nichts aus, sagen sie.«

Morgen früh würde es einigen Leuten sehr viel ausmachen; dafür würde sie sorgen, dachte Christine grimmig. Als sie sich vorstellte, wie schäbig ein Stammgast, nur weil er ein ruhiger friedlicher Mensch war, behandelt worden war, spürte sie, wie es in ihr kochte. Und wenn schon! Ihre Temperamentsausbrüche waren im Hotel nicht unbekannt; einige schrieben sie, wie sie gut wußte, ihrem roten Haar zu. Im allgemeinen nahm sie sich sehr zusammen. Aber gelegentlich hatte ein solches Donnerwetter auch seinen Wert, weil es die Säumigen zum Handeln zwang.

Sie bogen um eine Ecke und machten vor der Nummer 1439 halt. Der Boy klopfte an die Tür. Sie warteten und lauschten. Niemand antwortete, und Jimmy Duckworth klopfte noch einmal und kräftiger als vorher. Diesmal meldete sich der Bewohner sofort — mit einem unheimlichen Stöhnen, das leise begann, anschwoll und unvermittelt abbrach.

»Den Hauptschlüssel, schnell!« drängte Christine. »Machen Sie die Tür auf.«

Sie blieb zurück, während der Boy hineinging; selbst in einer so offenkundigen Notlage mußte das vom Hotel vorgeschriebene Dekorum gewahrt werden. Im Zimmer war es dunkel; Duckworth knipste das Licht an und verschwand aus Christines Blickfeld. Gleich darauf rief er beschwörend: »Kommen Sie schnell, Miss Francis!«

Als sie den Raum betrat, empfing sie eine erstickende Hitze, obwohl der Schalter der Klimaanlage, wie sie mit einem Blick feststellte, auf »Kalt« zeigte. Zu weiteren Beobachtungen fehlte ihr die Zeit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde völlig in Anspruch genommen von der röchelnden Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lehnte; das Gesicht aschgrau, rang sie mit hervorquellenden Augen und zitternden Lippen verzweifelt um Atem.

Christine trat rasch ans Bett. Vor Jahren hatte sie im Sprechzimmer ihres Vaters einen Patienten bei einem Erstickungsanfall erlebt. Sie konnte zwar nicht alles tun, was ihr Vater damals getan hatte, aber an eine Maßnahme erinnerte sie sich noch genau. »Öffnen Sie das Fenster«, befahl sie Duckworth. »Wir brauchen hier drinnen unbedingt Luft.«

Die Augen des Boys klebten am Gesicht des keuchenden alten Mannes. Er erwiderte nervös: »Das Fenster ist versiegelt. Wegen der Klimaanlage.«

»Dann brechen Sie’s auf. Schlagen Sie meinetwegen die Scheibe ein, wenn’s nicht anders geht.«

Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie griff nach dem Hörer, und als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Hier ist Miss Francis. Ist Dr. Aarons im Hotel?«

»Nein, Miss Francis, aber er hat eine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich ihn erreichen kann, wenn es sich um einen dringenden Fall handelt.«

»Der Fall ist sehr dringend. Sagen Sie Dr. Aarons, Zimmer 1439, und er möchte sich bitte beeilen. Fragen Sie ihn, wann er frühestens im Hotel sein kann, und rufen Sie mich hier an.«

Sie legte auf und wandte sich wieder dem Bett zu. Der schmächtige gelbliche Mann rang noch immer krampfhaft um Luft, und sie bemerkte, wie sein fahles Gesicht allmählich blau wurde. Das Stöhnen begann von neuem; es wurde von den Atembeschwerden verursacht, aber Christine erkannte, daß sich die schwache Widerstandskraft des Kranken vor allem durch seine verzweifelten körperlichen Anstrengungen erschöpfte.

»Mr. Wells«, sagte sie und versuchte ein Gefühl der Zuversicht zu übermitteln, das sie keineswegs empfand, »ich glaube, Sie können leichter atmen, wenn Sie ganz still liegen.« Erleichtert stellte sie fest, daß der Boy am Fenster Fortschritte machte. Er hatte mit einem Kleiderbügel das Siegel an der Verriegelung gesprengt und stemmte nun den unteren Teil des Fensters Zentimeter für Zentimeter hoch.

Wie als Antwort auf Christines beruhigende Worte ließ das Keuchen des kleinen Mannes nach. Er hatte ein altmodisches Flanellnachthemd an, und als Christine einen Arm um ihn legte, spürte sie unter dem groben Stoff seine knochigen Schultern. Sie stopfte ihm die Kissen so in den Rücken, daß er, von ihnen gestützt, fast aufrecht sitzen konnte. Seine sanften Rehaugen sahen sie an und versuchten ihr seine Dankbarkeit auszudrücken. »Ich habe einen Arzt benachrichtigt«, sagte sie tröstend. »Er muß jeden Moment kommen.« Indessen machte der Boy, vor Anstrengung keuchend, eine letzte Kraftanstrengung, der Verschluß gab plötzlich nach, und das Fenster glitt weit auf. Ein Schwall kühler Luft drang ins Zimmer. Das Unwetter war also doch auf dem Weg nach dem Süden, dachte Christine dankbar; es trieb eine frische Brise vor sich her, und die Außentemperatur mußte niedriger sein als seit Tagen. Das Telefon läutete. Sie bedeutete dem Boy durch ein Zeichen, ihren Platz am Bett des Kranken einzunehmen, und hob den Hörer ab.

»Dr. Aarons ist auf dem Weg ins Hotel, Miss Francis«, sagte das Mädchen aus der Zentrale. »Er war in Paradis, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er in zwanzig Minuten eintreffen wird.«

Christine überlegte. Paradis lag jenseits des Mississippi, noch hinter Algiers. Selbst ein schneller und geschickter Fahrer würde die Strecke kaum in zwanzig Minuten schaffen. Außerdem zweifelte sie manchmal an der Kompetenz des behäbigen, trinkfesten Dr. Aarons, der als Hausarzt umsonst im Hotel wohnte und dafür stets verfügbar sein mußte. »Ich glaube nicht, daß wir so lange warten können«, sagte sie zu dem Mädchen. »Schauen Sie doch mal nach, ob wir unter den Gästen einen Arzt haben.«

»Das hab’ ich schon getan.« Die Antwort klang eine Spur zu selbstgefällig, so als habe das Mädchen zu viele Geschichten über heldenhafte Telefonfräulein gelesen und sich vorgenommen, den leuchtenden Vorbildern nachzueifern. »In der Nummer 221 wohnt ein Dr. Koenig und in der 1203 ein Dr. Uxbridge.«

Christine notierte sich die Nummern auf einem Block, der neben dem Apparat lag. »Schön, dann verbinden Sie mich bitte mit der 221.« Ärzte, die in Hotels absteigen, erwarten zu Recht, daß man ihr Privatleben respektiert. Aber im Notfall durfte man sich schon mal über das Protokoll hinwegsetzen.

Es klickte ein paarmal in der Leitung, während der Apparat am anderen Ende läutete. Dann meldete sich eine verschlafene Stimme mit deutschem Akzent: »Ja, wer ist dort?«

Christine stellte sich vor. »Verzeihen Sie die Störung, Dr. Koenig, aber einer unserer Gäste ist schwer erkrankt.« Ihr Blick schweifte zum Bett hinüber. Die beängstigende Blaufärbung des Gesichtes war verschwunden. Aber der kleine Mann war noch immer leichenblaß und atmete mühsam wie zuvor. Sie fügte hinzu: »Es wäre sehr freundlich, wenn Sie herüberkommen könnten.«

Eine kurze Pause trat ein. Dann erwiderte dieselbe Stimme liebenswürdig: »Meine liebe junge Dame, ich wäre nur zu glücklich, Ihnen einen, wenn auch noch so bescheidenen Dienst erweisen zu können. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Er schmunzelte hörbar. »Sehen Sie, ich bin Doktor der Musik und in Ihre wunderschöne Stadt gekommen, um als Gastdirigent — das ist, glaube ich, das richtige Wort — Ihr ausgezeichnetes Symphonieorchester zu leiten.«

Trotz Ihrer Besorgnis hätte Christine fast gelacht. Sie entschuldigte sich. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie im Schlaf gestört habe.«

»Bitte, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Sollte auch die andere Sorte Doktoren meinem unglücklichen Mitgast nicht mehr helfen können, dann könnte ich natürlich mit meiner Geige hinüberkommen und für ihn spielen.« Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung. »Gibt es einen schöneren Tod als bei einem Adagio von Vivaldi oder Tartini sanft zu entschlafen?«

»Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.« Sie legte auf und verlangte ungeduldig die nächste Verbindung.

Dr. Uxbridge in der Nummer 1203 meldete sich sofort mit einer Stimme, der jede Frivolität fernlag. Christines erste Frage beantwortete er kurz und sachlich: »Ja, ich bin Arzt — Internist.« Er hörte sich Christines Erklärungen kommentarlos an und sagte dann knapp: »Gut, in ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.«

Der Boy stand noch neben dem Bett. Christine befahl ihm: »Mr. McDermott ist in der Präsidentensuite. Warten Sie auf ihn und bitten Sie ihn, so schnell wie möglich herzukommen.« Sie griff wieder nach dem Telefonhörer. »Den Chefingenieur bitte.«

Zum Glück war der Chefingenieur fast immer zu erreichen. Doc Vickery war Junggeselle, wohnte im Hotel und hatte nur eine einzige Leidenschaft: die technischen Eingeweide des St. Gregory in ihrer gesamten Ausdehnung vom Keller bis unters Dach. Seit einem Vierteljahrhundert, seit er der See und seinem heimatlichen Clydeside ade gesagt hatte, beaufsichtigte er die Installationsanlagen des Hotels, und in mageren Zeiten, wenn das Geld für Ersatzteile knapp war, verstand er es, den abgenutzten Maschinen Sonderleistungen abzuschmeicheln. Der Chefingenieur war ein Freund Christines, und sie wußte, daß sie zu seinen Lieblingen zählte.

Nach wenigen Sekunden hörte sie seine Stimme mit ihrem rauhen schottischen Akzent. »Aye?«

In wenigen Worten berichtete sie ihm über die Erkrankung von Albert Wells. »Der Doktor ist noch nicht da. Aber er wird wahrscheinlich Sauerstoff brauchen. Wir haben doch ein tragbares Gerät im Hotel, nicht wahr?«

»Aye, wir haben Sauerstoffzylinder, Chris, aber wir verwenden sie bloß beim Schweißen.«

»Sauerstoff ist Sauerstoff«, antwortete sie. Einiges von dem, was sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte, fiel ihr allmählich wieder ein. »Die Verpackung spielt keine Rolle. Könnten Sie einen Mann von Ihrer Nachtschicht mit allem Notwendigen heraufschicken?«

Der Chefingenieur brummte zustimmend. »Freilich, und ich komm’ auch, mein Mädel, sobald ich in die Hosen gefahren bin. Sonst kommt irgend so ein Witzbold auf die Idee, dem alten Mann einen Pott mit Azetylen unter die Nase zu halten, und das würde ihm bestimmt den Rest geben.«

»Ach bitte, beeilen Sie sich.« Sie legte auf und beugte sich übers Bett.

Die Augen des kleinen Mannes waren geschlossen. Nun, wo er nicht mehr nach Luft rang, schien er überhaupt nicht mehr zu atmen.

Es klopfte leicht an die halb geöffnete Tür, und ein hochgewachsener, hagerer Mann kam herein. Er hatte ein eckiges Gesicht, und sein Haar war an den Schläfen ergraut. Unter dem konservativen dunkelblauen Anzug kam ein beiger Pyjama zum Vorschein. »Ich bin Dr. Uxbridge.« Die Stimme des Arztes strahlte Ruhe und Sicherheit aus.

»Herr Doktor, er hat eben erst …«

Dr. Uxbridge nickte und entnahm seiner Ledertasche, die er aufs Bett stellte, ein Stethoskop. Ohne Zeit zu verlieren, schob er es unter das Flanellnachthemd des Patienten und horchte rasch Brust und Rücken ab. Dann nahm er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Spritze aus der Tasche, setzte sie zusammen und brach den Hals einer kleinen Ampulle ab. Nachdem er die Spritze gefüllt hatte, beugte er sich über den Kranken, schob einen Ärmel des Nachthemdes hoch und drehte ihn zu einer provisorischen Aderpresse zusammen. »Halten Sie das fest und ziehen Sie’s eng zusammen«, sagte er zu Christine.

Mit alkoholgetränkter Watte tupfte er die Haut über der Vene ab und stach die Nadel in den Unterarm. Er wies mit dem Kopf auf die Aderpresse. »Sie können jetzt loslassen.« Dann, nach einem Blick auf seine Uhr, begann er die Flüssigkeit langsam zu injizieren.

Christines Blick heftete sich fragend auf das Gesicht des Arztes. Ohne aufzusehen, erklärte er: »Aminophyllin; es soll das Herz anregen.« Er blickte wieder auf die Uhr und erhöhte die Dosierung nach und nach. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten. Die Spritze war zur Hälfte geleert. Bisher zeigte sich keine Wirkung.

»Was fehlt ihm eigentlich?« flüsterte Christine.

»Schwere Bronchitis in Verbindung mit Asthma. Ich vermute, er hat diese Anfälle schon früher gehabt.«

Plötzlich dehnte sich die Brust des kleinen Mannes. Sie hob und senkte sich, langsamer als vorher, aber in vollen tiefen Atemzügen. Er schlug die Augen auf.

Die Anspannung im Raum ließ nach. Der Arzt zog die Spritze heraus und nahm sie auseinander.

»Mr. Wells«, sagte Christine. »Mr. Wells, können Sie mich hören?«

Er nickte mehrmals hintereinander und sah sie aufmerksam an.

»Wir fanden Sie sehr krank vor, Mr. Wells. Das ist Dr. Uxbridge, ein Hotelgast, den wir um Hilfe baten.«

Der Blick des Kranken wanderte zum Arzt hinüber. »Danke«, flüsterte er mühsam. Es war fast ein Keuchen und das erste Wort, das der Kranke hervorbrachte. Sein Gesicht bekam allmählich wieder ein wenig Farbe.

»Wenn jemand Dank verdient, dann diese junge Dame.« Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem knappen Lächeln und sagte dann zu Christine: »Der Herr ist noch immer sehr leidend und benötigt auch weiterhin ärztliche Betreuung. Mein Rat wäre, ihn sofort in ein Krankenhaus zu überführen.«

»Nein, nein! Das möchte ich nicht!« kam es hastig und eindringlich vom Bett her. Der kleine Mann beugte sich in den Kissen vor, mit unruhigem Blick, und seine Arme, die Christine vorhin zugedeckt hatte, lagen nun auf der Decke. Er atmete noch immer keuchend und mit Anstrengung, aber die akute Gefahr war vorüber.

Christine hatte zum erstenmal Zeit, sein Äußeres genau zu betrachten. Ursprünglich hatte sie ihn auf Anfang Sechzig geschätzt; aber nun revidierte sie ihre Annahme und fügte ein halbes Dutzend Jahre hinzu. Er war von Gestalt schmächtig, und seine geringe Größe sowie seine abgemagerten, spitzen Gesichtszüge und die ein wenig eingefallenen Schultern gaben ihm das sperlinghafte Aussehen, dessen sie sich von früheren Begegnungen her erinnerte. Die spärlichen grauen Haarsträhnen, sonst ordentlich zurückgekämmt, waren jetzt zerzaust und feucht von Schweiß. Auf seinem Gesicht lag meistens ein milder, harmloser, fast abbittender Ausdruck, und dennoch spürte Christine darunter verborgene stille Beharrlichkeit.

Ihre erste Begegnung mit Albert Wells hatte vor zwei Jahren stattgefunden. Er war schüchtern ins Verwaltungsbüro gekommen, tief beunruhigt über eine Unstimmigkeit in seiner Rechnung, über die er sich mit der Kasse nicht hatte einigen können. Es handelte sich um einen Betrag von 75 Cents, und während sich der Hauptkassierer bereit erklärt hatte, den Posten ganz zu streichen — wie es gewöhnlich geschah, wenn Gäste geringfügige Beträge anzweifelten —, ging es Albert Wells darum, zu beweisen, daß der Posten auf seiner Rechnung überhaupt nichts zu suchen hatte. Nach einigen geduldigen Umfragen stellte Christine fest, daß der alte Mann recht hatte, und da sie selbst gelegentlich Anwandlungen von Sparsamkeit unterworfen war, die allerdings jedesmal von Ausbrüchen wilder weiblicher Extravaganz abgelöst wurden, sympathisierte sie mit dem kleinen Mann und achtete ihn seiner Charakterstärke wegen. Außerdem schloß sie aus seiner Hotelrechnung, die sich in bescheidenen Grenzen hielt, und aus seiner Kleidung, die offensichtlich von der Stange kam, daß er nur über geringe Mittel verfügte, vielleicht als Rentner lebte, und daß die jährlichen Besuche in New Orleans Höhepunkte in seinem Dasein waren.

»Ich mag Krankenhäuser nicht«, erklärte Albert Wells. »Hab’ sie nie gemocht.«

»Falls Sie hier bleiben«, wandte der Arzt ein, »brauchen Sie regelmäßig ärztliche Betreuung und wenigstens für die nächsten vierundzwanzig Stunden eine Pflegerin. Und eigentlich müßten Sie auch ab und zu Sauerstoff bekommen.«

Der kleine Mann ließ nicht locker. »Für die Pflegerin kann doch das Hotel sorgen. Sie können das, Miss, nicht wahr?«

»Ich denke schon.« Albert Wells’ Abneigung gegen Krankenhäuser war anscheinend im Augenblick sogar stärker als seine natürliche Zurückhaltung und der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Christine fragte sich allerdings, ob er ahnte, wie kostspielig Privatpflege war.

Sie wurden unterbrochen. In der Tür tauchte ein Mechaniker im Overall auf und schob einen Sauerstoffzylinder auf einem Wägelchen vor sich her. Ihm folgte der stämmige Chefingenieur, der einen kurzen Gummischlauch, Draht und einen Plastikbeutel trug.

»Krankenhausmäßig ist es zwar nicht, Chris«, sagte er, »aber ich schätze, es funktioniert.« Er war hastig in die Kleider gefahren und hatte ein altes Tweedjackett und Slacks an; das Hemd war offen und enthüllte ein Stück seiner behaarten Brust. Seine Füße steckten in offenen Sandalen, und unter dem kahlen gewölbten Schädel saß ihm die breitrandige Brille wie gewöhnlich fast auf der Nasenspitze.

Dr. Uxbridge machte ein erstauntes Gesicht. Christine erklärte ihm, sie habe damit gerechnet, daß Sauerstoff benötigt würde, und stellte den Chefingenieur vor. Dieser nickte, ohne sich bei der Arbeit stören zu lassen, und spähte nur kurz über den Rand seiner Brille. Gleich darauf, nachdem er den Schlauch angeschlossen hatte, verkündete er: »An diesen Plastikbeuteln sind schon ein Haufen Leute erstickt, aber das ist noch kein Grund, warum einer nicht auch mal das Gegenteil bewirken sollte. Was meinen Sie, Doktor, geht es so?«

»Davon bin ich überzeugt.« Dr. Uxbridge war nicht mehr ganz so zugeknöpft wie bisher. Er sah Christine an. »Dieses Hotel scheint einige äußerst tüchtige Mitarbeiter zu haben.«

Sie lachte. »Warten wir’s ab. Wenn wir erst mal Ihre Zimmerreservierungen durcheinandergebracht haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern.«

Der Arzt ging wieder zum Bett zurück. »Der Sauerstoff wird Ihnen Erleichterung verschaffen, Mr. Wells. Diese Bronchialbeschwerden haben Sie vermutlich schon länger.«

Albert Wells nickte. »Die Bronchitis habe ich mir als Grubenarbeiter geholt«, sagte er heiser. »Und später kam dann noch das Asthma dazu.« Seine Augen schweiften zu Christine hinüber. »Mir tut das alles sehr leid, Miss.«

»Ich bin auch traurig, vor allem, weil Sie Ihr Zimmer wechseln mußten.«

Der Chefingenieur hatte indessen das andere Ende des Schlauchs an den grüngestrichenen Zylinder angeschlossen. Dr. Uxbridge sagte ihm: »Wir wollen mit fünf Minuten Sauerstoff beginnen und danach fünf Minuten pausieren.« Gemeinsam befestigten sie die improvisierte Maske über dem Gesicht des Kranken. Ein stetiges Zischen zeigte an, daß der Sauerstoff einströmte.

Der Arzt warf einen Blick auf seine Uhr und fragte dann: »Haben Sie einen hiesigen Arzt benachrichtigt?«

Christine bejahte und erklärte, warum Dr. Aarons noch nicht da war.

Dr. Uxbridge nickte befriedigt. »Dann kann er alles Weitere veranlassen. Ich komme aus Illinois und bin nicht befugt, in Louisiana zu praktizieren.« Er beugte sich über Albert Wells. »Wie fühlen Sie sich? Besser?« Unter der Plastikmaske versuchte der kleine Mann zu nicken.

Auf dem Korridor hörte man feste Schritte, und gleich darauf erschien Peter McDermotts athletische Gestalt in der Türöffnung. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte er zu Christine und sah zum Bett hinüber. »Geht es ihm besser?«

»Ja. Aber ich glaube, wir sind Mr. Wells einiges schuldig.« Sie winkte Peter auf den Korridor hinaus und schilderte ihm die Umquartierung des kleinen Mannes, von der ihr der Boy erzählt hatte. Als sie sah, wie Peter die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Falls er hier bleibt, müßten wir ihm schnell ein anderes Zimmer geben, und ich könnte mir vorstellen, daß sich auch eine Pflegerin ohne allzuviel Mühe beschaffen ließe.«

Peter nickte. In einem Mädchenzimmer auf der anderen Seite des Korridors befand sich ein Haustelefon. Er ging hinüber und verlangte den Empfang.

»Ich bin im vierzehnten«, sagte er, als sich der Empfang meldete. »Ist in der Etage noch ein Zimmer frei?«

Eine spürbare Pause folgte. Der Empfangschef war einer von den alten Mitarbeitern, die Warren Trent vor vielen Jahren eingestellt hatte. Kaum jemals wurde seine fast automatische und wenig einfallsreiche Arbeitsweise bemängelt. Er hatte Peter McDermott bei mehreren Gelegenheiten zu verstehen gegeben, er könne Neulinge nicht leiden, und schon gar nicht, wenn sie jünger als er und ihm übergeordnet waren und aus dem Norden stammten.

»Also«, sagte Peter, »ist nun ein Zimmer frei oder nicht?«

»Ich habe noch die Nummer 1410«, erwiderte der Angestellte in bestem südlichem Pflanzerakzent, »aber ich bin gerade im Begriff, sie einem Herrn zu geben, der soeben eingetroffen ist.« Er fügte hinzu: »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, wir sind nahezu voll besetzt.«

Die Nummer 1410 war ein Zimmer, an das Peter sich erinnerte. Es war groß und luftig und ging auf die St. Charles Avenue hinaus. »Wenn ich die 1410 nehme, können Sie Ihren Mann dann woanders unterbringen?«

»Nein, Mr. McDermott. Ich habe nur noch eine kleine Suite in der fünften Etage, und der Herr möchte keinen höheren Preis zahlen.«

»Schön«, sagte Peter entschieden, »dann geben Sie dem Mann für heute nacht die Suite zum normalen Zimmerpreis. Morgen können wir ihn dann umquartieren. Ich brauche die 1410 für den Gast von 1439. Schicken Sie bitte sofort einen Boy mit dem Schlüssel herauf.«

»Einen Moment, Mr. McDermott.« Bisher hatte sich der Empfangschef um einen leidlich höflichen Ton bemüht; nun wurde er ausgesprochen renitent. »Es war immer Mr. Trents Geschäftstaktik —«

»Im Augenblick handelt es sich um meine Taktik«, antwortete Peter kurz angebunden. »Und noch eins: Richten Sie Ihrer Ablösung aus, daß ich morgen früh eine Erklärung dafür erwarte, warum Mr. Wells aus seinem Zimmer in die Nummer 1439 abgeschoben wurde, und Sie können hinzufügen, daß es schon ein verdammt guter Grund sein muß.«

Er sah Christine an und schnitt ein Gesicht, während er den Hörer auflegte.

5

»Du mußt verrückt gewesen sein«, fauchte die Herzogin. »Verrückt und von allen guten Geistern verlassen.« Nachdem Peter McDermott die Präsidentensuite verlassen hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt und hatte die innere Tür sorgfältig hinter sich geschlossen.

Der Herzog rutschte unbehaglich hin und her, wie immer, wenn seine Frau ihn mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Gardinenpredigten traktierte. »Das Ganze tut mir verdammt leid, altes Mädchen. Fernsehen war eingeschaltet. Konnte den Burschen nicht hören. Dachte, er hätte sich schon verzogen.« Mit unsicheren Händen hob er sein Whiskyglas, trank einen guten Schluck und fügte wehklagend hinzu: »Außerdem bin ich noch verteufelt durcheinander.«

»Es tut mir leid! Du bist durcheinander!« In der Stimme seiner Frau lag ein Unterton von Hysterie, eine Schwäche, zu der sie sich selten hinreißen ließ. »Wenn man dich hört, könnte man glauben, alles wäre nur eine Art Spiel. Und dabei ist das, was heute nacht passiert, vielleicht der Ruin —«

»Denk bloß nicht, daß ich das nicht weiß. Weiß genau, daß es ernst ist. Verdammt ernst.« Er kauerte unglücklich in seinem Ledersessel wie ein Häufchen Elend und erinnerte in diesem Augenblick an den Hamster mit Schnurrbart und Melone der englischen Karikaturisten.

Die Herzogin fuhr anklagend fort: »Ich habe getan, was ich konnte. Nach deiner Wahnsinnstat habe ich mein menschenmögliches versucht, um jedermann einzuhämmern, daß wir einen ruhigen Abend im Hotel verbracht haben. Ich erfand sogar einen Spaziergang, für den Fall, daß uns jemand beim Hereinkommen sah. Und dann platzt du in deiner unglaublichen Naivität dazwischen und verkündest laut und deutlich, daß du deine Zigaretten im Wagen vergessen hast.«

»Das hat bloß einer gehört. Dieser Geschäftsführer oder so. Der hat überhaupt nichts gemerkt.«

»Und ob er etwas gemerkt hat! Ich habe sein Gesicht genau beobachtet.« Die Herzogin bewahrte mühsam ihre Selbstbeherrschung. »Ist dir eigentlich klar, in welcher scheußlichen Klemme wir sind?«

»Natürlich.« Der Herzog trank seinen Whisky aus und betrachtete das leere Glas. »Schäme mich maßlos. Wenn du mich nicht überredet hättest … und wenn ich nicht besäuselt gewesen wäre —«

»Besäuselt! Du warst betrunken! Du warst betrunken, als ich dich fand, und du bist’s auch jetzt noch.«

Er schüttelte den Kopf, als wollte er Klarheit in seine Gedanken bringen. »Bin jetzt ganz nüchtern.« Nun war er an der Reihe mit Vorwürfen. »Du mußtest mir ja unbedingt nachspionieren. Dich einmischen. Konntest mich nicht in Ruhe —«

»Hör auf damit. Wichtig ist jetzt nur das andere.«

»Du hast mich überredet …«, wiederholte er.

»Wir hätten sonst nichts tun können. Nichts! Und so haben wir vielleicht noch eine Chance.«

»Verlaß dich nicht zu fest darauf. Wenn die Polizei erst mal anfängt zu bohren …«

»Dazu müßte man uns erst einmal verdächtigen. Deshalb hab’ ich den Zwischenfall mit dem Kellner inszeniert und so viel Aufhebens davon gemacht. Es ist zwar kein echtes Alibi, aber fast so gut. Damit habe ich ihnen eingebleut, daß wir heute abend hier waren … oder vielmehr, ich hätte es ihnen eingebleut, wenn du nicht alles verdorben hättest. Ich könnte heulen.«

»Das wundert mich«, sagte der Herzog. »Ich wußte gar nicht, daß du so weiblich bist.« Er hatte sich im Sessel aufgerichtet und irgendwie seine Unterwürfigkeit ganz oder fast abgeschüttelt. Diese chamäleonhafte Verwandlungsfähigkeit verblüffte alle, die ihn kannten, immer von neuem und veranlaßte sie zu der Frage, wie er wirklich war.

Die Herzogin errötete, ein Reiz, der ihre statuarische Schönheit noch erhöhte. »Das war überflüssig.«

»Vielleicht.« Der Herzog stand auf und begab sich zu einem Seitentischchen, wo er sich eine freigebige Portion Whisky ins Glas schüttete und ein wenig Sodawasser nachfüllte. Seiner Frau den Rücken zuwendend, fügte er hinzu: »Trotzdem kannst du nicht leugnen, daß das die Ursache all unserer Schwierigkeiten ist.«

»Ich gebe nichts dergleichen zu. Das mag für deine Angelegenheiten gelten, aber nicht für meine. Es war eine Wahnsinnsidee von dir, heute abend in diese scheußliche Spelunke zu gehen, und daß du dieses Frauenzimmer mitgenommen hast —«

»Haben das bereits besprochen«, sagte der Herzog erschöpft. »Zur Genüge. Auf der Rückfahrt. Bevor es passierte.«

»Es freut mich, daß etwas von dem, was ich sagte, hängengeblieben ist. Ich hatte nicht damit gerechnet.«

»Deine Worte durchdringen den dicksten Nebel, altes Mädchen. Ich versuche mich dagegen immun zu machen. Hab’s aber bisher nicht geschafft.« Er nippte an seinem frischen Drink. »Warum hast du mich geheiratet?«

»Ich glaube, vor allem deshalb, weil du in unseren Kreisen der einzige warst, der etwas getan hat, das der Mühe wert war. Ich hörte immer nur: Der Adel hat sich überlebt. Du schienst zu beweisen, daß es nicht so war.«

Der Herzog hob sein Glas und starrte es an. »Jetzt nicht mehr, wie?«

»Nein. Wenn es dennoch den Anschein hat, dann nur, weil ich die Fäden ziehe.«

»Washington?« fragte er.

»Wir könnten es schaffen, wenn du es fertigbrächtest, weniger zu trinken und im eigenen Bett zu schlafen.«

»Haha!« Er lachte hohl. »Ein verdammt kaltes Bett.«

»Ich sagte bereits, daß wir darauf nicht einzugehen brauchen.«

»Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum ich dich geheiratet habe?«

»O doch, ich hab’ mir so meine Gedanken gemacht.«

»Wenn du das Allerwichtigste wissen willst.« Er nahm noch einen Schluck, als müsse er sich Mut antrinken, und murmelte undeutlich: »Wollte dich fürs Bett. Schnell. Legal. Wußte, das war der einzige Weg.«

»Es wundert mich, daß du dir die Mühe gemacht hast. Du brauchtest unter so vielen anderen nur zu wählen — vor unserer Hochzeit und danach.«

Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. »Wollte keine andere. Wollte bloß dich. Auch jetzt noch.«

»Schluß damit!« sagte sie scharf. »Ich will nichts mehr davon hören.«

Er schüttelte den Kopf. »Bloß noch eins. Dein Stolz, altes Mädchen. Prachtvoll. Unbändig. Hat mich immer gereizt. Wollte ihn nicht brechen. Wollte nur daran teilhaben. Du auf dem Rücken. Mit gespreizten Oberschenkeln. Leidenschaftlich. Bebend …«

»Sei still! Sei still, du … du Wüstling, du!« Ihr Gesicht war weiß, ihre Stimme schrill. »Es ist mir egal, ob dich die Polizei erwischt! Ich hoffe, sie tut’s! Ich hoffe, du kriegst zehn Jahre!«

6

Nach seiner schnell beendeten Auseinandersetzung mit dem Empfang ging Peter McDermott quer durch den Korridor der 14. Etage und betrat wieder die Nummer 1439.

»Wenn Sie einverstanden sind«, sagte er zu Dr. Uxbridge, »schaffen wir Ihren Patienten in ein anderes Zimmer im selben Stockwerk.«

Der hochgewachsene hagere Arzt, der Christines Hilferuf so rasch gefolgt war, nickte. Er betrachtete die enge Folterkammer mit ihrem Gewirr von Heizungs- und Wasserrohren. »Jeder Wechsel kann nur von Vorteil sein.«

Während der Arzt ans Bett und zu dem Patienten zurückkehrte, der eben wieder seine Fünf-Minuten-Dosis Sauerstoff bekam, meinte Christine: »Jetzt brauchen wir nur noch eine Pflegerin.«

»Mit dem Problem kann sich Dr. Aarons befassen«, erwiderte Peter und setzte nachdenklich hinzu: »Das Hotel wird sie engagieren müssen, vermute ich, und das bedeutet, daß wir für die Kosten haften. Glauben Sie, daß Ihr Freund Wells zahlen kann?«

Peter und Christine hatten sich in den Korridor zurückgezogen, wo sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten.

»Das macht mir eben Sorgen. Ich glaube nicht, daß er viel Geld hat.« Peter bemerkte, daß Christine, wenn sie angestrengt nachdachte, ihre Nase auf bezaubernde Art kräuselte. Er war sich ihrer Nähe bewußt und eines schwachen zarten Duftes, der von ihr ausging.

»Ach was«, sagte er, »in einer Nacht werden uns die Schulden schon nicht über den Kopf wachsen, und morgen früh kann sich das Kreditbüro dahinterklemmen.«

Als der Boy mit dem Zimmerschlüssel anlangte, warf Christine einen Blick in die Nummer 1410. »Das Zimmer ist bereit«, verkündete sie bei der Rückkehr.

»Es ist am einfachsten, wenn wir die Betten austauschen«, meinte Peter. »Wir rollen Mr. Wells in seinem Bett in die Nummer 1410 und schaffen das andere hierher.« Aber sie stellten fest, daß die Türöffnung um zwei Zentimeter zu schmal war.

Albert Wells, dessen Atembeschwerden nachgelassen hatten und der wieder Farbe bekommen hatte, erklärte: »Ich bin in meinem Leben so viel gelaufen, daß mir ein bißchen mehr nicht schaden wird.« Aber Dr. Uxbridge schüttelte energisch den Kopf.

Der Chefingenieur verglich den Breitenunterschied. »Ich hänge die Tür aus«, sagte er zu dem Kranken. »Dann flutschen Sie durch wie ein Kork aus der Flasche.«

»Das ist zu umständlich«, sagte Peter. »Es gibt eine schnellere und bessere Methode — falls es Ihnen recht ist, Mr. Wells.«

Der Kranke nickte lächelnd. Peter beugte sich vor, schlug dem alten Mann eine Decke um die Schultern und hob ihn hoch.

»Sie haben starke Arme, mein Junge«, sagte der kleine Mann. Peter lächelte. Dann schritt er so mühelos, als hielte er ein Kind in den Armen, den Korridor hinunter und in das neue Zimmer.

Fünfzehn Minuten später hatte sich alles eingespielt, als liefe es auf Nylonrollen. Das Sauerstoffgerät war hinübertransportiert worden, obwohl es nicht mehr so dringend benötigt wurde, da in der geräumigen Nummer 1410 die Klimaanlage nicht mit heißen Leitungsrohren konkurrieren mußte und die Luft frischer war. Der Hausarzt Dr. Aarons war eingetroffen, behäbig und jovial wie immer und von einer beinahe sichtbaren Bourbon-Wolke umhüllt. Er ging freudig auf Dr. Uxbridges Angebot ein, am nächsten Morgen in beratender Eigenschaft vorbeizuschauen, und machte sich auch eifrig den Vorschlag zu eigen, daß Cortison einem erneuten Anfall vorbeugen würde. Auch eine private Pflegerin, die Dr. Aarons liebevoll benachrichtigt hatte (»Eine wundervolle Neuigkeit, meine Beste! Wir werden wieder einmal das Vergnügen haben, zusammenzuarbeiten«), befand sich offenbar schon auf dem Wege nach oben.

Als der Chefingenieur und Dr. Uxbridge sich verabschiedeten, schlummerte Albert Wells friedlich.

Peter folgte Christine in den Korridor und zog die Tür langsam zu. Dr. Aarons marschierte, während er auf seine Pflegerin wartete, im Zimmer auf und ab und begleitete sich dazu, pianissimo, mit der Torero-Arie aus Carmen. (»Pom, pom, pom; pompom; pompompom, pompom …«) Die Tür fiel ins Schloß und schnitt den Gesang ab.

Es war Viertel vor zwölf.

Als sie auf den Lift zusteuerten, sagte Christine: »Ich bin froh, daß wir ihn dabehalten haben.«

»Mr. Wells?« fragte Peter überrascht. »Warum hätten wir ihn fortschicken sollen?«

»Manche Hotels hätten’s getan. Sie wissen ja, wie die sind: Es braucht nur was Außergewöhnliches zu passieren, und jeder fühlt sich belästigt. Sie wollen bloß, daß die Leute kommen und gehen und ihre Rechnung bezahlen; das ist alles.«

»Solche Hotels sind Wurstfabriken. Ein richtiges Hotel ist für den Gast da und leistet ihm Beistand, wenn er ihn braucht. Die besten Hotels haben so angefangen. Leider haben zu viele Leute in unserer Branche das vergessen.«

Sie sah ihn neugierig an. »Sie finden wohl, daß wir hier es auch vergessen haben?«

»Da haben Sie recht, verdammt noch mal! Wir denken kaum noch daran. Wenn ich freie Hand hätte, würde sich hier eine ganze Menge ändern …« Er verstummte, leicht beschämt über seine eigene Heftigkeit. »Schwamm drüber. Meistens behalte ich so aufrührerische Ideen für mich.«

»Sie dürften sie aber nicht für sich behalten, und wenn Sie’s doch tun, sollten Sie sich schämen.« Christine wußte, daß das St. Gregory in vieler Hinsicht unzulänglich war und in den letzten Jahren hauptsächlich von seinem alten Ruhm gezehrt hatte. Gegenwärtig befand sich das Hotel zudem in einer finanziellen Krise, die möglicherweise drastische Veränderungen erzwingen würde, auch gegen den Willen des Besitzers Warren Trent.

»Es lohnt sich nicht, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. W.T. hat für neue Ideen nichts übrig.«

»Das ist kein Grund, aufzugeben.«

Er lachte. »Sie reden wie eine Frau.«

»Ich bin eine Frau.«

»Stimmt«, sagte Peter. »Ich fange an, mir darüber klarzuwerden.«

Und genauso war es auch, dachte er. Denn solange er Christine kannte — seit seiner Ankunft im St. Gregory —, hatte er sie als gegeben hingenommen. Erst in letzter Zeit hatte er sich immer häufiger bei dem Gedanken ertappt, wie anziehend sie war und wie gut sie aussah. Er fragte sich, welche Pläne sie für den Rest des Abends haben mochte.

Er sagte versuchsweise: »Ich hab’ noch nicht zu Abend gegessen; hatte keine Zeit dazu. Haben Sie Lust, mir bei einem späten Souper Gesellschaft zu leisten?«

»Ich liebe späte Soupers«, antwortete Christine.

Als sie im Lift anlangten, sagte er: »Da ist noch eine Sache, die ich nachprüfen möchte. Ich hatte Herbie Chandler beauftragt, sich um die Beschwerde in der elften Etage zu kümmern, aber ich traue ihm nicht. Danach bin ich fertig.« Er nahm ihren Arm und drückte ihn leicht. »Wollen Sie in meinem Büro auf mich warten?«

Seine Hände griffen erstaunlich sanft zu für jemanden von seiner Größe. Christine musterte von der Seite das kräftige, energische Profil mit dem vorspringenden Kinn, das wie aus Stein gemeißelt schien. Es war ein interessantes Gesicht, mit einem Zug hartnäckiger Entschlossenheit, die in Eigensinn umschlagen konnte. Sie spürte, wie ihre Sinne sich regten. »Gut«, sagte sie. »Ich warte.«

7

Marsha Preyscott wünschte sich sehnlichst, daß sie ihren neunzehnten Geburtstag irgendwie anders verbracht hätte oder wenigstens auf dem Alpha-Kappa-Epsilon-Verbindungsball im großen Kongreßsaal des Hotels geblieben wäre. Der Lärm des Balles, gedämpft durch die acht dazwischenliegenden Stockwerke und konkurrierende Geräusche, drang bis zu der Suite in der elften Etage und durchs offene Fenster herein. Einer der Jungen hatte es vor einigen Minuten erst gewaltsam geöffnet, weil Hitze, Zigarettenrauch und Alkoholdunst in dem vollen Raum unerträglich wurden, sogar für jene, deren Wahrnehmungsvermögen rapide nachließ.

Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Aber wie immer hatte sie rebellisch nach einer Abwechslung verlangt, und die hatte Lyle Dumaire ihr versprochen. Lyle, den sie seit Jahren kannte, mit dem sie gelegentlich ausging und dessen Vater Präsident einer der hiesigen Banken und mit ihrem eigenen Vater eng befreundet war. Während sie miteinander tanzten, hatte Lyle ihr erzählt: »Das hier ist doch der reinste Kindergarten, Marsha. Ein paar von den Burschen haben eine Suite genommen, und wir waren fast den ganzen Abend über oben. Dort geht’s rund, kann ich dir sagen.« Er schwang sich zu einem männlichen Lachen auf, das aber irgendwie zu einem Kichern abrutschte, und fragte dann geradezu: »Warum kommst du nicht auch rauf?«

Ohne lange zu überlegen, hatte sie zugestimmt. Sie waren aus dem Tanzsaal geschlüpft und hatten sich in die kleine überfüllte Suite 1126-7 begeben, wo ihnen bereits an der Tür warme abgestandene Luftschwaden und schrilles Stimmengewirr entgegenschlugen. Es waren mehr Leute da, als sie erwartet hatte, und sie war auch nicht darauf gefaßt gewesen, daß einige von den Jungen bereits stark angetrunken waren.

Die meisten der anwesenden Mädchen kannte sie, aber nur oberflächlich. Sie begrüßte sie kurz, obwohl es bei dem Lärm fast unmöglich war, sich verständlich zu machen. Eins der Mädchen, Sue Phillips, das gar nichts sagte, war offenbar hinüber, und ihr Begleiter, ein Junge aus Baton Rouge, schüttete Wasser über sie aus einem Schuh, den er im Bad immer wieder nachfüllte. Sues rosa Organdykleid triefte vor Nässe.

Die Begrüßung durch die Jungen fiel etwas herzlicher aus; sie wandten sich jedoch sofort wieder der improvisierten Bar zu, einem Glasschränkchen, das man auf die Seite gekippt hatte. Jemand — sie war sich nicht sicher, wer — drückte ihr unbeholfen ein volles Glas in die Hand.

Es war auch nicht zu übersehen, daß im Nebenzimmer irgend etwas vorging. Die Tür war zwar geschlossen, aber eine Gruppe von Jungen drängte sich vor dem Schlüsselloch zusammen. Auch Lyle, der Marsha im Stich gelassen hatte, war dort. Sie schnappte einzelne Satzfetzen auf und die immer wiederkehrende Frage: »Wie war’s?« Die Antwort ging jedoch in einem wiehernden Gelächter unter.

Als sie schließlich aus einigen weiteren Bemerkungen erriet, was sich hinter der geschlossenen Tür abspielte, hatte sie nur noch den Wunsch, wegzugehen. Alles war besser als das hier, sogar die große Villa, in der sie sich entsetzlich einsam fühlte, denn wenn ihr Vater auf Reisen war, wurde sie nur von ihr und den Dienstboten bewohnt. Ihr Vater war aber schon seit sechs Wochen verreist und würde mindestens noch zwei weitere Wochen wegbleiben.

Beim Gedanken an ihren Vater fiel Marsha wieder ein, daß sie jetzt nicht hier wäre, wenn er sein Versprechen gehalten und rechtzeitig zu ihrem Geburtstag heimgekommen wäre. Dann wäre sie nicht zum Verbindungsball gegangen, sondern hätte zu Haus gefeiert, und Mark Preyscott hätte in seiner unbeschwerten, jovialen Art über eine Schar ausgewählter Freunde seiner Tochter präsidiert, Freunde, die gern auf den Alpha-Kappa-Epsilon-Ball verzichtet hätten, wenn er mit Marshas Einladung zusammenfiel. Aber er war nicht heimgekommen. Statt dessen hatte er sie reumütig wie immer angerufen, diesmal aus Rom. »Marsha, Liebling, ich hab’s versucht, wirklich, aber ich schaff’s nicht. Meine Geschäfte werden mich hier bestimmt noch zwei oder drei Wochen länger festhalten, aber ich mach’s wieder gut, wenn ich nach Hause komme, Liebling.« Er erkundigte sich vorsichtig, ob Marsha nicht Lust hätte, ihre Mutter und deren neuesten Ehemann in Los Angeles zu besuchen, und als sie schlankweg ablehnte, hatte ihr Vater gesagt: »Na, ich wünsche dir jedenfalls alles Gute und Liebe, und es ist auch schon ein kleines Geburtstagsgeschenk für dich unterwegs, das dir, glaub’ ich, gefallen wird.« Beim vertrauten Klang seiner Stimme hätte Marsha am liebsten geweint, ließ es aber bleiben, weil sie sich das Weinen schon vor Jahren abgewöhnt hatte. Es war auch zwecklos, darüber nachzudenken, warum der Eigentümer eines großen Warenhauses mit einem Stab hochbezahlter Geschäftsführer fester ans Geschäft gebunden sein sollte als ein Bürojunge. Vielleicht hielten ihn andere Dinge in Rom fest, über die er natürlich mit ihr nicht sprechen würde, so wie sie ihm niemals erzählen würde, was sich augenblicklich in der Nummer 1126 abspielte.

Als sie sich zum Weggehen entschloß, war sie ans Fenster getreten, um dort ihr Glas abzustellen, und nun kamen die Klänge von »Stardust« von unten zu ihr herauf. Wie bei jedem Fest war jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo die Musik auf die alten sentimentalen Schlager zurückgriff, besonders, wenn es sich bei der Band um Moxie Buchanan und seine All-Star Southern Gentlemen handelte, die fast bei allen feudalen Festivitäten des St. Gregory aufspielten. Sogar wenn sie vorhin nicht getanzt hätte, würde sie den Klang der Band sofort erkannt haben — der warme, weiche und doch kräftige Ton der Blasinstrumente war Moxie Buchanans Gütezeichen.

Sie lehnte unschlüssig am Fenster und fragte sich, ob sie in den Tanzsaal zurückkehren sollte, obwohl sie sich ungefähr denken konnte, was sie unten vorfinden würde: verschwitzte Jungen im Smoking, die nervös an ihren Hemdkragen zupften; einige Tölpel, die sich nach ihrer Alltagskluft sehnten; und Mädchen, die den Waschraum umlagerten und sich hinter der verschlossenen Tür kichernd ihre Geheimnisse anvertrauten; in Marshas Augen hatte das Ganze eine peinliche Ähnlichkeit mit einem Kinderfest, bei dem Buben und Mädchen sich verkleiden, um Scharade zu spielen. Jungsein war abscheulich langweilig, dachte Marsha oft, zumal, wenn man das Los mit so vielen Gleichaltrigen teilte. Manchmal — wie eben jetzt — sehnte sie sich nach einem etwas reiferen Gefährten.

Lyle Dumaire hatte sie enttäuscht. Er stand noch immer in der Gruppe vor der Verbindungstür, mit gerötetem Gesicht, zerknitterter Hemdbrust und schiefsitzender schwarzer Schleife. Marsha wunderte sich, daß sie ihn jemals ernst genommen hatte.

Auch andere schickten sich nun zum Gehen an, und das Zimmer leerte sich so schnell, daß es den Anschein eines Massenauszugs hatte. Einer der älteren Jungen, von dem sie wußte, daß er Stanley Dixon hieß, kam aus dem Nebenraum, machte die Tür bedächtig hinter sich zu, wies mit dem Kopf nach nebenan und gab eine Erklärung ab, von der Marsha nur einige Worte auffing: »… Mädchen wollen gehen … sagen, sie haben genug … haben Angst … zuviel Tumult …«

»… hab’ dir gleich gesagt, wir hätten nicht soviel Wirbel machen sollen«, meinte ein anderer.

»Warum nehmen nicht jemand von hier?« Lyle Dumaire hatte seine Stimme nicht mehr ganz unter Kontrolle.

»Tjah, aber wen?« Ihre Augen schweiften abschätzend durch den Raum. Marsha ignorierte ihre Blicke geflissentlich.

Ein paar Freunde von Sue Phillips bemühten sich um das betrunkene Mädchen und versuchten es aufzurichten, jedoch ohne Erfolg: »Marsha! Sue geht’s ziemlich schlecht. Kannst du ihr nicht helfen?«

Marsha, die auf dem Weg nach draußen war, blieb widerwillig stehen und betrachtete das Mädchen, das mit offenen Augen in einem Sessel lag, das kindliche Gesicht kreidebleich, mit schlaffem Mund und verschmiertem Lippenstift. Mit einem innerlichen Seufzer sagte sie: »Na schön, helft mir, sie ins Bad schaffen.« Als sie von drei Jungen hochgehoben wurde, fing Sue an zu weinen.

An der Badezimmertür schien einer der Jungen nicht abgeneigt, den beiden Mädchen zu folgen, aber Marsha machte ihm energisch die Tür vor der Nase zu und schob den Riegel vor. Sie wandte sich zu Sue Phillips um, die sich entsetzt im Spiegel betrachtete. Der Schock hat wenigstens das eine Gute, dachte Marsha erleichtert, daß er sie zur Vernunft bringt.

»Ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viele Sorgen machen«, bemerkte sie. »Angeblich passiert das jedem von uns mal, und du hast’s hinter dir.«

»O Gott! Meine Mutter bringt mich um, wenn sie mich so sieht«, stöhnte Sue und machte einen wilden Satz auf das Klosettbecken zu, um sich zu übergeben.

Marsha hockte sich auf den Rand der Badewanne. »Dir wird gleich viel wohler zumute sein. Wenn du fertig bist, wasch ich dir das Gesicht, und du machst dich ein bißchen zurecht.«

Den Kopf noch immer über das Becken gebeugt, nickte das Mädchen kläglich.

Als sie zehn oder fünfzehn Minuten später aus dem Bad kamen, waren alle Gäste fort bis auf Lyle Dumaire und seine Kumpane, die in einer Ecke die Köpfe zusammensteckten. An der Tür wartete Sues Begleiter, der Marsha um Hilfe gebeten hatte. Er lief auf sie zu und sagte hastig: »Wir haben vereinbart, daß eine von Sues Freundinnen sie zu sich nach Haus mitnimmt, und wahrscheinlich kann Sue auch bei ihr schlafen.« Als er das Mädchen am Arm faßte, ging sie folgsam mit. »Unten wartet ein Wagen auf uns. Vielen Dank, Marsha«, rief ihr der Junge über die Schulter hinweg zu, bevor er mit Sue im Korridor verschwand. Marsha sah ihnen erleichtert nach.

Sie war im Begriff, ihre Stola zu holen, die sie weggelegt hatte, bevor sie sich um Sue Phillips kümmerte, als sie hörte, wie die äußere Tür zugezogen wurde. Stanley Dixon stand davor und hatte die Hände hinter dem Rücken. Das Schloß klickte leise zu.

»He, Marsha«, sagte Lyle Dumaire. »Warum so eilig?«

Marsha kannte Lyle seit ihrer Kindheit, aber nun hatte alles ein ganz anderes Gesicht bekommen. Dies war ein Fremder mit den Allüren eines betrunkenen Rowdys. »Ich gehe nach Hause«, erwiderte sie.

»Ach was …« Er stolzierte großspurig auf sie zu. »Sei kein Spielverderber und trink noch was.«

»Nein, danke.«

Als hätte er nicht gehört, bohrte er weiter. »Du bist doch kein Spielverderber, Kleines, oder?«

»Es bleibt natürlich unter uns«, sagte Stanley Dixon. Er hatte eine dumpfe nasale Stimme mit einem tückischen Unterton. »Ein paar von uns haben schon ihren Spaß gehabt. Und das hat uns Appetit gemacht.« Die zwei anderen, deren Namen sie nicht kannte, grinsten.

»Euer Spaß interessiert mich nicht«, antwortete sie scharf, war sich aber bewußt, daß dicht unter der Oberfläche die Angst lauerte. Sie ging auf die Tür zu, aber Dixon schüttelte den Kopf. »Bitte, bitte, laßt mich gehen.«

»Hör zu, Marsha«, kollerte Lyle, »wir wissen, daß du scharf drauf bist.« Er kicherte dreckig. »Alle Mädchen sind scharf drauf. Wenn sie nein sagen, meinen sie’s gar nicht so. In Wirklichkeit wollen sie sagen: ‘Kommt und holt’s euch.«’ Er wandte sich an die anderen. »Stimmt’s Kumpel?«

Der dritte Junge sang leise vor sich hin: »That’s the way it is. You gotta get in there and get it.«

Alle vier kamen auf sie zu.

Sie wirbelte herum. »Ich warne euch: wenn ihr mich anfaßt, schrei’ ich.«

»Das wär’ ein Jammer«, murmelte Stanley Dixon. »Du könntest den ganzen Spaß verpassen.« Plötzlich, ohne daß er sich zu bewegen schien, war er hinter ihr, preßte ihr eine große verschwitzte Hand auf den Mund und drückte ihr mit der anderen die Arme gegen den Körper. Sein Kopf lag dicht an ihrem, sein Atem roch Übelkeit erregend nach Whisky.

Sie wehrte sich heftig und versuchte ihn in die Hand zu beißen, aber ohne Erfolg.

»Sei vernünftig, Marsha«, sagte Dyle und verzog sein Gesicht zu einem süßlichen Grinsen. »Du kriegst’s auf jeden Fall verpaßt, also solltest du ebensogut deinen Spaß dran haben wie wir. Wenn Stan dich losläßt, versprichst du dann, keinen Lärm zu schlagen?«

Sie schüttelte wild den Kopf.

Einer von den Jungen packte ihren Arm. »Los, komm schon, Marsha. Lyle sagte, du bist kein Spielverderber. Warum beweist du’s uns dann nicht?«

Nun kämpfte sie verzweifelt, aber es war vergebens. Lyle ergriff ihren anderen Arm, und mit vereinter Kraft zerrten sie das Mädchen auf das Schlafzimmer zu.

»Verdammt!« knurrte Dixon. »Einer von euch muß sie an den Beinen nehmen.« Der vierte Junge griff nach ihren Füßen und hob sie hoch. Sie versuchte nach ihm zu treten, erreichte damit aber nur, daß ihre Pumps zu Boden plumpsten. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit spürte Marsha, wie sie durch die Tür geschleppt wurde.

»Ich frag’ dich zum letzten Male«, sagte Lyle drohend. Die Tünche guter Laune war inzwischen abgeblättert. »Machst du freiwillig mit oder nicht?«

Marshas einzige Antwort bestand in einem wütenden Aufbäumen.

»Zieht sie aus«, sagte jemand, und eine andere Stimme — die des Jungen, der sie an den Beinen hielt — murmelte unschlüssig: »Sollten wir’s nicht lieber sein lassen?«

»Keine Bange.« Das war Lyle Dumaire. »Uns passiert schon nichts. Ihr alter Herr hurt in Rom herum.«

In dem Raum standen Doppelbetten. Trotz heftiger Gegenwehr wurde Marsha auf das zunächststehende Bett gedrückt. Einen Moment später lag sie quer darauf, und unerbittliche Hände bogen ihren Kopf brutal zurück, bis sie nur noch die Zimmerdecke sehen konnte, deren einstmals weißer Anstrich grau geworden und in der Mitte, über der Lampe, mit einem Stuckornament verziert war. Im Lampenschirm hatte sich Staub angesammelt, und daneben befand sich ein gelber Wasserfleck.

Mit einem Male ging die Deckenbeleuchtung aus, aber der Raum wurde noch immer schwach erhellt vom Schein einer anderen Lampe, die man angelassen hatte. Dixon hatte seinen Griff geändert. Er hockte auf der Bettkante, neben ihrem Kopf, aber die eiserne Klammer um ihren Körper und über ihrem Mund hielt so fest wie zuvor. Sie spürte andere Hände auf ihrem Leib, und Hysterie erfaßte sie. Sie krümmte sich und versuchte zu treten, konnte aber die Beine nicht bewegen. Sie versuchte sich auf den Bauch zu rollen und hörte, wie ihr Balenciagakleid zerriß.

»Ich bin der erste«, sagte Stanley Dixon. Er atmete schwer. »Einer von euch muß rüberkommen und mich hier ablösen.«

Schritte kamen leise auf dem Läufer um das Bett herum. Ihre Beine wurden noch immer fest heruntergedrückt, aber Dixons Hand auf ihrem Gesicht bewegte sich, und eine andere schob sich an ihre Stelle. Das war eine günstige Gelegenheit. Als die neue Hand sich über ihren Mund legte, biß Marsha mit aller Kraft zu. Ihre Zähne gruben sich in Fleisch und stießen auf den Knochen.

Ein Schmerzensschrei gellte, und die Hand verschwand.

Marsha holte tief Luft und kreischte. Sie kreischte dreimal und schloß mit dem verzweifelten Ruf: »Hilfe! Bitte, zu Hilfe!«

Erst beim letzten Wort schlug ihr Stanley mit der Hand so derb auf den Mund, daß ihr fast die Sinne schwanden. »Du Blödian!« hörte sie ihn knurren. »Du verdammter Idiot!«

»Aber sie hat mich gebissen!« Der Junge wimmerte vor Schmerz. »Die Schlampe hat mich in die Hand gebissen!«

Dixon sagte wütend: »Was hast du erwartet? Daß sie dir die Hand küßt? Jetzt kriegen wir das ganze gottverdammte Hotel auf den Hals!«

»Los, hauen wir ab!« drängte Lyle Dumaire.

»Haltet den Rand!« kommandierte Dixon. Die vier Jungen lauschten stumm.

»Es rührt sich nichts«, flüsterte Dixon. »Ich schätze, keiner hat was gehört!«

Nun war alles aus, dachte Marsha trostlos. Tränen trübten ihr die Sicht. Alle ihre Kraft verließ sie. Sie war nicht mehr imstande, weiterzukämpfen.

Jemand klopfte an die äußere Tür. Drei energische kurze Schläge.

»Verdammt!« flüsterte einer von den Jungen. »Man hat uns doch gehört.« Er fügte mit einem Ächzen hinzu: »O Gott — meine Hand!«

»Was machen wir jetzt?« fragte ein anderer nervös.

Das Klopfen wurde wiederholt, diesmal noch energischer.

Nach einer Pause rief eine Stimme von draußen: »Öffnen Sie bitte die Tür. Ich habe jemanden um Hilfe rufen hören.« Der Mann sprach mit einem weichen südlichen Akzent.

Lyle Dumaire wisperte: »Es ist nur einer, und er ist allein. Vielleicht können wir ihn abwimmeln.«

»Gute Idee! Ich gehe«, flüsterte Dixon. Er fügte leise hinzu: »Haltet sie ja fest. Sie darf keinen Mucks von sich geben.«

Eine andere Hand legte sich über Marshas Mund, und ein anderer Arm umklammerte ihren Leib.

Ein Schloß klickte; eine Tür öffnete sich quietschend. »Oh!« sagte Stanley Dixon, als wäre er überrascht.

»Verzeihen Sie, Sir. Ich bin ein Angestellter des Hotels.«

Das war die Stimme, die sie einen Moment früher gehört hatten. »Ich kam zufällig vorbei und hörte jemanden schreien.«

»Kamen zufällig vorbei, eh?« wiederholte Dixon in seltsam feindseligem Ton. Dann, als hielte er es für besser, die Form zu wahren, fügte er freundlicher hinzu: »Na, jedenfalls vielen Dank. Das war bloß meine Frau. Sie hat sich vor mir schlafen gelegt und hat schlecht geträumt. Aber sie ist wieder ganz in Ordnung.«

»Nun …« Der andere schien zu zögern. »Wenn Sie sicher sind, daß es sonst nichts war.«

»Natürlich. Hat gar nichts zu bedeuten. Es ist nur eins von den Dingen, die dann und wann mal passieren.« Er wirkte überzeugend und war Herr der Lage. Marsha wußte, daß sich die Tür gleich wieder schließen würde.

Seit sie sich entspannt hatte, war ihr aufgefallen, daß sich auch der Druck auf ihrem Gesicht vermindert hatte. Nun raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen, bog sich seitwärts und bekam ihren Mund einen Moment lang frei. »Hilfe!« rief sie. »Glauben Sie ihm nicht! Bitte, helfen Sie mir!« wieder wurde sie brutal am Weitersprechen gehindert.

Draußen entspann sich ein scharfer Wortwechsel. »Lassen Sie mich hinein«, sagte der Unbekannte.

»Das ist ein privater Raum. Ich sagte Ihnen doch schon, daß meine Frau unter Alpdrücken leidet.«

»Tut mir leid, Sir, aber ich glaube Ihnen nicht.«

»Na schön, kommen Sie rein.«

Als wollten sie kein Zeugnis gegen sich selbst ablegen, zogen sich die Hände von Marshas Körper zurück. Sobald sie frei war, rollte sie herum, richtete sich halb auf und blickte zur Tür. Ein junger Neger kam herein. Er schien Anfang der Zwanzig, hatte ein intelligentes Gesicht, war anständig angezogen und trug das kurze Haar gescheitelt und glatt gebürstet.

Er durchschaute die Situation sofort und sagte streng: »Lassen Sie die junge Dame gehen.«

»Seht euch das an, Jungs«, sagte Dixon. »Seht bloß mal, wer uns hier Befehle geben will.«

Marsha nahm undeutlich wahr, daß die Tür zum Korridor noch immer leicht offenstand.

»Okay, Nigger«, schnarrte Dixon, »du hast’s so gewollt.« Seine rechte Faust schnellte fachgerecht nach vorn; er übertrug die ganze Kraft seiner breiten massigen Schultern in den Schlag, der den jungen Neger gefällt hätte, wenn er sein Ziel getroffen hätte. Aber der wich geschickt aus, der ausgestreckte Arm sauste an seinem Kopf vorbei, und Dixon stolperte nach vorn. Im gleichen Moment fuhr die linke Faust des Negers hoch und landete mit einem harten scharfen Knallen im Gesicht des Gegners.

Irgendwo weiter unten im Korridor öffnete und schloß sich eine Tür.

Eine Hand auf die Wange gepreßt, sagte Dixon: »Du gottverdammter Schuft!« Dann wandte er sich zu seinen Gefährten um. »Los, gebt’s ihm!«

Nur der Junge mit der verletzten Hand hielt sich heraus. Die drei anderen fielen, wie von einem einzigen Impuls angetrieben, gemeinschaftlich über den jungen Neger her, und er ging unter dem Massenangriff zu Boden. Marsha vernahm das dumpfe Klatschen von Schlägen und außerdem — auf dem Korridor — ein immer lauter werdendes Stimmengewirr.

Auch die vier Jungen wurden von dem Stimmenlärm alarmiert. »Das ganze Hotel ist auf den Beinen«, warnte Lyle Dumaire. »Ich hab’ euch gleich gesagt, wir sollten von hier verschwinden.«

Sie rasten auf die Tür zu, an der Spitze der Junge, der sich an der Rauferei nicht beteiligt hatte, die drei anderen in wilder Flucht dicht hinter ihm. Marsha hörte, wie Stanley Dixon irgend jemandem erklärte: »Es gab ein kleines Mißverständnis. Wir holen Hilfe.«

Der junge Neger erhob sich mit blutigem Gesicht vom Boden.

Eine neue gebieterische Stimme übertönte den Tumult im Korridor. »Wo war die Störung, bitte?«

»Wir haben Schreie und danach eine Rauferei gehört«, antwortete eine Frau erregt. »Dort drin!«

»Ich hatte mich schon vorher beschwert«, knurrte ein Mann erbost, »aber niemand hat sich darum gekümmert.«

Die Tür wurde aufgestoßen. Marsha erhaschte einen Schimmer neugierig spähender Gesichter und einer imponierenden, athletischen Gestalt. Dann wurde die Tür von innen geschlossen und die Deckenbeleuchtung angeknipst.

Peter McDermott betrachtete den unordentlichen Raum. »Was ist hier vorgefallen?«

Marsha lag zusammengekrümmt da, von Schluchzen geschüttelt. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber kraftlos gegen das Kopfende des Bettes und raffte die Fetzen ihres Kleides über der Brust zusammen. Schluchzend stammelte sie: »Sie wollten … mich … vergewaltigen …«

McDermotts Miene verhärtete sich. Sein Blick heftete sich auf den jungen Neger, der an der Wand lehnte und sich mit dem Taschentuch das Blut vom Gesicht wischte.

»Royce!« Kalte Wut funkelte in McDermotts Augen.

»Nein! Nein!« rief Marsha flehend. »Er war’s nicht! Er kam mir zu Hilfe!« Sie machte die Augen zu; ihr wurde übel beim Gedanken an weitere Gewalttaten.

Der junge Neger richtete sich auf. Er steckte das Taschentuch weg und sagte spöttisch: »Nur zu, Mr. McDermott, warum schlagen Sie mich nicht? Sie brauchten sich danach bloß auf einen Irrtum herausreden.«

»Ein Irrtum reicht mir. Ich habe Sie zu Unrecht verdächtigt und möchte mich deswegen bei Ihnen entschuldigen«, erwiderte Peter kurz. Er empfand eine tiefe Abneigung gegen Aloysius Royce, der die Rolle eines Kammerdieners bei dem Hotelbesitzer Warren Trent mit dem Studium der Jurisprudenz an der Loyola-Universität verband. Vor Jahrzehnten war sein Vater, der Sohn eines Sklaven, Warren Trents Leibdiener, Gefährte und Vertrauter geworden. Als der alte Mann ein Vierteljahrhundert später starb, rückte sein Sohn Aloysius, der im St. Gregory geboren und aufgewachsen war, an seine Stelle; er wohnte in der Privatsuite des Hoteleigentümers und durfte, auf Grund einer losen Übereinkunft, kommen und gehen, wie es ihm beliebte und seine Studien es erforderten. Aber Peter McDermott fand, daß Royce unnötig arrogant und herablassend auftrat und jede freundschaftliche Geste mit einer Mischung von Argwohn und aggressiver Feindseligkeit aufzunehmen schien.

»Erzählen Sie mir, was Sie wissen«, sagte Peter.

»Es waren vier — vier feine weiße junge Gentlemen.«

»Haben Sie den einen oder anderen von ihnen erkannt?« Royce nickte. »Zwei.«

»Das dürfte genügen.« Peter griff nach dem Telefon.

»Wen wollen Sie anrufen?«

»Die Polizei. Ich fürchte, wir müssen sie hinzuziehen.«

Der junge Neger lächelte schwach. »Falls ich Ihnen einen Rat geben darf, ich würde es nicht tun.«

»Warum nicht?«

»Erstens mal«, sagte Aloysius gedehnt und beim Sprechen seinen lokalen Akzent absichtlich stark betonend, »würde ich als Zeuge auftreten müssen. Und es gibt kein Gericht in unserem souveränen Staat Louisiana, das der Aussage eines Negers in einem Fall versuchter Notzucht unter Weißen Glauben schenkt. Nein, Sir, und schon gar nicht, wenn vier aufrechte junge weiße Gentlemen behaupten, daß der Nigger lügt. Auch wenn Miss Preyscott die Aussage des Negers bestätigt, würde das Gericht sie ihm nicht abnehmen. Und ich bezweifle stark, ob ihr Daddy ihr das erlauben würde, wenn man bedenkt, welch ein Aufhebens die Zeitungen davon machen würden.«

Peter legte den Hörer wieder auf. »Manchmal scheinen Sie’s förmlich darauf anzulegen, die Dinge unnötig zu komplizieren«, sagte er. Aber er wußte, daß Royce recht hatte. Seine Augen schweiften zu Marsha hinüber. »Sagten Sie ›Miss Preyscott‹?«

Royce nickte. »Ihr Vater ist Mr. Mark Preyscott. Der Preyscott. Stimmt’s, Miss?« Marsha nickte unglücklich.

»Miss Preyscott«, sagte Peter, »kennen Sie die jungen Leute, die für den Zwischenfall verantwortlich sind?«

Die Antwort war ein kaum vernehmbares: »Ja.«

Der junge Neger erklärte: »Sie gehören alle zum Alpha Kappa Epsilon, glaube ich.«

»Ist das wahr, Miss Preyscott?«

Sie nickte bejahend.

»Und sind Sie mit ihnen zusammen hierhergekommen — in diese Suite?«

»Ja«, flüsterte sie.

Peter musterte Marsha forschend. Nach einer Weile sagte er: »Es liegt bei Ihnen, Miss Preyscott, ob Sie Anzeige erstatten wollen oder nicht. Wozu immer Sie sich auch entscheiden, das Hotel wird Sie dabei unterstützen. Aber ich fürchte, Royce hatte mit dem, was er sagte, nicht so unrecht. Die Affäre würde zweifellos ziemlich viel Staub aufwirbeln.« Er fügte hinzu: »Den Ausschlag gibt natürlich Ihr Vater. Finden Sie nicht, daß ich ihn anrufen und herbitten sollte?«

Marsha hob den Kopf und sah Peter zum erstenmal offen an. »Mein Vater ist in Rom. Er darf nichts davon erfahren — niemals! Sagen Sie ihm bitte nichts.«

»Ich bin sicher, daß man privat etwas unternehmen kann. Meiner Meinung nach haben die Schuldigen einen Denkzettel verdient.« Peter ging um das Bett herum und war bestürzt, als er sah, wie kindlich sie noch war und wie wunderschön. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Nein … ja, ich weiß nicht.« Sie fing wieder an zu weinen, aber weniger heftig.

Zögernd holte Peter ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Marsha wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. »Besser?«

Sie nickte. »Danke.« Sie war eine Beute verschiedenartigster Gefühle: Scham, Demütigung, Zorn. Sie hatte das Verlangen, sich zu rächen, was immer auch die Folgen sein mochten, und sehnte sich danach, von liebevollen, schützenden Armen umschlungen zu werden, ein Wunsch, der sich, wie sie aus Erfahrung wußte, nicht erfüllen würde. Aber stärker als alle Gefühle war ihre körperliche Ermattung.

»Ich glaube, Sie sollten sich ein bißchen ausruhen.« Peter McDermott schlug die Decke des unberührten Bettes zurück, und Marsha schlüpfte darunter. Die Leinentücher waren angenehm kühl.

»Ich möchte nicht hier bleiben«, sagte sie. »Ich halte es hier nicht aus.«

Er nickte verständnisvoll. »Wir bringen Sie bald nach Haus.«

»Nein! Bitte nicht! Könnte ich nicht woanders … hier im Hotel —«

»Tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Das Hotel ist voll.«

Aloysius Royce war ins Bad gegangen, um sich die Blutspuren vom Gesicht zu waschen. Nun kam er zurück und blieb in der Verbindungstür stehen. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er das Durcheinander im Salon genauer in Augenschein nahm, die überquellenden Aschenbecher, verschobenen und umgekippten Sessel, verschütteten Flaschen und zerbrochenen Gläser.

Als McDermott zu ihm trat, meinte er: »Die Party hatte es in sich, schätz’ ich.«

»Tjah, scheint so.« Peter machte die Tür zwischen Salon und Schlafzimmer zu.

»Aber es muß doch noch irgendeine Schlafgelegenheit im Hotel geben«, bettelte Marsha. »Ich kann jetzt einfach nicht nach Hause gehen.«

Peter blickte Royce unschlüssig an. »Da wäre noch die Nummer 555.«

Zimmer 555 war ein kleiner Raum, der dem stellvertretenden Direktor zur Verfügung stand. Peter benutzte ihn selten, außer zum Umkleiden. Im Moment war er frei.

»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Marsha. »Nur müßte jemand bei mir zu Hause anrufen und Bescheid sagen. Verlangen Sie Anna, unsere Haushälterin.«

»Wenn Sie wollen, hole ich den Schlüssel«, bemerkte Royce.

»Ja, danke. Und bringen Sie auf dem Rückweg meinen Morgenrock mit. Wir sollten wohl ein Zimmermädchen rufen.«

»Wenn Sie jetzt hier ein Mädchen reinlassen, weiß es morgen die ganze Stadt.«

Peter überlegte. In diesem Stadium war der Klatsch nicht mehr aufzuhalten. Bei derartigen Zwischenfällen sickerte stets etwas durch, und Gerüchte verbreiteten sich über die Hintertreppe so schnell wie mit einem Dschungeltelegrafen. Und es war vermutlich nicht unbedingt nötig, den Schwätzern noch mehr Stoff zu liefern.

»Gut. Dann bringen wir beide Miss Preyscott im Personalaufzug hinunter.«

Als der junge Neger die Tür zum Korridor öffnete, wurde er von einem vielstimmigen Wortschwall empfangen und mit neugierigen Fragen überschüttet. Peter hatte die im Korridor versammelten Gäste zeitweilig vergessen. Er hörte Royces beschwichtigende Antworten, und dann wurde es allmählich still.

Mit geschlossenen Augen murmelte Marsha: »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer Sie sind.«

»Verzeihung, das hätte ich Ihnen natürlich gleich sagen müssen.« Er nannte seinen Namen und erklärte ihr seine Stellung im Hotel. Marsha lauschte, ohne zu antworten; wichtiger als die Worte war ihr der ruhige tröstliche Klang seiner Stimme, von dem sie sich sanft einlullen ließ. Nach einer Weile begannen ihre Gedanken schlaftrunken zu wandern. Undeutlich nahm sie war, daß Aloysius Royce zurückgekehrt war, daß man ihr aus dem Bett half, sie in einen Morgenmantel hüllte und schnell und leise einen menschenleeren Korridor entlangführte. Dann kam ein Lift, wieder ein Korridor und ein Bett, auf das man sie legte. Die tröstliche Stimme sagte: »Sie ist völlig erschöpft.«

Das Geräusch fließenden Wassers. Eine Stimme, die ihr sagte, ein Bad wäre eingelassen. Sie raffte sich so weit auf, um in das Badezimmer zu tapsen, wo sie sich einschloß.

Auf einem Hocker lag ein Pyjama sorgsam ausgebreitet, und Marsha zog ihn an. Er war von einem Mann, dunkelblau und viel zu groß. Die Ärmel rutschten ihr über die Hände, und auch als sie die Hosenbeine umschlug, brachte sie es kaum fertig, nicht über sie zu stolpern.

Sie kehrte ins Zimmer zurück, wo behutsame Hände ihr ins Bett halfen. Als sie sich unter das kühle frische Laken kuschelte, hörte sie wieder Peter McDermotts ruhige tröstliche Stimme. Es war eine Stimme, die sie mochte, dachte Marsha — auch der Besitzer der Stimme gefiel ihr. »Royce und ich gehen jetzt, Miss Preyscott. Die Zimmertür hat ein Schnappschloß, und der Schlüssel liegt neben Ihrem Bett. Niemand wird Sie stören.«

»Danke.« Sie fragte verschlafen: »Wem gehört der Pyjama?«

»Mir. Tut mir leid, daß er so groß ist.«

Sie versuchte den Kopf zu schütteln, war aber zu müde dazu. »Macht nichts … er gefällt mir …« Sie war froh darüber, daß der Pyjama ihm gehörte. Er war wie eine sanfte beschwichtigende Umarmung.

»Gefällt mir«, wiederholte sie leise. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief.

8

Peter wartete allein in der fünften Etage auf den Lift. Aloysius Royce war mit dem Personalaufzug zum fünfzehnten Stockwerk hinaufgefahren, wo er neben der Privatsuite des Hotelbesitzers ein eigenes Zimmer hatte.

Es war ein ereignisreicher Abend gewesen, dachte Peter, mit einem gerüttelten Maß an Unannehmlichkeiten, obwohl das bei einem großen Hotel nichts Ungewöhnliches war. Das Leben bot sich hier oft in dramatischer Zuspitzung dar, und Hotelangestellte gewöhnten sich mit der Zeit an das Schauspiel.

Als der Lift vor ihm hielt, sagte er zu dem Fahrstuhlführer: »Halle, bitte.« Dabei fiel ihm ein, daß Christine im Zwischengeschoß auf ihn wartete. Aber sein Geschäft im Erdgeschoß würde ihn nur wenige Minuten aufhalten.

Er nahm ungeduldig zur Kenntnis, daß der Fahrstuhl, obwohl die Türen sich geschlossen hatten, sich nicht sogleich in Bewegung setzte. Der Fahrstuhlführer riß den Kontrollhebel vor und zurück. »Sind Sie sicher, daß die Türen richtig zu sind?« erkundigte sich Peter.

»Ja, Sir. Das ist es nicht. Meiner Meinung nach liegt’s an den Anschlußkabeln hier oder oben unterm Dach.« Der Mann wies mit dem Kopf nach oben und fügte hinzu: »Wir hatten in letzter Zeit andauernd Ärger mit dem Ding. Der Chef hat neulich erst wieder gründlich nachgesehen.« Er zerrte kräftig am Hebel. Mit einem Ruck schnappte der Mechanismus ein, und die Kabine sank nach unten.

»Welcher Fahrstuhl ist das hier?«

»Die Nummer vier.«

Peter nahm sich vor, den Chefingenieur zu fragen, was es mit dem Defekt auf sich hatte.

Nach der Uhr in der Halle war es fast halb eins, als er aus dem Lift trat. Wie immer um diese Zeit hatte sich der Betrieb in der Halle und den Nebenräumen etwas gelegt, aber eine beträchtliche Anzahl von Gästen war noch auf den Beinen, und Musik aus dem nahe gelegenen Indigo-Raum zeigte an, daß dort getanzt wurde. Peter bog nach rechts und steuerte auf den Empfang zu, erblickte jedoch nach einigen Schritten eine fette Gestalt, die auf ihn zu watschelte. Es war der Chefdetektiv Ogilvie, den er vorher vergebens gesucht hatte. Der Ex-Polizist — vor Jahren hatte Ogilvie, ohne sich nennenswert hervorzutun, bei der Polizei von New Orleans gedient — trug eine gewollt ausdruckslose Miene zur Schau, obwohl seine kleinen Schweinsäuglein über den schweren Hängebacken andauernd in Bewegung waren und nichts übersahen. Er roch wie immer nach schalem Zigarrenrauch, und in seiner Brusttasche steckte eine Reihe Zigarren.

»Ich hab’ gehört, Sie hätten mich gesucht«, sagte Ogilvie sachlich und unbekümmert.

Peter verspürte wieder etwas von seinem vorigen Ärger. »Allerdings. Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?«

»Hab’ nur meine Pflicht getan, Mr. McDermott.« Für einen so umfangreichen Mann hatte Ogilvie eine überraschend hohe Stimme. »Falls Sie’s wissen wollen, ich war drüben im Präsidium, um einen Diebstahl zu melden. Hier wurde heute aus dem Gepäckraum ein Koffer gestohlen.«

»Polizeipräsidium! In welchem Zimmer war die Pokerpartie?«

Die Schweinsäuglein funkelten gehässig. »Wenn Sie’s so auffassen, können Sie ja ein paar Erkundigungen einziehen. Oder mit Mr. Trent sprechen.«

Peter nickte resigniert. Er wußte, daß es reine Zeitverschwendung wäre. Das Alibi war zweifellos gut untermauert, und Ogilvies Freunde im Präsidium würden ihn decken. Außerdem würde Warren Trent Ogilvie, der ebenso lange zum St. Gregory gehörte wie der Hotelbesitzer selbst, niemals zur Rechenschaft ziehen. Es gab Leute, die behaupteten, daß Ogilvie ein oder zwei dunkle Geheimnisse kannte und Warren Trent in der Hand hatte. Was auch immer der Grund sein mochte, Ogilvies Position war unangreifbar.

»Nun, Sie haben zufällig ein paar unangenehme Zwischenfälle verpaßt. Aber sie haben sich inzwischen erledigt.« Vielleicht war es am Ende ganz gut, daß Ogilvie nicht erreichbar gewesen war, dachte Peter. Die Affäre Albert Wells hätte er zweifellos nicht so mustergültig gelöst wie Christine, noch hätte er die Affäre Marsha Preyscott mit so viel Takt und Sympathie gehandhabt. Er beschloß, Ogilvie vorläufig zu vergessen, nickte kurz und begab sich zum Empfang.

Der Angestellte, mit dem er vorhin telefoniert hatte, stand hinter dem Empfangstisch. Peter entschied sich für eine versöhnliche Annäherungsmethode. Er sagte freundlich: »Schönen Dank für Ihre Hilfe vorhin. Wir haben Mr. Wells in der 1410 sehr gut untergebracht. Dr. Aarons kümmert sich um ihn und hat auch für eine Pflegerin gesorgt. Der Chefingenieur hat den Sauerstoff geliefert.«

Die gefrorene Miene des Mannes taute auf. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so schlimm um ihn steht.«

»Eine Weile stand’s auf Messers Schneide, glaube ich. Deshalb möchte ich unbedingt herausbekommen, warum er umquartiert wurde.«

Der Empfangschef nickte weise. »Unter diesen Umständen werde ich natürlich Nachforschungen anstellen, Sir.«

»In der elften Etage gab’s auch Ärger. Würden Sie mir bitte sagen, auf welchen Namen Nummer 1126-7 eingetragen ist?«

Der Angestellte ging seine Kartei durch und zog eine Karte heraus. »Mr. Stanley Dixon.«

»Dixon.« Das war einer von zwei Namen, die Aloysius Royce genannt hatte, nachdem sie Marsha Preyscott in der Nummer 555 untergebracht hatten.

»Er ist der Sohn des Autohändlers. Mr. Dixon senior kommt oft ins Hotel.«

»Danke.« Peter nickte. »Buchen Sie’s lieber als Abmeldung und veranlassen Sie den Kassierer, die Rechnung mit der Post zu verschicken.« Ihm kam eine Idee. »Nein, schicken Sie mir die Rechnung morgen herauf, und ich schreibe einen Brief dazu. Die Schadenersatzforderung werden wir nachsenden, sobald die Kosten berechnet sind.«

»Sehr wohl, Mr. McDermott.« Die Veränderung in der Haltung des Angestellten war verblüffend. »Ich werde es dem Kassierer ausrichten. Die Suite ist also wieder frei?«

»Ja.« Peter hielt es für überflüssig, Marshas Anwesenheit in der Nummer 555 auszuposaunen. Vielleicht konnte sie am nächsten Morgen unbemerkt verschwinden. Dabei fiel ihm ein, daß er ihr versprochen hatte, in der Villa Preyscott anzurufen. Nach einem freundlichen »Gute Nacht« ging er quer durch die Halle auf einen Schreibtisch zu, an dem tagsüber einer der stellvertretenden Manager saß. Er entdeckte eine Eintragung mit dem Namen Mark Preyscott und einer Adresse im Parkdistrikt und bat um die Telefonnummer. Am anderen Ende der Leitung läutete es eine Weile, bevor sich eine verschlafene weibliche Stimme meldete. Er nannte seinen Namen und sagte: »Ich habe eine Nachricht von Miss Preyscott für Anna.«

Die Stimme, die unverkennbar tiefster Süden war, erwiderte: »Ich bin Anna. Wie geht’s Miss Marsha?«

»Es geht ihr gut, aber ich soll Ihnen ausrichten, daß sie die Nacht über im Hotel bleibt.«

»Wer, sagten Sie, spricht dort?«

Peter erklärte es ihr geduldig und fügte hinzu: »Passen Sie auf, falls Sie sich vergewissern wollen, brauchen Sie bloß zurückzurufen. Es ist das St. Gregory. Und lassen Sie sich mit dem stellvertretenden Manager verbinden.«

Die Frau antwortete spürbar erleichtert: »Ja Sir, das werde ich tun.« Knapp eine Minute später waren sie wieder verbunden. »In Ordnung, Sir«, sagte sie. »Jetzt weiß ich, daß alles seine Richtigkeit hat. Wenn ihr Daddy nicht da ist, sorgen wir uns immer ein bißchen um Miss Marsha.«

Peter ertappte sich dabei, daß er wieder über Marsha Preyscott nachdachte. Er nahm sich vor, gleich morgen früh mit ihr zu sprechen, um herauszufinden, was sich vor dem Vergewaltigungsversuch in der Suite abgespielt hatte. Das wüste Durcheinander in den Räumen, beispielsweise, warf einige noch ungeklärte Fragen auf.

Er bemerkte, daß Herbie Chandler ihn von seinem Stehpult aus verstohlen beobachtete. Er ging hinüber und sagte barsch: »Wenn mich nicht alles täuscht, gab ich Ihnen den Auftrag, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen.«

Chandler machte eine Unschuldsmiene. »Aber ich war ja oben, Mr. Mac. Ich hab’ gehorcht und mich umgesehen und nichts Verdächtiges bemerkt.«

Und genauso war es auch gewesen, dachte Herbie. Er hatte sich schließlich sehr unlustig und nervös in die elfte Etage begeben und mit großer Erleichterung festgestellt, daß jeglicher Lärm inzwischen verstummt war. Außerdem erfuhr er, als er in die Halle zurückkehrte, daß die beiden Callgirls das Hotel unentdeckt verlassen hatten.

»Sie können sich nicht sehr gründlich umgesehen haben.«

Herbie Chandler schüttelte eigensinnig den Kopf. »Alles, was ich sagen kann, ist, ich hab’ getan, was Sie von mir verlangten, Mr. Mac. Sie haben gesagt, ich soll raufgehen, und ich bin raufgegangen, obwohl das gar nicht zu unserem Job gehört.«

»Na schön.« Obwohl er instinktiv spürte, daß der Chefportier mehr von der Sache wußte, als er zugeben wollte, beschloß Peter, das Thema nicht weiter zu verfolgen. »Ich werde einige Erkundigungen einziehen und mich vielleicht später noch mal mit Ihnen unterhalten.«

Während er die Halle wieder durchquerte und einen Lift betrat, fühlte er im Rücken die beobachtenden Blicke von Herbie Chandler und dem Hausdetektiv Ogilvie. Diesmal fuhr er nur eine Etage höher bis zum Zwischengeschoß.

Christine wartete in seinem Büro. Sie hatte die Schuhe abgestreift und kuschelte mit hochgezogenen Beinen in dem Sessel, auf dem sie schon anderthalb Stunden früher gesessen hatte. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gedanken irgendwo in weiter Ferne. Sie rief sie zurück und blickte auf, als Peter hereinkam.

»Heiraten Sie bloß keinen Hotelmenschen«, sagte er. »Bei uns reißt die Arbeit nicht ab.«

»Schönen Dank für die Warnung. Sie kommt gerade zur rechten Zeit. Ich hab’ nämlich eine Schwäche für den neuen Vize, für den, der wie Rock Hudson aussieht.« Sie streckte die Beine aus und angelte an ihren Schuhen. »Gab’s noch mehr Ärger?«

Er fand Christines Anblick und Worte unendlich wohltuend. »Anderer Leute Ärger in der Hauptsache«, antwortete er mit einem Grinsen. »Ich erzähl’s Ihnen unterwegs.«

»Und wohin gehen wir?«

»Weg aus dem Hotel — irgendwohin. Für heute haben wir beide genug.«

Christine überlegte. »Wir könnten ins Französische Viertel gehen. Dort sind noch eine Menge Lokale offen. Oder kommen Sie mit zu mir — meine Omeletts sind berühmt.«

Peter half ihr hoch, hielt ihr die Tür offen und knipste das Licht aus. »Ein Omelett ist genau das, worauf ich die ganze Zeit Lust hatte, ich wußte es bloß nicht.«

9

Pfützen ausweichend, die der Regen zurückgelassen hatte, gingen sie zu einem anderthalb Blocks vom Hotel entfernten Parkhochhaus. Hoch über ihnen begann sich der Himmel nach dem kurzen, stürmischen Zwischenspiel wieder aufzuklären, der Mond kam zum Vorschein, und das Stadtzentrum um sie herum begab sich zur Ruhe. Die nächtliche Stille wurde nur dann und wann von einem vorbeiflitzenden Taxi unterbrochen, und das scharfe Stakkato ihrer Schritte hallte durch die menschenleere Straße mit ihren hohen dunklen Häuserfluchten.

Ein schläfriger Parkwächter brachte Christines Volkswagen herunter, und sie stiegen ein; Peter klappte sich auf dem rechten Vordersitz wie ein Taschenmesser zusammen. »Das ist das wahre Leben! Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich ein bißchen breit mache?« Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne des Fahrersitzes dicht über Christines Schultern.

Während sie in der Canal Street vor einer Ampel warteten, glitt einer der neuen mit Klimaanlage ausgestatteten Busse auf der mittleren Fahrbahn vor sie.

»Sie wollten mir doch erzählen, was passiert ist«, sagte sie.

Er runzelte die Stirn, wandte seine Gedanken wieder dem Hotel zu und berichtete kurz, was er über den Vergewaltigungsversuch an Marsha Preyscott wußte. Christine hörte schweigend zu und fuhr in nordöstlicher Richtung weiter. Zum Schluß erwähnte Peter sein Gespräch mit Herbie Chandler und seinen Verdacht, daß der Chefportier mehr von der Sache wisse, als er zugegeben habe.

»Herbie weiß immer mehr. Deshalb hat er sich so lange auf seinem Posten gehalten.«

»Mag sein, aber das entschuldigt nicht alles.«

Beide wußten, daß die kritische Bemerkung Peters Unzufriedenheit mit den Mängeln des Hotels verriet, gegen die er nichts zu unternehmen vermochte. In einem normal verwalteten Betrieb mit genau festgesetzten Richtlinien gab es solche Probleme nicht. Aber die Organisation des St. Gregory beruhte im wesentlichen auf mündlichen Abmachungen, wobei die letzte Entscheidungsgewalt bei Warren Trent lag und von ihm sehr willkürlich gehandhabt wurde.

Unter normalen Umständen hätte sich Peter — der die Hotelfachschule der Cornell-Universität mit Auszeichnung absolviert hatte — schon vor Monaten nach einem befriedigenderen Arbeitsfeld umgesehen. Aber die Umstände waren nicht normal. Als er sich im St. Gregory bewarb, war er in Verruf und würde es vermutlich auch noch auf Jahre hinaus bleiben.

Manchmal stellte er finstere Betrachtungen an über seine verpfuschte Karriere, für die er — wie er offen zugab — niemanden außer sich selbst verantwortlich machen konnte.

Im Waldorf, wo er nach seiner Abschlußprüfung an der Cornell-Universität eingetreten war, galt Peter McDermott als vielversprechender junger Mann mit Zukunft. Er stand dicht vor seiner Beförderung zum Geschäftsführer, als Pech plus Unbesonnenheit ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Zu einem Zeitpunkt, in dem er angeblich Dienst hatte und woanders im Hotel benötigt wurde, ertappte man ihn in flagranti mit einem weiblichen Gast.

Selbst dann noch hätte sich eine Katastrophe vermeiden lassen. Gutaussehende junge Hotelangestellte waren häufig den Annäherungsversuchen einsamer alleinstehender Frauen ausgesetzt, und irgendwann im Laufe ihrer Karriere erlag fast jeder der Verlockung. Die Geschäftsleitung begnügte sich meistens damit, den Sünder warnend darauf hinzuweisen, daß so etwas nicht noch einmal vorkommen dürfe. In Peters Fall jedoch spielten zwei Faktoren eine entscheidende Rolle. Der Ehemann der Frau war, von Privatdetektiven unterstützt, an der peinlichen Entdeckung beteiligt, und es kam zu einem schmutzigen Scheidungsprozeß mit all der Publicity, die Hotels verabscheuen.

Zu allem Unglück wurde Peter noch das Opfer einer privaten Rache. Drei Jahre vor dem Debakel im Waldorf war er eine überstürzte Ehe eingegangen, die bald darauf mit einer Trennung der beiden Partner endete. Bis zu einem gewissen Grad waren seine Einsamkeit und Enttäuschung für den Zwischenfall im Hotel verantwortlich. Peters Frau machte sich das gebrauchsfertige Beweismaterial rücksichtslos zunutze und strengte mit Erfolg die Scheidung an.

Peter aber wurde von der Hotelleitung entlassen und auf die schwarze Liste gesetzt.

Die Existenz einer schwarzen Liste wurde natürlich nicht offen zugegeben. Aber eine große Anzahl von Hotels, vor allem solche, die Konzernen angehörten, hatten Peter McDermotts Bewerbung kurzerhand zurückgewiesen. Nur das St. Gregory, ein konzernfreies Hotel, hatte Peter eingestellt mit einem Gehalt, das Warren Trent schlau der Zwangslage des jungen Mannes anpaßte.

Daher hatte er mit seiner Bemerkung, das Durchhalten auf einem Posten sei keine Entschuldigung für alles, eine Unabhängigkeit vorgetäuscht, die nicht existierte. Er vermutete, daß Christine auch darüber im Bilde war.

Er beobachtete, wie sie den kleinen Wagen geschickt durch die schmale Burgundy Street manövrierte, die sich am Rand des Französischen Viertels entlangzog, parallel zum Mississippi. Christine bremste kurz und wich einer Schar schwankender Zecher aus, die sich aus der zwei Blocks entfernten, belebten, hell erleuchteten Bourbon Street hierher verirrt hatten. Dann sagte sie: »Es gibt etwas, das Sie, glaub’ ich, erfahren sollten. Curtis O’Keefe kommt morgen an.«

Es war eine Neuigkeit von der Art, wie er sie befürchtet und mit der er doch fast gerechnet hatte.

Curtis O’Keefe war ein Name, der Wunder wirkte. Als Besitzer des weltweiten O’Keefe-Konzerns kaufte er Hotels wie andere Männer Krawatten oder Taschentücher. Selbst weniger gut informierte Kreise mußten aus Curtis O’Keefes Erscheinen im St. Gregory die stillschweigende Schlußfolgerung ziehen, daß zumindest der Wunsch bestand, das Hotel zu erwerben und dem ständig wachsenden Konzern einzuverleiben.

»Ist es ein Einkaufstrip?«

»Vielleicht.« Christine ließ die schwach erleuchtete Straße vor sich nicht aus den Augen. »W.T. ist gar nicht dafür, aber möglicherweise bleibt ihm nichts anderes übrig.« Sie wollte eigentlich hinzufügen, daß letzteres vertraulich behandelt werden müßte, besann sich jedoch eines Besseren. Peter wußte das ohnehin. Und was Curtis O’Keefe anbelangte, so würde sich die aufregende Neuigkeit von der Anwesenheit des großen Mannes sofort nach seiner Ankunft wie ein Lauffeuer im ganzen Hotel verbreiten.

»Es war wohl unvermeidlich.« Peter war, ebenso wie andere leitende Angestellte des Hotels, darüber im Bilde, daß das St. Gregory in den letzten Monaten schwere finanzielle Einbußen erlitten hatte. »Trotzdem ist es ein Jammer.«

»Noch ist es nicht soweit. W.T. möchte nicht verkaufen.« Peter nickte, ohne zu sprechen.

Nun verließen sie das Französische Viertel und bogen links in die mehrbahnige, von Bäumen gesäumte Esplanade Avenue ein. Die breite Straße war leer bis auf die davonflitzenden Rücklichter eines anderen Wagens, der in Richtung Bayou St. John verschwand.

»Die Weiterfinanzierung macht Schwierigkeiten«, sagte Christine. »W.T. versucht neues Kapital aufzutreiben, und er hofft noch immer, daß es ihm schließlich glückt.«

»Und wenn nicht?«

»Dann werden wir Curtis O’Keefe wohl öfter sehen.«

Und sehr viel weniger von Peter McDermott, dachte Peter. Er fragte sich, ob er einen Punkt erreicht hatte, an dem ein Hotelkonzern wie der von O’Keefe ihn als rehabilitiert und akzeptabel betrachten würde. Er bezweifelte es. Eines Tages, falls er sich weiter gut führte, würde es dazu kommen, aber im Moment war er noch nicht tragbar.

Es hatte ganz den Anschein, als würde er sich bald nach einer neuen Stellung umsehen müssen. Er beschloß, sich erst dann den Kopf zu zerbrechen, wenn es wirklich soweit war.

»Das O’Keefe-St.-Gregory«, sagte er laut. »Wann werden wir’s genau wissen?«

»Die Sache muß sich auf die eine oder andere Art bis zum Wochenende entscheiden.«

»So bald?«

Es gab zwingende Gründe dafür, die Christine kannte, vorläufig jedoch für sich behielt.

Peter sagte entschieden: »Der alte Mann wird keinen Geldgeber finden.«

»Wieso sind Sie dessen so sicher?«

»Weil Leute mit Geld ihr Kapital sicher anlegen wollen. Das setzt eine gute Geschäftsleitung voraus, und die hat das St. Gregory nicht. Es könnte sie haben, hat sie aber nicht.«

Sie fuhren in nördlicher Richtung auf den Elysian Fields, deren zwei Fahrbahnen wie ausgestorben waren, als unmittelbar vor ihnen plötzlich grelles Licht aufstrahlte und im Dunkel hin und her schwang. Christine bremste, und als der Wagen hielt, kam ein Verkehrspolizist auf sie zu. Er richtete seine Stablampe auf den Volkswagen, ging um ihn herum und nahm ihn genau in Augenschein. Währenddessen sahen sie, daß das Stück Straße direkt vor ihnen mit Seilen abgesperrt war. Hinter der Absperrung untersuchten Männer in Uniform und Beamte in Zivil die Straßendecke im Licht starker Scheinwerfer.

Christine drehte das Fenster herunter, als der Verkehrspolizist auf ihrer Seite auftauchte. Offenbar zufrieden mit dem Ergebnis seiner Untersuchung sagte er: »Sie müssen die Umleitung nehmen. Fahren Sie langsam auf der anderen Fahrbahn weiter, bis Sie mein Kollege am Ende der Absperrung wieder in die Bahn hier einweist.«

»Was ist los?« fragte Peter. »Ein Unfall?«

»Tjah, Unfall mit Fahrerflucht. Passierte am frühen Abend.«

»Ist jemand dabei umgekommen?« erkundigte sich Christine.

Der Polizist nickte. »Ein kleines Mädchen von sieben Jahren.« Ihr schockierter Gesichtsausdruck veranlaßte ihn, mehr zu erzählen. »Es ging neben seiner Mutter. Die Mutter ist im Krankenhaus. Das Kind war auf der Stelle tot. Der Fahrer muß es gewußt haben. Er fuhr gleich weiter.« Mit unterdrückter Stimme fügte er hinzu: »Der Schuft!«

»Werden Sie herausfinden, wer’s war?«

»Den Burschen schnappen wir, verlassen Sie sich darauf.« Der Polizist nickte grimmig und zeigte mit dem Daumen nach hinten auf die Absperrung. »Die Jungen da sind drauf geeicht, und der Unfall hat sie wild gemacht. Auf der Straße sind Glassplitter; folglich muß der Wagen was abgekriegt haben.« Scheinwerfer blinkten hinter dem Volkswagen auf, und der Polizist winkte sie weiter.

Beide schwiegen, während Christine auf die Umleitung hinüberschwenkte. In Peters Kopf nagte ein flüchtiger Eindruck, eine unbestimmte Idee, die sich jedem Zugriff entzog. Er führte sein Unbehagen auf den Unfall selbst zurück, war jedoch so stark davon in Anspruch genommen, daß es ihn überraschte, als er Christine sagen hörte: »Wir sind gleich da.«

Sie bogen in die Prentiss Avenue ein. Gleich darauf schwenkte der kleine Wagen nach rechts, dann nach links und hielt auf dem Parkplatz eines modernen zweistöckigen Appartementhauses.

»Wenn alle Stricke reißen«, rief Peter fröhlich, »verdinge ich mich wieder als Barmann!« Er war damit beschäftigt, in Christines Wohnzimmer, das in weichen Tönungen von Moosgrün und Blau gehalten war, Drinks zu mixen. Nebenan in der Küche schlug Christine Eier auf.

»Haben Sie das denn schon mal gemacht?«

»Eine Zeitlang.« Er maß drei Unzen Whisky ab, teilte sie in zwei Portionen und fügte Angostura und Peychaud’s Bitter hinzu. »Ich erzähl’ Ihnen bei Gelegenheit davon.« Nachträglich goß er noch etwas Whisky dazu und tupfte mit dem Taschentuch ein paar Tropfen ab, die auf den porzellanblauen Teppich gefallen waren.

Während er sich aufrichtete, warf er einen Rundblick durch das Wohnzimmer mit seinen ansprechenden Farben und Möbelstücken — einem französischen Bauernsofa, dessen Überzug mit einem weißblaugrünen Blattmuster bedruckt war, zwei Hepplewhite-Stühlen neben einer Kommode mit einem Marmoraufsatz und dem Mahagonibüfett, an dem er die Getränke gemixt hatte.

An den Wänden hingen einige französische Drucke von Louisiana und ein impressionistisches Ölgemälde. Der Raum wirkte warm und heiter, genau wie Christine selbst. Nur eine verschnörkelte Kaminuhr auf dem Büfett paßte nicht zu dem übrigen. Die leise vor sich hin tickende Uhr war unverkennbar viktorianisch, mit Metallverzierungen und einem fleckigen, vom Zahn der Zeit angenagten Zifferblatt. Peter betrachtete sie neugierig.

Als er mit den Drinks in die Küche kam, schüttete Christine gerade den geschlagenen Eierschaum aus einer Schüssel in die brutzelnde Pfanne.

»Noch drei Minuten«, sagte sie, »dann bin ich soweit.«

Er reichte ihr ein Glas, und sie stießen miteinander an.

»Konzentrieren Sie sich auf das Omelett. Jetzt ist’s fertig.«

Es war wirklich ein Meisterwerk — leicht, locker und mit Kräutern gewürzt. »So sollten Omeletts immer sein«, meinte er anerkennend.

»Ich kann auch Eier kochen.«

Er winkte lässig ab. »Ein andermal, wenn Sie mich zum Frühstück einladen.«

Nachher gingen sie ins Wohnzimmer hinüber, und Peter mixte noch einen Drink. Es war fast zwei Uhr.

Er setzte sich neben sie aufs Sofa und wies auf die seltsam aussehende Uhr. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß die Uhr mich mißbilligend anstarrt, weil es schon so spät ist.«

»Vielleicht tut sie das wirklich«, erwiderte Christine. »Sie gehörte meinem Vater und stand in seinem Sprechzimmer, wo die Patientinnen sie sehen konnten. Es ist das einzige, was ich zurückbehalten habe.«

Sie versanken in Schweigen. Christine hatte ihm einmal ganz beiläufig von dem Flugzeugunglück in Wisconsin erzählt. Nach einer Weile sagte er sanft: »Sie müssen sich danach entsetzlich einsam vorgekommen sein.«

»Ich wollte sterben«, sagte sie schlicht. »Aber natürlich kommt man darüber hinweg — nach einer gewissen Zeit.«

»Wie lange dauerte es?«

Sie lächelte. »Ein — zwei Wochen. Der Hang zum Leben war schließlich stärker.«

»Und danach?«

»Als ich nach New Orleans kam, wollte ich mich dazu zwingen, nicht mehr daran zu denken. Aber mit jedem neuen Tag fiel es mir schwerer, und da wurde mir klar, daß ich mir irgendeine Arbeit suchen mußte, nur wußte ich nicht, was für eine und wo.«

Sie machte eine Pause, und Peter sagte: »Erzählen Sie weiter.«

»Zuerst dachte ich daran, mein Studium wiederaufzunehmen, aber ich kam sehr bald wieder davon ab. Ein akademischer Grad nur um seiner selbst willen erschien mir so sinnlos, und dann hatte ich auch das Gefühl, als wäre ich alledem entwachsen.«

»Das kann ich verstehen.«

Christine nippte nachdenklich an ihrem Glas. Peter betrachtete ihr beherrschtes Gesicht und spürte, wieviel Selbstbeherrschung und Gelassenheit es ausstrahlte.

»Na ja, eines Tages ging ich zufällig durch die Carondelet Street«, erzählte Christine, »und da sah ich plötzlich ein Schild: ›Handelsschule‹. Das ist das richtige, dachte ich mir; ich lerne einfach Schreibmaschine und Stenografie und suche mir eine Stellung, wo ich endlos viel zu tun habe. Und genauso ist es dann schließlich auch gekommen.«

»Und wieso landeten Sie gerade im St. Gregory?«

»Ich wohnte da — seit meiner Ankunft in New Orleans. Eines Morgens brachte man mir mit dem Frühstück auch die ›Times — Picayune‹, und im Inseratenteil fand ich ein Stellungsangebot für den Posten einer Privatsekretärin beim Hoteldirektor. Es war noch sehr früh, und ich dachte, ich würde als erste dort sein und warten. Damals war W.T. zeitiger im Büro als alle anderen. Ich ging in den Verwaltungstrakt und setzte mich ins Vorzimmer.«

»Hat er Sie vom Fleck weg eingestellt?«

»Eigentlich nicht … das heißt, offiziell engagiert wurde ich im Grunde nie. Als W.T. erfahren hatte, warum ich draußen wartete, rief er mich herein und fing an, mir Briefe zu diktieren und mich mit Anweisungen zu bombardieren. Die anderen Bewerber um den Posten trafen ein, nachdem ich schon stundenlang hart gearbeitet hatte, und so übernahm ich es denn auch, ihnen mitzuteilen, daß die Stellung bereits vergeben war.«

Peter schmunzelte. »Das sieht dem Alten ähnlich.«

»Selbst danach hätte er sich vielleicht nicht weiter um die Angelegenheit gekümmert, wenn ich ihm nicht drei Tage später einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt hätte, auf dem, glaub’ ich, stand: ›Ich heiße Christine Francis und schlage das und das Gehalt vor.‹ Er gab mir den Zettel zurück, ohne Kommentar — nur mit seinen Initialen versehen, und das war alles.«

»Das war eine hübsche Gute-Nacht-Geschichte.« Peter erhob sich vom Sofa und streckte sich. »Ihre Uhr da starrt mich schon wieder an. Es ist wohl Zeit, daß ich gehe.«

»Aber das ist nicht fair«, protestierte Christine. »Wir haben die ganze Zeit nur über mich gesprochen.«

Sie war sich der Wirkung bewußt, die Peters Männlichkeit auf sie ausübte; und doch war er auch gutmütig und sanft, dachte sie; das hatte sich heute nacht gezeigt, als er Albert Wells in die Decke hüllte und ins andere Zimmer hinübertrug. Sie ertappte sich bei der Frage, wie es wohl sein mochte, von ihm in den Armen gehalten zu werden.

»Ich habe unser Zusammensein genossen … es war ein wundervoller Abschluß nach einem lausigen Tag.« Er hielt inne und sah sie gerade an. »Bis zum nächsten Mal. Ja?«

Als sie nickte, beugte er sich vor und küßte sie flüchtig.

Im Taxi, das er von Christines Appartement aus bestellt hatte, überließ sich Peter einer wohligen Müdigkeit und dachte über die Ereignisse des vergangenen Tages und des Abends nach. Der Tag hatte die übliche Quote von Problemen gebracht; am Abend war die Kurve jäh angestiegen und hatte ihm so unangenehme Zwischenfälle wie den Zusammenstoß mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon beschert, die schwere Erkrankung von Albert Wells und den Vergewaltigungsversuch an Marsha Preyscott. Es gab auch noch einige ungeklärte Fragen in bezug auf Ogilvie, Herbie Chandler und nun auch Curtis O’Keefe, dessen Ankunft die Ursache für Peters Weggang sein konnte. Und dann war da noch Christine, die schon immer dagewesen war und die er vor heute nacht nie so recht beachtet hatte.

Aber er sagte sich warnend: Frauen waren schon zweimal sein Verderben gewesen. Was immer zwischen Christine und ihm entstehen mochte, es mußte sich langsam entwickeln, und er mußte vorsichtig sein.

Das Taxi raste auf den Elysian Fields stadteinwärts. Als sie die Stelle passierten, wo Christine und er auf der Hinfahrt angehalten worden waren, bemerkte er, daß die Absperrung entfernt und die Polizei verschwunden war. Aber die Erinnerung daran rief wieder das vage Unbehagen wach, das er schon früher verspürt hatte, und es bedrückte ihn auf dem ganzen Weg bis zu seinem eigenen Appartement, ein oder zwei Blocks vom St. Gregory entfernt.

Teil II

Dienstag

1

Wie alle Hotels erwachte das St. Gregory frühzeitig und erhob sich gleich einem kampferprobten alten Frontsoldaten aus kurzem leichtem Schlummer. Lange bevor die ersten Gäste verschlafen vom Bett ins Bad torkelten, war sacht das Räderwerk eines neuen Hoteltages angelaufen.

Gegen fünf Uhr begannen müde nächtliche Reinmachetrupps, die während der vergangenen acht Stunden in den Gesellschaftsräumen, auf den unteren Treppen, im Küchentrakt und in der Halle schwer gearbeitet hatten, ihre Gerätschaften einzusammeln und sie für den Tag zu verstauen. Nach ihrem Abzug glänzten die Böden, schimmerten Holz- und Metallwerk, und sämtliche Räume rochen angenehm nach frischem Bohnerwachs.

Eine Putzfrau, die alte Meg Yetmein, die seit nahezu dreißig Jahren im Hotel gearbeitet hatte, schleppte sich mühsam vorwärts, und jeder zufällige Beobachter hätte ihre unbeholfenen Bewegungen ihrer Müdigkeit zugeschrieben. Der wirkliche Grund war jedoch ein dreipfündiges Lendensteak, das an der Innenseite ihres Oberschenkels befestigt war. Vor einer halben Stunde, als sie für einige Minuten unbeaufsichtigt war, hatte Meg das Stück Fleisch aus der Kühltruhe in der Küche entwendet. Aus langjähriger Erfahrung wußte sie genau, wo sie nachsehen mußte und wie sie ihre Beute, in einen alten Putzlappen eingehüllt, unbemerkt bis zum Waschraum schaffen konnte. Dort, hinter einer verriegelten Tür vor Entdeckung geschützt, befestigte sie das Steak mit Heftpflaster. Obwohl sie fast eine Stunde lang mit ihrer kalten, klammen Last herumlaufen mußte, nahm sie die Unbequemlichkeit gern in Kauf, im Bewußtsein, daß sie unbefangen am Hausdetektiv vorbeimarschieren konnte, der den Personaleingang überwachte und ausgehende Päckchen und angeschwollene Taschen mißtrauisch untersuchte. Dies von ihr selbst ersonnene Verfahren war, wie sie schon oft zuvor erprobt hatte, absolut narrensicher.

Zwei Stockwerke über Meg, hinter einer unmarkierten, gut versperrten Tür im Zwischengeschoß, legte eine Telefonistin ihr Strickzeug beiseite und erledigte den ersten morgendlichen Weckruf. Die Telefonistin war Mrs. Eunice Ball, Witwe, Großmutter und Seniorin der drei Frauen, die heute die Frühschicht hatten. Zwischen halb sechs und sieben Uhr würde das Trio in der Zentrale vereinzelt weitere Gäste wecken, deren Anweisungen vom Abend zuvor, auf Karten vermerkt und nach Viertelstunden geordnet, sich in Reichweite in einem Karteifach befanden. Nach sieben Uhr würde sich das Tempo erhöhen.

Mit geübten Fingern blätterte Mrs. Ball die Karten durch. Sie stellte fest, daß sieben Uhr 45, wo fast hundertachtzig Anrufe fällig waren, wie immer der kritische Zeitpunkt war. Selbst bei größter Schnelligkeit würden die drei Telefonistinnen das Pensum kaum in weniger als zwanzig Minuten bewältigen, was bedeutete, daß sie früh, und zwar um 7 Uhr 35, beginnen mußten — sofern sie rechtzeitig mit den Anrufen um halb acht fertig geworden waren —, bis fünf vor acht zu tun haben und damit in das Acht-Uhr-Pensum hineingeraten würden.

Mrs. Ball seufzte. Heute war es unvermeidlich, daß sich Gäste bei der Geschäftsleitung beschwerten, weil angeblich irgendeine stupide, vorm Klappenschrank eingedöste Telefonistin sie entweder zu früh oder zu spät geweckt hatte.

Die Frühschicht hatte aber auch ihre Vorteile. Wenige Gäste waren zu so früher Stunde zum Reden aufgelegt oder hatten verliebte Anwandlungen, wie es nachts manchmal der Fall war — daher auch die unmarkierte versperrte Tür. Außerdem traf um acht Uhr die Tagschicht ein — fünfzehn insgesamt zur Hauptgeschäftszeit —, und die drei von der Frühschicht würden um neun glücklich zu Haus sein und im Bett liegen.

Wieder war ein Weckruf fällig. Mrs. Ball steckte einen Stöpsel ein, betätigte den Umschalter, und irgendwo weit entfernt schlug ein Telefon schrill an.

Zwei Stockwerke unter der Straße im Maschinenkontrollraum legte Wallace Santopadre, dritter Ingenieur, eine Taschenbuchausgabe von Toynbees Werk »Die Griechische Kultur« beiseite und verspeiste ein Erdnußbutterbrot, an dem er in Etappen herumgekaut hatte. In der letzten Stunde war alles ruhig gewesen, und er hatte zwischendurch gelesen. Nun war es Zeit für den letzten Rundgang. Als er die Tür zum Maschinenraum öffnete, empfing ihn das Summen der Motoren.

Er überprüfte die Heißwasseranlage und stellte einen Temperaturanstieg fest, womit sich erwies, daß der Thermostat seine Pflicht tat. Für den unmittelbar bevorstehenden Zeitraum, in dem der Verbrauch am stärksten war, weil an die achthundert Menschen möglicherweise alle gleichzeitig baden oder duschen wollten, war genügend Heißwasser vorhanden.

Die umfangreiche Klimaanlage — eine Spezialmaschine von riesigem Gewicht — lief wegen des nächtlichen Absinkens der Außentemperatur viel ruhiger. Die Abkühlung der Luft hatte es ermöglicht, einen Kompressor auszuschalten, und indem man auch die anderen abwechselnd entlastete, konnten Reparaturen, die während der Hitzewelle der letzten Wochen verschoben werden mußten, endlich ausgeführt werden. Der Chefingenieur würde sich darüber freuen, dachte Wallace Santopadre.

Der alte Mann würde allerdings nicht so beglückt sein über die Nachricht, daß in der Nacht — gegen zwei Uhr — elf Minuten lang der Strom ausgefallen war, vermutlich infolge des Unwetters im Norden.

Für das St. Gregory war das kein wirkliches Problem gewesen, und die meisten Gäste hatten fest geschlafen und ohnehin nichts davon gemerkt. Santopadre hatte sofort das Ersatzaggregat eingeschaltet, das von den hoteleigenen Generatoren gespeist wurde und seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllte. Aber es hatte immerhin drei Minuten gedauert, bevor er die Generatoren gestartet und auf Hochtouren gebracht hatte, mit dem Resultat, daß alle elektrischen Uhren des St. Gregory — über zweihundert insgesamt — nun drei Minuten nachgingen. Ein Monteur würde für das mühselige Geschäft, jede Uhr mit der Hand zu regulieren, nahezu den ganzen nächsten Tag brauchen.

Nicht weit vom Maschinenraum entfernt, in einem glühendheißen, übelriechenden, ummauerten Hof, war Booker T. Graham damit beschäftigt, die Ausbeute einer arbeitsreichen Nacht inmitten der Hotelabfälle zusammenzutragen. Um ihn her flackerte der Feuerschein von rauchgeschwärzten Wänden.

Wenige Menschen im Hotel, die Angestellten mit eingeschlossen, hatten Bookers Domäne jemals gesehen, und alle, die sie kannten, erklärten, sie hätte viel Ähnlichkeit mit den Vorstellungen der Evangelisten von der Hölle. Aber Booker, der selbst einem liebenswerten Teufel glich, mit seinen leuchtenden Augen und blitzenden Zähnen in dem schweißglänzenden schwarzen Gesicht, genoß seine Arbeit und auch die Hitze des Verbrennungsofens.

Peter McDermott gehörte zu den wenigen Hotelangestellten, die Booker T. Graham je zu Gesicht bekam. Bald nach seinem Eintritt im St. Gregory hatte Peter sich aufgemacht, die Geographie und das innere Gefüge des Hotels bis in die abgelegensten Winkel zu erforschen. Im Verlauf einer solchen Expedition entdeckte er den Verbrennungsofen.

Seitdem schaute Peter gelegentlich vorbei, um persönlich nach dem Rechten zu sehen. Übrigens hielt er es bei den anderen Abteilungen genauso. Dieser Besuche wegen, und vielleicht infolge einer instinktiven gegenseitigen Sympathie, rangierte der junge Mr. McDermott in Booker T. Grahams Augen irgendwie hoch oben dicht unterhalb Gott.

Jedesmal studierte Peter das verschmierte fleckige Schulheft, in dem Booker stolz den Ertrag seiner Arbeit notierte. Er setzte sich zusammen aus den Dingen, die andere Leute wegwarfen und die Booker T. aus den Abfällen herausklaubte. Der wichtigste Einzelposten bestand in Hotelbesteck.

Booker, ein unkomplizierter Mann, fragte sich niemals, wie das Tafelsilber in den Müll gelangte. Erst Peter McDermott erklärte ihm, daß es sich um ein chronisches Problem handelte, mit dem alle größeren Hotels zu kämpfen hatten. Schuld daran waren zumeist abgehetzte Kellner und Hilfskräfte, die aus Unwissenheit oder Trägheit nicht darauf achteten, daß zugleich mit den Speiseüberresten, die sie in die Abfalltonnen schütteten, auch ein nicht abreißender Strom von Tafelsilber verschwand.

Bis vor einigen Jahren hatte das St. Gregory seine Abfälle gepreßt, eingefroren und dann auf einen städtischen Müllabladeplatz befördert. Aber mit der Zeit nahm der Verlust an Tafelsilber einen so erschreckenden Umfang an, daß ein eigener Verbrennungsofen gebaut und Booker T. Graham angestellt wurde, um ihn mit der Hand zu beschicken.

Seine Aufgabe war einfach. Der gesamte Abfall wurde in Tonnen gesammelt, die auf Karren standen. Booker T. schob die Karren nacheinander in den Hof, breitete den Inhalt der Tonnen auf einem großen Blech aus und harkte ihn wie der Gärtner ein Beet. Wenn dabei irgendeine Beute zutage gefördert wurde, wie Flaschen, Gläser, Tafelsilber und gelegentlich auch Schmuckstücke von Gästen, fischte Booker T. sie heraus. Dann wurde der durchsortierte Müll in den Ofen geschoben und die nächste Ladung in Angriff genommen.

Die Ausbeute der vergangenen Nacht zeigte, daß das Gesamtergebnis für den fast abgelaufenen Monat dem normalen Durchschnitt entsprach. Es handelte sich um beinahe 2000 Stück Tafelsilber, im Wert von je einem Dollar für das Hotel, um etwa 4000 Flaschen, Wert zwei Cents pro Stück, 800 intakte Gläser, je ein Vierteldollar, und außerdem eine reiche Auswahl anderer Gegenstände, unter denen sich — unbegreiflicherweise — auch eine silberne Suppenterrine befand. Dem Hotel wurden dadurch jährlich an die vierzigtausend Dollar erspart.

Booker T. Graham, der in der Woche 38 Dollar verdiente, war mit seiner Arbeit fertig, zog sich seine schmierige Jacke an und ging heim.

Inzwischen war der Betrieb am Personaleingang, einem schmutzigbraunen Backsteintor in einer Seitenstraße der Common Street, immer stärker geworden. Allein und zu zweien tröpfelten Leute von der Nachtschicht hinaus, während die von der ersten Tagschicht aus allen Teilen der Stadt in ständig wachsender Flut hereinströmten.

Im Küchentrakt wurden Lichter angeknipst, morgendliche Gehilfen vertauschten in den angrenzenden Umkleideräumen ihren Straßenanzug gegen frische weiße Kittel und verwandelten sich in Köche. In wenigen Minuten würden sie mit der Zurüstung der 1600 Hotelfrühstücke beginnen und gleich danach — lange, bevor die letzte Portion Rührei mit Schinken am späten Vormittag serviert war — die für den heutigen Tag angesetzten 2000 Lunchportionen in Angriff nehmen.

In dem Gewimmel summender Kessel, riesiger Öfen und anderer Großküchenapparaturen sorgte ein kleines Paket Quäkerflocken für eine anheimelnde Note. Es war für die wenigen Unentwegten bestimmt, die, wie jedes Hotel wußte, zum Frühstück Porridge verlangten, ohne sich darum zu kümmern, ob die Außentemperatur fünf Grad unter Null oder vierzig Grad Wärme im Schatten war.

In der Küchenbratstation überprüfte Jeremy Boehm, ein sechzehnjähriger Küchenjunge, den großen Tiefbrater, den er vor zehn Minuten eingeschaltet hatte. Instruktionsgemäß hatte er ihn auf 95 Grad eingestellt, so daß die Temperatur später schnell auf die erforderlichen 165 Grad erhöht werden konnte. Für das Menü des Hauptrestaurants war als Lunch-Spezialität Brathähnchen nach Art des Südens vorgesehen, und so würde der Brater an diesem Tag viel zu tun bekommen.

Jeremy stellte fest, daß das Fett im Brater ordnungsgemäß heiß geworden war, aber er fand, daß es wesentlich mehr rauchte als sonst, trotz des überhängenden Rauchfangs und des eingeschalteten Ventilators. Er fragte sich, ob er seine Beobachtung melden sollte, wobei ihm einfiel, daß ein Assistent des Küchenchefs ihn erst gestern scharf zurechtgewiesen hatte, weil er sich für die Saucenzubereitung interessierte; das, wurde ihm bedeutet, ging ihn nichts an. Jeremy zuckte mit den Schultern. Der Brater ging ihn auch nichts an. Sollte sich ein anderer damit herumärgern.

Einen halben Block entfernt, in der Hotelwäscherei, gab es bereits Ärger, wenn auch nicht gerade über Rauchentwicklung.

Die Wäscherei, ein geschäftiger, dunstiger Bezirk, war für sich allein in einem älteren zweistöckigen Gebäude untergebracht und vom Haupttrakt des St. Gregory aus durch einen breiten Kellertunnel zu erreichen. Mrs. Isles Schulder, die temperamentvolle, scharfzüngige Leiterin der Wäscherei, war vor einigen Minuten — wie immer als erste — in ihrem Wirkungsbereich eingetroffen. Im Moment galt ihre Sorge einem Stapel schmutziger Tischwäsche. Im Laufe eines Arbeitstages bewältigte die Wäscherei etwa 25000 Wäschestücke, angefangen von Frottiertüchern und Bettlaken über Schürzen und Kittel der Kellner und des Küchenpersonals bis zu den ölbeschmierten Overalls der Techniker. Das meiste erforderte die übliche Routinebehandlung, aber letzthin hatte eine lästige Unsitte in empörender Weise Schule gemacht. Die Urheber waren Geschäftsleute, die ihre Berechnungen auf dem Tischtuch anstellten und dazu Kugelschreiber benutzten.

»Würden die Ferkel das bei sich zu Hause auch machen?« fauchte Mrs. Schulder den Arbeiter an, der Nachtdienst gehabt und die anstößigen Tücher aus einem Haufen normal verschmutzter Tischwäsche aussortiert hatte. »Verdammt — wenn sie’s täten, würden ihnen ihre Frauen ganz schön in den Arsch treten. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich diesen Hampelmännern von Oberkellnern schon gesagt habe, sie sollten ein Auge drauf haben und dem Geschmier ein Ende machen, aber nein … denen ist das doch ganz egal!« Sie äffte mit tiefer Stimme einen Kellner nach. »Jawohl, Sir, aber gewiß, Sir, steh’ Ihnen ganz zu Diensten, Sir. Kritzeln Sie ruhig das Tischtuch voll, Sir, und hier ist noch ein Kugelschreiber, Sir. Solange ich ein fettes Trinkgeld kriege, schert mich die gottverdammte Wäscherei einen Dreck!«

Mrs. Schulder verstummte. »Gehen Sie nach Haus«, sagte sie gereizt zu dem Arbeiter, der sie mit aufgerissenem Mund anstarrte. »Den ersten Ärger hab’ ich weg, und Sie sind schuld dran.«

Ein Glück, daß sie den Packen abgefangen hatte, bevor er im Wasser landete, dachte sie, als der Mann abgezogen war. Sobald Kugelschreibertinte erst einmal naß geworden war, konnte man das Tischtuch praktisch abschreiben, denn gegen solche Flecken half kein Mittel, außer Dynamit. So würde sich Nellie die Expertin im Fleckenentfernen — heute mit Tetrachlorkohlenstoff an die Arbeit machen, und wenn sie Glück hatten, würden sie den größten Teil des Packens retten. Aber auch dann — dachte Mrs. Schulder grimmig — hätte sie gern ein Wörtlein mit den Schmierfinken gesprochen, die all die Scherereien verursacht hatten.

Und so lief überall im ganzen Hotel der Betrieb an. Vor und hinter den Kulissen — in der Wirtschaftsabteilung, den Büros, der Schreinerei, Bäckerei, Druckerei, Installation, im Einkauf, in der Innendekoration, der Magazinverwaltung, der Fernsehreparaturwerkstatt — begann ein neuer Tag.

2

In seiner privaten Sechs-Zimmer-Suite in der fünfzehnten Etage stieg Warren Trent von dem Friseursessel, in dem Aloysius Royce ihn rasiert hatte. Ein stechendes Zucken seines Ischiasnervs in der linken Hüfte gemahnte ihn daran, daß er wieder einen jener Tage vor sich hatte, an denen er sein reizbares Temperament würde zügeln müssen. Der private Friseursalon befand sich neben einem geräumigen Bad, das außer einem Dampfkabinett und einem in den Boden eingelassenen Becken im japanischen Stil auch ein eingebautes Aquarium enthielt, in dem tropische Fische mit Glotzaugen durch lamelliertes Glas starrten. Warren Trent schritt steifbeinig ins Bad und blieb vor einem wandbreiten Spiegel stehen, um die Rasur zu begutachten. Er fand nichts an ihr auszusetzen, während er sein Spiegelbild einer gründlichen Musterung unterzog.

Es zeigte ihm ein tief gefurchtes und zerklüftetes Gesicht, einen schlaffen Mund mit einem Anflug von Humor, eine schnabelförmige Nase und tiefliegende Augen, deren undurchdringlicher Blick kein Geheimnis preisgab. Sein früher kohlschwarzes Haar war nun weiß, dicht und noch immer gelockt. Ein Eckkragen mit sorgfältig geknüpfter Krawatte vervollständigte das Portrait eines vornehmen Gentlemans aus den Südstaaten.

Zu jeder anderen Zeit hätte ihm seine peinlich gepflegte Erscheinung Freude gemacht. Aber heute verdunkelte die niedergedrückte Stimmung, die ihn in den letzten Wochen überkommen hatte, alles andere. Heute war also Dienstag. In dieser endgültig letzten Woche zählte er die Tage — vier Tage, um zu verhindern, daß sich sein Lebenswerk in Nichts auflöste.

Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln über seine trübseligen Gedanken humpelte der Hotelbesitzer in das Eßzimmer, wo Aloysius Royce den Frühstückstisch gedeckt hatte. Neben dem langen Eichenholztisch mit dem gestärkten Leinenzeug und dem blinkenden Tafelsilber stand ein Servierwagen mit Warmhalteplatten, der vor wenigen Sekunden im Eiltempo aus der Hotelküche heraufgebracht worden war. Warren Trent sank schwerfällig in den Sessel, den Royce zurückgeschoben hatte, und wies dann mit der Hand auf den gegenüberliegenden Platz. Der junge Neger legte unverzüglich ein zweites Gedeck auf und setzte sich. Auf dem Servierwagen stand ein zweites Frühstück bereit, für jene Gelegenheiten, wenn der alte Mann aus einer Laune heraus von seiner Gewohnheit, allein zu frühstücken, abging.

Während er die zwei Portionen Rührei mit kanadischem Schinken und Maismehlgrütze servierte, blieb Royce stumm, da er wußte, daß sein Arbeitgeber das Gespräch eröffnen würde, wenn er dazu bereit war. Bisher hatte er sich weder zu Royces zerschundenem Gesicht noch zu den zwei Heftpflastern geäußert, die die ärgsten Spuren der nächtlichen Auseinandersetzung verdeckten. Schließlich schob Warren Trent seinen Teller zurück und bemerkte: »Halten Sie sich ordentlich ran. Für uns beide dürfte damit bald Schluß sein.«

Royce fragte: »Die Bankleute haben also ihre Meinung über eine Erneuerung des Kredits nicht geändert?«

»Nein, und sie werden sie auch nicht ändern.« Der alte Mann schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Verflucht noch mal! — und es hat eine Zeit gegeben, wo sie nach meiner Pfeife tanzten und nicht ich nach ihrer. Damals rannten sie mir die Bude ein — Banken, Kreditgesellschaften und all die anderen — und drängten mir ihr Geld förmlich auf.«

»Die Zeiten ändern sich für uns alle.« Aloysius Royce schenkte Kaffee ein. »Manches wird besser, anderes schlechter.«

»Für Sie ist’s leicht«, sagte Warren Trent grämlich. »Sie sind jung. Sie müssen nicht fast am Ende Ihres Lebens mit ansehen, wie alles, wofür Sie gearbeitet haben, auseinanderfällt.«

So weit war es mit ihm gekommen, dachte er resigniert. Heute in vier Tagen — am Freitag vor Geschäftsschluß — wurde eine zwanzig Jahre alte Hypothek auf das Hotelgrundstück fällig, und die Finanzierungsgesellschaft, deren Schuldner er war, hatte es abgelehnt, die Hypothek zu erneuern. Als er von der Entscheidung erfuhr, war er zunächst überrascht, aber nicht beunruhigt gewesen. Eine ganze Reihe anderer Geldgeber würde nur zu gern einspringen — zweifellos zu einem höheren Zinssatz —, aber, wie immer ihre Bedingungen lauten mochten, sie würden jedenfalls die erforderlichen zwei Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Erst, als er überall — von Banken, Kreditgesellschaften, Versicherungsgesellschaften und privaten Geldgebern — abschlägig beschieden wurde, begann seine ursprüngliche Zuversicht zu schwinden. Ein Bankier, den er gut kannte, gab ihm den aufrichtigen Rat: »Hotels wie deine sind nicht mehr gefragt, Warren. Eine Menge Leute sind der Ansicht, daß die Zeit der großen Unabhängigen vorbei ist und daß heutzutage nur noch die Hotelkonzerne einen vernünftigen Profit herauswirtschaften können. Sieh dir doch deine Bilanz mal an. Du hast ständig Geld verloren. Wie kannst du erwarten, daß Kreditgeber sich auf ein solches Risiko einlassen?«

Sein Einwand, daß es sich um eine vorübergehende Krise handele und daß die Bilanz bei besserem Geschäftsgang aus dem Bereich der roten Zahlen herauskommen würde, machte keinen Eindruck. Man glaubte ihm einfach nicht.

In dieser auswegslosen Situation hatte Curtis O’Keefe angerufen und für diese Woche eine Zusammenkunft in New Orleans vorgeschlagen. »Mir geht es wirklich nur um ein freundschaftliches Gespräch, Warren«, hatte der Hotelmagnat in seinem ungezwungenen, schleppenden texanischen Tonfall erklärt. »Schließlich sind wir zwei ein Paar bejahrter Gastwirte. Wir sollten einander öfter sehen.« Aber Warren Trent ließ sich von den glatten Worten nicht täuschen; der O’Keefe-Konzern hatte ihm schon früher Offerten gemacht. Die Aasgeier versammeln sich, dachte er. Curtis O’Keefe würde heute eintreffen, und zweifellos war er über die finanziellen Nöte des St. Gregory genauestens unterrichtet.

Mit einem unterdrückten Seufzer wandte sich Warren Trent näherliegenden Problemen zu. »Sie sind im Nachtbericht genannt«, sagte er zu Aloysius Royce.

»Ich weiß. Ich habe ihn gelesen.« Er hatte den Bericht, als er frühzeitig wie immer abgegeben wurde, überflogen und darin folgende Notiz entdeckt: »Beschwerden über starken Lärm in Zimmer 1126«, und darunter in Peter McDermotts Handschrift: »Wurde erledigt von A. Royce und P. McD. Ausführlicher Bericht folgt.«

»Nächstens werden Sie vermutlich auch noch meine private Post lesen«, knurrte Warren Trent.

Royce grinste. »Bisher hab’ ich’s nicht getan. Möchten Sie denn, daß ich sie lese?«

Frage und Antwort gehörten zu einem Gesellschaftsspiel, das sie miteinander spielten, ohne es sich einzugestehen. Royce wußte ganz genau, daß der alte Mann, falls er es unterlassen hätte, den Bericht zu lesen, ihm mangelndes Interesse an den Hotelangelegenheiten vorgeworfen hätte.

Nun sagte Warren Trent sarkastisch: »Da anscheinend jedermann über die Ereignisse im Bilde ist, werden Sie’s mir nicht verübeln, wenn ich um ein paar Einzelheiten bitte.«

»Keineswegs.« Royce goß seinem Arbeitgeber Kaffee nach, »Miss Marsha Preyscott — Tochter des Mr. Preyscott — wurde gestern nacht beinahe vergewaltigt. Möchten Sie, daß ich Ihnen mehr darüber erzähle?«

Als Trents Miene sich verfinsterte, fragte Royce sich einen Moment lang, ob er vielleicht zu weit gegangen war. Ihr lockeres, unklares Verhältnis beruhte größtenteils auf Präzedenzfällen, die Aloysius’ Vater vor vielen Jahren gesetzt hatte. Der ältere Royce, der Warren Trent zuerst als Leibdiener und später als Gefährte und privilegierter Freund diente, hatte stets seine Meinung offen ausgesprochen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern, was, in den ersten Jahren ihres Zusammenlebens, Trent in Weißglut versetzt und später, als es ihnen zur Gewohnheit geworden war, harte Worte zu wechseln, die beiden zu unzertrennlichen Freunden gemacht hatte. Aloysius war fast noch ein Junge, als sein Vater vor zehn Jahren starb, aber er hatte Warren Trents tiefbetrübtes, tränenfeuchtes Gesicht beim Begräbnis des alten Negers nie vergessen. Sie hatten den Mount-Olivet-Friedhof zusammen verlassen, hinter der Neger-Jazzband, die fröhlich »O, Didn’t He Ramble« spielte, Trent hatte Aloysius an die Hand genommen und barsch gesagt: »Du bleibst bei mir im Hotel, und später denken wir uns was aus.« Der Junge stimmte vertrauensvoll zu — da seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, blieb er nach dem Tod des Vaters ganz allein zurück —, und ihre gemeinsamen Überlegungen hatten ihn zuerst ins College gebracht und danach an die Universität, wo er in einigen Wochen sein juristisches Staatsexamen ablegen würde. Während aus dem Jungen ein Mann wurde, hatte er nach und nach viele von den ehemaligen Pflichten seines Vaters übernommen, und obwohl die grobe Arbeit vom Hotelpersonal getan wurde, leistete er Warren Trent persönliche Dienste, die letzterer, je nach Laune, kommentarlos oder nörgelnd akzeptierte. Dann und wann stritten sie hitzig, vor allem wenn Aloysius, um Trents Erwartungen nicht zu enttäuschen, auf einen Köder anbiß, den Warren Trent ihm gesprächsweise hinhielt.

Und doch, trotz ihrer Vertrautheit und der Erkenntnis, daß er sich Freiheiten herausnehmen konnte, die Warren Trent anderen nie gestattet hätte, war sich Aloysius Royce einer haarfeinen Grenze bewußt, die er niemals überschreiten durfte. Er fuhr fort: »Die junge Dame rief um Hilfe, und zufällig hörte ich sie.« Er schilderte sachlich seine Rettungsaktion und Peter McDermotts Eingreifen, das er weder lobte noch kritisierte.

Warren Trent hörte aufmerksam zu. »McDermott hat sich ganz richtig verhalten. Warum mögen Sie ihn nicht?«

Nicht zum erstenmal mußte sich Royce über den Scharfblick des alten Mannes wundern. »Vielleicht passen unsere chemischen Eigenschaften nicht zusammen. Oder vielleicht mag ich’s auch nicht, wenn große weiße Fußballer beweisen wollen, wie nett sie sind, wenn sie farbige Jungen freundlich behandeln.«

»Sie sind ein Querkopf.« Warren Trent beäugte Royce forschend. »Haben Sie schon daran gedacht, daß Sie McDermott möglicherweise unrecht tun?«

»Genau; wie ich sagte, vielleicht ist’s bloß chemisch.«

»Ihr Vater hatte einen Blick für Menschen. Aber er war viel toleranter als Sie.«

»Ein Hund mag Leute, die ihm den Kopf tätscheln, weil sein Verstand durch Wissen und Erziehung nicht belastet ist.«

»Selbst wenn es so wäre, bezweifle ich, ob er gerade diese Worte gewählt hätte.« Trents abschätzender Blick brachte Royce zum Schweigen. Die Erinnerung an seinen Vater beunruhigte ihn stets. Der ältere Royce, dessen Eltern noch Sklaven waren, als er geboren wurde, verkörperte das, was Neger heutzutage verächtlich als »Onkel Tom Nigger« bezeichneten. Der alte Mann hatte alles, was das Leben ihm brachte, heiter, frag- und klaglos hingenommen. Probleme, die über seinen beschränkten Horizont hinausgingen, berührten ihn kaum. Und dennoch hatte er, wie sein Verhältnis zu Warren Trent bewies, eine geistige Unabhängigkeit und eine Menschenkenntnis besessen, die zu tief blickte, als daß man sie als bloße Sklavenweisheit abtun konnte. Aloysius hatte seinen Vater innig geliebt, und manchmal verwandelte sich diese Liebe — so wie jetzt — in ein schmerzliches Sehnen. »Vielleicht hab’ ich die falschen Worte benutzt, aber das ändert nichts an ihrem Sinn.«

Warren Trent nickte, ohne sich dazu zu äußern, und zog seine altmodische Taschenuhr heraus. »Sagen Sie dem jungen McDermott, daß ich ihn sprechen möchte. Bitten Sie ihn herauf. Ich bin heute morgen ein bißchen müde.«

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Der Hotelbesitzer murmelte versonnen: »Mark Preyscott ist in Rom, wie? Vermutlich müßte ich ihn wohl anrufen.«

»Seiner Tochter lag sehr viel daran, daß er von der Sache nichts erfährt«, erwiderte Peter McDermott.

Die zwei saßen im üppig ausgestatteten Salon von Warren Trents Suite; der alte Mann lehnte in einem tiefen, bequemen Sessel, die Füße auf einen Schemel gestützt, Peter saß ihm gegenüber.

»Das entscheide immer noch ich«, polterte Warren Trent. »Wenn sie sich in meinem Hotel vergewaltigen läßt, muß sie die Folgen tragen.«

»Die Vergewaltigung haben wir im letzten Moment verhindert. Aber ich möchte gern herausbekommen, was sich vorher abgespielt hat.«

»Haben Sie das Mädchen heute morgen schon gesehen?«

»Nein. Miss Preyscott schlief noch, als ich bei ihr vorbeischaute. Ich habe ihr die Nachricht hinterlassen, daß ich mit ihr sprechen möchte, bevor sie nach Hause geht.«

Warren Trent seufzte und machte eine abschließende Handbewegung. »Schön, erledigen Sie das.« Sein Ton verriet, daß er von der Sache nichts mehr hören wollte. Es würde nicht mit Rom telefoniert, dachte Peter erleichtert.

»Ein anderes Problem, das ich auch gern ein für allemal erledigen würde, betrifft den Empfang.« Peter beschrieb den Zwischenfall mit Albert Wells und sah, wie Warren Trents Miene sich verfinsterte, als er den eigenmächtigen Zimmertausch erwähnte.

Der alte Mann knurrte: »Wir hätten den Raum schon vor Jahren schließen sollen. Vielleicht wär’s besser, wir täten es jetzt.«

»Ich glaube, das ist nicht nötig, vorausgesetzt, wir benutzen ihn nur im äußersten Notfall und machen den Gast darauf aufmerksam, auf was er sich einläßt.«

Warren Trent nickte. »Kümmern Sie sich darum.«

Peter zögerte. »Ich hätte in diesem Zusammenhang gern ein paar spezifizierte Anweisungen über Zimmertausch im allgemeinen erteilt. Wir hatten schon vorher Beschwerden deswegen, und meines Erachtens müßte man in aller Strenge darauf hinweisen, daß unsere Gäste nicht wie Möbelstücke herumgeschoben werden dürfen.«

»Beschränken Sie sich auf den einen Fall. Wenn ich allgemeine Instruktionen für nötig halte, erlasse ich sie selbst.«

Die knappe Zurechtweisung war ein typisches Beispiel dafür, was an der Geschäftsführung verkehrt war, dachte Peter resigniert. Alles war Stückwerk. Man begriff die Notwendigkeit nicht, Fehler bei der Wurzel zu packen und von Grund auf auszumerzen. »Mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon gab es auch Ärger. Die Herzogin wollte Sie persönlich sprechen.« Er erzählte von der Affäre mit den verschütteten Shrimps Creole und gab auch die Version des Kellners Sol Natchez wieder.

»Ich kenne das verdammte Frauenzimmer«, knurrte Warren Trent. »Sie gibt keine Ruhe, bevor der Kellner nicht hinausgeflogen ist.«

»Für eine Kündigung liegt meiner Meinung nach kein Grund vor.«

»Dann sagen Sie ihm, er soll für ein paar Tage bezahlten Urlaub nehmen und angeln gehen und sich im Hotel ja nicht blicken lassen. Und wenn er das nächste Mal was verschüttet, soll er dafür sorgen, daß es kochend heiß ist und daß er es der Herzogin über den Kopf gießt. Ich vermute, sie hat noch immer diese verdammten Köter.«

»Ja.« Peter lächelte.

In Louisiana war der Aufenthalt von Tieren in Hotelzimmern streng verboten. Im Fall der Croydons hatte sich Warren Trent bereit erklärt, die Anwesenheit der Bedlington-Terrier offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, unter der Bedingung, daß sie durch eine Hintertür hinein- und herausgeschmuggelt wurden. Die Herzogin jedoch stolzierte jeden Tag mit den Hunden provozierend durch die Hotelhalle. Zwei erzürnte Hundebesitzer, deren Lieblingen der Zutritt verwehrt worden war, hatten sich bereits nach dem Grund für diese Bevorzugung erkundigt.

»Ich hatte gestern nacht Scherereien mit Ogilvie«, berichtete Peter.

Der Gegenstoß kam schnell. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt, Sie sollen Ogilvie in Ruhe lassen. Er ist nur mir verantwortlich.«

»Es erschwert einem aber die Dinge, wenn man —«

»Sie haben gehört, was ich sage. Vergessen Sie Ogilvie!« Warren Trents Gesicht war rot, aber, wie Peter argwöhnte, mehr vor Verlegenheit als vor Ärger. Die Nachsicht, die Ogilvie zuteil wurde, war unsinnig, und der Hotelbesitzer wußte das. Womit mochte der Ex-Polizist seinen Arbeitgeber in der Hand haben?

Das Thema unvermittelt wechselnd, sagte Warren Trent: »Curtis O’Keefe trifft heute ein. Er wünscht zwei nebeneinanderliegende Suiten. Ich habe den Empfang bereits informiert. Aber es ist vielleicht besser, wenn Sie sich selbst um alles kümmern. Im übrigen möchte ich benachrichtigt werden, sobald er da ist.«

»Wird Mr. O’Keefe lange bleiben?«

»Keine Ahnung. Kommt drauf an.«

Einen Moment lang verspürte Peter eine Aufwallung von Mitgefühl für den älteren Mann. Was auch immer gegen die Art und Weise eingewandt werden konnte, in der das St. Gregory heute geleitet wurde, für Warren Trent war es mehr als ein Hotel; es war sein Lebenswerk. Er hatte mit angesehen, wie es aus kleinsten Anfängen zur Berühmtheit aufstieg, wie es sich aus einem ursprünglich bescheidenen Gebäude zu einem mächtigen Komplex entwickelte, der fast einen ganzen Wohnblock einnahm. Viele Jahre lang hatte das Hotel einen ausgezeichneten Ruf genossen; sein Name rangierte in den Staaten neben denen so renommierter Hotels wie des Biltmore oder des Palmer House in Chikago oder des St. Francis in San Franzisko. Es war gewiß schwer für Trent, sich mit der Tatsache abzufinden, daß das St. Gregory, trotz seines vormaligen Ansehens und Ruhms, mit den Zeiten nicht Schritt gehalten hatte. Und dabei war seine Rückständigkeit weder endgültig noch katastrophal, dachte Peter. Neue Geldmittel und eine energische Führung konnten Wunder wirken und vielleicht sogar dem Hotel seine alte Vorrangstellung wiedergeben. Aber wie die Dinge lagen, würde sowohl das Kapital als auch die Führung von außen kommen müssen — vermutlich durch Curtis O’Keefe. Und das erinnerte Peter wieder daran, daß seine eigenen Tage im Hotel wohl gezählt sein würden.

Der Hotelbesitzer fragte: »Wie sieht’s bei uns mit Kongressen aus?«

»Etwa die Hälfte der Chemiker ist bereits abgereist; der Rest geht heute. Die Leute von Gold Crown Cola sind da und auch schon untergebracht. Sie haben dreihundertzwanzig Zimmer genommen, was besser ist, als wir erwartet hatten, und wir haben die Lunch- und Dinnerzahlen entsprechend erhöht.« Als der ältere Mann beifällig nickte, fuhr Peter fort: »Der Kongreß amerikanischer Zahnärzte beginnt morgen. Aber eine ganze Reihe von Teilnehmern ist schon gestern eingetroffen, und heute werden noch mehr kommen. Insgesamt dürften sie zweihundertachtzig Zimmer belegen.«

Warren Trent grunzte befriedigt. Immerhin, dachte er, waren die Neuigkeiten nicht nur schlecht. Kongresse waren das tägliche Brot des Hotelgeschäfts, und zwei auf einmal waren eine Hilfe, wenn sie auch leider nicht genügten, um andere kürzliche Verluste wettzumachen. Dennoch war die Zahnärztetagung ein Gewinn. Der junge McDermott hatte auf einen glühheißen Tip, daß frühere Abmachungen des Zahnärztekongresses hinfällig geworden waren, prompt reagiert, war nach New York geflogen und hatte den Veranstaltern mit Erfolg New Orleans und das St. Gregory verkauft.

»Gestern waren wir voll belegt«, sagte Warren Trent. Er fügte hinzu: »In unserem Gewerbe heißt’s entweder schlemmen oder fasten. Können wir die heute eintreffenden Gäste unterbringen?«

»Ich hab’ die Zahlen gleich heute morgen nachgeprüft. An sich müßten genügend Zimmer frei werden, aber der Spielraum ist äußerst knapp. Wir haben uns bei den Vorbestellungen ein bißchen übernommen.«

Wie alle Hotels, akzeptierte das St. Gregory regelmäßig mehr Vorbestellungen, als es sich nach dem verfügbaren Raum eigentlich leisten konnte. Gleich allen anderen Hotels spekulierte es dabei auf die Tatsache, daß von den Leuten, die sich Zimmer reservieren ließen, stets einige wegblieben, und so bestand das Problem darin, den Prozentsatz derjenigen, die ihre Vorbestellungen nicht beanspruchen würden, richtig abzuschätzen. Meistens bewirkten Erfahrung und Glück, daß die Rechnung glatt aufging und sämtliche Zimmer belegt waren — der Idealzustand für jedes Hotel. Aber gelegentlich stimmte die Voraussage nicht, und dann geriet das Hotel in ernstliche Schwierigkeiten.

Es gab keinen kläglicheren Moment im Leben eines Hoteldirektors, als wenn er empörten Möchtegern-Gästen, die bestätigte Reservierungen hatten, erklären mußte, daß keine Zimmer mehr frei waren. Es schmerzte ihn als Mitmensch und auch, weil er sich voller Verzweiflung darüber klar war, daß die Leute, die er wegschickte, nie wieder — wenn es sich irgendwie vermeiden ließ — zu ihm zurückkommen würden.

Peter hatte seine schlimmste Erfahrung auf diesem Gebiet gemacht, als ein Bäckerkongreß beschloß, einen Tag länger in New York zu bleiben, damit einige seiner Teilnehmer eine Dampferpartie machen und Manhattan im Mondschein genießen konnten. Zweihundertfünfzig Bäcker mit ihren Frauen verlängerten ihren Aufenthalt, unseligerweise, ohne das Hotel darüber zu informieren, das fest mit ihrer Abreise rechnete, weil es die Zimmer für einen Ingenieurkongreß brauchte. Bei der Erinnerung an das entsetzliche Durcheinander lief Peter noch jetzt ein kalter Schauer über den Rücken. In der Hotelhalle hatten Hunderte von erbosten Ingenieuren mitsamt Frauen Lager bezogen, und viele von ihnen schwenkten Vorbestellungen, die schon zwei Jahre vorher eingereicht worden waren. Da auch die anderen Hotels der Stadt überfüllt waren, wurden die Neuankömmlinge schließlich auf Motels in den New Yorker Außenbezirken verteilt, bis zum nächsten Tag, an dem die Bäcker unschuldig und ahnungslos das Feld räumten. Das Hotel aber mußte nicht nur die enormen Taxispesen der Ingenieure bezahlen, sondern auch eine beträchtliche Summe in bar, um einen Prozeß zu vermeiden, und verlor dabei mehr, als die beiden Kongresse eingebracht hatten.

Warren Trent zündete sich eine Zigarre an und bot McDermott mit einer Handbewegung Zigaretten an. Peter nahm sich eine und sagte: »Ich habe mit dem Roosevelt gesprochen. Falls wir heute abend ins Gedränge kommen, können sie uns mit etwa dreißig Zimmern aushelfen.« Diese Aussicht hatte etwas Tröstliches, dachte er — wie ein geheimer Trumpf, der aber nur im äußersten Notfall ausgespielt werden durfte. Selbst scharfe Konkurrenten halfen einander in so einer Krise, weil keiner wußte, wann er selbst in Bedrängnis geraten würde.

»Gut«, sagte Warren Trent, eine Rauchwolke über sich. »Und wie sind die Aussichten für den Herbst?«

»Enttäuschend. Ich habe Ihnen ein Memorandum geschickt über die zwei großen Gewerkschaftstagungen, die uns durch die Lappen gegangen sind.«

»Warum?«

»Auf den Grund habe ich Sie schon früher hingewiesen. Wir halten an der Rassentrennung fest. Damit verstoßen wir gegen das Bürgerrechtsgesetz, und das paßt den Gewerkschaften nicht.« Peter sah unwillkürlich zu Aloysius Royce hinüber, der gerade hereingekommen war und einen Stapel Zeitschriften ordnete.

Ohne aufzublicken, sagte der junge Neger: »Bemühen Sie sich nicht, meine Gefühle zu schonen, Mistuh McDermott« — Royce sprach in dem gleichen übertriebenen Tonfall wie in der Nacht zuvor —, »wir Farbigen sind längst an so etwas gewöhnt.«

Warren Trent, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, brummte verdrossen: »Spielen Sie nicht den Clown.«

»Ja, Sir!« Royce ließ seine Arbeit im Stich und wandte sich den beiden anderen zu. Seine Stimme klang wieder normal. »Aber ich will Ihnen folgendes sagen: Die Gewerkschaften handeln so, weil sie ein soziales Gewissen haben. Und sie sind nicht die einzigen. Noch mehr Kongresse und auch ganz einfache Leute werden so lange wegbleiben, bis das St. Gregory und andere Hotels zugeben, daß die Zeiten sich geändert haben.«

»Antworten Sie ihm«, sagte Warren Trent zu Peter McDermott und wies auf Royce. »Hier, in diesen vier Wänden, nehmen wir kein Blatt vor den Mund.«

»Zufällig bin ich der gleichen Meinung wie er«, antwortete Peter ruhig.

»Und warum, Mr. McDermott?« höhnte Royce. »Weil Sie denken, es ist besser fürs Geschäft? Weil’s Ihnen die Arbeit erleichtert?«

»Das sind gute Gründe. Und wenn’s Ihnen Spaß macht, sie für die einzigen zu halten, dann hab’ ich nichts dagegen.«

Warren Trent schlug mit der Hand heftig auf die Armlehne des Sessels. »Die Gründe sind unwichtig! Viel wichtiger ist, daß ihr verdammte Narren seid — alle beide.«

Es war eine immer wieder auftauchende Frage. Obwohl in Louisiana Hotels, die zu Konzernen gehörten, die Rassentrennung schon vor Monaten nominell aufgehoben hatten, wehrten sich mehrere Unabhängige — angeführt von Warren Trent und dem St. Gregory — noch immer gegen die Änderung. Die meisten fügten sich für kurze Zeit dem Bürgerrechtsgesetz und kehrten dann, sobald die erste Aufregung sich gelegt hatte, in aller Stille zu ihrer seit langem bestehenden Politik der Rassentrennung zurück. Trotz mehrerer anhängiger Musterprozesse hatte es ganz den Anschein, als könnten die Gegner des Gesetzes, unterstützt von starken lokalen Kräften, einen jahrelangen Stellungskrieg durchhalten.

»Nein!« Warren Trent drückte erbost seine Zigarre aus. »Was immer auch sonstwo in der Sache geschieht, ich sage, wir sind hier noch nicht reif dafür. Die Gewerkschaftskongresse haben wir also verloren. Na schön, dann müssen wir uns eben auf den Hosenboden setzen und uns was anderes einfallen lassen.«

___________

Vom Salon aus hörte Warren Trent, wie sich die äußere Tür hinter Peter McDermott schloß und wie die Schritte des jungen Negers in den kleinen, mit Büchern vollgestopften Raum zurückkehrten, der sein privater Bereich war. In wenigen Minuten würde Royce, wie er es jeden Tag um diese Zeit tat, zu einer Vorlesung gehen.

Es war sehr still in dem großen Salon; nur die Klimaanlage rauschte, und gelegentlich verirrte sich ein Laut, der die dicken Wände und isolierten Fenster durchdrang, von draußen herein. Sonnenstrahlen schoben sich zollweise über den mit Teppichen ausgelegten Fußboden, und während er sie beobachtete, spürte Warren Trent, wie stark sein Herz klopfte — eine Folge des Zorns, der ihn vor wenigen Minuten überfallen hatte. Das war vermutlich ein Warnsignal, das er häufiger beachten sollte. Aber heutzutage, so schien es ihm, enttäuschten ihn so viele Dinge und machten es ihm schwer, seine Gefühle zu beherrschen, und noch schwerer, Schweigen zu bewahren. Vielleicht entsprangen diese Ausbrüche purer Reizbarkeit — der Reizbarkeit des Alters. Aber der tiefere Grund war wohl doch die Empfindung, daß ihm soviel entglitt, für immer aus seiner Reichweite entschwand. Abgesehen davon, hatte er von jeher zu Wutanfällen geneigt — außer in jenen kurzen Jahren, in denen Hester ihm seine Heftigkeit abgewöhnte und ihn Geduld und Humor lehrte und er für eine Weile ihren Rat befolgt hatte. Während er still dasaß, peinigte ihn die Erinnerung. Es schien so lange her! Vor über dreißig Jahren hatte er sie als Jungvermählte über die Schwelle eben dieses Raumes getragen. Und wie kurz die Zeit war, die sie miteinander verlebt hatten: nur ein paar Jahre, unendlich glückliche Jahre, bis Hester ganz plötzlich an der spinalen Kinderlähmung erkrankte. Die Krankheit tötete sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und Warren Trent blieb trauernd und allein zurück mit dem Rest seines Lebens noch vor sich — und mit dem St.-Gregory-Hotel.

Es gab nur wenige im Hotel, die sich noch an Hester erinnerten, und sollten sich ein paar von den alten Angestellten ihrer doch entsinnen, dann nur ganz verschwommen und nicht, wie Warren Trent selbst sich ihrer entsann: Für ihn war sie eine süße Frühlingsblume, die ihm seine Tage sanft und sein Leben reich gemacht hatte wie sonst niemand davor oder danach.

In der Stille schien es ihm, als käme eine leichte rasche Bewegung und das Rascheln von Seide von der Tür hinter ihm. Er wandte den Kopf, aber die Erinnerung hatte ihm einen Streich gespielt. Der Raum war leer, und — was ihm selten geschah — die Augen wurden ihm feucht.

Er erhob sich schwerfällig und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sessel. Als er zum Fenster humpelte, bohrte sein Ischias wie ein Messer in seiner Hüfte. Er blickte über die Dachgiebel des Französischen Viertels — des Vieux Carré, wie es die Leute neuerdings wieder nannten — zum Jackson Square und zu den in der Sonne schimmernden Türmen der Kathedrale hinüber. Jenseits davon war der wirbelnde lehmige Mississippi, und inmitten des Stromes wartete eine Reihe vertäut liegender Schiffe auf einen freien Platz an einem der Kais und auf das Löschen. Das war ein Zeichen der Zeit, dachte er. Seit dem achtzehnten Jahrhundert war New Orleans zwischen Armut und Reichtum hin und her gependelt. Dampfschiffe, Eisenbahn, Baumwolle, Sklavenhandel, die Befreiung der Sklaven, Kanäle, Kriege, Touristen hatten der Stadt abwechselnd Unglück und Wohlstand gebracht. Im Moment gab es wieder einmal gute Zeiten — aber für das St.-Gregory-Hotel anscheinend nicht.

War es eigentlich wirklich so wichtig — wenigstens für ihn selbst? Lohnte es sich überhaupt, um das Hotel zu kämpfen? Warum nicht aufgeben, verkaufen? Curtis O’Keefe würde ihm einen fairen Preis bieten. Der O’Keefe-Konzern war dafür bekannt, und Trent selbst würde gut dabei wegkommen. Nachdem er die fällige Hypothek zurückgezahlt und die kleineren Aktionäre abgefunden hatte, würde ihm genügend Geld übrigbleiben, um sich für den Rest seines Lebens so einzurichten, wie es ihm beliebte.

Kapitulation: Vielleicht war das die Lösung. Kapitulation vor den geänderten Zeiten. Ein Hotel war schließlich doch nur so und so viele Backsteine und Mörtel. Er hatte versucht, mehr daraus zu machen, war aber am Ende gescheitert. Warum also nicht aufgeben?

Und doch … falls er sich dazu entschloß, was blieb ihm dann eigentlich noch?

Nichts. Ihm blieben nicht einmal die Geister, die durch diese Räume wandelten. Er blieb nachdenklich am Fenster stehen, mit seinen Blicken die Stadt liebkosend, die sich vor ihm ausbreitete. Auch sie hatte Umwälzungen erlebt, war französisch, spanisch und amerikanisch gewesen und hatte sich dennoch irgendwie immer ihr eigenes Gesicht bewahrt — ihre einmalige Individualität in einer Epoche der Gleichmacherei.

Nein! Er würde nicht verkaufen. Noch nicht. Solange Hoffnung bestand, würde er aushalten. Er hatte noch vier Tage, um das Geld für die Hypothek irgendwo aufzutreiben, und abgesehen davon waren die gegenwärtigen Verluste eine vorübergehende Sache. Bald würde sich das Blatt wenden und das St. Gregory würde wieder zahlungsfähig werden und unabhängig bleiben.

Von seiner Zuversicht erfüllt, schritt er quer durch den Raum zum gegenüberliegenden Fenster. Seine Augen erhaschten hoch oben am Himmel das Aufleuchten eines Flugzeuges, das von Norden kam. Es war eine Düsenmaschine, die an Höhe verlor und zur Landung auf dem Moisant-Flughafen ansetzte. Er fragte sich, ob sie Curtis O’Keefe an Bord hatte.

3

Als Christine Francis ihn kurz nach halb zehn aufspürte, stand Sam Jakubiec, der untersetzte Kreditmanager, ein Mann mit beginnender Glatze, im hinteren Teil des Empfangs und kontrollierte, wie jeden Tag, die Konten der Hotelgäste. Seine hastigen, nervösen Bewegungen hatten schon manche Leute zu der irrigen Ansicht verführt, daß er bei seiner Arbeit nicht allzu gründlich sei. In Wirklichkeit jedoch gab es fast nichts, was dem scharfen, von einem glänzenden Gedächtnis unterstützten Verstand des Kreditmanagers entging, eine Tatsache, die das Hotel vor faulen Kunden bewahrt und ihm den Verlust von Tausenden von Dollar erspart hatte.

Seine Finger tanzten über den Buchungsautomaten, während er durch die dicken Brillengläser nach Name und Zimmernummer spähte, die einzelnen Rechnungsposten überprüfte und sich dann und wann auf einem Block Notizen machte. Ohne innezuhalten, blickte er kurz hoch und gleich wieder auf seine Arbeit. »In ein paar Minuten bin ich fertig, Miss Francis.«

»Ich kann warten. Irgendwas Interessantes heute morgen?« Jakubiec nickte. »Einiges.«

»Zum Beispiel?«

Er machte sich wieder eine Notiz. »Zimmer 512, H. Baker. Traf um acht Uhr zehn ein, bestellte um acht Uhr zwanzig eine Flasche Whisky und ließ sie auf die Rechnung setzen.«

»Vielleicht putzt er sich die Zähne damit.«

Mit vorgebeugtem Kopf nickte Jakubiec. »Vielleicht.«

Es war jedoch wesentlich wahrscheinlicher, dachte Christine, daß H. Baker in der Nummer 512 ein Nassauer war. Jeder Gast, der gleich nach der Ankunft eine Flasche Alkohol bestellte, erregte das Mißtrauen des Kreditmanagers. Die meisten Neuankömmlinge, die — nach einer Reise oder einem anstrengenden Tag — rasch etwas trinken wollten, ließen sich ein Mixgetränk von der Bar heraufschicken. Leute, die gleich ganze Flaschen bestellten, waren oft auf einer Sauftour und hatten vielleicht nicht die Absicht zu zahlen oder konnten es nicht.

Christine wußte auch, was als nächstes folgen würde. Jakubiec würde eins der Zimmermädchen bitten, unter einem Vorwand in die Nummer 512 zu gehen und den Gast und sein Gepäck in Augenschein zu nehmen. Zimmermädchen wußten, wonach sie Ausschau halten mußten. Sie hatten festzustellen, ob der Gast über vernünftige Gepäckstücke und gute Bekleidung verfügte, und war beides vorhanden, dann würde sich der Kreditmanager vermutlich zunächst damit begnügen, das Konto des Gastes im Auge zu behalten. Manchmal mieteten sich solide achtbare Bürger in einem Hotel ein, um sich in aller Ruhe betrinken zu können, und solange sie zahlungsfähig waren und niemanden belästigten, war das ihre Privatangelegenheit.

Stellte sich jedoch heraus, daß der Gast weder über einen Koffer noch andere substantielle Dinge verfügte, dann pflegte Jakubiec persönlich bei ihm vorzusprechen und diskret und höflich auf den Busch zu klopfen. Erwies sich der Gast als kreditwürdig, oder erklärte er sich zu einer Anzahlung bereit, dann trennten sie sich in aller Freundschaft. Bestätigte sich jedoch der ursprüngliche Verdacht, dann konnte der Kreditmanager sehr massiv werden, und der Gast flog hinaus, bevor eine hohe Rechnung zusammenkam.

»Hier ist noch einer«, sagte Sam Jakubiec zu Christine. »Sanderson, Zimmer 1207. Übertrieben große Trinkgelder.«

Sie betrachtete die Karte, die er in der Hand hielt. Auf ihr waren zwei Posten für Bemühungen des Zimmerkellners in Rechnung gestellt, und zwar je ein Posten über ein Dollar 50 und zwei Dollar. Beide Male war ein Trinkgeld von zwei Dollar hinzugefügt und mit der Unterschrift bestätigt worden.

»Leute, die nicht zu zahlen beabsichtigen, schreiben oft die größten Trinkgelder auf«, sagte Jakubiec. »Übrigens reist er sowieso heute ab.«

Wie bei dem anderen zweifelhaften Fall, würde sich der Kreditmanager auch hier behutsam vortasten. Ehrliche Gäste nicht zu vergrämen gehörte auch zu seinem Job und war ebenso wichtig wie das Verhindern von Betrügereien. Nach jahrelanger Erfahrung vermochte ein geschickter Kreditmanager normalerweise ganz instinktiv die Wölfe von den Schafen zu trennen, aber vor Irrtümern war auch er nicht gefeit — zum Schaden des Hotels. Das war der Grund, wie Christine sehr wohl wußte, warum Kreditmanager gelegentlich auch in zweifelhaften Fällen Kredit gewährten oder Schecks annahmen und sich damit auf einen Seiltanz einließen. Die meisten Hotels — sogar die vornehmsten — kümmerten sich nicht um die Moral ihrer Gäste, weil sie wußten, daß sie andernfalls sehr viel Kundschaft einbüßen würden. Ihnen ging es letzten Endes nur um die Zahlungsfähigkeit des Gastes. Dafür war der Kreditmanager da.

Mit einer einzigen flinken Bewegung legte Sam Jakubiec die Kontenkarten an ihren Platz zurück und schob den Karteikasten zu. »Also, was kann ich für Sie tun?« fragte er.

»Wir haben eine Privatpflegerin für die Nummer 1410 engagiert.« Christine berichtete kurz über Wells’ nächtlichen Anfall. »Es beunruhigt mich ein bißchen, ob Mr. Wells sich das leisten kann, und ich bin mir nicht sicher, ob er sich klar darüber ist, wieviel das kostet.« Sie sagte natürlich nicht, daß es ihr mehr um Mr. Wells ging als um das Hotel.

Jakubiec nickte. »Privatpflege geht ins Geld.« Sie verließen zusammen den Empfang und begaben sich quer durch die nun stark belebte Halle zum Büro des Kreditmanagers, einem kleinen quadratischen Raum hinter dem Portierschalter. Eine rundliche brünette Sekretärin arbeitete direkt vor einer Wand aus Karteifächern.

»Madge«, sagte Sam Jakubiec, »sehen Sie doch mal nach, was wir über Wells, Albert, da haben.«

Ohne zu antworten, schob sie einen Kasten zu, zog einen anderen auf und blätterte die Karten durch. Dann sagte sie in einem einzigen Atemzug: »Albuquerque, Coon Rapids, Montreal, suchen Sie sich den Richtigen aus.«

»Montreal«, sagte Christine, und Jakubiec nahm die Karte, die ihm die Sekretärin reichte, und überflog sie. »Scheint in Ordnung zu sein. Wohnte sechsmal bei uns. Zahlte bar. Eine kleine Unstimmigkeit, die offenbar ausgebügelt wurde.«

»Darüber bin ich im Bilde. Der Fehler lag bei uns.«

Der Kreditmanager nickte. »Meiner Meinung nach besteht kein Grund zur Sorge. Ehrliche Leute hinterlassen ebenso Spuren ihres Verhaltens wie unehrliche.« Er gab der Sekretärin die Karte zurück, und sie ordnete sie wieder ein. Die Karteifächer enthielten Unterlagen über sämtliche Gäste, die in den letzten Jahren im Hotel abgestiegen waren. Sam Jakubiec fügte hinzu: »Aber ich werde mich trotzdem mit der Sache befassen und zunächst mal feststellen, wie teuer die Pflegerin kommt, und danach mit Mr. Wells sprechen. Falls er knapp dran ist, können wir ihm vielleicht aushelfen und mit dem Rückzahlen Zeit lassen.«

»Danke, Sam.« Christine war erleichtert, denn sie wußte, daß Jakubiec, der faulen Kunden gegenüber unerbittlich war, in einem echten Notfall auch hilfsbereit und mitfühlend sein konnte.

Als sie auf die Tür zuging, rief der Kreditmanager ihr nach: »Miss Francis, wie sieht’s ein paar Treppen höher aus?«

»Sie verlosen das Hotel, Sam. Eigentlich wollte ich’s Ihnen nicht erzählen, aber Sie haben’s mir abgeluchst.« Sie lächelte.

»Sagen Sie ihnen, wenn sie meine Nummer ziehen, sollen sie sie bis zum nächsten Mal zurückstellen. Ich hab’ so schon genug Sorgen.«

Christine vermutete, daß der Kreditmanager trotz seines unbekümmerten Tons ebenso um seinen Posten bangte wie viele andere. Die jeweilige finanzielle Lage des Hotels war zwar angeblich eine vertrauliche Angelegenheit, blieb jedoch kaum jemals geheim, und auch diesmal hatte man nicht verhindern können, daß sich die Neuigkeit von den gegenwärtigen Schwierigkeiten ausbreitete wie eine ansteckende Krankheit.

Sie durchquerte die Halle wieder, beantwortete Guten-Morgen-Grüße von Boys, von der Blumenhändlerin des Hotels und von einem Direktionsassistenten, der selbstherrlich hinter seinem Schreibtisch thronte, passierte die Fahrstühle und lief rasch die geschwungene mittlere Treppe hinauf ins Zwischengeschoß.

Der Anblick des Direktionsassistenten hatte sie an seinen Vorgesetzten Peter McDermott erinnert. Seit gestern nacht hatte sie sehr viel über ihn nachgedacht. Sie fragte sich, ob ihr Zusammensein die gleiche Wirkung auf ihn gehabt haben mochte. Dann und wann ertappte sie sich bei dem Wunsch, es möchte so sein, aber jedesmal warnte eine innere Stimme sie vor einer überstürzten Beziehung. In den Jahren, in denen sie gelernt hatte allein zu sein, hatte es Männer in Christines Leben gegeben, aber sie hatte keinen von ihnen ernst genommen. Manchmal dachte sie, daß ein Instinkt sie vor allzu enger Bindung an andere Menschen schützte, um ihr den Schmerz eines erneuten Verlustes zu ersparen. Trotzdem fragte sie sich in diesem Moment, wo Peter sein und was er tun mochte; und sie sagte sich vernünftig, daß sie einander im Laufe des Tages bestimmt früher oder später begegnen würden.

Als sie wieder in ihrem eigenen Büro im Verwaltungstrakt war, warf sie einen Blick in Warren Trents Büro, aber der Hotelbesitzer hatte seine Wohnung in der 15. Etage noch nicht verlassen. Auf ihrem Schreibtisch stapelte sich die Morgenpost, und mehrere Telefonanrufe mußten so bald wie möglich erledigt werden. Sie beschloß zunächst die Angelegenheit zu Ende zu führen, deretwegen sie beim Kreditmanager gewesen war. Sie griff nach dem Telefonhörer und verlangte Zimmer 1410.

Eine weibliche Stimme — wahrscheinlich die der Pflegerin — meldete sich. Christine nannte ihren Namen und erkundigte sich höflich nach dem Befinden des Patienten.

»Mr. Wells hatte eine ruhige Nacht«, erwiderte die Stimme, »und sein Zustand hat sich gebessert.«

Christine fragte sich verwundert, warum manche Pflegerinnen sich veranlaßt fühlten, ihre Auskünfte im Ton offizieller Bulletins zu erteilen, und sagte: »In diesem Fall kann ich vielleicht gleich mal vorbeischauen.«

»Vorläufig geht es leider nicht.« Man hatte den Eindruck, eine Wächterhand werde abwehrend erhoben. »Dr. Aarons besucht heute morgen den Patienten, und ich möchte mich auf seinen Besuch vorbereiten.«

Es klang wie ein Staatsbesuch dachte Christine. Die Vorstellung, daß der pompöse Dr. Aarons einer ebenso pompösen Pflegerin seine Aufwartung machte, belustigte sie insgeheim. Laut sagte sie: »Gut. Würden Sie dann Mr. Wells bitte ausrichten, daß ich angerufen habe und ihn am Nachmittag aufsuchen werde?«

4

Die unergiebige Besprechung in der Suite des Hotelbesitzers hinterließ in Peter McDermott ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Alle Unterredungen mit Warren Trent verliefen so, dachte er resigniert, als Aloysius Royce hinter ihm die Tür geschlossen hatte und er den Korridor des fünfzehnten Stockwerkes entlangeilte. Wie schon oft wünschte er sich glühend, man würde ihm sechs Monate Zeit und freie Hand bei der Verwaltung des Hotels geben.

Unweit der Fahrstühle blieb er stehen und erkundigte sich über einen Hausanschluß beim Empfang, welche Zimmer für Curtis O’Keefe reserviert worden waren. Er erfuhr, daß es sich um zwei nebeneinanderliegende Suiten in der zwölften Etage handelte, und benutzte die Personaltreppe, um zwei Stockwerke tiefer zu steigen. Wie alle großen Hotels, unterschlug das St. Gregory die dreizehnte Etage und bezeichnete sie statt dessen als vierzehnte.

Die vier Türen der zwei reservierten Suiten standen offen, und aus dem Inneren tönte Peter das Summen eines Staubsaugers entgegen. Zwei Zimmermädchen arbeiteten fleißig unter den kritischen Blicken von Mrs. Blanche du Quesnay, der scharfzüngigen, aber äußerst tüchtigen Ersten Hausdame des St. Gregory, einer rothaarigen Mittvierzigerin. Als Peter eintrat, wandte sie sich um und funkelte ihn mit ihren klugen Augen an.

»Dacht ich mir’s doch, daß einer von euch Männern hier aufkreuzen würde! Als ob ich nicht selbst imstande wäre, nach dem Rechten zu sehen, und nicht von ganz allein wüßte, daß alles tipp topp sein muß für den hohen Gast!«

Peter grinste. »Regen Sie sich ab, Mrs. Q. Mr. Trent hat mich gebeten, hier vorbeizuschauen.« Er mochte die resolute Frau gern; sie war eine der zuverlässigsten Mitarbeiterinnen. Die beiden Zimmermädchen lächelten. Er zwinkerte ihnen zu und sagte zu Mrs. du Quesnay: »Wenn Mr. Trent allerdings geahnt hätte, daß Sie sich persönlich um alles kümmern, wäre er völlig beruhigt gewesen.«

»Sie sind ein Schmeichler. Falls uns in der Wäscherei die Schmierseife ausgeht, werden wir Sie holen«, erwiderte die Hausdame mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, während sie die Kissen zweier Sofas sachkundig zurecht klopfte.

Er lachte. »Sind die Blumen und der Obstkorb bestellt?« Der Hotelmagnat war des unvermeidlichen Obstkorbs vermutlich schon längst überdrüssig; er war die Begrüßungsformel aller Hotels für sehr prominente Gäste. Aber sein Fehlen konnte möglicherweise unangenehm auffallen.

»Sie sind auf dem Weg nach oben.« Mrs. du Quesnay blickte auf und fügte anzüglich hinzu: »Wie ich gehört hab’, bringt sich Mr. O’Keefe seine Blumen selbst mit, und nicht mal in Vasen.«

Peter verstand die Anspielung. Sie bezog sich darauf, daß Curtis O’Keefe fast immer in Damenbegleitung reiste, wobei die Damen allerdings häufig wechselten. Er überhörte sie diskret.

Mrs. du Quesnay warf ihm einen blitzschnellen schnippischen Blick zu. »Sehen Sie sich ruhig um. Das kostet nichts.«

Beide Suiten waren, wie Peter bei seinem Rundgang feststellte, einer gründlichen Säuberung unterzogen worden. Auf den ordentlich ausgerichteten Möbeln — in Weiß und Gold mit einem französischen Motiv — lag kein Stäubchen. Bettwäsche in den Schlafzimmern und Frottiertücher im Bad waren makellos rein und korrekt gefaltet. Waschbecken und Wanne schimmerten in mattem trockenem Glanz, die Toilettensitze waren abgeseift und poliert, die Deckel zugeklappt. Spiegel und Fenster funkelten. Alle Lampen funktionierten, desgleichen die Rundfunk-Fernseh-Kombination. Die Klimaanlage reagierte auf jede Veränderung des Thermostats, obwohl die Außentemperatur nur noch zwanzig Grad betrug. Alles in Ordnung, dachte Peter, als er in der zweiten Suite einen letzten Blick in die Runde warf.

Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Es fiel ihm ein, daß Curtis O’Keefe betont fromm war und gelegentlich seine Frömmigkeit zur Schau zu stellen liebte. Der Hotelier betete oft und meistens in aller Öffentlichkeit. Gerüchte behaupteten, daß er, wenn ihn ein neues Hotel interessierte, darum betete wie ein Kind um ein Spielzeug und daß vor den Verhandlungen ein privater Gottesdienst stattfand, dem die Direktoren des O’Keefe-Konzerns pflichtschuldigst beiwohnten. Peter erinnerte sich daran, daß der Chef eines konkurrierenden Hotelkonzerns einmal boshaft gesagt hatte. »Curtis verpaßt keine Gelegenheit zum Beten. Deshalb pinkelt er auch im Knien.«

Dieser Gedanke veranlaßte Peter, die Gideon-Bibeln zu inspizieren — in jedem Raum eine. Nachher war er froh, daß er darauf gekommen war.

Wie immer, wenn sie seit längerer Zeit im Gebrauch waren, waren die ersten Seiten mit den Telefonnummern von Call-Girls bedeckt, da — wie jeder erfahrene Reisende wußte — eine Gideon-Bibel der Ort war, wo man zuerst nach derlei Informationen suchte. Peter hielt Mrs. du Quesnay stumm die zwei Bücher unter die Nase. Sie schnalzte mit der Zunge. »Mr. O’Keefe wird die beiden Exemplare wohl nicht brauchen. Ich lasse neue heraufschicken.«

Die Bibeln unter den Arm klemmend, musterte sie Peter forschend. »Was Mr. O’Keefe mag oder nicht mag, wird wohl künftig hier den Ausschlag geben? Ich meine, ob Leute ihren Job behalten oder nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Da bin ich überfragt, Mrs. Q. Ich weiß darüber genausowenig wie Sie.«

Als er die Suite verließ, spürte er, wie ihm ihre Augen folgten. Mrs. du Quesnay unterhielt von ihrem Verdienst einen invaliden Ehemann, und jede Veränderung, die ihre Stellung bedrohte, war für sie ein Grund zu echter Sorge. Er empfand aufrichtige Sympathie für sie, als er im Lift zum Zwischengeschoß hinunterfuhr.

Im Fall eines Besitzerwechsels würde sich vermutlich den jüngeren und intelligenteren Angehörigen des Personals die Gelegenheit bieten, zu bleiben. Er nahm an, daß die meisten von ihnen die Chance ergreifen würden, da der O’Keefe-Konzern für sein gutes Betriebsklima bekannt war. Ältere Angestellte jedoch, und natürlich vor allem solche, die im Dienst nachlässig geworden waren, hatten Grund zur Beunruhigung.

Als Peter McDermott sich dem Verwaltungstrakt näherte, begegnete er dem Chefingenieur Doc Vickery. Er blieb stehen und sagte: »Fahrstuhl Nummer vier hat gestern nacht Schwierigkeiten gemacht. Ich hab’ mich gefragt, ob Sie’s schon wissen.«

Der Chef nickte verdrießlich mit seinem kahlen gewölbten Schädel. »Es ist ein undankbares Geschäft, mit Maschinen umzugehen, in die man von Rechts wegen einen Haufen Geld stecken müßte.«

»Ist es denn wirklich so schlimm?« Das Budget für die technische Abteilung war unlängst gekürzt worden, und Peter hörte zum erstenmal von ernsthaften Schwierigkeiten mit den Fahrstühlen.

Doc Vickery schüttelte den Kopf. »Falls Sie meinen, ob wir einen schweren Unfall riskieren, ist die Antwort nein. Ich passe auf die Sicherungsvorrichtungen auf wie ein Luchs. Aber wir hatten schon eine Reihe kleinerer Pannen, und irgendwann wird’s auch mal zu einer größeren kommen. Es brauchen bloß ein paar Kabinen einige Stunden lang steckenbleiben, und der gesamte Hotelbetrieb geht aus den Fugen.«

Peter nickte. Wenn nichts Schlimmeres zu erwarten war, hielt er es für unnötig, sich übermäßig aufzuregen. »Wieviel würden Sie brauchen?«

Der Chef spähte über seine dickrandige Brille. »Fürs erste einhunderttausend Dollar. Wenn ich die hätte, würde ich die alten Fahrstühle rausreißen und neue einbauen, und ein paar andere Dinge würde ich auch ersetzen.«

Peter stieß einen leisen Pfiff aus.

»Ich will Ihnen was sagen«, erklärte der Chef. »Gute Maschinen sind was Schönes und haben manchmal beinahe was Menschliches. Die meiste Zeit leisten sie mehr, als man ihnen zugetraut hat, und danach, wenn man sie zusammenflickt und ihnen gut zuredet, holt man noch immer eine Menge Arbeit aus ihnen heraus. Aber irgendwann kommt ein toter Punkt, wo’s nicht mehr weitergeht, egal wie sehr man selbst — und die Maschine — es auch möchte.«

Peter sann noch über die Worte des Chefs nach, als er sein Büro betrat. Wo mochte der tote Punkt für ein ganzes Hotel liegen? Für das St. Gregory war er bestimmt noch nicht gekommen, aber er vermutete, daß die derzeitige Geschäftsführung den ihren schon längst erreicht hatte.

Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Post, Berichte und telefonische Mitteilungen. Er griff nach der obersten und las: ‘Miss Marsha Preyscott hat zurückgerufen und will in Zimmer 555 warten, bis sie von Ihnen hört.’ Die Notiz erinnerte ihn an seinen Vorsatz, mehr über die nächtlichen Ereignisse in der Nummer 1126-7 herauszufinden.

Noch eins: Er mußte möglichst bald bei Christine vorbeischauen. Einige kleinere Dinge, die allerdings nicht wichtig genug waren, um bei der Unterredung heute morgen zur Sprache zu kommen, bedurften einer Rückfrage bei Warren Trent. Gleich darauf zankte er sich grinsend aus: »Hör auf, dir was vorzumachen! Du möchtest sie sehen, und warum auch nicht?«

Während er darüber nachdachte, was er als erstes tun sollte, schrillte das Telefon. Es war der Empfangschef. »Ich dachte mir, Sie würden es wissen wollen«, sagte er. »Mr. Curtis O’Keefe ist eben angekommen.«

5

Curtis O’Keefe schoß in die geschäftige gewölbte Hotelhalle wie ein Pfeil, der einen Apfel durchbohrt. Und der Apfel war leicht angefault, dachte er kritisch. Mit den Augen des erfahrenen Hoteliers sah er die faulen Stellen mit einem Blick. Winzige, aber bedeutsame Anzeichen zeigten ihm, daß das Hotel schlecht geführt wurde. Eine auf einem Sessel liegengebliebene Zeitung, die nicht weggeräumt worden war; ein halbes Dutzend Zigarettenstummel in einer Sandurne bei den Fahrstühlen; der fehlende Knopf an der Uniform eines Boys; zwei ausgebrannte Birnen im Kronleuchter an der Decke. Vor dem Eingang auf der St. Charles Avenue schwatzte der uniformierte Türsteher mit einem Zeitungsverkäufer, umwogt vom Strom der Gäste und Passanten. Ein älterer Direktionsassistent saß vor sich hin brütend hinter seinem Schreibtisch und schien nichts von alledem zu bemerken.

Hätte sich in einem Hotel des O’Keefe-Konzerns das Unwahrscheinliche ereignet, daß all diese Mängel zur gleichen Zeit aufgetreten wären, dann hätte es ein Donnerwetter, scharfe Verweise und vielleicht sogar einige Kündigungen gegeben. Aber das St. Gregory ist nicht mein Hotel, sagte sich Curtis O’Keefe. Noch nicht.

Er steuerte auf den Empfang zu, ein schlanker, gewandter, einsachtzig großer Mann, der sich in seinem anthrazitgrauen exakt gebügelten Anzug mit tänzelnden Schritten vorwärts bewegte. Dies elastische Trippeln war charakteristisch für O’Keefe, ob er sich nun auf einem Handballplatz befand, in einem Ballsaal oder auf dem schwankenden Deck seiner seetüchtigen Motorjacht »Innkeeper IV«. Fast die ganzen sechsundfünfzig Jahre seines Lebens hindurch war er auf einen geschmeidigen Athletenkörper stolz gewesen, Jahre in denen er sich von einem Niemand der unteren Mittelklasse zu einem der reichsten — und rastlosesten — Männer in den Vereinigten Staaten hinaufgearbeitet hatte.

Am Empfangstisch schob ihm der Empfangschef nach einem flüchtigen Blick einen Anmeldeblock hin. Der Hotelier ignorierte die Geste.

Er erklärte gelassen: »Mein Name ist O’Keefe, und ich habe zwei Suiten reservieren lassen, eine für mich selbst, die andere auf den Namen von Miss Dorothy Lash.« Am Rande seines Blickfeldes konnte er nun Dodo die Halle betreten sehen: nur Beine und Busen und Sex ausstrahlend wie ein Feuerwerk. Köpfe fuhren herum, den Zuschauern stockte der Atem, wie immer, wenn Dodo in Erscheinung trat. Er hatte sie beim Wagen zurückgelassen, um das Ausladen des Gepäcks zu beaufsichtigen. Solche Dinge machten ihr gelegentlich Spaß. Alles, was größere geistige Anstrengungen erforderte, überstieg ihren Horizont.

Seine Worte hatten die Wirkung einer gut gezielten Handgranate.

Der Empfangschef erstarrte und straffte die Schultern. Als sein Blick den kühlen grauen Augen begegnete, die ihn — mühelos — zu durchbohren schienen, verwandelte sich seine Teilnahmslosigkeit in übereifrige Ehrerbietung. Mit einer nervösen Handbewegung griff er sich instinktiv an die Krawatte.

»Verzeihen Sie, Sir. Mr. Curtis O’Keefe?«

Der Hotelier nickte, flüchtig lächelnd, mit ruhigem Gesicht, demselben Gesicht, das einem wohlwollend von einer halben Million Schutzumschläge der Broschüre »Ich bin Ihr Wirt« entgegenstrahlte; in jedem Hotelzimmer des O’Keefe Konzerns lag ein Exemplar davon deutlich sichtbar aus, mit folgendem Begleittext: »Dies Büchlein soll Sie unterhalten und erfreuen. Wenn Sie es gern mitnehmen möchten, geben Sie bitte dem Zimmerkellner Bescheid, und er wird es Ihnen mit 1,25 Dollar in Rechnung stellen.«

»Ja, Sir. Ich bin sicher, daß die beiden Suiten bereit sind, Sir. Gedulden Sie sich bitte einen Moment.«

Während der Angestellte in seiner Reservierungs- und Zimmerliste blätterte, trat O’Keefe einen Schritt zurück, um anderen Neuankömmlingen Platz zu machen. Der Empfang, an dem es vor einigen Minuten noch ziemlich ruhig zugegangen war, erlebte plötzlich einen Massenansturm, wie er sich in jedem großen Hotel mehrmals am Tag abspielt. Draußen, im hellen warmen Sonnenschein, entluden Flughafenbusse und Taxis ihre Passagiere, die — gleich O’Keefe — mit der frühen Düsenmaschine von New York nach dem Süden gereist waren. O’Keefe bemerkte, daß ein Kongreß im Anzug war. Ein von der gewölbten Decke der Halle herabhängendes Transparent verkündete:

WILLKOMMEN, DELEGIERTE ZUM

KONGRESS AMERIKANISCHER ZAHNÄRZTE

Dodo gesellte sich zu ihm, und zwei mit Gepäck beladene Boys folgten ihr wie Meßgehilfen einer Göttin. Unter dem riesigen Hut, der das lange, weiche aschblonde Haar nicht verbarg, waren die babyblauen Augen in dem makellosen, kindlichen Gesicht wie immer weit geöffnet.

»Curtie, ich habe gehört, daß ein Haufen Zahnärzte hier wohnt.«

Er erwiderte trocken: »Ich bin froh, daß du’s mir gesagt hast. Andernfalls hätte ich vielleicht nie etwas davon erfahren.«

»Ich wollte mir doch immer diese Füllung machen lassen. Vielleicht kann ich jetzt …«

»Die Leute sind hier, weil sie ausnahmsweise mal ihre eigenen Schnauzen aufmachen wollen und nicht die von anderen Leuten.«

Dodo machte ein verwirrtes Gesicht, wie so oft, als wären die Geschehnisse um sie herum etwas, das sie eigentlich begreifen müßte, aber irgendwie nicht begreifen konnte. Einer von O’Keefes leitenden Angestellten, der nicht ahnte, daß sein Boß zuhörte, hatte unlängst über Dodo geäußert: »Ihr Grips sitzt im Ausschnitt; leider kann er sich da nicht äußern, er ist zu gut gepolstert.«

O’Keefe wußte, daß einige seiner Bekannten sich verwundert fragten, warum er ausgerechnet Dodo zu seiner Reisegefährtin gemacht hatte, obwohl er bei seinem Reichtum und Einfluß so ziemlich jede Frau haben konnte, die er wollte. Wovon sie allenfalls etwas ahnten und was sie ganz bestimmt unterschätzten, war Dodos wilde Sinnlichkeit, die sie je nach Wunsch aufdrehen oder zuvorkommenderweise auf kleinem Feuer am Kochen halten konnte. Ihre Einfalt und ihre häufigen Taktlosigkeiten, die andere zu stören schienen, erheiterten ihn nur, vielleicht, weil er zuzeiten der klugen Köpfe in seiner Umgebung überdrüssig war, die stets danach strebten, mit seinem Scharfsinn Schritt zu halten.

Er nahm jedoch an, daß er demnächst auf Dodo verzichten würde. Seit beinahe einem Jahr — länger als die meisten anderen vor ihr — war sie eine Art Fixstern an seinem Himmel. In Hollywood gab es noch eine Menge kleiner Sternchen, die nur auf einen freundlichen Wink warteten. Natürlich würde er Dodo versorgen, würde seinen weitreichenden Einfluß benutzen, um ihr ein oder zwei gute Rollen beim Film zu verschaffen, und wer weiß, vielleicht wurde sie sogar ein Star. Den Körper und das Gesicht dazu hatte sie. Andere hatten es mit diesen nützlichen Attributen weit gebracht.

Der Empfangschef kam zum Schalter zurück. »Es ist alles bereit, Sir.«

Curtis O’Keefe nickte. Dann setzte sich die kleine Prozession, angeführt von Herbie Chandler, der sich schleunigst eingefunden hatte, in Bewegung und marschierte zum wartenden Lift hinüber.

6

Kurz nachdem Curtis O’Keefe und Dodo ihre Suiten bezogen hatten, nahm Julius »Keycase« Milne ein Einzelzimmer.

Keycase rief um zehn Uhr 45 im St. Gregory an und benutzte dazu die direkte Leitung vom Moisant-Flughafen zum Hotel (Telefonieren Sie kostenlos mit New Orleans’ feinstem Hotel). Als er um die Bestätigung einer Reservierung bat, die er vor einigen Tagen von außerhalb getätigt hatte, wurde ihm versichert, mit der Vorbestellung sei alles in Ordnung, und falls er sich gütigst auf schnellstem Weg in die Stadt aufmachen würde, könne man ihn sofort unterbringen.

Da sein Entschluß, im St. Gregory abzusteigen, erst einige Minuten alt war, hatte sich Keycase über die Mitteilung gefreut, wenn sie ihn auch nicht überraschte, denn er hatte sich vorsichtshalber in sämtlichen größeren Hotels von New Orleans angemeldet, und zwar in jedem unter einem anderen Namen. Im St. Gregory hatte er sich als »Byron Meader« angemeldet, ein Name, den er einer Zeitung entnommen hatte, weil der rechtmäßige Eigentümer beim Toto einen beträchtlichen Gewinn eingestrichen hatte. Dies schien ihm von guter Vorbedeutung zu sein, und auf Vorzeichen gab Keycase sehr viel.

Sie schienen ihm bei mehreren Gelegenheiten tatsächlich Glück gebracht zu haben. So war zum Beispiel bei seinem letzten Gastspiel vor Gericht und gleich nach seinem Schuldgeständnis ein Sonnenstrahl schräg über den Richtertisch gefallen, und der Urteilsspruch, der kurz darauf erging, verdonnerte Keycase zu milden drei Jährchen, während er mit mindestens fünf gerechnet hatte. Auch die Serie von Jobs, die ihn dann schließlich ins Gefängnis brachte, hatte sich zunächst über Erwarten gut abgewickelt. Bei seinen nächtlichen Besuchen in mehreren Detroiter Hotelzimmern war alles glatt gegangen. Wie er vermutete, hauptsächlich deshalb, weil alle Zimmernummern außer der letzten seine Glückszahl, eine Zwei, enthielten. In diesem Raum schließlich, dem die ermutigende Ziffer fehlte, erwachte die Bewohnerin und schrie gellend auf, gerade, als Keycase ihren Nerzmantel in einen Koffer stopfte, nachdem er bereits ihren Schmuck und ihr Bargeld in einer seiner besonders geräumigen Manteltaschen verstaut hatte.

Vielleicht infolge der unheilvollen Nummernsituation wollte es das Pech, daß sich ein Hausdetektiv in Hörweite der Hilferufe befand und prompt darauf reagierte. Keycase, ein Philosoph, fügte sich mit Grazie ins Unvermeidliche und verzichtete sogar auf jede Ausrede, obwohl ihm seine erfindungsreichen Erklärungen schon manchmal gute Dienste geleistet hatten. Bei der Tat ertappt zu werden, war jedoch ein Risiko, das jeder Dieb und auch ein so erfahrener Spezialist wie Keycase in Kauf nehmen mußte. Aber nun, nachdem er wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden war und auch schon einen zehntägigen erfolgreichen Beutezug in Kansas City hinter sich hatte, freute er sich auf zwei einträgliche Wochen in New Orleans.

Der Start war vielversprechend.

Kurz vor halb acht war er auf dem Moisant-Flughafen eingetroffen, nach kurzer Fahrt von dem Chef Menteur Highway aus, wo er die vergangene Nacht in einem billigen Motel verbracht hatte. Es war ein prächtiges modernes Flughafengebäude, dachte Keycase, mit viel Glas und Chrom und zahllosen Papierkörben, die für seine Zwecke besonders wichtig waren.

Auf einer Tafel las er, daß der Flughafen nach John Moisant benannt worden war, einem Bürger von New Orleans und Flugpionier, und stellte dabei frohlockend fest, daß die Anfangsbuchstaben des Namens mit seinen eigenen Initialen übereinstimmten, was auch ein günstiges Omen sein konnte. Er fand, daß es genau die Sorte Flugplatz war, auf der er selbst gern in einer Düsenmaschine landen würde. Vielleicht konnte er sich diesen Luxus bald leisten, falls die Dinge weiterhin so glatt liefen wie vor seinem letzten Gefängnisaufenthalt, der ihn eine Weile aus der Übung gebracht hatte. Aber er hatte fast wieder seine alte Form erreicht, auch wenn er heute manchmal zögerte, wo er früher kühl zugepackt hätte.

Aber das war natürlich und hatte seinen Grund. Er wußte, daß er diesmal, falls er wieder gefaßt wurde, mit zehn bis fünfzehn Jahren rechnen mußte. Die Strafe würde nicht leicht zu verkraften sein. Mit zweiundfünfzig hatte man nicht mehr viel Zeit zu verschwenden.

Während er unauffällig durchs Flughafengebäude schlenderte — für den Betrachter eine adrette gut gekleidete Gestalt mit einer zusammengefalteten Zeitung unter dem Arm —, hielt Keycase seine Augen sorgsam offen. Von der äußeren Erscheinung her wirkte er entspannt und zuversichtlich wie ein wohlhabender Geschäftsmann. Nur seine Augen waren unausgesetzt in Bewegung und nahmen die Reisenden scharf aufs Korn, die ihre Hotels frühzeitig verlassen hatten und in Bussen und Taxis vor dem Flughafengebäude anlangten. Der Strom riß nicht ab. Es war der erste Massenaufbruch des Tages nach dem Norden, und er war um so stärker, als United, National, Eastern und Delta mit planmäßigen Düsenmaschinen nach New York, Washington, Chikago, Miami und Los Angeles starteten.

Zweimal erspähte er das, worauf er wartete, und beide Male blieb es im Ansatz stecken. Zwei Männer stießen, als sie in die Tasche griffen, um Flugschein oder Kleingeld herauszuholen, auf ihren Hotelzimmerschlüssel, den sie versehentlich eingesteckt hatten. Der erste beherzigte den Rat auf dem Plastikanhänger des Schlüssels, machte sich auf die Suche nach einem Briefkasten und warf ihn ein. Der andere übergab ihn einem Angestellten am Flugscheinschalter, und der deponierte ihn im Geldfach, um ihn bei nächster Gelegenheit dem Hotel zuzustellen.

Beide Zwischenfälle waren enttäuschend, aber für Keycase eine alte Erfahrung. Er blieb weiter auf dem Posten. Er war ein geduldiger Mann und wußte, daß er nicht umsonst warten würde.

Zehn Minuten später wurde seine Wachsamkeit belohnt.

Ein Mann mit frischem rotem Gesicht und beginnender Glatze, der einen Mantel, eine pralle Flugtasche und eine Kamera trug, blieb auf dem Weg zur Abflugrampe stehen, um sich eine Illustrierte zu kaufen. Am Zeitungsstand entdeckte er in seiner Rocktasche einen Hotelschlüssel und stieß einen verärgerten Ruf aus. Seine Frau, eine dünne freundliche Person, machte ihm leise einen Vorschlag, den er mit einem barschen »Dazu haben wir keine Zeit mehr!« beantwortete. Keycase, dem kein Wort entgangen war, heftete sich an ihre Fersen. Tatsächlich! Als sie an einem Abfallkorb vorbeikamen, warf der Mann den Schlüssel hinein.

Alles übrige war für Keycase Routine. Er schlenderte an dem Papierkorb vorbei und ließ seine zusammengefaltete Zeitung hineinplumpsen; dann als hätte er sich plötzlich eines anderen besonnen, machte er kehrt und fischte sie wieder heraus. Dabei suchte er das Innere mit den Augen ab, erspähte den weggeworfenen Schlüssel und nahm ihn unauffällig an sich. Hinter der verriegelten Tür der Herrentoilette stellte er wenige Minuten später fest, daß der Schlüssel aus dem St.-Gregory-Hotel stammte und zum Zimmer 641 gehörte.

Anscheinend hatte er eine ausgesprochene Glückssträhne, denn eine halbe Stunde später gelang ihm ein zweiter Fischzug. Auch dieser Schlüssel kam aus dem St. Gregory — eine Annehmlichkeit, die Keycase dazu veranlaßte, unverzüglich im Hotel anzurufen und seine Reservierung zu bestätigen. Er beschloß, sein Glück nicht ungebührlich dadurch herauszufordern, daß er noch länger im Flughafengebäude verweilte. Der Start war vielversprechend gewesen, gegen Abend würde er sich im Bahnhof auf die Lauer legen und in ein paar Tagen noch einmal dem Flughafen einen Besuch abstatten. Im übrigen gab es noch andere Mittel und Wege, um zu Hotelschlüsseln zu kommen, und er hatte gestern abend einige diesbezügliche Vorkehrungen getroffen.

Nicht ohne Grund hatte ein New Yorker Staatsanwalt vor Jahren während einer Verhandlung gesagt: »Alles, womit sich dieser Mann befaßt, Eurer Ehren, wird zum Schlüsselfall. Für mich ist er, offen gestanden, allmählich zum Schlüsselfall Milne geworden.«

Die Anmerkung gelangte bis in die Polizeiakten, und der Name »Keycase« — Schlüsselfall — Milne blieb an ihm hängen. Sogar Keycase selbst benutzte ihn nun mit einem gewissen Stolz. Es war ein Stolz, der seine Würze erhielt durch die erfahrungsmäßig belegte Tatsache, daß die Chance groß war, mit ein wenig Zeit, Geduld und Glück, einen Schlüssel zu so ziemlich jedem Schloß zu ergattern.

Die Spezialkenntnisse, die Keycase derzeit anwandte, stützten sich auf die Gleichgültigkeit der Leute gegenüber Hotelschlüsseln — eine Einstellung, die Hoteliers in der ganzen Welt zur Verzweiflung brachte. Theoretisch sollte jeder abreisende Gast beim Bezahlen der Rechnung seinen Zimmerschlüssel abliefern.

Aber die Praxis sah anders aus. Unzählige Schlüssel wurden versehentlich in Taschen und sonstigen Behältnissen aus dem Hotel getragen. Gewissenhafte Menschen warfen sie in den Briefkasten, und ein großes Hotel wie das St. Gregory zahlte wöchentlich fünfzig Dollar und mehr an Porto für zurückgeschickte Schlüssel. Aber es gab auch Leute, die einen versehentlich mitgenommenen Schlüssel entweder behielten oder einfach wegwarfen.

Diese letzte Gruppe sorgte dafür, daß die Geschäfte von professionellen Hoteldieben wie Keycase Milne ständig florierten.

Vom Flughafengebäude aus begab sich Keycase zum Parkplatz und zu seinem fünf Jahre alten Ford, den er in Detroit gekauft hatte und mit dem er zunächst nach Kansas City und dann nach New Orleans gefahren war. Für Keycase war der Wagen ideal — unauffällig, dunkelgrau und weder zu alt noch zu neu, um übertriebene Aufmerksamkeit zu erregen oder im Gedächtnis behalten zu werden. Nur eine Sache beunruhigte ihn ein wenig. Das Nummernschild von Michigan — ein attraktives Grün auf weißem Grund war ein wenig zu auffällig. Kennzeichen anderer Staaten waren zwar in New Orleans nichts Ungewöhnliches, aber er hätte dennoch gern auf das kleine charakteristische Merkmal verzichtet. Er hatte die Benutzung eines gefälschten Nummernschildes von Louisiana in Erwägung gezogen, jedoch erschien ihm dieses Risiko noch größer. Außerdem war Keycase schlau genug, sich nie allzu weit von seinem Spezialgebiet zu entfernen.

Der Motor sprang sofort an und brummte gleichmäßig, das Resultat einer Generalüberholung, die Keycase selbst vorgenommen hatte. Diese Kunst hatte er sich auf Staatskosten während einer seiner zahlreichen Gefängnisstrafen angeeignet.

Er fuhr die vierzehn Meilen in die Stadt, die Geschwindigkeitsbeschränkungen sorgsam beachtend, und steuerte das St. Gregory an, das er am Tag zuvor ausfindig gemacht und ausgekundschaftet hatte. Er parkte unweit der Canal Street, einige Blocks vom Hotel entfernt, und holte zwei Koffer aus dem Wagen. Den Rest seines Gepäcks hatte er in seiner Motelkabine zurückgelassen, die er auf mehrere Tage im voraus bezahlt hatte. Ein solcher Unterschlupf lief ins Geld, war aber eine wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahme. Die Kabine würde ihm als Versteck dienen für alles, was er erbeutete, und konnte notfalls völlig preisgegeben werden. Keycase hatte darauf geachtet, daß nichts in ihr zurückblieb, was ihn verraten konnte. Der Kabinenschlüssel war im Luftfilter des Vergasers seines Fords versteckt.

Mit zuversichtlicher Miene betrat er das St. Gregory, überließ sein Gepäck einem Türsteher und trug sich als B. W. Meader aus Ann Arbor, Michigan, ein. Der Empfangschef, beeindruckt von dem gut geschnittenen Anzug und den festen, scharfen Gesichtszügen, die von Autorität zeugten, behandelte den Neuankömmling mit Respekt und wies ihm Zimmer 830 an. Jetzt besaß er drei Schlüssel des St. Gregory, dachte Keycase frohgestimmt, einer, von dem das Hotel wußte, und zwei, von denen es nichts ahnte.

Zimmer 830, in das der Boy ihn kurz danach führte, erwies sich als ideal. Es war geräumig und komfortabel und — wie Keycase bereits auf dem Weg festgestellt hatte — nur einige Meter von der Personaltreppe entfernt.

Sobald er allein war, packte er sorgfältig aus. Später wollte er dann ein Schläfchen machen, um sich auf die vor ihm liegende schwere Nachtarbeit vorzubereiten.

7

Als Peter McDermott in der Halle ankam, waren Curtis O’Keefe und sein Troß schon abgezogen. Peter beschloß, ihm nicht zu folgen; es gab Zeiten, wo einem Gast zu viel Aufmerksamkeit ebenso lästig sein konnte wie zu wenig. Außerdem würde Warren Trent die offizielle Begrüßung des St. Gregory übernehmen. Nachdem Peter sich vergewissert hatte, daß der Hotelbesitzer von O’Keefes Ankunft unterrichtet worden war, suchte er Marsha Preyscott in der Nummer 555 auf.

Sie öffnete die Tür und sagte: »Ich bin froh, daß Sie da sind. Ich dachte schon, Sie würden nicht mehr kommen.«

Marsha trug ein ärmelloses aprikosenfarbenes Kleid, das sie sich offenbar diesen Morgen hatte holen lassen. Es lag leicht am Körper an. Ihr langes schwarzes Haar hing locker um die Schultern. Es lag etwas seltsam Herausforderndes — beinahe Atemberaubendes — in der halb kindlichen, halb fraulichen Erscheinung.

»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.« Er musterte sie anerkennend. »Aber wie ich sehe, haben Sie die Zeit gut genutzt.«

»Ich dachte, Sie würden vielleicht den Pyjama brauchen«, erwiderte sie lächelnd.

»Der ist nur für den Notfall da — wie dieses Zimmer. Ich benutze es sehr selten.«

»Das hat mir das Mädchen auch gesagt. Und deshalb würde ich gern wenigstens noch eine Nacht hier bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Oh! Darf ich fragen, warum?«

»Ich weiß es selbst nicht genau.« Sie sah ihn unschlüssig an. »Vielleicht, weil ich mich von dem, was gestern nacht passierte, erholen möchte und weil das hier der beste Platz dafür ist.« Aber sich selbst gestand sie den wirklichen Grund offen ein. Sie wollte die Rückkehr in das große leere Haus im Gartendistrikt noch ein wenig aufschieben.

Er nickte zweifelnd. »Wie fühlen Sie sich?«

»Besser.«

»Das freut mich.«

»Man kommt natürlich nicht in ein paar Stunden über eine solche Erfahrung hinweg«, sagte Marsha. »Aber es war, fürchte ich, furchtbar dumm von mir, überhaupt herzukommen — das haben Sie mir ja auch zu verstehen gegeben.«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«

»Nein, aber Sie haben’s gedacht.«

»Falls ich das getan habe, hätte ich dran denken sollen, daß wir alle manchmal in eine Patsche geraten.« Nach einem kurzen Schweigen fügte Peter hinzu: »Setzen wir uns doch.«

Sobald sie bequem saßen, begann Peter: »Ich hatte gehofft, Sie würden mir erzählen, wie alles anfing.«

»Ich weiß.« In der unverblümten Art, an die er sich allmählich gewöhnte, fügte sie hinzu: »Und ich hab’ mich gefragt, ob ich’s Ihnen überhaupt erzählen soll.«

Gestern nacht war sie vor allem erschrocken, in ihrem Stolz verletzt und völlig erschöpft gewesen, dachte Marsha. Aber nun war der Schock vergangen, und ihr Stolz würde vermutlich weniger leiden, wenn sie schwieg, als wenn sie sich verteidigte. Vermutlich war im nüchternen Licht des Morgens auch Lyle Dumaire und seinen Kumpanen die Lust dazu vergangen, mit ihrer Heldentat zu prahlen.

»Ich kann Sie natürlich nicht zum Reden zwingen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß Leute, die beim erstenmal ungeschoren davonkommen, es häufig noch einmal versuchen — nicht bei Ihnen vielleicht, aber bei jemand anderem.« Ihre Augen blickten beunruhigt drein, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht, ob die jungen Männer, die gestern nacht dabei waren, Freunde von Ihnen sind oder nicht. Aber selbst wenn sie’s wären, gibt es für meine Begriffe nicht den mindesten Grund, sie zu schützen.«

»Einer war ein Freund. Wenigstens hab’ ich das immer gedacht.«

»Freund oder nicht, der springende Punkt ist, was sie vorhatten und auch ausgeführt hätten, wenn Royce nicht eingegriffen hätte. Kommt noch hinzu, daß alle vier, als es brenzlig wurde, wie die Ratten davonschossen und Sie allein ließen.«

»Gestern nacht hörte ich Sie sagen, daß Sie die Namen von zweien wüßten.«

»Das Zimmer war unter dem Namen Stanley Dixon registriert. Dann wurde mir noch der Name Dumaire genannt. Waren die beiden beteiligt?«

Sie nickte.

»Wer war der Anführer?«

»Ich glaube … Dixon.«

»Schön, und nun erzählen Sie mir bitte, was sich davor abspielte.«

Marsha wurde klar, daß ihr die Entscheidung in gewisser Weise aus der Hand genommen worden war. Es kam ihr vor, als werde sie geführt. Die Erfahrung war für sie neu, und sie stellte erstaunt fest, daß sie ihr gefiel. Gehorsam schilderte sie der Reihe nach die Ereignisse.

Am Schluß drängte es sie, ihm noch mehr zu erzählen. Das Ganze, sagte sie, wäre vermutlich gar nicht passiert, wenn sie gestern nicht Geburtstag gehabt hätte.

Er schien überrascht zu sein. »Gestern war Ihr Geburtstag?«

»Ich wurde neunzehn.«

»Und Sie waren allein?«

Da sie ihm schon so viel anvertraut hatte, wäre es sinnlos gewesen, ihm irgend etwas vorzuenthalten. Marsha beschrieb den Anruf aus Rom und ihre Enttäuschung darüber, daß ihr Vater nicht rechtzeitig zurück sein würde.

»Das tut mir leid«, sagte er, als sie zu Ende war. »Jetzt verstehe ich einiges.«

»Es wird nie wieder vorkommen. Nie!«

»Davon bin ich überzeugt.« Er schlug einen mehr geschäftsmäßigen Ton an. »Ich würde von dem, was Sie mir erzählt haben, jetzt ganz gern Gebrauch machen.«

Sie fragte zweifelnd: »Aber wie?«

»Ich werde die vier jungen Leute — Dixon, Dumaire und die zwei anderen — zu einem Gespräch ins Hotel bitten.«

»Vielleicht kommen sie nicht.«

»O doch, sie werden kommen.« Peter hatte sich seinen Angriffsplan bereits zurechtgelegt.

Marsha war sich noch nicht schlüssig. »Aber würden auf diese Art nicht eine Menge Leute von der Sache erfahren?«

»Nach der Unterredung wird die Wahrscheinlichkeit, daß jemand schwatzt, sogar noch geringer sein als vorher, das verspreche ich Ihnen.«

»Na schön. Und vielen Dank für alles.« Marsha fühlte sich unsäglich erleichtert.

Es war über Erwarten leicht gegangen, dachte Peter. Jetzt, wo er alle Informationen hatte, die er brauchte, brannte er darauf, sie zu verwenden. Aber vielleicht sollte er lieber noch ein paar Minuten bleiben, um dem Mädchen seine Unbefangenheit wiederzugeben. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen erklären muß, Miss Preyscott.«

»Marsha.«

»Okay, ich heiße Peter.« Gegen diesen Mangel an Form war vermutlich nichts einzuwenden, obwohl leitende Hotelangestellte dazu angehalten wurden, ihn zu vermeiden, außer bei den Gästen, die sie gut kannten. »Es passieren eine Menge Dinge im Hotel, Marsha, bei denen wir ein Auge zudrücken. Aber wenn sich so etwas, wie gestern nacht, ereignet, können wir sehr unangenehm werden. Das gilt auch für alle Angehörigen unseres Personals, wenn wir herausfinden, daß sie an der Affäre beteiligt waren.«

Peter wußte, daß dieser Punkt, der mit dem guten Ruf des Hotels eng zusammenhing, Warren Trent ebenso nahegehen würde wie ihm selbst und daß jede seiner Maßnahmen — vorausgesetzt, er konnte die Tatsachen beweisen — die volle Unterstützung des Hotelbesitzers haben würde.

Das Gespräch hatte seinen Zweck erfüllt, fand Peter. Er stand auf und ging zum Fenster. Von dieser Seite des Hotels aus konnte er auf den vormittäglichen Verkehr in der Canal Street hinabsehen. Die sechs Fahrbahnen waren vollgepackt mit schnellen und langsamen Fahrzeugen, auf den Gehsteigen drängten sich Scharen von Kauflustigen. An der Kreuzung, wo die Fahrbahnen wie Blattrippen zusammenliefen, ballte sich der Verkehr, während in der Sonne funkelnde, aluminiumverkleidete Busse mit Klimaanlage auf dem Mittelstreifen vorbeiglitten. Er stellte fest, daß die N.A.A.C.P. wieder einige Geschäfte bestreikte. »Dieser Laden macht Rassenunterschiede. Kaufen Sie woanders« war auf einem Plakat zu lesen, und es gab noch andere. Die Träger marschierten langsam durch das Gewühl der Passanten.

»Sie sind neu in New Orleans, nicht wahr?« fragte Marsha, die ihm zum Fenster gefolgt war. Er verspürte ein zartes Parfüm.

»Ziemlich neu. Ich denke, mit der Zeit werde ich die Stadt besser kennenlernen.«

»Ich weiß eine Menge über die Geschichte von New Orleans«, sagte sie mit plötzlicher Begeisterung, »und ich würde Sie schrecklich gern herumführen.«

»Also … ich hab’ mir ein paar Bücher angeschafft. Zu Besichtigungen hab’ ich einfach keine Zeit.«

»Die Bücher können Sie später immer noch lesen. Es ist viel besser, wenn man sich vorher alles ansieht. Außerdem möchte ich Ihnen so gern meine Dankbarkeit beweisen …«

»Das ist nicht nötig.«

»Na schön, ich würd’s aber auch sonst gern tun. Bitte!« Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

Er sagte: »Das ist ein interessantes Angebot«, und fragte sich im stillen, ob er klug handelte.

»Gut! Abgemacht! Morgen abend gebe ich ein Essen. Ganz im alten New-Orleans-Stil. Und danach unterhalten wir uns über die lokale Geschichte.«

»Sachte!« protestierte er.

»Soll das heißen, daß Sie bereits verabredet sind?«

»Nun, nicht unbedingt.«

»Fein, dann ist das also auch abgemacht«, sagte Marsha entschieden.

Im Gedanken an die Vergangenheit und weil er Beziehungen zu einem jungen Mädchen, das auch ein Gast des Hotels war, unbedingt vermeiden wollte, zögerte Peter. Dann entschied er, daß es unhöflich wäre, die Einladung abzulehnen. Die Teilnahme an einem Dinner war schließlich keine Entgleisung, zumal, wenn noch andere Gäste dabei waren. »Wenn ich einwillige, dann nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Gehen Sie nach Haus, Marsha. Verlassen Sie das Hotel und gehen Sie heim.«

Ihre Augen begegneten einander. Wieder nahm ihn ihre Jugendfrische und zarte Anmut gefangen.

»Gut«, sagte sie, »wenn Sie’s wollen, geh’ ich.«

Gedankenversunken betrat Peter McDermott einige Minuten später sein Büro im Zwischengeschoß. Es ging ihm zu Herzen, daß jemand, der so jung war wie Marsha Preyscott und der vermutlich mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war, so offensichtlich vernachlässigt wurde. Gerade weil ihr Vater im Ausland und ihre Mutter durchgebrannt war — er hatte von den mehrfachen Ehen der vormaligen Mrs. Preyscott gehört —, fand er es unglaublich, daß keine Schutzvorkehrungen für das junge Mädchen getroffen worden waren. Wenn ich ihr Vater wäre, dachte er … oder ihr Bruder …

Er wurde von Flora Yates unterbrochen, seiner unschönen, sommersprossigen Sekretärin. Floras kurze, dicke Finger, die flinker über die Tasten einer Schreibmaschine tanzten, als er es je zuvor erlebt hatte, umklammerten ein Bündel Telefondurchsagen. Er zeigte darauf und fragte: »Irgendwas Dringendes?«

»Ja, aber auch das hat Zeit bis heute nachmittag.«

»Schön, sollen sie warten. Ich habe die Kasse gebeten, mir die Rechnung für Zimmer 1126-7 heraufzuschicken. Der Name ist Stanley Dixon.«

»Hier ist sie.« Flora zog von mehreren Schnellheftern auf seinem Schreibtisch einen hervor. »Ein Kostenvoranschlag von der Schreinerei über den angerichteten Schaden in der Suite ist auch dabei. Ich habe beides zusammen eingeheftet.«

Er überflog die zwei Schriftstücke. Die Rechnung, die mehrere Posten für Dienste des Zimmerkellners enthielt, betrug 75 Dollar, der Kostenvoranschlag der Schreinerei belief sich auf 110 Dollar. »Suchen Sie mir die Telefonnummer für diese Adresse heraus. Sie läuft vermutlich unter dem Namen seines Vaters.«

Auf seinem Schreibtisch lag eine zusammengefaltete Zeitung, in die er bisher noch keinen Blick geworfen hatte. Es war die Morgenausgabe der »Times-Picayune«. Als Flora hinausgegangen war, schlug er die Zeitung auf, und fettgedruckte Schlagzeilen sprangen ihm förmlich entgegen. Der Unfall mit Fahrerflucht vom letzten Abend hatte sich zu einer doppelten Tragödie ausgewachsen, denn auch die Mutter des getöteten Kindes war in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen. Peter las den Bericht, der das, was der Polizist ihm und Christine in der vergangenen Nacht erzählt hatte, ergänzte, hastig durch. Es hieß darin: »Bisher führen keine eindeutigen Spuren zu dem Unfallwagen und seinem Fahrer. Die Polizei hält jedoch die Aussage eines nicht genannten Zeugen für aufschlußreich, nach dessen Beobachtungen ein sehr schnell fahrender, niedriger schwarzer Wagen Sekunden nach dem Unfall den Tatort verließ.« Die »Times-Picayune« fügte hinzu, daß städtische und Staatspolizei gemeinsam in ganz Louisiana nach einem wahrscheinlich beschädigten Auto fahndeten, auf das diese Beschreibung paßte.

Peter fragte sich, ob Christine den Zeitungsbericht schon gelesen hatte. Ihr eigener flüchtiger Kontakt mit dem Unfallort schien seine Wirkung noch zu erhöhen.

Floras Rückkehr mit der von ihm gewünschten Telefonnummer zwang ihn, sich auf Näherliegendes zu konzentrieren. Er schob die Zeitung beiseite und rief die Nummer über eine direkte Leitung selbst an. Am anderen Ende meldete sich eine tiefe männliche Stimme: »Villa Dixon.«

»Ich hätte gern mit Mr. Stanley Dixon gesprochen. Ist er zu Haus?«

»Darf ich ihm sagen, wer anruft, Sir?«

Peter nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Das St.-Gregory-Hotel.«

Eine Pause trat ein, in der sich Schritte gemächlich entfernten und im gleichen Tempo zurückkehrten. »Bedaure, Sir, Mr. Dixon junior ist leider verhindert.«

»Richten Sie ihm bitte folgendes aus«, sagte Peter scharf. »Sollte er sich auch weiterhin weigern, ans Telefon zu kommen, dann werde ich mich direkt an seinen Vater wenden.«

»Es wäre vielleicht besser, wenn Sie das gleich täten …«

»Gehen Sie schon. Richten Sie ihm aus, was ich sagte.«

Der andere zögerte spürbar. Dann murmelte er: »Sehr wohl, Sir«, und tappte wieder davon.

Gleich darauf klickte es in der Leitung, und eine mürrische Stimme knurrte: »Hier ist Stanley Dixon. Wo brennt’s denn?«

Peter antwortete schroff: »Ich rufe wegen des Vorfalls gestern nacht an. Überrascht Sie das vielleicht?«

»Wer sind Sie?«

Er wiederholte seinen Namen. »Mit Miss Preyscott habe ich schon gesprochen. Jetzt will ich noch mit Ihnen sprechen.«

»Sie sprechen ja mit mir«, sagte Dixon. »Sie haben erreicht, was Sie wollten, oder etwa nicht?«

»Nein. Ich schlage vor, daß Sie mich in meinem Büro im Hotel aufsuchen.« Am anderen Ende wurde ein Protestruf laut, den Peter ignorierte. »Um vier Uhr morgen nachmittag, mit den drei anderen. Sie werden sie mitbringen.«

Die Antwort kam schnell und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Teufel, das könnte Ihnen so passen! Ich denke gar nicht daran. Wer immer Sie auch sind, Bürschchen, für mich sind Sie bloß ein mieser kleiner Hotelangestellter, und ich laß mir von Ihnen nichts befehlen. Und machen Sie sich ja nicht mausig. Mein alter Herr kennt Warren Trent.«

»Zu Ihrer Information, ich habe die Angelegenheit bereits mit Mr. Trent besprochen. Er hat alles Weitere mir überlassen, auch die Entscheidung darüber, ob wir Strafantrag stellen sollen oder nicht. Aber ich werde ihm sagen, daß Sie es wünschen, wenn wir Ihren Vater verständigen. Danach werden wir weitersehen.«

»Moment mal!« Durch die Leitung kam das Geräusch schnaufender Atemzüge und dann in merklich gemäßigtem Ton die Antwort: »Morgen um vier hab’ ich Unterricht.«

»Schwänzen Sie ihn und veranlassen Sie auch die anderen dazu«, sagte Peter. »Mein Büro befindet sich im Zwischengeschoß. Denken Sie dran — Punkt vier Uhr.«

Als er den Hörer auflegte, stellte er fest, daß er sich auf die morgige Zusammenkunft freute.

8

Die auseinandergerissenen Seiten der Morgenzeitung lagen verstreut um das Bett der Herzogin von Croydon. Es gab kaum eine Meldung, die sie nicht wenigstens überflogen hatte, und nun saß sie in die Kissen zurückgelehnt und dachte angestrengt nach. Noch nie hatte sie ihren Scharfsinn und ihre Findigkeit so dringend gebraucht wie jetzt.

Auf einem Tischchen neben dem Bett stand ein Tablett, das benutzt und beiseite geschoben worden war. Selbst in Krisenzeiten konnte die Herzogin auf ein ausgiebiges Frühstück nicht verzichten. Diese Angewohnheit stammte noch aus ihrer Kindheit, die sie in »Fallingbroke Abbey«, dem Landsitz ihrer Familie, verbracht hatte. Dort war das Frühstück eine umfangreiche herzhafte Mahlzeit aus mehreren Gängen und wurde häufig erst nach einem flotten Querfeldeingalopp eingenommen.

Der Herzog, der allein im Salon gefrühstückt hatte, war vor einigen Minuten ins Schlafzimmer zurückgekehrt. Auch er hatte die Zeitung sofort nach ihrem Eintreffen gierig gelesen. Nun schritt er in einem gegürtelten scharlachroten Morgenmantel, unter dem die Pyjamahosen hervorsahen, rastlos auf dem Teppich auf und ab. Gelegentlich fuhr er sich mit der Hand durch sein noch wirres Haar.

»Bleib stehen, um Himmels willen!« Die Anspannung, unter der sie beide standen, kam in der erregten Stimme seiner Frau zum Ausdruck. »Wie soll ich nachdenken, wenn du wie ein Wilder im Zimmer umherläufst!«

Er drehte sich zu ihr um; im hellen Licht des Morgens wirkte sein Gesicht zerknittert und verzweifelt. »Nachdenken nutzt uns verteufelt wenig. Das ändert auch nichts mehr.«

»Nachdenken hilft immer — wenn man gründlich und methodisch vorgeht. Deshalb bringen es manche Leute zu etwas und andere nicht.«

Er fuhr sich erneut durchs Haar. »Unsere Lage hat sich seit gestern abend nicht gebessert.«

»Aber sie hat sich auch nicht verschlimmert«, sagte sie nüchtern, »und das ist schon ein Grund, um dankbar zu sein. Wir sind noch immer hier — unversehrt.«

Der Herzog schüttelte müde den Kopf. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. »Und wieso hilft uns das?«

»Nun, so wie ich es sehe, ist das Ganze eine Frage der Zeit. Und die Zeit arbeitet für uns. Je länger wir warten und je länger nichts geschieht …« Sie unterbrach sich und dachte dann laut weiter. »Was wir jetzt verzweifelt nötig hätten, wäre ein bißchen Publicity. Wir müssen die öffentliche Aufmerksamkeit auf dich lenken, aber so, daß die andere Sache zu phantastisch erscheint, als daß sie jemals auch nur in Betracht gezogen wird.«

Beide schienen stillschweigend übereingekommen zu sein, ihren nächtlichen Streit nicht mehr zu erwähnen.

Der Herzog nahm seinen Marsch durchs Zimmer wieder auf. »Das einzige, womit wir das erreichen können, wäre eine Verlautbarung, die meine Berufung nach Washington bestätigt.«

»Richtig.«

»So was kann man nicht übers Knie brechen. Wenn Hal merkt, daß man ihn antreibt, jagt er das Dach von Downing Street in die Luft. Die ganze Sache ist sowieso verflucht heikel —«

»Sie kann viel peinlicher werden, falls —«

»Als ob ich das nicht selbst wüßte, zum Teufel noch mal! Du kannst mir glauben, ich hab’ schon ein paarmal gedacht, wir könnten ebensogut gleich aufgeben!« Die Stimme des Herzogs klang leicht hysterisch. Er zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an.

»Wir geben nicht auf!« Im Gegensatz zu ihrem Mann sprach die Herzogin in trockenem, geschäftsmäßigem Ton. »Sogar Premierminister reagieren auf Druck, wenn er von der richtigen Seite kommt. Hal ist keine Ausnahme. Ich rufe London an.«

»Warum?«

»Ich will mit Geoffrey sprechen und ihn bitten, sein möglichstes zu tun, um deine Ernennung zu beschleunigen.«

Der Herzog schüttelte zweifelnd den Kopf, ohne jedoch den Vorschlag gänzlich von der Hand zu weisen. Er hatte zu oft erlebt, über welch bemerkenswerten Einfluß die Familie seiner Frau verfügte. Dennoch sagte er warnend: »Wir vernageln uns damit vielleicht unsere eigenen Geschütze, altes Mädchen.«

»Nicht unbedingt. Geoffrey versteht sich auf sanfte Gewalt, wenn er will. Außerdem, wenn wir hier herumsitzen und warten, schaden wir uns womöglich noch mehr.« Die Herzogin griff nach dem Hörer des Telefons neben ihrem Bett und sagte zu dem Mädchen in der Zentrale: »Ich möchte ein Gespräch mit London … Lord Selwyn.« Sie gab eine Nummer in Mayfair an.

Der Anruf kam nach zwanzig Minuten durch. Als die Herzogin ihr Anliegen vorgebracht hatte, zeigte sich ihr Bruder, Lord Selwyn, wenig begeistert. Der Herzog konnte das tiefe protestierende Organ seines Schwagers, das die Membran im Telefon zum Schwingen brachte, quer durch die ganze Breite des Schlafzimmers hören. »Herrje, Sis, damit scheuchst du womöglich ein ganzes Vipernnest auf. Was soll’s also? Ich will dir lieber gleich sagen, daß Simons Berufung nach Washington im Moment nicht genehm ist. Ein paar von den Burschen im Kabinett halten ihn jetzt nicht für den richtigen Mann. Nicht daß ich ihnen etwa beipflichte, aber es hat keinen Zweck, sich was vorzumachen, stimmt’s?«

»Falls wir gar nichts unternehmen, wie lange müßten wir dann auf eine Entscheidung warten?«

»Schwer zu sagen, altes Mädchen. Aber nach dem, was ich gehört habe, kann’s noch Wochen dauern.«

»So lange können wir einfach nicht warten. Ich versichere dir, Geoffrey, es wäre ein entsetzlicher Fehler, wenn wir nicht jetzt auf der Stelle etwas unternehmen.«

»Das leuchtet mir nicht ein«, sagte ihr Bruder gereizt.

Ihr Ton wurde schärfer. »Ich bitte dich nicht nur unseretwegen, sondern auch um der Familie willen. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Am anderen Ende blieb es eine Weile still, und dann ertönte die vorsichtige Frage: »Ist Simon bei dir?«

»Ja.«

»Was steckt hinter alledem? Hat er wieder was angestellt?«

»Selbst, wenn es eine Antwort darauf gäbe, wäre ich kaum so töricht, sie am Telefon auszuposaunen«, erwiderte die Herzogin von Croydon.

Wieder gab es eine kurze Pause, und dann rang sich Lord Selwyn widerwillig das Zugeständnis ab: »Na ja, im allgemeinen weißt du, was du tust, das muß ich sagen.«

Die Herzogin suchte den Blick ihres Mannes und nickte ihm fast unmerklich zu. Dann fragte sie ihren Bruder: »Soll das heißen, daß du tun wirst, worum ich dich bitte?«

»Die Sache gefällt mir nicht, Sis. Sie gefällt mir ganz und gar nicht.« Er verstummte und fügte dann mürrisch hinzu: »Schön, ich werde sehen, was sich machen läßt.«

Kaum hatte die Herzogin den Hörer aufgelegt, als der Apparat erneut läutete. Beide Croydons zuckten zusammen, und der Herzog fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Als seine Frau sich meldete, lauschte er angespannt.

»Ja?«

Eine flache, nasale Stimme fragte: »Herzogin von Croydon?«

»Am Apparat.«

»Ogilvie. Hausdetektiv.« Man hörte ein kräftiges Schnauben, und dann verstummte der Anrufer, als wollte er der Herzogin Zeit geben, die Information zu verdauen.

Die Herzogin wartete. Als nichts weiter erfolgte, fragte sie scharf: »Was wollen Sie?«

»Ein Gespräch unter vier Augen. Mit Ihrem Gatten und Ihnen.« Es war keine Bitte, sondern eine sachliche Feststellung.

»Falls es sich um eine Hotelangelegenheit handelt, befinden Sie sich, fürchte ich, in einem Irrtum. Solche Dinge besprechen wir grundsätzlich nur mit Mr. Trent.«

»Wie Sie wollen. Nur werden Sie’s diesmal bereuen.« Aus der kalten unverschämten Stimme klang unmißverständliche Zuversicht. Die Herzogin zögerte und stellte dabei fest, daß ihre Hände zitterten.

Sie zwang sich zu der Antwort: »Ihr Besuch kommt uns ungelegen.«

»Wann?« Wieder eine lange Pause, die nur von einem gelegentlichen Schnauben unterbrochen wurde.

Was immer dieser Mann auch wußte oder von ihnen wollte, er verstand sich jedenfalls darauf, einen psychologischen Vorteil wahrzunehmen.

»Später vielleicht«, entgegnete sie.

»In einer Stunde bin ich bei Ihnen«, erklärte der Mann noch immer in demselben leidenschaftslosen kühlen Ton.

»Aber dann sind wir —«

Ihr Protest wurde durch ein gedämpftes Klicken abgeschnitten, als der unbekannte Anrufer auflegte.

»Wer war das? Was wollte er?« Der Herzog machte einen Schritt auf sie zu. Sein hageres Gesicht war verkrampft und totenbleich.

Die Herzogin schloß einen Moment lang die Augen. Sie sehnte sich verzweifelt danach, wenigstens einmal von ihrer Führerrolle und der Verantwortung für sie beide erlöst zu werden; jemanden neben sich zu haben, der ihr die Last der Entscheidung abnahm. Aber sie wußte, daß die Hoffnung vergeblich war; solange sie denken konnte, war sie vergeblich gewesen. Wenn man mit einem Charakter geboren wurde, vor dem sich alle Menschen in ihrer Umgebung beugten, gab es kein Entkommen. Sogar in ihrer eigenen Familie, die über ein gerütteltes Maß an Willensstärke verfügte, richteten sich alle instinktiv nach ihr, folgten ihrem Rat, erkannten neidlos ihre Überlegenheit an. Selbst Geoffrey, der so begabt und dabei so halsstarrig war, ließ sich schließlich stets von ihr umstimmen — so wie vorhin. Der Moment der Schwäche entschwand, und sie wandte sich entschlossen der Wirklichkeit zu.

»Es war ein Hoteldetektiv. Er will uns in einer Stunde aufsuchen.«

»Dann weiß er es also! Mein Gott — er weiß alles!«

»Auf jeden Fall ahnt er etwas. Er sagte aber nicht, was.«

Der Herzog richtete sich plötzlich auf, hob den Kopf, straffte die Schultern. Seine Hände hörten auf zu zittern, sein Mund bekam einen festen Zug. Er machte die gleiche Wandlung durch wie in der Nacht zuvor. »Es würde unsere Lage erleichtern — selbst jetzt noch — wenn ich mich stelle — wenn ich zugebe —«

»Nein!« Die Augen seiner Frau funkelten. »So versteh doch endlich! Nichts, aber auch gar nichts, was du unternehmen könntest, würde unsere Lage auch nur im mindesten verbessern!« Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, dann fügte die Herzogin grübelnd hinzu: »Wir werden nichts tun. Wir werden auf diesen Mann warten und sehen, was er weiß und was er vorhat.«

Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte der Herzog widersprechen. Dann nickte er unlustig. Er hüllte sich enger in den scharlachroten Morgenmantel, tappte in den angrenzenden Raum hinüber und kam wenige Minuten später mit zwei Gläsern puren Whiskys zurück. Als er seiner Frau das eine hinhielt, sagte sie abwehrend: »Du weißt doch, so früh trinke ich nie —«

»Schon gut. Du kannst’s gebrauchen.« Mit einer Fürsorglichkeit, die sie von ihm nicht gewöhnt war, drückte er ihr das Glas in die Hand.

Überrascht und nachgiebig nahm sie es und trank einen Schluck. Der unverdünnte Alkohol brannte in ihrer Kehle, raubte ihr den Atem und durchdrang sie gleich danach mit einer tröstlichen Wärme.

9

»So schlimm kann’s doch nicht sein!«

An ihrem Schreibtisch im äußeren Büro der Direktorensuite brütete Christine Francis stirnrunzelnd über einem Brief, den sie in der Hand hielt. Nun blickte sie auf und sah Peter McDermotts fröhliches derbes Gesicht zur Tür hereinspähen.

Ihre Miene erhellte sich. »Schlimm? Es ist ein neuer Schuß aus dem Hinterhalt. Aber bei dem vielen Ärger, den wir so schon haben, kann uns einer mehr eigentlich egal sein.«

»So gefallen Sie mir.« Peter schob seine riesige Gestalt durch die Tür.

Christine musterte ihn anerkennend. »Dafür, daß Sie sehr wenig Schlaf gehabt haben, machen Sie einen erstaunlich munteren Eindruck.«

Er grinste. »Ich hatte heute früh eine Unterredung mit Ihrem Boß. Sie wirkte wie eine kalte Dusche. Ist er noch nicht unten?«

Sie schüttelte den Kopf und blickte dann auf den Brief, den sie gerade gelesen hatte. »Ich fürchte, das hier wird ihm nicht gefallen, wenn er herunterkommt.«

»Ist es ein Geheimnis?«

»Ich glaube nicht. Außerdem geht es Sie ganz besonders an.«

Peter setzte sich dem Schreibtisch gegenüber in einen Ledersessel.

»Sie erinnern sich doch sicher noch an den Mann«, sagte Christine, »dem auf der Carondelet Street eine Flasche von oben auf den Kopf flog. Er wurde ziemlich bös zugerichtet.«

»Freilich.« Peter nickte. »Verdammtes Pech! Die Flasche wurde aus einem unserer Zimmer geworfen, das steht außer Frage. Aber wir konnten den Gast, der’s getan hat, nicht ermitteln.«

»Was für eine Sorte Mensch war er … ich meine, der Mann, der verletzt wurde?«

»Netter kleiner Bursche, soweit ich mich erinnere. Ich sprach danach mit ihm, und wir bezahlten die Krankenhauskosten. Unsere Anwälte wiesen aber in einem Brief eigens darauf hin, daß es sich dabei um eine reine Gefälligkeit unsererseits handelte und daß wir für den Unfall nicht haftbar gemacht werden könnten.«

»Die freundliche Geste hat nicht gewirkt. Er will das Hotel auf zehntausend Dollar Schadenersatz verklagen. Er macht Schock, Körperverletzung und Verdienstausfall geltend und behauptet, wir wären fahrlässig gewesen.«

»Er wird nicht einen Cent kassieren«, erklärte Peter bestimmt. »In gewisser Weise ist das wohl nicht ganz fair, aber er hat nicht die geringste Chance, damit durchzukommen.«

»Woher können Sie das so genau wissen?«

»Weil es eine Menge Gerichtsentscheidungen gibt, in denen es um die gleiche Sache geht. Verteidiger brauchen bloß auf diese Präzedenzfälle zurückgreifen und sie vor Gericht zu zitieren.«

»Und das genügt, um eine Entscheidung durchzusetzen?«

»Im allgemeinen ja«, versicherte er. »Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet ist schon seit Jahren ziemlich einheitlich. Da gab es beispielsweise einen klassischen Fall in Pittsburgh — im William-Penn-Hotel. Ein Mann wurde von einer Flasche getroffen, die aus einem der Gästezimmer geworfen wurde und das Verdeck seines Wagens durchschlug. Er verklagte das Hotel.«

»Und er gewann den Prozeß nicht?«

»Nein, er verlor ihn in erster Instanz und legte Berufung beim Obersten Gerichtshof von Pennsylvania ein. Das wies ihn ab.«

»Warum?«

»Das Gericht sagte, kein Hotel wäre für die Handlungen seiner Gäste verantwortlich. Als einzige Ausnahme könnte man eventuell gelten lassen, wenn einer der leitenden Angestellten, sagen wir, der Hoteldirektor, im voraus von der Attacke Kenntnis hatte und nichts unternahm, um sie zu verhindern.« Peter kramte in seinem Gedächtnis und runzelte vor lauter Anstrengung die Stirn. »Dann war da noch ein Fall — in Kansas City, glaube ich. Einige Kongreßteilnehmer ließen mit Wasser gefüllte Wäschesäcke aus ihren Fenstern auf die Straße plumpsen. Als die Säcke barsten, stoben die Leute auf dem Gehsteig auseinander, und dabei wurde ein Passant unter einen fahrenden Wagen gestoßen. Er wurde schwer verletzt. Später verklagte er das Hotel, kam aber auch nicht damit durch. Es gibt noch eine Menge anderer Gerichtsentscheidungen — im Wortlaut sind sie alle ziemlich gleich.«

»Woher wissen Sie das alles?« fragte Christine neugierig.

»Unter anderem habe ich in Cornell auch Vorlesungen über Hotelrecht gehört.«

»Na, ich finde, das alles klingt gräßlich unfair.«

»Es ist hart für die Betroffenen, aber fair dem Hotel gegenüber. Im Grunde müßte natürlich der Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden. Der Haken dabei ist bloß, daß es bei den vielen Fenstern zur Straße nahezu unmöglich ist, den Schuldigen zu finden. Und so rutschen sie meistens durch.«

Christine hatte aufmerksam zugehört, den Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn leicht in die Hand gestützt. Sonnenlicht sickerte durch die halb geschlossenen Jalousien herein und setzte ihr rotes Haar in Flammen. Im Moment kräuselte eine nachdenkliche verwirrte Falte ihre Stirn, und Peter ertappte sich bei dem Wunsch, sie sanft mit zwei Fingern wegzustreicheln.

»Ganz begriffen hab’ ich das noch immer nicht«, sagte sie. »Wollen Sie im Ernst behaupten, daß kein Hotel für die Handlungen seiner Gäste gesetzlich verantwortlich ist — nicht mal für das, was ein Gast dem anderen antut?«

»Allerdings, zumindest auf dem Gebiet, über das wir eben gesprochen haben. Die Rechtsprechung ist da ganz eindeutig, und zwar schon seit langer Zeit. Tatsächlich geht ein Großteil unserer Gesetze auf die englischen Wirtshäuser zurück, beginnend mit dem 14. Jahrhundert.«

»Erzählen Sie mir davon.«

»Ich will Ihnen eine Kurzfassung geben. Es fängt damit an, daß die englischen Herbergen nur eine einzige große, von einem offenen Feuer erwärmte und beleuchtete Halle hatten, in der alle zusammen schliefen. In der Nacht war es Sache des Wirts seine Gäste vor Dieben und Mördern zu schützen.«

»Das klingt vernünftig.«

»Es war auch vernünftig. Und man erwartete das gleiche auch dann noch vom Wirt, als kleinere Schlafzimmer aufkamen, weil in ihnen stets mehrere Gäste untergebracht wurden — oder zumindest untergebracht werden konnten.«

»Wenn man’s sich genau überlegt«, sagte Christine versonnen, »dann war das damals keine Zeit für Abgeschiedenheit und Einsamkeit.«

»Die Absonderung kam erst mit den Einzelzimmern, zu denen die Gäste Schlüssel hatten. Und von da an ging auch die Rechtsprechung von anderen Gesichtspunkten aus. Der Wirt war lediglich verpflichtet, seine Gäste vor Dieben und Einbrechern zu schützen. Aber darüber hinaus hatte er keine Verantwortung, und zwar weder für das, was ihnen in ihren Zimmern zustieß, noch für das, was sie da machten.«

»Mit dem Schlüssel änderte sich also alles.«

»Ja, und so wie damals ist’s noch heute. In dem Punkt sind sich die Gesetze gleichgeblieben. Wenn wir einem Gast einen Schlüssel geben, ist das ein Rechtssymbol. Es bedeutet, daß der Wirt über den Raum nicht länger verfügen kann oder nicht noch jemanden dort einquartieren darf. Andererseits haftet das Hotel auch nicht für den Gast, sobald der die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen hat.« Er wies auf den Brief, den Christine beiseite gelegt hatte. »Deshalb müßte unser Freund da schon den Flaschenwerfer ausfindig machen und sich an ihn halten. Wenn er uns belangt, hat er keine Chance.«

»Ich ahnte nicht, daß Sie so ungeheuer viel darüber wissen.«

»Es war nicht meine Absicht, diesen Eindruck zu erwecken. Ich nehme an, daß W.T. über die Rechtslage im Bilde ist, falls er aber eine Zusammenfassung der Präzedenzfälle haben möchte, so habe ich eine, die ich ihm geben kann.«

»Er wird vermutlich dankbar dafür sein. Ich hefte eine diesbezügliche Notiz an den Brief.« Sie sah Peter offen an. »All das macht Ihnen Spaß, nicht wahr? Ein Hotel zu leiten und was sonst damit zusammenhängt.«

»Ja«, antwortete er ehrlich. »Obwohl es mir noch mehr Spaß machen würde, wenn wir hier ein paar Veränderungen durchdrücken könnten. Hätten wir das schon früher getan, dann brauchten wir jetzt vielleicht Curtis O’Keefe nicht. Dabei fällt mir ein … wissen Sie schon, daß er angekommen ist?«

»Sie sind der siebzehnte, der mir das sagt. Ich glaube, das Telefon fing in dem Moment an zu läuten, als er erst mit einem Bein aus dem Wagen gestiegen war.«

»Das ist nicht überraschend. Inzwischen werden sich eine Menge Leute fragen, warum er hier ist. Oder vielmehr, wann man uns offiziell mitteilt, warum er hier ist.«

»Ich habe eben alles für ein privates Dinner heute abend in W.T.s Suite in die Wege geleitet — für Mr. O’Keefe und seine Begleiterin. Haben Sie sie schon gesehen? Sie soll etwas ganz Besonderes sein.«

Er schüttelte den Kopf. »Mein eigenes Dinner interessiert mich mehr. Ich rechne dabei auf Sie. Deshalb bin ich hier.«

»Falls das eine Einladung für heute abend sein soll, kann ich bloß sagen, ich bin frei und Hunger habe ich auch.«

»Fein!« Er sprang auf und überragte sie wie ein Turm. »Ich hole Sie um sieben in Ihrer Wohnung ab.«

Auf dem Weg nach draußen erspähte er auf einem Tisch dicht neben der Tür ein zusammengefaltetes Exemplar der »Times-Picayune.« Er blieb stehen und erkannte an der fetten Schlagzeile über den Tod der beiden Unfallopfer, daß es sich um dieselbe Ausgabe handelte, die er auch gerade gelesen hatte. »Ich nehme an, Sie haben das hier schon gesehen?« fragte er bedrückt.

»Ja. Es ist schrecklich, nicht? Beim Lesen hatte ich das gräßliche Gefühl, als hätte ich das Ganze mit angesehen, weil wir gestern nacht da vorbeikamen.«

»Komisch, daß Sie das sagen.« Er blickte sie seltsam an. »Ich hatte auch ein ganz eigenartiges Gefühl dabei. Es hat mich gestern nacht verfolgt und heute morgen wieder.«

»Was für ein Gefühl?«

»Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie kommt’s mir vor, als wüßte ich etwas — genauer kann ich’s nicht ausdrücken —, und dabei weiß ich nichts.« Peter zuckte mit den Schultern und schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich bilde mir das ein, weil wir da vorbeigefahren sind.« Er legte die Zeitung wieder auf den Tisch.

Als er mit Riesenschritten hinausging, wandte er sich um und winkte ihr lächelnd zu.

Christine ließ sich, wie schon oft, zum Lunch belegte Brote und Kaffee heraufbringen. Während sie noch beim Essen war, tauchte Warren Trent auf, blieb jedoch nur, um die Post zu lesen, bevor er sich zu einem seiner Streifgänge durchs Hotel aufmachte, die, wie Christine wußte, Stunden dauern konnten. Es bekümmerte sie, als sie das abgespannte Gesicht des Hotelbesitzers sah und bemerkte, wie schwerfällig er sich fortbewegte, ein sicheres Anzeichen dafür, daß sein Ischias ihm zu schaffen machte.

Um halb drei, nachdem sie einer der Sekretärinnen im Vorzimmer Bescheid gesagt hatte, begab sie sich zu einem Besuch bei Albert Wells.

Sie fuhr im Lift in die vierzehnte Etage hinauf und erspähte, als sie in den Korridor einbog, eine sich nähernde untersetzte Gestalt. Es war Sam Jakubiec, der Kreditmanager. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, und seine Miene war verdrossen.

Als er Christine sah, blieb er stehen. »Ich habe eben mit Ihrem kranken Freund, Mr. Wells, gesprochen.«

»Wenn Sie bei ihm genauso finster dreingeschaut haben, kann der Besuch für ihn nicht sehr vergnüglich gewesen sein.«

»Na, ehrlich gesagt, für mich war’s auch nicht gerade ein Vergnügen. Ich hab’ ihm das hier abgeluchst, aber weiß der Himmel, ob’s was taugt.«

Christine griff nach dem Blatt Papier, das der Hotelmanager in der Hand hatte. Es war ein schmieriger Bogen Hotelbriefpapier mit einem Fettfleck in einer Ecke. Darauf hatte Albert Wells in plumper sperriger Schrift eine Zahlungsanweisung über zweihundert Dollar für eine Bank in Montreal ausgestellt und mit seinem Namen unterzeichnet.

»Er ist auf seine stille Art ein zäher alter Bursche«, sagte Jakubiec. »Zuerst wollte er gar nichts herausrücken. Erklärte, er würde seine Rechnung bezahlen, sobald sie fällig wäre. Als ich ihm sagte, wir würden ihm, wenn nötig, die Zahlungsfrist verlängern, schien ihn das nicht zu interessieren.«

»Wenn es um Geld geht, sind die Leute empfindlich«, meinte Christine. »Besonders, wenn sie knapp dran sind.«

Der Kreditmanager schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Teufel! — die meisten von uns sind knapp bei Kasse. Ich bin’s immer. Aber da laufen die Leute herum und bilden sich ein, es wäre eine Schande, und dabei gäb’s in den meisten Fällen einen Ausweg, wenn sie bloß offen mit der Sprache herauskämen.«

»Ist das legal?« fragte Christine und betrachtete das Papier bedenklich.

»Es ist legal, wenn Geld auf dem Konto ist. Man kann einen Scheck auf Notenpapier oder einer Bananenschale ausschreiben, wenn’s einem in den Kram paßt. Aber die meisten Leute, die Geld auf der Bank haben, benutzen ein vorgedrucktes Scheckheft. Ihr Freund Wells sagte, er könne seines nicht finden.«

Als Christine ihm den Wisch zurückgab, fügte Sam Jakubiec hinzu: »Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, er ist ehrlich und hat das Geld — aber gerade so viel und nicht mehr — und wird sich krummlegen, um es aufzutreiben. Der Haken dabei ist, er schuldet schon mehr als die Hälfte von den zweihundert, und die Privatpflege wird den Rest verdammt schnell schlucken.«

»Was werden Sie machen?«

Der Kreditmanager fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Zuerst mal werde ich das Geld für einen Anruf in Montreal springen lassen und mich erkundigen, ob der Scheck hier gut ist oder nicht.«

»Und wenn er schlecht ist, Sam?«

»Dann muß Ihr Freund gehen — wenigstens, soweit es mich betrifft. Falls Sie allerdings mit Mr. Trent reden wollen und der ihn bleiben läßt —«, Jakubiec zuckte mit den Schultern —, »ist das natürlich was anderes.«

Christine schüttelte den Kopf. »Ich möchte W.T. nicht damit belästigen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Bescheid sagen, bevor Sie etwas unternehmen.«

»Gern, Miss Francis.« Der Kreditmanager nickte und stapfte dann mit kurzen, energischen Schritten den Korridor hinunter.

Gleich darauf klopfte Christine an die Tür des Zimmers 1410.

Eine uniformierte Pflegerin mittleren Alters mit ernstem Gesicht und Hornbrille öffnete. Christine nannte ihren Namen, und die Krankenschwester sagte: »Warten Sie bitte einen Moment. Ich werde Mr. Wells fragen, ob er sie sehen möchte.«

Christine hörte aus dem Inneren des Zimmers Schritte und mußte lächeln, als eine Stimme nachdrücklich sagte: »Natürlich möchte ich sie sehen. Lassen Sie sie nicht warten.«

Als die Pflegerin zurückkehrte, schlug Christine ihr vor: »Falls Sie eine Weile weggehen wollen, könnte ich Sie solange vertreten.«

»Also, ich weiß nicht recht …« Sie zögerte, taute aber sichtlich auf.

Die Stimme aus dem Zimmer sagte: »Gehen Sie ruhig. Miss Francis kennt sich aus. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte’s mich gestern nacht erwischt.«

»Nun gut«, sagte die Pflegerin. »Ich bleibe nur zehn Minuten weg, und sollten Sie mich in der Zwischenzeit brauchen, können Sie mich in der Cafeteria erreichen.«

Albert Wells strahlte über das ganze Gesicht, als Christine hereinkam. Der kleine Mann saß zurückgelehnt in einem Berg von Kissen und sah winzig aus. Seine äußere Erscheinung, die gebrechliche, in ein altmodisches Nachthemd gehüllte Gestalt, erinnerte noch immer an einen Sperling, aber im Vergleich zu seiner beinahe hoffnungslosen Schwäche in der vergangenen Nacht an einen recht munteren Sperling. Seine Gesichtsfarbe war noch blaß, aber nicht mehr grau. Er atmete, von einem gelegentlichen Keuchen abgesehen, regelmäßig und anscheinend mühelos.

»Es ist nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen, Miss«, sagte er.

»Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Ich wollte wissen, wie es Ihnen geht.«

»Viel besser, und das hab’ ich Ihnen zu verdanken.« Er zeigte auf die Tür, die sich gerade hinter der Pflegerin schloß. »Aber die da, die ist ein regelrechter Drachen.«

»Sie tut Ihnen aber gut, scheint mir.« Christine sah sich anerkennend im Zimmer um. Alles darin, auch die persönlichen Habseligkeiten des alten Mannes, war sorglich aufgeräumt. Auf einem Tisch neben dem Bett stand ein Tablett mit Medikamenten. Der Sauerstoffzylinder, den sie in der vergangenen Nacht benutzt hatten, war noch da, aber der Plastikbeutel war durch eine zünftige Maske ersetzt worden.

»Oh, sie kennt sich aus«, gab Albert Wells zu. »Das nächstemal hätte ich aber gern eine hübschere Schwester.«

Christine lächelte. »Es geht Ihnen wirklich besser.« Sie fragte sich, ob sie etwas über ihr Gespräch mit Sam Jakubiec verlauten lassen sollte, entschied dann aber dagegen. Statt dessen sagte sie: »Gestern nacht sprachen Sie davon, daß die Anfälle anfingen, als Sie Bergmann waren.«

»Damals holte ich mir die Bronchitis; das stimmt.«

»Waren Sie sehr lange Bergmann, Mr. Wells?«

»Länger als ich denken mag, Miss. Aber es gibt immer was, das einen dran erinnert … mal ist es die Bronchitis, mal die hier …« Er legte die gespreizten Hände mit dem Handteller nach oben auf die Decke, und Christine sah, daß sie hart und knorrig waren von der schweren körperlichen Arbeit vieler Jahre.

Impulsiv streckte sie den Arm aus und streichelte sie. »Darauf können Sie stolz sein, finde ich. Wollen Sie mir nicht davon erzählen? Ich würde gern mehr darüber hören.«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein andermal. Dazu braucht man Zeit und viel Geduld. Das meiste sind sowieso bloß Altmännergeschichten, und alte Männer finden kein Ende, wenn man ihnen eine Chance gibt.«

Christine setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Ich habe sehr viel Ausdauer, und ich glaube einfach nicht, daß Ihre Geschichten langweilig sind.«

»Es gibt ein paar Leute in Montreal, die Ihnen da nicht beistimmen würden«, sagte er schmunzelnd.

»Ich war schon immer neugierig auf Montreal. Ich war noch nie dort.«

»Die Stadt ist eine Mischung aus allem Möglichen — in gewisser Weise ähnelt sie New Orleans.«

»Kommen Sie deshalb jedes Jahr hierher?« fragte sie neugierig. »Weil es Sie an zu Hause erinnert?«

Der kleine Mann überlegte, die mageren Schultern tief im Kissenberg vergraben. »Daran hab’ ich eigentlich nie gedacht, Miss. Ich schätze, ich komme her, weil ich altmodische Dinge mag und weil nicht mehr viele Plätze übrig sind, wo man sie findet. Mit dem Hotel hier ist’s das gleiche. An manchen Stellen ist es schon ein bißchen fadenscheinig, das wissen Sie selbst, Miss. Aber im großen und ganzen ist’s behaglich, und ich meine das im besten Sinn. Ich hasse Standardhotels. Da ist eins wie das andere — geleckt und auf Hochglanz poliert, und wenn man drin wohnt, kommt man sich vor wie in einer Fabrik.«

Christine zögerte einen Moment lang. Dann, im Bewußtsein, daß die Ereignisse des Tages die bisherige Heimlichtuerei ohnehin überflüssig machten, sagte sie: »Ich habe Neuigkeiten für Sie, die Ihnen nicht gefallen werden. Ich fürchte, das St. Gregory wird auch bald zu den Standardhotels gehören.«

»Wenn’s so weit käme, würde ich das bedauern. Obwohl ich mir gedacht hab’, daß ihr hier in Geldschwierigkeiten seid.«

»Woran haben Sie das gemerkt?«

»An allem möglichen, Miss.« Der alte Mann sann nach. »Als ich das letzte- und auch das vorletztemal hier war, merkte ich gleich, daß ihr in einer Klemme seid. Was ist’s denn diesmal — Bankschulden, Kündigung einer Hypothek oder was sonst?«

An diesem ehemaligen Bergmann kamen immer neue, überraschende Charakterzüge zum Vorschein, dachte Christine, nicht zuletzt ein sicherer Instinkt für die Wahrheit. Sie antwortete lächelnd: »Vermutlich hab’ ich schon zuviel ausgeplaudert. Aber Sie werden es sowieso erfahren. Mr. Curtis O’Keefe ist heute eingetroffen.«

»O nein! — Nicht O’Keefe.« Auf Albert Wells’ Gesicht spiegelte sich aufrichtiger Kummer. »Wenn der das Hotel hier in die Finger bekommt, ist’s bald bloß noch ein Abklatsch von seinen anderen. Dann wird’s wirklich eine Fabrik. Das Hotel hätte ein paar Veränderungen dringend nötig, aber nicht solche, wie O’Keefe sie vorhat.«

»Welche denn, Mr. Wells?« fragte Christine neugierig.

»Ein guter Hotelfachmann könnte Ihnen das besser erklären als ich, obwohl ich mir auch so meine Gedanken gemacht habe. Eins weiß ich jedenfalls genau, Miss — die Leute machen sich wieder mal zum Narren einer Mode. Im Moment sind sie versessen auf Politur und Chrom, und alles soll gleich aussehen. Aber mit der Zeit kriegen sie das satt und möchten die alten Dinge zurückhaben — solche Sachen wie echte Gastlichkeit und ein bißchen Charakter und eine persönliche Atmosphäre; kein Standardhotel, wie sie’s in fünfzig Städten gefunden haben und in fünfzig anderen finden könnten, sondern was Besonderes. Der Haken ist bloß, daß, wenn die Leute das endlich begriffen haben, die meisten guten Häuser — und das hier vielleicht auch — nicht mehr existieren werden.« Er verstummte und fragte dann: »Wann wird sich’s entscheiden?«

»Das weiß ich wirklich nicht.« Die Tiefe des Gefühls, die in den Worten des kleinen Mannes zum Ausdruck kam, hatte Christine erschreckt. »Nur glaube ich nicht, daß Mr. O’Keefe lange hierbleiben wird.«

Albert Wells nickte. »Nach allem, was ich gehört hab’, bleibt er nirgends lange. Ein schneller Arbeiter, sobald er sich was in den Kopf gesetzt hat. Also, ich kann nur nochmal sagen, es wäre ein Jammer, und sollte es wirklich dazu kommen, dann sehen Sie mich hier nicht wieder.«

»Wir werden Sie vermissen, Mr. Wells. Mir wenigstens werden Sie fehlen — sofern ich den Wechsel überlebe.«

»Oh, Sie werden ihn überleben, und Sie werden das erreichen, was Sie erreichen wollen, Miss. Nur wird’s vielleicht nicht gerade ein Posten im Hotel sein, wenn ein junger Bursche aufkreuzt, der ein bißchen Verstand hat.«

Sie lachte, ohne ihm zu antworten, und danach plauderten sie über andere Dinge, bis ein kurzes Klopfen an der Tür die Rückkehr des gestrengen Schutzengels ankündigte. »Danke, Miss Francis«, sagte die Pflegerin steif und sah nachdrücklich auf ihre Uhr. »Mein Patient muß jetzt seine Medizin nehmen und ruhen.«

»Ich kann ohnehin nicht bleiben«, erklärte Christine. »Morgen besuche ich Sie wieder, Mr. Wells, wenn ich darf.«

»Das wäre nett, Miss.«

Als sie hinausging, zwinkerte er ihr zu.

___________

Auf ihrem Schreibtisch fand sie eine Notiz mit der Bitte, Sam Jakubiec anzurufen. Sie griff nach dem Hörer, und der Kreditmanager meldete sich.

»Ich dachte mir, daß Sie vielleicht gern Bescheid haben würden«, sagte er. »Ich hab’ mit dieser Bank in Montreal gesprochen. Es sieht so aus, als wäre Ihr Freund okay.«

»Das ist eine gute Nachricht, Sam. Was haben Sie erfahren?«

»Also, irgendwie ist das Ganze komisch. Sie wollten mir nicht sagen, für wieviel der Kunde gut ist, obwohl Banken das sonst tun. Sagten nur, ich sollte den Scheck zur Zahlung einreichen, und als ich ihnen den Betrag nannte, schien sie das nicht weiter zu beunruhigen. Deshalb nehme ich an, daß er das Geld hat.«

»Das freut mich.«

»Mich auch, aber ich werde seine Rechnung trotzdem im Auge behalten, damit sie nicht zu hoch wird.«

»Sie sind ein scharfer Wachhund, Sam«, erwiderte sie lachend. »Und schönen Dank für den Anruf.«

10

Curtis O’Keefe und Dodo hatten sich in ihren zwei nebeneinanderliegenden Suiten bequem eingerichtet, wobei Dodo wie immer für beide auspackte, weil ihr das Freude machte. Der Hotelier saß nun im größeren der zwei Salons und studierte einen Geschäftsbericht, einen von mehreren, die sich in einer blauen Mappe mit der Aufschrift »Vertraulich — St. Gregory, vorläufiges Gutachten« befanden.

Dodo inspizierte den prachtvollen Obstkorb, der auf Peter McDermotts Anweisung hin in der Suite abgeliefert worden war, entschied sich für einen Apfel und war gerade dabei, ihn zu schälen, als das Telefon neben O’Keefes Ellenbogen innerhalb weniger Minuten zweimal läutete.

Der erste Anrufer war Warren Trent, der den Gast höflich begrüßte und sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Nachdem Curtis O’Keefe freundlich versichert hatte, daß sie sich wohl fühlten — »Könnte gar nicht besser sein, mein lieber Warren, nicht mal in einem O’Keefe-Hotel« —, nahm er für sich selbst und Dodo die Einladung an, am Abend privat mit dem Besitzer des St. Gregory zu speisen.

»Es wird uns ein Vergnügen sein«, erklärte der Hotelier huldvoll. »Übrigens, ich bewundere Ihr Haus.«

»Das hatte ich befürchtet«, erwiderte Warren Trent trocken.

O’Keefe lachte schallend. »Wir unterhalten uns heute abend darüber, Warren. Vielleicht auch ein wenig über Geschäfte, wenn’s sein muß, aber vor allem freue ich mich auf ein Gespräch mit einem großen Hotelmann.«

Als er den Hörer auflegte, fragte Dodo mit nachdenklich gekrauster Stirn: »Wenn er ein so großer Hotelmann ist, Curtie, warum verkauft er dann an dich?«

Wie immer gab er ihr eine ernsthafte Antwort, obwohl er im voraus wußte, daß sie sie nicht begreifen würde. »In der Hauptsache, weil die Zeiten sich geändert haben und er das nicht begriff. Heutzutage genügt es nicht, ein guter Hotelier zu sein; man muß auch kalkulieren können.«

»Herrje«, sagte Dodo, »sind die Äpfel groß!«

Der zweite Anruf, der dem ersten unmittelbar folgte, kam aus einem Münzfernsprecher in der Hotelhalle. »Hallo, Odgen«, sagte Curtis O’Keefe, nachdem der Anrufer seinen Namen genannt hatte, »ich lese gerade Ihren Bericht.«

Elf Stockwerke tiefer, in der Halle, nickte ein Mann mit fahlem Gesicht und schütterem Haar, der wie ein Buchhalter aussah, was er — unter anderem — auch war, seinem jüngeren Gefährten zu, der vor der Telefonzelle wartete. Er hieß Odgen Bailey, wohnte auf Long Island und hatte die letzten zwei Wochen unter dem Namen Richard Fountain aus Miami im Hotel verbracht. Es war typisch für seine Umsicht, daß er weder den Hausanschluß benutzte noch von seinem Zimmer in der vierten Etage aus anrief. Nun sagte er in korrektem Tonfall: »Es gibt da noch einige Punkte, die wir gern ergänzen würden, Mr. O’Keefe, und einige zusätzliche Informationen, die Sie, glaube ich, brauchen werden.«

»Sehr gut. Ich erwarte Sie in fünfzehn Minuten.«

Beim Auflegen sagte Curtis O’Keefe belustigt zu Dodo: »Es freut mich, daß du das Obst magst. Sonst hätte ich all diesen Früchtesegen schon längst abgestellt.«

»Also, eigentlich bin ich gar nicht so scharf drauf.« Sie sah ihn mit ihren babyblauen Augen groß an. »Aber du ißt nie welches, und es kommt mir so gräßlich verschwenderisch vor.«

»In einem Hotel geht kaum etwas verloren«, versicherte er ihr. »Was du stehenläßt, nimmt sich ein anderer, und meistens verschwindet es durch die Hintertür.«

»Meine Mom ist verrückt auf Obst.« Dodo brach eine Weintraube ab. »Bei einem Korb wie dem hier würde sie überschnappen.«

Er hatte wieder nach dem Bericht gegriffen. Nun legte er ihn weg. »Warum schickst du ihr dann nicht einen?«

»Meinst du jetzt gleich?«

»Natürlich.« Er hob den Telefonhörer ab und verlangte den Blumenladen im Hotel. »Hier ist Mr. O’Keefe. Ich glaube, Sie haben einen Obstkorb in meine Suite geliefert.«

Eine weibliche Stimme antwortete ängstlich: »Ja, Sir. Stimmt etwas damit nicht?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur, daß genauso ein Obstkorb nach Akron, Ohio, geliefert wird. Setzen Sie ihn auf meine Rechnung. Einen Moment …« Er reichte Dodo den Hörer. »Gib ihnen die Adresse und eine Nachricht für deine Mutter.«

Als sie fertig war, schlang sie impulsiv die Arme um seinen Hals. »Herrje, Curtie, du bist ein Schatz!«

Er sonnte sich in ihrer Freude, die völlig echt war. Es war seltsam, dachte er, daß Dodo, die wie alle ihre Vorgängerinnen gegen kostspielige Geschenke nichts einzuwenden hatte, sich allem Anschein nach über Kleinigkeiten — wie beispielsweise den Obstkorb für ihre Mutter — am meisten freute.

Kaum hatte er die Berichte in der Mappe durchgelesen, als es, pünktlich nach fünfzehn Minuten, an der Tür klopfte. Dodo, die öffnete, führte zwei Männer herein, die beide Aktentaschen trugen — Odgen Bailey und Sean Hall, seinen Kollegen. Hall war die jüngere Ausgabe seines Vorgesetzten und würde in zehn Jahren oder so die gleiche fahle konzentrierte Miene haben, die zweifellos vom unausgesetzten Brüten über Bilanzen und Gutachten herrührte.

Der Hotelier begrüßte beide Männer herzlich. Odgen Bailey — alias Richard Fountain — war eine wichtige Schlüsselfigur in der O’Keefe-Organisation. Er war nicht nur ein hervorragender Wirtschaftsprüfer, sondern besaß dazu die ungewöhnliche Fähigkeit, sich in jedes beliebige Hotel einzuschmuggeln und nach ein- oder zweiwöchigen diskreten Beobachtungen, von denen die Hotelleitung im allgemeinen nichts ahnte, eine Expertise vorzulegen, die den hoteleigenen Berechnungen unheimlich nahekam. Hall, den Bailey entdeckt und angelernt hatte, war ein vielversprechender Schüler und trat bereits jetzt in die Fußstapfen seines Lehrmeisters.

Wie O’Keefe im voraus gewußt hatte, lehnten beide Männer den Drink, den er ihnen anbot, höflich ab. Sie setzten sich auf ein Sofa ihm gegenüber und unterließen es, ihre Aktenmappen zu öffnen, als wüßten sie, daß zunächst bestimmte andere Zeremonien verrichtet werden mußten. Dodo hatte sich wieder auf den Obstkorb gestürzt und schälte eine Banane.

»Es freut mich, daß Sie kommen konnten, Gentlemen«, sagte Curtis O’Keefe, als wäre die Zusammenkunft nicht schon seit Wochen geplant gewesen. »Bevor wir uns jedoch den Geschäften zuwenden, wollen wir Gott, den Allmächtigen, um seinen Beistand bitten.«

Mit einer Gelenkigkeit, die lange Übung verriet, kniete der Hotelier nieder und faltete inbrünstig die Hände vor der Brust. Odgen Bailey folgte seinem Beispiel mit einer Miene, die an Resignation grenzte und anzeigte, daß er mit dieser Gepflogenheit durchaus vertraut war, und nach kurzem Zögern fiel auch Hall in die Knie. O’Keefe sah zu Dodo hinüber, die stillvergnügt ihre Banane aß. »Meine Liebe«, sagte er ruhig, »wir wollen Gott für unser Vorhaben um seinen Segen bitten.«

Dodo legte die Banane weg. »Okay«, sagte sie bereitwillig und glitt vom Sessel, »ich bin ganz Ohr, Curtie.«

Noch vor einigen Monaten hatten die häufigen Gebetsübungen ihres Wohltäters, die dazu noch in den unwahrscheinlichsten Momenten stattfanden, Dodo gelegentlich aus der Fassung gebracht, obwohl sie selbst nicht hätte sagen können, warum. Aber schließlich hatte sie sich, wie es ihre Art war, so weit daran gewöhnt, daß sie sie nicht mehr aufregten. »Weißt du«, hatte sie einer Freundin anvertraut, »Curtie ist wirklich ein Schatz, und ich finde, wenn ich mich für ihn auf den Rücken lege, kann ich ebensogut auch für ihn in die Knie gehen.«

»Allmächtiger Gott«, intonierte Curtis O’Keefe mit geschlossenen Augen und feierlichem, rosig überhauchtem Löwenantlitz, »verleih uns, falls es Dein Wille ist, bei dem, was wir vorhaben, Erfolg. Beim Kauf dieses Hotels, das den Namen Deines Heiligen Gregor trägt, erflehen wir Deinen Segen und Deine Hilfe. Gestatte uns, es jenen Hotels hinzuzufügen, die wir bereits — durch unsere Gesellschaft — für Deine Sache gewonnen haben und die in Deinem Namen verwaltet werden von Deinem ergebenen Knecht, der zu Dir spricht.« Auch wenn er es mit Gott zu tun hatte, blieb Curtis O’Keefe seiner Gewohnheit treu, keine langen Umschweife zu machen.

Mit nach oben gewandtem Gesicht, die Worte rollend, daß sie wie ein Fluß mächtig dahinströmten, fuhr er fort: »Wir bitten auch, falls es Dein Wille ist — und beten darum, daß er es sein möge —, den Kauf schnell und unter Vermeidung unnötiger Kosten in die Wege zu leiten, damit der Schatz, den wir, Deine Knechte, besitzen, nicht übermäßig angegriffen, sondern bewahrt wird zu Deinem weiteren Nutzen. Außerdem, o Herr, erflehen wir Deinen Segen für alle jene, die im Interesse des Hotels mit uns verhandeln, auf daß sie sich allein von Deinem Geist leiten und bei allem, was sie tun, Vernunft und Einsicht walten lassen. Endlich, o Gott, sei bei uns immerdar, gib, daß unsere Sache blüht und unser Werk gedeiht, damit wir es unsererseits Dir weihen können, zu Deinem höheren Ruhm, Amen. Also, meine Herren, wieviel werde ich für das Hotel zahlen müssen?«

O’Keefe war bereits auf seinen Sessel zurückgeschnellt. Es dauerte jedoch ein oder zwei Sekunden, bevor den beiden anderen klar wurde, daß der letzte Satz nicht mehr zum Gebet gehörte, sondern ihr Geschäftsgespräch einleitete. Bailey schaltete als erster, nahm schnell auf dem Sofa Platz und zog ein Bündel Papiere aus seiner Aktenmappe. Hall rappelte sich erschrocken hoch und setzte sich neben ihn.

Odgen Bailey antwortete respektvoll: »Über den Preis möchte ich mich nicht äußern, Mr. O’Keefe. Diese Entscheidung liegt natürlich wie immer bei Ihnen. Aber zweifellos dürften sich die Verhandlungen durch die Hypothek von zwei Millionen Dollar, die am Freitag fällig ist, wesentlich leichter gestalten, wenigstens für uns.«

»Dann hat sich in dem Punkt also nichts geändert? Kein Wort von Verlängerung oder Ablösung?«

Bailey schüttelte den Kopf. »Ich habe hier einige recht gute Informationsquellen angezapft, und sie haben mir versichert, daß damit nicht zu rechnen ist. Keiner der Finanziers will sich darauf einlassen, hauptsächlich wegen der Verluste des Hotels — ein Gutachten darüber habe ich Ihnen bereits gegeben —, die mit der allgemein bekannten schlechten Leitung eng zusammenhängen.«

Der Hotelier nickte nachdenklich und schlug die blaue Mappe auf, deren Inhalt er gerade erst durchgelesen hatte. Er suchte ein einzelnes maschinebeschriebenes Blatt heraus. »Bei Ihrer Einschätzung künftiger Verdienstmöglichkeiten sind Sie ungewöhnlich optimistisch.« Seine hellen Augen nahmen Bailey aufs Korn.

Das Gesicht des Wirtschaftsprüfers verzog sich zu einem dünnen, verkniffenen Lächeln. »Ich neige nicht zu Übertreibungen, wie Sie wissen. Aber ich bin überzeugt davon, daß sich in kürzester Frist ein beträchtlicher Gewinn herauswirtschaften ließe, und zwar sowohl durch die Erschließung neuer Einnahmequellen als auch durch bessere Ausnutzung der alten. Hier ist der ausschlaggebende Faktor die Verwaltung. Sie ist unvorstellbar schlecht.« Er nickte dem jüngeren Mann zu. »Sean hat in dieser Richtung einige Ermittlungen angestellt.«

Ein wenig befangen und immer wieder seine Notizen zu Rate ziehend, begann Hall: »Die Befugnisse sind nicht genau begrenzt und werden nicht überwacht, mit dem Ergebnis, daß sich einige Abteilungsleiter eine erstaunliche Machtvollkommenheit angeeignet haben. Der Lebensmitteleinkauf beispielsweise —«

»Moment mal.«

Der Einspruch seines Arbeitgebers brachte Hall jäh zum Schweigen.

»Auf die Einzelheiten können wir hier verzichten«, erklärte Curtis O’Keefe entschieden. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie, Gentlemen, sich darum kümmern. Bei unseren Besprechungen möchte ich lediglich in großen Umrissen informiert werden.« Obwohl der Verweis verhältnismäßig milde ausfiel, lief Hall rot an, und Dodo warf ihm quer durch den Raum einen mitfühlenden Blick zu.

»Ich schließe aus alledem«, fügte O’Keefe hinzu, »daß sich infolge der unfähigen Leitung ein allgemeiner Schlendrian breitgemacht hat mit Durchstechereien, die den Gewinn erheblich schmälern.«

Der jüngere Wirtschaftsprüfer nickte nachdrücklich. »Allerdings, Sir, vor allem bei den Lebensmitteln und Getränken.« Er war im Begriff, seine geheimen Beobachtungen in den verschiedenen Bars und Gesellschaftsräumen zu schildern, hielt sich jedoch zurück. Damit konnte man sich später befassen, nach Abschluß der Übernahme und dem Einzug der »Wühlmäuse«.

Aus eigener Erfahrung wußte Sean Hall, daß sich die Eingliederung eines neuen Hotels in den O’Keefe-Konzern unweigerlich nach ein und demselben Schema abspielte. Zuerst, Wochen vor dem Beginn von Verhandlungen, pflegte ein »Schnüfflerteam« — zumeist angeführt von Odgen Bailey — in das fragliche Hotel einzuziehen, wobei sich die Mitglieder als normale Gäste eintrugen. Durch genaue und systematische Beobachtungen, die gelegentlich mit Hilfe von Bestechungen vervollständigt wurden, gelang es dem Team, indem es Unzulänglichkeiten aufdeckte und nicht genutzte Einnahmequellen ausfindig machte, einen umfassenden Bericht zusammenzustellen. Wo es möglich war — wie beispielsweise im gegenwärtigen Fall —, wurden außerhalb des Hotels bei den Geschäftsleuten der Stadt diskrete Informationen eingeholt. Die magische Wirkung des Namens O’Keefe und die Aussicht auf lukrative Geschäfte mit dem größten Hotelkonzern der Vereinigten Staaten genügten im allgemeinen, um die gewünschten Auskünfte zutage zu fördern. In finanziellen Kreisen, das hatte Sean Hall schon vor langer Zeit gelernt, rangierte Loyalität bestenfalls an zweiter Stelle hinter dem Eigennutz.

Dann, ausgerüstet mit dem Gutachten, pflegte Curtis O’Keefe die Kaufverhandlungen einzuleiten, die meistens erfolgreich waren. Zuletzt rückten die »Wühlmäuse« an.

Die sogenannten Wühlmäuse waren eine abgebrühte, fixe Gruppe von Verwaltungsexperten unter der Führung eines Vizepräsidenten des O’Keefe-Konzerns. Sie waren imstande, jedes beliebige Hotel innerhalb erstaunlich kurzer Zeit dem Einheitsmodell anzugleichen. Bei den ersten Veränderungen handelte es sich für gewöhnlich um administrative und personelle Probleme; umfangreichere Maßnahmen wie Umbauten und dergleichen folgten später. Vor allem aber ging die Gruppe mit lächelndem Gesicht an die Arbeit und versicherte allen, die betroffen waren, daß es nicht zu drastischen Neuerungen kommen werde, sogar wenn sie bereits damit angefangen hatte. Wie ein Mitglied des Teams es ausdrückte: »Wenn wir irgendwo anrücken, verkünden wir als erstes, daß keine personellen Veränderungen geplant sind. Und dann starten wir mit den Kündigungen.«

Manchmal mußte Hall, der ein nachdenklicher junger Mann und unter Quäkern aufgewachsen war, sich über seine Rolle bei diesem Spiel wundern. Obwohl er noch nicht lange für O’Keefe arbeitete, hatte er bereits mehrfach beobachtet, wie Hotels von erfreulicher Individualität von der gesteuerten Gleichmacherei des Konzerns verschluckt wurden. Irgendwie stimmte ihn diese Entwicklung traurig. Auch die moralischen Grundsätze, die zur Erreichung des Ziels angewandt wurden, bereiteten ihm Unbehagen.

Aber stets wogen persönlicher Ehrgeiz und die Tatsache, daß Curtis O’Keefe Dienstleistungen großzügig bezahlte, schwerer als vage Unlustgefühle. Sein monatlicher Gehaltsscheck und ein ständig anwachsendes Bankkonto erfüllten Sean Hall mit Befriedigung, auch in unruhigen Momenten.

Es gab für ihn auch noch andere Möglichkeiten, die er sich allerdings, selbst in seinen ausschweifendsten Träumen, nur ganz verschwommen auszumalen wagte. Seit Betreten der Suite war er sich Dodos Gegenwart nur zu sehr bewußt, obwohl er es vermied, sie offen anzusehen. Ihre blonde und aufreizende Sexualität, die den Raum wie eine Aura zu durchdringen schien, rief in Sean Hall Empfindungen wach, die seine hübsche brünette Frau — Schwarm ihrer Partner auf den heimischen Tennisplätzen und Schriftführerin der P. T. A. — nie in ihm erregte. Angesichts des mutmaßlichen Glücks von Curtis O’Keefe hatte der Gedanke, daß der große Mann seine Laufbahn auch als junger ehrgeiziger Buchhalter begonnen hatte, etwas seltsam Anfeuerndes.

Curtis O’Keefe riß ihn mit einer Frage aus seinen Grübeleien. »Gelten Ihre Beobachtungen in puncto schlechte Verwaltung für das gesamte Personal?«

»Nein, Sir.« Sean Hall warf einen Blick auf seine Notizen und wendete seine ganze Aufmerksamkeit dem Thema zu, das in den letzten zwei Wochen für ihn vertrautes Gebiet geworden war. »Ein Mann, der stellvertretende Direktor McDermott, macht einen ausgezeichneten Eindruck. Er ist zweiunddreißig und hat die Cornell-Universität absolviert. Leider war seine Führung nicht ganz einwandfrei. Unser Personalbüro zog Erkundigungen ein. Ich habe den Bericht hier.«

Der Hotelier überflog das Blatt, das der junge Wirtschaftsprüfer ihm überreichte. Der Bericht enthielt die wesentlichen Fakten über Peter McDermotts Entlassung aus dem Waldorf und seine anschließenden, bis zu seiner Anstellung im St. Gregory erfolglosen Versuche, einen neuen Posten zu finden.

O’Keefe gab das Blatt zurück, ohne sich dazu zu äußern. Was mit McDermott geschehen würde, entschieden die »Wühlmäuse«. Aber sie wußten natürlich alle, daß der Hotelmagnat in seinem Konzern nur Angestellte mit makellosem Leumund duldete. Folglich war es höchst unwahrscheinlich, daß McDermott, wie tüchtig er auch immer sein mochte, von dem neuen Regime übernommen werden würde.

»Es gibt auch noch einige andere gute Leute in untergeordneten Positionen«, fügte Sean Hall hinzu.

Die Besprechung dauerte noch etwa fünfzehn Minuten. Dann verkündete Curtis O’Keefe: »Ich danke Ihnen, meine Herren. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues hören, das wichtig ist. Andernfalls setze ich mich mit Ihnen in Verbindung.«

Dodo brachte die beiden Männer zur Tür.

Als sie zurückkam, hatte sich O’Keefe auf dem Sofa ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen. Von seinen geschäftlichen Anfängen an hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag über, wann immer es sich einrichten ließ, ein kurzes Nickerchen einzuschieben, um die Energie, die seine Untergebenen manchmal für unerschöpflich hielten, neu aufzuladen.

Dodo küßte ihn sanft auf den Mund. Er spürte ihre feuchten Lippen auf den seinen und ihren üppigen Körper. Ihre langen Finger tasteten nach seinem Nacken und massierten behutsam seinen Haaransatz. Eine weiche seidige blonde Strähne streifte über sein Gesicht. Er sah lächelnd auf. »Ich lade meine Batterie auf«, sagte er und fügte dann befriedigt hinzu: »Was du tust, hilft mir dabei.«

Die Finger bewegten sich weiter. Nach zehn Minuten war er ausgeruht und erfrischt. Er streckte sich und öffnete die Augen. Dann stand er auf und breitete die Arme aus.

Sie kam ihm voller Hingebung entgegen, schmiegte sich begierig an ihn an. Er fühlte, daß ihre stets leise schwelende Sinnlichkeit bereits zu einer wilden verlangenden Glut aufgeflammt war.

Mit wachsender Erregung führte er sie ins angrenzende Schlafzimmer.

11

Chefdetektiv Ogilvie, der erklärt hatte, er würde eine Stunde nach seinem geheimnisvollen Anruf in der Suite der Croydons erscheinen, stellte sich erst nach zwei Stunden ein. Infolgedessen waren die Nerven des Herzogs und der Herzogin bis zum Zerreißen gespannt, als der Summer endlich ertönte.

Die Herzogin öffnete selbst. Sie hatte ihre Zofe unter einem Vorwand weggeschickt und den Sekretär mit dem Mondgesicht unbarmherzigerweise damit beauftragt, die Bedlington-Terrier auszuführen — der Ärmste fürchtete sich vor Hunden. Daß die beiden jeden Moment zurückkehren konnten, trug nicht zur Verminderung ihrer Nervosität bei.

Von einer übelriechenden Rauchwolke umhüllt, trat Ogilvie ein und folgte der Herzogin in den Salon. Dort sah sie betont auf die Zigarre, die dem fetten Mann im Mundwinkel hing, und sagte: »Mein Mann und ich finden starken Rauch unerträglich. Würden Sie die Zigarre bitte ausmachen.«

Die Schweinsäuglein des Detektivs musterten sie ironisch, schweiften durch das geräumige, behaglich eingerichtete Zimmer und streiften dabei den Herzog, der mit dem Rücken zum Fenster stand und unsicher von einem zum anderen blickte.

»Ganz hübsche Bude habt ihr Leute hier.« Ogilvie nahm gemächlich den ärgerniserregenden Zigarrenstummel aus dem Mund, klopfte die Asche ab und schnippte den Stummel nach rechts zum dekorativen Kamin hinüber. Er verfehlte ihn, und die Zigarre landete auf dem Kaminteppich, wo sie liegenblieb.

Die Herzogin preßte die Lippen zusammen. »Sie sind vermutlich nicht hergekommen, um sich mit uns über Innenausstattung zu unterhalten«, sagte sie scharf.

Als Ogilvie anerkennend kicherte, gerieten die Fettmassen seines aufgeschwemmten Körpers ins Wabbeln. »Nein, Gnädigste, könnte nicht behaupten, daß ich deshalb hergekommen bin. Aber ich mag hübsche Dinge.« Er senkte die Stimme. »Hübsche Dinge, wie zum Beispiel Ihren Wagen. Ich meine den, der unten in der Garage steht. Ein Jaguar, stimmt’s?«

»Ah!« Es war kein Ausruf, nur ein gepreßter Laut, den der Herzog beim Ausatmen von sich gab. Seine Frau warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Aus welchem Grund interessieren Sie sich für unseren Wagen?«

Als wäre die Frage der Herzogin ein Startzeichen gewesen, machte das Benehmen des Hausdetektivs eine jähe Wandlung durch. Er erkundigte sich abrupt: »Wer ist sonst noch in der Suite?«

»Niemand«, antwortete der Herzog. »Wir haben unsere Leute weggeschickt.«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Mit einer bei seiner Korpulenz erstaunlichen Beweglichkeit strich der fette Mann durch die Suite, inspizierte die Zimmer, sah hinter die Türen. Offenbar war er über die Raumeinteilung genau im Bilde. Nachdem er einen Blick in den Hotelkorridor geworfen hatte, kehrte er, anscheinend befriedigt, in den Salon zurück.

Die Herzogin hatte sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt. Ogilvie blieb stehen.

»Also«, sagte er, »ihr zwei seid in den Unfall verwickelt.«

Sie sah im gerade in die Augen. »Wovon reden Sie eigentlich?«

»Lassen Sie die Mätzchen, Lady. Die Sache ist kein Spaß.« Er holte eine neue Zigarre hervor und biß das eine Ende ab. »Sie haben die Zeitungen gelesen. Auch im Radio wurde eine Menge darüber gebracht.«

Im blassen Gesicht der Herzogin zeichneten sich zwei rote Flecke ab. »Was Sie da behaupten, ist die dümmste, abscheulichste —«

»Ich hab’ Ihnen gesagt, Sie sollen das lassen!« stieß er hervor, jedes Wort einzeln ausspuckend; seine katzenfreundliche Sanftmut war verlogen. Ohne die Herzogin zu beachten, fuchtelte Ogilvie mit der unangezündeten Zigarre herum. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Lady! Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen — Polente, Bürgermeister und die gesamte Bevölkerung. Wenn sie herauskriegen, wer den Unfall gestern nacht verschuldet hat, zuerst das Kind und die Mutter umgebracht und sich danach aus dem Staub gemacht hat, dann schnappen sie sich ihn, egal, wer er ist oder ob er einen extrafeinen Titel hat. Na, und ich weiß, was ich weiß, und falls ich täte, was ich von Rechts wegen tun müßte, dann würde Ihnen die Polente so rasch auf die Bude rücken, daß es staubt. Aber ich wollte fair sein und zu Ihnen kommen, damit Sie mir Ihre Version von der Geschichte erzählen können.« Die Schweinsäuglein zwinkerten und wurden dann hart. »Wenn’s Ihnen auf die andere Art lieber ist, brauchen Sie’s bloß zu sagen.«

Die Herzogin von Croydon, von der vererbten Arroganz mehrerer Jahrhunderte geprägt, gab sich nicht so schnell geschlagen. Sie sprang auf und bot empört und mit blitzenden graugrünen Augen dem fetten, plumpen Menschen Trotz. »Sie unverschämter Lump! Was unterstehen Sie sich!« Ihr Ton hätte jeden, der sie kannte, niedergeschmettert.

Auch Ogilvies Selbstvertrauen geriet einen Moment lang ins Wanken. Aber der Herzog schaltete sich ein. »Ich fürchte, es hat keinen Zweck, altes Mädchen, obwohl’s den Versuch wert war«, sagte er und wandte sich dann an den Detektiv. »Was Sie uns vorwerfen, trifft zu. Ich bin schuld daran. Ich steuerte den Wagen und tötete das kleine Mädchen.«

»Das klingt schon besser.« Ogilvie zündete sich seine Zigarre an. »Jetzt kommen wir endlich vom Fleck.«

Müde und in der Haltung einer Besiegten sank die Herzogin von Croydon auf den Stuhl zurück. Sie faltete die Hände, um ihr Zittern zu verbergen, und fragte: »Was wissen Sie?«

»Okay, ich will’s Ihnen sagen.« Der Hoteldetektiv ließ sich Zeit, paffte gleichmütig eine blaue Rauchwolke in die Luft und beäugte dabei ironisch die Herzogin, als wollte er ihren Einspruch herausfordern. Aber bis auf ein angewidertes Naserümpfen enthielt sie sich jeden Kommentars.

Ogilvie zeigte auf den Herzog. »Gestern ziemlich früh am Abend gingen Sie zu ›Lindy’s Place‹ in Irish Bayou. Sie fuhren in Ihrem noblen Jaguar und hatten ‘ne Dame bei sich. Ich schätze wenigstens, man könnte sie so nennen, wenn man’s nicht zu genau nimmt.«

Als Ogilvie grinsend zur Herzogin hinüberblickte, sagte der Herzog scharf: »Los, die Details können Sie sich sparen!«

»Also«, das fette selbstgefällige Gesicht wandte sich wieder dem Herzog zu, »wie ich gehört hab’, gewannen Sie einhundert Lappen beim Spiel und verloren sie dann wieder an der Bar. Sie hatten gerade die Hälfte vom zweiten Hunderter auf den Kopf gehauen — mit einer wirklich flotten Gesellschaft —, da platzte Ihre Frau mit einem Taxi dazwischen.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Tjah, sehen Sie, Herzog — ich bin schon seit einer Ewigkeit hier in der Stadt und im Hotel. Ich hab’ überall Freunde. Mal erweis’ ich ihnen einen Gefallen und ein andermal sie mir, und so bin ich immer auf dem laufenden. Wenn die Leute, die hier im Hotel wohnen, was anstellen, erfahr’ ich’s meistens. Im allgemeinen ahnen sie gar nicht, daß ich was weiß; sie kennen mich nicht mal. Sie bilden sich ein, ihre kleinen Geheimnisse wären sicher verstaut, und das sind sie auch. Ich kann schweigen. So ‘n Fall wie Ihrer ist natürlich was anderes.«

Der Herzog sagte kalt: »Ich verstehe.«

»Eins würde ich gern wissen. Ich bin von Natur aus neugierig, Gnädigste. Wie haben Sie herausbekommen, wo er war?«

»Sie wissen so viel … da macht das vermutlich auch nichts mehr aus. Mein Mann hat die Angewohnheit, sich beim Telefonieren Notizen zu machen. Und er vergißt dann oft, sie zu zerreißen.«

Ogilvie klickte vorwurfsvoll mit der Zunge. »Tjah, wenn man in Kleinigkeiten nachlässig ist, Herzog … nun sehen Sie selbst, in was für Schwulitäten einen das bringt. Na und den Rest stell’ ich mir etwa so vor. Sie gondeln nach Haus, mit Ihrer Frau, und Sie sitzen am Steuer, obwohl’s nach allem, was später passiert ist, besser gewesen wäre, sie hätte am Steuer gesessen.«

»Meine Frau kann nicht fahren.«

»Damit wäre der Punkt auch geklärt.« Der Detektiv nickte verständnisvoll. »Und außerdem, schätz’ ich, hatten Sie geladen, und zwar schwer …«

Die Herzogin unterbrach ihn. »Dann wissen Sie also doch nichts! Nichts Genaues jedenfalls! Sie können womöglich nicht mal beweisen, daß —«

»Lady, ich hab’ so viele Beweise, wie ich brauche.«

»Laß ihn ausreden, altes Mädchen«, sagte der Herzog warnend.

»Ganz recht. Halten Sie die Klappe und sperren Sie die Ohren auf. Gestern nacht hab’ ich Sie zufällig bei der Rückkehr ins Hotel gesehen. Sie sind durchs Souterrain gekommen und nicht durch die Halle und waren beide verdammt blaß um die Nase. Ich war auch gerade erst gekommen und hab’ mir natürlich so meine Gedanken gemacht. Wie ich schon sagte, bin ich neugierig von Natur aus.«

»Weiter«, flüsterte die Herzogin.

»Ziemlich spät gestern nacht kam dann die Meldung über den Unfall mit Fahrerflucht durch, und das hat mich auf die Idee gebracht. Ich ging hinunter in die Garage und besah mir in aller Stille Ihren Wagen. Sie wissen’s vielleicht nicht, aber er steht hinter einem Pfosten in einer Ecke, wo die Garagisten ihn nicht sehen, wenn sie vorbeikommen.«

Der Herzog fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich nehme an, das hilft uns jetzt auch nichts mehr.«

»Vielleicht nicht«, gab Ogilvie zu. »Na, jedenfalls hab’ ich erst mal ein paar Auskünfte eingeholt — gegenüber im Polizeipräsidium, wo ich auch gut bekannt bin.« Er legte eine Pause ein, um kräftig an seiner Zigarre zu ziehen, während seine Zuhörer schweigend auf die Fortsetzung warteten. Als das Ende der Zigarre rot aufglühte, betrachtete er es prüfend und fuhr dann fort: »Drüben hatten sie drei Dinge, auf die sie sich bei den Ermittlungen stützen: einen Scheinwerferring, der abgegangen sein muß, als der Wagen das Kind und die Frau wegschleuderte; ein paar Splitter vom Scheinwerferglas; und dann haben die Kleider des Kindes sie darauf gebracht, daß es vermutlich auch eine Wischspur gibt.«

»Eine was?«

»Wenn man Stoff gegen was Hartes reibt, Herzogin, sagen wir einen Kotflügel, der noch dazu blank poliert ist, dann bleibt genau wie bei Fingerabdrücken eine Spur zurück. Die Leute vom Polizeilabor können sie abnehmen wie andere Spuren — sie bestäuben’s mit Puder, und schon hat sich’s.«

»Das ist interessant«, sagte der Herzog, als spräche er von etwas, das ihn nicht betraf. »Das wußte ich nicht.«

»Die wenigsten wissen das. Ich glaub’ allerdings nicht, daß es in Ihrem Fall viel ausmacht. Der eine Scheinwerfer ist beschädigt, und der Ring ist futsch. Das reicht schon als Beweis, auch ohne die anderen Spuren und das Blut. O ja, ich hätt’s Ihnen gleich sagen sollen. Es ist eine ganze Menge Blut am Wagen, obwohl es auf dem schwarzen Lack nicht sehr auffällt.«

»Oh, mein Gott!« Die Herzogin preßte eine Hand vor die Augen und wandte sich ab.

»Und was haben Sie nun mit uns vor?« erkundigte sich der Herzog.

Der fette Mann rieb sich die Hände und blickte auf seine fleischigen Finger. »Wie ich schon sagte, bin ich hergekommen, um mir Ihre Version anzuhören.«

»Was könnte ich denn dazu noch sagen?« fragte der Herzog verzweifelt. »Sie wissen doch, was passiert ist. Rufen Sie am besten gleich die Polizei. Dann haben wir’s hinter uns.«

»Warum haben Sie’s so eilig?« Ogilvies absurde Fistelstimme klang plötzlich versonnen. »Was passiert ist, ist passiert. Überstürzte Maßnahmen machen das Kind und die Mutter auch nicht wieder lebendig. Außerdem würde Ihnen das, was sie drüben im Präsidium mit Ihnen anstellen, nicht gefallen, Herzog. Nein, Sir, es würde Ihnen ganz bestimmt nicht gefallen.«

Die beiden anderen hoben langsam die Augen.

»Ich hatte gehofft, ihr zwei würdet mir einen besseren Vorschlag machen.«

»Das verstehe ich nicht«, murmelte der Herzog unsicher.

»Aber ich«, sagte die Herzogin. »Sie wollen Geld, nicht wahr? Sie sind gekommen, um uns zu erpressen.«

Falls sie erwartet hatte, ihre Worte würden Ogilvie aus der Fassung bringen, wurde sie enttäuscht. Der Hoteldetektiv zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nennen Sie’s, wie Sie wollen, Herzogin; mir ist das schnuppe. Ich bin bloß hier, um euch beiden aus der Klemme zu helfen. Aber ich muß schließlich auch leben.«

»Wenn wir Ihnen Geld geben, würden Sie das, was Sie wissen, für sich behalten?«

»Ich denke schon.«

»Aber nach allem, was Sie sagen, würde es uns nichts nützen«, wandte die Herzogin ein. Sie hatte für den Moment ihre innere Sicherheit wiedergefunden. »Der Wagen würde in jedem Fall entdeckt werden.«

»Das Risiko müssen Sie schon in Kauf nehmen, schätz’ ich. Aber es spricht einiges dafür, daß es vielleicht nicht dazu kommen wird.«

»Wieso?«

»Also, ganz klar ist mir das auch noch nicht. Aber als Sie das Kind überfuhren, waren Sie auf dem Weg aus der Stadt und nicht in die Stadt, wie man’s von Rechts wegen erwarten sollte.«

»Wir haben uns auf dem Rückweg verfahren und sind irgendwie in die umgekehrte Richtung geraten«, erklärte die Herzogin. »In New Orleans mit seinen gewundenen Straßen passiert einem das leicht. Später fuhren wir auf Seitenwegen zum Hotel zurück.«

»Ich hab’ mir gleich gedacht, daß es so gewesen sein könnte.« Ogilvie nickte verständnisinnig. »Aber die Polizei hat sich das anders zurechtgelegt. Sie tippt auf jemanden, der außerhalb wohnt, und kämmt deshalb im Moment die Vororte und umliegenden Städte durch. Mit der Zeit wird sie vermutlich auch die Innenstadt absuchen, aber so weit ist es noch nicht.«

»Wie lange kann es noch dauern?«

»Drei, vier Tage vielleicht. Sie müssen vorher einen Haufen anderer Orte abgrasen.«

»Und was haben wir davon — von dem Aufschub, meine ich?«

»Eine ganze Menge. Sie könnten den Wagen fortschaffen — falls er nicht vorher entdeckt wird, und wenn man bedenkt, wo er jetzt steht, haben Sie eine gute Chance.«

»Fortschaffen? Sie meinen, aus Louisiana?«

»Ich meine, aus dem Süden.«

»Das wäre aber nicht einfach?«

»Nein, Gnädigste, einfach nicht. Sämtliche Staaten um uns herum — Texas, Arkansas, Mississippi, Alabama und die übrigen — werden die Augen nach einem Wagen mit beschädigtem Scheinwerfer offenhalten.«

Die Herzogin überlegte. »Wäre es nicht möglich, ihn vorher reparieren zu lassen? Falls die Reparatur diskret durchgeführt würde, wären wir bereit, sie gut zu bezahlen.«

Der Hausdetektiv schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ausgeschlossen. Wenn Sie das versuchen, können Sie ebensogut gleich rüber ins Präsidium gehen und sich stellen. Jede Reparaturwerkstatt in Louisiana weiß, daß sie die Polizei rufen muß, sobald ihr ein beschädigter Wagen unterkommt, der verdächtig ist. Und sie würden’s melden, verlassen Sie sich drauf. Ihr zwei seid ein heißes Eisen.«

Die Herzogin von Croydon nahm sich fest an die Kandare. Ihre Gedanken rasten, aber sie wußte, daß es von höchster Wichtigkeit war, einen kühlen Kopf zu bewahren. In den letzten Minuten hatte sich ein ungezwungener Ton in die Unterhaltung eingeschlichen, als ginge es um irgendein belangloses häusliches Problem und nicht um Leben oder Tod. Sie beabsichtigte, den Plauderton beizubehalten. Wie schon sooft war ihr wieder die Führerrolle zugefallen, während ihr Mann bei der Auseinandersetzung mit dem bösen, fetten Menschen nur ein angsterfüllter, aber passiver Zuschauer war. Gleichviel. Mit dem Unvermeidlichen mußte man sich abfinden. Nun kam es vor allem darauf an, alle Möglichkeiten sorgsam in Betracht zu ziehen. Sie hatte eine Idee.

»Wie nennt man das Stück von unserem Wagen, das die Polizei gefunden hat?«

»Einen Scheinwerferring.«

»Ist es eine echte Spur?«

Ogilvie nickte. »Freilich. Sie können feststellen, von welcher Sorte Wagen es stammt — Fabrikat, Modell und vielleicht sogar das Baujahr. Das gleiche gilt für die Glassplitter. Da es sich aber um einen ausländischen Wagen handelt, wird es vermutlich ein paar Tage dauern.«

»Aber dann weiß die Polizei, daß sie nach einem Jaguar suchen muß?«

»Tjah.«

Heute war Dienstag. Nach allem, was dieser Mann sagte, hatten sie eine Gnadenfrist bis Freitag oder höchstens Samstag. Mit berechneter Kälte durchdachte die Herzogin das Problem: Gesetzt den Fall, der Hoteldetektiv ließe sich kaufen, dann bestand ihre einzige — schwache — Chance darin, den Wagen so schnell wie möglich fortzuschaffen. Gelang es, ihn nach dem Norden zu bringen, in eine der Großstädte, wo man von der Tragödie in New Orleans und den Nachforschungen nichts wußte, dann könnte man dort in aller Stille die nötigen Reparaturen durchführen lassen und die belastenden Spuren beseitigen. Und sollte sich der Verdacht später doch noch auf die Croydons richten, dann war ihnen wenigstens nichts mehr nachzuweisen. Fragte sich nur, wie man den Wagen hinausbefördern sollte.

Zweifellos hatte dieser flegelhafte Mensch recht mit seiner Behauptung, daß sämtliche Nachbarstaaten von Louisiana in Alarmbereitschaft waren. Jede Verkehrsstreife würde ein scharfes Auge auf Wagen mit beschädigtem Scheinwerfer haben. Vermutlich gab es auch Straßensperren. Es würde nicht einfach sein, den Kontrollen zu entgehen.

Aber vielleicht war es doch zu schaffen. Wenn man nur in der Nacht fuhr und den Wagen tagsüber versteckte. Es gab genügend einsame Fleckchen zu beiden Seiten der Autostraße, wo man unbeobachtet war. Natürlich war es riskant, aber hierzubleiben, wo man sie höchstwahrscheinlich aufspüren würde, war genauso riskant. Sie würden Seitenwege benutzen und eine Route wählen, auf der man sie nicht vermutete.

Man mußte jedoch mit anderen Komplikationen rechnen. Es war schwierig, sich auf Nebenstraßen zurechtzufinden, wenn man die Gegend nicht kannte. Die Croydons kannten sie nicht und verstanden sich auch nicht auf das Lesen von Landkarten. Wenn sie irgendwo tankten, was unvermeidlich war, würde ihr Benehmen und ihre Sprache Aufsehen erregen und sie verraten. Und dennoch mußten sie diese Gefahren auf sich nehmen.

Oder gab es vielleicht einen Ausweg?

Die Herzogin sah Ogilvie an. »Wieviel Geld verlangen Sie?«

Ihre abrupte Frage brachte ihn einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. »Also … ich schätze, ihr Leute seid ziemlich gut betucht.«

»Ich habe gefragt, wieviel«, sagte sie kalt.

Die Schweinsäuglein blinzelten. »Zehntausend Dollar.«

Sie verzog keine Miene, obwohl die Forderung doppelt so hoch war, als sie erwartet hatte. »Und wenn wir Ihnen diese groteske Summe zahlen, was bekommen wir als Gegenwert?«

Der fette Mann machte ein verdutztes Gesicht. »Das hab’ ich Ihnen doch schon gesagt. Ich behalte das, was ich weiß, für mich.«

»Und was wäre die Alternative?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich gehe runter in die Halle und telefoniere.«

»Nein! Wir zahlen nicht!« Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, daß sie es ernst meinte.

Während der Herzog beunruhigt von einem Fuß auf den anderen trat, lief das knollige Gesicht des Hausdetektivs rot an. »Hören Sie, Lady —«

Sie fiel ihm herrisch ins Wort. »Ich höre nicht. Jetzt bin ich an der Reihe, und Sie hören mir zu. Mit den zehntausend Dollar würden wir uns nur eine Frist von drei bis vier Tagen einhandeln, sonst nichts. Sie selbst haben uns das überdeutlich klargemacht.« Sie blickte ihn fest an; ihr schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen sah anmaßender aus denn je.

»Immerhin haben Sie die Chance —«

»Schweigen Sie!« Ihre Stimme war wie ein Hieb mit der Peitsche, ihr Blick bohrte sich in den seinen. Er schluckte und gehorchte mürrisch.

Was nun kam, würde vielleicht die wichtigste Tat in ihrem Leben sein, darüber war sich die Herzogin im klaren. Es durfte keinen Mißgriff, kein Schwanken, kein kleinliches Feilschen geben. Wer um den höchsten Gewinn spielte, mußte einen hohen Einsatz wagen. Sie wollte auf die Habgier des fetten Mannes spekulieren. Und sie mußte so geschickt vorgehen, daß ihr der Erfolg sicher war.

»Wir zahlen Ihnen nicht zehntausend Dollar, sondern fünfundzwanzigtausend«, erklärte sie entschieden.

Der Hoteldetektiv riß beide Augen auf.

»Dafür werden Sie unseren Wagen nach dem Norden schaffen«, fügte sie gelassen hinzu.

Ogilvie starrte sie weiter an.

»Fünfundzwanzigtausend Dollar«, wiederholte sie. »Zehntausend gleich, den Rest von fünfzehntausend sobald wir in Chikago zusammentreffen.«

Der fette Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ohne einen Ton von sich zu geben. Seine Schweinsäuglein waren, als traute er seinen Sinnen nicht, auf das Gesicht der Herzogin gerichtet. Ein lastendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Dann, während sie ihn angespannt beobachtete, nickte er beinahe unmerklich.

Noch immer blieb es still. Endlich fragte Ogilvie: »Stört Sie die Zigarre, Herzogin?«

Als sie nickte, machte er sie aus.

12

»Es ist komisch.« Christine ließ die riesengroße, in vielen Farben prangende Speisekarte sinken. »Aber ich werde in dieser Woche das Gefühl nicht los, daß irgend etwas Folgenschweres passieren wird.«

Peter McDermott lächelte ihr über den Tisch hinweg zu. Tafelsilber und das gestärkte weiße Leinenzeug schimmerten im Kerzenlicht. »Vielleicht ist es schon passiert.«

»Nein«, sagte Christine. »Wenigstens nicht auf die Art, die Sie meinen. Es ist irgendwie beklemmend. Ich wollte, ich könnte es abschütteln.«

»Gut essen und trinken tut Wunder.«

Seine gute Laune wirkte ansteckend. Sie lachte und klappte die Speisekarte zu. »Schön, dann bestellen Sie für uns beide.«

Sie waren in Brennan’s Restaurant im Französischen Viertel. Vor einer Stunde hatte Peter Christine mit einem Wagen, den er am Schalter von Hertz in der Halle des St. Gregory gemietet hatte, in ihrer Wohnung abgeholt. Sie parkten in Iberville, an der Peripherie des Viertels, und schlenderten die Royal Street entlang, vorbei an den Schaufenstern der Antiquitätenläden, in denen Kunstgegenstände, importierter Kitsch und Waffen der Konföderierten — »jeder Säbel in dieser Kiste zehn Dollar« — bunt durcheinanderlagen. Es war eine warme, schwüle Nacht, die erfüllt war von den für diese Stadt typischen Geräuschen — dem sonoren Brummen der Busse in den engen Straßen, dem Klappern und Rasseln der Droschken und dem wehmütigen Tuten eines ausfahrenden Frachters auf dem Mississippi.

Brennan’s war, wie es sich für das eleganteste Speiserestaurant von New Orkans gehörte, zur Dinnerzeit bis zum letzten Platz besetzt. Während sie auf ihren Tisch warteten, hatten Peter und Christine im stillen, schummrigen Patio einen nach Kräutern duftenden Old Fashioned getrunken.

Peter fühlte sich in Christines Gesellschaft unendlich wohl, Seine Hochstimmung hielt an, als sie zu einem Tisch im Hauptrestaurant geleitet wurden. Nun winkte er einen Kellner heran.

Er bestellte für sich und Christine die Spezialität des Hauses, und zwar eine Zusammenstellung von Austern Rockefeller, Bienville und Roffignac, Flunder Nouvelle Orleans, gefüllt mit Krabbenfleisch und Kräutern, Blumenkohl Polonaise, pommes au four und eine Flasche Montrachet.

»Es ist angenehm, wenn man nicht selbst entscheiden muß«, sagte Christine anerkennend und beschloß, das beklemmende Gefühl, von dem sie gerade gesprochen hatte, einfach nicht mehr zu beachten. Es war wohl ohnehin nur Einbildung und erklärte sich vermutlich aus der Tatsache, daß sie in der vergangenen Nacht wenig Schlaf gehabt hatte.

»Bei einer so ausgezeichneten Küche wie hier spielt es letztlich keine Rolle, wofür man sich entscheidet. Man hat höchstens die Qual der Wahl zwischen lauter exquisiten Gerichten.«

»Man merkt, daß Sie sich in der Branche auskennen«, sagte sie neckend.

»Verzeihung. Ich fürchte, ich rede andauernd davon.«

»Eigentlich nicht. Und wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, mir gefällt’s. Ich hab’ mich allerdings manchmal gefragt, wie Sie darauf gekommen sind, ins Hotelfach zu gehen.«

»Ins Hotelfach? Ich war ein Boy mit Ambitionen.«

»War es wirklich so einfach?«

»Vermutlich nicht. Ich hatte auch ziemlich viel Glück. Ich wohnte in Brooklyn und arbeitete in den Schulferien als Boy in Manhattan. Eines Nachts, in meinem zweiten Sommer, brachte ich einen Betrunkenen ins Bett — half ihm die Treppe hinauf, zog ihn aus und deckte ihn zu.«

»Gehörte das zu Ihren Obliegenheiten?«

»Nein. Aber zufällig war es eine ruhige Nacht, und außerdem hatte ich ziemlich viel Übung darin. Ich hatte zu Hause seit Jahren meinem alten Herrn denselben Gefallen erwiesen.« Seine Augen blickten einen Moment lang traurig drein. »Na, später stellte sich dann heraus, daß der Bursche, den ich ins Bett verfrachtet hatte, ein Mitarbeiter vom ›New Yorker‹ war. Ein oder zwei Wochen danach schrieb er über den Vorfall und nannte uns, glaube ich, ›das Hotel, in dem man sich wie bei Muttern fühlt‹. Wir wurden deswegen ganz schön gefoppt, aber für das Hotel war es eine gute Reklame.«

»Und Sie wurden daraufhin befördert?«

»In gewisser Weise. Wichtiger war, man beachtete mich.«

»Da kommen die Austern.« Der Kellner stellte zwei vorgewärmte Teller mit den köstlich duftenden überbackenen Austern, die auf einer Unterlage von Steinsalz ruhten, vor sie hin.

Während Peter den Montrachet probierte und zustimmend nickte, sagte Christine: »Wieso kann man eigentlich in Louisiana das ganze Jahr über Austern essen, egal, ob der Monat ein ›R‹ hat oder nicht?«

»Man kann Austern überall und zu jeder Jahreszeit essen«, antwortete Peter nachdrücklich. »Die Idee von den Monaten mit und ohne ›R‹ ist Schwindel und wurde vor vierhundert Jahren von einem alten englischen Landpfarrer in die Welt gesetzt. Ich glaube, der alte Knabe hieß Butler. Wissenschaftler haben sich darüber lustig gemacht, die amerikanische Regierung hält sie für albern, aber die Leute glauben immer noch daran.«

Christine kostete eine Auster Bienville. »Ich dachte immer, es kommt daher, weil sie im Sommer laichen.«

»Für Austern in New England und New York trifft das in manchen Jahren zu, nicht aber für die Chesapeake Bay, wo die ertragreichsten Austernbänke der Welt sind. Dort und im Süden laichen sie so ziemlich zu jeder Jahreszeit. Folglich gibt’s keinen einzigen einleuchtenden Grund, warum Nordstaatler nicht auch das ganze Jahr über Austern essen sollten, wie die Leute hier in Louisiana.«

Nach kurzem Schweigen sagte Christine: »Vergessen Sie denn nie, was sie mal gelernt haben?«

»Das meiste behalte ich, glaub’ ich. Ich hab’ ein komisches Gedächtnis, an dem die unmöglichsten Dinge hängenbleiben — es ist ein bißchen wie das Fliegenpapier, das man früher verwendete. In gewisser Hinsicht ist mir das zustatten gekommen.« Er spießte eine Auster Rockefeller auf und schnupperte genießerisch den zarten leicht bitteren Duft von Absinth ein.

»Inwiefern kam es Ihnen zustatten?«

»Also, im gleichen Sommer, in dem die Sache mit dem Mann vom ›New Yorker‹ passierte, durfte ich mich im Hotel in allen möglichen Jobs versuchen, und so landete ich auch hinter der Bar. Inzwischen hatte ich Feuer gefangen und mir einige Fachbücher geliehen, unter anderem auch eins über das Mixen von Drinks.« Peter hielt inne, in einem Winkel seines Gedächtnisses nach Ereignissen kramend, die er fast schon vergessen hatte. »Einmal war ich allein hinter der Bar, als ein Gast hereinkam. Ich kannte ihn nicht, aber er sagte: ›Ich hab’ gehört, daß Sie der helle Bursche sind, über den der ‘New Yorker’ geschrieben hat. Können Sie mir einen Rostigen Nagel mixen?‹«

»Er wollte Sie uzen?«

»Nein. Ich hätte es sicher auch für einen dummen Witz gehalten, wenn ich das Rezept nicht zufällig zwei Stunden früher gelesen hätte. Das meine ich damit, wenn ich sage, ich hätte Glück gehabt. Die Zutaten sind Scotch und Drambuie. Ich machte ihm also den Drink zurecht, und nach dem ersten Schluck sagte er: ‘In Ordnung, aber auf die Art werden Sie im Hotelfach nichts lernen. Die Dinge haben sich geändert seit ›Work of Art‹. Ich antwortete ihm, ich hielte mich nicht für Myron Weagle, hätte aber nichts dagegen, Evelyn Orcham zu sein. Er lachte darüber; vermutlich hatte er auch Arnold Bennett gelesen. Dann gab er mir seine Visitenkarte und sagte, ich sollte ihn am nächsten Tag aufsuchen.«

»Ich nehme an, er besaß mindestens fünfzig Hotels.«

Peter schüttelte den Kopf. »Tatsächlich besaß er gar nichts. Er hieß Herb Fischer und war Handlungsreisender — Konserven und dergleichen. Er war außerdem ein Wichtigtuer und Schwätzer und schrecklich aufdringlich. Aber er kannte das Hotelgeschäft und die meisten Leute, die damit zu tun hatten, weil er da seine Waren absetzte.«

Die Teller mit den Austernschalen wurden weggenommen. Der Kellner servierte ihnen nun, unter den wachsamen Blicken eines Oberkellners in rotem Frack, die dampfende Flunder.

»Das riecht so gut, daß ich fast Angst hab’, davon zu essen«, sagte Christine. »Es kann unmöglich so gut schmecken, wie es riecht.« Sie probierte den saftigen, hervorragend gewürzten Fisch. »Mmmm! Nicht zu glauben, aber es schmeckt sogar noch besser.«

Nach einer Weile sagte sie: »Erzählen Sie mir von Mr. Fischer.«

»Zuerst hielt ich ihn für einen Angeber, wie man ihn in Bars zu Hunderten begegnet. Ein Brief aus Cornell brachte mir eine andere Meinung über ihn bei. Ich sollte mich in Statler Hall — der Hotelfachschule — zur Aufnahmeprüfung melden. Es kam dann schließlich so, daß sie mir ein Stipendium anboten und daß ich von der Oberschule dahin überwechselte. Später fand ich heraus, daß Herb ein paar Hotelleute dazu überredet hatte, meine Aufnahme zu befürworten. Er war ein guter Vertreter, glaube ich.«

»Sie glauben es nur?«

»Ich war mir nie ganz sicher«, erwiderte Peter versonnen. »Ich verdanke Herb Fischer eine Menge, aber manchmal fragte ich mich, ob die Leute nicht nur deshalb soviel für ihn taten und Geschäfte mit ihm machten, weil sie ihn loswerden wollten. Er ging einem entsetzlich auf die Nerven. Ich sah ihn nur noch ein einziges Mal, nachdem die Sache mit Cornell geklappt hatte. Ich wollte mich bei ihm bedanken und gab mir alle Mühe, ihn gern zu haben. Aber er ließ beides nicht zu — warf nur mit großen Worten um sich und prahlte mit den Abschlüssen, die er gemacht hatte oder machen wollte. Dann sagte er, für das College brauchte ich ein paar anständige Anzüge, was stimmte, und drängte mir förmlich zweihundert Dollar als Darlehen auf. Für ihn muß das ein Haufen Geld gewesen sein, denn ich erfuhr später, daß es mit seinen Kommissionen nicht weit her war. Ich zahlte ihm das Geld in Raten zurück, aber meistens löste er meine Schecks gar nicht ein.«

»Das Ganze klingt wie ein Märchen.« Christine hatte gespannt zugehört. »Warum besuchen Sie ihn nicht mehr?«

»Er ist tot. Ich verabredete mich noch ein paarmal mit ihm, aber irgendwie schafften wir es beide nicht. Dann, vor ungefähr einem Jahr, rief mich sein Anwalt an — Herb hatte offenbar keine Familie. Ich ging zum Begräbnis. Und dort entdeckte ich dann, daß es acht von uns gab — allen hatte er auf die gleiche Art geholfen wie mir. Das Merkwürdige daran war, daß er, trotz seiner Prahlerei, keinem von uns von den anderen sieben erzählt hatte.«

»Ich könnte heulen.«

Er nickte. »Ich weiß. Genauso war mir damals zumute. Die Geschichte hat sicher irgendeine Moral, nur bin ich nie dahintergekommen, welche. Vielleicht könnte man sagen, daß manche Menschen eine große feste Schranke aufrichten und sich dabei glühend wünschen, daß jemand sie niederreißt, und wenn man das nicht tut, lernt man sie niemals richtig kennen.«

Während des Kaffees schwieg sich Christine aus; sie hatten beide auf den Nachtisch verzichtet. Schließlich fragte sie: »Wissen wir denn wirklich, was wir uns wünschen?«

Peter überlegte. »Nur zum Teil, nehme ich an. Aber ich kenne etwas, das ich haben möchte — das oder wenigstens etwas Gleichartiges.« Er ließ sich die Rechnung bringen.

»Sagen Sie’s mir.«

»Ich hab’ eine bessere Idee: ich zeig’s Ihnen.«

Draußen vor dem Restaurant blieben sie stehen, um sich nach der Kühle im Inneren an die warme Nachtluft zu gewöhnen. In der Stadt war nicht mehr so viel Betrieb wie noch vor einer Stunde. Einige Lichter in ihrer Umgebung verlöschten; das nächtliche Treiben im Viertel versickerte in andere Bezirke. Peter faßte Christine unter und führte sie schräg über die Royal Street. An der Südwestecke von St. Louis machten sie halt und wandten den Blick geradeaus. »So etwas würde ich gern aufbauen«, sagte er. »Etwas ebenso Gutes oder vielleicht noch Besseres.«

Unter anmutig geschwungenen schmiedeeisernen Balkons und geriffelten Säulen warfen flackernde Gaslaternen Licht und Schatten auf die weißgraue klassische Fassade des Royal-Orleans-Hotels. Durch gebogene, längsgeteilte Fenster fiel ambrafarbenes Licht nach draußen. Auf dem breiten Gehsteig spazierte ein Türhüter in reichbetreßter Uniform auf und ab, auf dem Kopf eine pillenschachtelförmige Mütze. Hoch oben knatterten Fahnen in einer plötzlich aufkommenden Brise an ihren Masten. Ein Taxi fuhr vor. Der Türhüter trat rasch heran, um die Wagentür zu öffnen. Hohe Absätze klickten, Gelächter klang auf, und das Paar verschwand im Hotel. Eine Tür knallte zu. Das Taxi fuhr ab.

»Ein paar Leute halten das Royal Orleans für das beste Hotel in Nordamerika«, sagte Peter. »Ob man dem beipflichtet oder nicht, spielt keine Rolle. Der springende Punkt ist: es beweist, wie gut ein Hotel sein kann.«

Sie überquerten St. Louis und gingen auf das Gebäude zu, das früher einmal Hotel und Zentrum der kreolischen Gesellschaft gewesen war, dann Sklavenmarkt, Hospital im Bürgerkrieg, Sitz der Regierung und nun wieder Hotel. Peters Stimme klang immer begeisterter. »Es hat alles, was ein gutes Hotel haben muß — Geschichte, Stil, moderne technische Anlagen und Fantasie. Mit der Ausstattung hat man zwei hiesige Architekten beauftragt — einen traditionsbewußten und einen modernen. Die zwei haben bewiesen, daß man erneuern und trotzdem den alten Charakter bewahren kann.«

Der Türhüter blieb stehen und hielt ihnen die Tür auf. Geradeaus bewachten zwei riesige Negerstatuen eine weiße Marmortreppe, die zur Galerie über der Halle hinaufführte. »Das Komische dabei ist«, bemerkte Peter, »daß das Royal Orleans bei all seiner Individualität zu einem Hotelkonzern gehört.« Er fügte gepreßt hinzu: »Allerdings nicht von der Art, die Curtis O’Keefe vertritt.«

»Mehr nach der Art Peter McDermotts, nicht wahr?«

»Bis dahin ist’s noch ein weiter Weg. Und ich bin schon mal gestolpert. Ich nehme an, Sie wissen darüber Bescheid.«

»Ja, ich weiß. Aber Sie werden’s trotzdem schaffen. Ich wette tausend Dollar, daß Sie’s schaffen.«

Er drückte ihren Arm. »Wenn Sie so viel Geld haben, sollten Sie sich lieber Aktien des O’Keefe-Konzerns kaufen.«

Sie schlenderten durch die Halle des Royal Orleans — weißer Marmor und antike Tapisserien in Weiß, Zitronengelb und Beige — und verließen sie durch den Ausgang zur Royal Street.

Anderthalb Stunden lang bummelten sie durch das Viertel, machten in der Preservation Hall halt, ertrugen die erstickende Hitze und das Menschengewimmel auf den überfüllten Bänken, um sich den echten Dixieland anzuhören; sie verweilten auf dem Jackson Square, wo es verhältnismäßig kühl war, tranken Kaffee auf dem Französischen Markt am Flußufer und übten Kritik an den schlechten »Kunstwerken«, mit denen New Orleans überschwemmt wurde; später tranken sie unter einem bestirnten Himmel, gefiederten Bäumen, gedämpftem Licht im Hof der zwei Schwestern einen Mint Julep.

»Es war wundervoll«, sagte Christine. »Gehen wir?«

Als sie gemächlich nach Iberville und zu ihrem geparkten Wagen zurückgingen, sprach sie ein kleiner Negerjunge an, der einen Pappkarton mit Bürsten trug.

»Schuhe putzen, Mister?«

Peter schüttelte den Kopf. »Zu spät, mein Sohn.«

Der blitzäugige Junge rührte sich nicht vom Fleck und betrachtete Peters Füße. »Ich wette mit Ihnen um fünfundzwanzig Cents, daß ich weiß, was Sie unter den Schuhen haben. Wenn ich richtig rate, krieg’ ich das Geld von Ihnen, wenn ich falsch rate, kriegen Sie’s von mir. Okay?«

Peter hatte die Schuhe vor einem Jahr in Tenafly, New Jersey, gekauft. Er zögerte, im Gefühl, daß die Chancen zu ungleich verteilt waren, und nickte dann. »Okay.«

Der Junge blickte mit einem breiten Grinsen auf. »Unter Ihren Schuhen haben Sie das Pflaster von New Orleans, Louisiana, Mister. Wir haben bloß darum gewettet, daß ich weiß, was Sie unter Ihren Schuhen haben und nicht, wo Sie sie herhaben, stimmt’s?«

Christine hängte sich bei Peter ein, als er den Vierteldollar bezahlte. Sie lachten, bis sie bei ihrem Wagen anlangten, und lachten immer noch, als sie zu Christines Appartement fuhren.

13

Im Speisezimmer von Warren Trents Privatsuite paffte Curtis O’Keefe genießerisch eine Zigarre. Er hatte sie sorglich unter mehreren ausgewählt, die Aloysius Royce ihm in einem Kirschholzkästchen gereicht hatte. Ihr Aroma verquickte sich auf seinem Gaumen mit dem Nachgeschmack des Louis-XIII.-Cognac, der zum Kaffee serviert worden war.

Links von O’Keefe, an der Schmalseite des Eichentisches, an dem sie das delikate aus fünf Gängen bestehende Dinner eingenommen hatten, präsidierte Warren Trent mit patriarchalischer Herzlichkeit: Ihm gegenüber rauchte Dodo, in einem hautengen schwarzen Abendkleid, eine Orientzigarette, die Royce ihr offeriert und angezündet hatte.

»Herrje«, sagte Dodo, »ich komm’ mir vor wie genudelt.«

O’Keefe lächelte nachsichtig. »Das Essen war hervorragend, Warren. Übermitteln Sie bitte dem Küchenchef mein Kompliment.«

Der Besitzer des St. Gregory neigte artig den Kopf. »Er wird sich über das Lob freuen, vor allem, wenn er hört, von wem es kommt. Es wird Sie übrigens vielleicht interessieren, daß es heute abend in meinem Hauptrestaurant genau das gleiche Menu gab.«

Curtis O’Keefe nickte, aber er war nicht beeindruckt. Seiner Meinung nach war ein umfangreiches, ausgetüfteltes Menu in einem Hotelrestaurant ebensowenig am Platze wie Gänseleberpastete in einem Lunchkorb. Kam noch hinzu, daß er vorhin, zur Hauptessenszeit, einen Blick ins Restaurant des St. Gregory geworfen und festgestellt hatte, daß der weite gewölbte Saal nur zu einem Drittel besetzt war.

Im O’Keefe-Imperium war das Dinner standardisiert und umfaßte eine beschränkte Auswahl einfacher populärer Gerichte. Hinter dieser Geschäftstaktik stand Curtis O’Keefes Überzeugung, daß das Publikum erfahrungsgemäß beim Essen auf Abwechslung keinen Wert legte und höchst phantasielos war. In den Hotels des O’Keefe-Konzerns kamen Feinschmecker, obwohl die Speisen sorgfältig zubereitet und mit antiseptischer Reinlichkeit serviert wurden, nicht auf ihre Kosten; man betrachtete sie als eine überflüssige, unrentable Minorität.

»Es gibt heutzutage nicht mehr viele Hotels, die eine solche Küche führen«, bemerkte der Hotelmagnat. »Die meisten, die sie hatten, mußten sich den veränderten Verhältnissen anpassen.«

»Die meisten, aber nicht alle. Nicht jeder ist so fügsam, und warum sollte er auch?«

»Weil unser Geschäft eine Wandlung durchgemacht hat, Warren, das ist eine feststehende Tatsache, ob sie uns nun gefällt oder nicht. Die Zeiten individueller Gastlichkeit und Bedienung sind vorbei. Möglich, daß die Leute früher für solche Dinge was übrig hatten. Jetzt haben sie andere Bedürfnisse.«

Die Direktheit, mit der beide Männer sich äußerten, schien anzudeuten, daß mit beendeter Mahlzeit auch der Austausch höflicher Phrasen ein Ende hatte. Dodo blickte mit ihren babyblauen Augen neugierig von einem zum anderen wie ein Zuschauer, der irgendeine fast unverständliche Szene auf der Bühne verfolgt. Aloysius Royce hantierte, dem Trio den Rücken zuwendend, an einem Seitentisch.

»Bei manchen würden Sie mit Ihrer Ansicht auf Widerspruch stoßen«, sagte Warren Trent scharf.

O’Keefe betrachtete das glühende Ende seiner Zigarre. »Für alle, die mir nicht beipflichten, habe ich nur eine Antwort: meine Bilanz im Vergleich zu der anderer Hotels — beispielsweise der des St. Gregory.«

Trent errötete und preßte die Lippen zusammen. »Beim St. Gregory handelt es sich um eine temporäre Krise. Es ist nicht die erste, und sie wird vorübergehen wie alle anderen davor.«

»Nein. Wenn Sie das glauben, drehen Sie sich selbst den Strick. Und Sie haben sich etwas Besseres verdient, Warren — nach all den Jahren.«

Nach einer mürrischen Pause knurrte Trent: »Ich habe nicht mein ganzes Leben daran gewendet, ein erstklassiges Hotel aufzubauen, nur um mit anzusehen, wie es zu einem billigen Massenquartier absinkt.«

»Falls Sie meine Hotels damit meinen, so ist keins von ihnen ein billiges Massenquartier.« Nun lief O’Keefe vor Ärger rot an. »Und ich bin mir gar nicht so sicher, ob das St. Gregory ein erstklassiges Haus ist.«

Das lastende feindselige Schweigen wurde von Dodo unterbrochen. »Wird das eine richtige Rauferei oder bloß eine mit Worten?« fragte sie.

Die zwei Männer lachten, Warren Trent allerdings ein wenig gezwungen. Curtis O’Keefe hob beschwichtigend beide Hände.

»Sie hat recht, Warren. Ein Streit zwischen uns ist sinnlos. Auch wenn wir weiterhin getrennte Wege gehen, können wir doch wenigstens Freunde bleiben.«

Warren Trent nickte, halb besänftigt. Schuld an seinem scharfen Ausfall war zum Teil sein Ischiasnerv, der ihn eben ganz besonders arg gezwickt hatte; der Schmerz war aber wieder abgeklungen. Als ob es nicht auch ohnedies schwer genug wäre, dachte er erbittert, sich nicht über diesen aalglatten, siegesbewußten Mann zu erbosen, dessen finanzielle Erfolge von den seinen so sehr abstachen.

»Das, was das Publikum heutzutage von einem Hotel erwartet, läßt sich in drei Worten zusammenfassen«, erklärte Curtis O’Keefe. »Ein leistungsfähiges, wirtschaftliches Programm. Wir können es aber nur liefern, wenn wir sämtliche Leistungen — unsere eigenen und die unserer Gäste — genau kalkulieren; dazu gehört ein rationeller Betrieb und vor allem ein Minimum an Gehältern, und das wiederum bedeutet Automation und Verzicht auf Personal und Gastlichkeit im alten Stil, wo immer es möglich ist.«

»Und das ist alles? Sie wollen auf alles verzichten, was man früher von einem guten Hotel zu erwarten pflegte? Sie wollen leugnen, daß ein guter Hotelier jedem Haus seinen persönlichen Stempel aufdrücken kann?« Der Besitzer des St. Gregory schnaubte verächtlich. »Ein Besucher Ihrer Sorte Hotel hat nicht das Gefühl, dazu zu gehören, eine wichtige Persönlichkeit zu sein, der man ein bißchen mehr gibt — an Wärme und Gastlichkeit —, als die Rechnung später aufzeigt.«

»Das ist eine Illusion, die er nicht braucht«, sagte O’Keefe bissig. »Ein Hotel gewährt Gastlichkeit, weil es dafür bezahlt wird, das ist alles. Heute durchschauen die Leute Unaufrichtigkeit und Gefühlsduselei. Aber sie respektieren Fairness — einen fairen Profit für das Hotel; einen fairen Preis für den Gast, und genau das gebe ich ihnen. Oh, ich leugne durchaus nicht, daß es stets ein paar Tusculums für solche Gäste geben wird, die auf individuelle Bedienung Wert legen und bereit sind, sich das was kosten zu lassen. Aber dabei handelt es sich um kleine Hotels für einige wenige Außenseiter. Große Häuser, wie Ihres, müssen sich — wenn sie die Konkurrenz, die ich ihnen mache, überleben wollen — zu meiner Anschauung bekehren.«

»Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich noch eine Weile unbekehrt bleibe«, sagte Warren Trent trocken.

O’Keefe schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es war nichts Persönliches in dem, was ich sagte. Ich sprach von der Entwicklung im allgemeinen.«

»Zum Teufel damit! Mein Instinkt sagt mir, daß sehr viele Menschen noch immer gern erster Klasse fahren und sich ein bißchen mehr davon versprechen als eine Box mit einem Bett drin.«

»Der Vergleich hinkt.« O’Keefe lächelte kühl. »Aber ich will ihn trotzdem anfechten. Außer für einige wenige ist die erste Klasse erledigt, tot.«

»Warum?«

»Weil der Düsenverkehr den Erster-Klasse-Reisen und zugleich damit einer bestimmten Geisteshaltung den Garaus gemacht hat. Davor war die erste Klasse von einer Aura der Vornehmheit umgeben. Aber der Düsenverkehr hat den Leuten bewiesen, wie albern und verschwenderisch die alten Einrichtungen gewesen waren. Die Flugverbindungen wurden immer besser und schneller, so daß sich die erste Klasse einfach nicht mehr lohnte. Folglich zwängten sich die Leute in die Touristenklasse und hörten auf, sich über Rangunterschiede den Kopf zu zerbrechen — der Preis war zu hoch. Ziemlich bald wurde die Touristenklasse sogar ausgesprochen gesellschaftsfähig. Die feinsten Leute benutzten sie und erzählten einander über ihren Lunchkartons, die erste Klasse wäre nur noch etwas für Narren und Verschwender. Die Leute wissen ganz genau, was ihnen der Düsenverkehr liefert, nämlich ein leistungsfähiges, wirtschaftliches Programm. Und das gleiche fordern sie auch vom Hotelgeschäft.«

Dodo suchte vergebens ein Gähnen hinter der Hand zu verbergen und drückte dann ihre Zigarette aus. Sofort stand Aloysius Royce neben ihr, bot ihr eine neue an und reichte ihr ein brennendes Streichholz. Sie lächelte warm, und der junge Neger lächelte zurück; es war ein Lächeln, das diskret sein Mitgefühl zum Ausdruck brachte. Gewandt und unauffällig ersetzte er die gebrauchten Aschenbecher auf dem Tisch durch neue, schenkte Dodo und danach den beiden Männern Kaffee nach und schlüpfte leise hinaus. »Sie haben da einen guten Mann, Warren«, bemerkte O’Keefe.

»Er ist schon sehr lange bei mir«, erwiderte Warren Trent zerstreut. Auch er hatte Royce beobachtet und sich dabei gefragt, wie sein Vater auf die Nachricht, daß die Leitung des Hotels demnächst in andere Hände übergehen würde, reagiert hätte. Vermutlich mit einem Schulterzucken. Geld und Gut hatten dem kleinen alten Mann wenig bedeutet. Warren Trent konnte ihn fast mit seiner rauhen lebhaften Stimme sagen hören: Sie haben so lange Ihren Kopf durchgesetzt, daß ein paar schlechte Jahre vielleicht nur zu Ihrem Besten sind. Gott beugt unseren Rücken und demütigt unseren hochfahrenden Sinn, damit wir nicht vergessen, daß wir trotz unserer großmächtigen Ideen nur seine ungeratenen Kinder sind. Und dann hätte der alte Mann vielleicht in bewußter Inkonsequenz hinzugefügt: Aber wenn man an etwas glaubt, muß man dafür kämpfen. Wer tot ist, erschießt niemanden mehr, denn er kann nicht mehr zielen.

Die Mahnung seines alten Freundes beherzigend, kämpfte Warren Trent weiter. »Wenn man Ihnen zuhört, bekommt alles, was mit einem Hotel zu tun hat, einen verdammt antiseptischen Beigeschmack. Ihren Hotels fehlt Wärme und Menschlichkeit. Sie sind für Automaten mit Lochkartenhirn und Schmieröl statt Blut.«

O’Keefe hob die Schultern. »Sie werfen Dividenden ab.«

»Finanziell mögen sie ein Erfolg sein, in menschlicher Beziehung betrachte ich sie als ein Unglück.«

Die letzte Bemerkung ignorierend, sagte O’Keefe: »Bisher war nur vom derzeitigen Stand unseres Geschäfts die Rede. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Ich habe von meiner Organisation einen Entwurf für die Zukunft ausarbeiten lassen. Vermutlich würden manche es als Vision bezeichnen, obwohl es viel mehr eine wohlüberlegte Projektion dessen ist, wie Hotels — wenigstens die des O’Keefe-Konzerns — in einigen Jahren beschaffen sein werden.

Als erstes wird der Empfang vereinfacht; die Formalitäten dürfen höchstens ein paar Sekunden in Anspruch nehmen. Die Mehrzahl unserer Gäste wird direkt vom Flughafen in einem Hubschrauber ins Hotel befördert, so daß sich ein Empfangsschalter auf dem Dach direkt neben dem Landeplatz befindet. Andere Empfangsschalter befinden sich im Souterrain; dort werden die motorisierten Gäste abgefertigt; sie können mit dem Wagen direkt hineinfahren, so daß der heute übliche Umweg über die Halle wegfällt. An allen diesen Punkten gibt es von einem Elektronengehirn gesteuerte Verteileranlagen; nebenbei bemerkt wurden diese Geräte von IBM bereits entwickelt.

Gäste, die ihr Zimmer im voraus bestellen, bekommen einen programmierten Schlüssel zugeschickt. Sie stecken ihn in einen Schlitz und werden sofort von einer in Streckenabschnitte geteilten ›denkenden‹ Rolltreppe zu einem Zimmer befördert, das möglicherweise eben erst geräumt wurde. Sollte es noch nicht fertig sein — und auch das wird vorkommen«, gab O’Keefe zu, »genau wie heute —, dann haben wir kleine transportable Zwischenstationen. Das sind Kabinen mit zwei Stühlen, einem Waschbecken und Abstellplatz für das Gepäck, gerade groß genug, um sich nach einer Reise aufzufrischen und für sich allein zu sein. Man kann sie betreten und verlassen wie ein reguläres Zimmer, und meine Ingenieure arbeiten gegenwärtig an einem Schema, nach dem die Zwischenstationen so beweglich werden, daß sie sich später selbsttätig vor dem angewiesenen Zimmer einklinken. Der Gast braucht dann nur noch eine IBM-gesteuerte Tür zu öffnen und aus der Kabine in sein Zimmer zu treten.

Für alle, die im eigenen Wagen eintreffen, wird es gleichartige Einrichtungen geben, mit programmierten Lichtsignalen, die sie zu ihrer eigenen Wagenbox dirigieren, von wo sie dann auf anderen ›denkenden‹ Rolltreppen in ihre Zimmer gebracht werden. Wir werden auch die Gepäckabfertigung abkürzen durch Verwendung von Sortiermaschinen und Förderwerken; die Gepäckstücke werden so schnell in die einzelnen Zimmer geschleust, daß sie praktisch vor den Gästen dort eintreffen.

Ebenso wird der gesamte Service durch ein vollautomatisiertes Zustellsystem vereinfacht — Zimmerkellner, Getränke, Speisen, Blumenhändler, Drugstore, Zeitungsstand; sogar die Rechnung kann auf diesem Wege in Empfang genommen und bezahlt werden. Und nebenbei, ganz abgesehen von anderen Vergünstigungen, fällt damit auch der Trinkgeldzwang weg, eine Tyrannei, die wir — und unsere Gäste — schon viel zu lange erduldet