Die Rätsel von Badger's Drift : Ein verschlafenes englisches Dorf, das zwischen grünen Hügeln friedlich vor sich hin döst. Bis die Idylle von einem schrecklichen Ereignis jäh zerstört wird. Miss Emily Simpson, eine freundliche ältere Dame, wird beim Spazierengehen im Wald Zeugin eines Vorfalls, der besser unentdeckt geblieben wäre - vor allem für Miss Emily. Als sie stirbt, findet der Arzt zwar keinerlei Hinweise auf einen unnatürlichen Tod, aber Miss Emilys alte Freundin Luca Bellringer ist mißtrauisch. Hartnäckig setzt sie dem unwilligen Inspector Barnaby so lange zu, bis er schließlich nachgibt und den Fall untersucht. Tatsächlich entdeckt der bald Risse in der blankpolierten Fassade des Dorfes ...

Requiem für einen Mörder: Eine Truppe von Laiendarstellern, die Causton Amateur Dramatic Society, probt Peter Shaffers »Amadeus«. Doch dann bricht der Darsteller des Salieri bei der Premiere tot zusammen: Statt einer harmlosen Attrappe hatte man ihm ein echtes Messer für seine Selbstmordszene untergeschmuggelt. Inspector Barnaby muß bald feststellen, daß fast alle Darsteller als Täter für dieses perfide Verbrechen in Frage kommen.

Caroline Graham wurde 1931 in Warwickshire geboren. Ihre Serie um Inspector Barnaby machte sie zum Star unter den britischen Krimiautorinnen. So wurde der Roman »Die Rätsel von Badger's Drift von der Crime Writers’ Association unter die hundert besten Krimis und die zehn besten »Whodunnits« aller Zeiten gewählt. Auch die auf den Büchern basierende Fernsehserie »Inspector Barnaby«, die in Deutschland vom ZDF ausgestrahlt wird, hat eine riesige Fangemeinde. Caroline Graham lebt heute in Suffolk.

Und die Begier, ein allgemeiner Wolf, Zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt, Muß dann die Welt als Beute an sich reißen Und sich zuletzt verschlingen.

Troilus und Cressida Erster Aufzug: 3. Szene

Die Rätsel von Badger's Drift

Prolog

Sie ging kurz vor der Teestunde im Wald spazieren, als sie sie sah. Es war nicht ihre Absicht gewesen, leise umherzuschleichen, aber der weiche Waldboden mit dem verrotteten Laub und den Pflanzen dämpfte ihre Schritte, und die dichtstehenden, hohen Bäume schienen außerdem die Geräusche zu verschlucken. An manchen Stellen durchdrang die Sonne das Blätterdach, und grelle, weiße Strahlenbündel unterbrachen das gedämpfte Licht.

Miss Simpson wanderte durch diese Lichtstrahlen und richtete den Blick auf den Boden. Sie suchte nach der Korallenwurz. Sie und ihre Freundin Lucy Bellringer hatten diese Orchideenart vor fünfzig Jahren, als sie noch junge Frauen gewesen waren, zum erstenmal entdeckt. Sieben Jahre waren vergangen, bis sich die kleinen Blüten erneut gezeigt hatten, und damals hatte sie Lucy gefunden und war mit Triumphgeschrei ins Unterholz gekrochen.

Seit diesem Tag lagen sie miteinander im Wettstreit. Jeden Sommer streiften sie durch den Wald, manchmal getrennt, manchmal gemeinsam, und suchten eifrig nach den Blumen. Voller Hoffnungen und mit geschärftem Blick, bewaffnet mit Notizbuch und Stift, marschierten sie durch die düsteren Buchenwälder. Wer zuerst fündig wurde, mußte die Verliererin zum Trost zum Tee mit üppiger Verköstigung einladen. Die Orchidee blühte nur selten und, wegen des weitverzweigten Wurzelstocks, nicht immer zweimal am selben Ort. In den letzten fünf Jahren hatten die beiden Freundinnen ihre Suche immer früher begonnen. Jede wußte natürlich, daß die andere allein Streifzüge unternahm, obwohl keine ein Wort darüber verlor.

Also wirklich, dachte Miss Simpson, während sie mit ihrem Stock vorsichtig in einem Busch Glockenblumen herumstocherte, wenn das so weitergeht, dann gehen wir schon los, obwohl noch überall Schnee liegt.

Wenn es Gerechtigkeit in dieser Welt gab (und Miss Simpson glaubte fest daran), dann war sie 1987 dran. Lucy hatte 1969 und 1978 gewonnen, aber dieses Jahr ...

Sie schürzte die beinahe farblosen Lippen. Sie hatte ihren alten Strohhut auf, aber der Schleier, der das Gesicht vor Bienen und anderen Insekten schützen sollte, war zurückgeschlagen, und sie trug ein ausgebleichtes Baumwollkleid, faltige weiße Strümpfe und ziemlich ausgetretene, mit Grasflecken übersäte Tennisschuhe. In den Händen hielt sie ein Vergrößerungsglas und einen zugespitzten Stock, an dem ein rotes Band befestigt war. Sie hatte bereits fast ein Drittel des kleinen Wäldchens abgesucht und bahnte sich jetzt einen Weg tiefer ins Dickicht. Es konnten leicht zehn Jahre vergehen, bis sich wieder Blüten der Korallenwurz zeigten, aber der Winter war naß und kalt und der Frühling sehr feucht gewesen - beides gute Vorzeichen! Und der heutige Tag war irgendwie verheißungsvoll...

Miss Simpson blieb stehen und atmete tief durch. Am Abend zuvor hatte es leicht geregnet, und so war die warme Luft heute besonders schwül und schwer von dem Duft nach Blumen, Blättern und süßlichem Moder.

Sie näherte sich einer dicken Eiche, die mit rissigen Parasolen bewachsen war. Üppige Büschel Nieswurz wucherten um den Stamm.

Und da waren sie. Fast gänzlich versteckt unter einer verrotteten Laubschicht, die braun und weich wie Schokoladenstreusel den Boden bedeckte. Miss Simpson schob vorsichtig die modrigen Krümel zur Seite und schreckte dabei ein paar Insekten auf, die sich hastig in Sicherheit brachten. Die Blüten schimmerten in dem Dämmerlicht, als wären sie von innen beleuchtet. Es war eine seltsame Pflanze: sehr hübsch, die zart gesprenkelten, blaß gelb-braunen Blütenblätter öffneten sich wie Schmetterlingsflügel vom Kelch, aber es fehlte jede Spur von Grün. Sie hatte keine Blätter, und auch die Stiele waren dunkel und rot und braun marmoriert. Miss Simpson kauerte sich hin und bohrte ihren Stock in die Erde, um die Stelle zu markieren. Das rote Band regte sich nicht in der windstillen Luft. Sie beugte sich weiter vor, und ihr Kneifer rutschte dabei über die große, knochige Nase. Sie zählte die Blüten. Es waren sechs. Lucy hatte beim letztenmal nur vier gefunden. Ein doppelter Triumph!

Sie erhob sich aufgeregt und schlang die Arme um sich; am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt. Du wirst dich wundern, Lucy Bellringer, du bist zweifach besiegt! Aber Miss Simpson ließ sich nicht allzu lange von den Triumphgefühlen hinreißen. Das wichtigste war jetzt die Tee-Einladung. Sie hatte sich das letzte Mal, als Lucy in der Küche gewesen war, um noch einmal Teewasser aufzusetzen, Notizen gemacht, und auch wenn sie nicht protzig erscheinen wollte, hatte sie beschlossen, doppelt so viele verschiedene Sandwiches, vier Kuchensorten und zum Schluß ein selbstgemachtes Pflaumenschlehen-Eis anzubieten. Sie hatte eine ganze Schüssel voll schöner, reifer Pflaumenschlehen in der Speisekammer stehen. Die Vorfreude übermannte sie, und sie blieb eine Weile ganz still stehen. Sie sah ihren Queen-Anne-Tisch mit der hübsch bestickten Spitzendecke von Großtante Rebecca und all den Köstlichkeiten schon vor sich.

Bananenbrot mit Datteln, Teekuchen mit vielen Früchten, Mandeltörtchen, Pfefferkuchen und Nußplätzchen, Zitronenquark mit geschlagener Sahne, Ingwer-und Orangenkringel. Und vor dem Eis Toastschnitten mit Anchovis und Lei-cesterkäse...

Da war ein Geräusch. Man hat immer die Illusion, dachte sie, daß mitten im Wald absolute Stille herrscht. Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Nur gehörten die Geräusche so sehr zur Umgebung, daß sie die Ruhe eher unterstrichen, als sie zu stören - die Bewegungen kleiner Tiere, das Rascheln von Blättern und vor allem das Zwitschern und Klagen der Vögel. Aber das hier war etwas anderes. Miss Simpson rührte sich nicht vom Fleck und lauschte.

Es klang wie ein gequältes Keuchen, und für einen Moment glaubte Miss Simpson, daß ein großes Tier in eine Falle geraten sei, aber dann hörte sie plötzliche leise Schreie und ein eigenartiges Stöhnen, das eindeutig von einem menschlichen Wesen stammte.

Miss Simpson zögerte. Unter dem dichten Blätterdach war kaum auszumachen, aus welcher Richtung die Laute kamen. Sie schienen von dem Dickicht abzuprallen wie ein Ball. Sie trat über ein Farnbüschel und horchte wieder. Ja - es kam ganz sicher von dort. Sie schlich auf Zehenspitzen weiter, als wüßte sie schon im voraus, daß das, was sie entdecken würde, besser für immer ein Geheimnis bliebe.

Sie war dem Ursprung der Geräusche schon ziemlich nahe, nur noch ein dichter Busch befand sich zwischen ihr und dem Keuchen. Einen Moment blieb sie stocksteif vor der grünen Barriere stehen, teilte dann vorsichtig die Zweige, um durch die Lücke zu spähen. Um ein Haar wäre ihr ein Schrei des Entsetzens entfahren.

Miss Simpson war eine jungfräuliche Lady, und ihre Bildung in gewissen Dingen konnte nur als unzureichend bezeichnet werden. Als Kind war sie von einer Gouvernante unterrichtet worden, die mit hochrotem Kopf und stammelnd diesen Teil der >Naturwissenschaft< vage gestreift hatte. Sie hatte nur flüchtig von Vögeln und Bienen gesprochen, die Beschaffenheit der menschlichen Anatomie jedoch vollständig außer acht gelassen. Aber Miss Simpson war fest davon überzeugt, daß nur ein wirklich kultivierter Geist den Antrieb und den Trost für ein langes, glückliches Leben bieten konnte, und deshalb hatte sie in ihrer späten Jugend unerschrocken die großen Kunstwerke in Italien, Frankreich und Wien besichtigt. Daher wußte sie sofort, was hier direkt vor ihren Augen vor sich ging. Die verschlungenen nackten Arme und Beine (es schienen mehr als nur je vier Glieder zu sein) schimmerten feucht - genau wie die Körper von Cupido und Psyche. Der Mann umklammerte mit der Hand eine Haarsträhne der Frau und zog brutal ihren Kopf zurück, während er ihre Schultern und Brüste mit Küssen bedeckte. Miss Simpson konnte ihr Gesicht zuerst sehen. Es war ein Schock, aber als die Frau ihren Geliebten von sich stieß und sich lachend über ihn rollte ...

Miss Simpson blinzelte und blinzelte noch einmal. Wer hätte das je für möglich gehalten? Sie ließ die Zweige los, hielt die Luft an und atmete dann langsam wieder aus. Eine ganze Weile blieb sie wie angewurzelt stehen und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Widersprüchliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und ihre Gefühle waren völlig verworren. Dieser Anblick war schockierend, entsetzlich peinlich und abstoßend, und doch spürte sie, daß sie eine schwache Erregung überkam, die sie jedoch augenblicklich resolut unterdrückte. Sie kam sich vor, als hätte ihr jemand eine tickende Bombe in die Hand gedrückt. Die Umstände und ihre Veranlagung hatten sie dazu gebracht, all dem Durcheinander und den Schwierigkeiten, die bei der Bräutigamsuche, der Verlobungszeit und der Ehe mit ihren Konflikten unweigerlich entstanden, aus dem Wege zu gehen, und deshalb fühlte sich Miss Simpson dieser Situation überhaupt nicht gewachsen.

Ärgerliche Empörung brach sich Bahn, und beinahe hätte sie mißbilligend mit der Zunge geschnalzt. Ausgerechnet mitten im Wald! Dabei hatten die beiden doch ein Zuhause, sie hätten ihre Spielchen gut hinter verschlossenen Türen treiben können. Dieses Pärchen hatte ihr den wundervollen Tag gründlich verdorben.

Miss Simpson mußte sich so leise davonmachen, wie sie gekommen war. Sie betrachtete aufmerksam den Boden. Auf keinen Fall durfte sie auf trockene, knackende Zweige treten. Und je früher sie diesen Ort verließ, um so besser. Nach allem, was sie wußte, müßten die beiden bald ... na ja, sie müßten in Kürze jenen Punkt erreichen, den Menschen eben so anstreben.

Plötzlich schrie die Frau auf. Es war ein eigenartiger, schrecklicher Schrei, und ein Vogel flatterte aus dem Gestrüpp und streifte Miss Simpsons Gesicht. Miss Simpson kreischte erschrocken auf, wirbelte beschämt bei dem Gedanken, man könnte sie hier sehen, herum und rannte los. Sekunden später stolperte sie über eine Wurzel. Sie stürzte, achtete aber in ihrer Panik nicht auf den Schmerz, sondern mühte sich sofort wieder auf die Füße und lief weiter. Hinter sich hörte sie dumpfe Geräusche und ein Rascheln, offenbar waren sie aufgesprungen und schoben die Äste beiseite, um nachzusehen, was vor sich ging. Bestimmt erkannten sie sie. Sie mußten. Schließlich war sie erst ein paar Meter von ihnen entfernt. Aber nackt, wie sie waren, würden sie sie doch sicherlich nicht verfolgen, oder?

Ihre achtzig Jahre alten Beine gehorchten Befehlen, die sie seit sehr langer Zeit nicht mehr ausgeführt hatten. Sie flogen in seltsamen Winkeln schräg nach hinten und trugen Miss Simpson in unglaublicher Geschwindigkeit bis zum Waldrand. Dort lehnte sie sich an einen Baumstamm, lauschte und rang nach Atem; sie preßte die Hand auf die flache, schmerzende Brust und brauchte volle fünf Minuten, bis sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie langsam nach Hause gehen konnte.

Später, am Abend, saß sie in ihrem Sessel am Fenster und beobachtete, wie die Nacht über den Garten hereinbrach. Sie hatte das Fenster weit aufgestoßen und sog tief den Duft des Ziertabaks und der Levkojen ein, die sie nah ans Haus gepflanzt hatte. Am anderen Ende der Rasenfläche leuchteten die kleinen, weißen Bienenstöcke, denen ihr Haus den Namen »Bienenstock-Cottage« verdankte, im diffusen Dämmerlicht beinahe blau.

Seit ihrer Heimkehr vor etwa drei Stunden saß sie so da. Essen konnte sie nicht, und der Schmerz in ihrem Schienbein wurde immer stärker. Je mehr sie grübelte, um so unsicherer wurde sie, wie sie sich verhalten sollte.

Alles war jetzt anders. Sie wußte, daß die beiden sie gesehen hatten. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie die Zeit bis gestern hätte zurückdrehen können. Ihre Eitelkeit hatte sie in diese mißliche Lage gebracht: der Wunsch, ihre Freundin auszustechen und zu besiegen. Geschah ihr ganz recht. Sie seufzte niedergeschlagen. All die Selbstkritik löste jedoch nicht ihr Problem.

Sie fragte sich, ob sie zu ihr kommen und mit ihr reden würden - ein kalter Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken. Sie stellte sich vor, wie diese Unterhaltung zu dritt wohl ablaufen mochte. Die gräßliche Verlegenheit. Oder war dem Pärchen die Situation vielleicht gar nicht so peinlich? Es gehörte schon eine Portion Unverfrorenheit und Schamlosigkeit dazu, sich unter freiem Himmel auf diese Weise auszutoben. Möglicherweise sollte sie selbst die Initiative ergreifen und auf die beiden zugehen. Ihnen versichern, daß sie Stillschweigen bewahren würde. Miss Simpsons empfindsame Seele schreckte vor dieser Vorstellung zurück. Ein solcher Schritt würde den Eindruck erwecken, daß sie weitere Intimitäten forcierte, und das war ganz gewiß nicht ihre Absicht. Merkwürdig, dachte sie, plötzlich erfährt man etwas Erschreckendes von zwei Menschen, die man gut zu kennen glaubte. Das schien all das frühere Wissen über sie zu beeinflussen, ja beinahe auszulöschen. Sie rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her und biß die Zähne zusammen, als der Schmerz durch ihr verletztes Bein stach. Sie dachte wehmütig an den Moment, als sie die Orchidee gefunden hatte, und an die Vorfreude auf den gemeinsamen Tee mit Lucy. Jetzt durfte sie Lucy nie davon erzählen. Alles erschien ihr besudelt und verdorben. Miss Simpson erhob sich aus dem Sessel und ging durch die Küche in den ruhigen, duftenden Garten. Ihre Lieblingsrose, die Papa Meilland, die sie in die Nähe der Hintertür gepflanzt hatte, war kurz davor, aufzublühen. Letztes Jahr waren die Knospen vom Mehltau befallen gewesen, aber heuer schien die Pflanze gesund zu sein, und ein paar dunkle, schimmernde Triebe versprachen eine üppige Pracht. Eine Knospe war schon so weit aufgeplatzt, daß sie vermutlich am nächsten Morgen schon ihre ganze Schönheit zeigen würde.

Sie seufzte wieder und ging in die Küche zurück, um sich einen Kakao zu kochen. Sie nahm eine blitzende Kasserolle von dem Haken am Balken und schüttete Milch hinein. Nie zuvor war ihr so bewußt gewesen, wieviel Wahrheit das Sprichwort »Geteiltes Leid ist halbes Leid« enthielt. Aber sie lebte schon lange genug in diesem kleinen Dorf, um zu wissen, daß sie mit niemandem über ihre Entdeckung sprechen konnte - nicht einmal mit Lucy, die zwar alles andere als eine Klatschtante war, aber auch nicht die Fähigkeit besaß, sich zu verstellen oder ihre Gefühle zu verbergen. Selbst den Menschen, die man normalerweise ins Vertrauen zog, wie ihren Anwalt (der sich derzeit an der Algarve im Urlaub befand) und natürlich den Vikar, konnte sie ihr Wissen nicht offenbaren. Der Vikar war schrecklich redselig und tratschte viel, besonders nach dem monatlichen Treffen der Weinfreunde.

Miss Simpson holte eine geriffelte Porzellantasse mit Unterteller aus dem Schrank (sie konnte sich einfach nicht mit diesen modernen klobigen Bechern anfreunden) und gab einen gehäuften Teelöffel Kakaopulver, ein wenig Zucker und eine Prise Zimt hinein. Ihrem Neffen, der weit weg in Australien lebte, könnte sie alles erzählen, aber das würde bedeuten, daß sie ihm die ganze Geschichte in einem Brief schildern müßte. Allein der Gedanke daran, eine derartige Ungeheuerlichkeit schriftlich in Worte zu fassen, verursachte ihr Übelkeit. Die schäumende Milch stieg bis zum Topfrand. Miss Simpson schüttete sie vorsichtig in die Tasse und rührte dabei um.

Sie machte es sich wieder in ihrem Sessel bequem und nippte an ihrem Kakao. Wenn sie schon keine Möglichkeit hatte, sich Bekannten anzuvertrauen, dann gab es doch sicherlich Organisationen, die für solche Fälle ein offenes Ohr hatten, oder? Sie selbst hatte ihr ganzes Leben lang hilfreiche Freunde um sich gehabt, doch jetzt zermarterte sie sich das Gehirn und überlegte, wie die Institutionen hießen, die weniger Glücklichen halfen. Ihr fiel ein, in den Büros, in denen sie gegen die Abzüge von ihrer Pension protestiert hatte, Plakate gesehen zu haben. Ein Mann mit Telefonhörer am Ohr. Und ein Name, der ihr damals sehr biblisch vorgekommen war. Sie mußte sich bei der Auskunft erkundigen. Gott sei Dank gab es das Durchwahlverfahren, so daß sie die neugierige Mrs. Beadle nicht um Vermittlung bitten mußte.

Das Mädchen von der Auskunft wußte sofort, was sie meinte, und gab ihr die Nummer der Samariter. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang tröstlich und ermutigend. Ein wenig jung vielleicht, aber freundlich und aufrichtig interessiert. Und, was am wichtigsten war, sie versicherte, die Angelegenheit absolut vertraulich zu behandeln. Miss Simpson nannte auf eine entsprechende Frage ihren Namen und hatte kaum begonnen, die Situation zu schildern, als ein Geräusch sie unterbrach. Sie hörte auf zu reden und lauschte. Da war es wieder.

Jemand klopfte leise, aber hartnäckig an die Hintertür.

Teil Eins

Verdacht 

I

»Da stimmt etwas nicht, und ich erwarte, daß Sie etwas unternehmen. Ist die Polizei nicht dazu da?«

Sergeant Troy konzentrierte sich auf seine Atmung - diesen Trick hatte er in der Polizeischule gelernt, von einem Kollegen, der sich eingehend mit T’ai Ch’i und anderen fernöstlichen Techniken beschäftigt hatte. Die Methode war sehr nützlich, wenn er sich Beschimpfungen von Autofahrern anhören mußte und wenn er es mit aufsässigen Jugendlichen oder, wie jetzt, mit übergeschnappten alten Ladies zu tun hatte.

»In der Tat, das sind wir, Miss... äh ...« Der Sergeant tat so, als wäre ihm ihr Name entfallen. Gelegentlich führten derartige Manöver dazu, daß es sich die Leute noch einmal gründlich überlegten, ob ihr Besuch der Mühe wert war. Manche zogen dann unverrichteter Dinge ab, und das ersparte dem Sergeant eine Menge Papierkram.

»Bellringer.«

»Sind Sie sicher, daß diese Angelegenheit eine Sache für die Polizei ist? Ihre Freundin war in einem gesegneten Alter, sie ist gefallen, und das war zuviel für sie. So was kommt häufig vor, wissen Sie?«

»Unsinn.«

Sie hatte eine Stimme, die ihm gehörig auf die Nerven ging: klar, autoritär und sehr, sehr vornehm. Ich wette, sie hat früher ein paar Dienstmägde herumkommandiert, dachte er, den Ausdruck leicht in seinem Gedächtnis findend. Er und seine Frau hatten sich kürzlich im Fernsehen ein tolles Komödienstück angesehen.

»Sie war stark wie ein Ochse«, stellte Miss Bellringer klar. »Wie ein Ochse.« Ihre Stimme bebte bei dieser Wiederholung. Lieber Himmel, dachte Sergeant Troy, die alte Nebelkrähe fängt doch jetzt nicht zu heulen an, oder? Automatisch holte er die Papiertaschentücher unter dem Pult hervor und konzentrierte sich wieder auf seine Atmung.

Miss Bellringer ignorierte die Tücher. Ihr linker Arm verschwand in der riesigen bestickten Tasche. Sie kramte eine Weile herum, dann beförderte sie eine runde, mit Edelsteinen besetzte Schnupftabakdose zutage. Sie öffnete sie und häufte eine Prise von dem ingwerfarbenen Pulver auf ihren Handrücken. Sie hielt sich erst das eine, dann das andere Nasenloch zu, als sie den Tabak schnupfte. Nachdem sie die Dose wieder weggesteckt hatte, nieste sie mit erstaunlicher Vehemenz. Sergeant Troy grabschte nach den Papieren auf dem Pult und hielt sie vorsichtshalber fest. Sobald sich der Staub wieder gelegt hatte, kreischte Miss Bellringer: »Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen!«

Es hätte Sergeant Troy eine diebische Freude bereitet, ihr mitzuteilen, daß keiner seiner Vorgesetzten verfügbar sei. Unglücklicherweise entsprach das jedoch nicht der Wahrheit. Chief Inspector Barnaby war erst heute aus dem Urlaub zurückgekommen und arbeitete in seinem Büro liegengebliebene Akten auf.

»Darf ich Sie um einen Moment Geduld bitten?« fragte Troy und vermied tunlichst, das Wörtchen >Madam< hinzuzufügen. Während er an Barnabys Tür klopfte, bemühte er sich, sein Gesicht so ausdruckslos zu halten, daß man ihm seine Gedanken über Miss Bellringers Senilität nicht ansah. Der Chief Inspector konnte mitunter sehr ungemütlich werden. Er war ein großer, massiger Mann und strahlte eine gelassene Autorität aus, die schon gerissenere Männer als Gavin Troy in die Schranken verwiesen hatte, wenn sie vorschnelle Urteile geäußert hatten.

»Was gibt’s, Sergeant?«

»Da ist eine alte ... eine ältere Dame bei mir, Sir. Eine Miss Bellringer aus Badger’s Drift. Sie besteht darauf, mit einem höheren Beamten zu sprechen. Ich meine, mit jemand anderem als mit mir.«

Barnaby hob den Kopf. Er sieht nicht so aus wie jemand, der gerade Urlaub hatte, dachte Sergeant Troy. Er macht einen abgespannten, kranken Eindruck. Dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Das Tablettenfläschchen, das Barnaby immer bei sich hatte, stand neben einem Wasserglas auf dem Schreibtisch.

»Worum geht es?«

»Ihre Freundin ist gestorben, und sie ist nicht zufrieden.«

»Wer ist das schon in einer solchen Situation?«

Der Sergeant formulierte sein Anliegen anders - offenbar hatte der Chief heute seinen sarkastischen Tag. »Ich meinte damit: Sie ist überzeugt, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging.«

Chief Inspector Barnaby warf einen Blick auf die Akte, die ganz oben auf dem Stapel lag: ein besonders unerfreulicher Fall von Kindesmißhandlung. Es wäre ihm sehr angenehm, wenn er sich noch einen kleinen Aufschub gönnen könnte und sich erst später mit den unappetitlichen Details auseinandersetzen müßte. »Also schön. Führen Sie sie herein.«

Miss Bellringer ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Sergeant Troy für sie zurechtgerückt hatte, und arrangierte ihre Textilien. Sie bot einen wunderlichen Anblick - man hatte den Eindruck, daß sie sich für diesen Anlaß eher geschmückt als angekleidet hatte. Ihr wallendes Gewand hatte an manchen Stellen einen trüben Schimmer angenommen, als wäre es vor langer, langer Zeit einmal mit reichen Stickereien verziert gewesen. Sie trug mehrere wunderschöne Ringe, aber die Steine waren schmutzig und glanzlos. Auch unter ihren Fingernägeln hatte sich Dreck angesammelt. Ihre blitzenden Augen wirkten rastlos in dem faltigen, braunen Gesicht. Sie sah aus wie ein ramponierter Adler.

»Ich bin Chief Inspector Barnaby. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Na ja ...« Sie musterte ihn zweifelnd. »Darf ich fragen, wieso Sie in diesen Klamotten sind?«

»In was? Oh ...« Er folgte ihrem strengen Blick. »Ich bin Detective - die tragen keine Uniformen.«

»Aha.« Beruhigt fuhr sie fort: »Ich möchte, daß Sie in einem Todesfall Nachforschungen anstellen. Meine Freundin Emily Simpson war achtzig Jahre alt, und nur deshalb hat man ohne genauere Untersuchungen einen Totenschein ausgefüllt. Wenn sie halb so alt gewesen wäre, hätte man sicher Fragen gestellt oder eine Autopsie vorgenommen.«

»Nicht unbedingt, Miss Bellringer. Das hängt immer von den Umständen ab.«

Es war Jahre her, seit Barnaby eine derartige Aussprache zum letztenmal gehört hatte - damals bei seinen ersten Kinobesuchen. Die Nachkriegsfilme waren voll gewesen mit anständigen, aufrechten Engländern in Bügelfaltenhosen, und alle hatten diesen übertriebenen Akzent gehabt.

»Na, in diesem Fall sind die Umstände in der Tat sehr merkwürdig.«

Barnaby fand gar nichts merkwürdig daran, daß eine Frau mit achtzig Jahren starb, nahm aber einen Stift und Notizblock zur Hand. Offensichtlich hatte der Postbote die Freundin seiner Besucherin auf dem Teppich vor dem Kamin gefunden. Er wollte ein Päckchen ausliefern und brauchte ihre Unterschrift, und als niemand auf sein Klopfen reagierte - nur der Hund kläffte wie wild, spähte er durch das Wohnzimmerfenster.

»Er kam sofort zu mir. Er ist seit Jahren unser Postbote, verstehen Sie, und kannte uns beide. Ich habe Doktor Lessiter angerufen...«

»Ist das der Hausarzt Ihrer Freundin?«

»Er ist der Hausarzt von allen, Inspector. Zumindest von allen älteren Leuten im Dorf, denen keine Transportmittel zur Verfügung stehen. Es sind vier Meilen bis Causton. Also - ich lief los und holte den Schlüssel für Miss Simpsons Haus, aber das wäre überhaupt nicht nötig gewesen, denn ...« Miss Bellringer hob anklagend einen Finger, »und das ist die erste eigenartige Sache, die Hintertür war nicht abgeschlossen.«

»War das ungewöhnlich?«

»Es ist noch nie vorgekommen. In der letzten Zeit ist in unserem Dorf einige Male eingebrochen worden. Emily war in diesen Dingen sehr gewissenhaft.«

»Jeder vergißt manchmal etwas«, murmelte Barnaby.

»Sie nicht. Sie erledigte ihre allabendlichen Verrichtungen nach einem festgelegten Schema. Um neun Uhr abends überprüfte sie regelmäßig die Uhren nach der Radiozeit und stellte den Wecker auf sieben Uhr, dann mußte Benjy in sein Körbchen, und sie schloß die Hintertür ab.«

»Wissen Sie, ob der Wecker an diesem Abend schon gestellt war?«

»Ich habe extra nachgesehen - er war nicht gestellt.«

»Das deutet lediglich darauf hin, daß sie vor neun Uhr gestorben ist.«

»Nein, das ist sie nicht. Sie starb in der Nacht, sagt der Doktor.«

»Möglicherweise hat sie in der Nacht ihren letzten Atemzug getan«, warf der Inspector in mildem Ton ein, »aber sie war vielleicht schon stundenlang bewußtlos.«

»Da ist ein ganz entscheidender Punkt«, fuhr Miss Bellringer lebhaft fort, als hätte er kein Wort gesagt. »Was ist mit der Orchidee?«

»Mit der Orchidee?« wiederholte Barnaby ausdruckslos. Dreißig Jahre Erfahrung mit der ländlichen Bevölkerung hatten ihn Geduld gelehrt.

Miss Bellringer klärte den Zusammenhang umgehend auf und erzählte von ihrem Wettstreit mit Miss Simpson. »Am Nachmittag nach dem Tod meiner Freundin ging ich im Wald spazieren. Eine törichte Unternehmung, aber ich war natürlich noch vollkommen durcheinander und sehr aufgeregt. Ich suchte halbherzig nach der Orchidee, bis mir klarwurde, daß es gar keine Rolle mehr spielt, ob ich sie finde oder nicht. Bei diesem Gedanken begriff ich erst richtig, daß Emily tot ist... ich sah sie wieder vor mir, wie sie dalag ...« Sie richtete den Blick auf Barnaby, zwinkerte einige Male und schniefte. »Das muß Ihnen seltsam Vorkommen.«

»Ganz und gar nicht.«

»Und dann habe ich sie entdeckt. Aber, verstehen Sie - Emily hat die Orchidee vor mir gefunden.« Sie sah, daß Barnaby fragend die Augenbrauen hochzog, und erklärte: »Jede von uns hatte einen Stock, um die Fundstelle zu markieren. Ihr Stock war mit einem roten Band gekennzeichnet, meiner mit einem gelben.« Miss Bellringer beugte sich vor und sah Barnaby so eindringlich an, daß er sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, dasselbe zu tun. »Warum ist sie nicht zu mir gekommen, um mir von ihrer Entdeckung zu erzählen?«

»Vielleicht wollte sie sich das noch aufheben - als eine Art Überraschung.«

»Nein, nein«, wehrte sie ab, ärgerlich über seine Unfähigkeit, die Situation zu erfassen. »Sie verstehen nicht. Ich kenne Emily seit fast achtzig Jahren. Sie muß außer sich vor Freude gewesen sein. Sie wäre schnurstracks zu mir gekommen.«

»Möglich, daß sie sich schon am Nachmittag nicht gut fühlte und schnell heim wollte?«

»Sie mußte an meinem Haus Vorbeigehen. Wenn sie sich krank gefühlt hätte, wäre sie auch zu mir gekommen. Ich hätte mich um sie gekümmert.«

»Haben Sie sie an dem bewußten Tag gar nicht gesehen?«

»Ich beobachtete sie, als sie Benjy um zwei Uhr Gassi führte und ihn zurückbrachte. Und bevor Sie fragen - die beiden sahen putzmunter aus.« Sie schaute sich traurig, aber zugleich voller Hoffnung in Barnabys Büro um. Wie alle Hinterbliebenen konnte sie den Verlust nicht akzeptieren und wirkte erwartungsvoll, als müßte die Verstorbene jeden Moment zur Tür hereinkommen. »Nein...«, sie richtete den Blick erneut auf den Inspector, »irgend etwas muß vorgefallen sein, nachdem sie die Orchidee gefunden hat und bevor sie ins Dorf zurückkam. Etwas, was die Entdeckung plötzlich unwichtig machte. Und Sie können mir glauben, es muß etwas äußerst Schwerwiegendes gewesen sein.«

»Vorausgesetzt, das trifft zu, könnten Sie sich dann vorstellen, daß der Schock sie umgebracht hat?«

»So weit würde ich wirklich nicht gehen.« Miss Bellringer runzelte die Stirn. »Aber da ist noch etwas ...« Sie kramte in ihrer Tasche, rief: »Was halten Sie davon?« und reichte ihm einen Papierfetzen, auf dem stand: Causton, 1234 Terry.

»Die Samariter.«

»Ach ja? Sie mögen armen Seelen Beistand leisten, aber sie geben keinerlei Informationen weiter. Ich konnte kein Wort aus ihnen herausbekommen. Sie sagten, ihre Arbeit sei streng vertraulich.«

»Wo haben Sie den Zettel gefunden?«

»Auf Emilys kleinem Tisch, er steckte unter dem Telefon. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso sie dort angerufen haben sollte.«

»Vermutlich, weil sie beunruhigt oder deprimiert war und jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte.«

»Mit vollkommen Fremden? Unsinn!« Ihr ungehaltenes Schnauben verriet, daß sie dieser Gedanke kränkte. »Außerdem sind Menschen unserer Generation nicht deprimiert. Wir machen unermüdlich weiter. Nicht wie die jungen Leute heutzutage. Die schlucken Tranquilizer, auch wenn ein Glas Milch reichen würde.«

Barnaby spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Das vage Interesse, das an Miss Simpsons Tod aufgeflackert war, erlosch mit einemmal. Er wurde ärgerlich und ungeduldig. »Wann genau ist Ihre Freundin gestorben?«

»Am Freitag, dem siebzehnten - vor zwei Tagen. Ich grüble seither ständig über alles nach. Ich weiß, daß es nicht viele Anhaltspunkte gibt und daß man mir wahrscheinlich sagen wird, ich würde einen Haufen Blödsinn von mir geben. Und das hat man ja auch in gewisser Weise getan.«

»Wie bitte?«

»Ich meine den jungen Mann draußen. Er sagte, es sei in ihrem Alter ein zu erwartendes Ereignis gewesen, und deutete an, daß ich seine wertvolle Zeit verschwende. Obwohl«, setzte sie bissig hinzu, »es nicht den Anschein hatte, daß er besonders emsig seine Pflichten erfüllt.«

»Ich verstehe. Aber wir gehen hier allen Beschwerden und Anfragen nach. Wie wir sie beurteilen, ist dabei ganz unerheblich. Wer ist der nächste Angehörige der Verstorbenen?«

»Na ja ... das bin vermutlich ich. Wir haben beide keine unmittelbaren Verwandten. Entfernte Cousins und Tanten haben längst das Zeitliche gesegnet. Emily hatte nur noch einen Neffen, der auf der anderen Seite des Erdballs lebt. Und ich bin ihre Nachlaßverwalterin. Wir haben uns gegenseitig als Erben eingesetzt.«

Barnaby notierte sich Miss Bellringers Namen und Adresse und erkundigte sich dann: »Arrangieren Sie die Beisetzung?«

»Ja. Sie wird am Mittwoch beerdigt. Das läßt mir nicht mehr viel Zeit.« Plötzlich rutschte sie ins Melodramatische ab. »Ich kann mir nicht helfen, aber das Ganze erinnert mich an dieses Buch, das mit dem verschwundenen Orchester. Die Umstände sind wirklich ziemlich ...«

»Sie lesen Kriminalromane, Miss Bellringer?«

»Leidenschaftlich gern. Sie sind natürlich nicht alle gleich gut. Mein liebster Krimi ist...« Sie brach ab und musterte ihn scharf. »Ah, jetzt weiß ich, was Sie denken. Aber Sie befinden sich auf dem Holzweg. Es ist keine Einbildung oder eine Ausgeburt meiner Phantasie.«

Detective Chief Inspector Barnaby stand auf, und seine Gesprächspartnerin mit den flatternden Gewändern tat es ihm gleich.

»Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Gedanken wegen der Beisetzung machen, Miss Bellringer. Diese Angelegenheit kann leicht verschoben werden, falls es sich als nötig erweisen sollte.« Sie drehte sich auf der Türschwelle noch einmal zu ihm um. »Ich kannte Emily, müssen Sie wissen.« Ihre Finger krampften sich um den Griff ihrer Handtasche. »Das Ganze widerspricht ihrem Charakter. Glauben Sie mir, Chief Inspector, da stimmt etwas nicht.«

Nachdem sie gegangen war, nahm Barnaby zwei Tabletten und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück und wartete darauf, daß die Medizin ihre Wirkung entfaltete. Es schien von Mal zu Mal länger zu dauern. Vielleicht sollte er in Zukunft gleich drei Tabletten einnehmen. Er lockerte seinen Gürtel und nahm sich die Kindesmißhandlungsakte vor. Das Gesicht auf einer Fotografie grinste ihn an: ein strahlender kleiner Mann, der bereits dreimal verurteilt worden war und später die Stelle des Hausmeisters an einer Grundschule bekommen hatte. Barnaby seufzte, schob den Ordner zur Seite und dachte über Emily Simpson nach.

Nach dreißig Jahren, die er mit Beobachten und Zuhören verbracht hatte, glaubte er fest daran, daß niemand seinem Charakter zuwider handelte. Was die meisten Menschen als Charakter ansahen (die Ansammlung oder den Mangel von gewissen gesellschaftlichen, anerzogenen und materiellen Werten), war meistens nur die Oberfläche. Der wahre Charakter offenbarte sich erst, wenn all die erworbenen Eigenschaften abgelegt wurden. Der Chief Inspector war überzeugt, daß jeder Mensch zu allem fähig war. Eigenartig, aber diese Erkenntnis deprimierte ihn keineswegs. Er hielt seine Sichtweise nicht einmal für pessimistisch, sondern nur für die gesunde, vernünftige Einstellung eines erfahrenen Polizisten.

Trotzdem hatte Miss Simpson an ihrem letzten Tag einige Dinge getan, die ihr jemand, der sie seit ihrer Kindheit sehr gut gekannt hatte, nicht zugetraut hätte. Und das war in der Tat eigenartig. Eigenartig und interessant. Detective Chief Inspector Barnaby hatte sich die Telefonnummer der Samariter aufgeschrieben und wollte sich mit den Leuten in Verbindung setzen. Aber zuerst mußte er einige bürointerne Angelegenheiten klären und ein Wörtchen darüber verlieren, wie Miss Bellringer abgefertigt worden war.

Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage und sagte: »Schicken Sie Sergeant Troy zu mir.«

2

Bei den Samaritern hatte er nicht viel Glück, etwas anderes hätte Barnaby auch nicht erwartet. Verschlossen und wortkarg wie gewöhnlich. Deshalb erschien er auch nach einem zweiten Anruf um sieben Uhr abends persönlich in dem winzigen Reihenhaus hinter Woolworth's und stellte eine bekümmerte Miene zur Schau.

Ein älterer Herr saß an einem Schreibtisch, auf dem zwei Telefone standen. Er drückte den Hörer des einen Apparates an sein Ohr. Als er den Neuankömmling sah, bedeckte er die Sprechmuschel mit der Hand und flüsterte Barnaby zu: »Bitte, nehmen Sie Platz«, dann hörte er wieder dem Anrufer zu und nickte von Zeit zu Zeit ernst. Nachdem er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, sagte er: »Sie haben vorhin angerufen, weil Sie Terry sprechen möchten?«

Barnaby neigte zustimmend den Kopf - eigentlich hatte er gedacht, daß der ältere Herr Terry sein könnte. »Ganz recht. Wir haben am Freitag telefoniert.«

»Und Sie sind ...?« Er blätterte in einem Dienstbuch.

»Ich möchte meinen Namen lieber nicht nennen«, erwiderte Barnaby wahrheitsgemäß.

Das Telefon klingelte, und beinahe gleichzeitig kamen eine Frau und ein junges Mädchen aus dem angrenzenden Zimmer. Die beiden tauschten einen Händedruck. Barnaby drehte sich zu der Frau um; sie murmelte »Guten Abend« und ging. Das Mädchen sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann am Schreibtisch lächelte und wedelte mit der Hand, um Barnaby mit dem Mädchen zusammenzubringen.

Sie war schlank und hübsch mit langem, schimmernd blondem Haar und trug ein ordentliches, kariertes Kleid sowie eine Halskette aus Silberperlen. Barnaby verglich sie ihm Geiste mit seiner eigenen Tochter, die sich bei ihrem letzten Besuch zu Hause in zerfetzten Jeans, Lederweste und mit einem zerzausten Haarschopf präsentiert hatte.

»Wir können uns hier drin unterhalten«, sagte das Mädchen, während es ihn ins Nebenzimmer führte, das mit einem Lehnsessel, einer gepolsterten Bank und einem Kiefernholztisch ausgestattet war. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Margeriten. Barnaby entschied sich für die Bank. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Nein, danke.« Er hatte sich für diesen Besuch keinen bestimmten Plan zurechtgelegt und war bereit, der Situation entsprechend vorzugehen. Im Grunde hatte er damit gerechnet, daß Terry ein ausgefuchster Profi wie er selbst war, und konnte jetzt sein Glück kaum fassen. Er lächelte feierlich und zeigte der jungen Frau seinen Dienstausweis.

»Oh! Aber wir... ich darf nicht.. .was wollen Sie von mir?«

»Soweit ich informiert bin, sind Sie die Person, die am Freitag abend mit Emily Simpson gesprochen hat, ist das richtig?«

»Tut mir leid«, entgegnete sie entschieden, »aber wir geben keine Auskünfte über unsere Klienten. Unser Dienst basiert auf absoluter Diskretion.«

»Das erkenne ich natürlich voll und ganz an«, erwiderte Barnaby, »doch bei einem Todesfall...«

»Einem Todesfall? Wie schrecklich ... Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie selbstmordgefährdet ist. Ich bin hier nur für ein paar Wochen als Freiwillige tätig ... Ich bin noch in der Ausbildung, verstehen Sie?« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Wenn ich das gewußt hätte ... aber die anderen beiden Samariter hatten auf der anderen Telefonleitung Gespräche, und ich dachte, ich könnte das übernehmen... Ich meine, Miss Simpson ...«

»Warten Sie, beruhigen Sie sich doch.« Sie sah mit jeder Minute jünger aus und war jetzt den Tränen nahe. »Soviel wir wissen, kommt Selbstmord nicht in Betracht. Aber die Umstände des Todes sind ungeklärt.«

»Oh? Was für Umstände?«

»Ich hätte gern, daß Sie mir von Miss Simpsons Anruf alles erzählen, was Ihnen noch im Gedächtnis geblieben ist.«

»Tut mir leid, das kann ich nicht. Ich muß erst nachfragen...«

»Ich habe bereits mit Ihrem Direktor Mr. Wainwright gesprochen und kann Ihnen versichern, daß in diesem Fall die Regel außer acht gelassen werden darf.« Er schenkte ihr ein väterliches Lächeln.

»Also ... ich weiß nicht...«

»Sie wollen doch nicht die polizeilichen Ermittlungen behindern, oder?« Sein Lächeln wurde um eine Spur strenger.

»Selbstverständlich nicht.« Ihr Blick huschte zur angelehnten Tür. Barnaby wartete geduldig - vermutlich würde sie sich gleich an die einladende Geste erinnern, mit der der Samariter am Schreibtisch ihn an sie verwiesen hatte. Tatsächlich hellte sich ihre Miene auf, und sie sagte: »Ich erinnere mich noch sehr gut an Miss Simpsons Anruf. An diesem Abend meldeten sich nur drei Leute bei uns ... aber ich kann Ihnen das Gespräch nicht wortwörtlich wiederholen.«

»Das macht nichts. Erzählen Sie mir, was Sie noch wissen. Und lassen Sie sich Zeit.«

»Sie sagte so etwas wie: >Ich muß mit jemandem reden. Ich weiß nicht, was ich tun soll.< Eine Menge Menschen beginnen so oder so ähnlich... Dann fragte ich sie, ob sie mir ihren Namen nennen will - die Anrufer sind dazu nicht verpflichtet, und viele wollen auch anonym bleiben, aber sie gab ihren Namen an. Dann ermutigte ich sie weiterzusprechen und wartete.« Mit rührender Wichtigtuerei fügte sie hinzu: »Unsere Arbeit hier besteht hauptsächlich aus geduldigem Warten.«

»Ich verstehe.«

»Dann sagte sie: >Ich habe etwas gesehen und habe das Gefühl, mit jemandem darüber reden zu müssen.<«

Barnaby wurde hellhörig. »Und hat sie auch gesagt, was sie gesehen hat?«

Terry Bazely schüttelte den Kopf. »Sie sagte, es sei etwas Unglaubliches gewesen.«

Diese Information hielt Barnaby für unerheblich. Ältere, unverheiratete Menschen beiderlei Geschlechts neigten dazu, schon die geringsten Abweichungen von der Normalität für unglaublich anzusehen. Das wurde deutlich, wenn man die Leserbriefe, die in Zeitungen abgedruckt wurden, genauer studierte. Fast alle fingen so an. »Ich war erstaunt, zu sehen zu hören zu beobachten / zu erleben ...«

»Aber dann kam jemand.«

»Wie bitte?« Er beugte sich vor.

»Sie sagte, sie müsse auflegen, weil jemand an ihre Tür klopfte. Und ich versicherte ihr, daß wir die ganze Nacht erreichbar seien, wenn sie zurückrufen wolle, aber sie hat sich nicht mehr gemeldet.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe im Buch nachgesehen, als ich am nächsten Morgen ins Büro kam.«

»Und sie legte auf, bevor sie zur Tür ging, um aufzumachen?«

»Ja.«

»Hat sie gesagt, an welche Tür geklopft wurde?«

»Nein.«

»Haben Sie gehört, ob ein Hund bellte?«

»Nein.«

»Und an mehr können Sie sich nicht erinnern?«

Sie sah ihn unglücklich an, weil sie fürchtete, ihn enttäuscht zu haben. Stirnrunzelnd gestand sie: »Leider ja ... zumindest ...« Sie schwieg eine Weile, dann setzte sie hinzu: »Tut mir leid.«

Barnaby erhob sich. »Ich danke Ihnen, Miss ...«

»Bazely. Aber alle nennen mich Terry. Wir benutzen hier nur Vornamen.«

»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«

Sie hielt ihm die Tür auf. »Da war noch etwas, ich weiß es genau, aber ...«

Er glaubte ihr. Sie sah nicht so aus, als würde sie etwas erfinden, nur um jemandem einen Gefallen zu tun. »Möglicherweise fällt es Ihnen ganz plötzlich wieder ein, wenn Sie bei der Arbeit sind oder Geschirr abspülen. Rufen Sie mich an, sobald Sie wissen, was es war. Sie erreichen mich im Polizeirevier Causton.«

»Soll ich mich auch melden, wenn es nichts Wichtiges war?«

»Besonders, wenn es Ihnen nicht wichtig vorkommt. Und«, er schloß die Tür, »Sie dürfen nicht vergessen, daß auch dieses Gespräch außerordentlich diskret behandelt werden muß. Reden Sie mit niemandem darüber, auch nicht mit Ihren Kollegen, ja?«

»Oh!« Ihre Zweifel waren wieder da, und sie wirkte beunruhigter als zuvor. »Aber ich muß Ihren Besuch in unser Buch eintragen.«

»Tragen Sie mich einfach als anonymen Besucher ein, der Kummer wegen eines Todesfalls in der Familie hat«, sagte Barnaby lächelnd, als er die Tür aufzog.

Es war kurz vor neun Uhr. Detective Chief Inspector Barnaby saß am Eßtisch und betrachtete einen Teller, auf dem ledern oder wie Lakritze aussehende, schimmernd schwarze Streifen inmitten einer gelblichgrünen Teigmasse lagen.

»Die Leber mit Gemüse ist verdorben, mein Lieber«, sagte Mrs. Barnaby und deutete damit an, daß das Abendessen zur rechten Zeit noch appetitlich ausgesehen hatte.

Tom Barnaby liebte seine Frau. Joyce war freundlich und nachsichtig, und sie konnte gut zuhören. Er redete immer mit ihr, wenn er nach Hause kam, gewöhnlich über seine Arbeit, und er konnte sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen. Und wenn er zum Ende kam, wirkte sie noch genauso interessiert und nachdenklich wie am Anfang. Sie war sechsundvierzig, auf eine reife Art hübsch und hatte nach wie vor Spaß an dem, was sie mit einem vielsagenden Unterton »ein bißchen kuscheln« nannte. Sie hatte ihre Tochter mit liebevoller, aber fester Hand erzogen und die meisten Dinge, die Eltern gemeinsam taten, allein übernommen. Dabei war ihr nie ein Wort der Klage über die Lippen gekommen. Das Haus war sauber und behaglich, und Joyce erledigte die meiste langweilige Gartenarbeit allein und überließ Tom die interessanten, kreativen Dinge. Sie war eine gute Schauspielerin und sang so schön wie eine Lerche - beide Fertigkeiten zeigte sie eindrucksvoll in der örtlichen Laienspielgruppe. Ihr einziger Fehler war, daß sie nicht kochen konnte.

Nein, dachte Barnaby, als sich ein besonders widerspenstiges Stück Lakritze in seinen Gaumen bohrte, es sind nicht nur ihre mangelnden Kochkünste, es ist mehr, viel mehr. Zwischen ihr und frischen, gefrorenen oder konservierten Lebensmitteln herrschte eine Art unheilvoller Chemie. Sie waren Erzfeinde. Er hatte ihr einmal zugesehen, wie sie versuchte, einen Kuchen zu backen. Sie hatte die Zutaten nicht nur abgewogen und vermischt, sondern mit ihnen gerungen, als quäle sie die Gewißheit, daß sie nur mit Entschlossenheit und Kampfbereitschaft ihren Willen durchsetzen und die Oberhand behalten konnte. Ihre Finger hatten sich wie Eisenklammern um den Teigball geschlossen.

Als Cully dreizehn war, überredete sie ihre Mutter, einen Kochkurs zu besuchen, und am Abend der ersten Unterrichtsstunde standen Vater und Tochter Hand in Hand am Gartentor und konnten ihr Glück kaum fassen. Mrs. Barnaby hatte das Haus mit lauter guten Sachen verlassen. Sie trug sie wie Rotkäppchen aus dem Märchen in einem Korb, der mit einem blütenweißen Tuch bedeckt war, zu ihrem Kochkurs. Drei Stunden später kam sie mit einem zähen Klumpen, gespickt mit verkohlten Rosinen zurück. Sie besuchte noch ein paarmal den Kurs, gab dann aber auf - aus Rücksicht auf die sympathische Lehrerin, wie sie erklärte. Die arme Frau hatte nie zuvor in solchem Maße bei einer Schülerin versagt und war schrecklich niedergeschlagen.

Chief Inspector Barnaby stocherte in der Breimasse und in den Lederstreifen herum und erzählte seiner Frau von Miss Bellringer und Miss Simpson.

»Das ist eine faszinierende Geschichte, Liebling.« Mrs. Barnaby ließ ihre Handarbeit sinken - sie strickte etwas aus glänzender cremeweißer Wolle. »Ich frage mich, was sie wohl gesehen hat.« Ihr Mann zuckte mit den Achseln, aber sie ließ sich von seiner gleichmütigen Haltung nicht täuschen. »Ich nehme an, du sprichst als nächstes mit dem Arzt, stimmt’s?«

»Ja.« Barnaby legte Messer und Gabel weg. Man durfte keine Wunderleistungen von normalem Eßbesteck erwarten. »Wahrscheinlich morgen nach seiner Abendsprechstunde, also könnte es etwas später werden. Mach dir nicht die Mühe, mir das Essen warm zu halten. Ich esse auswärts.«

»Sie können jetzt hineingehen.«

Barnaby war um elf Uhr am nächsten Morgen in Doktor Lessiters Praxis gegangen und wartete seither. Er ging ins Sprechzimmer und fand den Arzt, geschäftig wie eine Biene, an seinem Schreibtisch vor. Während der gesamten Unterhaltung hielt er seine Finger nie still. Er spielte mit den Stiften, ordnete einen Stapel pharmazeutischer Fachzeitschriften, zupfte an seinen Manschetten oder trommelte auf seinen Rezeptblock ein. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf den Dienstausweis des Inspectors.

»Äh... Mr. Barnaby«, er gab ihm den Ausweis zurück, »ich habe nicht viel Zeit für Sie.« Er lud den Chief Inspector nicht einmal ein, Platz zu nehmen. Barnaby nannte den Grund für seinen Besuch.

»Ich sehe da keine Probleme. Eine ältere Frau, ein böser Sturz, das war zuviel für ihr Herz. So was kommt leider ziemlich oft vor.«

»Ich nehme an, Sie haben Miss Simpson vor ihrem Tod untersucht. Ich denke da an einen Zeitraum von zwei Wochen.«

»O ja, das habe ich. Sie können mir nichts anhängen, Inspector. Sonst hätte ich den Todesfall gemeldet. Ich kenne das Gesetz genauso gut wie Sie.«

Barnaby fragte unbeirrt weiter. »Wieso war sie bei Ihnen?«

»Sie hatte eine leichte Bronchitis. Nichts Ernstes.«

»Aber sie ist nicht an dieser Bronchitis gestorben, oder?«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Ich deute gar nichts an, Doktor Lessiter. Ich stelle Ihnen nur einige Fragen.«

»Die Ursache des Todes, der einige Stunden, bevor sie gefunden wurde, eingetreten ist, war Herzversagen, wie ich es angegeben habe. Sie muß schwer gestürzt sein. Ein solcher Schock kann tödliche Auswirkungen haben.«

»Ich denke, das ist eine ganz natürliche Schlußfolgerung...«

»Eine Diagnose.«

»... und es ist logisch, daß Sie nicht nach weiteren Möglichkeiten gesucht haben. Das ist unter diesen Umständen nur allzu verständlich. Aber wenn Sie sich freundlicherweise für einen Moment zurückerinnern - war da vielleicht irgend etwas«, er suchte nach den richtigen Worten, »was nicht ganz ins Bild paßte?«

»Nein, gar nichts.«

Aber die Antwort war zögerlich gekommen, und der unsichere Tonfall des Arztes strafte die negative Aussage Lügen.

Barnaby wartete. Doktor Lessiter blies die Backen auf. Sein Kopf war rund wie eine Zwiebel, und seine Wangen hatten die Farbe von reifen Äpfeln. Auch seine Nase war gerötet, und seine Augäpfel waren von geplatzten Äderchen durchzogen. Inspector Barnaby glaubte, abgesehen von dem typischen Praxisgeruch nach Seife, Antiséptica und Minze, einen Hauch von Whiskey wahrzunehmen. Doktor Lessiters Hände kamen für einen Moment zur Ruhe und legten sich auf seinen Schmerbauch. Seine Stimme klang sachlich, als er schließlich weitersprach und damit zum Ausdruck brachte, daß er sich entschieden hatte, Barnaby zu vertrauen.

»Na ja ... da war doch etwas. Oh, es ist kaum der Rede wert, wirklich. Es war nur ein merkwürdiger Geruch.«

»Was für ein Geruch?«

»Hmm ... es roch nach Mäusen.«

»Das ist nicht ungewöhnlich in einem alten Cottage. Besonders, wenn sie keine Katze hatte.«

»Ich habe nicht gesagt, daß es Mäuse waren. Ich sagte, es roch wie Mäuse. Das ist der treffendste Vergleich, den ich ziehen kann.« Doktor Lessiter stand auf und schwankte einen kurzen Augenblick; »Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich habe heute noch sehr viel zu tun.« Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage, und Sekunden später befand sich Barnaby an der frischen Luft.

Die Praxis war im hinteren Teil des Hauses, einer prächtigen viktorianischen Villa, untergebracht. Barnaby marschierte über den langen Kiesweg und trat in eine schmale, mit Weißdornbüschen und Bärenklau gesäumte Gasse. Er brach einen kleinen Zweig von dem Weißdorn ab und kaute darauf herum, während er weiterging. Brot und Käse hatten sie früher, als er noch ein Junge gewesen war, dazu gesagt. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er genüßlich in die süßen grünen Knospen gebissen hatte. Heute schmeckten sie ganz anders. Vielleicht war es schon ein wenig spät im Jahr.

Das Dorf Badger's Drift hatte die Form eines T. Den Querbalken bildete eine Straße, die schlicht »Street« genannt wurde. Hier befanden sich eine Reihe von Blockhäusern, die die Gemeinde vermietet hatte, einige private Wohnhäuser, der Black Boy Pub, eine Telefonzelle und ein sehr großes, wunderschönes georgianisches Haus, das in einem zarten Apricot-ton gestrichen und auf der einen Seite fast ganz von einem riesigen Magnolienbaum verdeckt war. Hinter dieser Villa standen einige Farmhäuser und zwei große Silos. Das Postamt, ein typischer Bau mit zwei Räumen im ersten Stock, war befestigt wie eine kleine Trutzburg, genau wie der Dorfladen nebenan.

Barnaby bog in die Hauptachse des T ein. Die Church Lane war nicht ganz so lang wie die Street und mündete ins offene Land mit meilenweiten Weizenfeldern. Die Kirche war im dreizehnten Jahrhundert aus Natursteinen erbaut worden, war jedoch erst kürzlich um einen Ziegelbau mit Wellblechdach erweitert worden.

Während Barnaby durch das Dorf schlenderte, bekam er mehr und mehr das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein Fremder in einer kleinen Gemeinde erregte immer Aufsehen, und er entdeckte mehr als nur eine leicht verschobene Gardine hinter den Fenstern der Häuser. Obwohl die Straße hinter ihm menschenleer war, spürte er eine seltsame Spannung in seinem Nacken, als würde er verfolgt. Er drehte sich um. Niemand. Plötzlich blitzte eine Lichtreflexion zu seinen Füßen auf. Er hob den Blick. Im Dachfenster des eleganten Bungalows neben dem Black Boy Pub fing sich das grelle Sonnenlicht, und ein Gesicht huschte schnell hinter die Gardine.

Miss Bellringer wohnte in einem kleinen, relativ modernen Haus am Ende der Church Lane. Inspector Barnaby ging über den schmalen Kiesweg, der durch ein Gewirr von üppigen Blumen und Sträuchern führte: Rhododendren, Lorbeer, Fuchsien und Rosen wucherten wild in alle Richtungen. Der eiserne Türklopfer hatte die Form eines Stierschädels, und darunter hing ein Zettel in einer durchsichtigen Plastikhülle: laut klopfen. Er klopfte laut.

Augenblicklich kreischte eine Stimme: »Tu es nicht.« Ein dumpfer Laut, als wäre ein Möbelstück umgefallen, folgte, dann hörte Barnaby ein Schlurfen, und Miss Bellringer öffnete die Haustür.

»Entschuldigung, das war Wellington«, sagte sie. »Kommen Sie herein.«

Sie führte ihn in ein vollgestopftes Wohnzimmer und begann, Bücher vom Boden aufzuheben. Der Chief Inspector bückte sich, um ihr zu helfen. Die Bücher waren ziemlich dick und schwer. »Sie wollen unbedingt klettern. Ich weiß nicht, wer den Unsinn aufgebracht hat, daß Katzen nichts umwerfen und ganz sicher auf ihren Pfoten sind. Dieser Mensch hatte sicherlich keine Katze daheim. Wellington schmeißt immerzu etwas runter.«

Barnaby entdeckte Wellington, einen kräftigen, eisengrauen Kater mit vier weißen Pfoten. Er hockte teilnahmslos auf dem Klavierflügel. Sein Gesicht erinnerte an einen alten Stiefel - eingebeult, verknautscht und knittrig. Er paßte genau auf, wie sie die Bücher an ihren Platz zurückstellten. Er wirkte irgendwie heimlichtuerisch und ironisch. Ein Kater, der auf seine großen Augenblicke warten konnte.

»Bitte«, Miss Bellringer wedelte mit dem Arm und verfehlte einige aufgestellte Fotografien nur um Haaresbreite, »setzen Sie sich.«

Barnaby räumte den Stapel Notenblätter, eine Keramikente und eine Bonbondose von einem Lehnsessel und ließ sich nieder.

»Also, Chief Inspector ...«, sie nahm ihm gegenüber auf dem viktorianischen Sofa Platz und legte die Hände auf die Knie (sie trug kupferfarbene Knickerbocker), »was haben Sie herausgefunden?«

»Also«, echote Barnaby, »es gab ganz sicher etwas, was Ihre Freundin beunruhigte. Offenbar machte es ihr schwer zu schaffen.«

»Ich wußte es!« Sie schlug sich auf den Schenkel und wirbelte damit eine kleine Staubwolke auf. »Hab’ ich’s Ihnen nicht gesagt?«

»Unglücklicherweise gibt es offenbar keine Möglichkeit, zu erfahren, was es war.«

»Erzählen Sie mir, was Sie erfahren haben.«

Während Barnaby die Unterhaltung mit Terry Bazely schilderte, sah er sich in dem Zimmer um. Es war groß und vom Boden bis zur Decke mit Büchern und Nippes, getrockneten Blumen und Grünpflanzen vollgestellt. In drei Regalen standen nur Kriminalromane, die man sofort an den charakteristischen Umschlägen erkannte. Außerdem waren da noch ein aus Natursteinen gebauter offener Kamin, eine großartige Stereoanlage und ein mit Spinnweben verzierter Ben Nicholson, der an der Wand gleich neben der Terrassentür hing.

»Und was unternehmen wir als nächstes?« Sie sah ihn mit einem offenen, erwartungsvollen Blick an. Sie rutschte ganz nach vorn an die Sofakante und schien zu allem bereit zu sein.

Barnaby ärgerte sich über ihr ungebrochenes Selbstbewußtsein. Sie schien ihn als eine Art Mitverschworenen zu betrachten. Aber sein Urteil über den Fall (falls man dies überhaupt einen Fall nennen konnte) war eher vage und nebulös. Er konnte kein Kaninchen aus dem Hut zaubern. Er war noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt einen Hut hatte.

»Sie können gar nichts tun, Miss Bellringer«, erwiderte er. »Ich werde den Polizeiarzt bitten, sich Miss Simpsons Leichnam anzuschauen. Dafür brauche ich allerdings Ihr Einverständnis ...«

»Aber natürlich!«

»Falls er keine Notwendigkeit sieht, genauere Untersuchungen anzustellen, bedeutet das wahrscheinlich auch das Ende dieser Angelegenheit.« Er erwartete, daß sie diese Bemerkung mit Bestürzung aufnehmen würde, aber sie nickte zustimmend.

»Ausgezeichnet. Der Bestattungsunternehmer ist Brown’s, Kerridge Street. Ich gebe Ihnen die schriftliche Erlaubnis.« Sie schrieb mit einem Füllfederhalter etwas auf einen cremeweißen Papierbogen, steckte den Bogen in einen Umschlag und reichte ihn Barnaby. »Ich darf Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Chief Inspector Barnaby. Halten Sie mich auf dem laufenden, ja? Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, Chief Inspector Barnaby.«

Barnaby bedeckte den Mund mit der Hand und hüstelte. Bevor sie sich auf den Weg zur Haustür machten, nahm Miss Bellringer ein mit Plastikblümchen gerahmtes Foto in die Hand. »Das ist Emily. Damals war sie achtzehn. Wir hatten gerade angefangen zu unterrichten.«

Barnaby betrachtete die vergilbte Fotografie. Sie war in einem Studio aufgenommen worden. Lucy Beilringer stand neben einem Pflanztrog mit Palme. Emily Simpson saß auf einem Stuhl und sah direkt in die Kamera. Ihr helles Haar war zu einem Chignon geschlungen. Sie hatte weit auseinanderstehende, klare Augen und einen entschlossenen Mund. Ihr wadenlanger Rock und die weiße Bluse wirkten steif. Lucy lächelte breit. Ihr Haarknoten war etwas verrutscht, und der Rocksaum hing auf einer Seite zu weit herunter. Eine Hand hatte sie beschützerisch auf die Schulter ihrer Freundin gelegt.

»Was haben Sie unterrichtet?« erkundigte sich Barnaby, als er ihr das Foto zurückgab.

»Mein Hauptfach war Musik. Und Emilys Englisch. Aber wir haben selbstverständlich auch alle anderen Fächer gelehrt. Das war so zu unserer Zeit.« Sie begleitete ihn zur Tür. »Die Schule gibt’s nicht mehr. Das Gebäude ist zu Wohnungen umgebaut worden. Lauter schreckliche Leute aus London treiben sich dort herum.«

»Ach, übrigens«, Barnaby drehte sich noch einmal zu ihr um, »hatte Ihre Freundin Mäuse im Haus?«

»Lieber Himmel, nein! Bei ihr war alles peinlich sauber. Emily verabscheute Mäuse. Sie hatte überall diese Kügelchen, die Mäuse vertreiben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Chief Inspector.«

3

»Doktor Bullard ist vermutlich nicht im Haus, oder?«

»O doch, er ist hier, Sir«, erwiderte der diensthabende Sergeant. »Er hat heute morgen bei Gericht eine Aussage gemacht, dann ging er ins Labor.«

Die Polizistin Brierly, die hinter einer gläsernen Trennwand saß, rief: »Er ist gerade in die Kantine gegangen.«

Jeder im Polizeirevier beklagte sich über das Kantinenessen, nur für Chief Inspector Barnabys gemarterte Geschmacksnerven waren die Speisen geradezu lukullisch. Diese Nörgler sollten mal bei Barnabys essen, dachte er, als er sich Hackfleischauflauf, aufgeweichte Pommes frites und gräulich verfärbte, matschige Erbsen auf den Teller häufte. Dann würden sie in Zukunft den Mund halten. Er nahm sich noch eine Extrascheibe von dem Hackbraten und sah sich um. Der Doktor saß allein an einem Tisch neben dem Fenster.

»Hallo, Tom«, rief Doktor Bullard. »Was führt Sie an diesen traurigen Ort?«

»Und was bringt Sie hierher?« fragte Barnaby zurück. Er setzte sich und fing an zu spachteln.

»Meine Frau ist im Ikebana-Kurs.«

»Ah. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«

»Nur zu«, forderte der Doktor ihn auf und schob die Reste seines überwürzten Schellfischs zur Seite, um sich skeptisch der Süßspeise zu widmen.

»Eine alte Dame ist gestürzt und wurde am nächsten Morgen vom Postboten tot aufgefunden. Leider ist das nichts Ungewöhnliches. Aber sie hat am Nachmittag zuvor irgend etwas gesehen, möglicherweise im Wald in der Nähe ihres Hauses, und das muß sie erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht haben. So sehr, daß sie bei den Samaritern anrief, um darüber zu reden, aber bevor sie sagen konnte, worum es sich handelte, klopfte jemand an ihre Tür. Mehr wissen wir nicht.«

»Und?« Doktor Bullard zuckte mit den Schultern. »Auch das sind kaum bemerkenswerte Vorkommnisse.«

»Ich hätte gern, daß Sie sich ihre Leiche ansehen.«

»Wer hat den Totenschein ausgestellt?«

»Lessiter. Badger's Drift.«

»Ohh...«, George Bullard blies die Wangen auf und legte die Fingerspitzen aneinander. »Na ja, es wäre nicht das erste Mal, daß ich ihm in die Quere komme.«

»Was halten Sie von ihm?«

»Kommen Sie, Tom - wie können Sie mich so was fragen?«

»Entschuldigung.«

»Lieber Gott, das nennen Sie hier Süßspeise? Das Zeug ist steinhart.« Er bearbeitete die Masse mit dem Löffel. »Ich kann Ihnen über Lessiter sagen, was allgemein bekannt ist. Er hat eine Menge Privatpatienten und führt ein ziemlich aufwendiges Leben. Er ist in zweiter Ehe mit einer umwerfenden Frau verheiratet, seine Tochter hingegen ist alles andere als umwerfend - sie ist ungefähr im gleichen Alter wie meine Karen. Beinahe neunzehn.«

»Könnten Sie heute nachmittag einen Blick auf die Leiche werfen?«

»Hmm. Ich muß um drei in der Klinik sein; vielleicht sollten wir uns sofort auf den Weg machen.« Es gab nur zwei Bestattungsinstitute in Causton. Brown’s war das exklusivere von beiden. Das Schaufenster von Brown’s war mit verknittertem Satin ausgelegt, und in der Mitte stand eine schimmernd schwarze Basalturne mit weißen Lilien. In die Urne war eingraviert: »Bis der Tag anbricht und die Schatten fliehen.« Auf dem Platz vor dem Gebäude parkte ein neuer silberner Porsche 924, er blitzte im Sonnenschein.

»Wunderschön.« Doktor Bullard strich liebevoll über die Karosserie. »Von Null auf Hundert in neun Sekunden.«

Barnaby stellte sich vor, in den niedrigen Sitz gequetscht zu sein. Den rot-schwarz karierten Bezugsstoff fand er extrem scheußlich. Er war sich bewußt, daß er auf Grund seiner Ansichten wie auch seiner finanziellen Möglichkeiten immer ein durchschnittlicher Familienvater bleiben würde. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß diese Burschen so viel Geld verdienen«, sagte er, als er die Glastür aufstieß.

»Sie haben auch immer gut zu tun«, entgegnete der Doktor vergnügt. »Eines ist zumindest immer sicher - die Menschen müssen alle irgendwann mal ins Gras beißen.«

Gedämpft und feierlich schlug die Türglocke an und ließ einen jungen, fast farblos wirkenden jungen Mann aufblicken, der lautlos durch die schweren Samtvorhänge aus dem Nebenzimmer glitt. Er trug einen schwarzen Anzug, war blaß und hatte glatt gekämmtes Haar, bleiche Hände und helle, berechnende Augen. Er war drauf und dran, eine salbungsvolle Rede vom Stapel zu lassen, aber dann betrachtete er die beiden Männer genauer und ließ einen anderen Ausdruck in seinem Gesicht erscheinen. »Doktor Bullard, nicht wahr?«

»Ganz recht. Und Sie sind ... nein, sagen Sie es mir nicht ... Mr. Rainbird?«

»Gutes Gedächtnis!« Der junge Mann lächelte erfreut, aber seine Augen veränderten sich kein bißchen. Er schien durch die Haut zu strahlen. »Dennis, der Quälgeist«, setzte er offenbar ganz ernst hinzu und wandte sich fragend an den Begleiter des Arztes.

»Das ist Detective Inspector Barnaby. Causton CID.«

»Liebe Güte ...« Dennis Rainbirds Blick streifte kurz den Chief Inspector. »Sie werden hier keine Unregelmäßigkeiten finden. Wir sind die reinen Unschuldsengel.«

Barnaby übergab ihm das Schreiben von Miss Bellringer. »Wir würden uns gern die Leiche von Emily Simpson ansehen, wenn Sie so freundlich wären.« Er beobachtete aufmerksam Rainbirds Gesicht. Extreme Neugier und Aufregung flackerten für den Bruchteil einer Sekunde in seiner Miene auf.

»Aber selbstverständlich«, rief Mr. Rainbird, während er die Einverständniserklärung las, dann huschte er durch den Vorhang. »Wir stehen den Hütern des Gesetzes stets zu Diensten.« Er benahm sich, als wäre Barnabys Ansinnen etwas ganz Alltägliches.

Sie standen neben dem Sarg. Barnaby betrachtete die hagere, in weiße Laken gehüllte Leiche. Sie sah ausgesprochen sauber aus und wirkte ausgedörrt, als wäre der Lebenssaft nicht erst kürzlich, sondern schon vor Jahren aus diesem Körper gewichen. Kaum zu glauben, daß dies einmal ein junges Mädchen mit klaren Augen und einem eleganten Chignon gewesen war.

»Da hinten liegen Hunderte von Kränzen. Sie war sehr beliebt«, bemerkte Mr. Rainbird. »Sie war die Lehrerin von meiner Mutter und all meinen Tanten, wissen Sie.«

»Ja. Dann - vielen Dank.« Barnaby fing einen ärgerlichen, fast gehässigen Blick auf, den er gelassen erwiderte. Mr. Rainbird zuckte mit den Achseln und verschwand.

Doktor Bullard beugte sich über Miss Simpson. Hob ihre ringlose Hand, tastete die Fußsohlen ab, zog das Laken beiseite und preßte die Hand auf ihren Brustkorb. Die Leichenstarre hatte sich längst gelöst, und die dürre Brust gab unter seinem Daumen nach. Er runzelte die Stirn und versuchte es noch einmal.

»Stimmt etwas nicht?«

»Die Lungen sind gestaut.«

»Sie war wegen einer Bronchitis in ärztlicher Behandlung.«

»Hm.« Doktor Bullard zog beide Augenlider hoch. »Wann ist sie gestorben?«

»Vor drei Tagen.«

»Wissen Sie, welche Medikamente Lessiter ihr gegeben hat?«

»Nein. Warum?«

»Sehen Sie sich das an.«

Barnaby starrte auf die toten, gelben Augäpfel. Die Pupillen hatten die Größe von Stecknadelköpfen. »Heiliger Strohsack! Was halten Sie davon?«

»Ich denke, Sie sollten mit dem Coroner wegen einer gerichtlichen Untersuchung sprechen.«

»Und ihn um eine Autopsie bitten?«

»Ja.« Die beiden Männer sahen sich an. »Das scheint keine große Überraschung für Sie zu sein.«

Barnaby war tatsächlich nicht erstaunt. Vielleicht waren Miss Bellringers Mißtrauen und Beharrlichkeit doch angebracht. »Ich werde den Coroner wissen lassen, was vorgefallen ist«, sagte er. »Wer wird Ihrer Meinung nach die Obduktion vornehmen?«

»Eynton, vermute ich. Unser Mann macht einen Monat Urlaub auf Kreta.«

»Manchen gefällt's da.«

»Rufen Sie mich an, wenn der Bericht fertig ist, ja? Es interessiert mich sehr, was Sie finden.«

Am Donnerstag morgen lag der Autopsiebericht auf Barnabys Schreibtisch. Er sagte Doktor Bullard telefonisch Bescheid und empfing ihn kurz vor Mittag in seinem Büro. Während der Arzt las, beobachtete Barnaby sein Gesicht mit einiger Belustigung. Es sprach, wie man so schön sagt, Bände. Bullard legte den Bericht weg. »Schierling?«

»Schierling.«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Also das ist wirklich eine Rarität.«

»Es ist vollkommen unzeitgemäß, George. Die Medicis. Shakespeare. Dieser alte Grieche.«

»Sokrates.«

»Ja, genau der. Ich meine, heutzutage ist es normalerweise Valium oder Mogadon mit einem großen Glas Wodka oder so.«

»Oder etwas, was man im eigenen Garten zur Hand hat.«

»Ganz recht. Aber jemanden mit Schierling zu vergiften... Es muß eine unkompliziertere Möglichkeit geben, als das Zeug aufzukochen und zu destillieren.«

»Ich weiß nicht«, wandte der Arzt ein. »Es wird gewöhnlich nicht so einfach über den Ladentisch abgegeben. Man kann nicht in die Apotheke gehen und sich eine Schachtel davon kaufen.«

»Wie wirkt es?«

»Es verursacht eine langsam fortschreitende Lähmung. Platon beschreibt den Tod von Sokrates ziemlich ergreifend. Die Füße, die Beine, der ganze Körper wird nach und nach kalt. Sokrates hat sein Schicksal erstaunlich gut ertragen. Ein echter Stoiker.«

»Also muß derjenige, der ihr das Zeug gegeben hat - falls es ihr überhaupt jemand gegeben hat -, neben ihr gesessen und ihr beim Sterben zugesehen haben.«

»So ungefähr. Die arme Seele. Kein schöner Gedanke.«

»Mord ist nie schön.«

Doktor Bullard überflog noch einmal den Bericht. »Offenbar hatte sie lange nichts gegessen. Das könnte den Prozeß beschleunigt haben. Im Magen wurden keine Schierlingssamen gefunden. Das spricht dafür, daß ein Destillat verwendet wurde.«

»Ja. Ich habe deswegen, kurz bevor Sie kamen, in der Pathologie angerufen. Sie sagen, daß es in Alkohol, Äther oder Chloroform löslich ist.«

»Nicht in Wasser?«

»Nein.«

»Das würde bedeuten, daß sie es getrunken hat, sonst hätte es auf den ersten Blick nicht wie ein natürlicher Tod ausgesehen.«

»Ja, das denke ich auch«, stimmte Barnaby zu. »Alles andere wäre zu riskant gewesen. Selbst eine achtzigjährige Frau kann sich bis zu einem gewissen Grad zur Wehr setzen, wenn ihr jemand ein mit Chloroform getränktes Tuch aufs Gesicht preßt. Es hätte Kampfspuren im Zimmer gegeben. Gegenstände wären umgefallen oder kaputtgegangen. Der Hund hätte Radau gemacht.«

»Das erklärt die Stauungen in den Lungenflügeln.« Doktor Bullard tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Ein bißchen zu auffällig, auch wenn sie, wie Lessiter sagt, mit Bronchitis zu tun hatte. Aber wir sollten nicht zu streng mit dem alten Lessiter ins Gericht gehen. Ich kenne kaum einen Arzt, der daran denkt, eine Leiche auf Schierlingsgift zu untersuchen, solange alles nach einem normalen, wenn auch plötzlichen Tod aussieht. Trotzdem«, er grinste breit, »wäre ich gern Mäuschen, wenn Sie ihm von dieser Entdeckung erzählen.«

4

»Es besteht keine Notwendigkeit, so zu fahren, als müßten Sie sich für die Formel i qualifizieren, Sergeant.«

»Entschuldigung, Sir.« Troy verlangsamte schmollend das Tempo. Was für einen Sinn hatte es überhaupt, bei der Polizei zu sein, sich Tag für Tag mit langweiligem Papierkram und blöden Leuten mit ihren bescheuerten Fragen abzuquälen, wenn man nicht ab und zu mal aufs Gas treten, die Sirene einschalten und wie der Teufel durch die Gegend rasen konnte? Und der Rüffel von vor ein paar Tagen (der, wie er meinte, vollkommen ungerechtfertigt war) nagte immer noch an ihm. Er kannte die Regeln genauso gut wie jeder andere, aber wie viele Polizisten gingen schon jeder kleinsten Kleinigkeit nach, die ihnen im Dienst unterkommt? Verdammtes Pech, daß die alte Schachtel ausgerechnet bei ihm gelandet war. Und jetzt rannten sie im Kreis herum, nur weil eine andere alte Schachtel abgekratzt war. Das einzig Erfreuliche an der ganzen Sache war, daß Detective Chief Inspector Barnaby, dieser Wichser, sich damit noch mehr zum Narren machte ... Sergeant Troy hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was im Autopsiebericht stand, als er in die Church Lane einbog und den Wagen vor der Hausnummer Dreizehn parkte.

Barnaby traf Miss Bellringer in ihrer unordentlichen Küche beim Fischschneiden an. Wellington saß auf dem Kühlschrank und sah interessiert zu, wie das Messer durch den Fisch schnitt. Sein verknautschtes Gesicht drückte äußerste Zufriedenheit aus. »Er frißt kein Dosenfutter«, erklärte Miss Bellringer überflüssigerweise, dann setzte sie unvermittelt hinzu: »Soviel ich gehört habe, ist eine Autopsie vorgenommen worden.« Barnaby konnte seine Überraschung nicht verbergen. Er war in einem Ort aufgewachsen, der nicht viel größer als Badger's Drift war, und wußte, wie gut das Nachrichtensystem in kleinen Gemeinden funktionieren konnte, aber er war beeindruckt von der Geschwindigkeit, mit der sich diese Neuigkeit herumgesprochen hatte. Er vermutete, daß der Bestattungsunternehmer sofort überall herumerzählt hatte, daß Miss Simpsons Leichnam von einem Gerichtsmediziner abgeholt worden war. »Das stimmt. Morgen gibt es eine gerichtliche Untersuchung. Sind Sie bereit, Miss Simpson zu identifizieren?«

»Aber...« Sie wurde blaß und legte das Messer auf das Brett. »Warum?«

»Das ist leider Vorschrift nach einer Obduktion«, erklärte Barnaby.

»Aber ... können Sie das nicht machen?«

»Ich fürchte, das geht nicht. Ich kannte sie nicht zu Lebzeiten, verstehen Sie ?« Er schwieg eine Weile. »Ich könnte Mr. Rainbird darum bitten.«

»Nein, tun Sie das nicht. Er ist ein gräßlicher Kerl.« Sie überlegte lange. »Also gut - wenn es jemand tun muß, dann ist es wohl besser, ich übernehme es.« Wellington protestierte mit einem Fauchen, und Miss Bellringer machte sich wieder an dem Fisch zu schaffen.

»Danach wird Ihnen der Coroner eine Bescheinigung ausstellen, und Ihre Freundin kann bestattet werden.«

»Gott sei Dank. Die arme Emily.« Sie stellte den Teller mit dem Fisch auf den Boden, öffnete eine Tüte Sahne und schüttete etwas davon in ein Keramikschüsselchen, das sie neben den Teller plazierte. »Die Arterien von diesem alten Kater müssen inzwischen vollkommen verkalkt sein. Jeden Tag bekommt er eine Ladung Cholesterin.« Sie stupste Wellington liebevoll mit dem Fuß an. »Aber er liebt Sahne über alles.«

»Sie sagten, daß Sie einen Schlüssel zu Miss Simpsons Cottage haben.«

»Ja, das stimmt. Ich habe einen. Möchten Sie sich dort umsehen?«

»Nur ein wenig. Morgen wird das Haus gründlich untersucht.«

»Oh ... heißt das ...?«

»Tut mir leid, ich kann im Augenblick wirklich nichts Genaueres sagen.«

»Natürlich. Sie haben allen Grund, mich zurechtzuweisen, Chief Inspector.« Sie preßte den Zeigefinger auf die Lippen. »>Stumm war die Schar.< Mögen Sie Keats?«

»Könnten wir uns so schnell wie möglich auf den Weg machen?«

Sie nahm ein Burberry-Cape vom Haken hinter der Tür und warf es sich um die Schultern. Als sie zum Gartentor gingen, stieß Miss Bellringer den überwuchernden Kotoneaster mit dem Fuß vom Weg. »Wir hatten früher eine ausgezeichnete Beziehung, die Pflanzen und ich. Ich habe sie in Ruhe gelassen und sie mich. Jetzt gerät alles aus dem Ruder. Sehen Sie sich all das Zeug nur mal an! Ich dachte, Büsche und Sträucher wären ideal für Leute, die nichts für Gartenarbeit übrig haben.«

»Sie müssen gelegentlich zurückgeschnitten werden«, empfahl der Chief Inspector, dessen Blumenrabatten den Neid sämtlicher Mitglieder des Gartenvereins erregten.

Sergeant Troy beobachtete die beiden von der anderen Straßenseite - den großen Mann in dem hellgrauen Sommerjackett mit passender Hose und die schäbige Greisin, die neben ihm herumzappelte wie ein alter englischer Hirtenhund, den man in einen Leinensack gesteckt hatte. Natürlich, dachte Troy, kann man die Menschen nicht nach den Klamotten beurteilen. Er erinnerte sich an die alte Lady Preddicott, zu der seine Mutter putzen gegangen war. Sie hatte immer ausgesehen, als würde sie sich aus den Säcken der Altkleider-sammlung bedienen. Und er selbst bekam die abgelegten Sachen von ihrem Enkel - sagenhaft teure Kleider aus exklusiven Geschäften -, obwohl er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine lässige Jeans und ein Batman-T-Shirt.

Zwei Kinder und eine Frau mit Einkaufswagen blieben vor einem Auto auf der anderen Straßenseite stehen und starrten Troy neugierig an. Er lehnte sich entspannt zurück und legte lässig eine Hand aufs Steuerrad, behielt aber die Augen offen - ein wichtiger Einsatz. Plötzlich drehte sich Barnaby um und winkte ihn zu sich. Mit vor Ärger hochrotem Gesicht stieg Troy aus dem Rover, schloß die Tür ab und lief seinem Boß nach.

Das Bienenstock-Cottage stand schräg gegenüber von Miss Bellringers Haus. Es war perfekt und sah genauso aus wie die Abbildungen auf englischen Kalendern und Postkarten, die die Touristen verschickten. Von einem solchen Zuhause träumte jeder im Exil Lebende.

Haus und Grundstück wirkten hübsch und liebevoll gepflegt. Eine zweite Strohschicht lag über dem Dach wie eine Schürze, und die Fenster hatten Bleiglasscheiben. Ein im Fischgrätmuster gepflasterter, im Alter uneben gewordener Weg wand sich durch Lavendelstauden und Zypressenkraut bis zur Hintertür. Dort wuchsen Stockrosen, Nelken, Rittersporn, Thymian und Reseda. Eine makellose Rasenfläche schloß sich an den gepflasterten Hof an. Am gegenüberliegenden Rand des Rasens sah man, halb versteckt hinter einem riesigen Schneeballstrauch, zwei Bienenstöcke. Barnaby war angenehm überrascht und blieb lange in schweigender Bewunderung stehen. Der harmonische Garten mit den hübsch zusammengestellten Pflanzengruppen übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.

»Was für ein wundervoller Duft.« Er ging zum nächsten Rosenbusch.

»Das war ihre Lieblingssorte. Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

»Es ist eine Papa Meilland.« Barnaby bückte sich und sog den unvergleichlichen Geruch tief ein. Sergeant Troy verdrehte die Augen. Miss Bellringer holte einen großen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Barnaby wies Troy an, im Hinterhof Stellung zu beziehen, und folgte Miss Bellringer ins Haus. Das erste, was ihnen ins Auge fiel, als sie die Küche betraten, war ein Holzregal, in dem eine ordentlich gefaltete Gartenschürze, eine saubere Pflanzhacke und eine Kniematte lagen. Miss Bellringer ging mit raschen Schritten in die Mitte des Raums und rief: »Lieber Himmel, was ist das für ein scheußlicher Gestank?« Sie wandte sich zur Spüle um.

»Nichts anfassen, bitte«, schrie Barnaby.

»Oh.« Sie blieb stocksteif stehen wie ein Kind, das Statue spielt. »Wegen der Fingerabdrücke?«

Ein überwältigender muffiger Geruch lag in der Luft. Der Chief Inspector sah sich um. Alles war blitzblank und aufgeräumt. In einem Marmeladenglas auf dem Kühlschrank steckte ein Sträußchen Petersilie. Ein paar Kartoffeln lagen in einem Drahtkorb für Gemüse, und daneben stand eine Emailschüssel mit zwei Äpfeln.

»Waren Sie noch einmal hier, seit der Leichnam abgeholt wurde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht ertragen ohne sie.«

»Ist Ihnen der Gestank schon vorher aufgefallen?«

»Nein. Aber mein Geruchssinn ist nicht besonders ausgeprägt. Emily hat sich ständig darüber beschwert und mich immer wieder gedrängt, an diesem und jenem zu schnuppern. Vollkommene Zeitverschwendung.«

»Aber er wäre Ihnen doch sicher aufgefallen, wenn er so stark gewesen wäre wie jetzt.«

»Ich denke schon.« Sie schaute unglücklich in die Runde, dann runzelte sie angewidert die Stirn. »Guter Gott!«

»Was ist?«

»Da ist die Erklärung dafür. Wer, um alles in der Welt, hat das hierher gebracht?« Sie deutete auf das Marmeladenglas auf dem Kühlschrank. Barnaby roch an dem Sträußchen. Der mäuseartige Gestank fuhr ihm in die Nase und brachte ihn beinahe zum Niesen.

»Ist das nicht Petersilie?« fragte er.

»Ich bitte Sie - das ist Schierling.«

»Was?«

»Er wächst in Massen an den alten Bahngeleisen.«

»Er sieht aus wie Petersilie. Glauben Sie, Ihre Freundin hat die Pflanzen verwechselt?«

»Großer Gott, nein. Emily hatte ein eigenes Petersilienbeet neben dem Walnußbaum. Sie hat drei verschiedene Sorten gezogen. Nein, den Gedanken können Sie vergessen. Außerdem - das Zeug war am Morgen nach ihrem Tod noch nicht da.«

»Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher, ja. Natürlich bin ich nicht herumgelaufen und habe Inventur gemacht, aber...«

»Und das Cottage war seither verschlossen?«

»Ja. Und«, setzte sie hinzu, da sie seine nächste Frage erahnte, »ich bin die einzige, die einen zusätzlichen Schlüssel in Verwahrung hat. Die vordere Tür war von innen verriegelt. Sie führt direkt zur Straße. Emily hat sie nie benutzt. Sind Sie sich bewußt, was das bedeutet, Chief Inspector?« Sie faßte aufgeregt nach seinem Arm. »Wir haben einen ersten Hinweis!«

»Ist das das Wohnzimmer?« Barnaby ging auf die Tür zu und zog den Kopf ein.

»Ja.« Sie folgte ihm. »Es gibt nur diese beiden Räume hier unten.«

»War die Tür an dem Morgen, an dem sie gefunden wurde, offen?«

»Nein.«

Eine Standuhr tickte träge in der Ecke. Barnaby sah einen kleinen Kamin und mit Messing beschlagene Balken, eine mit Chintz bezogene, dreiteilige Sitzgruppe, einen Queen-Anne-Tisch und zwei Schränke mit Rautenglastüren, in denen Teller und Porzellanfiguren standen. An einer Wand stand ein volles Bücherregal.

Die Einrichtung des Cottage sah genauso aus, wie man es dem äußeren Anschein nach erwartet hätte, und Barnaby befiel das eigenartige Gefühl, ein naturgetreues Bühnenbild zu betreten. Jeden Augenblick würde ein Dienstmädchen hereinkommen, den Hörer von dem massiven Bakelittelefon abnehmen und sagen: »Leider ist Lady Sonstnochwie im Augenblick außer Haus.« Oder ein hellgekleideter Jugendlicher würde fragen, ob jemand mit ihm Tennis spielen wolle. Die Alternative wäre ein barscher alter Colonel... »Die Leiche lag hier, Inspector.«

»Wie bitte?«

»Hier.« Miss Bellringer stand vor dem Kamin. »Könnten Sie mir zeigen, wie genau?«

»Ich versuche mein Bestes.« Sie betrachtete stirnrunzelnd den Teppich, dann legte sie sich hin und schleuderte den Burberry beiseite. Ihr nilgrüner Liebestöter spitzte unter dem Rocksaum hervor, als sie sich krümmte, um hilfsbereit die Lage der Leiche zu demonstrieren. »Ihr Kopf lag ungefähr hier - ist das in Ordnung?«

»Ja. Ich danke Ihnen.« Im stillen verfluchte Barnaby die Versäumnisse. Es gab keine Fotos von der Leiche und der Lage. Die wichtigste Fährte war kalt.

Miss Bellringer erhob sich mühsam. »Natürlich mußte Doktor Lessiter sie - oh, vielen Dank, Chief Inspector - er muß ihre Lage während der Untersuchung verändert haben.« Sie sah Barnaby nach, der zu den Schränken wanderte und sich alles näher ansah. Einige der Teller waren besonders schön und glänzten in einem leichten Goldschimmer.

»Da drin ist Meißener Porzellan.« Miss Bellringer deutete mit dem Kopf nach links. »Und das andere ist Coalport. Ein paar Stücke hat sie auch aus Frankreich mitgebracht. Vor Jahren sind wir immer mit Fahrrädern zu den Haushaltsauflösungen und Flohmärkten gefahren. Wir haben alle möglichen Schnäppchen dabei gemacht.«

Zwischen den Schränken stand ein kleiner Tisch mit dem Telefon und ein paar Büchern. Palgraves Gedichtanthologie The Golden Treasury, einige Theaterstücke der englischen Renaissance und die Mermaid-Ausgabe von Julius Caesar.

»Sie liebte ihren Shakespeare. Shakespeare und die Bibel. Nahrung für den Geist und Trost für die Seele.« Julius Caesar lag aufgeschlagen obenauf neben dem Vergrößerungsglas. »Sie war auch eine große Theaterfreundin. Wir sind oft ins Theater gegangen, als sie noch Auto fahren konnte. Das waren wundervolle Zeiten. Absolut großartig.« Sie zog ein großes khakifarbenes Taschentuch mit rotem Muster hervor und schneuzte sich.

Sie gingen ins obere Stockwerk. Nur das Schlafzimmer war möbliert. Ein schmales, züchtiges Bett, die Tapete mit Vergißmeinnicht-Muster, ausgebleichte Samtvorhänge. Alles wirkte keusch und unschuldig. Das zweite Zimmer diente als Abstellkammer, in der sich ein Staubsauger, aufgestapelte Schachteln und ein paar Korbflaschen mit selbstgemachtem Wein befanden - einige wirkten trübe, die anderen waren klar, und in manchen blubberte leise der Wein.

»Sie wollte am Wochenende Geißblatt verarbeiten und auf Flaschen ziehen - das ist ein bißchen wie ein Sancerre, müssen Sie wissen.«

Sie stiegen die schmale Treppe hinunter und gingen in die Küche zurück. Barnaby sagte: »Irgendwo muß eine offene Flasche stehen. Sie hat Alkohol getrunken, bevor sie starb.«

»Sie könnten in der Speisekammer nachsehen.« Miss Bellringer deutete auf die blaue Tür und fügte eine Sekunde zu spät hinzu: »Vorsicht, Stufe!«

Er stolperte in das Halbdunkel. Das spärliche Licht war grünlich angehaucht, weil es durch das Laub des Kirschlorbeers gefiltert wurde, der vor dem mit einer Art Fliegengitter verkleideten Fenster wuchs. Der einfache Riegel an diesem Fenster war zerbrochen. Barnaby nahm sein Taschentuch, griff nach dem Riegel, zog das Fenster ohne Mühe auf und schloß es wieder. Es war gerade so breit, daß sich eine schlanke Person ohne weiteres hätte hindurchzwängen können.

Auf den gemauerten Steinregalen standen eine Menge Flaschen und Einweckgläser. Chutney und Aprikpsen in großen Gläsern und weißer, undurchsichtiger Honig mit von Blumen umrandeten Etiketten, auf denen Daten des letzten Jahres standen. Eine große Schüssel mit Pflaumenschlehen. Marmelade und dunkles, klares Gelee. Miss Simpson hatte auch Stangenbohnen eingelegt, genau wie es Barnabys Mutter früher getan hatte. In der Nähe der Tür fand er eine halbleere Weinflasche - Holunderblüte 1979.

Barnaby machte die Hintertür auf und winkte Troy. »Ich brauche Sie; Sie sollen eine Aussage aufnehmen.« Sie gingen zu zweit ins Wohnzimmer und setzten sich zu Miss Bellringer, die sie ein wenig ängstlich und sehr ernst musterte.

»Also«, begann Barnaby, »ich möchte, daß Sie ...«

»Einen Moment, Chief Inspector. Sie haben mich nicht darauf hingewiesen, daß alles, was ich sage, gegen mich und als Beweis verwendet werden kann...«

»Hier handelt es sich nur um eine Zeugenaussage, Miss Bellringer. In einem solchen Fall sind derartige Hinweise nicht nötig, das versichere ich Ihnen.«

Das ist das Problem mit diesen Leuten, dachte Sergeant Troy. Sie sehen sich sogenannte Polizeiserien im Fernsehen an und glauben, daß sie alles wissen. Da er nicht in Barnabys Blickfeld saß, gestattete er sich, den Mund verächtlich zu verziehen.

»Könnten Sie uns erzählen, was geschehen ist, als Sie an dem bewußten Tag hierher kamen.«

»Ich ging durch die Hintertür in die Küche ...«

»War der Postbote bei Ihnen?«

»Nein. Nachdem er mir Bescheid gesagt hatte, machte er seine übliche Runde durchs Dorf und trug die Post aus. Ich öffnete die Hintertür und lief ins Haus. Ich fand sie an der Stelle, die ich Ihnen gezeigt habe.«

»Haben Sie die Leiche berührt?«

»Ja. Ich habe sie nicht bewegt oder so, aber ich... ich hielt ihre Hand für einen Moment.«

»Und haben Sie sonst etwas angefaßt?«

»Da noch nicht. Doktor Lessiter kam und untersuchte sie ... selbstverständlich hat er sie dabei herumgedreht. Dann telefonierte er mit dem Bestattungsunternehmen und forderte ein Auto an ... ich meine, einen Leichenwagen, der sie abholen sollte. Er klärte die Sache mit dem Totenschein und fragte, wer sich um die Formalitäten für die Beisetzung kümmern würde. Ich sagte ihm, daß ich das übernehme, und während wir auf den Leichenwagen warteten, habe ich...« Sie wurde rot und sah Barnaby zerknirscht an. »Ich fürchte, ich habe ein wenig aufgeräumt.«

»Was genau haben Sie aufgeräumt?«

»Auf dem Telefontischchen stand eine Tasse mit einem Kakaorest. Und ein leeres Weinglas. Das kam mir komisch vor.«

»Wieso?«

»Emily hat nie getrunken, wenn sie allein war. Das war eine ihrer Marotten. Ich glaube, sie hielt so etwas für zügellos. Aber jeder, der zu ihr kam, konnte sie ganz leicht überreden, eine Flasche aufzumachen. Sie machte wunderbaren Wein - das war das einzige, worauf sie richtiggehend stolz war ...« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schwieg lange. Schließlich sagte sie: »Tut mir leid ...«

»Ist schon gut, lassen Sie sich ruhig Zeit. Erzählen Sie einfach weiter, wenn Sie bereit dazu sind.« Natürlich hatte es, falls sie hier tatsächlich über einen Mord sprachen, nur ein einziges Glas gegeben. Das andere wäre sorgfältig abgewaschen und wieder in den Schrank gestellt worden.

»In der Küche stand ein Topf, in dem sie Milch gekocht hatte«, fuhr Miss Bellringer fort. »Ich habe alles abgespült und aufgeräumt. Ich wußte, wie sie darüber gedacht hätte. Schmutzige Töpfe, und Besucher im Wohnzimmer! Sie war sehr pingelig. Ich nehme an, ich habe genau das Falsche getan.« Die Schuldgefühle weckten Aggressionen. Als Barnaby keine Antwort gab, redete sie weiter: »Dann habe ich ihren Kühlschrank ausgeräumt. Ein bißchen Lammfleisch und Milch und andere Kleinigkeiten. Eine halbe Dose Hundefutter. Ich habe es Benjy gegeben. An diesem Morgen hat er kein Frühstück gehabt.«

»Wo ist der Hund jetzt?«

»Auf Traces Farm. Sie müssen sie gesehen haben am Rand des Dorfes - ein orangefarbenes Haus. Sie haben schon ein halbes Dutzend Hunde dort, also macht einer mehr oder weniger nichts aus. Ich habe seither ein paarmal nach ihm gesehen, aber ich werde nicht mehr hingehen. Es regt ihn zu sehr auf. Er trottet immer voller Freude auf mich zu, weil er hofft, daß Emily bei mir ist. Sie hatte den Hund dreizehn Jahre.«

»Haben Sie ihn am Abend ihres Todes bellen hören?« fragte Barnaby.

»Nein, aber er war ohnehin sehr ruhig ... für einen Jack Russell. Natürlich schlug er nur dann nicht an, wenn er die Leute kannte. Bei Fremden war das ganz anders.« Sie bedachte Barnaby mit einem Lächeln und registrierte nicht einmal, welche Bedeutung diese Sätze hatten. »Außerdem schlief er in der Küche. Wenn also die Tür zum Wohnzimmer zu war, hat er vielleicht gedacht, daß Emily in ihrem Bett liegt.«

»Kommen wir noch einmal auf den Freitag morgen zu sprechen...«

»Da war nichts weiter. Sobald der Leichenwagen weg war, schaltete ich den Strom aus, nahm die Hundeleine, die an der Küchentür hing, schloß die Tür ab und machte mich auf den Weg.«

»Ich verstehe. Ich fürchte, ich muß Sie bitten, mir den Schlüssel für dieses Haus zu überlassen. Selbstverständlich gebe ich Ihnen eine Quittung dafür.«

»Oh.« Er sah, daß sie eine Frage beschäftigte, aber sie stellte sie nicht. »Gut.«

»Sie sind von hier aus direkt zu dieser Farm gegangen?« wollte Barnaby wissen. »Nicht in den Garten oder in den Schuppen?«

»Na ja ... ich mußte noch den Bienen die traurige Nachricht überbringen.«

»Wie bitte?«

»Man muß den Bienen möglichst rasch mitteilen, daß jemand gestorben ist, besonders wenn es ihr Besitzer war. Sonst schwärmen sie aus und kommen nicht wieder.«

Das ist das Beste, was sie tun können, dachte Troy. Ein Wunder, daß es die Bienen überhaupt bei diesen Verrückten aushalten. Er spreizte die Finger und beschloß, diesen Volksbrauch in seinem Protokoll unerwähnt zu lassen.

»Wirklich?« hakte Barnaby nach.

»Guter Gott, ja. Das ist doch allgemein bekannt. Ich schlug dreimal mit dem Schlüssel an den Bienenstock und sagte: >Eure Herrin ist tot<, dann ging ich. Die Dorfbewohner behaupten, man müsse auch etwas Schwarzes an die Stöcke binden, aber die Mühe habe ich mir erspart. Die Leute sind entsetzlich abergläubisch. Ich dachte, wenn ich die Bienen durch so etwas aufscheuche, stechen sie mich noch.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Miss Bellringer. Sergeant Troy liest Ihnen jetzt Ihre Aussage noch einmal vor, bevor Sie sie unterschreiben.«

Als das erledigt war, erhob sich Miss Bellringer und erkundigte sich ein wenig niedergeschlagen: »Ist das schon alles?«

»Wären Sie vielleicht so freundlich, mir nach dem Mittagessen die Stelle zu zeigen, an der sie die Orchidee gefunden hat?«

»Möchten Sie vorher bei mir eine Kleinigkeit zu sich nehmen?« fragte sie wesentlich munterer.

»Nein, vielen Dank. Ich esse im Black Boy Pub.«

»Oh, das kann ich Ihnen nicht empfehlen. Mrs. Sweeneys Küche ist berüchtigt.«

Barnaby grinste. »Ich denke, ich werd’s überleben.«

»Ahhh ... ich verstehe. Sie wollen sich mit den Örtlichkeiten vertraut machen und sich unauffällig ein wenig umhören.«

Barnaby benutzte sein Taschentuch, um Miss Bellringer die Tür zu öffnen. Als sie sich zum Gehen umwandte, fiel ihr Blick auf etwas. »Das ist merkwürdig.«

»Was?«

»Emilys kleiner Rechen ist nicht da. Sie bewahrte ihn immer zusammen mit der Gartenschürze und der Hacke in diesem Regal auf.«

»Vielleicht liegt er irgendwo im Garten.«

»O nein. Emily war ein Gewohnheitstier. Sie reinigte ihre Geräte mit Zeitungspapier und legte sie nach dem Gebrauch auf die Matte.«

»Er wird bestimmt noch auftauchen.«

»Im Grunde spielt das auch gar keine Rolle mehr, nicht wahr?« Sie drehte sich um. »Ich sehe Sie dann etwa um zwei?«

Nachdem sie gegangen war, postierte Barnaby Sergeant Troy an der Vordertür, ließ sich in dem stillen, ordentlichen Zimmer auf dem Chintzsofa nieder und lauschte dem Ticken der Uhr. Zwei Sessel standen ihm gegenüber - die Polster waren inzwischen aufgeschüttelt und glatt. In einem hatte jemand mit einem Glas Wein gesessen, gelächelt, geredet, beruhigt. Gemordet?

Der Chief Inspector hatte kaum noch Zweifel daran. Der Schierlingsstrauß in der Küche war ein ziemlich plumper Versuch, es so aussehen zu lassen, als hätte die kurzsichtige Miss Simpson Petersilie mit Schierling verwechselt und sich selbst damit vergiftet. Eine hastige Maßnahme, die nachträglich ergriffen wurde, als sich die Neuigkeit von der Autopsie im ganzen Dorf wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.

Er ging zum Telefontischchen, auf dem bereits eine feine Staubschicht lag, und schaute auf die Bücher. Der Shakespeare lag oben auf dem Stapel. Julius Caesar, der erhabenste aller Römer. Aber auch der langweiligste, dachte Barnaby, als er sich daran erinnerte, wie er sich vor dreißig Jahren mit Caesars Texten gequält hatte. Seit der Schule hatte er keine Zeile mehr von Shakespeare gelesen, und ein Pflichtbesuch im Theater, als Joyce im Sommemachtstraum die Titania wie eine edwardianische Suffragette spielte, hatte nicht dazu beigetragen, daß er diese Entscheidung bereute. Er sah sich die aufgeschlagene Seite genauer an und tastete nach seiner Lesebrille, aber dann fiel ihm ein, daß sie im anderen Jackett steckte, und nahm dann mit seinem Taschentuch das Vergrößerungsglas zu Hilfe.

Miss Simpson war beinahe am Ende des Stückes angelangt.

Pindarus hatte die schlechten Nachrichten vom Schlachtfeld bereits überbracht. Barnaby las ein paar Zeilen. Nichts davon kam ihm auch nur im entferntesten bekannt vor. Dann entdeckte er etwas. Eine feine graue Linie am Rand. Er nahm das Buch mit zum Fenster und betrachtete die Markierung im Licht. Jemand hatte vier Zeilen von Cassius’ Rede angestrichen. Er las sie laut:

An diesem Tage atmet’ ich zuerst;

Die Zeit ist um, und enden soll ich da,

Wo ich begann: Mein Leben hat den Kreislauf Vollbracht...

5

Die Gespräche verstummten, als Barnaby den Black Boy betrat. Aber das hatte nicht allzuviel zu bedeuten. In einer Ecke saß, in dichte Rauchwolken gehüllt, ein alter Mann; zwei Jugendliche lümmelten mit hochgelegten Füßen an der Bar, und ein Mädchen machte sich am Spielautomaten zu schaffen. Die grauhaarige und auffallend flachbrüstige Mrs. Sweeney machte eher den Eindruck, als wäre sie in die Enge getrieben worden und würde nicht zu Hause hinter ihrer eigenen Theke stehen.

Sie fragte den Detective Chief Inspector, ob er etwas essen wolle; er lehnte die selbstgemachte Pastete ab, bestellte ein Käsebrot und ein Bier vom Faß und setzte sich. Er war sicher, daß die Leute den Grund für seine Anwesenheit erfahren wollten und daß die Neugier sie zu verschiedenen Bemerkungen veranlassen würde. Dennoch war er nicht auf die Schnelligkeit vorbereitet, mit der das entscheidende Thema zur Sprache kam. Er hatte kaum einen Schluck von seinem Bier getrunken (es war warm und schmeckte seifig), als einer der Jugendlichen sagte: »Sie sind ein Bulle, stimmt’s?«

Barnaby schnitt ein Stück Käse ab und machte eine Kopfbewegung, die alles und nichts bedeuten konnte.

»Sind Sie wegen der armen Miss Simpson hier?« wollte Mrs. Sweeney wissen.

»Kannten Sie die Lady?« fragte Barnaby.

»Oh ... alle kannten Miss Simpson.«

Der Qualm in der Ecke lichtete sich ein wenig, und ein Rasseln und Scheppern wurde laut. Mein Gott, dachte Barnaby, der arme alte Kerl macht’s auch nicht mehr lang. Erst dann merkte er, daß umfallende Dominosteine das Geräusch verursacht hatten.

»Sie hat mir Englischstunden gegeben«, verkündete der alte Mann.

»Ganz recht, Jake, das hat sie getan«, bestätigte Mrs. Sweeney und flüsterte Barnaby leise zu: »Und bis heute kann er weder lesen noch schreiben.«

»War sie beliebt im Dorf?«

»O ja. Nicht wie manch andere, die ich beim Namen nennen könnte.«

»Wieso erkundigen Sie sich nach ihr?« warf einer der Jungen ein.

»Ja«, schloß sich der andere an. »Hat sie irgend etwas angestellt?«

»Wir stellen nur ein paar Nachforschungen an.«

»Wissen Sie, was ich denke?« fragte der erste. Er trug ein T-Shirt, auf dem stand: »Kein Alkohol am Steuer, du könntest erwischt werden.« Das Shirt war viel zu kurz und ließ seinen wabbeligen, bleichen, haarigen Bauch frei, der über den Gürtel hing. »Ich glaube, sie war eine Patin. Sie hat eine Gangsterbande angeführt und die Beute im Honig versteckt.« Die beiden grölten vor Lachen, und das Mädchen kicherte.

»Das ist nicht lustig, Keith«, versetzte Mrs. Sweeney ärgerlich. »Wenn du nichts Besseres zu sagen weißt, kannst du sofort von hier verschwinden und woanders dein Bier trinken.«

Barnaby hörte in der nächsten halben Stunde hauptsächlich zu, während die Leute kamen und gingen, aber alle beurteilten Miss Simpson in etwa gleich. Sehr freundlich. Duldsam mit Kindern. Und ausgesprochen großzügig, wann immer es einen Wohltätigkeitsbasar gegeben hatte: Marmelade. Honig. Eingemachte Früchte. Und die wunderschönen Blumen für die Kirche. Die arme Miss Bellringer. Was wird sie jetzt anfangen? Und was wird aus Benjy? Hunde grämen sich sehr, müssen Sie wissen. Und er ist auch nicht mehr der Jüngste. Sie wird ihm fehlen. Alle werden Miss Simpson sehr vermissen.

Selbst wenn viele dieser überschwenglichen Reden dem Brauch zuzuschreiben waren, daß man über Tote nur das Beste sagt, gewann Barnaby den Eindruck, daß die Dahingeschiedene ein außerordentlich netter und angenehmer Mensch gewesen war. Mrs. Sweeneys letzte Bemerkung schien das alles in einem Satz zusammenzufassen: »Sie hatte nicht einen einzigen Feind auf dieser Welt.«

Die Luft war feucht und frisch, als sie den Wald betraten, und Barnaby spürte ziemlich rasch eine Veränderung. Als sich das Blätterdach über ihnen schloß, stieg ihm ein satter, modriger Geruch, den die üppige Vegetation verbreitete, in die Nase.

Miss Bellringer ging voran und zeigte ihm den Weg. Sie trug einen Jagdstuhl und hielt sich immer in der Nähe des Chief Inspector, ganz wie er sie angewiesen hatte. »Ich glaube, es ist gleich da drüben bei der Nieswurz. Ja - da ist die Stelle.«

»Warten Sie.« Barnaby ergriff ihren Arm. »Wenn Sie bitte hier stehenbleiben würden. Je weniger wir hier herumtrampeln, um so besser.«

»Ich verstehe.« Sie klang enttäuscht, folgte jedoch gehorsam seiner Aufforderung, klappte ihren Jagdstuhl auf und hockte sich auf den Leinenstreifen. Sie rief: »Mehr nach links« und »Ja, wärmer, wärmer« und »Heiß, ganz heiß«, während er vorsichtig den Fleck mit den kleinen Blumen suchte. Dann, als sie sah, daß er sich bückte, fragte sie: »Sie sind wunderschön, nicht wahr?«

Barnaby studierte die Orchideen und den kleinen Stock mit dem roten Band. Die reglose Markierung wirkte eigenartigerweise lebendiger als die blassen Blumen. Es war etwas Rührendes an dem mit einer ordentlichen Schleife verknoteten Band. Barnaby richtete sich auf und schaute sich um. Soweit er es überblicken konnte, lag überall halb verrottetes Laub in der unmittelbaren Umgebung. An manchen Stellen war es ein wenig aufgewühlt, vielleicht von Kaninchen oder anderen kleinen Tieren, aber ansonsten schien es keine Spuren zu geben.

Links von ihm war dichtes grünes Gestrüpp. Er richtete den Blick auf den Boden. Da waren zwei ziemlich deutliche Vertiefungen, die verrieten, daß dort kürzlich jemand für eine gewisse Zeit gestanden hatte. Er erkannte auch die Stelle, wo sich der breitere Teil der Schuhe befunden hatte. Er stellte sich parallel daneben und spähte durch die Zweige.

Da war eine Mulde. Eine ziemlich große Fläche war platt gedrückt: Glockenblumen und Farnblätter waren geknickt und lagen auf dem Boden. Barnaby umrundete das Dickicht und kauerte am Rand der Mulde nieder, um den Boden genauer zu betrachten. Irgend jemand oder etwas mußte hier alles niedergewalzt haben. Auf dem Weg zurück zu Miss Bellringer fiel ihm noch eine Delle im Erdboden auf - sie hatte keine deutlichen Umrisse, sah aber aus, als hätte hier ein dicker Ast oder etwas ähnlich Schweres gelegen.

»Danke, daß Sie mir den Weg gezeigt haben.«

Es war ein gutes Gefühl, die dichtstehenden Bäume hinter sich zu lassen und aufs offene Gelände zu kommen. Kiebitze zogen am hellen, sonnigen Himmel ihre Kreise.

»Möchten Sie morgen abgeholt werden, damit Sie die Leiche identifizieren können, Miss Bellringer?« fragte Barnaby noch.

»O nein, das ist nicht nötig. Es gibt ein Taxi im Dorf. Ich komme gut auch so zurecht.«

Als sie sich Miss Simpsons Cottage näherten, entdeckten sie, daß der wachsame Sergeant Troy inzwischen von einer kleinen, aber ehrfurchtsvollen Gruppe umringt war. Barnaby verabschiedete sich von Miss Bellringer und überquerte die Straße. Sofort liefen die jüngsten der Kinder auf ihn zu.

»Warum steht der da wie ein Wachhund?«

»Ist der da auch ein Polizist?«

»Sie sind doch von der Polizei, oder?«

»Wieso hat er keine Uniform an?«

»Los, ihr Gören«, zischte Troy durch die zusammengebissenen Zähne, »geht einfach weiter. Hier gibt’s nichts zu sehen.« Die Kinder nahmen den Befehl nicht ernst und blieben, wo sie waren.

»Ich schicke Ihnen eine Ablösung, Troy.«

»Ich habe in einer halben Stunde Dienstschluß.«

»Schon gut, Sergeant, spätestens um fünf werden Sie abgelöst.« Ein junges Mädchen mit einem Kleinkind an der Hand und einem Baby in einem Kinderwagen gesellte sich zu den anderen. Barnaby grinste. »Bis dahin wird hier die Hölle los sein.«

Die gerichtliche Anhörung am nächsten Tag nahm kaum Zeit in Anspruch. Die sterblichen Überreste von Emily Simpson, die Lucy Bellringer kurz zuvor identifiziert hatte, wurden für die Bestattung freigegeben. Der Gerichtsdiener verlas den Bericht des Pathologen, dann wurde die Sitzung vertagt, weil man die Ergebnisse weiterer polizeilicher Ermittlungen abwarten mußte.

Teil Zwei

Ermittlungen 

1

Barbara Lessiter ging zu dem Drehspiegel in der Ecke ihres Schlafzimmers. Sie hatte alle Lichter bis auf die Leuchte mit der Elfenbeinschnitzerei neben ihrem Bett ausgeschaltet. Die Lampe mit dem apricotfarbenen Schirm warf einen warmen Schein auf ihr Nachthemd und die im Solarium gebräunte Haut. Sie tauchte ihre Fingerspitzen in einen Tiegel und verteilte die nach Erdbeeren duftende Creme auf ihrem Hals bis zum Kinn und auf dem Brustansatz. Sie massierte ihr Dekollete und schloß lächelnd die Augen. Dann cremte sie mit beiden Händen ihr Gesicht ein. Zum Schluß verteilte sie Öl um die Augen - es kam aus Frankreich, kostete fünfundvierzig Pfund pro Fläschchen und reichte nicht lange aus.

Sie liebte dieses Ritual. Schon als junges Mädchen - lange bevor es not tat - hatte sie mit Hingabe geschmiert, massiert, getätschelt und getupft. Auch jetzt noch war es keine unbedingte Notwendigkeit, sagte sie sich und warf in der Sicherheit des sanften Lichts einen Blick in den Spiegel.

Nachdem sie mit ihrem Gesicht fertig war, bürstete sie ihr Haar: fünfzig Bürstenstriche vom Scheitel bis zu den Spitzen. Ihr rotbraunes Haar schimmerte und glänzte so sehr, wie man es bei einer regelmäßigen Behandlung mit Henna, Eigelb und Spülungen erwarten konnte. Sie warf den Kopf zurück und lächelte wieder.

Bei der ruckartigen Bewegung rutschte ein Nachthemdträger von ihrer Schulter. Sie beugte sich näher zum Spiegel und berührte ihre nackte Brust, strich über die kleinen rotblauen Flecken und lachte in wollüstiger Erinnerung. Plötzlich richtete sie sich auf und horchte.

Jemand näherte sich der Tür. Sie hielt die Luft an. Ein Klopfen. Es klang zaghaft, geradezu schüchtern. Sie wartete und bedeckte ihre Blößen, als wäre die Tür durchsichtig. Nach einer Minute hörte sie schlurfende Schritte, die sich entfernten. Sie atmete ein paarmal ganz tief durch. Das nächste Mal würde sie ihn hereinlassen müssen. Es war schon Ewigkeiten her, und er war eigentlich sehr gut zu ihr gewesen. Aber, lieber Gott, was für ein Kontrast das wäre ...

Sie war in Uxbridge als Barbara Wheeler »irgendwann in den späten fünfziger Jahren« geboren worden, wie sie den Leuten mit gespielter Scheu weismachte. Ihr Vater war Vorarbeiter beim Eisenbahnbau, ihre Mutter plagte sich mit dem Haushalt. Sie hatte noch fünf Geschwister, und Barbara war die einzige, die zur Schönheit herangewachsen war. Die ganze Familie war in einem winzigen Häuschen direkt an der Straße zusammengepfercht gewesen. Barbara hatte sich mit ihren beiden Schwestern, die inzwischen auch Sklavinnen ihrer eigenen Haushalte geworden waren, ein Badezimmer geteilt und den geringen ihr zur Verfügung stehenden Platz und ihre Habseligkeiten mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen. Sie hatte sich über die billigen Klamotten und Kosmetika ihrer Schwestern lustig gemacht und die Nase gerümpft, wenn sie sich mit Duftwässerchen von Woolworth's einsprühten. Mit fünfzehn hatte sie angefangen zu stehlen - Cremes, Parfüm und Lotionen - und die Preisschilder abgemacht. Sie wußte genau, daß niemand zu Hause je von diesen Markenartikeln gehört hatte.

Ihre Schwestern waren Arbeiterinnen in der örtlichen Süßwarenfabrik geworden, sie hatte eine Stelle als Registratorin in einer Anwaltskanzlei angenommen. Für sie war das die erste schmale Sprosse auf der schlüpfrigen Leiter, die sie aus einer heruntergekommenen und häßlichen Umgebung in die strahlende Welt des Mittelstandes führen sollte. In eine Welt, in der man nicht in einen Park gehen mußte, in dem Kinderhorden kreischten und Hunde nach einem schnappten, wenn man Wiesen und Bäume sehen wollte, sondern sich in einem eigenen üppigen Garten vergnügen konnte. In der Leute ihre Kleider wuschen, bevor sie schmuddelig aussahen, und sich Männer mit einem Händedruck begrüßten, während die Frauen ihre gepuderten Wangen aneinander streiften.

Barbara war nicht besonders intelligent, aber sie war raffiniert, arbeitete hart, ohne zu klagen, und hielt den Mund geschlossen, dafür die Augen offen. Sie fing damit an, sich in einem größeren Kaufhaus in Slough mit Kleidern zu bedienen - dabei traf sie jedesmal eine sorgfältige Auswahl und ahmte den Stil nach, den sie bei der frisch verheirateten Tochter des älteren Anwaltpartners gesehen hatte. Auf diese Weise schlug sie sich bis kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag durch. Sie war noch immer Jungfrau, zum Teil, weil sie noch niemandem begegnet war, der ihr gut genug gefiel, aber hauptsächlich bildete sie sich ein, sie könnte einem passenden Freier ihre Jungfräulichkeit als Wiedergutmachung für ihre schäbige Herkunft anbieten. Natürlich sprach sie nie über ihre Vergangenheit, aber sie lebte in ständiger Angst, die gönnerhafte Förderung, die sie in der Anwaltskanzlei erfuhr, könnte ihre Mängel an die Oberfläche schwemmen.

Alan Cater, der als Referendar in die Kanzlei eintrat, fing an ihrem achtzehnten Geburtstag mit seiner Arbeit an. Er war groß, blond, hatte blaue Augen und rauchte dünne braune Zigarillos. Er fuhr einen roten Cobra Sportwagen und trug eine vergoldete Uhr. Er lächelte oft, besonders wenn er Barbara ansah. Er berührte sie auch - ganz beiläufig, so daß niemand Anstoß daran nehmen konnte. Er legte die Hand auf ihre Schulter oder schlang den Arm um ihre Taille, wenn sie nebeneinander vor dem Aktenschrank standen. Sie erschrak selbst über die angenehme Erregung, die sie in seiner Nähe spürte, verlor aber kein Wort darüber. Dabei merkte sie nicht, daß ihr beschleunigter Atem und ihr gerötetes Gesicht alles verrieten.

An einem Sommerabend verließ er etwas später als gewöhnlich das Büro. Er wollte von der Arbeit aus direkt auf den Tennisplatz und mußte sich im Waschraum umziehen. Barbara machte immer erst Feierabend, wenn er auch ging. Sie hatte inzwischen einen Abendkurs als Stenotypistin absolviert und deckte gerade ihre Schreibmaschine ab, als er in Shorts und Tennishemd aus dem Waschraum kam. Alle anderen waren schon weg. Er stellte sich vor sie und sah sie lange an - erst musterte er ihr Gesicht, dann wanderte sein Blick langsam weiter. Er schloß die Tür ab und gestand ihr, daß er sich schon lange nach diesem Augenblick gesehnt habe. Barbara wurde ganz schlecht vor Aufregung. Er stand ganz dicht bei ihr, raunte: »Soll ich dir zeigen, was du mit mir gemacht hast?« und führte ihre Hand. Als er ihre Bluse aufknöpfte - in den Sekunden, ehe ihr die Sinne vollends schwanden -, entstand ein bezauberndes Bild vor Barbaras geistigem Auge: Sie sah sich in einem weißen Kleid auf der Schwelle einer hübschen Dorfkirche stehen, und Alan in einem Smoking war an ihrer Seite. Nach der Zeremonie würde es Champagner geben und eine dreistöckige Hochzeitstorte.

»Du bist sehr hübsch, Liebling.« Er hakte ihren BH auf. »Komm schon - was ist los? Du willst mir doch nicht erzählen, daß das für dich überraschend kommt, oder?«

»Ich habe so weiche Knie ...«

»Das haben wir gleich. In Ruperts Büro steht eine Couch. Und es gibt einen Spiegel.«

Sie gingen Arm in Arm in Ruperts Büro, die Bluse und den Büstenhalter ließen sie auf ihrer Schreibmaschine liegen. Sie legten sich auf die Couch gegenüber dem Spiegel und dem mit Gardinen verhangenen Fenster zur Straße. Als sie fast ganz nackt war, drohte Alan, die Gardine aufzuziehen. Das hätte sie eigentlich in Alarmbereitschaft versetzen müssen, aber die Drohung steigerte ihre Erregung nur noch mehr. Er schien genau zu wissen, was er tun mußte. Es tat nur ein ganz klein bißchen weh und war längst nicht so schmerzhaft, wie die Leute immer behaupteten - es war nur viel zu schnell vorbei. Sie wollte mehr, und er gab ihr mehr. Nach etwa einer Stunde klopfte jemand an die Außentür. Alan lächelte und legte einen Finger auf ihre Lippen, Barbara saß mit gespreizten Beinen auf seinem Schoß und sah, wie ein Mädchen im Tennisdreß und langem, von einem Tuch zusammengehaltenem Haar am Fenster vorbeiging.

Es war kurz vor neun, als sie schließlich ihre Sachen zusammensammelten und gingen.

Nach dieser Begegnung trafen sie sich noch oft, gewöhnlich spät am Abend. Alan erklärte ihr, daß er sein Studium nicht vernachlässigen dürfe und nach der Arbeit erst noch lernen müsse. Er fuhr mit ihr ins Grüne und fand meistens ein abgeschiedenes Plätzchen, und wenn das Wetter schlecht war, blieben sie in seinem Auto. Sie nahm ihn nie mit in ihr winziges möbliertes Zimmer und erzählte ihm, um unangenehmen Fragen rechtzeitig vorzubeugen, daß sie eine Waise sei. An den Abenden, an denen sie sich nicht sahen, fand sie keine Ruhe und verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihm. Im Büro benahm er sich äußerst korrekt ihr gegenüber und zwinkerte ihr nur gelegentlich zu, wenn niemand sonst in der Nähe war. Einmal, als sie kurz allein im Zimmer waren, stellte er sich hinter ihren Stuhl und ließ seine Hand unter ihre Bluse gleiten.

Im Winter entdeckte sie, daß sie schwanger war. Sie war nervös, als sie ihm davon erzählte - fast so, als wäre es allein ihre Schuld. Sie beendete ihr Geständnis mit der Frage, was seine Eltern wohl dazu sagen würden. Er sah sie ungläubig, ja fassungslos an, dann grinste er belustigt und umarmte sie flüchtig. »Keine Sorge, wir regeln das schon irgendwie.« Am Ende der Woche rief Rupert Winstanley sie in sein Büro und gab ihr die Adresse einer Privatklinik in Saint John's Wood und einen Scheck über hundertfünfzig Pfund. Sie sah keinen der beiden jemals wieder.

Sie ließ die Abtreibung vornehmen, viel zu durcheinander und einsam, um über andere Möglichkeiten nachzudenken. Heute würde sie sich selbstverständlich anders entscheiden und die Mistkerle nach Strich und Faden ausnehmen. Wenn sie schon nicht ihren Respekt, ihre Bewunderung oder ihre Liebe gewinnen konnte, dann wollte sie wenigstens deren Geld.

Einen Monat nach ihrem Klinikaufenthalt arbeitete sie in einem Supermarkt und füllte tagsüber die Regale mit neuen Waren auf. Eines späten Abends klopfte jemand an ihre Zimmertür. Sie öffnete einen Spalt. Ein Mann, der nach Eau de Cologne und Bier roch, stand vor ihr. Er trug einen Blazer mit Abzeichen, eine gestreifte Krawatte und graue Flanellhosen. »Ha ... ll... o«, sagte er und beäugte sie von oben bis unten.

»Was wollen Sie?«

»Ich bin ein Freund von Alan. Er dachte, wir könnten... du weißt schon... ein bißchen ...«

Sie knallte die Tür zu. Wut, Schmerz und Abscheu brodelten in ihr. Sie stand wie angewurzelt da, als würde mit jeder Bewegung eine neue Wunde aufgerissen. Dieser Bastard! Der Schmerz ließ nach; der Abscheu verwischte die schönen Erinnerungen an Alan und richtete sich gegen alle Männer seiner Art. Nur die Wut blieb bestehen. Sie lauschte. Keine Schritte. Er mußte noch immer da draußen sein. Sie riß die Tür auf. Er grinste lässig.

»Das kostet dich etwas«, sagte sie. Seine bierselige Selbstzufriedenheit schwand, und Barbara dachte: Deine alte Bekanntschaft nützt dir gar nichts, du wirst blechen. »Oh... äh ... meinetwegen...« Er ging einen Schritt auf die Tür zu, aber sie versperrte ihm den Weg.

»Wieviel hast du dabei?«

Er kramte nach seiner Brieftasche und zog Geldscheine, einen Führerschein und das Foto von einem Kind heraus.

»Fünfzig Pfund ...«

Beinahe ein Monatsgehalt. Sie trat zur Seite. »Vielleicht solltest du lieber reinkommen.«

Und so nahm alles seinen Anfang. Sie wurde immer weiter empfohlen - an den Freund eines Freundes und an dessen Freund. Genaugenommen war sie kaum mehr allein, fühlte sich jedoch nie geborgen. Dafür konnte sie ohne Mühe ihre Miete bezahlen und bekam Geschenke. Sehr hübsche Geschenke. Einen Pelzmantel von Harrod’s, einen großen Farbfernseher, einen Urlaub in Portofino, während die Frau ihres Freiers im Krankenhaus lag und an der Gebärmutter operiert wurde. Aber ihr fehlte die Sicherheit - die finanzielle Sicherheit. Gefühlsmäßig war sie unangreifbar. Keiner dieser Männer bedeutete ihr auch nur das Geringste. Sie sah auf sie herab, als würde sie weit über ihnen stehen, wenn sie wie impotente, schlaffe Seehunde keuchten und ächzten.

Nie wieder würde sie zulassen, daß dieses strahlende Gefühl sie beherrschte wie damals, vor zwanzig Jahren, als sie in den Büroräumen von Winstanley, Dennison und Winstanley den Verstand verloren hatte und auf Wolken geschwebt war. Heute konnte sie sich nicht einmal mehr an Alans Nachnamen, geschweige denn an sein Gesicht erinnern.

Und dann hatte sie Trevor Lessiter kennengelernt. Sie lief ihm im wahrsten Sinne des Wortes in der Lebensmittelabteilung von Marks und Spencers in die Arme. Als sie zu scharf um eines der Regale bog, verhakten sich ihre Einkaufswagen heillos ineinander. Sie schenkte ihm ihr professionelles strahlendes Lächeln, und er war auf Anhieb überwältigt, ohne etwas von ihrem Gewerbe zu ahnen.

Er war ein komischer kleiner Kauz mit rundem Schädel, graumeliertem Haar und einem Wollschal, obwohl das Wetter ziemlich schön und warm war. Teure Kleidung, dachte sie, als sie ihn mit fachmännischem Blick musterte, aber natürlich grauenvoll altmodisch. Er gehörte zu der Sorte, die ihr Kleingeld in eine Geldbörse steckten. Sie entwirrten ihre Einkaufswagen. Seiner war schon halbvoll.

»Ihre Frau muß Ihnen eine lange Liste mitgegeben haben.«

»Nein... das heißt...«, stammelte er und warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er wieder auf die Regale starrte. »Meine Tochter stellt die Einkaufsliste zusammen ... ich bin Witwer.«

Barbara schob ihren Wagen weiter und sagte: »Oh, wie gedankenlos von mir... ich wußte ja nicht.« Jetzt blieb sie stehen und sah ihm ins Gesicht. »Es tut mir wirklich leid.«

Sie gingen zusammen Tee trinken in ein Cafe gegenüber dem Odeon. Barbara entschuldigte sich, sobald sie einen Tisch gefunden hatten, und zog sich zu den Toiletten zurück, um ihre falschen Wimpern nachzutuschen, den Lippenstift zu erneuern und noch ein wenig Duft aufzulegen. Sie trafen sich noch einmal zum gemeinsamen Tee, dann zum Dinner in einem Hotel am Themse-Ufer bei Marlow. Sie fuhren in seinem wundervollen alten Jaguar mit den Ledersitzen. Im Restaurant standen Kerzen auf den Tischen, und Blüten schwammen in gläsernen Schüsseln. Barbara war daran gewöhnt, in verschwiegenen, kleinen Kneipen zu essen, aber diesmal saß ihr kein Mann gegenüber, der ständig über die Schulter spähen mußte. Er erzählte ihr vom Unfall seiner Frau und von seiner Tochter und sagte: »Ich würde mich freuen, wenn ich Sie mit ihr bekannt machen dürfte.«

Es dauerte einige Zeit, bis diese Begegnung arrangiert werden konnte. Die Wochenenden vergingen, und Judy schien immer etwas anderes vorzuhaben. Aber schließlich bestand ihr Vater darauf, daß sie sich einen Sonntag nachmittag freihielt. Barbara wählte ihre Garderobe mit Bedacht: ein weich fließendes Paisley-Kleid und einen leichten Tweedmantel. Sie legte kaum Make-up auf, nur ein wenig Rouge, einen unauffälligen Lippenstift und einen braunen Lidstrich.

Das Dorf war fast dreißig Meilen von Slough entfernt (Gott sei Dank, dachte sie), und auf der Fahrt sagte sie immer wieder beinahe aufrichtig: »Ich hoffe, sie mag mich.«

Als Lessiter den Jaguar in die Auffahrt lenkte, glaubte sie im ersten Moment, daß irgendein Irrtum vorlag - daß er noch einen wohlhabenden Patienten besuchen oder bei einem Freund vorbeischauen wollte, ehe er nach Hause fuhr. Weite Rasenflächen erstreckten sich links und rechts der Zufahrt. Sie sah Bäume, Sträucher und Blumenbeete. Das Haus war riesig - eine viktorianische Villa mit einem Turm, Erkern und Giebeln und - wie sie später erfuhr - sieben Schlafzimmern. Ihr war plötzlich kalt, als sie aus dem Wagen stieg. Sehnsucht, Hoffnung und Angst jagten ihr Schauer über den Rücken.

»Das erinnert mich an das Haus meines Vaters«, sagte sie.

»Oh. Wo habt ihr gewohnt, Liebes?« Sie hatte nie zuvor ihre Familie erwähnt.

»In Schottland. Leider haben wir das Haus wie alles andere verloren.« Sie betrachtete die vielen Fenster und seufzte abgrundtief, als würde sie die Erinnerung und der schwere Verlust übermannen. »Er war ein unverbesserlicher Spieler.«

»Ich hoffe, du wirst...« Er verstummte abrupt. Barbara wußte, was er sagen wollte, und verfluchte im stillen das Mädchen, das im Haus lauerte. Sie war noch nie gut mit Frauen ausgekommen, hatte nie eine enge Freundin gehabt. Na ja, diesmal mußte sie einfach mitspielen und sehen, was sie erwartete.

Es war eine absolute Katastrophe. Das Mädchen hockte schmollend da, gab giftige Bemerkungen von sich (das war der Lieblingssessel meiner Mutter), goß Tee mißmutig in die Tassen und verteilte schweren, matschigen Kuchen. Barbara versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber die kleine Göre ging nicht auf sie ein und redete immerzu von vergangenen Zeiten, als Mummy dies oder jenes tat oder die ganze Familie irgendwohin fuhr.

Barbara sah sich währenddessen alles genau an - die weichen, mit Chintz bezogenen Sofas (zwei) und die Sessel (fünf). Die großen Blumenschalen und chinesischen Teppiche, die prunkvollen Spiegel und Gemälde. Und hinter den großen Glastüren die Terrasse mit den üppigen Blumentrögen und die gepflegte Rasenfläche. Zum erstenmal seit Jahren betete sie: Lieber Gott, bitte mach, daß er mich fragt. Sie merkte, daß sie den Henkel ihrer zarten Tasse viel zu fest hielt, und stellte sie behutsam ab.

Als sie in seinem Wagen zurückfuhren, sagte er: »Sie wird sich damit abfinden und zugänglicher werden.« Ganz bestimmt nicht, dachte Barbara. Judy gehört zu der widerspenstigen Sorte - sie ist ein eiskaltes kleines Biest mit Pickeln und einem Hintern, der beinahe den Boden streift. Die geborene alte Jungfer. Sie würde noch mit neunzig da sein, um ihren Daddy zu umsorgen.

»Oh, glaubst du wirklich, Trevor? Ich habe mich so darauf gefreut, sie kennenzulernen.« Ihre Stimme bebte ein wenig. Als er vor ihrer Wohnung anhielt, sagte sie: »Würde es dir etwas ausmachen, noch einen Sprung mit reinzukommen? Ich bin ein wenig deprimiert.« Es war das erste Mal, daß sie ihn zu sich einlud. Er sprang eifrig aus dem Wagen und rannte förmlich die Treppe hinauf.

Barbaras Wohnung befand sich mitten in der Stadt in der Mancetta Road über einer Nachrichtenagentur. Sie bot ihm nichts zu trinken an, warf nur ihren Mantel über eine Stuhllehne, ließ sich auf das unechte Ozelot-Sofa fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Er war sofort an ihrer Seite.

»Reg dich nicht auf.« Er legte schwerfällig einen Arm um ihre Schultern, und sie sah ihn an wie ein Kind, das großen Kummer hatte.

»Ich habe mir so sehr gewünscht, daß sie mich mag. Ich habe mir schon ausgemalt, wie wir über Kleider und Make-up und solche Dinge reden ... Ich dachte, ich könnte mich ein wenig um sie kümmern ... um euch beide ... Wahrscheinlich findest du das albern.«

»Liebling, selbstverständlich nicht.« Plötzlich wurde er sich bewußt, wie nah ihm ihre prallen Brüste waren, die sich an sein Hemd schmiegten. Und er roch, wie ihr Haar duftete. Er hob ihr Kinn an und war zutiefst gerührt, als er Tränen in ihren Augen sah. Er küßte sie. Für einen Moment teilten sich ihre Lippen, er fühlte sogar ihre Zungenspitze, aber dann schnappte sie nach Luft und schob ihn von sich. Sie stand auf, durchquerte das Zimmer und drehte sich zu ihm um. Sie atmete schwer.

»Was mußt du von mir halten? Oh, Trevor! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich denke die ganze Zeit nur an dich ... Ich hätte dich nicht bitten dürfen, mit in meine Wohnung zu kommen.«

Gleich darauf flog sie in seine Arme. Sie entspannte sich und preßte sich an ihn. Ein langer Kuß. Seine Hand begann zu wandern. Barbara stieß einen kleinen erregten Schrei aus, bevor sie sich abrupt von ihm löste. »Was tust du da?«

»Barbara... verzeih mir.«

»Wofür hältst du mich?«

»Vergib mir, Liebling ... bitte.«

»Nur weil ich dich liebe - ja, ich gebe es zu! Ich liebe dich. O Trevor«, sie fing an zu weinen, »du solltest jetzt gehen. Es ist alles so hoffnungslos.«

Er ging und kam am nächsten Tag wieder. Und am übernächsten auch. Drei Wochen lang besuchte er sie, litt. Seine Erregung wuchs von Mal zu Mal, aber immer wurde ihm der endgültige Zugang verwehrt. Er kühlte sich ab, flehte und bettelte und krümmte sich vor Qual.

An dem Tag, an dem er endlich einen Erfolg verbuchen konnte, war Barbara so unglücklich, daß sie sich nicht einmal die Mühe machte, sich anzuziehen. Sie kauerte in einem hochgeschlossenen Morgenmantel neben dem Gasofen, bis er ihre Wohnung verließ.

Sie heirateten am Morgen des 30. Juni 1982. Die Nacht vor der Hochzeit verbrachte er in ihrer Wohnung und erlebte die höchsten Freuden, an die er sich für den Rest seines Lebens mit immer stärker werdender sehnsuchtsvoller Reue erinnern sollte. Nach der Trauung fuhren sie nach Badger's Drift, um Judy die Neuigkeit beizubringen.

Und jetzt streifte Barbara wieder den Träger ihres Nachthemds über die Schulter und betrachtete die Spuren der Liebesbisse. Sie setzte alles aufs Spiel. Frustration und Langeweile hatten sie dazu getrieben, sich einen Liebhaber zu nehmen. Und was für einen Liebhaber! Sie hatten sich erst vor wenigen Stunden getrennt, und schon verzehrte sie sich nach seiner Berührung. Zum zweitenmal in ihrem Leben schwebte sie auf Wolken. Ihr Körper spürte Dinge, die sie sich jahrelang versagt hatte. Sie war sehr, sehr vorsichtig gewesen, aber wie lange konnte man eine so leidenschaftliche Affäre geheimhalten? Aber sie konnte nicht von ihm lassen. Sie brauchte ihn so nötig wie die Luft zum Atmen. Sie ging ins Bett und durchlebte in der Erinnerung noch einmal die rhythmischen Bewegungen der Liebe, dann versank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2

Die Absperrung um Miss Simpsons Cottage erregte mehr Aufsehen, als es ein ganzes Polizeiaufgebot, bestehend aus lauter Sergeant Troys, vermocht hätte. Die halbe Ortschaft schien auf den Beinen zu sein und ignorierte die offenkundig unwahre Behauptung des diensthabenden Constable, daß es absolut nichts zu sehen gebe.

Das Team der Spurensicherung arbeitete fieberhaft und untersuchte methodisch das ganze Haus. Barnaby wanderte währenddessen umher und ging schließlich in den Garten. Die verwaisten Bienen brummten und summten in ihren Stöcken. Er registrierte ohne große Überraschung, daß sich an den unbepflanzten Stellen in den Beeten bereits die ersten Sprossen von Unkraut zeigten. Er kehrte zur Hintertür und dem süßen Duft der Kiftsgate-Rose zurück.

»Das hier haben wir unter dem Kirschlorbeer vor dem Speisekammerfenster gefunden, Sir.« Der Mann zeigte Barnaby einen kleinen Rechen, der bereits in einer durchsichtigen Plastikhülle steckte und mit einem Etikett versehen war. »Wahrscheinlich wurde er benutzt, um Fußspuren zu verwischen. Jemand ist ganz sicher auf diesem Weg rausgekommen.«

Gegen Mittag waren die Männer fertig. Ein Wagen fuhr los und brachte die Funde ins Labor, die Absperrung wurde aufgehoben, und das Team begab sich in den Black Boy Pub, um sich ein Bier und Sandwiches zu genehmigen. Eine halbe Stunde später brachen die Spurensicherer zum Buchenwald auf. Die meisten Dorfbewohner hatten sich zurückgezogen, aber Barnaby hörte, wie eine Frau vor dem Pub zu einem Jungen sagte: »Lauf heim, Robbie. Und sag deiner Mutter, daß sie die Lane entlangfahren.« Der Junge flitzte los, und als die Polizeiautos auf dem Rastplatz in der Nähe des Buchenwaldes parkten, fanden sich auch wieder Schaulustige ein.

Im Wald wurde ein ziemlich großer Bereich mit Seilen abgesteckt, die Spurensicherer teilten sich auf und suchten das Gebiet Stück für Stück gründlich nach Hinweisen ab. Barnaby schilderte seinen eigenen und Miss Bellringers Weg. Die Neugierigen drängten an die Absperrseile und verrenkten sich die Hälse. Ein Mann duckte sich unter dem Seil durch und schimpfte: »Dies ist ein freies Land - noch geht es bei uns nicht zu wie in Rußland!« Er wurde zurückgeschickt. Eine große Frau mit einem Golden Retriever an der Leine rief: »Henry könnte euch sicher beim Suchen helfen!«

Barnaby sah seinen Kollegen bei der Arbeit zu und versuchte, nicht im Weg zu stehen. Er spürte, daß er allmählich ungeduldig wurde. Diese Dinge konnte man nicht beschleunigen, aber es verstrich so viel wertvolle Zeit, und es würde noch mindestens ein voller Tag vergehen, bis all die Berichte und Untersuchungsergebnisse auf seinem Schreibtisch landeten. Er hatte das Gefühl, daß alles in seinen Händen zu Staub zerfiel, ehe er richtig mit der Arbeit beginnen konnte. Er winkte Sergeant Troy und eilte zu seinem Wagen.

Tatsächlich dauerte es weniger als vierundzwanzig Stunden. Die Leute im Labor arbeiteten rund um die Uhr (nur nicht an den Feiertagen), und Barnaby hielt noch vor dem Mittagessen die Auswertungen und Berichte der Spurensicherer in den Händen. Er hatte alles sorgfältig durchgelesen und saß jetzt vor einer Reihe von gespannten Gesichtern in einem der Besprechungszimmer der Polizeistation.

»Wir versuchen herauszufinden«, er schluckte die erste Tablette an diesem Tag und spülte sie mit einem Kaffeerest hinunter, »wo sich die einzelnen Dorfbewohner, auch die Kinder, die an diesem Nachmittag nicht in der Schule waren, aufhielten - auch der Abend interessiert uns. Alles klar? Da drüben auf dem Tisch liegen die Formulare. Am Schwarzen Brett finden Sie eine Liste, wer welche Adressen übernimmt.«

»Welchen Zeitpunkt setzen wir für das Ende des Nachmittags fest, Sir?« fragte Sergeant Troy, der inzwischen seine Vorbehalte und die kritische Einstellung zu diesem Fall vollkommen vergessen hatte und bemüht war, durch Eifer zu glänzen. »Hat sie jemand aus dem Wald kommen sehen?«

Barnaby sah seinen Sergeant an. Er hatte natürlich gemerkt, daß Troy bis jetzt mehr als nur skeptisch gewesen war, und wunderte sich darüber, daß jemand seine Überzeugungen so leicht abstreifen konnte wie eine Schlange die zu eng gewordene Haut. Er wußte nichts über Troys Privatleben, vermutete aber, daß er in seinen Beziehungen ebenso unbekümmert war.

»Das wäre natürlich praktisch für uns, aber das Leben ist selten so entgegenkommend. Ich denke, es ist in diesem Stadium das beste, wenn Sie einen Zeitraum von etwa zwei Uhr mittags bis Mitternacht abdecken. Wir wissen, daß Miss Simpson um acht noch am Leben war, weil sie zu dieser Zeit einen Anruf tätigte.«

»Woher wollen wir wissen, daß die Person oder die Personen, die sie im Wald gesehen hat, überhaupt im Dorf wohnen?« wollte eine junge Polizistin wissen.

»Davon können wir nicht mit Sicherheit ausgehen, aber es war ganz gewiß jemand, den sie kannte, und weit und breit parkte kein Auto - weder am Waldrand noch auf der Straße zwischen den Feldern. Die einzige andere Möglichkeit, einen Wagen abzustellen, wäre der Rastplatz in der Church Lane. Man sieht ihn deutlich vom letzten Haus aus, und der Besitzer dieses Hauses war fast den ganzen Nachmittag in seinem Garten und ist ziemlich sicher, keinen Wagen gesehen zu haben. Das bedeutet, daß, wer auch immer im Wald war, zu Fuß dort war.«

»Also suchen wir nach jemandem, der für einen Teil des Nachmittags und Abends kein Alibi hat?«

»Wahrscheinlich. Ich neige dazu zu glauben, daß es ein Pärchen gewesen sein muß. Im Laborbericht steht, daß eine Decke - eine Decke mit dem Karomuster des Hochländerregiments - auf dem Boden in der Mulde gelegen hat.« Er sah, wie Troy der Polizistin Brierley lüstern zuzwinkerte und ihr den Ellenbogen so heftig in die Seite stieß, daß sie ihren Bleistift fallen ließ. »Andere Spuren von umgeknickten Pflanzen außerhalb des für uns wichtigen Bereichs deuten darauf hin, daß dies ein beliebtes, lauschiges Plätzchen ist. Möglicherweise war das Pärchen öfter dort.«

»Erscheint mir unglaubhaft, Sir.« Wieder Troy. »Ich meine, daß sie umgebracht wurde, nur weil sie gesehen hat, wie jemand...« Er räusperte sich. »Ein wenig altmodisch, oder? Wir haben schließlich 1987. Wer erwartet heute schon noch Treue?«

Barnaby, der sein Leben lang treu gewesen war, sagte: »Sie wären überrascht. Ehen werden immer noch wegen Seitensprüngen geschieden. Leute werden enterbt. Beziehungen gehen kaputt. Vertrauen wird zerstört.« Die meisten sahen ihn unbeeindruckt an, ein oder zwei Männer nickten verständnisvoll. Barnaby stand auf. »Also, an die Arbeit.«

»Günstig, daß die beiden am Nachmittag beobachtet wurden, Sir. Da sind die meisten Leute noch in der Arbeit, das macht das Aussortieren leichter.«

»Wir wissen nicht, wann genau Miss Simpson sie entdeckt hat. Es könnte auch erst um sieben Uhr gewesen sein. Zu dieser Zeit ist es draußen noch hell.«

»Oh.« Troy fuhr vorsichtig und behielt den Tachometer im Auge. »Sie hätten von Gessler Tye zu Fuß herkommen können. Es ist nicht allzu weit. Vielleicht wollten sie sich nicht in ihrem eigenen Bezirk vergnügen.«

»Ja. Unter Umständen müssen wir unsere Ermittlungen ausdehnen.«

»Selbst wenn es ein Pärchen war, dann heißt das noch lange nicht, daß beide mit unserer Sache zu tun hatten.«

Dieser Gedanke hatte Barnaby auch schon beschäftigt. Es lag durchaus im Bereich des Möglichen, daß einer der beiden frei war und eine Entdeckung nicht zu fürchten brauchte. Und wenn doch beide anderweitig gebunden waren, hatte wahrscheinlich nur einer so viel zu verlieren, daß er oder sie einen Mord in Kauf nahm, um die Liaison geheimzuhalten. Dabei mußten nicht unbedingt nur finanzielle Gründe im Vordergrund stehen. Es war immerhin auch möglich, daß jemand sein Ehegespons von Herzen liebte und trotzdem einem kleinen Abenteuer im Heu nicht widerstehen konnte.

Sie kamen nach Badger's Drift und fuhren an zwei Polizeiwagen vorbei, die schon vor dem Black Boy parkten. Die von Haus-zu-Haus-Befragung hatte begonnen.

Barnaby sagte: »Ich möchte bei den Lessiters anfangen. Das ist das große Haus mit den steinernen Löwen.« Sergeant Troy pfiff neidvoll durch die Zähne, als er in die Einfahrt schoß und sich den Spaß gönnte, vor der Haustür so abrupt zu bremsen, daß Kieselsteine aufspritzten und sich eine Wolke von Staub bildete. Barnaby seufzte und stieg aus. Er benutzte den auf alt getrimmten Türklopfer und betrachtete, während er wartete, die Kutschenlaternen, das Schild mit einem Pfeil zur Seite und den Sprechstundenzeiten des Arztes in gotischer Schrift, die man sonst nur noch in Horrorfilmen sehen konnte.

Barnaby hatte die Praxis mittlerweile schon ziemlich gut kennengelernt. Er war erst gestern wieder dort gewesen, um den Arzt über das Ergebnis der Autopsie zu informieren. Lessiter hatte die Neuigkeit nicht gerade gut aufgenommen. Er hatte den Chief Inspector entgeistert angestarrt und in beinahe demselben Tonfall wie George Bullard gesagt:

»Schierling?« und war wie ein Stein auf seinen Stuhl geplumpst. Er vergaß sich so weit, daß er Barnaby mit einer Handbewegung gestattete, auch Platz zu nehmen. Er hielt sogar seine Hände vorübergehend ganz still.

»Und was hat Sie darauf gebracht, eine Autopsie anzuordnen, wenn ich fragen darf?« Er fühlte sich bereits in die Defensive gedrängt.

»Wir wurden gebeten, Nachforschungen anzustellen.«

»Von wem? Dieser wunderlichen alten Hexe, die in der Lane wohnt - das sollte mich nicht wundern.« Ihm fiel auf, daß Barnaby das Gesicht kaum merklich verzog, und bemühte sich sichtlich, sich zu beruhigen. »Die Höflichkeit hätte geboten, daß Sie mir Bescheid sagen.«

»Ich sage Ihnen ja Bescheid, Sir.«

»Ich meine, bevor Sie in Aktion traten, das wissen Sie verdammt gut.«

Das Geräusch von sich nähernden Schritten rief Barnaby in die Gegenwart zurück. Ein Mädchen öffnete die Tür. Doktor Bullards Beschreibung »der weniger umwerfenden Tochter« fiel ihm wieder ein, und er nahm an, daß sie das war: klein, nicht viel größer als einsfünfzig, und plump. Ihr Teint war grobporig und unrein, auf der Oberlippe sproß ein dunkler Flaum, und ihr Haar war spröde und kräuselte sich in alle Richtungen um den runden Kopf. Sie hatte große, relativ schöne Augen, aber sie blinzelte von Zeit zu Zeit hektisch. Diese Angewohnheit ließ sie ängstlich und dennoch ein wenig trotzig erscheinen. Sie gehörte zu den Mädchen, die ihre Unsicherheit als ihre Stärke einsetzen.

Barnaby nannte den Grund für seinen Besuch, und er und Troy wurden hereingebeten. Sie folgten Judy Lessiter durch die Halle. Ihre Beine unter dem formlosen Kittelkleid waren wirklich bemerkenswert. Ziemlich dicke Knie und spindeldürre Knöchel - es sah aus wie auf dem Kopf stehende Kegel.

Judy stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und ging hinein, Barnaby und Troy blieben dicht hinter ihr.

Doktor Lessiter sah auf und ließ mit einer ungehaltenen Handbewegung den Telegraph sinken. »Gütiger Himmel -ich dachte, die Sache ist ausgestanden, und ich sehe Sie und Ihre Leute nie wieder.«

»Ja. Tut mir leid, aber Befragungen dieser Art sind üblich ...«

»Sie stellen das ganze Dorf auf den Kopf.«

»Bei einem ungeklärten Todesfall...«

»Die Frau hat aus Versehen Schierling gepflückt. Gleich hinter der Church Lane wächst er in Massen. Der Wind verstreut die Samen überall hin. Offenbar sind ein paar davon in ihrem Garten gelandet und haben Wurzeln geschlagen. Ich habe noch nie erlebt, daß man wegen so einer Sache einen derartigen Wirbel veranstaltet.«

»Wir fragen alle Dorfbewohner, was sie an dem in Frage kommenden Tag getan haben und wo sie waren. Es geht um den letzten Freitag, den siebzehnten Juli - wir interessieren uns für den Nachmittag und den Abend.«

Der Doktor schnaubte ärgerlich, warf seine Zeitung auf den Tisch und sprang auf. Er stellte sich mit dem Rücken zu Barnaby und starrte in den Kamin. »Scheint so, als würde uns nichts anderes übrigbleiben, als Auskunft zu geben. Am Nachmittag Hausbesuche ... dann am Ab ...«

»Du machst nur am Dienstag und Donnerstag Hausbesuche, Daddy«, warf Judy ruhig und sachlich ein, aber Barnaby glaubte zu sehen, daß ein unfreundliches Lächeln ihre Mundwinkel umspielte.

»Was? Oh... ja, Entschuldigung.« Er nahm eine Zeitschrift, die obenauf in dem Korb mit dem Feuerholz lag, und blätterte sie durch, um seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren. »Natürlich, ich war hier. Hab’ ein bißchen im Garten gearbeitet und dann das Spiel im Fernsehen gesehen - was für ein Match ...«

»Und am Abend?«

»Ich fürchte, auch da war ich hier. Ein wirklich langweiliger Tag.«

»War Ihre Frau nachmittags und abends bei Ihnen?«

»Einen Teil des Abends war sie da. Am Nachmittag hat sie einen Einkaufsbummel gemacht.«

»Danke. - Miss Lessiter?«

»Tagsüber habe ich gearbeitet. Ich bin Bibliothekarin. In Pinner.«

»Und am Abend?«

»War ich hier.«

Beide Polizisten registrierten - was zweifellos beabsichtigt war - daß der Arzt übertrieben erstaunt auf diese Behauptung reagierte. Wie du mir, so ich dir, dachte Barnaby.

»Na ja«, redete sich Judy heraus. »Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht - das Wetter war so schön.«

»Wissen Sie noch, wie spät es war, als Sie aufbrachen?«

»Nein, tut mir leid. Aber ich war nicht lange weg.«

»Wohin gingen Sie?«

»Nur die Church Lane entlang und etwa eine halbe Meile durch die Felder, dann bin ich umgekehrt.«

»Sind Sie jemandem begegnet?«

»Nein.«

»Haben Sie etwas gehört oder etwas Ungewöhnliches bemerkt, als Sie am Bienenstock-Cottage vorbeikamen?«

»Nein ... Ich glaube, die Vorhänge waren zugezogen.«

»Und um wieviel Uhr waren Sie wieder zu Hause?«

Sie zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

»Können Sie uns in diesem Punkt weiterhelfen, Doktor Lessiter?« erkundigte sich Barnaby.

»Nein.« Der Doktor hatte sich wieder auf dem Sofa niedergelassen und war in seine Zeitung vertieft. Barnaby wollte gerade fragen, ob er Mrs. Lessiter sprechen könne, als sie auf der Schwelle hinter ihm auftauchte. Er spürte ihre Anwesenheit, weil sich die Atmosphäre im Raum von einer Sekunde zur anderen veränderte. Der Arzt las nach einem kurzen Blick über die Schulter des Chief Inspectors mit einer Konzentration, die nur vorgetäuscht sein konnte, in seiner Zeitung. Judys Miene verfinsterte sich zusehends, und Sergeant Troy spürte mit einemmal, wie ihm so heiß wurde, daß seine helle Haut eine unvorteilhafte rosa Färbung annahm.

»Ich dachte doch, daß ich Stimmen gehört habe.« Sie sank in den Sessel neben dem Fenster, legte ihre Füße auf einen Schemel und schenkte den beiden Polizisten ein bezauberndes Lächeln. Sie sieht aus wie eine von diesen Frauen, die in den Magazinen mit den aufklappbaren Seiten zu sehen sind, dachte Troy, während er ihre Kurven, die sich deutlich unter dem Frotteeoverall abzeichneten, ihre üppige Haarmähne und die schimmernden Lippen betrachtete. Ihre schlanken, gebräunten Füße steckten in hochhackigen goldenen Sandalen. Barnaby fiel auf, daß sie längst nicht mehr so jung war, wie sie durch kosmetische Höchstleistungen und durch viel Geld vortäuschen wollte. Sie war nicht mehr Anfang Dreißig, sondern eher Mitte, vielleicht sogar Ende Vierzig.

Auf seine Fragen hin erklärte sie, sie sei am Nachmittag in Causton einkaufen gewesen und habe den Abend bis auf einen kurzen Zeitraum, in dem sie mit dem Auto unterwegs gewesen war, zu Hause verbracht.

»Hatten Sie ein spezielles Ziel bei dieser Fahrt?«

»Nein ... na ja, um ehrlich zu sein, wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, stimmt’s, Pookie?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß unsere Streitereien für die Polizei von Interesse sind, meine Liebe«, brummte Lessiter.

»Ich habe mein Kleiderbudget überschritten, und das machte ihn wütend. Deshalb stieg ich in den Jaguar und fuhr ein wenig herum, bis ich glaubte, daß er sich beruhigt hatte. Dann kam ich zurück.«

»Und wann war das genau?«

»Es war etwa sieben, als ich das Haus verließ, denke ich. Und ich war vielleicht eine Stunde unterwegs.«

»War Miss Lessiter hier, als Sie nach Hause kamen?«

»Judy?« Sie sah ihre Stieftochter stirnrunzelnd und unbeteiligt an, als würde sie sich fragen, was sie überhaupt hier zu suchen hatte. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie hält sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer auf. Wie Jugendliche eben so sind.«

Barnaby fand, daß die Bezeichnung »Jugendliche« keineswegs zu der trägen Gestalt paßte, die jetzt das halbe Sofa für sich beanspruchte. Jugendliche waren zwar scheu, unbeholfen und launisch, aber auch lebenslustig und temperamentvoll. Judy hingegen schien schon als Erwachsene auf die Welt gekommen zu sein.

»Haben Sie irgendwo haltgemacht, Mrs. Lessiter? Um etwas zu trinken vielleicht?«

»Nein.«

»Gut, vielen Dank.« Als Barnaby aufstand, hörte er die Klappe des Briefkastens zufallen, Judy hievte sich vom Sofa und watschelte hinaus.

Ihre Stiefmutter sah Barnaby vielsagend an. »Sie ist verliebt. Jedesmal, wenn die Post kommt oder das Telefon klingelt, erleben wir ein kleines Drama.« Ihr strahlendes, unechtes Lächeln galt allen drei Männern. Ist die Kleine nicht eine lächerliche Figur? sagte dieses Lächeln, als müßten ihr alle zustimmen. »Ein furchtbarer Mann - aber er sieht umwerfend gut aus, und das macht alles noch viel schlimmer.«

Trevor Lessiter hielt seine Zeitung so fest, daß die Knöchel an seinen Fingern weiß wurden. Judy kam mit einem Stapel Briefen zurück. Einen warf sie in Barbaras Schoß, den Rest kippte sie hinter den Daily Telegraph. Ihr Vater schnalzte aufgebracht mit der Zunge.

Nachdem sie das Haus verlassen hatten, blieb Barnaby stehen, um die Madame-de-Coultre-Clematis zu bewundern, die an der Säule am Eingang rankte. Dann drehte er sich noch einmal um und sah, daß Barbara Lessiter am Fenster des Wohnzimmers stand und blicklos in den Garten starrte. Blanke Angst stand ihr im Gesicht. Barnaby beobachtete, wie sie den Brief zusammenknüllte und in die Tasche ihres Overalls stopfte.

»Was ist los, Stiefmama?«

»Nichts.« Barbara ging zurück zu dem Sessel. Sie sehnte sich nach einem starken, schwarzen Kaffee. Alles stand auf dem niedrigen Tischchen vor dem Sofa bereit, aber ihre zitternden Hände würden sie verraten.

»Du bist bleich wie das sprichwörtliche Laken unter all dieser dicken Pariser Schminke.« Judy starrte die ältere Frau unverhohlen an. »Du bist doch nicht schwanger, oder?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Selbstverständlich nicht«, echote Judy. »Die Zeiten sind für dich längst vorbei, nicht wahr?«

»Hast du eine Zigarette für mich, Trevor?«

Ihr Mann erwiderte, ohne den Blick von der Zeitung zu wenden: »In der Dose auf meinem Schreibtisch sind welche.«

Barbara nahm eine und klopfte mit der Spitze so heftig auf den Dosendeckel, daß das Tabakpapier fast aufplatzte. Sie zündete die Zigarette mit dem Feuerzeug an, das aussah wie ein Fußball, und stellte sich wieder mit dem Rücken zu den anderen ans Fenster. Das unterschwellig feindselige Schweigen dehnte sich in die Länge.

Judy Lessiter richtete einen brennenden Blick auf die Zeitung, hinter der sich ihr Vater verschanzt hatte. Am liebsten hätte sie diesen Schutzschild versengt wie ein durch eine Lupe verstärkter Sonnenstrahl und zugesehen, wie sich das Papier erst braun, dann schwarz verfärbte und in Flammen aufging, um sein dümmliches, erstauntes Gesicht freizugeben.

Der schreckliche Tag, an dem die beiden mit identischen goldenen Ringen an den Fingern auf der Schwelle gestanden hatten, lag jetzt fünf Jahre zurück. Er war die vorangegangene Nacht außer Haus gewesen und hatte ihr weisgemacht, er müßte bei einem sterbenden Patienten bleiben. Diese abscheuliche, gemeine Lüge würde sie ihm nie verzeihen können. Sie war nicht einmal mehr sicher, ob sie ihn noch liebhaben konnte. Ihre Freude an seinem täglich wachsenden Unbehagen und seinem Unglück sprach eindeutig dagegen.

Vom ersten Augenblick an hatte sie heftigen Widerstand geleistet gegen Barbaras halbherzige Versuche, ihr Ratschläge mit den Kleidern und dem Make-up zu geben und ihr Zimmer anders einzurichten. Sie mochte ihr Zimmer so, wie es immer gewesen war - mit den alten Spielsachen, der Patchwork-Decke, den Schulbüchern und allem anderen -, und fand Barbaras Vorschläge, es mit gerüschten Vorhängen, kitschigen Tapeten und Teppichen femininer zu gestalten, fürchterlich. Sie war auch, sagte sie sich selbst, viel zu intelligent, um sich mit den blöden Zeitschriften zu befassen, die Barbara unaufhörlich las. Barbara hatte sie mit Diätvorschriften gequält, als wäre man ein neuer Mensch, wenn man sich halb zu Tode hungert! Aber die gute Stiefmama behielt das mütterliche Getue nicht lange bei und verfolgte bald ihre eigene tägliche Routine, an der sie seither festhielt. Sie gab der Haushaltshilfe Anweisungen, ging zum Friseur, ins Fitneßstudio und in Boutiquen und lümmelte ansonsten im Haus herum, um sich mit Modemagazinen und den albernen Frauenzeitschriften zu beschäftigen.

Judy war nicht glücklich. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie nicht mehr glücklich, nicht mehr so unbeschwert und frei wie ein behütetes und von beiden Elternteilen geliebtes Einzelkind gewesen. Doch das Elend von Barbara und ihrem Vater tröstete sie über manches hinweg. Und dann war da noch Michael Lacey. Vielmehr er war nicht für sie da, und er würde es auch niemals sein - das mußte sie sich immer und immer wieder sagen, wenn sich das kleine Würmchen Hoffnung in ihr Herz schlängelte. Nicht nur weil er viel zu gut aussah (selbst noch nach seinem Unfall war sein Gesicht wunderschön), sondern auch wegen seiner Arbeit. Ein Maler mußte frei sein. Erst letzte Woche hatte er ihr erzählt, daß er auf Reisen gehen wollte, um in Venedig, Florenz und Spanien zu studieren. Ihr entfuhr ein gequälter Schrei: »Wann, wann?«, aber er erwiderte nur mit einem Achselzucken: »Eines Tages ... bald.« Seit ihrer Verlobung war seine Schwester Katherine kaum noch zu Hause, und Judy ging manchmal zu seinem Cottage, räumte auf, putzte ein bißchen und kochte ihm Kaffee. Nicht zu oft. Sie versuchte, ihre Besuche zu dosieren, in der Hoffnung, daß er sie dann hin und wieder vermissen würde.

Vor zwei Wochen hatte er ihren Arm genommen und sie zum Fenster geführt, einen Finger unter ihr Kinn gelegt und ihr Gesicht eingehend gemustert. »Ich möchte dich malen. Du hast faszinierende Augen«, sagte er in sachlichem Ton, als wäre er ein Bildhauer und sie ein vielversprechender Steinklumpen, aber Judys Herz schmolz dahin, und ihre Träume nahmen eine neue Dimension an. Er hatte nie wieder davon gesprochen. Erst neulich war sie abends zu seinem Cottage gegangen und hatte durchs Fenster gesehen, daß er arbeitete. Sie war wieder weggeschlichen, weil sie nicht den Mut aufbrachte, ihn zu stören. Seither war sie nicht mehr bei ihm gewesen - sie fürchtete, daß sie seine Geduld mit einem unerwünschten Besuch zu sehr auf die Probe stellen und das herbeiführen könnte, was für sie der furchtbarste Schicksalsschlag wäre: die endgültige Zurückweisung.

Trevor Lessiter faltete die Zeitung zusammen und musterte verstohlen seine Tochter, die wie immer meilenweit von ihm entfernt war. Er fragte sich, woran sie wohl dachte und wie es möglich war, daß man jemanden, den man täglich sah, so sehr vermissen konnte. Er war froh, daß sie sich trotz der Anspielungen seiner Frau nicht dazu hatte verleiten lassen, eine Wohnung in Pinner zu mieten, »um näher an der Arbeitsstelle zu sein«. Judy tat nichts mehr im Haushalt. Sie, die immer so stolz darauf gewesen war, wenn sie die Sachen ihrer Mutter polieren und die Zimmer mit hübschen Blumenarrangements verschönern konnte. Jetzt blieb alles liegen, was Mrs. Holland in ihrer Arbeitszeit nicht schaffte. Und wann immer er und Barbara zankten (beinahe ständig, wie es schien), sah er ein zufriedenes Leuchten in Judys Augen - das verletzte ihn tief. Er wußte, daß sie dachte: Geschieht ihm recht. Er richtete den Blick auf seine Frau, sah die schweren Brüste und die schmale Taille, und ihm wurde schwindlig vor Lust. Er empfand keine Liebe. Jetzt war ihm klar, daß er sie nicht mehr liebte, und er zweifelte sogar daran, daß er es überhaupt je getan hatte. Aber sie hatte Macht über ihn. Große Macht. Wenn er nur mit Judy darüber reden und ihr verständlich machen könnte, daß er zu dieser Ehe gedrängt, ja fast überlistet worden war. Jetzt, da sie selbst verliebt war, würde sie es sicherlich eher verstehen. Aber er schreckte vor einem solchen Versuch zurück. Junge Menschen waren unzugänglich, wenn es um die Sexualität ihrer Eltern ging, und ein Gespräch darüber konnte ihre Gefühle verletzen. Zudem rief ihre auffällige Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit eine ähnliche Reaktion in ihm hervor. Vor ein paar Jahren hätte er so etwas nicht für möglich gehalten.

Er erinnerte sich, wie sie nach dem Tod ihrer Mutter jedesmal auf ihn gewartet hatte, wenn er abends von Patienten gerufen worden war, daß sie ihm Kakao gekocht und neben ihm gesessen hatte, bis sie sicher sein konnte, daß er auch wirklich alles ausgetrunken hatte. Sie hatte Anrufe entgegengenommen, alles zuverlässig notiert und sich die Klagen der Patienten so geduldig angehört, wie es seine erste Frau getan hatte. Als er jetzt ihr trauriges, düsteres Gesicht betrachtete, übermannte ihn das Gefühl, etwas sehr Wertvolles weggeworfen und durch Talmi ersetzt zu haben.

Barbara Lessiter spürte das zusammengeknüllte Papier in der Tasche, wenn sie sich bewegte. Zum millionsten Mal in fünf Minuten fragte sie sich, woher sie, um alles in der Welt, fünftausend Pfund nehmen sollte.

3

»Wohin jetzt, Sir?«

»Da wäre Mrs. Quine in Burnham Crescent...«

»Ich dachte, die anderen übernehmen die Mietshäuser.«

»Diese Frau befrage ich selbst, sie ist Miss Simpsons Putzfrau. Dann ist da noch dieser erschreckend elegante Bungalow und die vier Cottages - und Traces Farm. Oder eher Tye House.«

»Die sind wohl was Besseres, oder? Die Creme der Gesellschaft?«

»Ich komme ganz gut auch ohne derartige Bemerkungen zurecht, Troy. Behalten Sie Ihre Weisheiten für sich und machen Sie dafür Augen und Ohren auf.«

»In Ordnung, Chief.«

»Und seien Sie schreibbereit. Wir fangen im Farmhaus an und arbeiten uns langsam weiter vor.«

Über der Tür zum Haupthaus befand sich ein Oberlicht mit hübschem, weißgestrichenem Schmiedeeisengitter. Die Magnolien standen in voller Blüte, große, wachsartige Kelche und dunkelgrünes Laub drängten sich gegen die Fenster. Sergeant Troy zog an der Klingelschnur, und weit entfernt im Haus schlug eine Glocke an. Barnaby überlegte, ob es in der Küche ein verglastes Mahagonikästchen mit Lampen gab, die aufleuchteten, wenn in einem der Zimmer jemand auf einen Klingelknopf drückte. Frühstückszimmer. Wäschekammer. Servierraum. Kinderzimmer.

Niemand öffnete die Tür.

»Das Mädchen muß Ausgang haben«, schnaubte Troy verächtlich - diesen Kommentar konnte er sich einfach nicht verkneifen. Er folgte Barnaby um die Hausecke und kämpfte gegen unerfreuliche Erinnerungen an. Seine Mutter mußte früher immer ihre Schürze ablegen, bevor sie Besuchern die Tür öffnete. Und ihr Kopftuch. Er sah sie vor sich, wie sie vor dem Spiegel in der Halle nervös an ihrem Haar zupfte und ihren Kragen glättete. >Mrs. Willows möchte Ihnen Ihre Aufwartung machen, Mylady.<

Sie kamen in einen gepflasterten Hof, und ein kleiner, klapperdürrer Hund mit ergrauter Schnauze und scheckiger Brust lief auf sie zu. Es war ein alter Jack Russell, und seine Augen waren nicht mehr sehr gut. Erst als er den beiden Männern schon ziemlich nahe war, entdeckte er seinen Irrtum. Troy bückte sich, um den Hund zu streicheln, aber das Tier drehte sich um und trottete betrübt davon. Barnaby ging auf die Hintertür zu. »Vielleicht haben wir hier mehr Glück.«

Die Tür stand weit offen, dahinter befand sich die riesige Küche. Ein Mann saß an dem Eßtisch; er hatte niedergeschlagen den Kopf in die Hände gestützt und ließ seine Schultern sinken. Dicht neben ihm lehnte mit dem Rücken zu Barnaby ein junges Mädchen an der Tischkante. Barnaby sah, daß sie sich vorbeugte und die Schulter des Mannes berührte. Er ergriff mit einer heftigen Bewegung ihre Hand und hob den Blick. In diesem Moment entdeckte er die beiden Männer vor der Tür und sprang auf. Das Mädchen wandte ihnen weit weniger hastig das Gesicht zu.

Noch Jahre nachdem dieser Fall abgeschlossen war, sollte sich Barnaby genau an den Augenblick erinnern, als er Katherine Lacey zum erstenmal sah. Sie trug ein Seidenkleid, cremeweiß und apfelgrün gestreift, und war das hübscheste Ding, das ihm je begegnet war. Ihre Schönheit war mehr als nur ein vollkommenes Gesicht und eine vollkommene Figur (und wie oft bekam man so etwas schon zu sehen?) - ihre Erscheinung hatte die entrückte Perfektion eines weit entfernten Sterns und schnitt dem Betrachter ins Herz. Sie kam mit einem bezaubernden Lächeln auf die Polizisten zu.

»Verzeihen Sie - haben Sie geklingelt, mußten Sie warten? Ich höre die Glocke nicht immer in der Küche.« Barnaby nannte den Grund für ihren Besuch. »Oh, natürlich - bitte kommen Sie herein. Wir waren alle schockiert, als wir hörten, daß sich die Polizei mit dem Todesfall befaßt, stimmt’s, David?« Der Mann, der wieder auf seinem Stuhl Platz genommen hatte, gab keine Antwort. »Miss Simpson war die Lehrerin meines Vaters, wissen Sie. Meine Eltern hatten sie sehr gern. Ach, übrigens, ich bin Katherine Lacey. Und das ist David Whiteley, der Verwalter der Farm.«

Barnaby nickte, und während er beide fragte, was sie an dem bewußten Tag gemacht und wo sie sich aufgehalten hatten, musterte er den Mann eingehender. Er war über einsachtzig groß, hatte eine gebräunte,, wettergegerbte Haut wie jemand, der viel im Freien arbeitete, kobaltblaue Augen und flachsfarbenes Haar, das ungewöhnlich lang war. Barnaby schätzte ihn auf Ende Dreißig. Im Moment machte er eher einen aufgebrachten als einen bekümmerten Eindruck, und Barnaby fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn er und Troy nicht aufgetaucht wären. War die Berührung des Mädchens eine tröstende Geste gewesen? Eine Liebkosung? Hätte seine Reaktion zu einer Zurückweisung geführt? Oder zu einem Kuß?

»... an den Nachmittag erinnere ich mich noch sehr gut. Die meiste Zeit verbrachte ich in der Gemeindehalle, um bei den Vorbereitungen für den Reiterwettbewerb am Samstag zu helfen. Wir mußten alles aufbauen, und ich habe bei dem Stand der Frauenorganisation ausgeholfen.«

»Ich verstehe.« Barnaby nickte und versuchte vergeblich, sich Miss Lacey in der Frauenorganisation vorzustellen. »Um wieviel Uhr sind Sie von dort weggegangen?«

»Ich glaube, so um vier. Aber es könnte auch ein wenig früher gewesen sein. Leider habe ich ein miserables Zeitgefühl, das kann Ihnen Henry bestätigen.«

»Sind Sie direkt nach Hause gegangen?«

»Ja. Ich nahm den Peugeot und fuhr zu der Scheune in Huyton’s End, um Henry abzuholen. Er hat ein Büro ...« Sie brach plötzlich ab und setzte hinzu: »Hören Sie, wäre es nicht viel besser, wenn Sie mit uns beiden zusammen sprechen würden? Wir trinken um diese Zeit immer unseren Kaffee im Salon. Sie sind herzlich eingeladen, uns Gesellschaft zu leisten.«

Barnaby lehnte den Kaffee ab, hielt jedoch ihren Vorschlag für vernünftig.

»Komm doch auch mit, David.« Diesmal schenkte sie dem Mann am Tisch ein Lächeln. Alle drei folgten ihr durch die Halle und einen mit Teppich ausgelegten Korridor - ihre Rückenansicht war beinahe ebenso betörend wie der Anblick von vorn. An der einen Wand des Flurs hingen goldgerahmte Ölgemälde von den Vorfahren der Familie Trace, die andere schmückten zarte Aquarelle, die Barnaby mit einem fachmännischen, neidvollen Blick betrachtete. Am Ende des Korridors führte eine Glastür zu einer Orangerie mit kunstvollen weißen Eisengittern. Durch die Scheibe sah Barnaby gepflegte Rasenflächen, beschnittene Bäume und Sträucher und einen glitzernden Springbrunnen. Er hätte gern gewußt, ob es hier auch Pfaue gab.

»Abgesehen von Henry«, sagte Katherine über die Schulter, »wohnt zur Zeit nur noch Phyllis Cadell, seine Schwägerin, in diesem Haus. Ihr Zimmer ist oben.« Sie öffnete die Tür zu ihrer Rechten.

Sie kamen in einen großen Salon. Die Wände waren in Apricot und Weiß gehalten, üppige Perserteppiche lagen auf dem glänzenden, honigfarbenen Parkettboden. Die Decke zierten vergoldete Stuckornamente. Am anderen Ende des Zimmers saß ein Mann im Rollstuhl neben einem prachtvollen offenen Kamin, in dem weiße und silberne Blumen und Blätter lagen. Die Beine des Mannes waren mit einem Reiseplaid bedeckt. Er hatte ein ernstes, fast strenges Gesicht mit tiefen Falten, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen. Sein dunkles Haar war mit grauen Strähnen durchzogen, und die Schultern hatte er leicht nach vorn geneigt. Barnaby war später sehr überrascht, als er erfuhr, daß Henry Trace erst zweiundvierzig Jahre alt war. Jetzt überlegte er, ob es reine Gedankenlosigkeit war, daß sich David Whiteley direkt neben seinen Arbeitgeber setzte. Es hätte kaum einen erbarmungsloseren Kontrast geben können. Seine starken, beweglichen Glieder sprengten fast die Nähte der Cordhose und des karierten Hemdes. Ein Marlborough-Mann, spottete Troy im stillen. Katherine erklärte, warum die Polizei im Haus war, dann ließ sie sich auf dem Schemel neben dem Rollstuhl nieder und nahm Traces Hand.

»Eine schreckliche Geschichte«, sagte er, »aber sicherlich liegt in diesem Fall kein Verbrechen vor, oder?«

»Wir stellen lediglich einige Nachforschungen an, Sir.«

»Ich kann nicht glauben, daß ihr irgend jemand ein Leid antun wollte«, fuhr Trace fort, »sie war der freundlichste, netteste Mensch, den man sich denken kann.«

Troy, der seinen Block aufschlug, fiel auf, daß er nicht erklärte, Miss Simpson habe seine Mum unterrichtet. Wahrscheinlich war sie in einer Privatschule - wie üblich in diesen Kreisen.

»Ich habe sie sogar noch an dem Tag, an dem sie starb, gesehen«, sagte Katherine ohne den sensationslüsternen Unterton, der meistens mit einer solchen Bemerkung einherging.

»Wann war das?« hakte Barnaby nach und warf einen Blick auf Troy, der mit seinem Stift einen Bogen zeichnete, um seine Bereitschaft zu signalisieren.

»Am Morgen. Ich weiß nicht mehr genau, um welche Zeit ich bei ihr war. Sie hat mir versprochen, Honig für den Stand zu spenden. Sie gab mir auch ein bißchen Petersilienwein mit. Sie war immer sehr großzügig.«

»Und haben Sie sie bei dieser Gelegenheit zum letztenmal gesehen?« Katherine nickte. »Um wieder auf den Nachmittag zu sprechen zu kommen - Sie haben also die Gemeindehalle etwa um vier Uhr verlassen, sind in den Peugeot gestiegen ...?«

»Und fuhr zu Henrys Büro. Ich holte ihn ab, und wir kamen hierher zurück, aßen zu Abend und verbrachten den Abend mit einem Streit über ...«

»Mit einer Diskussion.«

Sie drehte den Kopf und sah ihn schelmisch an. »Mit einer Diskussion über einen neuen Rosengarten. Ich ging etwa um halb elf.«

»Dann wohnen Sie also nicht hier im Haus, Miss Lacey?«

»Erst ab Samstag. Dann sind wir verheiratet.« Sie wechselte einen Blick mit dem Mann im Rollstuhl. Ihr Ausdruck war liebevoll, während sein Gesicht nicht nur Bewunderung, sondern auch Triumph verriet - den Triumph eines Sammlers, der eine seltene, schöne Spezies entdeckt hatte und sie trotz widriger Umstände für sich gewinnen konnte. Wenn man das Geld hat, dachte Troy, kann man alles kaufen.

»Ich wohne in einem Cottage am Rand des Buchenwalds. Es liegt relativ weitab vom Dorf.« Ein Schatten trübte ihre Augen, als sie so leise, daß Barnaby sie kaum verstand, hinzufügte: »Mein Bruder Michael lebt auch dort.« Auf Barnabys Bitte hin beschrieb sie genau, wo sich das Cottage befand, und fuhr fort: »Aber im Moment werden Sie Michael dort nicht antreffen. Er ist in Causton, um ein paar Pinsel zu kaufen.« Diese harmlose Information, die sie freiwillig weitergegeben hatte, schien ihr Unbehagen zu bereiten, sie preßte die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. Trace tätschelte sanft ihren Kopf, als müßte er ein gereiztes Tier besänftigen.

»Sind Sie auf dem Heimweg an Miss Simpsons Haus vorbeigekommen?«

»Ja.«

»Haben Sie jemanden gesehen? Oder irgend etwas gehört oder bemerkt?«

»Nein, leider.«

»Brannte Licht? Waren die Vorhänge zugezogen?«

»Tut mir leid - ich erinnere mich an nichts.«

»Ich danke Ihnen.« Barnaby wandte sich an Henry Trace. Die Fragen an ihn waren seiner Ansicht nach eine reine Formalität, dennoch wäre es ihm rüde vorgekommen, sie nicht zu stellen. Vielleicht hätte Trace mit dem Rollstuhl zu Miss Simpsons Cottage fahren und sie vergiften können (dann hätte seine Verlobte in bezug auf den gemeinsam verbrachten Abend gelogen), doch es wäre ihm wohl kaum möglich gewesen, sich im Wald zu vergnügen - selbst wenn man in Betracht ziehen würde, daß ein Mann, der kurz vor der Hochzeit mit Katherine Lacey stand, verrückt genug war, ein solches Abenteuer zu suchen. Im Wald waren keine Reifen oder Radspuren gefunden worden. Barnaby nahm an, daß Trace wirklich gelähmt war. Wahrscheinlich kam es nur in Filmen vor, daß sich starke, gesunde Menschen in einem Rollstuhl versteckten, um im entscheidenden Moment aufzuspringen und das perfekte Verbrechen zu begehen.

»Bestätigen Sie Miss Laceys Aussage, was Ihre gemeinsamen Unternehmungen an diesem Tag betrifft, Mr. Trace?« Er hörte, wie Troy eine Seite in seinem Block weiter blätterte.

»Ja.«

»Und waren andere Leute in der Nähe, als Sie sich in Ihrem Büro aufhielten?«

»O ja. Die Traktoren stehen im Hof, die Düngemittel und alle möglichen Geräte lagern in den Nebengebäuden. Dort ist immer sehr viel los, es ist der belebteste Platz auf der Farm.«

»Wie groß ist Ihre Farm?«

»Zweihundert Hektar.«

Sergeant Troys Stift bohrte sich in das Papier.

»Würden Sie mir den Namen Ihres Arztes nennen?«

»Meines Arztes?« Henry Trace schaute Barnaby verwirrt an, dann schien er zu begreifen. »Oh - ich verstehe.« Die Falten in seinem Gesicht vertieften sich. Er lächelte ohne jede Freude. »Trevor Lessiter ist mein Hausarzt. Aber vielleicht sollten Sie mit Mr. Hollingsworth, University College in London, sprechen.« In bitterem Ton fügte er hinzu: »Er wird Ihnen bestätigen können, daß ich wirklich und wahrhaftig gelähmt bin.«

Das Mädchen zu seinen Füßen stieß einen empörten Schrei aus und funkelte Barnaby böse an.

»Ist schon gut, Liebling«, beruhigte Trace sie. »Sie müssen diese Dinge fragen.« Aber sie war keineswegs beschwichtigt und verfolgte mit finsterer Miene die Befragung von David Whiteley. Troy fand, daß sie so noch viel schöner war als sonst. Der Gutsverwalter gab widerwillig Auskunft und sagte, daß er den ganzen Nachmittag gearbeitet habe.

»Wo genau waren Sie tätig?«

»Etwa drei Meilen von hier an der Gessler Tye Road. Ich habe Zäune repariert. Vor einigen Tagen ist dort ein häßlicher Unfall passiert, und ein beträchtliches Stück von dem Zaun war kaputt.«

Barnaby nickte. »Und als Sie damit fertig waren?«

»Ich fuhr nach Causton und bestellte Maschendraht. Dann ging ich nach Hause.«

»Verstehe. Sie waren nicht mehr im Büro?«

»Nein. Es war schon kurz vor sechs, als ich von Causton zurückkam. Ich muß keine Stechuhr bedienen oder mich an-und abmelden. Ich bin kein Lohnarbeiter.« Er bemühte sich, belustigt zu wirken, aber es war nicht zu überhören, daß er aufgebracht war.

»Und Ihr Zuhause ist...«

»In Witchetts. Das Haus mit den grünen Läden, gegenüber vom Pub. Es ist sozusagen eine Dienstwohnung.«

»Und wie haben Sie den Abend verbracht?«

»Ich duschte. Hab’ was getrunken und ein bißchen ferngesehen. Dann ging ich in den Bear in Gessler, um etwas zu essen und Gesellschaft zu haben.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Ich denke, so um halb acht.«

»Sind Sie verheiratet, Mr. Whiteley?«

»Das geht Sie gar nichts an.«

»David!« rief Henry Trace. »Es besteht wirklich kein Grund...«

»Tut mir leid, aber ich sehe, verdammt noch mal, nicht ein, was es mit dem Tod einer alten Frau, die ich nicht einmal richtig kannte, zu tun hat, ob ich verheiratet bin oder nicht.« Er preßte störrisch die Lippen zusammen, verschränkte die Arme und schlug die Beine übereinander. Einen Moment später stellte er sie kurz wieder nebeneinander, ehe er sie nach der anderen Seite kreuzte. Barnaby stellte eine vollkommen gleichgültige Miene zur Schau und blieb ganz gelassen in seinem Sessel sitzen. Henry und Katherine war die Szene offensichtlich peinlich. Troy musterte spöttisch Whiteleys angespannte Muskeln. Er kannte diese Typen. Sie bildeten sich ein, tolle Hengste zu sein. Aber wahrscheinlich bekamen sie ohne ein halbes Dutzend Bier und einen Softporno keinen hoch. Das Schweigen dehnte sich in die Länge, bis David Whiteley schließlich tief seufzte.

»Na ja, wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ich bin verheiratet, aber wir leben seit drei Jahren getrennt. Genaugenommen seit dem Tag, an dem ich die Arbeit hier angenommen habe. Sie ist Privatlehrerin und wohnt in Slough. Und, um Ihnen weitere Schnüffeleien über meine Familienverhältnisse zu ersparen, wir haben einen neunjährigen Sohn. Sein Name ist James Laurence Whiteley, und als ich ihn das letzte Mal sah, war er etwa einszwanzig groß und wog knapp dreißig Kilo. Er war verrückt nach seinem BMX-Rad und Computerspielen und spielte leidlich gut Basketball. Natürlich ist das alles schon einige Zeit her. Vielleicht ist das alles inzwischen ganz anders geworden.« Aus dieser letzten Bemerkung sprach weder Sarkasmus noch Zorn, vielmehr übermannten ihn die Gefühle, und er verstummte.

»Danke, Mr. Whiteley.« Barnaby wartete eine Weile, dann fuhr er fort: »Um zum Abend des Siebzehnten zurückzukommen - können Sie mir sagen, wann Sie den Bear verließen?«

Whiteley holte tief Luft, bevor er antwortete: »Ungefähr dreißig Minuten vor der Sperrstunde. Sie werden es dort genauer wissen. Ich bin Stammgast im Bear.«

»Und sind Sie sofort nach Hause gefahren?«

»Ja.«

»Würden Sie mir freundlicherweise sagen, was für einen Wagen Sie fahren und wie Ihr Kennzeichen ist?«

»Es ist ein Citroën Estate. ETX 373 V.«

»Gut.« Barnaby stand auf. »Sie waren alle sehr hilfreich. Miss Lacey, soweit ich mich erinnere, erwähnten Sie, daß noch eine Person in diesem Haus lebt.«

»Ja«, antwortete Henry Trace für sie, »Phyllis. Aber ist sie im Moment nicht in ihrem neuen Häuschen?«

»Nein.« Katherine erhob sich. »Ich habe vor einer halben Stunde gehört, wie sie heimkam. Ich zeige Ihnen den Weg.« Sie richtete die Worte an Barnaby, sah ihn aber nicht an. Als sie den ersten Schritt tat, ergriff Henry ihre Hand und hielt sie zurück.

»Komm gleich wieder, ja?«

»Natürlich.« Sie bückte sich und hauchte einen Kuß auf seinen Mundwinkel. Es war ein sittsamer, unschuldiger Kuß, aber der Blick, den sie dafür erntete, war alles andere als unschuldig. Die beiden geben ein schönes Bild ab, dachte Barnaby. Trace mit seinem ausgeprägten Profil und das frische junge Mädchen, das sich anmutig zu ihm beugt - ein bezaubernder Anblick vor dem Hintergrund des weichfallenden, grauen Seidenvorhangs ... Vielleicht war es diese theatralisch angehauchte Szene, die Barnaby auf den Gedanken brachte, daß irgend etwas nicht ganz natürlich wirkte. Alles war auf gekünstelte Weise perfekt und strotzte vor falschem Pathos wie eine kitschige viktorianische Glückwunschkarte oder eine Illustration von Dickens. Er hätte nicht erklären können, was genau diese Empfindung in ihm weckte, denn er glaubte im Grunde nicht, daß Katherine und Henry ihm etwas vorspielten. Er wandte leicht den Kopf, um David Whiteley mit den beiden anderen im Blick zu haben. Vielleicht war seine Anwesenheit schuld an seinen Zweifeln - oder, konkreter, die Tatsache, daß sich das Mädchen für den falschen Mann entschieden hatte. Daß Jugend zu Jugend gehörte. Barnaby sah, daß Whiteley das Mädchen nicht aus den Augen ließ, auch sein Blick war weit von Unschuld und Sittsamkeit entfernt. Henry Trace wäre nach Barnabys Ansicht ein außergewöhnlicher Mann, wenn er sich keine Gedanken darüber machen würde, was seine Verlobte und der Gutsverwalter außer Sichtweite taten... Ein Sammler erwartete selbstverständlich Habgier und Neid von einem anderen Sammler, besonders wenn es um ein so wertvolles Stück ging.

Katherine führte sie die gewundene Treppe hinauf und durch einen anderen Flur. Hier standen an den Wänden halbovale, glänzend polierte Tische mit Blumenvasen, Tabakdosen und Miniaturen.

»Wie heißt die Lady mit vollem Namen?«

»Phyllis Cadell.«

»Miss?«

»Das können Sie als sicher annehmen.« Der bissige Unterton machte Barnaby neugierig - das gefiel ihm. Zuviel Liebreiz und Güte konnten, seiner Meinung nach, mit der Zeit abstoßend sein. Ihm gefiel es, wenn die Menschen, wie er es nannte, »Ecken und Kanten« hatten. Er fragte sich, welche Stellung Phyllis Cadell in diesem Haushalt einnahm und ob sich für sie nach Henrys und Katherines Hochzeit etwas änderte. Bestimmt würde jede neue Ehefrau die Zügel allein in die Hand nehmen wollen. Und mit einem behinderten Mann an ihrer Seite mußte sie außergewöhnlich tüchtig sein. Er betrachtete Miss Laceys leicht sonnengebräunte Hand, als sie an die Tür klopfte. Sie war kräftiger, als ihre sonstige blumenzarte Erscheinung es vermuten ließ.

»O Phyllis - tut mir leid, daß ich dich stören muß...« Barnaby betrat nach ihr das Zimmer und stand einer ziemlich pummeligen Frau mittleren Alters mit pferdeähnlichem Gesicht, stachelbeergrünen Augen und mausbraunen Haaren gegenüber - die Frisur mit den Ponyfransen und den kleinen Löckchen wirkte zu jugendlich, ja albern über dem langen, blassen Gesicht. Phyllis Cadell saß vor einem flimmernden Fernseher und hatte eine Schachtel mit Fondant-Pralinen auf dem Schoß.

»... es ist die Polizei.«

Die Frau zuckte erschrocken zusammen und sprang auf. Die Fondant-Pralinen flogen in alle Richtungen. Als sie sich bückte, war ihr Gesicht verdeckt, aber Barnaby hatte gesehen, wie die Angst in ihren Augen aufgeflackert war. Katherine bückte sich auch. Es waren verschiedene Sorten Fondant: Vanille, Mokka, Schokolade, und einige Pralinen waren mit Walnüssen oder Kirschen verziert.

»Die wirst du nicht mehr essen können, Phyllis.«

»Ich kann sie selbst aufheben, danke. Geh jetzt.« Sie stopfte wahllos die Pralinen in die Schachtel zurück und sah die beiden Männer immer noch nicht an.

»Dann begleitest du Chief Inspector Barnaby nachher hinaus?« Katherine erhielt keine Antwort; sie wandte sich zum Gehen um und sagte noch, bevor sie die Tür zumachte: »Es ist wegen Miss Simpson.«

Barnaby bemerkte, wie nach dieser Erklärung die Farbe in die Wangen der älteren Frau zurückkehrte, aber ungleichmäßig, so daß ihre Haut aussah, als wäre sie im Feuer geröstet worden. »Natürlich, die arme Emily«, sprudelte es aus ihr heraus. »Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht? Setzen Sie sich... nehmen Sie beide Platz.«

Barnaby entschied sich für den braunen Sessel neben dem Kamin und sah sich um. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre als im großen Salon. Die Möbel an sich waren nicht unbehaglich, aber das Zimmer wirkte unpersönlich ohne Nippes und Fotografien. Wenige Bücher. Ein paar Exemplare der Zeitschrift The Lady, geschmacklose Drucke an den Wänden und eine verdorrte Pflanze auf dem Fensterbrett. Wenn der Fernseher nicht gewesen wäre, hätte man meinen können, im Wartezimmer eines Zahnarztes zu sitzen. Phyllis Cadell schaltete den Fernseher aus und ließ sich ihnen gegenüber nieder. Die Angst, die bei der Ankunft der Polizisten offensichtlich gewesen war, hatte sie inzwischen unter Kontrolle. Sie richtete einen gleichgültigen Blick auf ihre Besucher. Lediglich ihre fest zusammengepreßten Knie und die angespannten Sehnenstränge an dem weichen, schwammigen Hals verrieten Barnaby, daß sie innerlich aufgewühlt und nervös war. Bereitwillig erzählte sie, was sie am Siebzehnten getan hatte und wo sie gewesen war. Am Nachmittag hatte sie in der Gemeindehalle bei den Vorbereitungen für den Reiterwettbewerb und die Tombola mitgeholfen, und am Abend hatte sie - »ich schäme mich, das einzugestehen, Chief Inspector« - vor dem Fernseher gesessen.

Das überraschte Barnaby kein bißchen. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie sich diese massige Gestalt, befreit von einzwängenden Korsetts, auf dem Waldboden herumwälzte. Dennoch schloß er diese Möglichkeit nicht gänzlich aus. Es war manchmal erstaunlich, welche Typen in anderen romantische Gefühle und Sehnsüchte wecken konnten. Wie oft hatte er seine Frau schon sagen hören: »Ich weiß nicht, was er an der findet«, oder - weniger oft: »Wieso gibt sie sich mit so einem Kerl überhaupt ab?« Nein, das, was dagegen sprach, daß sich Phyllis Cadell mit einem Liebhaber im Freien ausgetobt hatte, war nicht ihre unattraktive Erscheinung, sondern eher die Tatsache, daß sie bei einer Entdeckung nichts zu verlieren hätte. Im Gegenteil - wenn man bedachte, welchen Stellenwert unverheiratete Frauen mittleren Alters in der Gesellschaft einnahmen, könnte sie durch eine Liebschaft vermutlich sogar an Ansehen gewinnen. Aber weshalb war ihr dann der Schreck so in die Glieder gefahren, als sie hörte, daß die Polizei sie sprechen wollte?

»Um welche Zeit haben Sie die Gemeindehalle verlassen, Miss Cadell?«

»Lassen Sie mich nachdenken«, sie tippte sich mit einem bleichen Finger an die Oberlippe, »ich war fast die letzte ... es muß so gegen halb fünf gewesen sein, vielleicht Viertel vor fünf.«

»Sind Sie zusammen mit Miss Lacey gegangen?«

»Mit Katherine? Liebe Güte, nein! Sie ist viel früher gegangen. Sie war überhaupt nur ganz kurz da.« Ihr fiel auf, daß Troy interessiert aufsah und Barnabys unbewegliches Gesicht musterte, und stieß einen kleinen Laut aus, der Reue Vortäuschen sollte. »Lieber Himmel, hoffentlich habe ich jetzt nichts Falsches gesagt.«

»Haben Sie später das Haus noch einmal verlassen?«

»Nein, ich ging nach dem Abendessen sofort in mein Zimmer, schrieb ein paar Briefe und sah dann, wie ich bereits zum Ausdruck brachte, fern.«

Wie ich bereits zum Ausdruck brachte, dachte Troy und schrieb eifrig mit. Die Leute drückten sich oft so eigenartig aus, wenn sie mit Polizisten sprachen. Sie benutzten Formulierungen, die ihnen sonst nie einfallen würden. Er hörte zu, als Miss Cadell detailliert erzählte, welche Sendungen sie sich angesehen hatte, dann setzte sie hinzu, als fürchte sie, sich durch ihre genaue Schilderung verdächtig zu machen: »Ich erinnere mich nur daran, weil es ein Freitag war. Da kommt immer die Sendung für Gartenliebhaber, müssen Sie wissen.«

Die hatte Barnaby auch gesehen - er ließ sie sich nie entgehen, wenn er rechtzeitig Dienstschluß hatte. »Wohnt Personal hier im Haus?« fragte er.

»Nein, wir haben einen Gärtner und einen Jungen, der ihm hilft. Sie kümmern sich um das Grundstück, waschen die Autos und führen kleinere Reparaturarbeiten durch. Und dann ist da noch Mrs. Quine. Sie kommt ungefähr um zehn Uhr, macht sauber, putzt das Gemüse fürs Abendessen, kocht eine Kleinigkeit zu Mittag und geht um drei wieder. Ich bereite das Dinner zu, und sie räumt ab und spült das Geschirr, wenn sie am nächsten Morgen kommt. Ich hoffe, daß Katherine sie behält. Sie bringt immer ihre kleine Tochter mit - nicht jeder Arbeitgeber akzeptiert Kinder. Seltsamerweise hat Mrs. Quine auch bei Miss Simpson gearbeitet. Sie war jeden Morgen eine Stunde bei ihr, bevor sie zu uns kam ...«

»Werden Sie nach der Hochzeit weiterhin hier wohnen, Miss Cadell?«

»Lieber Himmel, nein!« Sie gab ein ersticktes Jaulen von sich, das auch ein Lachen hätte sein können. »Ein Haus verträgt keine zwei Herrinnen. Nein, ich werde ausquartiert. Henry hat einige Cottages auf seinem Anwesen. Und zwei davon ... wie sagt man das?... stoßen direkt aneinander und haben eine Verbindungstür. Dort ist auch ein kleiner Garten. Es ist... sehr hübsch.«

Nicht so hübsch, wie Hausherrin von Tye House zu sein, dachte Barnaby und sah wieder den wunderschönen Anblick der Orangerie vor sich. Nicht annähernd so hübsch.

»War Mr. Trace lange Witwer?« Da war sie wieder, die aufflackernde Angst. Phyllis Cadell wandte sich ab und betrachtete den nichtssagenden Druck an der Wand.

»Ich verstehe nicht, welche Bedeutung das im Zusammenhang mit Miss Simpsons Tod haben soll.«

»Ich bitte um Verzeihung.« Detective Chief Inspector Barnaby wartete. Seiner Erfahrung nach hatten Menschen (abgesehen von knallharten Verbrechern), die etwas zu verbergen hatten, und solche, die nichts zu verbergen hatten, eines gemeinsam: Wenn sie einem Polizisten, der Fragen stellte, gegenübersaßen, konnten sie nie lange schweigen. Nach einer Weile fing Phyllis Cadell tatsächlich an zu sprechen. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als könnte sie es gar nicht erwarten, sie loszuwerden und die Sache hinter sich zu bringen.

»Bella starb vor ungefähr einem Jahr. Im September. Ein Jagdunfall. Es war eine schreckliche Tragödie. Sie wurde nur zweiunddreißig Jahre alt. In der Lokalzeitung stand damals ein ganzer Artikel über den Unfall.«

Das alles kommt in einem Atemzug über ihre milchweißen Lippen, dachte Barnaby, und laut sagte er: »Kamen Sie zu diesem Zeitpunkt her, um den Haushalt zu führen?«

»O nein. Ich zog gleich nach der Hochzeit hier ein. Bella hatte nicht das geringste Interesse an Hausfrauenpflichten. Ihre Vorlieben lagen woanders - beim Reiten und Fischen. Und sie kümmerte sich natürlich um Henry. Sie waren etwa fünf Jahre verheiratet, als sie starb.«

»Miss Lacey scheint ein wenig jung zu sein, um so schwerwiegende Aufgaben zu übernehmen«, bemerkte Barnaby, aber sie ging nicht auf die Herausforderung ein: Mittlerweile hatte sie ihre Emotionen fest im Griff.

»Oh, ich weiß nicht. Ich denke, sie wird eine sehr charmante Hausherrin sein. Und jetzt«, sie stand auf, »wenn das alles ist...«

Sie führte sie entschlossenen Schrittes die Treppe hinunter zur Eingangshalle und machte unvermittelt zwischen zwei alten, einstmals mit Goldlack überzogenen Holzstatuen halt. Einen Moment lang standen sie alle auf dem schwarzweiß getäfelten Boden wie Schachfiguren, als könnten sie ihre nächsten Schritte erst tun, wenn sie jemand vorwärts schob. Phyllis trat von einem Fuß auf den anderen (die bedrängte Dame des königlichen Spiels), dann begann sie: »Äh ... Sie müssen gedacht haben, daß ich bei Ihrem Anblick vorhin ziemlich erschrocken bin, nicht wahr?«

Barnaby sah sie mit höflichem Interesse an. Troy stellte Blickkontakt mit der größeren der beiden Statuen her - einem gekrönten König mit vagen, verblaßten Spuren von Blau an den Augen.

»Die Wahrheit ist... ich ... na ja, es geht um meine Kraftfahrzeugsteuer. Sie wissen ja, wie das ist...« Ein unsicheres Lächeln bebte über ihre Lippen, etablierte sich und legte kräftige, fleckige Zähne bloß. »Man nimmt sich immer vor, sich den Zahlungstermin zu notieren ...«

»Ja«, stimmte der Chief Inspector zu, »das ist ein vernünftiger Gedanke.«

Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, sagte Troy: »Bemitleidenswert.« Das konnte sich auf die Erscheinung der Frau, auf ihre Position im Haushalt oder die ungeschickte und offensichtliche Lüge mit der Autosteuer beziehen. Barnaby mußte ihm recht geben - in allen drei Punkten.

Katherine Lacey schlenderte langsam über den gepflasterten Hof und sah den beiden Polizisten nach. Trotz des heißen Wetters fröstelte sie. Benjy saß in dem Verschlag neben dem ersten Silo und winselte traurig. Sie ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm. Er fing an zu zappeln. Sein Fell verschob sich über den Rippen - er war nur noch Haut und Knochen.

»Liebling?« Sie hörte das leise Rumpeln, als Henry die Stufe vor der Küche überwand und auf sie zurollte. Sie setzte den Hund ab. »Stimmt etwas nicht?«

Sie rang um Fassung, ehe sie sich zu ihm umdrehte, und schüttelte stumm den Kopf. Das schimmernde dunkle Haar umwehte ihr Gesicht.

»Ist es wegen Benjy? Du mußt den Dingen ihren Lauf lassen, Kate. Wir beide haben doch alles versucht. Er will schlicht und einfach nicht fressen. Bitte... laß mich den Tierarzt rufen...«

»Oh - warte noch einen Tag!«

»Benjy ist ein alter Hund. Er vermißt sie sehr. Wir können nicht einfach Zusehen, wie er sich zu Tode hungert.«

»Es ist nicht nur das.« Sie kauerte sich unbeholfen neben den Rollstuhl. »Es ... ich kann es gar nicht erklären ... o Henry ...« Sie nahm seine Hände. »Ich habe so ein schreckliches Gefühl...«

»Was meinst du damit?« fragte er nachsichtig und lächelte sie an. »Was ist das für ein Gefühl?«

»Ich kann es nicht genau beschreiben... es ist nur so - alles läuft schief für uns. Die Hochzeit wird nicht stattfinden ...«

»Das ist doch Unsinn.«

»Ich wußte, daß du das sagen wirst. Aber du verstehst das nicht...« Sie brach ab und musterte sein Gesicht. Freundlich, hübsch, eine Spur stolz und selbstgefällig. Und warum auch nicht? Der Stammbaum der Traces reichte zurück bis zur Zeit der Normannen. Steinplastiken von Sir Robert Trace, seiner Gemahlin und ihrer Katze ruhten bis in alle Ewigkeit in der kühlen Kapelle aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die Traces hatten ein bescheidenes Maß ihres edlen Blutes in den beiden Weltkriegen vergossen und waren, mit Ehrenorden dekoriert, zu ihren Junkerpflichten zurückgekehrt. Sie brauchten sich keine Sorgen um mangelnde Anbauflächen zu machen - ihre Ländereien waren so groß, daß sie immer genügend Erträge einfahren konnten.

»... du kannst das nicht verstehen«, wiederholte Katherine. »Weil du dir nie etwas gewünscht hast, was du nicht haben konntest, weißt du nicht, daß das Leben nicht immer so reibungslos verläuft. Die Dinge, die geschehen sind... der Tod von Miss Simpson ... und jetzt Benjy - und Michael, der sich weigert, am Samstag zu kommen ... Ich glaube, das alles sind Omen.«

Henry Trace lachte. »Hüte dich vor den Iden des März!«

»Lach nicht.«

»Tut mir leid, Liebes, aber soweit ich es sehe, kreischt und schnattert niemand in den Straßen.«

»Was?«

»Und was Michael betrifft - seine Weigerung ist wohl kaum ein Omen. Dir muß schon seit Wochen klar sein, daß er dich nicht zum Altar führen will, um dich mir zu übergeben. Du weißt doch, wie er ist.«

»Aber ich dachte ... bei meiner Hochzeit...«

»Möchtest du, daß ich mit ihm rede?«

»Das würde nichts ändern. Man könnte meinen, nach allem, was du für uns getan hast, würde er...«

»Schsch. Sag so was nicht. Ich habe gar nichts getan.« Als sie aufstand und sich gegen den Rollstuhl lehnte, sagte er: »Deine armen kleinen Knie, sie haben lauter Dellen von dem Pflaster.« Er hob ihren Rocksaum an und strich zärtlich über die geschundenen Stellen. »Arme Knie - Henry verscheucht die Schmerzen.«

Am Fenster hoch über ihnen wandte sich Phyllis Cadell abrupt ab. Sie schaltete den Fernseher ein und ließ sich in den nächsten Sessel fallen. Stimmen erfüllten den Raum. Auf dem Bildschirm versuchte ein Pärchen, verrückt vor hemmungsloser Habgier, einen Berg von Konservendosen zusammenzuhalten, während das Publikum mindestens ebenso hemmungslos Beleidigungen und Anfeuerungsrufe schrie. Die Frau grinste irre, verrückte dabei eine der Büchsen und brachte die Pyramide zum Einsturz. Phyllis drückte auf die Fernbedienung und sah ein törichtes Duo, das sich hingebungsvoll über ein Müsli hermachte. Der dritte Knopf der Fernbedienung aktivierte eine idyllische Szene: ein älteres Ehepaar, das im Kreise der liebenden Familie zufrieden die Glückwunschtelegramme zur Goldenen Hochzeit las. Der vierte Kanal sendete einen alten Schwarzweißfilm. Zwei Männer hielten einen dritten an den Armen fest, während Sterling Haydon ihn nach allen Regeln der Kunst verprügelte. Ein linker Haken ans Kinn, dann ein rechter. Zwei Hiebe in die Magengrube - der Mann schnappte nach Luft und stöhnte gequält. Ein Knie in die Leistengegend und ein Faustschlag in die Nieren.

Phyllis lehnte sich zurück. Sie nahm die Pralinenschachtel auf den Schoß und stopfte die Süßigkeiten in den Mund, ohne auf den Schmutz zu achten, der an ihnen klebte. Sie vertilgte ohne Unterbrechung eine Praline nach der anderen, als wollte sie ihren Zähnen Gewalt antun. Tränen liefen ihr über die Wangen.

4

»Ich denke, die Hochzeit wird eine ganz vornehme Sache. Mit lauter Adligen und so.« Troy richtete den Blick auf den Horizont, während er redete, und erfaßte voller Neid die Ausmaße von Henry Traces Besitz. Meilen um Meilen Wohlstand und Geld.

»Ohne Zweifel.« Barnaby wandte sich nach links und ging auf die einstöckigen Häuser zu. Troy, der nicht noch einmal so abgefertigt werden wollte, fragte nicht, ob und womit sein Boß die Haus-zu-Haus-Befragung fortsetzen wollte. Aber in diesem Fall setzte Barnaby ihn freiwillig in Kenntnis.

»Dieser Bungalow«, er deutete mit dem Kopf zum Ende der Siedlung, »interessiert mich. Da drin wohnt jemand, der alles scharf im Auge behält. Ich möchte hören, was die Nachbarn zu sagen haben.«

»Ich verstehe, Sir.« Mehr fiel Troy dazu nicht ein, aber es war ihm eine Genugtuung, daß der Chief Inspector ihn zumindest ein wenig ins Vertrauen gezogen hatte.

Im ersten Haus trafen sie niemanden an. Die Bewohner seien, wie die alte Lady von nebenan erklärte, Auswärtige aus London - und mindestens seit einem Monat nicht mehr hier gewesen. Und der Mann im anderen Haus kam jeden Werktag erst um sechs Uhr heim - er war Lehrer in Amersham. Troy notierte sich den Namen für die Abendschicht. Die alte Dame war wortkarg, was ihre eigenen Angelegenheiten betraf - sie gab lediglich an, daß sie am fraglichen Tag nicht ein einziges Mal ihr Haus verlassen habe. Dann nickte sie in Richtung Buchsbaumhecke und deutete mit dem Kinn zum nächsten Grundstück.

»Die sollten sie mal fragen, wo sie am Freitag war. Sie würde ihre Großmutter für einen Appel und ein Ei vergiften.« Man hörte im Nachbarhaus eine Tür zuschlagen.

»Und der Bungalow... ?«

»Über die weiß ich nichts.« Damit machte sie entschlossen die Tür zu.

»Komisch, nicht wahr?« sagte Troy, als sie zur Straße zurückgingen. »Ein winziger Ort wie dieser, und sie weiß nichts über die Leute, die im übernächsten Haus wohnen.«

»Das ist in der Tat merkwürdig«, stimmte Barnaby zu. Sie waren vor dem nächsten Haus angelangt, und Barnaby betätigte den Türklopfer, der wie ein Grimassen schneidender Kobold geformt war - er zog ihn an den Beinen und ließ los.

Eine noch ältere Lady erschien und bot ihnen beinahe dasselbe Spiel wie die erste, der einzige Unterschied war, daß sie ihrer Widersacherin als Blutgeld statt einem »Appel und ein Ei« einen »Penny« unterstellte. Dann legte sie ihre fleckigen, federleichten Knochenfinger auf den Ärmel des Chief Inspectors. »Hören Sie, junger Mann«, sagte sie, und plötzlich schien sie ihm die weitaus nettere der beiden alten Damen zu sein, »wenn Sie wissen wollen, was in dieser Gegend vor sich geht - oder wer was tut«, ein erschreckend boshaftes Kichern kam über ihre verwelkten Lippen, »sollten Sie mit Mrs. Rainbird von nebenan reden. Sie kann Ihnen genau sagen, was in Ihrem Taschentuch ist, wenn Sie sich im Stockfinstern hinter verschlossenen Türen schneuzen. Sie verbringt ihre ganze Zeit mit einem Fernglas im Dachgeschoß. Sie behauptet, sie sei Vogelliebhaberin und würde ihre gefiederten Freunde beobachten. Reine Tarnung.« Sie wiederholte die letzte Bemerkung noch einmal und tippte Barnaby dabei ans Revers. »In meiner Jugend stand man noch am Gartenzaun und hat vor den Augen aller geklatscht. Ich weiß nicht, was aus dieser Welt geworden ist - wirklich nicht.« Dann vertraute sie den Polizisten noch an, daß Mrs. Rainbird einen Sohn habe, der mit Särgen handelte und Bestattungen organisierte. »Er ist ein schmieriger kleiner Kriecher. Die Leute sagen über ihn, er würde seine Unterhosen im Kühlschrank aufbewahren ...Sie wissen schon.«

Sergeant Troy gab ein Schnauben von sich, das er rasch in ein Räuspern umwandelte. Barnaby, der bereits Bekanntschaft mit Rainbird gemacht hatte, konnte nur vermuten, daß die Leute recht hatten. Er bedankte sich bei der alten Lady und trat den Rückzug an.

Dem Bungalow hatte man den Namen Tranquillada verpaßt - Barnaby erinnerte das an eine abgeschwächte Version der spanischen Inquisition. Der Name hing am Hals eines Keramikstorchs, der seine Zeit auf einem Bein neben der Eingangstür verbrachte. Der ziemlich große Garten war äußerst gepflegt und voll mit Ziersträuchern und Rosen. Der silberne Porsche stand in der Auffahrt. Sergeant Troy entschied sich für den Klingelknopf und nicht für den Türklopfer, und ein schrilles Vogelzwitschern ertönte im Inneren des Hauses. Dennis Rainbird öffnete ihnen.

»Oh, hallo.« Er schien erfreut, Barnaby wiederzusehen. »Sie haben einen Freund mitgebracht?« Er schenkte Troy ein strahlendes Lächeln, das an der steinernen Miene des Sergeants abprallte wie ein Ping-Pong-Ball von einer Betonwand. »Kommen Sie herein, kommen Sie ... Mutter«, rief er über die Schulter, »es ist die Polizei.«

»Oh, ich habe sie schon erwartet«, flötete es von weit her.

Der Bungalow war größer, als man von außen vermuten konnte, und Dennis führte sie an etlichen offenstehenden Türen vorbei, ehe sie in den Salon kamen. Eine blitzende Küche, ein Schlafzimmer (ganz in Weiß und Gold gehalten) und ein zweites, hauptsächlich mit rotem Velour und viel Messing eingerichtetes Schlafzimmer.

»Ich bin im Salon, Denny«, trällerte die Stimme, wobei jeder Vokal vibrierte. Als sie den Raum betraten, erhob sich Mrs. Rainbird aus den weichen Daunenpolstern wie aus einem Nest.

Sie war unglaublich dick. Ihre Ausmaße waren wahrlich beeindruckend. Mindestens ein Viertel ihrer Größe schien ihre Frisur auszumachen, die steif und pagodenartig nach oben ragte - eine Landschaft von Türmen und Wellen, Spiralen und Locken, die in einer zur Seite geneigten Spitze endete wie ein Häubchen Softeis. Das kunstvolle Gebilde hatte die Farbe von Karamelbonbons. Mrs. Rainbird war in schrillen Farben geschminkt und trug einen violetten, ziemlich kurzen Kaftan, der massive Beine und winzige Füße freiließ. Der Chief Inspector erwiderte ihren direkten, scharfen Willkommensblick und stellte sich vor.

»Ich wußte, daß Sie auf dem Weg zu mir sind. Ich habe einen Wagen vorbeifahren sehen, als ich einige Schwalben auf den Telefondrähten beobachtete. Das ist ein bezaubernder Anblick - wie Notenzeichen auf den Linien.«

»Ah... vielleicht waren Sie die Person, die ich neulich morgens kurz sah, als ich die Church Lane entlangging? In Ihrem Dachgeschoß, wenn ich mich recht erinnere. Ein sehr günstiges Plätzchen, von dem aus man alles im Auge behalten kann.«

»Wir Ornithologen bevorzugen den Begriff Unterschlupfs Mr. Barnaby.« Sie schnappte kurz nach Luft. Barnaby bat sie um Vergebung, und sie wedelte mit der juwelengeschmückten Hand. »Warum nehmen Sie nicht Platz?« Barnaby versank in einem weichen, mit mehreren Schichten Häkelarbeiten verzierten Sessel.

»Und was ist mit Ihnen, mein Lieber?« Dennis tänzelte um Sergeant Troy herum. »Möchten Sie Ihre Beine nicht ein wenig entlasten?«

Troy, als überzeugter Macho, entschied sich für den härtesten Stuhl, setzte sich stocksteif hin und zog seinen Notizblock hervor. Ein durchdringendes Pfeifen zerriß die Luft.

»Denny? Das Wasser kocht.« Während sich ihr Sohn davonmachte, sagte Mrs. Rainbird zu Barnaby: »Sie können ein wenig Speis und Trank gut vertragen.« Sie erstickte seine Proteste mit einem: »Aber, aber. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie nicht vollkommen erschöpft sind, nachdem Sie all diesen Leuten Fragen gestellt haben, oder? Der Tee ist gleich fertig.«

Das stimmte. Wenige Augenblicke später kündigte ein leises Rattern Dennis’ Ankunft mit dem Teewagen an. Der Teewagen bog sich förmlich unter all den Platten und Tellern - winzige Sandwiches, die in die Form von Spielkartensymbolen geschnitten waren, und gehaltvolle Cremetörtchen. Mrs. Rainbird häufte eine Auswahl von allem auf einen Teller für Detective Chief Inspector Barnaby und reichte ihn ihm.

»Nein, Sie dürfen mir das nicht abschlagen, Mr. Barnaby.« (Sie nannte ihn während der ganzen Unterhaltung nur >Mister Barnaby<; vielleicht glaubte sie, daß Polizeibeamte ab einem gewissen Rang wie hochstehende Leute aus der Zunft der Mediziner ohne Titel angesprochen werden mußten.) »Es geht um das leibliche Wohl, verstehen Sie?«

Ihr Sohn schenkte Tee ein. Seine bleichen Finger flatterten über das Geschirr wie Schmetterlingsflügel. Er legte einen Teelöffel, in dessen Griff ein großer violetter Stein eingelassen war, auf eine Untertasse und hielt sie zusammen mit der gefüllten Tasse Barnaby hin. Der Chief Inspector fühlte sich angewidert, aber er nahm den Tee und lehnte sich zurück - er fand den Sessel ausgesprochen unbehaglich.

Dennis legte ein Anchovis-Kreuz, ein Lachs-Karo, ein Braten-Pik und ein Pasteten-Herz auf einen Teller, gab eine Meringue mit einer haselnußfarbenen, wurmartigen Füllung dazu und richtete dieses Arrangement und eine Teetasse auf einem Beistelltisch für Troy an. Dann tänzelte er zurück zu seiner Mutter, strahlte sie an, schüttelte ein paar Kissen auf und ließ sich zu ihren Füßen auf einem niedrigen Sitzpolster nieder.

Endlich ergriff Barnaby das Wort. »Wir stellen Nachforschungen wegen eines ungeklärten Todesfalles an...«

»Arme Miss Simpson«, unterbrach ihn Mrs. Rainbird. »Ich gebe immer den Eltern die Schuld.«

»... und wären dankbar, wenn Sie und Ihr Sohn uns sagen würden, wo Sie sich am vergangenen Freitag nachmittag und abend aufgehalten und was Sie getan haben.«

»Ich habe mich um die Blumenarrangements und die Pflanzen in der Gemeindehalle gekümmert. Sie haben doch sicher von dem Reiterwettbewerb gehört, oder?« Barnaby gab ihr zu verstehen, daß er Bescheid wußte. »Ich ging ungefähr um halb fünf - zusammen mit Miss Cadell von Tye House. Wie immer war ich eine der letzten. Ich fürchte, ich gehöre zu den schrecklichen Menschen, die immer alles selbst in die Hand nehmen müssen.« Ein bißchen selbstgefälliger Stolz. Sie hatte einen Mund wie ein Goldfisch - selbst in Ruhe war er ein wenig vorgeschoben und sah aus wie eine Schnute. »>Delegieren, Iris, delegieren< das sage ich mir immer und immer wieder, aber meinen Sie, das würde mir auch nur ein einziges Mal gelingen? ... Wo war ich stehengeblieben?«

»Sie waren eine der letzten, die die Gemeindehalle verließen.«

»Ach ja. Ich glaube, nur Miss Thornburn, unsere liebe Akela, blieb länger.«

»Ist Ihnen zufällig aufgefallen, wann Miss Lacey gegangen ist?«

»Kurz vor vier.«

»Sind Sie sicher?« Blöde Frage. Er ahnte bereits, daß er eher einer allwissenden Person gegenübersaß als einer bloßen Beobachterin. Mrs. Rainbird hatte offenbar Augen wie ein Adler und, was noch bedeutsamer war, das erhabene Desinteresse eines Adlers an seinen Opfern.

»Ziemlich sicher«, erwiderte Mrs. Rainbird. »Sie schlich sich davon - das ist meine Meinung -, und zwar in einer ausgesprochen verstohlenen Art und Weise.« Sie ließ sich dazu herab, bei ihren letzten Worten Sergeant Troy eines Blickes zu würdigen, um ganz sicherzugehen, daß er auch alles ganz genau mitschrieb. »Aber ich würde doch zu gern erfahren, wieso wir gefragt werden, was am Nachmittag geschehen ist. Wie ich hörte, starb Miss Simpson doch viel später.«

»Wir kennen den exakten Zeitpunkt des Todes nicht.«

»Jedenfalls war sie um etwa fünf Uhr noch am Leben, weil ich sie selbst gesehen habe.«

»Sie haben sie gesehen?«

»Natürlich.« Sie genoß diesen Moment seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Dennis verrenkte sich den Hals und grinste sie anerkennend an. »Ich war zufällig oben in meinem Unterschlupf und skizzierte den Flug von Ziegenmelkern. Emily lief im Eilschritt durch die Church Lane - sie kam aus der Richtung, in der der Wald liegt. Einmal blieb sie stehen und hielt sich die Seite. Ich habe noch überlegt, ob ihr vielleicht nicht gut ist, und wollte zu ihr gehen, aber dann kam Denny zum Tee nach Hause. Stimmt's, Schätzchen?« Festigte sich ihr Griff an seiner Schulter? Jedenfalls erwachten die funkelnden Juwelen zu neuem Leben.

»Mhm.« Dennis legte kurz die Wange an ihr Knie. »Ich komme gewöhnlich um halb sechs nach Hause, aber an diesem Abend...«

»Falls es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Rainbird, kommen wir später auf diese Einzelheiten zurück.«

»Ich kann es kaum erwarten.« Dennis biß sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht überzog sich mit einem rosigen Hauch vor Freude darüber, daß er Empfänger derart gebieterischer Instruktionen geworden war. Er schenkte Sergeant Troy ein Lächeln, das mindestens so süßlich und ekelhaft war wie die Meringue, die Troy in Angriff genommen hatte. »Ich glaube, dem Sergeant schmeckt das Maronenmus Lyonnaise nicht, Mutter.«

»Dann mußt du ihm unbedingt von der Mandelcreme geben ... Ja«, sie wandte sich wieder an Barnaby, »ich war ernsthaft in Sorge um sie. Ich hatte schon beinahe beschlossen, ihr nach dem Essen einen Besuch abzustatten, aber dann waren wir so in ein Monopolyspiel vertieft, daß ich mir dachte, es hätte Zeit bis zum nächsten Morgen. Sie hatte ja schließlich ein Telefon, und Miss Bellringer wohnt nicht weit weg. Wir haben an diesem Abend keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt, nicht wahr, Schätzchen?«

»Nein, wir sind richtige kleine Stubenhocker.«

»Und wer hatte die Schloßallee?«

»Ich, ich! Und einen ganzen Straßenzug auf der anderen Seite!« jubilierte Dennis.

»Trotzdem sah ich Katherine Lacey noch einmal. So gegen acht Uhr.«

»Tatsächlich? War das nicht ein wenig spät, um Ihrem Hobby zu frönen, Mrs. Rainbird? Welche Vögel sind um diese Zeit schon noch unterwegs?«

»Eulen, Mr. Barnaby.« Sie blitzte ihn scharf an.

»Ah.«

»Tiere der Nacht.«

»Stimmt.«

»Wir haben eine kleine Pause bei unserem Spiel gemacht, Denny kochte Kaffee, und ich schaute rein zufällig aus dem Fenster.«

»Ich verstehe. Haben Sie gesehen, wohin Miss Lacey ging?« Sie beugte sich vor, um die Spannung zu steigern, und, da ihre Hand immer noch auf der Schulter ihres Sohnes ruhte, tat er es ihr gleich.

Was für ein makabres Schauspiel, dachte Barnaby und fühlte sich unweigerlich an ein Stück von Joe Orton erinnert, in dem seine Frau im letzten Monat mitgewirkt hatte. Dieses seltsame Paar hätte blendend in die verdrehte Handlung gepaßt.

»Sie bog in die Church Lane ein.«

»Meinen Sie, sie hat jemanden besucht?«

»Das konnte ich nicht sehen. Die Straße macht eine scharfe Rechtskurve. Sie hatte einen der Beagles dabei und einen Brief in der Hand.«

»Dann ging sie möglicherweise nur zum Briefkasten.« Mrs. Rainbird zog eine Augenbraue hoch, bis sie aussah wie eine aufgemalte, dünne Mondsichel, und brachte damit zum Ausdruck, daß Barnaby ja denken konnte, was er wollte.

»Und haben Sie sie zurückgehen sehen?« erkundigte er sich weiter.

»Leider nein.« Ihre Stimme bebte verärgert. »Mrs. Paunce-foot rief an. Sie wollte noch einen Strauß Lilium regale für das Pult der Wettkampfrichter. Wenn ich das gewußt hätte«, sie schlug mit der Faust in ihre Handfläche, »wäre ich auf meinem Posten geblieben.«

Ihre Miene war mehr als nur verdrießlich. Sie schien vor Wut zu kochen, weil sie eine so günstige Gelegenheit verpaßt hatte. Offensichtlich konnte sie es nicht ertragen, wenn sie nicht immer ganz genau informiert war, was zwischen den Leuten und im Dorf vor sich ging. Von wegen nur den Flug von Ziegenmelkern zu skizzieren, dachte Barnaby und begann, Mrs. Rainbirds Sohn Fragen zu stellen.

»Ich war den ganzen Nachmittag im Geschäft, das kann Ihnen übrigens mein Partner bestätigen, bin um Viertel vor fünf gegangen, direkt nach Hause gefahren und hier geblieben.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Partner in Ihrem Geschäft haben, Mr. Rainbird.«

»Mutter hat mich dort zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag eingekauft. Ich hatte schon drei Jahre zuvor bei dem Unternehmen gearbeitet und wußte, daß ich nie etwas anderes tun will.« Er umarmte ihre Knie wie ein kleiner Junge. »Ich liebe diese Branche. Verstehen Sie?«

Barnaby heuchelte Verständnis. Im Grunde machte er sich keine großen Gedanken um Mr. Rainbirds Alibi. Er versprach sich Nützlicheres von seinem Besuch hier in Tranquillada - Hintergrundinformationen über die Dorfbewohner. Und Klatsch. Wenn er Iris Rainbird richtig beurteilte, konnte sie ihm beides bieten, solange er die Sache richtig anpackte.

Er sagte: »Mrs. Rainbird, ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar wir sind, daß wir uns an jemanden wenden können, der so aufmerksam und eine derart gute Beobachterin ist wie Sie. Mit Ihrer Hilfe können wir sicher einige Informationslücken füllen.« Die Haarpagode neigte sich anmutig. »Sagen Sie - Miss Lacey und ihr Bruder, leben sie schon lange im Dorf?«

»Ihr ganzes Leben lang. Obwohl sie nicht immer im Holly Cottage gewohnt haben. Ihre Eltern hatten ein wenig außerhalb auf dem Weg nach Gessler Tye ein großes Farmhaus. Das Land war nicht der Rede wert, sie hatten lediglich einen ziemlich großen Garten. Oh, damals waren sie sehr hochnäsig - Oberschicht, verstehen Sie? Mit alter Nanny, die schon seit langem auf die Sprößlinge der Familie aufpaßte, die Kinder gingen in Bedales auf die Schule, hatten Ponies und Autos, und alle fünf Minuten ging’s ab nach Frankreich. Schießen, jagen und reiten in den Ferien. Sie kamen sich vor, als wären sie adlig. Natürlich waren sie das nicht - kein Stammbaum und so.« Sergeant Troy schrieb nicht mehr mit. Er erkannte die Gehässigkeit in dieser Bemerkung sofort, konnte sich jedoch nicht zusammenreimen, wieso Mrs. Rainbird solche Vorbehalte gegen die Laceys hegte. »Die Leute mochten Madelaine, aber er war ein gräßlicher Kerl. Trank ’ne Menge und fuhr wie ein Verrückter. Er war auch gewalttätig. Man sagt, er hätte sie mißhandelt. Ziemlich herzlos ...«

»Genau wie sein Sohn«, warf Dennis impulsiv ein, seine fahlen Wangen wurden rot. Diesmal war nicht zu übersehen, daß sich die beringte Hand warnend um seine Schulter klammerte. »Zumindest... habe ich das gehört«, setzte er stammelnd hinzu.

»Die Kinder waren ungefähr dreizehn, als all das schöne Geld plötzlich weg war. Er hatte sich verspekuliert, eine zweite Hypothek aufgenommen, noch mehr riskiert und alles verloren. Das hat Madelaine umgebracht.«

»Meinen Sie das wörtlich?«

»Sicherlich. Sie fuhr ihren Wagen bei Flackwell Heath in die Themse. Sie war noch keine zwei Monate tot, als er ein junges Ding, das er in London kennengelernt hatte, heiratete und sich mit der Kleinen nach Kanada auf und davon machte.«

»Und die Kinder?«

»Na ja ... das war natürlich das Ende von Privatschulen und all dem Schnickschnack für sie. Sie kamen zurück und mußten wie alle anderen auch in Gessler Tye in die Schule gehen.« Genugtuung schwang in ihrer Stimme mit. Troy stimmte ihr unbewußt mit einem Nicken zu.

»Und wo haben sie gewohnt?«

»Jetzt kommen die Traces ins Spiel. Henry war einer der ersten, den Gerald Lacey um Geld angehauen hatte. Und Henry lieh ihm eine beträchtliche Summe. Ich glaube, er dachte im nachhinein, er hätte es besser nicht getan und statt dessen Gerald Lacey geholfen, eine andere Lösung für seine Probleme zu finden. Zumindest hat mir Mrs. Trace - ich meine, Bella Trace - diesen Eindruck vermittelt.«

Chief Inspector Barnaby versuchte sich vorzustellen, wie die verstorbene Mrs. Trace die finanziellen Angelegenheiten ihres Mannes mit Mrs. Rainbird besprach - es gelang ihm nicht. Er überlegte, woher sie diese Information sonst haben könnte.

»Daher das Holly Cottage.«

»Wie bitte?«

»Ursprünglich bewohnte ein Wildhüter das Haus. Henry bot es den Kindern an, und die alte Kinderschwester blieb bei ihnen, um sich um sie zu kümmern. Sie haben ihr das Leben zur Hölle gemacht und ihr ständig auf der Nase herumgetanzt, das können Sie mir glauben. Als sie älter wurden, gab es ständig Streitereien. Na, Sie wissen ja, wie Halbwüchsige sind. Nur mein Denny hat mir keinerlei Kummer bereitet.« Denny biß mit einem affektierten Grinsen in seine Vanilleschnitte. Ein Tropfen Creme, der sich in der Farbe kaum von seiner Haut unterschied, zierte seine Oberlippe. »Sie kam öfter bei uns vorbei, die arme Nanny Sharpe -, nur für eine Tasse Tee und ein bißchen Ruhe und Frieden. Die zwei Gören waren wie Hund und Katz. Haben Sie die Narbe in Michaels Gesicht gesehen?«

»Wir haben noch nicht mit Mr. Lacey gesprochen.«

»Sie hat ihm das angetan, seine Schwester. Sie hat ihm ein Bügeleisen nachgeworfen.« Ihr fiel auf, daß sich Barnabys Gesichtsausdruck plötzlich änderte. »Oh, Sie können mir ruhig glauben, Mr. Barnaby. Diese Unschuldsmienen täuschen jeden, aber die beiden können Sie sicher nicht hinters Licht führen.«

Mrs. Rainbirds Objektivität, die ihm zu Beginn des Gesprächs so imponiert hatte, schien sie vorübergehend im Stich zu lassen. Die Tatsache, daß ihr Sohn, den sie auf eine ungesunde Art und Weise bewunderte, beleidigt oder angegriffen worden war, schien immer noch an ihr zu nagen.

»Hat Mr. Trace die Laceys finanziell unterstützt?«

»O ja. Der Vater hat ihnen keinen Penny übriggelassen. Und soweit ich weiß, unterstützt Henry Michael auch heute noch. Aber Sie brauchen nicht zu glauben, daß er dafür ein Wort des Dankes erntet.«

»Dann arbeitet Mr. Lacey also nicht?«

»Wenn man diese Malerei Arbeit nennt...«

»Ist er erfolgreich? Verkauft er viele seiner Bilder?«

»Nein. Und das überrascht mich kein bißchen. Es sind häßliche, grelle, gewaltsame Machwerke. Sie sehen aus, als würde er die Farbe mit einer Schaufel auftragen. Aber er hat immer Leute, die ihm Modell sitzen - ist das zu glauben?«

»Ja«, schaltete sich Dennis ein. »Dieses Lessiter-Mädchen lungert immer dort herum. Aber sie erreicht nichts damit -er will sie nicht, das unappetitliche, plumpe Ding. Michael hat mich einmal gemalt, müssen Sie wissen.« Er warf den Kopf zurück und wandte Troy kokett sein bleiches Gesicht Zu.

»Es war ein gräßliches Bild.«

»Oh, er war zuckersüß zu mir in dem Monat, in dem er mein Porträt gemalt hat«, fuhr Dennis fort, »ich war ganz der liebe Junge. Dann, als er hatte, was er wollte, sagte er mir ins Gesicht, daß ich so schnell wie möglich Leine ziehen soll.«

»Denny! Mr. Barnaby, noch ein wenig kalten Braten?«

»Nein, danke. Lebt diese Nanny, Miss Sharpe, noch hier in der Gegend?«

»Mrs. Sharpe. Nein. Sie zog, sobald die Kinder für sich selbst sorgen konnten, nach Saint Leonards. Sie war froh wegzukommen. Damals waren die beiden etwa siebzehn, glaube ich. Sie hat nicht mal dran gedacht, bei uns hereinzuschauen, um sich zu verabschieden. Ich muß schon sagen, das hat mich ein wenig gekränkt. Die Traces haben mir ihre Adresse gegeben, und ich schrieb ihr ein paarmal, aber sie hat nie geantwortet. Ich schickte ihr noch eine Weihnachtskarte, dann gab ich es auf.« Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Es war offensichtlich, daß ihr ein ausgiebiges Abschiedsdrama mit weiteren Enthüllungen lieber gewesen wäre. Als sie zu einer anschaulichen Schilderung einer spektakulären häuslichen Auseinandersetzung im Holly Cottage anhob, vertrat sich Barnaby, der hin und wieder höflich nickte, die Beine und schlenderte zur Verandatür.

Der Rasen im Garten war unkrautfrei und kurz geschnitten. Blühende Bäume und Sträucher und ein hübscher Pavillon auf der anderen Seite. Er fragte sich, womit Mr. Rainbird sein Geld verdient hatte. Es mußte eine ganz schöne Menge gewesen sein, wenn man sich diesen Bungalow ansah und an Dennis’ Beteiligung im Bestattungsunternehmen und an sein silbernes Spielzeug in der Auffahrt dachte. Nicht zu vergessen, der überladene Teewagen.

Er drehte sich wieder um. Allmählich fühlte er sich ausgesprochen unwohl in dieser Umgebung. Obwohl der Tag warm war, hatten die Rainbirds die Heizung aufgedreht. Er betrachtete Dennis, der mit seinen blassen Wimpern klimperte, um Sergeant Troy zu beeindrucken - ob ihm wohl kalt war? Er hatte gewiß keine dicke Isolierschicht auf den Knochen.

Das Zimmer wirkte erdrückend. Es war gestopft voll mit protzigen, geradezu wollüstigen Möbelstücken. In einer Vitrine stand Porzellan, hauptsächlich Capo da Monti, überall saßen Puppen in verschiedenen Landestrachten, und an den Wänden hingen scheußliche Bilder. Barnaby hatte eines direkt im Blick; es zeigte einen Spaniel, dem - Barnaby sah ungläubig genauer hin - Tränen über die Wangen liefen. Der ganze Plunder war das, was seine Tochter als Absurdität des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen würde.

»Ich danke Ihnen sehr, Mrs. Rainbird«, dämmte er ihren Wortschwall freundlich, aber entschlossen ein.

»Nicht der Rede wert, Mr. Barnaby.« Sie schleuderte ihm ihre blitzende Hand entgegen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu ergreifen. Es war, als würde man einen Teigklumpen anfassen. »Wozu sind wir denn da, wenn nicht dazu, uns gegenseitig zu helfen?«

Während die beiden Polizisten die Auffahrt hinuntergingen, brummte Sergeant Troy: »Männer wie der müßten kastriert werden.« Da Barnaby nicht antwortete, fügte er noch ein einschmeichelndes »Sir« hinzu und fuhr fort: »Und die Mutter - ein widerliches altes Tratschweib.«

»Mrs. Rainbird und Leute wie sie sind ein Gottesgeschenk bei jeder Ermittlungsarbeit, Troy. Man darf nur nicht den Fehler machen, Klatsch als Tatsachen zu werten. Und wenn sie behaupten, daß das, was sie sagen, die absolute Wahrheit ist, darf man nie vergessen, alles noch einmal gründlich nachzuprüfen. Niemals voreilige Schlüsse ziehen, Sergeant, und immer für alles offen sein.«

»Ja, Sir.«

Sie gingen weiter zum Burnham Crescent und dem Mietshaus Nummer sieben, der Wohnung von Mrs. Quine.

Als Barnaby und Troy durch die mit verrotteten Pfosten markierte Lücke in der dürren, staubigen Hecke traten, schlossen Mrs. Rainbird und ihr Sohn die Tür von Tranquillada und sahen sich strahlend vor Erregung an.

»Hast du es?«

»Mummy - ja!«

»Ohhh... wo? Wo?«

»Wart eine Minute. Du hast nicht gesagt...«

»Du bist ein guter Junge. Zeig es mir.«

»Nein.« Sein Gesicht schimmerte unangenehm orange unter der Laterne in der Halle und nahm einen trotzigen Ausdruck an. »Das war nicht richtig. Du mußt es richtig machen.«

»Du bist ein guter Junge«, flötete sie und küßte ihn voll auf den Mund. Ihr Atem roch süß nach Pfefferminzpillen und Vanille. »Mummys allerbester Junge.« Ihre weichen Finger glitten unter sein Hemd und liebkosten seine knochigen Schulterblätter. »Mummys bester und einziger Junge.«

Er leckte ihr Ohr mit den langen Rheinkiesel-Clips ab. »Mmmm.« Sein Atem beschleunigte sich. »Schlauer Denny.«

»Jetzt«, sie nahm seine Hand, zog ihn ungeduldig durch den Flur zur Terrassentür und in den Garten, »zeig es mir.«

»Ich will noch ein bißchen spielen.«

»Wir spielen später.«

»Mit allem?«

»Mit allem. Komm schon... wo ist es?«

Sie gingen über den Rasen, umrundeten den Pavillon. Dahinter lag ein Haufen von etwas Tropfnassem - das Wasser breitete sich in konzentrischen Ringen um dieses Etwas aus. Dennis führte seine Mutter stolz näher. Hand in Hand betrachteten sie den Haufen. Mrs. Rainbirds Augen glänzten.

»Wo hast du es gefunden?«

»In dem Weiher hinter dem Buchenwald. Ich hab’ gesehen, wie sie es hineingeworfen haben. Sie hatten Steine daran gebunden.«

Sie schwieg und stieß zufrieden den Atem aus.

»Mein schönes Auto ist ganz naß geworden. Ich mußte das Ding in den Kofferraum legen, verstehst du.«

»Wir kaufen dir ein neues.«

»O Mummy ...« Er drückte ihr hellauf begeistert den Arm.

»Dann glaubst du, es ist viel wert?«

»O ja, mein Liebling.« Sie trat einen Schritt vor und stocherte mit der Schuhspitze in der durchweichten Masse. »Es ist sehr, sehr viel wert. Wirklich sehr viel.«

5

Der Garten von Nummer sieben war eine Müllkippe. Im wahrsten Sinne des Wortes. An einer Hauswand lehnte ein Haufen Schrott. Bettgestelle, kaputte Kinderwagen, alte Kisten, rostige Eisenketten und ein zerbrochener Hasenkäfig. Die Vorhänge im Erdgeschoß waren zugezogen. Barnaby rüttelte am Briefkasten. Im Haus weinte ein Kind. Eine Frauenstimme schrie: »Halt den Mund, Lisa Dawn.« Dann: »Eine Minute, ich komme gleich.« Das konnte dem Kind oder den wartenden Polizisten gelten.

Schließlich erschien Mrs. Quine. Sie war dünn mit eingefallener Brust und roten Flecken um den Mund. Sie rauchte und machte, selbst wenn sie Stillstand, den Eindruck, ständig auf dem Sprung zu sein.

»Kommen Sie rein.« Sie trat zurück, um die Polizisten ins Haus zu lassen. »Meine Nachbarin hat mir schon erzählt, daß Sie überall herumgehen.«

Das Zimmer, in das sie kamen, war voller Qualm, und die Deckenleuchte - ein Holzgestell mit Pergamentschirm - verbreitete trübes Licht. Der Fernseher plärrte laut, aber Mrs. Quine machte keinerlei Anstalten, den Ton leiser zu drehen. Es war nicht aufgeräumt und auch nicht besonders sauber. Ein kleines Mädchen saß an einem Plastiktisch und schluchzte und schniefte.

»Sieh mal, wer da kommt, Lisa Dawn.« Das Kind richtete den Blick auf Barnaby. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich die Polizei hole, wenn du nicht brav bist.« Wieder flossen Tränen. »Schauen Sie, was sie gemacht hat, Herr Polizist.« Mrs. Quine nahm etwas Dunkles, Feuchtes vom Tisch. »Ihr Bilderbuch von der Geburt Jesu. Sie hat es erst zu Weihnachten bekommen. Überall verschmierte schwarze Johannisbeeren.« Sie schlug das Buch auf. Jesus, Maria, Josef und die Tiere im Stall, bunt und reich verziert, erhoben sich aus der Seite. »In diesem Haus bleibt nichts auch nur für fünf Minuten schön und neu.«

»Es war sicher ein Versehen.« Barnaby lächelte Lisa Dawn an. Sie rieb sich traurig die Augen und schniefte wieder. Er wandte sich an Mrs. Quine, die nervös im Zimmer umherlief, dabei heftig an ihrer Zigarette zog und die Asche achtlos auf dem Boden verstreute. »Ich bin immer im Streß«, erklärte sie.

»Soviel ich hörte, haben Sie für Miss Simpson gearbeitet.«

»Das stimmt. Bei ihr und im Tye House. Ich war auch bei der anderen alten Schachtel, aber nur eine Woche. Sie sagte, ich kann machen, was ich will, solange ich ihre Sachen nicht verstelle. Wie kann man richtig sauber machen, wenn man nichts anfassen darf, können Sie mir das vielleicht sagen?«

»Sprechen Sie von Miss Bellringer?«

»Ganz genau.«

»Sind Sie am Morgen nach Miss Simpsons Tod zur üblichen Zeit zu ihr gegangen?«

»Natürlich - ich hatte keinen Grund, nicht zu ihr zu gehen. Miss Bellringer schaute aus dem Fenster. Sie kam raus und sagte mir Bescheid. Sie können sich setzen, wenn Sie wollen.«

»Wie bitte? Oh, danke.« Barnaby hockte sich auf die Kante des schmuddeligen schwarzen Vinylsofas. Aus einem der Polster quollen verschiedenfarbige Schaumstoffschnipsel aus einem Schlitz.

»Sie gab mir eine Tasse Tee für den Fall, daß ich mich schlecht fühle. Danach ging ich zum Tye House.«

»Es muß ein Schock für Sie gewesen sein.«

»Klar. Der Doktor war erst kurz vorher bei ihr. Sie hatte es mit den Bronchien zu tun, aber er meinte, wenn sie gut auf sich aufpaßt, würde sie es noch gut zehn Jahre machen.« Mrs. Quine zündete sich eine frische Zigarette am Stummel der alten an. »Jetzt wissen wir, warum sie sterben mußte, nicht wahr? Verdammte Vergewaltiger. Gerade gestern hat man einen ganz groß im Fernsehen gesehen. Ich weiß genau, was ich mit so einem machen würde.« Sie setzte sich an den Kamin und warf die Zigarettenkippe auf den leeren Rost. Ihr Fuß trommelte heftig auf den Teppich. Sie inhalierte den Rauch mit solcher Kraft, daß sich ihre Wangen nach innen zogen. »Armes altes Mädchen. Und das in ihrem Alter!«

Barnaby ersparte sich jeglichen Kommentar zu dieser wilden Spekulation und fragte statt dessen, ob Miss Simpson eine gute Arbeitgeberin gewesen sei.

»O ja ... sie mochte es, wenn alles so war wie immer, aber ich kannte mich aus bei ihr. Wir sind gut miteinander ausgekommen.«

»Und wie ist es im Tye House?«

Sie lächelte entgegenkommend und entblößte glatte, falsche Zähne. »Sie haben sich dort schon umgesehen, nicht wahr?« Als Barnaby nickte, fuhr sie fort: »Komische Leute, was? Die alte Phyllis Cadell läßt nicht locker. Man merkt sofort, woher bei der der Wind weht. Sie wollte unbedingt den leeren Platz an seiner Seite einnehmen. Sie hat sich schon mächtig ins Zeug gelegt, als Mrs. Trace noch lebte. Sie machte sich unentbehrlich - wenigstens hat sie sich das eingebildet. Sie hätten sie nach dem Jagdunfall erleben sollen! Sie hat immer versucht, betrübt auszusehen, solange jemand in der Nähe war. Von wegen betrübt! Sie war außer sich vor Freude. Man konnte ihr richtig ansehen, womit sie als nächstes rechnete. Dann fing Miss Großbritannien vom Holly Cottage an, ständig ein und aus zu gehen, und schnappte ihr den Jackpot vor der Nase weg. An dem Morgen, an dem die Verlobung bekanntgegeben wurde, dachte ich, Miss Cadell würde sich unter den nächstbesten Bus werfen. Da hab’ ich was mitgemacht, das kann ich Ihnen sagen.«

»Um zum letzten Freitag zurückzukommen, Mrs. Quine... waren Sie am Nachmittag in der Gemeindehalle?«

»Ich? Mit diesem Volk herumlungern? Sie machen wohl Witze? Frauenorganisation - ein Haufen hochnäsige Snobs sind das. Sie können sich ihre Blumenarrangements sonstwohin stecken. Genau wie ihre verdammten eingelegten Walnüsse und das ganze andere Zeug.«

»Dann waren Sie also zu Hause?«

»Ja. Vor dem Fernseher. Stimmt’s, Lisa Dawn? Den ganzen Nachmittag. Nur Lisa Dawn ist in den Laden gelaufen, um ein paar Chips zu holen.« Barnaby sah Lisa Dawn an, deren dünne Beinchen mindestens vierzig Zentimeter über dem Boden baumelten. Mrs. Quine schien zu erraten, was er dachte, und setzte hinzu: »Sie kann prima ganz allein über die Straße gehen. Und sie kommt immer sofort zurück. Sie ist schon ein großes Mädchen, das bist du doch, oder? Sag dem netten Polizisten, wie alt du bist.«

»Bald vier«, flüsterte das kleine Mädchen.

»Du bist schon vier. Sie ist gute vier«, stellte Mrs. Quine klar, als würde sie über die Schuhgröße von jemandem reden. »Und wer hat dir Bonbons in dem Laden gekauft?«

»Judy.«

»Tante Judy. Das ist Doktor Lessiters Tochter. Sie schenkt ihr oft etwas. Zu Ostern hat sie ihr ein großes Ei mit einem Häschen drin gekauft.« Lisa Dawn fing wieder an zu weinen. »O Gott - sei still, ja? Was sollen denn die Herren von dir denken? Ich hätte das nicht sagen dürfen ... das mit dem Ei. Der Hund von nebenan hat sich von seiner Kette losgerissen und ihren Hasen gepackt.«

»Armer Smokey.«

»Schon gut, schon gut. Du bekommst einen anderen.«

»Wie spät war es, als Ihre Tochter zum Laden ging?«

»Genau weiß ich das nicht mehr. Wir haben Söhne und Töchter zu Ende gesehen, das läuft, glaube ich, bis kurz nach drei.«

»Und das war wirklich am Freitag, dem siebzehnten?«

»Das hab’ ich doch gesagt, oder?« Sie zündete sich die dritte Zigarette an.

»Und Sie waren auch den ganzen Abend daheim?«

»Ich kann nirgendwohin wegen der Kleinen.«

»Ich danke Ihnen.« Während Troy ihre Aussage noch einmal vorlas, rauchte Mrs. Quine, tippte unruhig mit dem Fuß auf den Boden und seufzte. Barnaby versuchte, mit Lisa Dawn zu reden, aber das Kind wich vor ihm zurück und wandte den Kopf ab. Die kleinen Ärmchen waren mit häßlichen blauen Flecken übersät. Bevor sie die angefaulten Torpfosten erreichten, hörte Barnaby sie wieder weinen.

Barnaby schaltete in seinem Büro den Ventilator ein und bat darum, daß ihm jemand Kaffee und ein Sandwich aus der Kantine holte. Bevor die Polizistin Brierley seine Wünsche erfüllte, sagte sie: »Ich habe Ihnen eine Nachricht auf den Tisch gelegt, Sir. Eine Miss Bazely hat sich gemeldet und ihre Büronummer hinterlassen. Sie bittet um einen Rückruf.«

Barnaby nahm den Hörer ab und wählte. Die blauen Propeller des Ventilators brummten zwar heftig, richteten jedoch nicht viel aus; sie wirbelten lediglich die heiße Luft in Barnabys schweißnasses Gesicht. »Miss Bazely? Hier Detective Chief Inspector Barnaby.«

»O ja ... hallo. Sie erinnern sich, daß ich neulich, als wir miteinander sprachen, das Gefühl hatte, etwas vergessen zu haben?«

»Ja.«

»Mir ist wieder eingefallen, was es war. Soll ich es Ihnen jetzt gleich sagen?«

»Ja, bitte.«

»Ich war gestern mit meiner Schwester in High Wycombe. Sie heiratet im nächsten Monat, und ich bin ihre Brautjungfer, verstehen Sie. Wir waren bei der Anprobe meines Kleides. Das Geschäft ist ganz in der Nähe vom Bahnhof und heißt Anna Belinda. Und genau das sagte Miss Simpson bei dem Telefongespräch. Zumindest beinahe.«

»Können Sie sich an Genaueres erinnern?«

»Ja. Sie sagte: >Genau wie die arme Annabella.<«

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

»Nicht nur >Bella<?«

»Nein. Sie sagte eindeutig >Annabella<.«

Barnaby legte auf und starrte nachdenklich den Telefonapparat an. Sein Sandwich (Hühnchen mit Wasserkresse) und köstlicher Kaffee aus der Büromaschine wurden ihm gebracht. Barnaby nahm alles entgegen und wies die Polizistin Brierley an: »Rufen Sie das Jugendamt an. Ich denke, sie sollten jemanden zum Burnham Crescent Nummer sieben in Badger’s Drift schicken.«

»Was soll ich ihnen sagen, Sir?«

»Oh ... es handelt sich um Kindesmißhandlung. Der Name der Frau ist Quine. Sie selbst braucht auch Hilfe. Sie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch, würde ich sagen. Und fragen Sie in Slough nach der Adresse und der Telefonnummer einer Mrs. Norah Whiteley. Sie ist Lehrerin in einer Privatschule. Ein neunjähriger Sohn.« Er biß beherzt in sein Sandwich und reduzierte es auf die Hälfte, dann nahm er wieder den Telefonhörer in die Hand und wählte. »Miss Bellringer? Wissen Sie zufällig, ob Ihre Freundin eine Annabella kannte?« Langes Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann eine abschlägige Antwort. »Könnte sie vielleicht die verstorbene Mrs. Trace damit gemeint haben?«

»O nein... ihr Name war Beatrice. Sie nannte sich Bella, weil sie glaubte, das würde schöner klingen.«

»Wußte das auch Miss Simpson?«

»Ganz bestimmt. Ich erinnere mich, daß sie mir gegenüber äußerte, Mrs. Trace hätte sich falsch entschieden. Sie hielt Beatrice für einen sehr schönen Namen, aber Bella fand sie eher gewöhnlich.« Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. »Vor Jahren hatte ich eine Isabella in meiner Musikklasse. Ein braves, untadeliges Kind. Ich glaube, sie ist jetzt Diakonissin. Hilft Ihnen das weiter?«

Barnaby dankte ihr und verabschiedete sich. Er hatte für einen Moment vergessen, daß Miss Simpson beinahe vierzig Jahre lang Lehrerin gewesen war. Es bestand durchaus die Chance, daß sie - auch wenn der Name nicht gerade häufig vorkam - im Laufe dieser langen Zeit ein oder zwei Annabellas neben all den Joans und Janes unterrichtet hatte. Und offenbar hatte sich Miss Simpson an eine Annabella erinnert gefühlt, als sie das sich liebende Pärchen entdeckt hatte. Wie früh haben die Mädchen vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren mit derlei Abenteuern angefangen? Wahrscheinlich genauso früh wie heute, überlegte er. Manche Dinge ändern sich nicht.

Warum »arme Annabella«? Er trank einen Schluck Kaffee und beobachtete aus den Augenwinkeln eine Spinne, die sich beim Herunterlassen von der Decke hin-und herschwang. War Annabella im wahrsten Sinne des Wortes arm, also mittellos? Moralisch auf Abwege geraten? Tot? Barnaby dachte über all die Menschen nach, die eine achtzigjährige Frau in ihrem langen, erfüllten Leben kennengelernt haben mochte. Und über die Schicksale, von denen sie gehört oder gelesen hatte. Er seufzte, nahm noch einen Bissen von seinem Sandwich und sah den Tatsachen ins Auge. Weiß der Teufel, wer diese Annabella war, diese Spur führte ihn sicher nicht weiter.

»Kann ich irgend etwas tun, Sir?« fragte Troy.

»Ja.« Barnaby trank den Kaffee ganz aus. »Fahren Sie mich zum Echo. Ich möchte den Artikel über Bella Traces Tod lesen.«

»Sie glauben doch nicht, daß es da eine Verbindung gibt, oder?«

»In diesem Stadium glaube ich noch gar nichts. Aber es ist auch ein unnatürlicher Tod in einem kleinen Dorf, und involviert waren all diejenigen, die wir auch jetzt als Verdächtige ansehen müssen. Das dürfen wir nicht außer acht lassen. Also - trinken Sie Ihren Tee aus, und halten Sie die Augen offen.«

Im Keller unter den Büros des Causton Weekly Echo sprach Barnaby mit einem alten Mann, der ebenso zum Inventar zu gehören schien wie die alten grünen Aktenschränke und rostigen Wasserleitungen, die über die hintere Wand verliefen. Außerdem war da noch ein riesiger Boiler, der im Moment nicht eingeschaltet und ganz still war.

Barnaby bat darum, die Ausgaben vom September und Oktober des letzten Jahres einsehen zu dürfen. Der alte Mann schlurfte zu den Aktenschränken und wieder zurück. Er sagte kein Wort und nahm nicht einmal die locker gedrehte, unangezündete Zigarette aus dem Mundwinkel. Ein paar Tabakkrümel fielen auf die Zeitungen, als er sie Barnaby übergab. Barnaby nahm sie mit zu einem Stehpult am Fenster. Das Licht, das durch die dicken Milchglasscheiben fiel, war spärlich, und man hörte von oben die Schritte hin-und herlaufender Menschen. Barnaby blätterte die ersten beiden Ausgaben durch. In der dritten fand er den ausführlichen Bericht über die gerichtliche Untersuchung über Bella Traces Tod, er nahm mehr als eine halbe Seite ein.

Die Jagdgesellschaft war recht klein gewesen: Henry Trace, David Whiteley (der taktvoll, aber überflüssigerweise als Assistent von Mr. Trace bezeichnet wurde), Doktor T. Lessiter, der Freund und Hausarzt von Mr. Trace, Mrs. Trace, Miss Phyllis Cadell und zwei Nachbarn, George Smollett und Frederick Lawley; außerdem waren noch zwei Treiber, Jim Burnet, ein Farmersjunge, und Michael Lacey, ein junger Freund der Familie, dabei.

Mrs. Trace stand offenbar ein paar Meter von den anderen entfernt, als das Unglück geschah. Wie immer in solchen Fällen waren die Aussagen verwirrend und widersprüchlich. Doktor Lessiter meinte, sie sei gestolpert und im Fallen begriffen gewesen, als der Schuß losging, und deutete damit an, daß sie auf ihr Gewehr gestürzt war. Sie war schon vorher über eine Wurzel gestolpert. Der Doktor räumte jedoch ein, daß dieser erste Zwischenfall möglicherweise seine Sichtweise beeinflußt haben könnte. Michael Lacey behauptete, zuerst den Schuß gehört zu haben, aber nach näherer Befragung des Coroners schien er sich dessen nicht mehr ganz so sicher zu sein. Der Rest der Gruppe hatte nichts gesehen und war erst aufmerksam geworden, als Mrs. Trace bereits auf dem Boden lag. Mr. Trace, der verzweifelt versuchte, zu seiner Frau zu kommen, wendete seinen Rollstuhl zu schnell und kippte um. Die Hunde sprengten in alle Richtungen; es herrschte ein vollkommenes Chaos. Michael Lacey, der zu der Zeit Mrs. Trace am nächsten war, rannte zu ihr, erhielt aber Anweisungen vom Doktor, die verletzte Frau nicht anzurühren, sondern lieber loszulaufen und einen Krankenwagen zu rufen.

Allen Anzeichen nach lag Mrs. Trace, wie Doktor Lessiter aussagte, bereits im Sterben, als er zu ihr kam. Niemand konnte mehr etwas für sie tun. Sie sagte nichts mehr; sie hatte sofort das Bewußtsein verloren und starb einige Augenblicke später. Bei der Autopsie wurden einige technische Details festgestellt, die in dem Zeitungsartikel zur Sprache kamen: zum Beispiel der Einschußwinkel, der Schußkanal durchs Herz und die Lage der Austrittswunde. Ein Wirbel wurde durchschlagen und zersplittert. Doktor Lessiter und Mr. Trace ließen bei ihrer Aussage keinen Zweifel daran, daß alle Mitglieder der Jagdgesellschaft - mit Ausnahme von Jim Burnet

- entweder hinter oder links von Mrs. Trace postiert gewesen waren und demzufolge den tödlichen Schuß nicht abgefeuert haben konnten. Jim, der vorausgegangen war, hatte knappe dreißig Meter rechts von ihr gestanden und kam als Todesschütze auch nicht in Frage. Beide Treiber gingen auf Mr. Traces Anweisung später noch einmal zur Unglücksstelle, um nach der Patronenhülse zu suchen, aber ihre Mühen waren vergebens - in dem dichten Unterholz konnten sie nichts finden. Der Coroner sprach dem Mann, der seine Frau auf so tragische Weise verloren hatte, sein Beileid aus und entschied, daß es sich um einen Unfalltod gehandelt hatte.

Barnaby las den Artikel ein zweites Mal. Er war klar und deutlich formuliert, und alles erschien ganz logisch, trotzdem hatte der Chief Inspector ein ungutes Gefühl. Irgend etwas, was nicht offen zutage trat, störte ihn.

Er reichte dem ausgemergelten Archivar die Zeitungen - der Alte schien nicht das geringste Interesse daran zu haben, sie wieder in Gewahrsam nehmen zu können, und wirkte noch gleichgültiger als vorhin. Barnaby zeigte ihm seine Dienstmarke. »Ich hätte gern eine Fotokopie von diesem Artikel«, sagte er und kreiste mit seinem Stift rasch die Überschrift ein.

»He!« Der Greis erwachte versehentlich zum Leben. »Das können Sie nicht machen. Das ist ein Stück aus unserem Archiv!«

»Ach ja?« Barnaby betrachtete ernst den Kreis und schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, was aus dieser Welt geworden ist. Ich lasse die Kopie um vier Uhr abholen, wenn es Ihnen recht ist.«

6

Als Troy durch die Church Lane fuhr, fiel dem Chief Inspector auf, daß das Bienenstock-Cottage schon jetzt ein wenig vernachlässigt wirkte. Die Pflanzen streckten bereits ihre Triebe über den Weg, die Vorhänge hingen schlaff und unbeweglich vor den Fenstern. Wellington lag vor Miss Bellringers Haus an der Wand und schlug gelegentlich mit einer Pfote nach den Schmetterlingen.

Gegenüber vom Rastplatz, wo die Häuserreihe endete, stand ein Wegweiser: Gessler Tye - eine Meile. Der Weg war relativ breit, und man sah deutlich Reifenspuren auf dem Untergrund. Barnaby gab seinem Sergeant mit einer Geste zu verstehen, daß er weiterfahren solle, und Troy lenkte den Wagen vorsichtig zwischen die Wiesenränder.

»Zum Glück sind wir nicht mit dem Rover unterwegs, Sir.«

»Wenn wir im Rover säßen«, versetzte Barnaby knapp, »hätte ich Sie kaum gebeten, das zu versuchen.« Das Hühnchen-Kresse-Sandwich konnte sich in seinem Magen offenbar nicht gegen Mrs. Rainbirds kalorienreiche Kost durchsetzen, der Tumult schien immer schlimmer zu werden - und er hatte seine Tabletten im Büro vergessen!

»Wahrscheinlich nicht, Sir.« Sergeant Troy fand, daß Barnaby ein passender Name für jemanden war, der sich ständig wie ein gereizter Brummbär aufführte, und stellte sich vor, wie er selbst in ein paar Jahren seinem Sergeant auf ähnliche Art und Weise die Hölle heiß machen würde. Er fuhr durch eine Lücke im Gebüsch und blieb auf einem holprigen Platz stehen. Beide Männer stiegen aus.

Unheimlich, dachte Troy, als er das Holly Cottage zum erstenmal sah. Es war grau und schmucklos und hockte wie eine bucklige Kröte am Waldrand. Trotz des schwülwarmen Wetters lief ihm ein Schauer über den Rücken. Man konnte sich gut vorstellen, daß jeden Augenblick eine Hexe aus der Tür schlich und Hänsel und Gretel verschlang. Wirklich wie bei den Grimms, dachte Troy und grinste über diesen klugen Vergleich. Er überlegte, ob er Barnaby seine Erkenntnis mitteilen sollte, entschied sich aber dagegen. Der heutige Tag war ohnehin schon verkorkst genug.

Als sie sich der Veranda näherten, brach die Sonne durch die Wolken und beleuchtete die Südwand des Hauses. Die Steine und Fenster schienen Feuer zu fangen und glitzerten in allen Farben.

Barnaby klopfte an die Tür. Keine Reaktion. Er senkte den Blick und entdeckte eine zarte Geißblattranke, die sich tapfer gegen die wuchernden Nesseln zu behaupten versuchte. Vielleicht hatte das Mädchen das Geißblatt gepflanzt und in der Hoffnung gehegt und gepflegt, daß es irgendwann einmal die ganze Veranda umranken könnte. Zwei Blüten hatten sich bereits geöffnet.

»Versuchen wir’s an der Hintertür.«

Hinter dem Haus befanden sich ein kleiner, asphaltierter Hof, noch mehr Nesseln, eine Regentonne mit abgestandenem, von einer dicken grünen Schleimschicht bedecktem Wasser und drei schwarze Plastiksäcke mit Abfall. Die Scheiben der beiden kleinen Fenster auf dieser Seite waren trüb vom Staub. Barnaby rieb eine kleine Stelle sauber und spähte ins Haus.

Ein Mann in blauem Hemd und Cordhose - beides war mit Farbspritzern übersät - stand mit dem Rücken zum Fenster vor einer Staffelei. Er schien fieberhaft zu arbeiten - der Pinsel zuckte unaufhörlich zwischen Palette und Leinwand hin und her.

»Er muß uns längst gehört haben, Sir.«

»Na, ich weiß nicht. Menschen in Phasen der Kreativität... er ist wahrscheinlich total abwesend.«

Sergeant Troy schnaubte. Den Gedanke, daß Malen jemanden taub zu machen vermochte, konnte er nicht so ohne weiteres hinnehmen. Er selbst hatte keine Zeit für das, was er künstlerischen Schnickschnack nannte - so etwas brachte der Gesellschaft seiner Ansicht nach keinerlei Nutzen, und trotzdem erwarteten die sogenannten Künstler, daß die Leute eine Menge Geld für ihre Machwerke ausgaben. Barnaby klopfte ans Fenster.

Der Mann wirbelte herum. Er bewegte sich ungeheuer schnell; man sah nur ein weißes Gesicht, das sich sofort wieder abwandte, dann stürzte er geradezu aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Barnaby hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, und ging rasch zur Haustür zurück. Die beiden Polizisten kamen gerade an, als Michael Lacey die Tür öffnete.

Er war nur wenig größer als seine Schwester und sah ihr so ähnlich, daß die Verwandtschaft nicht zu leugnen war. Er hatte dieselben tiefgründigen, violetten Augen, dasselbe dunkle Haar, nur trug er es kurz geschnitten, und es lockte sich nach allen Seiten. Seine kleinen, wohlgeformten Ohren saßen relativ weit hinten - das und seine auseinanderstehenden Augen ließen ihn gefährlich aussehen, ähnlich einem boshaften Pferd. Nach Mrs. Rainbirds Bemerkung über das Bügeleisen hätte Barnaby erwartet, eine große, auffällige Narbe zu sehen, aber auf den ersten Blick schien Michael Laceys Gesicht vollkommen unversehrt zu sein. Erst dann fiel Barnaby auf, daß die Haut zwischen Wangenknochen und Mundwinkel etwas straffer, glatter und ein wenig gerötet war. Offenbar war die Verbrennung so stark gewesen, daß man eine Hauttransplantation vorgenommen hatte. Zusätzlich zu seinem guten Aussehen (dem der schimmernde Hautstreifen seltsamerweise gar keinen Abbruch tat) strahlte er eine umwerfende Männlichkeit aus. Aber keine Wärme. Michael Lacey würde, wenn er könnte, sich die Welt und ihre Bewohner so einrichten, wie es ihm paßte. Barnaby empfand Mitleid mit Judy Lessiter und sogar mit dem widerlichen Dennis Rainbird.

Er sagte: »Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«

»Was wollen Sie?«

»Wir sind von der Polizei...«

»Sie sind also von der Polizei. Was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun? Eine Flagge hissen?«

»Wir befragen jeden im Dorf...«

»Ich wohne nicht im Dorf. Ich bin erstaunt, daß Ihr Scharfsinn Sie annehmen läßt, ich würde es tun.«

»... und alle Menschen der Umgebung. Mr. Lacey, das ist eine übliche Maßnahme während einer...«

»Hören Sie. Es tut mir leid wegen Miss Simpson. Ich mochte sie. Aber ich habe mit den Dingen, die sich im Dorf abspielen, nichts zu tun und will es auch nicht - das wird Ihnen der allgemeine Klatsch bestätigen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«

»Wir werden Sie nicht lange aufhalten, Sir.« Barnaby trat einen kleinen Schritt vor, und Michael Lacey wich zurück, gerade so weit, daß die beiden Männer sein Cottage betreten konnten. Gleich links von ihm befand sich eine kahle Treppe - er setzte sich auf eine Stufe und ließ seine Besucher stehen.

»Kannten Sie Miss Simpson gut?«

»Ich kenne gar niemanden gut. Sie ließ mich ein paar Bilder von ihrem Garten malen - zu verschiedenen Jahreszeiten -, aber das ist schon Jahre her. Ich bin ihr mindestens seit zwei Monaten nicht begegnet.« Er musterte den Chief Inspector wachsam, unbekümmert und ein bißchen amüsiert. Offensichtlich hatte er sich entschieden, die Störung durch die Gesetzeshüter als unterhaltsame Abwechslung anzusehen.

»Können Sie uns sagen, wo Sie am Nachmittag und Abend des letzten Freitags gewesen sind?«

»Hier.«

»Das ist aber eine prompte Antwort, Mr. Lacey. Halten Sie es nicht für notwendig, erst genauer nachzudenken?«

»Nein. Ich bin immer hier. Und arbeite. Manchmal mache ich eine Pause und gehe im Wald spazieren.«

»Und sind Sie an diesem Tag im Wald spazierengegangen?« hakte Barnaby nach.

»Möglich. Ich weiß es nicht mehr. Da meine Tage alle gleich verlaufen, brauche ich kein Tagebuch zu führen.«

»Es scheint ein ziemlich langweiliges Leben für einen jungen Mann zu sein.«

Michael Lacey betrachtete seine bloßen Füße. Es waren schöne Füße: lang, schmal mit glatter Haut und zarten Knochen. Byzantinische Füße. Dann richtete er den Blick auf Barnaby. »Die Arbeit ist mein Leben«, erwiderte er ruhig und 'mit solch leidenschaftlicher Überzeugung, daß Barnaby, der sich gelegentlich mit Wasserfarben versuchte und Mitglied des Kunstförderkreises von Causton war, neidisch wurde. Aber er redete sich ein, daß Überzeugung und Begeisterung allein noch kein Talent verrieten, wie Joyces Theatergruppe anschaulich unter Beweis stellte. Diese Schlußfolgerung gab ihm neue Kraft. »Es gibt da noch einige Fragen, Mr. Lacey. Wenn es Ihnen nichts ausmacht...«

»Oh, aber es macht mir etwas aus. Ich hasse es, bei der Arbeit unterbrochen zu werden.«

»Soweit ich weiß«, fuhr Barnaby gelassen fort, »waren Sie dabei, als die verstorbene Mrs. Trace getötet wurde.«

»Bella?« Er war offenbar verwirrt. »Ja, aber ich verstehe nicht...« Er hielt inne. »Sie glauben doch nicht, daß da ein Zusammenhang besteht?« Er schien seine Feindseligkeit zu vergessen und wirkte ernsthaft interessiert. »Nein... wie könnte es?«

»Dem Zeitungsartikel konnte ich entnehmen, daß Sie der erste waren, der Mrs. Trace erreichte.«

»Das stimmt. Lessiter sagte, ich solle sie auf keinen Fall berühren und lieber losrennen und einen Krankenwagen rufen. Genau das hab’ ich auch gemacht.«

»Hielt sich jemand während des Jagdausflugs in Tye House auf?«

»Nur Katherine. Sie schleimte sich dort ein wie eine Verrückte.«

»Wie bitte ?«

»In der Küche - sie machte Sandwiches, füllte Pasteten und kochte einen Auflauf für die Jäger.«

»Während Sie als Treiber tätig waren.«

»Das ist was anderes. Ich wurde dafür bezahlt.« Barnabys Seitenhieb erstickte den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme. Er bestätigte, daß kein Mitglied der Jagdgesellschaft in der Position war, einen Schuß auf Mrs. Trace abzufeuern, und setzte hinzu: »Ich weiß nicht, warum Sie mich das alles fragen. Ich hatte nicht einmal ein Gewehr dabei.«

»Soweit ich informiert bin, haben Sie und der andere Treiber später gründlich nach der Patronenhülse gesucht.«

»So kraß würde ich das nicht ausdrücken. Wir haben uns umgesehen, aber es erschien uns sinnlos, deshalb gaben wir die Suche ziemlich schnell wieder auf.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Lacey.«

Als die beiden Polizisten in ihren Wagen stiegen, dachte Troy, dem der Rüffel wegen des Rover noch zu schaffen machte, angestrengt über eine kluge Bemerkung nach. Schließlich sagte er: »Haben Sie bemerkt, daß er die Tür zu dem Zimmer, in dem er malt, abgesperrt hat? Das kommt mir komisch vor.«

»Oh, ich weiß nicht so recht. Kreative Menschen unternehmen oft alles mögliche, um ihre unfertigen Arbeiten vor neugierigen Blicken zu schützen. Denken Sie nur an Jane Austens knarrende Tür.«

Sergeant Troy wendete das Auto und sah in den großen Spiegel, der in der Hecke befestigt war und sowohl den Weg als auch den vorderen Gartenteil einsehbar machte. »Ja, da haben Sie recht, Sir«, erwiderte er. Auf gar keinen Fall wollte er preisgeben, daß er nicht das geringste über Jane Austens knarrende Tür wußte. Und was Michael Lacey, den Traum junger Liebender, betraf... Troy warf einen Blick in den Rückspiegel und glättete sein karottenrotes Haar. Bestimmt bevorzugten die Mädchen nur in kitschigen Liebesromanen die dunklen Typen.

Michael Lacey sah dem davonfahrenden Wagen von der Veranda aus nach, dann ging er in sein Atelier zurück. Er nahm die Palette und den Pinsel in die Hand und starrte einen Moment auf die Leinwand, dann legte er beides wieder weg. Es war nicht mehr hell genug. Trotz der lästigen Unterbrechung war er zufrieden mit seinem Tag. Manchmal arbeitete er mit einer gehörigen Wut im Bauch, zerriß seine Skizzen, übermalte einige Passagen, die nicht die richtige Ekstase zum Ausdruck brachten, und weinte sogar hin und wieder vor Zorn. Aber Tage wie der heutige machten die schlechten wieder wett. Aus den erbitterten Kämpfen erwuchs bisweilen eine wundervolle, wohltuende Leichtigkeit. Er studierte die Gestalt auf seinem Gemälde. Es gab immer noch eine Menge zu tun. Nur die Grundierung war fertig. Aber er war begeistert und absolut überzeugt, daß es ein großartiges Bild werden würde. Es war ungeheuerlich, wenn so etwas geschah und er glauben konnte, daß ihm alles gelang - egal, was er tat, welche Technik er anwandte und wie er vorging. Er war sich so sicher, daß er das Gefühl hatte, er könnte nichts verderben, selbst wenn er es versuchen würde.

Er ging in die Küche und öffnete eine Konserve Bohnen mit Würstchen, nahm einen Löffel und kehrte essend in sein Atelier zurück. Das schwindende Licht veränderte den Raum, die Wände schienen beweglich zu werden. Vier riesige abstrakte Bilder mit dicker weißer Farbschicht überragten ihn. In der Ecke eines jeden war ein explodierender Stern, nicht mehr als ein Klecks im Zwielicht.

Auf dem Eckschrank stand ein alter Kerzenhalter aus Zinn. Michael zündete die Kerze an, wanderte damit durch das Zimmer und betrachtete die vielen Bilder, die an den Wänden lehnten. Obwohl er sein Atelier mit einer starken Deckenlampe gut ausleuchten konnte, liebte Michael den Effekt von Kerzenlicht. Die Farben wurden dadurch satter und vielschichtiger; die Augen auf den Bildern schienen zu flackern, und Münder zuckten bei dem unruhigen Licht. Festes Fleisch wurde in etwas Seltenes, Zartes, Köstliches verwandelt. Die Wirkung war stimulierend und füllte seinen Geist mit wunderbaren, subtilen Ideen.

In dem Schrank standen ein paar Bücher und Kunstkataloge, alle ziemlich zerfleddert, mit losen Seiten. Michael nahm einen Katalog heraus, setzte sich und betrachtete nachdenklich ein Bild von Botticelli. Wie verführerisch, dachte er - diese sanften, lebhaften Gesichter, geschmückt mit frischen Frühlingsblumen. Er aß seine Bohnen auf, blieb von Grund auf zufrieden eine Weile so sitzen und malte sich aus, wie er durch die Uffizien schlenderte und ehrfurchtsvoll vor dem Original stand. Dann öffnete er das Fenster, kickte die leere Bohnendose hinaus - ein blitzender Bogen vor dem dunklen Himmel.

7

Spät am Abend stocherte Barnaby niedergeschlagen in seinem Salatteller herum. Er war absichtlich länger in seinem Büro geblieben und hatte die Notizen von den Befragungen der Kollegen durchgesehen, bis er sicher sein konnte, daß die Abendessenszeit vorbei war und er zu Hause eine Konserve aufmachen konnte, ohne die Gefühle seiner Frau zu verletzen. Er hatte vergessen, daß es so etwas wie Tomaten, Gurken und Rote Bete gab...

Man hätte meinen können, daß nicht einmal Joyce einen Salat so sehr verderben konnte, daß er ungenießbar war, aber das war ein Irrtum. Das Grünzeug schwamm zusammen mit lebendigen Tierchen in einer viel zu sauren Essigsauce. Barnaby hob ein schlappes Salatblatt an. Ein winziges Insekt, das verzweifelt gegen die Essigflut ankämpfte, wurde sichtbar.

»Nachher gibt’s Bakewell Surprise«, rief Joyce doppeldeutig aus der Küche. Trotz allem hatte er Hunger - das erstaunte ihn immer wieder aufs neue. Es war ergreifend, wirklich. Egal, wie sehr er seinen Magen mit Joyces Kost malträtierte, nach ein paar Stunden meldete er sich fröhlich knurrend, und Barnaby überlegte voller Hoffnungen, ob er bei der nächsten Mahlzeit vielleicht mehr Glück haben würde.

»Cully kommt nächstes Wochenende.« Joyce brachte ihm den Kuchen, stellte ihm eine Tasse Tee hin und gab ihm einen liebevollen Kuß. »Ist das in Ordnung?«

»Wunderbar. Für wie lange?«

»Nur bis Sonntag abend.«

Barnaby und Joyce sahen sich an. Sie beide liebten ihre Tochter und waren sehr stolz auf sie. Aber beide fanden es viel schöner, wenn ihr einziges Kind nicht zu Hause war, obwohl sie das nie laut aussprachen. Schon von klein auf hatte Cully bereits einen ungewöhnlich scharfen Blick und ein loses Mundwerk gehabt, und im Laufe der Jahre mußten sich die Eltern an einiges gewöhnen. Cully war eine sehr gute Schülerin gewesen, jetzt studierte sie Englisch in New Hall und war zuversichtlich, ein gutes zweites Examen zu machen, obwohl Barnaby der Meinung war, daß sie zuviel Zeit mit Theaterproben vergeudete.

»Kannst du sie am Samstag abholen?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« Barnaby vertilgte sein Bakewell Surprise - das war mehr, als es verdiente - und überlegte, in welchem Aufzug seine Tochter diesmal erscheinen würde. Sie hatte sich immer schon provozierend gekleidet, aber er und Joyce dachten, als sie sie in den Zug nach Cambridge setzten, daß die Zeit des Gammellooks, der Sicherheitsnadeln und des bleichen Make-ups vorbei sei (genaugenommen hofften sie, daß man sie in den nächsten Ferien als adrettes junges Mädchen nach Hause schicken würde), aber bei jedem der seltenen, unregelmäßigen Besuche seither wurden sie mit noch exotischeren und schockierenderen Aufmachungen überrascht. Ein Schönes hatten ihre Stippvisiten zu Hause - Cully, die, wie sie selbst es ausdrückte, ihr Zuhause verließ, während sie noch ihre volle Gesundheit und Stärke hatte, bewahrte sich diese, indem sie leckere Sachen von Marks and Spencers und Joshua Taylor’s Delikatessenladen mitbrachte.

»Vergißt du auch nicht, deinen Vater anzurufen?«

Barnaby nahm seinen Tee und setzte sich an den Kamin. Da er seine Eltern seit einem Vierteljahrhundert einmal wöchentlich anrief, lief er wohl kaum Gefahr, es diesmal zu vergessen. Beide waren über achtzig und hatten sich schon vor zwanzig Jahren auf ihren Ruhesitz außerhalb von Eastbourne zurückgezogen. Dort inhalierten sie Ozon, spielten Boccia und arbeiteten im Garten.

»Ich denke dran.«

»Ruf an, bevor du es dir gemütlich machst.«

»Ich habe es mir bereits gemütlich gemacht.«

»Danach kannst du deinen Tee richtig genießen.«

Barnaby hievte sich gehorsam aus dem Sessel. Seine Mutter nahm den Hörer ab und berichtete, nachdem sie sich ausführlich nach seiner Gesundheit und der Gesundheit seiner Familie erkundigt hatte, von ihren Erlebnissen der Woche, die einen großartigen Streit im Kunstförderkreis über den Vorschlag eines Neunzigjährigen, ein Seminar für Lebensbewältigung einzurichten, einschlossen. Sie beendete das Gespräch wie immer mit den Worten: »Ich ruf’ Daddy an den Apparat.«

Barnaby senior schilderte seine Woche und einen Streit bei einem Treffen der Gesellschaft für Denkmalschutz - es ging dabei um einen viktorianischen Musikpavillon. Was für ein kriegerisches Völkchen die da unten sind, dachte Barnaby. Beim Umzug seiner Eltern hatte er sich eingebildet, daß sie den Rest ihres Lebens friedlich dösend in ihrem Wintergarten verbringen würden. Eine ziemlich wurmstichige Vorstellung vom Alter, wie er sich jetzt eingestehen mußte. Seine Eltern hatten nie zu der trägen Sorte gehört. Sein Vater erzählte begeistert, wie er endlich einen skrupellosen Gegner auf der Bocciabahn fertiggemacht hatte.

Barnaby hörte geduldig zu, dann sagte er, als fiele ihm das gerade ein: »Hör mal, wir sind mitten in der Cricket-Saison. Ich vermute, du sitzt den halben Tag vor dem Fernseher.«

»Natürlich. Ich hab’ mir sogar eins dieser Videogeräte ausgeliehen. Dann kann ich mir die schönsten Szenen immer wieder anschauen. Schrecklich das am Freitag, findest du nicht?«

Barnaby lächelte nachsichtig. Sein Vater müßte eigentlich wissen, daß er tagsüber nie zu Hause war, um sich Cricket-Spiele anzusehen, trotzdem setzte er immer voraus, daß sein Sohn ganz genau im Bilde sei.

»Was ist passiert?«

»Mensch - es gab kein Match. Junge. Es war nicht hell genug. Der Schiedsrichter überließ Allenby die Entscheidung, und der brach das Spiel ab. Elf Uhr vormittags. Alles stand bereit. Gurkensandwiches, eine schöne Kanne Pfefferminztee - wir hatten uns auf ein langes Spiel eingerichtet. Wir waren ganz schön sauer. Na ja, um ehrlich zu sein, deine Mutter hat es nicht so sehr gestört, aber mir hat es den Tag gründlich verdorben, das kann ich dir sagen.«

Nachdem er pflichtbewußt dieses Pech bedauert hatte, beendete Barnaby das Gespräch und kehrte zu seinem Sessel und einer frischen Tasse Tee zurück. »Die Leute fangen an, mir Lügen zu erzählen, Joyce«, sagte er.

»Ach ja, Lieber?« Sie strickte - das helle Seidenstück wuchs. »In dieser Sache in Badger’s Drift?«

»Hmm. Katherine Lacey wurde am Abend auf der Dorfstraße beobachtet, obwohl sie behauptete, nicht außer Haus gewesen zu sein. Judy Lessiter sagte, sie sei den ganzen Nachmittag bei der Arbeit gewesen, aber sie wurde zwischen drei und halb vier im Dorfladen gesehen. Trevor Lessiter sagte, er hätte sich ein Cricket-Spiel im Fernsehen angeschaut - ein >tolles Match< aber das Spiel wurde abgesagt. Und Phyllis Gadell ist sichtlich der Schreck in die Glieder gefahren, als sie uns sah, und redete sich mit einer albernen Geschichte ihrer nicht bezahlten Kraftfahrzeugsteuer heraus.«

»Lieber Gott, du scheinst eine ganze Menge Informationen zu haben, denen du nachgehen kannst.« Die Namen sagten Joyce Barnaby nicht das geringste, und sie wußte, daß Tom lediglich laut überlegte, um seine Gedanken zu ordnen. Trotzdem hörte sie ihm aufmerksam zu.

»Und Barbara Lessiter, die geschätzte Gattin des Doktors, hat etwas mit der Morgenpost bekommen, was sie blaß wie ein Leichentuch werden ließ.«

»Woher weißt du das?»

Barnaby schilderte die Szene. »Oh - wahrscheinlich war es eine letzte Mahnung. Ich könnte mir vorstellen, daß sie Kleider gekauft und eine große Rechnung bekommen hat.«

»Nein.« Barnaby schüttelte den Kopf. »Es muß was Schlimmeres gewesen sein. Und wo war sie an dem Abend, an dem Emily Simpson starb? Sie fuhr spazieren. Sehr vage, das Ganze.«

»Aber unschuldige Menschen haben nicht immer ein hieb-und stichfestes Alibi. Sie wissen nicht hundertprozentig genau, wann sie was gemacht haben. Das sagst du selbst oft. Was hat sie am Nachmittag getan?«

»Sie war in Causton einkaufen.«

»Da siehst du’s«, sagte Joyce unerschütterlich. »Sie hat sich finanziell übernommen.«

Barnaby bedachte sie mit einem Lächeln, leerte seine Tasse und stellte sie auf die Untertasse. Irgend etwas sagte ihm, daß es nicht so einfach war, wie seine Frau vermutete. Nichts in diesem Fall war so einfach, wie es schien.

8

Am nächsten Morgen, einen Tag vor der Neuaufnahme der gerichtlichen Untersuchung, ging Barnaby früh ins Büro und machte sich daran, die Protokolle der Befragungen, die Aussagen und Berichte im Schnelldurchgang zu lesen. Die Kernpunkte all dessen würden später auf Karteikarten übertragen und in einer drehbaren Hängeregistratur abgelegt (sie warteten immer noch auf einen Computer). Er bat um einen Kaffee und begann mit der Arbeit.

Er las schnell und gründlich, hielt bei kleinen Details inne und überflog die normalen Aussagen und die Informationen, die er schon kannte. Das Ergebnis der Befragung war im großen und ganzen so, wie er es erwartet hatte. Die einzigen Männer, die sich am Nachmittag des Siebzehnten nicht bei der Arbeit oder zu Hause bei ihren Frauen aufgehalten hatten, waren zwei Arbeitslose, die, wie sie sich gegenseitig bestätigen konnten, die fragliche Zeit in ihren nahe beieinanderliegenden Schrebergärten verbracht hatten. Der Vikar hatte in seinem Arbeitszimmer die nächste Sonntagspredigt vorbereitet. Diese Aussage wurde von der Haushälterin bestätigt, die währenddessen Marmelade in der Küche eingekocht hatte. Sie war hellstens empört, daß der Vikar, ein gebrechlicher, alter Kerl von dreiundsiebzig Jahren, überhaupt in einer Mordsache vernommen wurde. Am Abend hatten alle Männer entweder zu Hause bei ihren Familien oder im Black Boy gesessen. Die Polizistin Brierley brachte Barnaby den gewünschten Kaffee. Und er nahm ihn dankbar entgegen. Die Frauen von Badger’s Drift schienen auch ihren normalen Beschäftigungen nachgegangen zu sein. Einige hatten gearbeitet. Die Älteren waren zu Hause gewesen. Der Rest (mit Ausnahme von Mrs. Quine) hatte bei den Vorbereitungen in der Gemeindehalle geholfen. Die jungen Frauen, die die Gemeindehalle früh genug verlassen hatten, um sich im Farn vergnügen zu können, hatten ihre Kinder vom Schulbus abgeholt und waren mit ihnen nach Hause zur unschuldigen Teestunde gegangen. Am Abend waren einige mit drei Wagen nach Causton zum Gymnastikkurs gefahren, alle anderen waren daheim geblieben. Vorausgesetzt, daß das Pärchen im Wald zum Dorf gehörte, was Barnaby nach wie vor annahm, war der Kreis der Verdächtigen beträchtlich geschrumpft.

Er trank seinen Kaffee aus und registrierte erstaunt einen freundlich grinsenden Frosch mit Strohhut und Banjo auf dem Boden der Tasse, den die dunkle Flüssigkeit bedeckt hatte. Er wandte sich seufzend den Berichten der Spurensicherer zu, die die Funde des Tatorts ausgewertet hatten.

Auch hier gab es nichts Überraschendes. Das Speisekammerfenster war aufgebrochen worden, und man hatte Spuren des weißen Lacks auf dem Regal darunter gefunden. Leider hatte es an diesem Tag nicht geregnet, und weit und breit war nicht ein einziger Fußabdruck mit Sohlenprofil entdeckt worden. Keine Fingerabdrücke auf dem Telefontisch, selbst nicht am Telefonhörer - das war eigenartig, denn die letzte Person, die bekanntermaßen von Miss Simpsons Cottage aus telefoniert hatte, war Doktor Lessiter gewesen. Aus welchem Grund hätte er den Hörer abwischen sollen? Die Markierung in der Ausgabe des Julius Caesar hatte man analysiert - sie war mit einem Bleistift B 6 vorgenommen worden, eine nicht gerade häufig benutzte Sorte, aber auch nichts Außergewöhnliches. Den Stift hatte man nicht gefunden. Die Analysen hatten ergeben, daß sonstige Fingerabdrücke im Haus entweder von der Verstorbenen oder von Miss Lucy Bellringer stammten.

Er las den Bericht noch einmal, aber er hatte beim erstenmal kaum etwas übersehen. Nach der karierten Decke, die im Wald gelegen hatte, wurde noch gesucht, aber Barnaby hegte diesbezüglich keine großen Hoffnungen. Jemand, der so pedantisch alle Spuren verwischte, würde das Ding wohl kaum in den Kofferraum seines Autos oder auf dem Sofa liegen lassen. Natürlich war nicht allgemein bekannt, daß man Fasern der Decke sichergestellt hatte, und nicht alle wußten, daß Spermaflecken so verräterisch wie Fingerabdrücke waren. Vielleicht hatten sie doch noch Glück...

Troy streckte den Kopf durch die Tür. »Der Wagen steht bereit, Chief.«

»Es könnte natürlich auch sein, Sir«, sagte Sergeant Troy, als er von der Straße, die nach Gessler Tye führte, in Richtung Badger’s Drift abbog, »daß das Pärchen im Wald vom anderen Ufer war. Sie wissen schon ... Schwule.« Er hätte das letzte Wort nicht giftiger aussprechen können, wenn er von einem Kinderschänder geredet hätte.

Es war die fünfte Theorie, die er in den letzten zehn Minuten aufgestellt hatte, und jedesmal hatte er gewissenhaft ein >Sir< angefügt. Troy ging großzügig mit dieser ehrenvollen Anrede um - man konnte ihm nicht vorwerfen, daß er die Etikette nicht wahrte. Oder keine Disziplin hatte. Sergeant Troy hielt sich genau an Vorschriften, er hatte seine Prüfungen mit guten Ergebnissen abgeschlossen, und seine Berichte waren Musterbeispiele an Knappheit und dennoch sehr informativ. Er war frei von den albernen, romantischen Vorstellungen, die viele Männer und Frauen hatten, die bei der Polizei arbeiten wollten, und wurde auch nicht von dem üblichen sentimentalen Mitleid bewegt, das sich in den meisten Fällen bei der ersten Begegnung mit einem ruchlosen, bewaffneten Schurken in Luft auflöste. Nein, Mitleid und Barmherzigkeit gehörten nicht zu Troys Empfindungen. Er war drauf und dran, seine Theorie weiterzuspinnen. Wirklich, dachte Barnaby, wenn der Junge einen liebenswürdigen Charakter hätte, könnte man ihn als unverwüstlich und brauchbar bezeichnen.

Bevor Troy ein weiteres Wort herausbrachte, sagte Barnaby schnell: »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber soweit wir wissen, käme da nur Dennis Rainbird in Frage. Ich habe sein Alibi überprüft. Sein Partner sagt aus, daß er das Geschäft am Freitag tatsächlich erst um Viertel vor fünf verlassen hat. Außerdem gibt es wohl keinen Grund, daß er eine Beziehung geheimhalten müßte. So was ist nicht mehr strafbar.«

»Ja, leider«, sagte Troy und setzte mit ungewöhnlicher Auffassungsgabe hinzu: »Ich wette, seine Mutter wäre schrecklich eifersüchtig.« Dann: »Sind wir nicht ein bißchen zu früh dran - ist das Lessiter-Mädchen schon da?«

»Sie arbeitet heute nur halbtags.«

»O mein Gott!« kreischte Troy und trat auf die Bremse. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Barnaby wurde nach vorn geschleudert, und nur der Sicherheitsgurt bewahrte ihn vor einer Kollision mit der Windschutzscheibe. Eine Gestalt war hinter dem Briefkasten hervorgesprungen und hatte sich ihnen in den Weg gestellt.

Barnaby kurbelte das Fenster herunter und stieß durch bleiche Lippen hervor: »Das war keine gute Idee, Miss Bellringer ...«

»Was für ein Zufall.« Sie strahlte ihn an. Ein schwacher Geruch nach Nelken und Veilchen wehte ins Innere des Autos. Ehe Barnaby sie zurückhalten konnte, öffnete sie die hintere Tür und ließ sich auf den Rücksitz nieder. »Bevor ich es vergesse«, sagte sie, »morgen ist die Beerdigung. Um elf Uhr dreißig. Ich weiß nicht, ob Sie auch kommen wollen.«

Barnaby murmelte ein paar unverbindliche Worte. Sergeant Troy kramte mit bebenden Fingern nach seinem Päckchen Chesterfields.

»Rauchen Sie nicht hier drin, junger Mann. Sie gefährden unser aller Gesundheit.« Troy ließ das Päckchen auf seinen Schoß fallen, lehnte sich zurück und schloß gequält die Augen. »Und jetzt«, sie lächelte Barnaby zuckersüß an, »erzählen Sie mir, wie Sie mit Ihren Untersuchungen vorankommen. Haben Sie Fortschritte gemacht?«

»Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«

»Sie brauchen mich wirklich nicht so abzufertigen, Chief Inspector. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde es diesen Fall für Sie gar nicht geben. Und Sie sagten selbst, daß ich Ihnen helfen könnte.« Diese schamlose Lüge begleitete ein glänzender, unschuldiger Kinderblick. Bevor Barnaby auch nur Luft holen konnte, erkundigte sie sich: »Haben Sie schon mit dieser gräßlichen Mrs. Rainbird gesprochen?«

»Ja.«

»Was hat sie gesagt? Hat sie etwas gesehen?«

Der Chief Inspector sah keinen Grund, Mrs. Rainbirds Enthüllungen geheimzuhalten. Inzwischen hatten sich die Neuigkeiten sicher überall herumgesprochen. »Sie hat Miss Lacey an dem bewußten Abend gesehen: Sie war auf dem Weg zum Briefkasten, um einen Brief einzuwerfen.«

»Hmm.« Miss Bellringer schnaubte verächtlich. »Das Mädchen ist einfach zu hübsch, damit werden die Leute nicht so leicht fertig. Hören Sie - es ist sinnlos, um den heißen Brei herumzureden. Einem alten Hasen wie mir ist natürlich klar, warum wir alle über den Nachmittag und den Abend Auskunft geben müssen. Emily hat etwas im Wald gesehen, und ich glaube, daß wir hier von einer gefährlichen Leidenschaft sprechen.« In ihrer Stimme schwang eindeutig die Großartigkeit einer Bronte mit. »Das heißt über Katherine Lacey und ihren Geliebten. Das ist so klar wie Kloßbrühe. Können Sie sich vorstellen, was eine Entdeckung für sie bedeuten würde? Als erstes gäbe es keine Hochzeit. Henry Trace mag ja vernarrt in sie sein, aber er ist kein Dummkopf. Und sie müßte sich von Tye House und dem schönen Geld verabschieden und nebenbei auch von einem Ehemann, den man ganz leicht zum Hahnrei machen kann. Blind vor Liebe und an einen Rollstuhl gefesselt? Was kann sich das Mädchen mehr wünschen? Als seine Frau kann sie doch beinahe alles tun und lassen, was sie will. Und in ihrer Familie herrscht schlechtes Blut vor. Ihr Vater war ein berüchtigter Tunichtgut. Er hat seine arme Frau ins Grab gebracht.«

»Davon hörte ich bereits.«

»Alte Sünden werfen lange Schatten.« Barnaby schwieg. »Hat Mrs. Rainbird das Mädchen zurückgehen sehen?« wollte Miss Bellringer wissen.

»Offenbar nicht. Zu der Zeit spielte sie mit ihrem Sohn Monopoly.«

»Mit diesem schleimigen Kerlchen?«

Barnaby grinste anerkennend. »Sie sagte, Miss Lacey habe einen der Beagles bei sich gehabt.«

»Einen der Beagles?« Miss Bellringer ergriff aufgeregt seinen Arm. »Sind Sie sicher?«

»Mrs. Rainbird ist sicher.«

Sie sank niedergeschlagen zurück. Selbst ihr flutendes Gewand, das heute eine Borte hatte, die aussah wie gehäckselte Rote Bete, schien in sich zusammenzufallen. »Dann taugt unsere Theorie nichts.«

»Warum?« wollte der Chief Inspector wissen, ohne auf das Wörtchen >unsere< näher einzugehen.

»Benjy hat nicht gebellt. Er blieb freundlich, wenn Menschen, die er kannte, an die Tür kamen - herzensgut -, aber sobald ein anderer Hund dem Garten zu nah kam, wurde er zum Berserker. Ich hätte sein Kläffen bestimmt gehört. Ich wohne ja nicht weit weg.«

»Vielleicht hat Miss Lacey ihn irgendwo angebunden«, warf Troy hilfreich ein, der sich widerwillig für die plausible Theorie der alten Lady erwärmte. »Den Beagle, meine ich.«

»Hooo.« Das klang wie eine Schiffssirene. »Da kennen Sie die Beagles aber schlecht. Sie sitzen nicht duckmäuserisch da und warten, während ihr Herrchen oder Frauchen andere Dinge erledigt. Sie sind sehr stimmgewaltig. Wenn sie ihn angebunden hätte, wäre das ganze Dorf alarmiert worden. Nein - kein einziger Hund hat an diesem Abend gebellt, das weiß ich genau. Nun denn.« Sie stieß die rechte Tür auf und jagte einem vorbeikommenden Radfahrer mit dieser Unachtsamkeit einen Schrecken ein, der ihn mindestens zehn Jahre seines Lebens kostete. Sie stieg elegant aus dem Wagen. »Wir müssen wohl oder übel alles noch einmal genau überdenken. Ich gebe den Gedanken an die Laceys äußerst ungern auf, müssen Sie wissen. Was ist mit dem Bruder?«

»Der Bruder hat kein Motiv, Miss Bellringer. Ich fürchte, Sie müssen uns jetzt entschuldigen.«

»Wenn der jemand den Hals umdrehen würde, hätte ich vollstes Verständnis.« Troy holte tief Luft, als er anfuhr. »Es ist ihnen alles egal, nicht wahr? Den echten Exzentrikern. Es ist ihnen vollkommen gleichgültig, was andere denken.«

»Ein echter Exzentriker«, stellte Barnaby klar, »nimmt nicht einmal zur Kenntnis, daß andere überhaupt denken. Passen Sie auf diesen Hund auf«, setzte er hinzu, als Troy auf den gepflasterten Hof von Tye House fuhr und relativ sanft, ohne die übliche Abruptheit in der Nähe der Küchentür stehenblieb. Aber die Warnung war unnötig. Benjy kam nicht auf sie zu - er lag mit der grauen Schnauze zwischen den Pfoten auf der Stufe. Er war noch dürrer geworden. Sein Schwanz hob sich und klopfte ein-oder zweimal auf den Boden, während er ihnen ängstlich und hoffnungsvoll zugleich entgegensah. Er wartete treu bis zu seinem letzten Atemzug.

»Armer alter Junge«, sagte der Sergeant. »Guter Hund.« Er wollte ihn streicheln, aber als er sich bückte, drehte der Hund den Kopf weg. »Sie hätten längst etwas mit dem unglücklichen Tier unternehmen sollen.«

Barnaby deutete auf die andere Seite der Rasenfläche. »Im Garten«, sagte er. Als die beiden Männer die Stufen zwischen den beiden großen, mit üppiger Blumenpracht bepflanzten Steinurnen hinuntergingen, spürte Barnaby, wie ihm eine frische Brise entgegenwehte. Der Wind preßte das zitronengelbe Kleid an Katherine Laceys vollendeten Körper. Sie stand hinter Henrys Rollstuhl und hatte die Arme um ihn geschlungen; ihr Kopf war dem seinen sehr nahe. Als Barnaby näher kam, zeigte sie auf eine Pappelgruppe. Henry schüttelte den Kopf, und beide lachten. Dann schob Katherine den Rollstuhl in Barnabys Richtung.

»Wir erwarten über hundert Gäste am Samstag, Inspector«, rief Trace. »Was meinen Sie, wo sollen wir das Zelt aufstellen?«

Platz haben sie weiß Gott genug bei einem Garten dieser Größe, dachte Troy. Trotzdem kann ihm all das viele Geld seine Beine nicht ersetzen. Was für eine Vorstellung: ein so tolles Mädchen, und man sitzt im Rollstuhl neben ihm vor dem Altar! Er lächelte selbstsicher und sagte: »Guten Tag, Miss Lacey.«

»Wo immer wir es auch aufstellen«, meinte sie lächelnd, »es wird überall schreckliches Unheil anrichten.«

»Oh, der Rasen wird sich schnell wieder erholen«, entgegnete Henry. »Haben Sie etwas fürs Gärtnern übrig, Inspector Barnaby?«

Barnaby nickte, erkundigte sich, ob sie wegen des Rosengartens zu einer Einigung gekommen waren, und setzte damit eine angenehme Plauderei über Hortikultur in Gang. Henry beschrieb sein Hochzeitsgeschenk für Katherine - neunzehn altmodische Moos-und Kletterrosen: »Eine Pflanze für jedes Jahr ihres Lebens.«

»Später werden wir an jedem Hochzeitstag eine weitere dazupflanzen, bis wir alt und grau sind«, fügte Katherine hinzu. »Das wird unser Rosengarten.«

Barnaby ließ der Unterhaltung ein paar Minuten freien Lauf, dann kam er zum Kern seines Besuchs. »Da ist eine kleine Unstimmigkeit, Miss Lacey. Als wir gestern miteinander sprachen, sagten Sie, soweit ich mich erinnere, daß Sie den Abend des Siebzehnten hier mit Mr. Trace verbrachten.«

»Ja, das stimmt.«

»Und Sie haben das Haus nie verlassen?«

»Nein, wir waren die ganze Zeit hier.«

»Sie wurden gesehen, als Sie durchs Dorf gingen.«

»Ich?« Sie sah ihn verwirrt an. »Aber das kann nicht sein. Oh! Natürlich, ich bin zum Briefkasten gelaufen, um einen Brief einzuwerfen. Erinnerst du dich, Liebling? Wir wollten einen Katalog von Notcutt’s bestellen, und ich dachte, ich erledige das am besten sofort.«

»Wäre es nicht schneller gegangen, wenn Sie ihn telefonisch bestellt hätten?«

»Sie sind nicht kostenlos, man muß vorab einen Scheck schicken.«

»Man bestellt sie in der Hauptniederlassung in Woodbridge?« Sie nickte. »Wissen Sie noch, wie lange Sie etwa weg waren?«

»Nicht genau. Ich lief rasch bis zum Ende der Church Lane und gleich wieder hierher zurück.« Etwas schärfer setzte sie hinzu: »Bestimmt hat man mich auch auf dem Heimweg gesehen.«

»Offenbar nicht.«

»Na, so was - sie sind wohl auf dem Posten eingeschlafen, wie?«

»Sind Sie jemandem begegnet?«

»Nicht einer Menschenseele.«

»Können Sie Miss Laceys Aussage bestätigen, Sir?«

»Na ja ... ich habe nicht mitbekommen, daß Katherine weg war.«

»Nein, du bist nach dem Abendessen eingedöst. Deshalb habe ich mich ja auch entschlossen, die Sache gleich zu erledigen.«

»Ja. Das passiert mir in letzter Zeit öfter.« Henry lächelte in Barnabys Richtung. »Als ich wieder aufwachte, war sie jedenfalls da.«

Zwei schwarz-goldene Lieferwagen - >Lazenby et cie< - kamen durch das Haupttor in den Hof.

»Das ist der Partyservice«, rief Katherine. »Ich gehe besser zu ihnen ...«

»Um ehrlich zu sein, Miss Lacey, ich hätte gern noch ein paar Worte mit Ihnen gesprochen.«

»Oh.« Sie sah ihren Verlobten unsicher an.

»Keine Sorge - ich kümmere mich um die Lieferanten.« Henry Trace rollte auf die Holzrampe neben den Stufen zu. Katherine folgte ihm langsam; Barnaby blieb an ihrer Seite, und Troy bildete die Nachhut.

»Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem Mrs. Trace ums Leben kam?« fragte Barnaby.

»Bella? Selbstverständlich erinnere ich mich daran.« Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »So etwas gehört nicht zu den Dingen, die man schnell vergißt. Es war schrecklich.«

»Soweit ich weiß, gehörten Sie nicht zu der Jagdgesellschaft.«

»Nein. Ich war hier und bereitete das Essen vor. Normalerweise half Phyllis aus, aber an diesem Tag ging sie mit auf die Jagd.«

»Das war unüblich?«

»Allerdings.«

»Und wann erfuhren Sie von der Tragödie?«

»Als Michael ins Haus stürzte, nach dem Telefonhörer faßte und schreiend einen Krankenwagen anforderte.«

»Ich verstehe. Würden Sie sagen...« Er zögerte und wählte seine nächsten Worte sehr sorgfältig. »Würden Sie sagen, daß Mr. und Mrs. Trace ein glückliches Ehepaar waren?«

»Also ... ja... den Eindruck machten sie meiner Meinung nach. Obwohl man das als Außenseiter natürlich nie genau beurteilen kann. Sie waren beide sehr freundlich zu mir und Michael. Und Henry war am Boden zerstört nach ihrem Tod.«

Barnaby drehte sich um und betrachtete die Pappelgruppe und den Wald dahinter. »Ist der Unfall da drüben passiert?«

Katherine folgte seinem Blick. »O nein... im Buchenwald hinter dem Holly Cottage.«

»Ah ja. Nochmals vielen Dank, Miss Lacey.«

Sie waren vor der Treppe zum Hof angelangt und stiegen nebeneinander die Stufen hinauf. Als sie den Hof überquerten, wimmerte Benjy und erhob sich mühsam. Katherine wandte sich ab.

»Oh, warum will er nichts fressen?« brach es aus ihr heraus. »Ich habe ihm alles mögliche gekauft - gutes Fleisch, Hundekekse. Er hat sein eigenes Körbchen, eine Decke und einen Napf ganz für sich allein.«

»Hunde trauern sehr, fürchte ich«, sagte Barnaby.

»Aber man sollte annehmen, daß sie am Leben bleiben wollen, egal wie traurig sie sind.«

»Er ist ein ziemlich alter Hund, Miss«, warf Troy mitfühlend ein. »Ich denke, er ist einfach müde und des Lebens überdrüssig.«

»Können Sie Katherine jetzt entbehren, Chief Inspector? Ich brauche sie hier dringend«, rief Trace.

»Das war das.« Barnaby seufzte, als sie losfuhren. »Wahrscheinlich hatte ich zuviel erhofft. Es wäre zu schön gewesen, wenn Katherine Lacey und das Lessiter-Mädchen am Freitag abend zur selben Zeit durch die Church Lane gestrolcht wären.«

»Aber... Sie glauben ihr, Sir?« fragte Troy; er war immer noch verwirrt von dem betörenden Lacey-Lächeln. »Sie nehmen ihr die Geschichte mit dem Brief ab?«

»Ja. Ich werde das natürlich nachprüfen, aber ich zweifle nicht daran, daß sie den Brief tatsächlich zur angegebenen Zeit eingeworfen hat. Wenn sie unschuldig ist, hat sie es nicht nötig, irgendwelche Geschichten zu erfinden. Und falls sie schuldig sein sollte, wird sie dafür gesorgt haben, daß ihre Behauptungen jeder Nachprüfung standhalten.«

»Schuldig?« unvorsichtigerweise wandte Troy den Blick von der Straße und sah Barnaby ungläubig an. Er verpaßte die ' Einfahrt zur Lessiter-Villa.

»Sie sollten wirklich dieses Grimassenschneiden aufgeben, Troy. Das behindert nur Ihre Karriere. Miss Lacey hat mehr zu verlieren als jeder andere.«

»Aber der Hund, Sir. Der Hund hat nicht gebellt.«

»Ja, der Hund ist ein Problem, das gebe ich zu.«

Vielleicht war der Hund auch gar kein so großes Problem, dachte er, als Troy wendete und vor Lessiters Haustür parkte. Vielleicht konnte er mit Hilfe des Hundes ein für allemal jeden Verdacht von Katherine Lacey nehmen. Eine fiel weg, blieben noch sechs. Oder sieben, wenn er das scheinbar Unmögliche, nämlich Henry Trace, mit ins Kalkül zöge. War es denkbar, daß er sich schon zu Lebzeiten seiner ersten Frau hoffnungslos in Katherine verliebt und einen Mörder gedungen hatte, der im Dickicht lauern sollte, um Bella kaltzumachen? Barnaby riß sich von diesem Gedanken los und ermahnte sich selbst - schließlich hatte er nicht den geringsten Anlaß anzunehmen, daß Mrs. Traces Tod etwas anderes als ein Unfall gewesen war. Zudem war er jetzt mit Ermittlungen in einem ganz anderen Fall befaßt.

Die Sprechstunde von Doktor Lessiter dauerte noch eine Viertelstunde, das paßte dem Chief Inspector ganz gut. Judy öffnete ihnen die Tür. Heute sah sie sogar noch unattraktiver aus als gestern. Sie roch muffig wie ein kleines Tier, das aus einem langen Winterschlaf erwacht war.

»Ja?«

»Wir würden gern mit Ihrem Vater sprechen.«

»Die Praxis ist um die Ecke.« Sie schob die Tür zu.

Barnaby trat entschlossen einen Schritt vor. »Und mit Ihnen auch.«

Sie sah ihn einen Moment mürrisch an, dann zuckte sie mit den Schultern und führte die beiden Männer in die Küche. Dort lehnte sie sich an die Spüle.

»Miss Lessiter, Sie haben mir gestern erzählt, daß Sie am Nachmittag des Siebzehnten in der Bibliothek gewesen seien.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt.«

»Entschuldigung - ich habe Ihre Aussage noch einmal genau gelesen, ehe wir hierher gefahren sind.«

»Ich sagte: Ich habe gearbeitet. Ich stand nicht hinter dem Pult, um Bücher abzustempeln. Es gehört zu meinem Job, Schulen zu besuchen, Colleges ... ich frage die Lehrer, ob sie irgendwelche Projekte planen, für die spezielle Bücher bestellt werden müssen. Am Freitag nachmittag war ich in der Grundschule in Gessler Tye.«

»Offengestanden habe ich das Gefühl, daß Sie uns in diesem Punkt absichtlich in die Irre geführt haben.«

»Das ist Ihr Problem«, versetzte sie grob.

»Würden Sie noch einmal genau schildern, was Sie taten und wo Sie waren?«

»Ich habe mir zu Mittag Sandwiches geholt. Ich aß sie ...«

»Das war noch in der Bibliothek in Pinner?«

»Ja. Ich kochte mir auch einen Kaffee. Dann fuhr ich zu der Schule. Ich kam etwa um zwei dort an und blieb bis zum Unterrichtsschluß um kurz vor halb vier.«

»Und dann kehrten Sie in die Bibliothek zurück?«

»Nein. Das lohnte sich nicht mehr. Ich kam hierher und machte nur vor dem Dorfladen halt, um ein paar Zigaretten zu kaufen.«

Na, prima, dachte Sergeant Troy - er war überzeugt, daß jeder außer ihm selbst ungeschoren mit einem Mord davonkommen konnte.

»Kann Ihr Vater bezeugen, daß Sie kurz nach halb vier nach Hause gekommen sind?«

»Mein Vater?« Sie wirkte erst verwundert, dann argwöhnisch.

»Er behauptete, den ganzen Nachmittag hier gewesen zu sein.«

Sie schwieg, und ihr Blick huschte von Barnaby zu Sergeant Troy und wieder zurück. »Ist das ein Trick?«

»Was?«

»Ich meine ... wollen Sie mich aushorchen oder überlisten?«

»Ich verstehe Sie nicht, Miss Lessiter. Ihr Vater gab an, den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen zu sein. Und ich möchte jetzt lediglich von Ihnen wissen, ob er den Zeitpunkt Ihrer Ankunft bestätigen kann.«

»Ich bin gleich nach oben in mein Zimmer gegangen... ich habe ihn nicht gesehen.«

»Verstehe. Und am Abend?«

»Oh, in diesem Punkt habe ich Ihnen alles gesagt. Ich machte einen Spaziergang.«

»Die Lane hinunter und etwa eine halbe Meile weiter?«

»Das stimmt.«

»Und Sie sind nirgendwo ein wenig stehengeblieben und haben auch bei niemandem vorbeigeschaut?« Bevor sie etwas sagen konnte, setzte er rasch hinzu: »Bitte denken Sie sorgfältig nach, bevor Sie antworten.«

Sie starrte ihn an. Er erwiderte ernst ihren Blick und wirkte gleichzeitig ermutigend und allwissend. Er sah ihr an, daß sie überlegte, wieso sie einem erneuten Verhör unterzogen wurde. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich noch ganz genau erinnere...« Sie schluckte schwer und nagte an ihrer Unterlippe.

»Ich weiß, wie schwer es fällt, eine frühere Aussage zu korrigieren, aber wenn es nötig ist, dann ist dies der richtige Zeitpunkt dafür. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es ernsthafte Folgen für Sie haben kann, wenn Sie Informationen zurückhalten, die der Polizei in ihren Ermittlungen weiterhelfen könnten.«

»Das tue ich ja gar nicht! Es gibt nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte...«

»Ich denke, Sie sollten es lieber mir überlassen, das zu beurteilen.«

»Ja.« Sie holte tief Luft und richtete sich kerzengerade auf. Sie machte einen angespannten und ängstlichen Eindruck wie jemand, der sich darauf vorbereitet, tief ins eiskalte Wasser zu tauchen. »Ich habe ... also, ich bin mit Michael Lacey befreundet. Er wohnt im Holly Cottage. Ich hatte seit einigen Tagen nichts mehr von ihm gehört... er sagte, daß er mich malen will, und deshalb dachte ich ... na ja, ich dachte, ich könnte bei ihm reinschauen. Sie wissen schon, ich wollte fragen, wann er mit dem Bild anfangen möchte.« Barnaby hörte ihr aufmerksam zu. In dem Versuch, alles ganz normal erscheinen zu lassen, hatte sie ihre Verzweiflung noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. »Ich ging zu seinem Cottage, aber als ich dort ankam... ich sah durchs Fenster, daß er arbeitete.«

»Welches Fenster war das?«

»Das vordere Fenster neben der Veranda.«

»Aber normalerweise arbeitet er nicht in diesem Zimmer, nicht wahr?«

»Manchmal schon - an den Abenden, wenn er das letzte Tageslicht ausnützen will.«

»Ah, ich verstehe. Erzählen Sie weiter.«

»Er wird sehr ärgerlich, wenn man ihn beim Malen stört. Er sagt, es fällt ihm sehr schwer, sich nach einer Unterbrechung wieder richtig einzufühlen. Daher dachte ich, es wäre besser... na ja, ich habe mich einfach davongeschlichen.«

»Und glauben Sie, er hat gar nicht gemerkt, daß Sie dort waren?«

»Ganz bestimmt nicht. Ich war sehr leise.« Sie schwieg einen Augenblick, dann sah sie Barnaby zum erstenmal wieder an. »Sie dürfen nicht glauben, was die Leute über Michael sagen«, brach es aus ihr heraus. »Sie hassen ihn, weil er sich nicht um die Dinge kümmert, die ihnen wichtig sind ... öde, langweilige Dinge. Er ist ein Freigeist. Solange er malen und im Wald umhergehen und den Himmel sehen kann ... und er war sehr, sehr unglücklich. Katherine ist so bourgeois; sie ist nur auf materielle Dinge aus, und wenn diese Hochzeit erst vorbei ist, dann ist er ganz allein.« Vage Hoffnung schwang in den letzten Worten mit. Einen Moment lang glänzten ihre Augen so sehr, daß sich ihr fades Gesicht veränderte. Barnaby erkannte plötzlich, warum Michael Lacey sie als Modell haben wollte. Er warf einen Blick auf die Küchenuhr über der Tür. Judy wandte den beiden Männern den Rücken zu, als würde sie ihre leidenschaftliche Ansprache bereits bereuen, und drehte die Wasserhähne auf. Sie beobachtete, wie das Wasser in das blitzende Stahlbecken strömte, und hörte, daß die beiden Männer zur Tür und durch die Halle gingen. Sie reduzierte den Wasserstrahl, bis nur noch ein dünnes Rinnsal floß. Erst als die Haustür zuschlug, drehte Judy die Wasserhähne ganz zu.

Ihre Hände zitterten, und sie umklammerte den Beckenrand, um sie ruhig halten zu können. Es war immer dasselbe, wenn sie über Michael sprach. Sie fühlte sich elend, nachdem sie ihren fruchtlosen Besuch und ihren feigen, heimlichen Rückzug beschrieben hatte. Aber sie hatte ihre Aussage berichtigt, das war die Hauptsache. Und sie war froh darüber. Besonders nach ihrem dummen Versuch, ihre Nachmittagsbeschäftigungen zu verschleiern. Plötzlich begriff sie, daß ihr Eingeständnis noch einen Nebeneffekt hatte. Falls Miss Simpsons Tod tatsächlich einem Verbrechen zuzuschreiben war (und warum sonst stellte die Polizei all diese Fragen?), hatte sie Michael ein Alibi verschafft. Möglicherweise war ihm selbst das ganz egal, aber die Tatsache an sich war nicht zu leugnen. Sie verschloß diese kleine gute Tat in ihrem Herzen. Vielleicht erfuhr er niemals etwas davon, aber sie konnte sich das Wissen bewahren und im richtigen Moment zur Sprache bringen.

Sie hörte das Klicken des Telefons. Das mußte Barbara sein. Judy hatte sich in den letzten Minuten nicht vom Fleck gerührt und war ganz still gewesen, so daß ihre Stiefmutter vielleicht annahm, sie wäre in ihrem Zimmer. Oder im Garten. Barbara schien heimlich telefonieren zu wollen. Judy schlich lautlos zur Tür, die Barnaby nur angelehnt gelassen hatte, und spähte durch den Spalt.

Barbara stand mit dem Rücken zur Küche und schirmte die Sprechmuschel mit der Hand ab. Obwohl sie flüsterte, war jedes Wort deutlich zu verstehen.

»Liebling, tut mir leid, aber ich mußte dich anrufen. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?... Was soll das heißen - du kannst nichts tun? Du mußt mir helfen. Du mußt einfach... Du hast doch sicher ein bißchen Geld ... Das habe ich getan. Ich habe alles verkauft, was ihm meiner Ansicht nach nicht auffällt, sogar meinen Pelzmantel... Nein, ich hatte ihn bis zum Winter weggeräumt... Woher, zum Teufel, soll ich wissen, wie ich ihm das erkläre?... Dreitausend, und er hat zehn dafür bezahlt, das heißt, daß mir immer noch knapp tausend fehlen. Um Gottes willen - ich bin nur deinetwegen in solchen Schwierigkeiten ... Du Bastard, nicht ich habe gesagt, daß ich die Stunden zähle - tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Liebling? Tut mir leid - bitte, leg nicht auf. Bitte - du mußt mir helfen. Es wäre das Ende von allem, wenn er davon erfährt. Du weißt ja nicht, was für ein Leben ich vorher hatte. Ich möchte das nie mehr durchmachen müssen. Ich werde - hallo? Hallo ...?!«

Sie klopfte hektisch auf die Gabel. Einen Moment blieb sie stehen, ihre Schultern sackten herunter, dann knallte sie den Hörer auf die Gabel und rannte die Treppe hinauf. Judy verließ ihren heimlichen Beobachtungsposten und lächelte.

Das Wartezimmer war leer. Als sie hereinkamen, trat eine Frau aus dem Behandlungsraum. Ihr Gesicht hatte die Farbe von hellem Lehm. Sie blieb stehen und sah sich fassungslos um. Die Sprechstundenhilfe eilte auf sie zu, aber die Frau stieß sie beiseite und stürmte an den beiden Polizisten vorbei aus dem Raum. Doktor Lessiters Sprechanlage summte, und Barnaby und Troy wurden kurz darauf in sein Sprechzimmer geführt. Der Arzt legte gerade eine Akte in den Holzschrank zurück. »Das ist das Entsetzliche an meinem Beruf«, sagte er, klang dabei jedoch sachlich und sorglos, »es gibt keine Möglichkeit, schlechte Nachrichten zu mildern.«

»In der Tat, die gibt es nicht, Doktor Lessiter.« Barnaby hätte sich keine bessere Eröffnung der Unterhaltung wünschen können. »Ich bevorzuge auch die ganz direkte Art. Können Sie mir sagen, was Sie am Freitag, dem Siebzehnten, nachmittags getan haben?«

»Das habe ich Ihnen bereits erzählt.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Wie arbeiten Sie eigentlich? Sagen Sie bloß, Sie haben das schon vergessen.«

»Sie sagten aus, das Cricket-Spiel im Fernsehen gesehen zu haben.«

»Ganz genau.«

»Den ganzen Nachmittag?«

»Richtig.« Er zog am letzten Finger. Das Knacken war sehr laut in dem stillen Zimmer. Plötzlich wurde das Schweigen bleiern, die Atmosphäre änderte sich schlagartig. Der Arzt starrte ungläubig auf seine Hände, als sähe er sie zum erstenmal. Nach einer Weile richtete er den Blick auf Barnabys ernstes Gesicht, dann auf Troy und wieder auf Barnaby. »Ja. Das stimmt.« Doch plötzlich war seine Sicherheit geschwunden. Dies war keine Aussage über tatsächliche Geschehnisse mehr. Er wußte, daß man ihn durchschaut hatte, aber er hatte keine Ahnung, wie man ihm auf die Schliche gekommen war.

»Das Licht war so schlecht, daß das Spiel um elf Uhr morgens abgebrochen wurde - für den Rest des Tages«, klärte Barnaby ihn auf.

»Oh... also ... vielleicht habe ich da etwas verwechselt und am Donnerstag ferngesehen. Ja, so war es. Jetzt erinnere ich mich...«

»Sie machen donnerstags immer Ihre Hausbesuche. Zumindest behaupteten Sie das bei Ihrer letzten Aussage.«

»Ach ja - natürlich, das stimmt. Donnerstag. Wie dumm von mir ...« Schweiß trat ihm auf die Stirn und rollte wie durchsichtige kleine Glasperlen über seine Nase. Sein Blick zuckte hin und her, als erhoffe er Hilfe vom Instrumentenschrank, dem Chrom, der mit einer Gummimatte bedeckten Untersuchungsliege, dem großen Schrank. »Ich sehe nicht ein, was das überhaupt für eine Rolle spielt. Wir alle wissen doch, daß die alte Lady erst am Abend gestorben ist.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß unsere Befragungen sehr wohl für diesen Fall relevant sind. Wir würden weder unsere Zeit noch die der Leute, mit denen wir uns unterhalten, verschwenden, wenn wir es nicht für unbedingt nötig hielten.«

Trevor Lessiter beantwortete die wichtigste Frage immer noch nicht, und Barnaby hatte nicht vor, ihm allzuviel Spielraum zu lassen. Schon jetzt war dem Doktor deutlich anzusehen, daß er den Tiefschlag wegzustecken und sich eine passende Alternative für sein geplatztes Alibi auszudenken versuchte. Es wurde Zeit, ihn ein bißchen einzuschüchtern.

»Sie würden doch nicht abstreiten, daß Sie die Kenntnis und hier alle nötigen Gerätschaften zur Verfügung haben, um Schierlingsgift zu gewinnen und auf eine Spritze aufzuziehen?«

»Was? Aber das ist doch lächerlich ... dazu braucht man keine speziellen Gerätschaften. Jeder könnte ...«

»Aber nicht jeder kann einen Totenschein ausstellen.«

»In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas Ungeheuerlicheres ... ich war den ganzen Abend hier.«

»Dafür haben wir nur Ihr Wort, Sir.«

»Meine Frau und meine Tochter...«

»Waren beide zumindest zeitweise außer Haus, wie Sie sich bestimmt erinnern.«

»Ich schwöre Ihnen ...«

»Sie haben auch geschworen, daß Sie nachmittags ferngesehen haben, Doktor Lessiter. Das war gelogen. Woher sollen wir wissen, daß Sie jetzt nicht wieder lügen?«

»Wie können Sie es wagen!« Er schluckte schwer, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als versuche er seiner Kehle zu entfliehen. »Ich habe nie etwas gehört, das derartig ...«

»Haben Sie eine Erklärung dafür, daß wir keine Fingerabdrücke auf Miss Simpsons Telefon gefunden haben? Sie waren offenbar die letzte Person, die den Apparat benutzt hat.«

»Nein, dafür habe ich keine Erklärung.«

»Was für einen Grund hatten Sie, den Hörer so gründlich abzuwischen?«

»Ich? Ich habe ihn nicht angerührt!« Wieder schluckte er ein paarmal nervös. »Hören Sie ... also schön - ich war am Nachmittag nicht hier, das gebe ich ja zu. Barnaby, behandeln Sie das, was ich Ihnen jetzt anvertraue, absolut vertraulich?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht garantieren. Falls es für den Fall nicht relevant sein sollte, gibt es natürlich keinen Grund, es bekanntzumachen.«

»Aber Sie werden es zu Protokoll nehmen, oder?«

»Selbstverständlich müssen wir jede Aussage zu den Akten legen.« Wie aufs Stichwort zog Troy seinen Notizblock heraus.

»Ich müßte meine Praxis aufgeben, wenn das öffentlich bekannt wird. Wegziehen aus dieser Gegend.« Trevor Lessiter sank auf seinem schicken Ledersessel zurück. Seine Wangen wirkten eingefallen und grau. Im nächsten Moment schoß ihm das Blut ins Gesicht. »Sie werden doch meiner Frau nichts davon erzählen?« fragte er in Panik.

»Wir >erzählen< niemandem etwas, Sir. Das entspricht nicht unserer Arbeitsweise. Alibis werden überprüft, um den Kreis der Verdächtigen zu verkleinern und die schuldige Person zu überführen.«

»Oh«, rief er. »Ich habe nichts Schlimmes gemacht.«

Die Anzahl der Menschen, die die Polizei anlügen und diese Lügen als nicht schlimm ansehen, wird immer größer, überlegte Barnaby. Er wartete.

»Sie ... äh... haben meine Frau kennengelernt, Chief Inspector. Viele Leute, das heißt Männer, beneiden mich, das weiß ich.« Trotz seiner Angst flackerte so etwas wie Befriedigung in seinen Augen auf - das erinnerte Barnaby an Henry Trace. »Aber Barbara ist... o Gott, wie soll ich das ausdrücken, ohne ihr unrecht zu tun? Sie ist eine wundervolle Partnerin, wir haben viel Spaß miteinander, aber...« Man sah seinem Gesicht an, wie peinlich ihm dieses Geständnis war; er zwang sich zu einem Lachen. »Ich sollte es wohl lieber frei von der Leber weg sagen. Barbara hat nicht viel Interesse an der körperlichen Seite einer Ehe.«

Soviel zu der tollen Verpackung - Barnaby dachte an die bemalten Augen, den schweren, schwülen Duft und an den prallen, atemberaubenden Busen.

»Es liegt nahe«, fuhr der Doktor fort, »daß ich nur ihr Glück im Sinn habe, deshalb dränge ich mich ihr nicht auf.« Er senkte den Blick einen Moment zu spät - Barnaby war die Bitterkeit und der Groll in seinen Augen bereits aufgefallen. Er sah aus wie ein Mann, der seinen Teil der Abmachung eingehalten hatte und übers Ohr gehauen worden war. »Trotzdem«, ein gleichgültiges Achselzucken, »habe ich Bedürfnisse.« Er versuchte ein verschwörerisches Augenzwinkern. »Wir alle haben diese Bedürfnisse, und ich besuche gelegentlich, wirklich nur gelegentlich, ein Etablissement, in dem man ... äh, diese Bedürfnisse stillen kann.«

»Sie meinen ein Bordell?«

»Ohhh!« Das war ihm offenbar zu frei von der Leber weg; Barnabys mangelnde Feinfühligkeit schien ihn anzuwidern. »So würde ich es nicht nennen. Ganz und gar nicht. Es ist sehr kultiviert, wirklich. Es gibt einen kleinen Laden, in dem man alle möglichen raffinierten Dinge kaufen kann. Sie veranstalten eine kleine Show, und danach kann man sich mit einer der jungen Ladies zurückziehen, wenn einem danach zumute ist. Und gewöhnlich ist einem danach zumute. Die Vorstellung ist ziemlich stimulierend. Geschmackvoll, aber stimulierend.«

»Und Sie waren am Nachmittag des Siebzehnten in diesem Etablissement?« Der Doktor nickte. »Können Sie uns Name und Adresse nennen?«

Lessiter kramte seine Brieftasche heraus und reichte ihm eine Visitenkarte. »Vielleicht kennen Sie diesen... äh, Club.«

Barnaby betrachtete die Karte. »Ich glaube ja.« Dann bat er um ein Foto.

»Ein Foto?« kreischte der Arzt entsetzt.

»Nur zum Zweck der Identifizierung. Sie werden es zurückbekommen, das kann ich Ihnen versichern. Oder möchten Sie mich vielleicht persönlich dorthin begleiten?«

»Guter Gott, nein!« Er überlegte einen Moment. »Ich habe gerade Paßfotos machen lassen. Sie sind im Arbeitszimmer.« Er verließ den Raum und kam nach ein paar Minuten mit vier kleinen Schwarzweißfotos zurück. »Ich denke, das hier... da lächle ich am meisten.«

»Ich brauche nur dieses eine, danke.« Als sich Barnaby zum Gehen umdrehte, sagte der Doktor noch: »Fragen Sie nach Krystal. Sie ist meine spezielle Freundin.«

9

Die Casa Nova war auf den ersten Blick nicht als Bordell erkennbar. Das unauffällige Haus stand in einer schmuddeligen, wenig ansprechenden Seitenstraße - zwischen einem Lagerhaus und einer Handtaschenfabrik. Die Fenster der Fabrik waren weit geöffnet, um die warme Julisonne in die ohnehin schon stickigen Arbeitsräume scheinen zu lassen. Der Geruch von gegerbtem Leder drang zusammen mit dem Hämmern etlicher Maschinen auf die Straße. Troy parkte in der Nähe einer Tür mit abblätterndem rotem Lack und einer teilweise kaputten Leuchtreklame: »10 schöne Mädchen 10«. Seine Augen glänzten in freudiger Erwartung, als er den Sicherheitsgurt löste.

»Casanova, wie?« kicherte er. »Ganz schön frech.«

»Casa Nova heißt >Neues Haus<, verstanden?« erwiderte Barnaby. »Obwohl ich nicht bezweifle, daß dieses Wortspiel uralt ist.«

»Sieht aber vielversprechend aus. Zehn schöne Mädchen.«

»Auch das Ei eines Geiers scheint vielversprechend, mein Junge«, versetzte Barnaby und stieg aus. »Sie warten hier.« Er grinste, als er auf den Klingelknopf drückte und spürte, daß Troy seinen Rücken mit Blicken durchbohrte. Barnaby sagte in die quietschende Sprechanlage: »Krystal, bitte.«

»Paß auf die Stufen auf, Süßer.«

Die Treppe war nur schwach beleuchtet. Am Fuß der Treppe trat eins der zehn schönen Mädchen vor. Sie könnte jedes Alter zwischen dreißig und sechzig haben. Sicher war nur, daß sie zu der Zeit ein Mädchen gewesen war, als Barnaby noch mit der Pfadfindergruppe durch die Gegend gewandert war. Ihr Haar hatte die Farbe von blauen, angelaufenen Trauben. Ihr Lippenstift sah aus wie zinnoberrote Vaseline, und eine dicke Make-up-Schicht lag auf den Kratern und Erhebungen ihres Gesichts. Trotzdem sah Barnaby deutlich die vielen Flecken und Sommersprossen. Sie trug Shorts im Leopardenmuster, einen passenden BH ohne Träger und so hochhackige Schuhe, daß es aussah, als würde sie auf Lederstelzen balancieren. Sie kam mit wiegenden Hüften auf Barnaby zu, nahm mit einer erfahrenen Geste seinen Arm und zeigte bei einem Lächeln Zähne, die Perlen von unter Umweltverschmutzung leidenden Austern hätten sein können. »Ich kann mir denken, daß du ein unartiger Junge sein willst, stimmt’s, Süßer ?«

»Eigentlich nicht«, sagte Barnaby, löste sich aus ihrem Griff und zog seine Dienstmarke aus der Tasche.

»Menschenskind! Was, zum Teufel, wollen Sie? Wir sind alle legal hier.«

»Da bin ich sicher.« Er zeigte ihr Lessiters Paßfoto. »Kennen Sie diesen Mann?«

Ein flüchtiger Blick. »Klar, das ist Mr. Lovejoy.«

»War er am letzten Freitag nachmittag hier? Am Siebzehnten?«

»Verdammt, er wohnt praktisch hier, Mann.«

»Ich muß es genau wissen.«

»Dann sollten Sie lieber mit Krystal sprechen.«

»Würden Sie sie bitten herzukommen?«

»Sie kommt überall hin, wenn der Preis stimmt - so eine ist das.« Sie versetzte ihm einen leichten Stoß in die Seite. »Sie sehen aus wie ein Kerl, der was in der Brieftasche hat. Warum kommen Sie nicht zurück, wenn Sie Dienstschluß haben? Ein Weilchen richtig entspannen. Sich selbst verwöhnen lassen.« Sie starrte ihn an und wartete auf eine Zusage, dann meinte sie: »Na gut - dann geht’s Ihnen eben weiter schlecht. Krystal ist bei der Vorführung. Es dauert noch zehn Minuten. Zweite Tür rechts.«

Barnaby hob den Samtvorhang und fand sich in einem kalten, gefliesten Korridor wieder. Auf beiden Seiten befanden sich Türen. Er öffnete die zweite rechts und stand wieder vor einem verstaubten Vorhang. Er schob ihn zur Seite und tastete sich unnötig vorsichtig weiter. Nicht ein Mensch drehte sich nach ihm um. Sie verfolgten alle die Vorgänge auf der Bühne.

Auf einem ausgeleuchteten Podest stand ein gutausgestattetes Mädchen und stellte nach Manier der Commedia dell’arte Entsetzen zur Schau: weitaufgerissene Augen, die gespreizten Hände ausgestreckt, um die Gefahr abzuwenden, und halb abgewandt, als wollte sie die Flucht ergreifen. Sie trug eine Schuluniform: Faltenrock, weiße Bluse und Blazer. Ein Hut mit gestreiftem Band saß waghalsig auf ihrem Kopf. Sie hatte taillenlanges, blondes Haar. Ein junger Mann in hautenger Hose, einer Samtjacke und passender Baskenmütze stand vor einer Staffelei und tat so, als würde er malen. Eine schroffe männliche Stimme, untermalt von militärischen Trommelwirbeln und Marschmusik, plärrte aus zwei Lautsprechern.

»Und so wurde die liebreizende Brigitte, die verzweifelt versuchte, Geld zusammenzubringen, um ihrem sterbenden Vater Medizin kaufen zu können, von dem berüchtigten Maler Fouquet beschwatzt, die Klosterschule zu verlassen und in seinem Atelier zu posieren. Trotz seiner inbrünstigen Beteuerungen, daß alles ganz züchtig sei, erklärte der ruchlose Fouquet, sobald er sie in sein Atelier gelockt hatte, daß er ihr nur Geld geben würde, wenn sie sich splitterfasernackt auszog.«

Plötzlich erinnerte sich der junge Mann ziemlich anschaulich daran, was er der liebreizenden Brigitte antun wollte. Sie weinte, heulte und rang die Hände, dann zog sie sich mit rührend bebenden Händen aus. Erst den Blazer, dann die weiße Bluse, die von ihren Formen fast gesprengt wurde, und das kurze Faltenröckchen. Sie verschränkte verschämt die Arme über ihrem außergewöhnlich üppigen Busen.

Die Stimme krächzte weiter aus den Lautsprechern. »>Wenn du das Leben deines geliebten Vaters retten willst, weißt du, was du zu tun hast<, schrie der teuflische Fouquet.«

Schluchzend zog das Mädchen die Schnürschuhe, die Kniestrümpfe und den Büstenhalter aus. Der teuflische Fouquet wollte ihr in nichts nachstehen und riß sich die Samtjacke vom Leib. Eine unbehaarte, braungebrannte Brust kam zum Vorschein. Brigitte trug nur noch einen aufreizenden Slip, den jede Mutter Oberin, die etwas auf sich hält, sofort mit einer Zange ergriffen und den Flammen übergeben hätte.

»Als der lüsterne Künstler den Versuch unternahm, die anmutige Jungfrau in Positur zu setzen, wurde er von einer Welle der Begierde übermannt.«

Was für eine Überraschung, dachte Barnaby gähnend. Er schlüpfte wieder durch den Vorhang und wartete auf dem kalten Flur. Die langweiligen Posen auf der Bühne öffneten ihm den Blick auf sein eigenes häusliches Leben und die reinen, süßen Umarmungen mit Joyce. Auf den Bakewell Surprise, der scheußlich schmeckte. Auf seine Tochter, die sich herrichtete wie eine an den Strand gespülte Schiffbrüchige und keineswegs geizig war mit bissigen Bemerkungen. Er verglich sie im Geist mit Doktor Lessiters spezieller Freundin und pries sich glücklich.

Ein simulierter orgasmischer Schrei beendete die Vorstellung, und die Voyeure schlurften auf den Flur. Junge, mittelalte, ältere. Niemand war, wie es schien, mit einem Freund oder Kumpan hergekommen. Sie kamen alle einzeln auf den Flur und blinzelten im Licht wie melancholische Maulwürfe. Barnaby wartete noch einen Moment, dann betrat er erneut den Raum.

»Brigitte« hockte in ein Tuch gehüllt auf dem Stuhl des Malers und rauchte. Ihre Haut schimmerte durch den dünnen Stoff. Das perlmuttfarbene Fleisch, die langen, silberblonden Locken und der milchweiße Teint verliehen ihrer Erscheinung eine Gesundheit, die in krassem Gegensatz zu der Umgebung stand. Sie sah aus, als wäre sie viel eher auf einer Farm und in einem Kuhstall zu Hause.

»Gönn uns eine verdammte Pause, Herzchen«, sagte sie zu Barnaby. »Die nächste Show fängt in einer halben Stunde an. Bezahl draußen.« Er zeigte ihr seine Marke. »Verfluchte Hölle.« Sie drückte hastig ihre Zigarette aus, aber ihm war der verräterische Geruch bereits in die Nase gestiegen. »Ich nehme keinen harten Stoff, wissen Sie. Aber irgendwie muß man sich in diesem verdammten Job bei Laune halten.«

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen ...«

»Ich sage kein Wort ohne Zeugen.« Sie verschwand durch eine Tür hinter der Bühne in eine so winzige Garderobe, daß Barnaby sich nur noch mit Mühe hinter ihr hineinquetschen konnte. In der Kammer stank es nach billigem Parfüm, Haarspray, Schweiß und Zigarettenrauch. Zwei andere Mädchen saßen auf schmalen Plastikstühlen. Sie trugen zerfledderten Federschmuck und glitzernde Sterne auf den Brustwarzen. Sie taxierten ihn unverhohlen von oben bis unten, dann sahen sie ihn beleidigt an.

»Was hast du verbrochen, Kris?«

»Ihr könnt mich alle mal. Der kann mir nichts anhängen.«

Barnaby zeigte ihr das Foto von Trevor Lessiter. »Kennen Sie diesen Mann?«

»Ja - das ist der arme alte Loveless. Oder Lovejoy, wie er sich selbst nennt. Keine Ahnung, wie er wirklich heißt.«

»War er am letzten Freitag nachmittag hier?«

»Er ist jeden Freitagnachmittag hier. Und am Montag und am Mittwoch. Er macht keine Schwierigkeiten. Ein bißchen masochistisch. Aber meistens verläuft alles ganz normal. Seine Frau läßt ihn nicht ran, müssen Sie wissen.«

»Ja.« Der Zwischenruf von dem roten Federschopf wirkte wie ein Faustschlag. »Er hat ihr einen Nerzmantel zu Weihnachten geschenkt.«

»Ich hab’ mir das mal ausgerechnet«, sagte Krystal, »und es ihm auch gesagt: Ich muß es fünfhundertmal machen, um mir einen Nerzmantel kaufen zu können. Einen anständigen, meine ich - nicht einen, der sofort wieder in den Zoo verduftet, sobald der Pfiff ertönt.«

»Du bist zu kaputt, um so was zu tragen, Kris.«

»Das meinst du vielleicht.« Sie kreischte und kicherte.

»Sie stinken grausam, wenn du damit in den Regen kommst«, sagte die mit den roten Sternchen auf den Brustwarzen. »Zumindest die, die aus den Kaninchenkäfigen gefallen sind.« Noch lauteres Kreischen.

Barnaby machte dem entschlossen ein Ende. »Können Sie mir sagen, um wieviel Uhr Mr. Lovejoy am letzten Freitag gegangen ist?«

»Um halb sechs. Ich weiß das noch genau, weil ich danach für ’ne Stunde abgehauen bin. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe und irgendwo was esse. Er fragt das immer. Sie wissen schon ... man muß so tun, als würde man sie wirklich mögen, und manche, die schlichten Gemüter, nehmen das für bare Münze. Sie versuchen, einen auch außerhalb zu treffen. Es ist erbärmlich, ehrlich.«

Sie hob beide Hände und zog sich die schweren silbernen Locken vom Kopf. Darunter kamen schmutzige rote Haare zum Vorschein, sie waren kurzgeschnitten und standen nach allen Seiten ab. Sie grinste, als sie den überraschten Blick des Chief Inspectors sah.

»Er dachte, es ist echt - das dachten Sie doch, Herzchen?«

»Ich liebe die Naiven, du nicht?« sagte das Mädchen mit der durchschlagenden Stimme. »Ich könnte mich totlachen über sie.«

»Ich war auch mal naiv«, sagte Krystal. »Ich dachte, ein Dildo ist ein prähistorischer Vogel, bevor ich in dieses Haus kam.«

Krächzendes Lachen; die zerfledderten Federn wackelten. Die Mädchen behielten Barnaby scharf im Auge - sie wirkten wie Raubvögel ohne Schnäbel und Klauen. Barnaby verabschiedete sich und ging.

10

Die kleine Dorfkirche war voll bis auf den letzten Platz. Barnaby schlüpfte unbemerkt durch das Portal und stellte sich hinter eine Säule. Es war ein herrlicher Tag; die Sonne strömte durch die Kirchenfenster. Hinter der Kanzel war alles weiß: der weißhaarige Vikar im weißen Gewand, zwei hübsche Arrangements aus weißen Blumen rechts und links vom Altar, ein schlichter Lilienstrauß auf dem schmalen Sarg.

Die meisten Trauernden trugen normale Kleidung, aber man sah auch Schwarz. Ein paar Männer hatten Trauerflore am Arm, und einige Frauen bedeckten ihre Köpfe mit dunklen Tüchern. Barnaby war erstaunt, daß fast ein Viertel der Trauergemeinde junge Leute unter Dreißig waren.

Miss Bellringer, angetan mit einem rostfarbenen, mit schwarzen Perlen bestickten Gewand, hatte in der rechten vorderen Bank Platz genommen. Ihr Adlerprofil war ausdruckslos unter dem Hut mit dem Federschmuck, ihre Augen trocken. In der linken ersten Reihe (reserviert für den Landjunker und seine Verwandten?) saß Henry Trace, im dunklen Anzug, mit Katherine. Sie trug ein kaffeefarbenes Seidenkleid mit einem schwarzen Chiffonschal, dessen Ränder mit kleinen goldenen Münzen verziert waren. Die Lessiters hatten zwar Plätze in einer Bank, starrten aber alle stur geradeaus, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß die drei eine Familie waren. Dennis Rainbird hatte sich in seiner Rolle als Zeremonienmeister selbst übertroffen. Eine große schwarze Schleife schmückte seinen Arm, die Enden reichten ihm bis zur Hüfte. Seine Mutter lehnte matt in der zweiten Reihe, eingehüllt in graue Taftwolken und einen grauen Schleier. Mrs. Quine tupfte sich auffällig eine nicht vorhandene Träne aus dem Auge, und Lisa Dawn saß schniefend neben ihr. Phyllis Cadell trug Dunkelblau, David Whiteley Jeans und ein gestreiftes Hemd. In der hintersten Bank weinte ein alter Mann namens Jake hemmungslos und wischte sich die Tränen mit einem rot getupften Taschentuch von den Wangen. Als sich alle hinknieten, sah Barnaby Michael Lacey, der aufrecht sitzen geblieben war und die ehrerbietige Versammlung mit Ungeduld und Spott überblickte. Er hatte keinerlei Konzessionen an Anstand und Sitte gemacht - er war in einem farbverschmierten Overall und einer Leinenkappe erschienen.

»Ein Mensch, geboren vom Weibe, hat nur eine kurze Zeit zu leben...«

Emily Simpson hatte, verglichen mit dem Rest der Weltbevölkerung, sehr lange gelebt, aber jemand hatte es ihr verwehrt, die ganze Frist auszukosten, die ihr das Schicksal zugedacht hatte. Niemand, dachte Barnaby, sollte einen Tag, eine Stunde oder auch nur eine Sekunde vor seiner Zeit auf die große Reise geschickt werden. Ihm war warm - er lockerte den Kragen, schloß die Augen und legte für einen Moment die Stirn an den kühlen Stein der Säule.

Gestalten bewegten sich vor seinen Augen: die Laceys und Lessiters, Phyllis Cadell, David Whiteley, die Rainbirds, Henry Trace. Sie gingen aufeinander zu, trafen sich und gingen wieder auseinander - ein leidenschaftsloser Tanz. Wer gehörte zu wem? Wenn er das wüßte, wäre das Rätsel gelöst.

Barnaby träumte nachts von dem Pärchen im Wald: zwei umschlungene, zuckende Leiber, weiße Glieder - im einen Moment starr wie Statuen, dann wieder zu einem Ganzen verschmolzen. Letzte Nacht hatten sie sich langsam gedreht, ein Mobile der Lust an unsichtbaren Fäden, und er hatte im Schlaf den Atem angehalten und darauf gewartet, endlich ihre Gesichter zu sehen. Aber als die Gestalten den Kreis vollendeten, blickte er in zwei schneeweiße, haarlose Ovale.

Ein staubwirbelnder Sonnenstrahl tauchte den Lilienstrauß in bernsteinfarbenes Licht. Alle standen auf, um zu singen. Hinter Barnaby schlug ein von einer plötzlichen Windbö gepeitschter Eibenzweig gegen die Fensterscheibe.

Teil 3

Wiederholung 

1

An dem Nachmittag der Untersuchung war der Gerichtssaal voll. Jeder einzelne Klappstuhl war besetzt. Ganz Badger’s Drift schien anwesend zu sein. Barnaby sah sich um - nur David Whiteley und Michael Lacey fehlten offenbar. Die Geschworenen - um ernste, gleichgültige und vertrauenerweckende Mienen bemüht - saßen auf ihren Plätzen.

Barbara Lessiter trug ein schwarzweiß gepunktetes Kleid, das besser zu einer Gartenparty gepaßt hätte, dazu einen kleinen schwarzen Hut mit Flitter auf dem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Judy hatte einen hellen Pullover und eine Tweedhose an, Katherine Lacey einen weißen Hosenanzug aus Leinen. Ihr Haar war mit zwei zusammengedrehten Tüchern - leuchtend türkis und grellgelb - zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mrs. Rainbird hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und ihre üppige Figur wie ein Weihnachtsgeschenk in schimmernden karminroten Satin verpackt; das Ganze wurde von einem grünen Hut, den kleine Beeren zierten, gekrönt. Der Coroner nahm Platz, und die Sitzung begann.

Die Aussage von Trevor Lessiter wurde vorgelesen. Darin stellte er klar, daß er bei der Untersuchung der Leiche selbstverständlich eine Lungenstauung festgestellt habe; da er Miss Simpson jedoch kurz zuvor wegen einer Bronchitis behandelt hatte, habe er dieses Symptom nicht für auffallend gehalten. Deshalb hatte er natürlich nicht nachgeforscht, ob eine Vergiftung vorlag. Welcher Arzt würde das unter diesen Umständen tun? Der Coroner meinte, man könne ihm daraus keinen Vorwurf machen. Bei diesen Worten starrte Lessiter den Reporter vom Causton Echo intensiv an, um ganz sicherzugehen, daß er das zur Kenntnis genommen hatte. Lessiter Unterzeichnete seine Aussage, marschierte wichtigtuerisch zu seinem Stuhl und setzte sich. Sein runder Schädel und die massigen Schultern wirkten selbst von hinten aufgeblasen und pompös.

Als nächstes las der Schriftführer den Bericht des Pathologen vor. Tuscheln wurde laut, als das Wort »Schierling« fiel, und die Rainbirds waren so aufgeregt, daß sie sich an den Händen hielten. Anschließend gab ein Wissenschaftler vom forensischen Labor Auskunft über die in der Nähe von Badger’s Drift auf dem Waldboden gefundenen Fasern und über die Erd-und Laubspuren, die an den Tennisschuhen der Verstorbenen sichergestellt worden waren und eindeutig aus dem Waldstück stammten.

Zwei Beamte der Spurensicherung beschrieben dieses Waldstück, die Mulde und die Abdrücke ebendieser Tennisschuhe, die darauf hindeuteten, daß Miss Simpson einige Zeit an dieser Stelle gestanden hatte. Barnaby registrierte, daß Miss Bellringers Gesicht rot anlief und den Beamten zornig anfunkelte. Der fuhr in seinem Bericht fort und erzählte von einer Vertiefung - ein paar Meter entfernt von der bewußten Stelle. Art und Ausmaße dieser Vertiefung legten den Schluß nahe, daß jemand, der etwa die Größe und das Gewicht von Miss Simpson hatte, gestürzt war. Der Coroner unterbrach die Sitzung, um Doktor Lessiters Aussage noch einmal überprüfen zu können. Nach der Pause erkundigte er sich bei Lessiter, ob die blauen Flecken an Miss Simpsons Schienbein von diesem möglichen Sturz im Wald herrühren konnten. Der Arzt seufzte abgrundtief und bestätigte diese Annahme in einem Ton, der zum Ausdruck brachte, daß man seine wertvolle Zeit bereits über Gebühr beansprucht hatte.

Die Spurensicherer sprachen über Fingerabdrücke und über die mit einem Bleistift der Stärke 6 B markierten Zeilen im Shakespeare-Band. Der Bleistift war nicht aufgefunden worden. Der Nachmittag schleppte sich dahin. Der Postbote und Miss Lucy Bellringer wurden aufgerufen. Miss Bellringer versicherte dem Gericht, daß das Speisekammerfenster am Morgen nach dem Tod ihrer Freundin unbeschädigt und der Schierling nicht im Haus gewesen sei. Und was den Bleistift 6 B betraf - Miss Simpson hätte nie ihren geliebten Shakespeare verschandelt. »Sie strich niemals etwas in ihren Büchern an. Sie waren ihr viel zu kostbar.«

Detective Chief Inspector Barnaby berichtete von Miss Bellringers erstem Besuch in seinem Büro und seiner Unterredung mit Terry Bazely, was noch mehr Unruhe unter den Zuhörern hervorrief. Als er den Namen Annabella nannte, sah er sich die Gesichter der Reihe nach an. Verständnislosigkeit, nicht die Spur von Erkennen. Er setzte sich wieder und wandte sich den Jurymitgliedern zu. Sie machten einen sehr ernsten Eindruck, und alle waren ganz bei der Sache. Eine der Frauen war bei den Schilderungen ganz bleich geworden. Ein Gerichtsdiener huschte zu ihr und flüsterte ihr etwas zu, aber sie schüttelte den Kopf und rutschte ganz vor an die Stuhlkante.

Der Coroner faßte das Gehörte noch einmal zusammen und schloß die Beweisaufnahme mit den üblichen deutlichen Anweisungen an die Jury. Die Geschworenen berieten sich nur ein paar Minuten und kamen zu dem Urteil, daß Emily Simpson von einer oder mehreren unbekannten Personen ermordet worden war.

Der Reporter vom Echo sprang auf, vielleicht unter dem Einfluß von zuviel film noir, zog hastig seinen nagelneuen hellen Trenchcoat über und raste aus dem Gerichtssaal. Alle anderen ließen sich mehr Zeit, redeten und fragten und beäugten sich mit einer Mischung aus Erregung und Bestürzung wie ein Haufen Kritiker, die Zeugen einer Vorstellung geworden waren, die ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatte.

Barnaby sah Barbara Lessiter nach, die am Arm ihres Mannes hinausrauschte. Während der ganzen Anhörung hatte sie ruhig und gelassen gewirkt, aber ihre Hände waren ständig in Bewegung gewesen, Barnaby ging zu der Reihe, in der sie gesessen hatte, und entdeckte auf dem Boden vor ihrem Stuhl ein Häufchen - Barbara Lessiter hatte ein Papiertaschentuch in kleine Stücke zerrissen. Er erinnerte sich an den neulich so schnell versteckten Brief und bedauerte, daß sie einen Hut mit Schleier getragen hatte. Er hätte zu gern ihr Gesicht gesehen, als die Entscheidung der Geschworenen verkündet wurde.

Fast alle waren gegangen. Nur eine Person hockte ein Stück entfernt mit gesenktem Kopf. Barnaby ging zu ihr und ließ sich neben ihr nieder.

»Miss Bellringer ...?« Sie schaute ihn an. Ihre Haut war aschfahl, ihre Augen trüb. »Geht es Ihnen nicht gut?« Da sie nicht antwortete, setzte er hinzu: »Sie sind sich jetzt sicher im klaren, wohin unsere Ermittlungen führen, nicht wahr?«

»Natürlich ... das heißt, ich nehme es zumindest an.« Ihre normale Überschwenglichkeit war wie weggeblasen. Sie sah sehr alt aus. »Aber bis jetzt hat es noch niemand deutlich in Worte gefaßt. Warum ist es jetzt, da es ausgesprochen wurde, um so vieles schlimmer?« Sie richtete einen fragenden Blick auf sein Gesicht, als könne er es ihr erklären. Es entstand eine lange Pause.

Schließlich sagte Barnaby: »Es tut mir leid.«

»So eine Niedertracht.« Zorn zeichnete ihr Gesicht, und ihre Augen blitzten. »Ein Leben lang hat sie sich um andere Menschen gekümmert. Sie war eine wunderbare Lehrerin, eine bessere, als ich jemals war. Und natürlich kannte sie sie, wer immer sie auch waren. Das ist das schrecklichste. Sie muß sie in ihrem Haus willkommen geheißen haben.« Barnaby stimmte ihr im stillen zu. »Sie müssen gefaßt werden«, fuhr sie fort - ihre Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Gut - wie lauten Ihre Anweisungen, Chief Inspector? Was soll ich als nächstes tun?«

»Nichts. Ich fürchte, wir ...«

»Oh, aber ich muß irgend etwas tun. Ich kann mit den Leuten reden, nicht wahr? Herausfinden, ob jemandem irgend etwas auf gefallen ist an dem Tag, an dem sie starb. Und wer diese mysteriöse Annabella sein könnte. Vielleicht erfahre ich, wer sie ist.«

»Tut mir leid, Miss Bellringer...«

»Aber ich muß Ihnen helfen. Sie können sicher verstehen, warum, Chief Inspector.«

»Ich verstehe Sie natürlich, aber...«

»Poirot«, unterbrach sie ihn wehmütig, »hatte seinen Hastings.«

»Und ich, Miss Bellringer, habe die Unterstützung einer modernen Polizeibehörde. Die Welt hat sich verändert.«

»Ihre Leute können nicht überall gleichzeitig sein. Jedenfalls bin ich sicher«, sie legte eine behandschuhte Hand auf seinen Arm, »daß sie nicht so intelligent sind wie Sie.«

»Bitte, seien Sie doch vernünftig«, sagte Barnaby, ohne auf ihre unverhohlene Schmeichelei einzugehen. »Ihre Freundin würde bestimmt nicht wollen, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.«

Sie zog ihre Hand zurück. »Was, um alles in der Welt, meinen Sie damit?«

»In einer so kleinen Gemeinde wie Badger’s Drift wäre jedem sofort klar, was Sie beabsichtigen. Jemand hat einmal getötet, und wer glaubt, ein zweiter Mord könnte ihn schützen, zögert sicher nicht, wieder zu töten. Und vergessen Sie nicht«, fügte er hinzu, als sie aufstanden und zusammen zum Ausgang gingen, »daß Miss Simpson ihren Mörder sehr gut gekannt hat - und demzufolge kennen Sie ihn auch.«

2

Um neun Uhr am selben Abend stand Phyllis Cadell neben der Anrichte in dem größeren der beiden Wohnzimmer von Tye House. Sie stand ganz still und lauschte. Sie hatte ihren Nachtisch so schnell hinuntergeschlungen, daß sie fürchtete, die beiden anderen würden etwas bemerken, aber wie gewöhnlich hatten sie nur Augen füreinander gehabt. Phyllis starrte auf die halboffene Tür. Katherine war in der Küche und weichte die Teller im Spülwasser ein. Henry trieb sich bestimmt in ihrer Nähe herum und sah ihr fasziniert bei diesem schwierigen Unterfangen zu. Phyllis nahm hastig den geschliffenen Stöpsel aus der schweren Kristallkaraffe, schnappte sich einen bauchigen Cognacschwenker und füllte ihn mit Brandy. Ein Klirren wurde laut, als sie mit dem Glas versehentlich gegen die Karaffe stieß. Phyllis sah wieder zur Tür, steckte den Stöpsel zurück und begann zu trinken.

Der Brandy war wunderbar. Feurig und stark. Er hüllte ihr Elend in Wärme ein wie ein kuscheliger Mantel. Sie hatten Wein zum Essen getrunken, aber was waren schon zwei Flaschen für drei Personen? Wein wirkte ohnehin nicht mehr. Sie leerte ihr Glas und goß es noch einmal voll. In der Eile verschüttete sie ein bißchen von dem Brandy.

»Sei so lieb und gib mir auch einen kleinen, Phyllis.«

»Oh!« Sie wirbelte herum. Henry rollte über den Teppich. »Selbstverständlich ... entschuldige, ich hab’ dich nicht gehört.« Sie drehte ihm den Rücken zu, versteckte den fast vollen Schwenker hinter einer Pflanze und goß ihrem Schwager einen Drink ein. »Und einen für Katherine?« fragte sie - sie war richtig stolz, daß sie ihre Stimme so gut unter Kontrolle halten konnte.

»Ich denke nicht. Sie trinkt kaum etwas, wie du weißt.« Das braucht sie auch nicht, dachte Phyllis grimmig. Glaubst du, ich würde trinken, wenn ich ihr Leben führen könnte? Aussehen würde wie sie ? Ihre Zukunft vor mir hätte? Sie bedeckte das volle Glas mit der Hand, als sie zum Fenster ging und sich hinter eine große Blumenschale stellte. Sie nahm einen ausgiebigen Schluck.

Allmählich fühlte sie sich besser. Sobald ihre Niedergeschlagenheit geschwunden war, nahm sie ihre Umgebung seltsam verzerrt wahr. Der samtartige Teppich schien zum Leben zu erwachen und sich an ihre Füße zu schmiegen wie eine Katze; die Streifen der Vorhänge wirkten plastisch und sahen plötzlich aus wie Bahngleise. Die Blumen in der Schale verströmten einen schweren, sinnlichen Duft, der ihr heftig in die Nase stieg und sie an die bevorstehende Hochzeit erinnerte. Wenn ihr uns stecht, bluten wir dann nicht? dachte sie in ihrer Verwirrung.

Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht in dem Cottage. Wenigstens stand sie ihnen dann nicht mehr im Weg. Es war ein gut zehnminütiger Spaziergang vom Haupthaus bis zum Cottage, und sie würden wohl kaum dauernd bei ihr vorbeischauen. In der Anfangsphase konnte Phyllis möglicherweise noch mit häufigen Besuchen rechnen, weil sie das schlechte Gewissen plagen würde, sie in die Einsamkeit geschickt zu haben, aber das legte sich sicher rasch.

In der Küche war es jetzt still. Katherine kam bestimmt jeden Augenblick herein. Phyllis atmete tief durch und versuchte, sich zusammenzureißen. Sie zwinkerte heftig und zwang sich dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren, und nicht wie eine verzerrte Zeichnung oder eine unnatürliche lebendige Bühnenkulisse. Sie beobachtete durchs Fenster, wie die zukünftige Braut mit den verwelkten Blumen aus dem Eßzimmer über den Hof ging. Phyllis schaute ihr nach. Kann ja sein, dachte sie, daß es gar keine Hochzeit gibt. Vielleicht hat Katherine vorher einen Unfall - fällt in den See, fährt den Peugeot zu Schrott, gerät in den Mähdrescher. Die Vorstellung machte ihr angst. Nein. Katherine war jung und gesund und würde lange leben, sehr lange. Vielleicht sogar ewig.

Und sie werden Kinder haben. Unter dem kuscheligen Mantel bohrte sich ein Messer in ihr Fleisch. Dann konnte sie sich nützlich machen. Arme alte Tante Phyllis. Komische alte Tante Phyllis. Eine Träne fiel in ihr leeres Glas. Guter Gott, sie brauchte noch was zu trinken. Allmählich drang Henrys Stimme in ihr Bewußtsein.

»... und wir machen uns beide große Sorgen.«

»Um wen, Henry?«

»Hast du mir nicht zugehört?« Sie starrte ihn an - es war mühsam, sich in ihrem alkoholisierten Zustand zu konzentrieren. »Um dich natürlich.«

»Mit mir ist alles in Ordnung.«

Er stellte sein Glas ab und rollte zu ihr. »Sieh mal - du mußt nicht ins Cottage ziehen, Phyllis. Du selbst hast es vorgeschlagen. Kate und ich wären froh, wenn du hierbleiben würdest.« Sie gab einen Ton von sich, den man als Schluchzen oder Lachen deuten konnte. »Jedenfalls hoffen wir beide, daß du weiterhin viel Zeit mit uns verbringst. Katherine ist es nicht gewöhnt, einen so großen Haushalt zu führen. Sie wäre bestimmt dankbar für deine Hilfe - genauso dankbar, wie ich dir immer war.«

»Das bin ich jetzt also für euch? Ein unbezahltes Dienstmädchen?«

»Selbstverständlich nicht. Ich meine nur...«

»Ist das der Preis, den ich für das Cottage zahlen muß? Böden schrubben?«

»Sei nicht albern.«

Sie sah, daß sich sein Gesicht ärgerlich verzog. Henry haßte Streit. Bella hatte Auseinandersetzungen immer umgebogen, bevor sie eskalieren konnten - darin war sie großartig gewesen. Phyllis hätte auch aufhören und lieber den Mund halten sollen, und zwar sofort, aber sie redete einfach drauf los. »Du weiß nicht, wie das ist, was ich mir bieten lassen muß, seit sie ins Haus gekommen ist. All die spitzen Bemerkungen, die kleinen Beleidigungen. Sie macht das nie, wenn du in der Nähe bist.«

»Das bildest du dir nur ein...«

»Ach, ja? Oh, sie ist raffiniert. Du warst blind, aber ich habe gleich gemerkt, was sie im Schilde führt. Bella war noch nicht richtig unter der Erde, und schon scharwenzelte sie hier herum... erledigte dies und das für dich... kicherte schüchtern ... und mischte sich in alles ein, was sie nichts anging.« Oh, hör auf, Phyllis, halt den Mund! Du bringst ihn nur dazu, dich zu hassen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn das schon so war, als Bella noch lebte.«

»Jetzt ist es aber genug! Du weißt genau, daß das nicht stimmt. Ich dulde nicht, daß du so über Katherine sprichst.«

»Sie heiratet dich nur wegen des Geldes. Glaubst du, sie würde dir auch nur einen Blick gönnen, wenn du gelähmt und arm wärst?«

Phyllis plapperte weiter und weiter. Henry Trace sah sie eher erstaunt und verstört als verärgert an. So viel Gehässigkeit. Er erwartete beinahe, Gift und Galle zwischen ihren Lippen hervorquellen zu sehen. Als sie endete, sagte er ruhig: »Ich hatte ja keine Ahnung, daß du solche Gefühle hegst. Ich dachte, du würdest dich über mein Glück freuen. Ich dachte, du magst mich.«

»Mögen ?« kreischte sie schrill. Ihre Wangen waren trocken und knallrot vor Wut. Als Katherine auf der Türschwelle erschien, stürmte Phyllis aus dem Zimmer und schubste das zarte Mädchen beiseite. Sie konnte ihrer Rivalin einfach nicht ins Gesicht sehen - sie war sicher, daß sie ein verschlagenes Grinsen sehen würde oder, noch schlimmer, Mitleid.

»O Pookie.« Barbara Lessiters Zunge glitt wie eine geschmeidige kleine Schlange in das Ohr ihres Mannes. »Tut mir leid, daß ich so war.« Sie holte tief Luft, und die zarte Spitze ihres Crepe-de-Chine-Nachthemds spannte sich gefährlich über ihrem Busen. Ihr Kopfweh hatte sich gebessert.

»Aber, aber. Du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen«, erwiderte Pookie und tollte glücklich zwischen den Satinlaken herum. Wie ein Halbverhungerter nach einem großen Bankett, glaubte er, daß das, was er bekommen hatte (zweimal), bis in alle Ewigkeit Vorhalten würde. Nach Lage der Dinge war das ein Glück, denn diese spezielle Quelle war nicht oft zugänglich. »Das liegt vermutlich an den Wechseljahren.«

Er spürte, wie sich Barbara bei der Anspielung auf ihr Alter ein wenig zurückzog. Na ja, ein kleiner Seitenhieb von Zeit zu Zeit konnte nicht Schaden. Dann blieb sie auf dem Teppich. Es zeigte ihr, daß sie vor fünf Jahren nicht einen liebeskranken Trottel aufs Kreuz gelegt hatte. Er wollte verdammt sein, wenn er dankbar für etwas war, was ihm rechtmäßig zustand. Wenn sie noch länger Kopfschmerzen gehabt hätte, wäre sie ins Guiness Buch der Rekorde gekommen. Seine Hand bewegte sich von neuem.

»Liebling ... Pooks?«

»Mmm?« Ah, es gab nichts schöneres als Seide und Spitze, abgesehen von warmer, nackter Haut.

»Nicht, Schätzchen ... hör Barbie zu...«

Ein Knurren und ein gespieltes Hecheln wie ein Hund.

»Es ist nur... ich habe mir so schreckliche Sorgen gemacht. Ich muß dir etwas beichten, aber ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll...«

Eine böse Vorahnung erstickte die Leidenschaft, und plötzlich wurde er kalt wie Eis. Er ergriff ihre Arme und starrte sie in dem gedämpften Licht der Elfenbeinlampe an. Wie konnte er nur so dumm gewesen sein? Er hätte wissen müssen, warum sie sich ihm ständig entzog und sich so abweisend verhielt. »Du hattest einen anderen!«

»O Pookums!« rief sie und schlug die Hände vors Gesicht. »Wie kannst du so etwas auch nur von deiner kleinen Barbie denken?«

Die Erleichterung machte einen Teil des Schadens, den seine Männlichkeit erlitten hatte, wieder gut. Es regte sich wieder etwas. »Was ist dann so schlimm? Sag’s Pookie ins Ohr.«

Die Spitze spannte sich wieder, als sie all ihren Mut zusammennahm. »Also ... gestern holte ich den Nerzmantel aus dem Schrank für die Trace-Hochzeit und nahm ihn mit, aber dann habe ich ihn auf dem Rücksitz des Wagens liegen gelassen. Als ich vom Einkaufen zurückkam - o Liebling! -, jemand muß ihn gestohlen haben!« Sie brach in Tränen aus, und als er nichts sagte, spähte sie schüchtern durch die Finger. Früher hätte ihn diese Geste bezaubert, jetzt fand er, daß sich nur ein dreijähriges Kind so albern benahm.

»Wieso, zur Hölle, willst du einen Nerzmantel mitten im Juli anziehen?«

»Ich wollte, daß du stolz auf mich bist.«

»Warst du bei der Polizei?«

»Nein ... ich war so durcheinander... ich bin nur herumgefahren und hatte schreckliche Angst.«

»Du mußt den Diebstahl gleich morgen anzeigen. Beschreib den Mantel ganz genau. Zum Glück ist er versichert.«

»Ja, Liebling. Wahrscheinlich«, ein Arm schlang sich um seinen Hals, »kauft Pookie seiner unartigen Barbie wieder einen so schönen Mantel?«

Pookies Miene verriet nichts. Er versuchte sich an Krystals Bemerkung zu erinnern - die gute Krystal freute sich immer so, wenn sie ihn sah, und hieß ihn jedesmal herzlich und' liebevoll willkommen. Was hatte sie gesagt? »Ich muß es fünfhundertmal tun, um mir so einen Mantel leisten zu können.« Er lächelte gelassen, beinahe nachsichtig und tätschelte die glatten, gebräunten Schultern seiner Frau.

»Wir werden sehen.«

3

Barnaby saß in Hemdsärmeln und bei offenem Fenster im Büro. Das leise Aufschlagen der Tennisbälle und ein gelegentlicher vorwurfsvoller Schrei drangen vom Sportplatz zu ihm herüber. Er sah zum hundertstenmal die Karteikarten in der sich drehenden Hängeregistratur durch und verlangte lautstark nach einem Kaffee.

»Aber nicht in diesem Becher mit dem aufgeblasenen Frosch!«

»Und gerade den finde ich so süß«, sagte die Polizistin Brierley, ihre Lippen zuckten, als sie sich ein Lachen verbiß.

»Ich nicht.«

Barnaby widmete sich wieder den Karteikarten. Er kannte alle Informationen, die sie enthielten, in-und auswendig, hoffte aber, daß ihm wenigstens ein Teil des Rätsels in einem anderen Licht erscheinen würde, wenn er alles noch einmal las, daß sich ihm die Tatsachen in der richtigen Reihenfolge präsentierten und etwas offenbarten, was bisher im dunkeln geblieben war. Zumindest gab es einen Verdächtigen weniger, nachdem geklärt werden konnte, wo sich der arme Teufel Loveless/Lovejoy/Lessiter am Freitag nachmittag herumgetrieben hatte.

Barnaby spielte mit dem Gedanken, daß der Mörder oder die Mörderin frei und ungebunden sein könnte und nur getötet hatte, um den Ruf seiner Gespielin oder ihres Geliebten zu wahren. Es klang ein bißchen weit hergeholt, aber wenn das angetraute Ehegespons die Brieftasche festhielt, lag es im Bereich des Möglichen. Geld und Sex. Das gehörte zusammen. Und beides war ein Motiv für Mord, seit es Morde gab.

Zwei Tage waren seit der Beerdigung vergangen, und Barnaby hatte einen davon damit verbracht, mit allen Mitgliedern der Jagdgesellschaft über Mrs. Traces Tod zu sprechen - nur den Farmersjungen und die beiden Gutsbesitzer in der Nachbarschaft von Tye House hatte er Troy überlassen. Er hatte kaum etwas Neues erfahren, nur ein kleines Detail war ihm bis gestern unbekannt gewesen: Phyllis Cadell befand sich, als der Schuß fiel, bereits auf dem Heimweg nach Tye House, weil sie der Jagdausflug gelangweilt hatte. Henry Trace war überrascht gewesen, daß sie sich ihnen überhaupt angeschlossen hatte. Phyllis behauptete, daß Bella sie dazu überredet hatte. In ihrer Jugend war Phyllis öfter auf die Jagd gegangen, und sie konnte mit einem Gewehr umgehen, aber sie hatte den Geschmack an Vergnügungen dieser Art verloren. »Ich bereute schon, als wir aufbrachen, daß ich Bellas Bitte nachgegeben hatte. Aber ich hielt eine Weile aus, dann beschloß ich, nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf mich ziehen, deshalb machte ich mich ohne viele Worte auf den Weg.«

Wieder ein Beispiel für untypisches Verhalten. Barnaby konzentrierte sich auf seine Karteikarten und auf Miss Simpson. An dem Tag, an dem sie starb, hatte sie sich auch untypisch benommen. Bestand ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Todesfällen? Es gab keinen logischen Grund für diese Annahme. Trotzdem ließ ihn dieser Gedanke nicht los. Barnaby las das Protokoll der gerichtlichen Untersuchung in dem Zeitungsartikel noch einmal durch, obwohl er ihn bereits im Schlaf hätte aufsagen können, und erinnerte sich an sein spontanes Gefühl, daß irgend etwas an dieser Geschichte mit dem Jagdunfall nicht stimmte und keinen rechten Sinn ergab, aber inzwischen kamen ihm die Worte so schal vor, daß er sich fragte, woraus dieser erste Impuls entstanden sein könnte. Sicherlich hatte das wiederholte Lesen nichts dazu beigetragen, sein instinktives Gefühl zu erhellen.

Am Morgen hatte er mit Norah Whiteley im Büro ihres Schuldirektors, der sich taktvoll zurückgezogen hatte, gesprochen. Sie war eine dünne Frau mit bitterem Zug um den Mund und kleidete sich fatalerweise zu jugendlich. Was sie ihm zu sagen hatte, war beunruhigend.

»Ich habe David verlassen, weil ich Angst vor ihm hatte. Mit den anderen Frauen hätte ich mich abfinden können, wenigstens ließ er mich dann in Ruhe. Aber er war gewalttätig. Man wußte nie im voraus, was ihn in Rage bringen würde. Das Abendessen war nicht so, wie er es wollte; das Auto sprang nicht an - solche Sachen reichten schon aus. Ich selbst wäre damit fertig geworden, aber als er anfing, auf Jamie loszugehen ... Ich forderte ihn auf zu gehen, und als er keine Anstalten machte, packte ich seine Sachen, stellte sie vor die Haustür und ließ die Schlösser auswechseln. Trotzdem mußte ich vor Gericht gehen, um ihn davon abzuhalten, uns weiter zu belästigen.«

»Darf er den Jungen sehen?«

»Nein.« Ihre Miene war hart, unglücklich und dennoch zufrieden. »Er hat ein Besuchsrecht beantragt, aber ich konnte es abwenden. Es war ein erbitterter Kampf. Ich konnte nicht sicher sein, daß er Jamie nicht schlägt.«

»Wissen Sie, ob er im Moment eine ... Affäre mit jemandem hat?«

»Bestimmt. David ist nie lang ohne Frau. Er ist sexbesessen.«

Barnaby sah im Geiste David wieder nah bei Katherine Lacey am Küchentisch von Tye House sitzen. Damals hatte er den ersten Eindruck, den diese Szene auf ihn gemacht hatte, Verworfen. Eine Spur von D.H. Lawrence. Und diese wundervollen glühend leidenschaftlichen Filme seiner Jugend: Frau ohne Gewissen. Im Netz der Leidenschaften. Es war alles da: die schöne Frau eines anderen, der unzulängliche Ehemann, der starke, gesunde Kerl. So offensichtlich - ein Klischee. Und dennoch... oft stellt sich das Augenfälligste zu guter Letzt doch als Wahrheit heraus.

Aber Barnaby konnte nicht behaupten, irgendwelche Anzeichen von schlechtem Gewissen bemerkt zu haben, als er aufgetaucht war und die beiden aufgescheucht hatte. Whiteley hatte einen deprimierten, gereizten Eindruck gemacht, Katherine hatte lediglich Interesse und Betroffenheit über Miss Simpsons Tod gezeigt. Und sie wirkte irgendwie kühl, beinahe rein und geschlechtlos bei all ihrer Schönheit. Er konnte sich denken, daß sie ihren Körper dem rechtmäßigen Besitzer anbot, wenn alle Formalitäten geregelt waren - nicht notwendigerweise ohne Liebe. Er traute ihr ein gewisses Maß an Zuneigung zu, aber es fiel Barnaby schwer, sie sich als eine Frau vorzustellen, die sich von der Leidenschaft so mitreißen ließ, daß sie ihre goldene Zukunft aufs Spiel setzte.

Mit David Whiteley war das anders: Er war unmoralisch, selbstsüchtig und, wie sich jetzt heraus gestellt hatte, gewalttätig. Barnaby sah ihn ohne große Schwierigkeiten in der Rolle des Mörders. Seltsamerweise war der Mord an Miss Simpson jedoch nicht brutal, sondern eher subtil gewesen. Der Gutsverwalter hätte wohl kaum die Zeilen in Julius Caesar angestrichen, und ganz bestimmt konnte er sich mit seinen breiten Schultern, den kräftigen Armen und Beinen nicht durch das Speisekammerfenster zwängen. Zudem würde er wohl niemals einen Mord begehen, um jemandes Hals zu retten, es sei denn, es wäre sein eigener. Barnaby gab der Hängeregistratur einen Schubs. Unwillkürlich fiel ihm der Vergleich mit dem russischen Roulette ein, als die Karteikarten herumwirbelten. Fünf leere Kammern, in der sechsten die Kugel, mit der man sich das Hirn aus dem Schädel blasen konnte. Er trank seinen Kaffee und freute sich, nur urzeitlichen Kaffeesatz und nichts, was einem lebendigen Wesen ähnelte, auf dem Boden der Tasse zu entdecken. Das Telefon klingelte.

Einen Augenblick später rief die Polizistin Brierley: »Ich habe eine Mrs. Sweeney in der Leitung, Sir. Sie möchte mit jemandem sprechen, der für die Ermittlungen im Mordfall Simpson zuständig ist.«

»Stellen Sie durch.«

»Hier spricht Mrs. Sweeney vom Black Boy Pub. Wer ist am Apparat?«

»Detective Chief Inspector Barnaby.«

»Sind Sie der Gentleman, der neulich ein Käsebrot und ein Bier bei mir bestellt hat?«

»Ganz recht.«

»Gut. Ich denke, Sie sollten herkommen. Bei den Rainbirds ist irgendwas los.«

»Was denn?« Mrs. Sweeneys Stimme, die er als trübsinnig in Erinnerung hatte, vibrierte vor Aufregung.

»Ich weiß nicht genau ... es klingt fast, als würde jemand singen, aber so einen Gesang hab’ ich noch nie in meinem Leben gehört - eigentlich ist es mehr ein Heulen. Und es geht schon Ewigkeiten so.«

Dieser Moment blieb Barnaby unauslöschbar im Gedächtnis. Als er den Hörer auflegte, spürte er ganz deutlich, daß sich die Maschinerie des Falls, die durch Alibis, ungeprüften und nicht überprüfbaren Behauptungen sowie durch wohlüberlegte Täuschungsmanöver mindestens zweier Personen nahezu zum Stillstand gekommen war, wieder in Bewegung Setzte. Aber noch ahnte er nicht, mit welcher Geschwindigkeit die Maschinerie lief oder daß eine unbekannte Hand einen Schraubenschlüssel in das Räderwerk werfen und damit Schreckliches anrichten würde.

Ungefähr fünfzig Menschen drängten sich vor dem Gartentor von Tranquillada. Sobald Troy den Motor abstellte, konnten er und Barnaby die seltsamen Laute hören. Ein grausiges Wehklagen, Mrs. Sweeney eilte auf sie zu.

»Nach unserem Telefongespräch habe ich geläutet, aber niemand hat reagiert. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen.«

Die beiden Männer gingen über den Weg zur Haustür. Niemand versuchte, ihnen zu folgen. Das allein schon drückte das Grauen aus, das in der heißen, reglosen Luft lastete. Normalerweise muß man sie mit Gewalt zurückhalten, schoß es Barnaby durch den Kopf. Er stand neben Troy auf den Stufen. Das Heulen hielt an. Barnaby fragte sich, wie etwas, was so emotionslos erschien, eine solche Auswirkung auf die Zuhörer ausüben konnte. Das Jaulen verstummte und begann wieder - mit unmenschlicher Regelmäßigkeit, als würde man eine Schallplatte mit Sprung abspielen. Nachdem er den Türklopfer ohne Erfolg betätigt hatte, kauerte sich Barnaby nieder und rief durch den Briefschlitz: »Mr. Rainbird ... öffnen Sie die Tür.«

Das Lamentieren wurde eine Spur schriller, klang fast wie ein Quietschen, dann riß es plötzlich ab. Die Menschenmenge gab keinen Laut von sich. Barnaby ließ erneut den Türklopfer fallen. Die Schläge hallten wie Pistolenschüsse in der stillen Straße.

»Soll ich die Tür aufbrechen, Sir?« Troy war aufgeregt. Sein Blick, der die Bedeutung seiner Stellung unterstreichen sollte, wanderte von der Ansammlung zu Barnaby, dann zum Haus.

»Durch ein Fenster geht’s schneller. Sehen Sie erst nach, ob Sie ein offenes finden.« Während Troy um das Haus herumrannte, wandte sich Barnaby den Leuten zu. Instinktiv hatten sie sich näher zusammengedrängt. Sie warfen kurze, kompakte Schatten auf den warmen Asphalt. Eine Frau hatte ein Kleinkind auf dem Arm. Als sie Barnabys Blick auffing, drehte sie das Gesicht des Kindes vom Bungalow weg. Der Keramikstorch beobachtete gleichgültig die Szene. Barnaby drehte sich wieder um. Erst in diesem Moment fiel ihm der ansehnliche Haufen Pilze auf der Treppe auf. Wieso, zum Teufel, brauchte Troy so lange? Inzwischen hätte er durch ein halbes Dutzend Fenster ins Haus und wieder heraus klettern können. Barnaby war drauf und dran, wieder an die Tür zu hämmern, als er hörte, wie der Riegel innen zurückschnappte. Die Tür schwang auf. Troy starrte den Chief Inspector ausdruckslos an. Ohne ein Wort zu sagen trat er beiseite, um ihn hereinzulassen. Barnaby fröstelte, als hätte sich ein eisiges Spinnennetz auf sein Gesicht gelegt.

Er durchquerte den Flur, ging an dem roten Telefon, das an dem kurzen Kabel baumelte, und an den rot bespritzten Türen und Wänden vorbei. Er spähte in jedes Zimmer, sah aber niemanden. Er suchte nach der Quelle des Schweigens, das noch grauenvoller war als das Klagen, und fand es im Wohnzimmer.

Einen Moment lang blieb er reglos auf der Schwelle stehen und kämpfte gegen die Übelkeit und das Entsetzen an. Überall war Blut. Auf dem Boden, an den Wänden, auf den Möbeln, an den Vorhängen. Aber am meisten auf Dennis Rainbird. Er sah aus, als hätte er in Blut gebadet. Auf seinem Gesicht glitzerten - wie auf dem eines mutigen Kriegers -angetrocknete Blutspritzer. Sein Haar und seine Hände waren rot, die Krawatte durchtränkt, das Hemd verschmiert. Seine Knie und die Schuhe schimmerten rot. Rote Tränen rollten ihm über die Wangen.

Barnaby machte kehrt und wies Troy an: »Lehnen Sie sich nicht gegen die Wand. Gehen Sie ans Telefon und veranlassen Sie alles Notwendige.« Während sich Troy wie ein Schlafwandler in Bewegung setzte, rief er: »Nichts mit bloßen Händen anfassen, Sie verdammter Idiot. Benutzen Sie das Autotelefon. Und öffnen Sie die Tür nicht noch einmal ohne ein Taschentuch. Man könnte meinen, Sie wären erst fünf Minuten und nicht fünf Jahre bei der Polizei.«

»Entschuldigung«, murmelte Troy und zog ein Taschentuch aus der Tasche.

Barnaby bahnte sich einen Weg zu den beiden Gestalten in der Mitte des Zimmers und setzte seine Füße behutsam auf die nicht befleckten Stellen, die er auf dem Teppich entdecken konnte.

Wie konnte ein einziger Mensch so viel Blut vergießen? Das Ganze wirkte beinahe wie eine Bühneninszenierung. Als hätte ein übereifriger Regisseur das rote Zeug eimerweise in die Kulisse gekippt, um ein Schauerstück im Grand Guignol aufzuführen. Und am merkwürdigsten war, daß Barnaby trotz all der Ungläubigkeit und des Entsetzens, die dieser Anblick auslöste, spürte, wie etwas in seinem Gedächtnis zum Leben erwachte. Déjà vu. Aber wie konnte das möglich sein? Sicher hatte er noch nie etwas erlebt, was auch nur im entferntesten an diesen Alptraum herankäme - so etwas konnte man doch nicht vergessen, oder?

»Mr. Rainbird?« Er bückte sich, und eine weitere Welle der Übelkeit überrollte ihn, als er sah, daß nur noch Dennis Rainbirds Arm den Kopf seiner Mutter auf den Schultern hielt. Ihre Kehle war so weit durchgeschnitten, daß Barnaby den bläulich weißen Knorpel der durchtrennten Luftröhre erkennen konnte. Sie hatte im ganzen Gesicht, am Hals und an den Armen Schnitte, und ihr Kleid war aufgeschlitzt.

Ein heilloses Durcheinander herrschte in diesem Zimmer, Fotografien waren umgefallen, Bilder von den Wänden gerissen, Kissen, Polster und Nippes über den Boden verstreut, zwei Tische umgekippt und der Fernseher zertrümmert. Graue Glasscherben lagen überall herum.

»Mr. Rainbird«, sagte Barnaby noch einmal und berührte ihn sanft. Als hätte diese Geste einen versteckten Mechanismus aktiviert, fing der junge Mann wieder an zu winseln. Er lächelte - es war ein strahlendes irres Lächeln. Denselben Abklatsch von glückseliger Wonne konnte man auf den Gesichtern von Menschen beobachten, die ein Erdbeben überlebt hatten, oder auf denen von Eltern, die vor ihrem brennenden Haus stehen. Eine versteinerte Maske tiefer Trauer und Verzweiflung.

Knappe zwanzig Minuten vergingen, dann sagte eine Stimme: »Guter Gott...« Barnaby richtete sich auf. George Bullard stand im Flur. Er hatte eine schwarze Tasche in der Hand und sah sich entgeistert um. »Was, zur Hölle, ist hier los?«

»Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«

Der Doktor starrte die beiden reglosen Gestalten einen Moment mitleidig und angewidert zugleich an, dann suchte er sich vorsichtig einen Weg, kniete sich nieder und öffnete seine Tasche. Barnaby sah zu, wie er die Manschette von Dennis Rainbirds rotverfärbtem Hemd aufschnitt und das zarte Handgelenk umfaßte.

»Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«

»Wir sind ungefähr vor dreißig Minuten eingetroffen. Ich schätze, da saß er bereits seit einer halben Stunde so da. Haben Sie einen Krankenwagen bestellt, bevor Sie herkamen?«

»Mmm.« Der Arzt leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in Dennis’ Augen. Der junge Mann blinzelte nicht einmal.

»Müßte gleich hier sein.«

»Ich muß unbedingt mit ihm reden, es ist wichtig.«

»Um Himmels willen, Tom, seien Sie doch vernünftig. Der Mann ist vollkommen geistesabwesend.«

»Das sehe ich selbst. Können Sie ihm nicht irgend etwas geben?«

»Nein.« George Bullard stand auf. »Er ist in diesem Zustand besser dran, ganz bestimmt.«

»Wie lange dauert so ein Zustand an?«

»Einen Tag. Einen Monat. Sechs Monate. Das kann man nie wissen.«

»Genau das hat mir noch gefehlt.«

»Tut mir leid.«

Barnaby sah durch die Gardinen, daß der Krankenwagen, gefolgt von drei Polizeiautos, vorfuhr. Die Menge murmelte aufgeregt. Die Sanitäter, vermutlich schon durch die vielen Unfallopfer, die sie von der Straße kratzen mußten, gegen den Anblick von Blut und Verstümmelung abgehärtet, schienen weit weniger schockiert über das zu sein, was im Wohnzimmer von Tranquillada vorgefallen war, als Barnaby und Doktor Bullard. Während einer von ihnen mit dem Arzt sprach, versuchte der andere, Dennis von seiner toten Mutter wegzubringen. Er zog ihn behutsam am Handgelenk, aber Dennis hatte die Finger fest in die rechte Schulter seiner Mutter gekrallt, als müßte er sich an einer Klippe über einem tiefen Abgrund festhalten, um nicht zu Tode zu stürzen. Geduldig löste der Sanitäter einen Finger nach dem anderen. Mrs. Rainbirds Kopf rollte zurück, er war nur noch durch einen schmalen Hautfetzen mit dem Hals verbunden. Der Torso neigte sich zur Seite und glitt auf den Teppich. Dennis’ Winseln wurde leiser und verstummte schließlich ganz.

»Was meinen Sie, kann er gehen?«

»Lassen Sie es ihn versuchen. Komm, steh auf, Kleiner.«

Dennis kam schwankend auf die Füße - er lächelte immer noch. Sein ohnehin immer blasses Gesicht war jetzt weiß und wächsern.

»Sollen wir ihn ein bißchen sauber machen?«

»Verzeihung«, mischte sich Barnaby ein, »es darf nichts verändert werden.«

»Gut. Dann wollen wir mal.« Die Sanitäter verließen mit Dennis, der sich vertrauensvoll wie ein Kind an sie klammerte, das Zimmer. Barnaby folgte ihnen. Die Leute, deren schlimmste Erwartungen mehr als erfüllt wurden, spielten voll und ganz ihre Rolle - sie schnappten hörbar nach Luft und stießen entsetzte Schreie aus. Eine Frau sagte: »Und ich wollte schon nach Hause, um mir die Sechs-Uhr-Nachrichten anzusehen!«

»Könnten Sie bitte alles, was er am Leib trägt, in eine Plastiktüte stecken?« fragte Barnaby. »Ich schicke jemanden, der die Sachen abholt.«

»Alles klar.«

Barnaby kam in den Salon zurück, als Doktor Bullard das Kleid der Toten herunterzog und ein Thermometer schüttelte.

»Was denken Sie?«

»Oh, ich würde sagen, es ist ungefähr eine Stunde, höchstens anderthalb Stunden her.« Er versuchte den Schlitz im Kleid zuzuziehen. »Er hat offenbar eine Art Anfall geistiger Umnachtung gehabt.«

»Ich muß einen Mann ins Krankenhaus schicken. Ich möchte nicht, daß Dennis Rainbird allein bleibt.«

»Sie wissen sicher am besten, was in einem solchen Fall zu tun ist, Tom, aber ich kann Ihnen versichern, daß er nirgendwohin gehen wird, und er wird sich auch kein Leid antun.«

»Ich mache mir keine Sorgen, daß er sich etwas antut.« Er hörte, daß das Team der Spurensicherung ins Haus kam.

»Aber vielleicht sagt er irgend etwas, was uns weiterhelfen kann. Vielleicht hat er etwas gesehen. Er muß nach Hause gekommen sein, kurz nachdem es passiert ist.«

»Sie meinen ...? Oh, da habe ich wohl voreilige Schlüsse gezogen. Wie auch immer - ob Dennis oder nicht - wer immer das angerichtet hat, er muß total übergeschnappt sein.«

»Er?«

Der Doktor runzelte die Stirn. »So ist es doch immer, oder nicht? Bei einer brutalen Tat wie dieser.«

»Glauben Sie, daß eine Frau physisch dazu nicht in der Lage wäre?«

»Physisch vielleicht schon, wenn sie in Rage ist. Psychologisch und emotional - das ist etwas anderes. Es müßte schon eine ganz absonderliche Frau sein, die so etwas fertigbringt.«

Barnaby grinste. »Sie sind ein alter Chauvinist, George.«

»Das sagt meine Tochter auch immer. Wie dem auch sei«, er trat zur Seite, um dem Polizeifotografen Platz zu machen, »ich vermute, Mörder sind immer absonderlich.«

»Nicht unbedingt. Ich wünschte, sie wären es. Dann wäre es leichter, sie zu fangen.«

»Wurde die Leiche dort, wo sie jetzt ist, aufgefunden, Sir?« fragte der Fotograf.

»Ich glaube schon«, erwiderte Bullard.

Barnaby stimmte ihm zu. »Ich denke, er hat sie nur in den Arm genommen und festgehalten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sie herumgeschleppt hat. Hier ist mehr Blut als sonst irgendwo.« Doktor Bullard schaute sich noch einmal kopfschüttelnd um. »Wer würde glauben, daß der menschliche Körper nur fünf Liter Blut enthält? Dabei hat sie längst nicht alles verloren.«

Barnaby betrachtete Mrs. Rainbirds massive Beine, die noch genauso plump und lebensecht aussahen wie vor ein paar Tagen. Ihre Füße waren nackt. Einer der kleinen goldenen, mit Straußenfedern verzierten Pantoffeln lag im Kamin - wie durch ein Wunder war er vom Blut verschont geblieben - der andere war nirgendwo zu sehen.

Immer mehr Menschen kamen in das Zimmer. Barnaby zog sich, froh, dem metallischen Gestank entkommen zu können, auf den Flur zurück und sprach mit dem Leiter der Spurensicherung. »Wird eine mobile Einheit eingerichtet und vor Ort arbeiten?«

»Ich habe bereits alles Nötige in die Wege geleitet. In einer Stunde dürften sie ankommen. Und außerdem hab’ ich der technischen Abteilung Bescheid gesagt - sie sollen ein Video für Sie machen.«

Barnaby nickte und suchte nach Troy. Vor dem Gartentor drängten zwei Polizisten die Menge zurück, die mittlerweile beträchtlich angewachsen war, und spannten ein Absperrungsband um den Garten. Obwohl Dennis Rainbird aus dem Haus geführt worden war und sein grausiger Anblick die makabersten Erwartungen erfüllt haben mußte, wurden Proteste über die Maßnahmen der Polizei laut. Troy, dessen Gesicht wieder eine normale Färbung angenommen hatte, kam über den Weg, der am Bungalow vorbeiführte, auf Barnaby zu.

»Wo, zum Teufel, waren Sie?«

»Ich hab’ mich nur dahinten ein wenig umgesehen, Sir, und etwas Ungewöhnliches gefunden.«

»Sie sollten es wirklich besser wissen, Troy, und nicht an einem Tatort herumtrampeln.«

»Ich bin nicht herumgetrampelt, ich war nur auf dem Betonweg. Kommen Sie, sehen Sie sich das an.« Er führte Barnaby zu einem kleinen Holzschuppen hinter dem Bungalow. Die Stufe davor und der Weg waren feucht. Barnaby suchte nach einem tropfenden Wasserhahn oder einem kaputten Gartenschlauch, entdeckte jedoch keins von beidem. »Es hat doch seit Tagen nicht geregnet, Sir«, meldete sich Troy wieder zu Wort.

»Nein.« Der Chief Inspector warf einen Blick durch das Schuppenfenster. Auf dem Boden neben einem Rasenmäher war eine große Wasserpfütze, aber nirgendwo befand sich ein Behälter, der ein Leck haben könnte. Natürlich wurden alle Nebengebäude später gründlich durchsucht, und es wäre reine Zeitverschwendung, in diesem Stadium fruchtlose Vermutungen anzustellen. Troy wirkte selbstgefällig und sah seinen Boß an wie ein Hund, der das Stöckchen zurückgebracht hatte und belohnt werden wollte.

Barnaby wurde ärgerlich. »Fühlen Sie sich inzwischen besser?« erkundigte er sich unfreundlich.

»Ich?« Der Sergeant schien gar nichts mehr zu begreifen. »Mir geht’s gut.«

Der hintere Teil des Gartens wurde von einer dichten Weißdornhecke begrenzt, und ein grünes Tor führte auf einen schmalen Weg, den auf der anderen Seite ein Gewirr von wilden Heckenrosen und Haselnußsträuchern säumte. Der Weg und die letzten Quadratmeter des Gartens waren von den oberen, dreckverkrusteten Fenstern des Nachbarhauses, Burnham Crescent Nummer sieben, einsehbar. Das hatte Mrs. Rainbird sicher nicht gefallen. Barnaby hörte Schritte und öffnete das grüne Gartentor.

»Guten Tag, Mr. Lacey.«

»Hoppla.« Michael Lacey blieb abrupt stehen und starrte die beiden Männer an. »Unsere Freunde und Helfer, die Schnüffler, springen aus den Hecken, um unschuldige Spaziergänger zu erschrecken.«

»Können Sie mir bitte sagen, wohin Sie gehen?«

»Ich nehme die Abkürzung zum Black Boy. Soweit mir bekannt ist, ist das keine kriminelle Handlung.«

»Ein bißchen früh für den Pub, meinen Sie nicht auch?«

»Mrs. Sweeney macht auf, wenn jemand an den Rolladen klopft, und dann gibt’s auch etwas zu trinken«, erwiderte Lacey und stürmte davon, noch ehe Barnaby etwas sagen konnte.

»Ich glaube das nicht«, murmelte Troy. »Er wollte gar nicht wissen, was wir hier tun. Er hat keine einzige Frage gestellt. Und vor dem Haus steht das halbe Dorf und glotzt sich die Augen aus. Gibt’s das, daß jemand so uninteressiert ist?«

»Desinteressiert. Er weiß nichts davon, daß sich die Leute auf der Straße drängen, wenn er direkt vom Holly Cottage kommt und durch den Wald gegangen ist.«

»Und warum macht er sich wie der Blitz davon?« Troy schürzte die Lippen, bevor er hinzusetzte: »Der Mörder kehrt an den Ort des Verbrechens zurück.«

»Kaum jemals, Sergeant«, entgegnete der Chief Inspector, »wenigstens nicht, wenn es kein Verbrechen innerhalb der Familie war. Soviel hätten Sie inzwischen schon gelernt haben müssen.«

»Aber es besteht doch ein Zusammenhang, oder, Sir?« erkundigte sich Troy. »Zwischen den beiden Mordfällen.«

»O ja.« Sie gingen zum Haus zurück. Barnaby spähte durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Es wimmelte vor Leuten, die scheinbar ziellos hin und her liefen. In Wahrheit katalogisierten und untersuchten sie, wie Barnaby wußte, jeden Hinweis und jeden Gegenstand. Heute war die Spur noch warm. Man würde Anhaltspunkte finden. Niemand tötete, ohne etwas vom Tatort mitzunehmen (meistens unbewußt) oder etwas zu hinterlassen.

Er bahnte sich einen Weg zur Küchentür, blieb stehen und schaute zurück. Er dachte daran, daß ein Gärtner unmöglich seine Persönlichkeit verbergen konnte. Ein Garten sagte beinahe ebenso viel aus wie Träume. Ungekünstelte Harmonie bei Miss Simpson; wilde Überschwenglichkeit bei Miss Bellringer; aber hier... er betrachtete die Ziersträucher, den gleichmäßig geschnittenen Rasen, den Teich mit dem Steincherubim, der auf eine Plastiklilie pinkelte. Dies hier war offen vulgär - sprichwörtlich in voller Blüte.

Er betrat den Flur. Ein Paar schwarze Schuhe erschien über seinem Kopf auf der Holztreppe zum Dachgeschoß, dann eine Tweedhose, ein kurzärmliges Hemd und ein bärtiges, erhitztes Gesicht.

»Sind Sie fertig da oben?« fragte Barnaby.

»Wir haben alles, ’ne Menge Fingerabdrücke. Sieht aus, als würden sie alle von ein und derselben Person stammen. Bald wissen wir Genaueres.«

Barnaby stieg die Treppe hinauf. Es waren ungefähr ein Dutzend breite, massive Stufen. In anderen Häusern dieser Art führten steile Aluminiumtreppen auf den Dachboden. Zweifellos hatte Mrs. Rainbird die Luke vergrößern lassen, um ihren Beobachtungsposten bequem erreichen zu können. Rechts und links von der Luke war ein Geländer angebracht. Barnaby bemühte sich hinauf, Troy dicht hinter ihm.

Der ausgebaute Raum unter dem Dach war sehr groß, mit rohen Balken an der Decke, weißen Wänden und einem beigefarbenen Teppichboden. An beiden Stirnseiten befand sich je ein rundes Fenster, und vor jedem Fenster standen ein schlichter Holzstuhl und ein Tischchen mit Notizbuch und Kugelschreiber. Auf der Sitzfläche des einen Stuhls lag ein Fernglas. Außerdem gab es noch zwei große graue Aktenschränke, das war alles. Barnaby, der mit dem üblichen Plunder, barocken Möbeln und Plüsch gerechnet hatte, war erstaunt. Er nahm das Fernglas und schaute auf die Straße.

Ein Gesicht in der Menge sprang ihm ins Auge. Jedes Detail war erstaunlich genau zu erkennen - die großen Poren, die Haare in der Nase, pinkfarbene Plastiklockenwickler und jedes einzelne Blütenblatt auf dem geblümten Kopftuch. Barnaby verdrehte die Optik und gewann einen breiteren Blickwinkel. Der Parkplatz vor dem Black Boy Pub war voll, und ständig fuhren weitere Autos vor. Alles, was Beine hatte, schien sich da draußen zu tummeln. Es war kein schöner Anblick.

»Räumen Sie die Aktenschränke aus, Sergeant, und bringen Sie das Zeug hinunter.« Er legte das Fernglas weg, blätterte in einem der Notizbücher und schlug wahllos eine Seite auf. Dort stand:

10.30 Mr. und Mrs. W überqueren die Straße, um Miss G. aus dem Weg zu gehen. Der Streit wegen des Preises für den schönsten Eierkürbis ist offenbar noch nicht ausgestanden.

11.14 Mrs. R macht einen Besuch bei Mrs. S. Bleibt fünf Minuten. Einkaufstasche - leer bei der Ankunft, prall voll, als sie geht. Heimweg über Postamt.

12.00 Mrs. W, Mrs. G und Miss K schwatzen zwanzig Minuten hinter dem Briefkasten. Miss K geht als erste. Törichte Person.

12.42 Mr. und Mrs. D gehen mit einem Strauß Rosen in die Kirche.

13.00 Sieben Autos vor dem Black Boy. Einige von außerhalb. (Fünf Autonummern waren aufgelistet.)

15.20 Mr. Y geht in Ds Cottage - mit einer Flasche Wein. 16.58 Mrs. L fährt mit ihrem Wagen in die Garage von W. (Hinter diesen Eintrag hatte Mrs. Rainbird ein rotes Sternchen gemalt.)

17.03 Mr. Y verläßt das Cottage. Gibt zwei Briefe auf. Geht wieder nach Hause.

Barnaby klappte das Buch zu. Mrs. Rainbirds tägliche Beschäftigung überraschte ihn keineswegs. Er hatte nie die enorme Befriedigung unterschätzt, die manche Menschen empfanden, wenn sie über die Tätigkeiten und den Umgang der Nachbarn ganz genau Bescheid wußten. Das Bedürfnis, die Nase in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken, schien ein menschlicher Wesenszug zu sein und war an sich wohl kaum so verwerflich, daß man es als ernsthaftes Vergehen bezeichnen konnte. Wenn er sich selbst nicht ständig um das Verhalten anderer Leute kümmern wollte, hätte er nicht diesen Beruf ergriffen. Er sah zu, wie Troy einen großen Stapel Schnellhefter die Treppen hinunterschleppte.

Nein. Barnaby maß der Entdeckung, daß Mrs. Rainbird die Leute beobachtet hatte, statt den Flug von Ziegenmelkern zu studieren, wenig Bedeutung bei; vielmehr interessierte ihn, was sie mit dem Wissen angefangen hatte, das sie sich auf diese Weise aneignete. Dieser Raum wirkt so spartanisch und beinahe grausam funktionell, dachte er, als er die restlichen Akten aus dem Schrank holte, die Notizbücher zusammenpackte und sich daran machte, Troy zu folgen. In den unteren Räumen verriet jedes Detail Maßlosigkeit und Wollust, aber das hier oben war etwas anderes. Dieses Zimmer, überlegte Barnaby und sah sich ein letztes Mal um, ist geschäftsmäßig - eine Art Büro.

4

Die Ankunft der transportablen Baracke mit der Einrichtung für die Spurensicherer verursachte einen Tumult. Die Zugmaschine fuhr wieder weg. Eine hydraulische Maschinerie ertönte, vier Pfosten wurden ausgefahren, und der Container stand einsatzbereit. Ein Mann in der Menge rief: »Schön, die Wanderbibliothek ist da - habt ihr eure Bücher mitgebracht?« Lautes Gelächter. Eine Frau sagte: »Robbie, lauf heim und sag deiner Mum, daß die Marsmännchen gelandet sind.« Generator und Kabel wurden installiert und eine Telefonleitung eingerichtet.

Sobald Barnaby auf die Straße kam, stürzte der Echo-Reporter im weißen Trenchcoat - diesmal trug er dazu einen Fred-MacMurray-Filzhut - auf ihn zu.

»Chief Inspector, können Sie ein Statement für die Presse abgeben?«

»Nein, im Moment nicht.«

»Die Öffentlichkeit hat das Recht, alles zu erfahren.« Lieber Gott. Ein Dialog aus den Universal Pictures. »Stimmt es, daß ein grausiger Mord geschehen ist?«

»Es gibt einen verdachterregenden Todesfall, ja.«

»Oh, kommen Sie schon, Inspector Barnaby. Was ist in diesen Akten?«

»Bitte ... o bitte ...« Ein junges Mädchen mit Kassettenrecorder vertrat ihm den Weg. »Leiten Sie die Ermittlungen in diesem Fall?« Sie klang atemlos und munter, als wäre sie auf dem Weg zu einer Party. »Ich bin vom Lokalsender«, fügte sie hinzu und hielt ihm ein vor Windgeräuschen geschütztes Mikrophon vor die Nase. »Wenn Sie mir jetzt Informationen geben, können wir sie in den Sieben-Uhr-Nachrichten bringen.«

»Tolle Sache«, brummte Troy.

»Wurde schon ein Pressesprecher bestimmt?« rief der Reporter und schob sich vor das Mädchen.

»Nein. Geben Sie uns die Chance, erst mal Luft zu holen«, versetzte Barnaby unwirsch und drängte sich an den beiden vorbei.

»Aber, Inspector ...«

Barnaby hörte noch, wie einer der Dorfbewohner (der Mann, der vorhin die Bemerkung über die Bibliothek gemacht hatte) die Stunde seines möglichen Ruhmes nutzte. »Oh, es war schrecklich. Grauenvoll«, kreischte er ins Mikrophon. »Der Sohn hat’s getan ... er kam aus dem Haus, war über und über voll Blut. Sie haben ihn mit einem Krankenwagen weggebracht. Sie glauben, er hatte einen Anfall. Er ist ein komischer Kauz, schwul, verstehen Sie? Solche Leute rasten manchmal aus ...«

»Aber wer ist getötet worden?« fragte das Mädchen.

»Na ja, ich denke doch die Mutter, oder nicht?« Er sah sich mit strahlendem Blick um. »Ist die Kamera auf mich gerichtet?«

Barnaby verstaute die Schnellhefter im Kofferraum des Wagens und schloß ihn ab.

»Die lassen sich nicht lange Zeit, bis sie überall herumschnüffeln«, sagte Troy.

»In fast jedem Dorf gibt’s jemanden, der die Lokalpresse mit Informationen versorgt. Normalerweise berichten sie über die Frauenorganisation und Blumenschauen. Ich denke, sie haben sofort in den Redaktionen Alarm geschlagen.« Er marschierte entschlossen die Church Lane entlang, und Troy eilte an seine Seite.

Als sie den Weg mit dem Schild nach Gessler Tye erreichten, erkundigte sich Troy: »Wollen Sie sofort mit den Verdächtigen sprechen, Sir?«

Barnaby gab keine Antwort. Er atmete schnell, sein Gesicht war gerötet, und er preßte die Lippen zusammen. Der Mord an Mrs. Rainbird hatte den Fall ins Rollen gebracht - gestern noch hatte er sich mit dürren Fakten herumgeschlagen und war auf der Stelle getreten, und plötzlich gab es ungeahnte neue Einblicke und Möglichkeiten. Und obwohl der Mörder nach wie vor gesichtslos blieb, gab es jetzt eine ganz frische Fährte. Barnaby spürte, daß seine Beute nicht mehr fröhlich und unbekümmert vor ihm herlief, sondern einen Unterschlupf suchte und witterte, daß die Entfernung zwischen ihnen immer geringer wurde.

Vor vielen Jahren war ihm deutlich bewußt geworden, welch freudige Erregung ihn jedesmal erfaßte, wenn er an diesem entscheidenen Punkt anlangte, und die Erkenntnis hatte ihn niedergeschmettert. Ihm war klar, daß er im Grunde nur die Rolle eines Menschenjägers spielte. Er hatte sich eine Zeitlang um eine distanziertere, weniger persönliche Einstellung zu seiner Arbeit bemüht und sich selbst vorgemacht, daß dieses prickelnde Gefühl, wenn er das Netz enger zog, gar nicht existierte. Oder sich eingeredet, er brauchte sich wegen dieser Empfindung nicht zu schämen. Als alle Anstrengungen fehlschlugen, machte er eine andere, etliche Jahre andauernde Phase durch: Er spielte den harten Mann und ignorierte oder erstickte wütend alle Emotionen. Verbrecher waren Abschaum. Sie verstanden nur eine Sprache, und wenn man ihnen auch nur eine Handbreit nachgab, schnitten sie einem die Kehle durch. Man mußte wissen, wie man sie anzupacken hatte.

Er war die Hierarchieleiter hinaufgeklettert und ständig befördert worden. Er war gut in seinem Job. Er hatte während dieser Zeitspanne drei Männer gefaßt, die nach dem Prozeß gehängt wurden. Und Barnaby wurde Respekt entgegengebracht, häufig von Leuten, die er verabscheute. Aber während er einen Schutzwall aus Haß gegen die Kriminellen errichtete, wuchs unaufhörlich seine Selbstverachtung. Eines Tages wurde ihm plötzlich bewußt, daß er lieber sterben würde, als der Mann zu sein, zu dem er sich langsam entwickelte.

Er hatte George Bullard konsultiert, vage von Streß und Kopfschmerzen gesprochen und wurde ohne weitere Nachfragen für einen Monat vom Dienst beurlaubt. Diese freie Zeit füllte er mit Gartenarbeit, Aquarellmalerei und Gesprächen mit Joyce aus. Am Ende des Monats war ihm klar, daß er keinen anderen Beruf wünschte und der Panzer Risse bekommen hatte, die nicht mehr zu kitten waren. Und so ging er an seine Arbeit zurück - zunächst mit einem unsicheren Gefühl, das jedoch seiner Kompetenz keinerlei Abbruch tat. Er merkte, daß er in den Augen der Kollegen, die wie er früher rasche Schlüsse zogen und extreme Ansichten vertraten, zum Schlappschwanz geworden war. Zudem wurde es ihm als Schwäche ausgelegt, daß er seine Unbeugsamkeit abgelegt hatte und die Kriminellen wie menschliche Wesen behandelte. Im Laufe der Zeit gelang es ihm jedoch, dieses Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Und jetzt, während er den staubigen Feldweg entlangspazierte, hatte er das Gefühl, im Kreis gegangen zu sein. Ein Polizist, der weder Stolz noch Scham bei seinem Job empfand, war dem Ende seiner Karriere nahe. Er spürte die Erregung bei einer Mörderjagd und akzeptierte sie als Tatsache des Lebens. Als Teil seiner selbst.

Troy berührte seinen Arm. Sie hatten die Hälfte des Weges zum Holly Cottage hinter sich gebracht. Barnaby blieb stehen und horchte. Jemand schrie wütend, aber die Worte blieben unverständlich. Die beiden Männer pirschten sich leise an und hielten sich hinter der hohen Hecke verborgen, bis sie die Durchfahrt erreichten. Als sie sich dem Haus näherten, hielten sie sich im Schatten der Bäume. Ein Fenster im Erdgeschoß war weit geöffnet, und jetzt waren die Worte deutlich zu verstehen.

»Aber du mußt kommen, Michael.. .du mußt!«

»Ich muß gar nichts. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich mit einer Nelke im Nasenloch und zwei verdammten Kerzenleuchtern auftauche und zusehe, wie du dich an den Meistbietenden verkaufst.«

»So ist es doch gar nicht. Du bist so unfair. Ich mag ihn, ehrlich. Was soll ich machen? Er hat jahrelang für uns gesorgt.«

»Ich habe noch nie so eine sentimentale Scheiße gehört. Ich könnte kotzen. Du hast ihm Sand in die Augen gestreut, dem armen Teufel.«

»Das ist eine Lüge! Er weiß genau, was los ist... ich habe ihm nie etwas vorgemacht, was ich nicht wirklich fühle. Ich werde ihm eine gute Frau sein ...«

»Guter Gott! Du bist bis in alle Ewigkeiten an einen Krüppel gebunden!«

»Du willst mich einfach nicht verstehen. Dein Leben ist ganz anders. Du hast nichts anderes im Kopf als deine Arbeit. Das ist alles, worum du dich jemals gekümmert hast. Solange du nur malen kannst, kann die Welt um dich herum versinken. Aber ich bin nicht wie du. Ich habe für nichts ein spezielles Talent, und gelernt habe ich auch nichts. Ich besitze kein Geld und hätte nicht einmal ein Dach über dem Kopf, wenn Henry nicht gewesen wäre. Um Himmels willen, Michael, was ist so falsch daran, wenn ich Sicherheit und Geborgenheit haben will...«

»Wir hatten Geborgenheit. Er hätte uns nie von hier fortgeschickt. Er ist so vernarrt in dich, daß du ihn noch jahrelang um den Finger hättest wickeln können.«

»Aber ich wollte nicht mehr in diesem feuchten, finsteren Loch bleiben. Ich hasse dieses Haus.«

»Na ja, jedenfalls verkaufst du dich nicht billig. Tye House und riesige Ländereien. Mir ist schleierhaft, warum du dich nicht gleich auf die Straße stellst und einen anständigen Job daraus machst.« Ein Klatschen wie eine Ohrfeige. Michael brüllte: »Elendes Miststück!« Katherine stieß einen Schrei aus. Barnaby zerrte seinen Sergeant hinter eine Lärchengruppe. In der nächsten Sekunde rannte Katherine an ihnen vorbei. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie schluchzte erstickt, als sie in Richtung Church Lane verschwand. Die Cottagetür schlug zu, und Michael stand einen Moment unschlüssig auf der Veranda, dann wirbelte er herum, lief in den Wald hinter dem Haus und trat wütend gegen Zweige und Steine, die ihm im Weg waren.

Sobald er außer Sicht war, ging Barnaby auf das Haus zu, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Troy versuchte, seine Überraschung zu verbergen, und ging ihm nach. Wenn ich das vorgeschlagen hätte, dachte er, hätte er mich zur Sau gemacht.

Sie standen im Flur, und die feuchte Kälte kroch ihnen in die Knochen. Es schien ganz natürlich zu sein, daß diese Wände Zeugen von bitteren Worten, Tränen und Kummer waren. Barnaby spürte, daß jedes zufällige Glücksgefühl, das in so einem Gemäuer eingekerkert war, keine Chance hatte, zu wachsen und zu gedeihen, sondern wie das Geißblatt draußen auf der Veranda langsam, aber sicher von Verzweiflung erstickt wurde. Er ging in die Küche. Es war kein hübscher, behaglicher Raum. Die Möbel waren billig und abgenutzt. Ein paar kleine Teppiche lagen auf dem kalten, unebenen Steinboden. Barnaby sah eine halbleere Dose mit Spaghetti und einen schief angeschnittenen Brotlaib, einen Becher, eine Teekanne und eine kleine Flasche mit angedickter, sauer gewordener Milch auf dem Tisch. Überall saßen Fliegen.

Das nächste Zimmer, das auf die Veranda blickte, war mit einem Strohteppich, einem Tisch, vier Stühlen, Bücherregalen, einem zweisitzigen Sofa und einem Telefon eingerichtet. Das zweite Zimmer im Erdgeschoß war abgeschlossen.

»Da drin hat er gemalt, als wir das letzte Mal hier waren, stimmt’s?«

»Ja.« Barnaby versuchte noch einmal die Tür zu öffnen, gab dann aber seine Bemühungen auf. »Ohne Durchsuchungserlaubnis können wir nichts machen. Wir haben heute schon genügend Vorschriften verletzt.«

Ganz recht, dachte Troy und folgte seinem Boß die kahle Stiege hinauf. Er konnte nicht verstehen, warum sie überhaupt hier herumschnüffelten. Bestimmt waren sie nur hergekommen, um Laceys Alibi für den Nachmittag zu überprüfen, oder?

»Je mehr Sie über einen Verdächtigen wissen, Sergeant, um so mehr Trümpfe haben Sie in der Hand. Sein persönliches Umfeld ist wichtig.«

Troy blinzelte alarmiert, weil sein Boß so mühelos seine Gedanken erriet. Diese Entwicklung beunruhigte ihn sehr. Wenn ein Mann selbst seine Gedanken nicht mehr für sich behalten konnte, würde er sein Leben lang Sergeant bleiben.

Oben befanden sich drei Schlafzimmer. Im kleinsten standen ein schmales Bett, ein Schrank und eine Kommode. Das Bett war hart und stabil - ein Krankenhausbett -, die Decke straff gezogen. Ein ordentlich zusammengefaltetes Nachthemd lag auf dem Kopfkissen. Der Schrank war fast leer, und auf der Kommode lag eine dünne Staubschicht. Ein Strauß Wildblumen in einem Krug verbreitete einen feinen Duft. Wieder fühlte sich Barnaby an die armseligen Geißblattblüten zwischen den alles erstickenden Nesseln erinnert.

Das angrenzende Zimmer war viel größer und bis auf ein schmales, altmodisches Bett, zwei Korbstühlen und einen Gartentisch leer. »Ich nehme an, hier hat die Nanny geschlafen«, mutmaßte Troy.

Das dritte Schlafzimmer, das größte, wurde ohne Zweifel von Michael Lacey bewohnt. Das große Doppelbett war ungemacht, das Laken zusammengeknüllt, eins der Kissen lag auf dem Boden. Ein Becher mit einem grauen, ekligen Kaffeerest stand auf dem verkratzten Nachttisch neben einem Exemplar von Vasaris Lebensgeschichten der hervorragendsten italienischen Architekten, Maler und Künstler und einem Päckchen Gitanes. Der scharfe Geruch der Zigaretten lag in der Luft und mischte sich mit schalem Schweißgestank. Auf dem einzigen Stuhl häuften sich Kleider. Sergeant Troy, >täglich sauber geschrubbt und immer frische Wäsche<, wie seine Frau in der Wäscherei stets prahlte, rümpfte die Nase.

»Ein bißchen unbedacht«, sagte er, als sie nach einiger Zeit wieder in den unteren Flur kamen, »das Haus nicht abzuschließen.«

»Ach, ich weiß nicht.« Barnaby zog die Haustür einen Spalt auf und spähte nach allen Seiten, dann ging er hinaus. »Das einzige Zimmer, in dem etwas Wertvolles sein könnte, ist abgesperrt.«

»Große Werke des großen Künstlers, meinen Sie?« spöttelte Troy.

»Ich dachte an die Leinwände - sie kosten verdammt viel Geld. Genau wie die Farben. Vielleicht macht er’s ja auch wie Keating.«

»Wie bitte, Sir?«

»Tom Keating ist ein sehr erfolgreicher Fälscher.«

»Was immer Lacey auch macht, erfolgreich ist er sicher nicht. Ich kenne Familien, die von der Fürsorge leben, und bei denen sieht’s besser aus. Er hat nicht mal einen Fernseher.«

»Noch tiefer kann man nicht sinken.«

Troy musterte seinen Boß argwöhnisch, aber Barnabys Ausdruck verriet nichts. Als sie zur Church Lane kamen, sahen sie, daß einige Streifenwagen am Tatort eingetroffen waren. Die Menschenansammlung, größer geworden durch die heimkehrenden Arbeiter, wurde eindringlich aufgefordert, den Platz zu räumen und nach Hause zu gehen. Barnaby fragte sich, wie lange es noch dauern konnte, bis die überregionale Presse mit großem Aufgebot auftauchte. Spekulationen wurden laut, als Barnaby und Troy auf Lessiters Haus zugingen, und alle redeten aufgeregt durcheinander. Die Tatsache, daß alle Dorfbewohner in Kürze vernommen würden, war zwar allen bekannt, aber daran dachte jetzt niemand. Die Polizei stattete den Lessiters einen Besuch ab, also mußten die Lessiters in irgendeiner Weise in das Verbrechen verwickelt sein.

Als Barnaby wieder einmal neben der rankenden Clematis stand und durch das Fenster sah, entdeckte er, wie neulich, Barbara Lessiter. Diesmal wirkte sie jedoch keineswegs verängstigt oder erschrocken. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Schultern waren gestrafft und ihre Hände zu Fäusten geballt. Er hörte Lessiter schreien: »Letzte Nacht im Bett hast du ganz andere Töne angeschlagen.«

»Das war letzte Nacht.« Sie warf den Kopf zurück, und Barnaby erhaschte einen Blick auf ihr wutverzerrtes Gesicht. Troy zog spöttisch die sandfarbenen Augenbrauen hoch und murmelte: »Aber, aber« und drückte auf den Klingelknopf.

Als Barnaby ins Wohnzimmer kam, hatte er das Gefühl, ein Schlachtfeld zu betreten. Der Rauch der letzten beiden abgefeuerten Salven schien noch bebend in der Luft zu schweben. Barnaby gab ihnen einen Moment Zeit, ehe er sich vergewisserte, ob sie von dem Mord an Mrs. Rainbird gehört hatten.

»Eine schreckliche Sache, einfach schrecklich!« rief Lessiter. »Mit der Axt den Schädel eingeschlagen, soviel ich gehört habe. Ich vermute, er hatte eine Art Anfall... Dennis, meine ich. Zumindest«, setzte er hinzu und verzog dabei verächtlich die Lippen, »kann mir diesmal niemand vorwerfen, daß ich den Totenschein falsch ausgestellt habe.«

Die Lessiters betrachteten die beiden Polizisten interessiert - zweifellos waren sie froh über die Verschnaufpause. Doch der Doktor wahrte nicht lange seine distanzierte, leicht überhebliche Haltung, als Barnaby ihn fragte, wo er sich zwischen drei und fünf Uhr an diesem Nachmittag aufgehalten habe.

»Ich?« Er starrte den Chief Inspector fassungslos und mit offenem Mund an. Das Blut wich aus seinem runden Gesicht. »Was, um alles in der Welt, hat die Geschichte mit mir zu tun?«

»Alle werden in einem Mordfall befragt, Liebling.« Barnaby schätzte sich glücklich, daß ihn noch nie jemand auf diese Weise »Liebling« genannt hatte. »Was ist daran so schlimm?«

»Nichts.« Er ging zu seinem Schreibtisch. »Also gut, Inspector. Ich... habe einen Privatpatienten besucht. Ich schreibe Ihnen den Namen und die Adresse auf.« Er kritzelte etwas auf einen Block, riß den Zettel ab und hielt ihn Barnaby hin, aber seine Frau war schneller und riß ihn ihm aus der Hand. »Barbara!«

Sie las, was er aufgeschrieben hatte, und gab den Zettel wortlos an Barnaby weiter. Äußerlich wirkte sie ganz ruhig und gefaßt, aber ihre Augen blitzten wie Diamantsplitter.

»Und Sie, Mrs. Lessiter?«

»Ich war in meinem Fitnessclub in Slough... er heißt Abraxas, wenn Sie es nachprüfen wollen. Ich habe zu Mittag einen Salat gegessen, war in der Sauna und habe mich massieren lassen. Ich war bis etwa halb vier dort, dann machte ich einen Einkaufsbummel. Um halb sechs kam ich hierher.«

»Danke. Ist Miss Lessiter zu Hause? Ich würde gern mit ihr sprechen.«

»Nein. Wir sind uns in der Eingangshalle begegnet, als ich heimkam. Sie wollte gerade Weggehen und sah eigenartig aus.«

»Inwiefern?«

»Na ja ... wenn es jemand anders als Judy gewesen wäre, würde ich sagen, sie hätte ein Schäferstündchen mit einem Liebhaber gehabt.«

»Das ist selbst für dich bemerkenswert gehässig«, platzte es aus Lessiter heraus, er bereute jedoch sofort, daß er nicht den Mund gehalten hatte, als er Troys zufriedene Miene sah.

»Sie hat mich verträumt angegrinst - es war das erste Lächeln, das sie mir seit meinem Einzug hier gegönnt hat -und sagte, sie wolle nach High Wycombe fahren und sich ein neues Kleid kaufen. Auch das ist merkwürdig. Mir ist nie aufgefallen, daß sie auch nur das geringste Interesse für ihre Kleidung hat. Was im Grunde ganz verständlich ist, wenn man bedenkt, was für eine unmögliche Figur sie hat.«

Die hat ganz schön Oberwasser, dachte Troy und überlegte, was wohl auf dem Zettel stehen mochte. Heute sah Barbara Lessiter ganz und gar nicht aus wie die Frauen auf den ausklappbaren Seiten in Männermagazinen. Die Falten unter dem bronzefarbenen Gesichtspuder schienen tiefer als das letzte Mal zu sein, ihr Blick war hart und die Frisur gekünstelt und steif. Selbst ihre Kurven schienen starr und unnachgiebig zu sein.

»Dann wird später jemand vorbeischauen, um mit Ihrer Tochter zu reden, Sir«, kündigte Barnaby an und wünschte einen guten Abend. Er hatte kaum die Tür hinter sich zugezogen, als Trevor Lessiter zu seiner Frau herumwirbelte.

»Ich hoffe, du erwartest nicht von mir...«

»Du dreckiger Kerl!«

»Wage es nicht, so mit mir zu sprechen. Ich würde nicht in Häuser wie das Casa Nova gehen, wenn du als Ehefrau anders wärst.«

»Ich wäre vielleicht eine andere Ehefrau, wie du das nennst, wenn du auch nur die geringste Ahnung hättest, wie man mit einer Frau umgeht. Du bist ein erbärmlicher Idiot.«

»Wenigstens mögen sie mich dort. Die gute Krystal ist immer...«

»Sie mögen dich? Sie lachen sich hinter deinem Rücken krank über dich.«

»Woher, zum Teufel, weißt du so gut Bescheid? Ich bin erstaunt, daß du dieses Haus überhaupt kennst.«

»Wenn du es genau wissen willst, sie haben im Abraxas darüber geredet. Ein paar der alten Schlampen aus dem Casa Nova waren dort, um sich verjüngen zu lassen.«

»Es funktioniert nicht, wie, Barbara?«

»Was?«

»Die Verjüngung. Ich meine, im Augenblick siehst du wirklich so alt aus, wie du bist. Das übrigens war die erste Lüge, die du mir aufgetischt hast - dein Alter. Guter Gott, der heutige Tag öffnet mir wirklich die Augen. Ich komme mir vor, als würde ich dich zum erstenmal richtig sehen.«

Barbara schlenderte zum Fenster, wählte mit Bedacht eine Zigarette aus der Dose aus und zündete sie an. Sie drehte sich um und blies eine Rauchwolke in die Luft.

»Das gilt für uns beide, mein Lieber«, sagte sie mit einem unnachgiebigen Lächeln. »Das gilt für uns beide.«

5

David Whiteley kam in Jeans, einem verschwitzten Hemd und mit einem Whiskyglas in der Hand an die Tür. Er führte sie ins Wohnzimmer und schaltete die laut dröhnende (>Bridge over Troubled Water<) Stereoanlage aus. Er lud sie ein, Platz zu nehmen, und bot Barnaby einen Schluck Whisky an - »einen Touch von Jameson«, wie er sich ausdrückte. Das Angebot wurde abgelehnt, und David trank sein Glas aus und schenkte sich nach. Seine Hand blieb ganz ruhig, seine Stimme volltönend und klar, obwohl er während ihres kurzen Besuches auch ein drittes Glas leerte.

»Sie wissen, was vorgefallen ist, Mr. Whiteley?«

»Ja. Ich bin am Black Boy vorbeigefahren und hab’ angehalten und die Leute gefragt. Gräßliche Leichenfledderer.«

Barnaby erkundigte sich, was er am Nachmittag getan hatte. Whiteley saß auf einem Schaukelstuhl und wiegte sich langsam vor und zurück, während er seine Besucher eingehend musterte. Er wirkte fehl in diesem klassischen Requisit der Alten und Rentner. Er strahlte ungeheure Männlichkeit und eine beinahe rohe Sexualität aus. Es erschien nur passend, daß er seine Tage damit verbrachte, Land zu bestellen und die Ernte einzufahren. Er sagte: »Ich beaufsichtigte bis etwa drei, halb vier die Hopfenarbeiter, dann brachte ich einen Mähdrescher nach Gessler Tye. In zwei Tagen fangen wir da unten mit der Ernte an... na ja, wahrscheinlich nicht gerade am Samstag wegen der Hochzeit, aber ich denke, am Sonntag geht’s los.«

»Am Sonntag?«

»Klar. In der Erntezeit kann man die Wochenenden vergessen.«

»Kannten Sie Mrs. Rainbird?«

»Nur vom Sehen. Ich habe nicht viele Kontakte zur Dorfbevölkerung. Wenn ich ... Mädchen aufgable, dann im Bull auf dem Weg nach Gessler. Oder in Causton.«

»Haben Sie keine privaten Kontakte zu Leuten, die hier in der Nähe wohnen?«

»Nein. Oh, ich weiß, was Sie neulich dachten, Inspector. In der Küche in Tye House. Aber da ist nichts, glauben Sie mir. Das heißt, im Moment noch nicht. Trotzdem glaube ich, daß unsere Kate nicht halb so kühl ist, wie sie sich gibt. Vielleicht versuch’ ich mein Glück, wenn sie sicher unter der Haube ist.«

Der braucht nicht ins Casa Nova zu gehen, dachte Troy und gestand einem anderen Mann damit ausnahmsweise zu, daß er ebenso anziehend auf Frauen wirkte wie er selbst. Barnaby sah sich um und entdeckte die Fotografie eines Jungen auf dem Kaminsims - spinnwebenartige Risse zogen sich durchs Glas.

»Ich hatte den Eindruck, daß Sie niedergeschlagen waren, als ich Sie in der Küche sah«, meinte Barnaby.

»Ich? Ich bin niemals niedergeschlagen.« Er starrte Barnaby angriffslustig an. »Doktor Jameson kuriert alle Leiden dieser Art.« Er hob sein Glas und trank es mit einem Schluck aus. Er gehört zu den Männern, überlegte der Chief Inspector, die den Verlust des Sohnes dazu benutzen, um bei den Frauen Mitgefühl zu erregen, aber gleichzeitig nie väterliche Gefühle vor Geschlechtsgenossen zugeben würden.

»Und was taten Sie, nachdem Sie den Mähdrescher abgestellt hatten?«

»Ich fuhr mit dem Landrover zum Tye House, holte den armen alten Jack Rüssel und brachte ihn zum Tierarzt. Katherine wollte nicht, daß es im Haus gemacht wird. Meiner Meinung nach hätte die Sache schon vor Tagen erledigt werden müssen, aber sie versuchte die ganze Zeit, ihn zum Fressen zu bewegen. Danach...«

»Einen Moment, Mr. Whiteley. Waren Miss Lacey und Mr. Trace zu Hause, als Sie den Hund abholten?«

»Ja.«

»Wie spät war es da in etwa?«

»Es war irgendwann zwischen halb vier und fünf. Katherine hab’ ich nur kurz gesehen. Sie rannte die Treppe hinauf, als ich kam - wahrscheinlich wollte sie nicht mitansehen, wie ich den Hund ins Auto lud. Nachdem ich ihn abgeliefert hatte, kam ich hierher, goß mir einen Drink ein, und dann sind Sie aufgetaucht.«

»Er hätte die Kraft und die Statur für so was«, sagte Troy später, als sie die Straße überquerten und zum Tye House gingen. »Und bei einem Landgut, das so groß ist wie dieses - wer könnte da schon immer kontrollieren, wo er sich herumtreibt? Sir, genaugenommen dachte ich schon, als wir ihn wegen des ersten Mordes befragten ... Sie wissen schon, das Pärchen im Wald.« Ermutigt durch Barnabys Schweigen, fuhr er fort: »Ich meine, wer oder was hält ihn davon ab, eine halbe Stunde Pause zu machen und eine schnelle Nummer zu schieben, wenn er meilenweit von hier weg ist? Zum Beispiel heute ... er könnte die Hopfenarbeiter für eine Weile allein lassen. Und er hätte den Mähdrescher, statt ihn nach Gessler Tye zu bringen, im nächsten Feld abstellen und zu Mrs. Rainbird gehen können. Schade ist nur, daß wir nicht wissen, welches Motiv er haben könnte.«

Barnaby, der eine ziemlich gute Vorstellung vom Motiv des Mörders hatte, stand inzwischen wieder einmal vor dem apricotfarbenen Farmhaus. Katherine Lacey öffnete die Tür. Sie war sehr blaß, und selbst wenn Barnaby die Auseinandersetzung im Holly Cottage nicht mitangehört hätte, wäre ihm aufgefallen, daß sie geweint hatte. Der Kummer beeinträchtigte ihre Schönheit kein bißchen. Ihre violetten Augen wirkten noch größer, und die unvergossenen Tränen verliehen ihnen einen neuen Glanz. Sie trug ein makellos weißes Leinenkleid und flache Sandalen. Sie sah die Polizisten ernst an und sagte: »Wir sind in der Küche.«

Henry wendete seinen Rollstuhl, als der Chief Inspector hereinkam, und fuhr auf ihn zu. »Was ist wirklich passiert, Barnaby? Es stimmt doch sicher nicht, daß der Rainbird-Junge seine Mutter angegriffen hat, oder?«

»Mrs. Rainbird ist umgebracht worden, Sir. Und zwar auf eine ausgesprochen gewaltsame und unangenehme Art.«

Henry wandte sich erstaunt seiner Verlobten zu.

»Siehst du, Liebling«, sagte sie freundlich, aber entschlossen. »Wir können nicht... nicht jetzt. Wir müssen einfach warten.«

»Katherine meint, wir sollten die Hochzeit absagen. Es ist lächerlich. Hundert Einladungen wurden verschickt und angenommen. Speisen und Getränke - alles ist organisiert. Morgen wird das Zelt aufgestellt. Das Haus quillt über von Geschenken ...«

»Ich spreche doch nur davon, sie eine oder zwei Wochen zu verschieben, bis all die schrecklichen Vorfälle geklärt sind. Und vielleicht entschließt sich Michael bis dahin, auch zu kommen.«

»Seit wann hat dein Bruder...« Er brach ab, und Barnaby dachte: Er ist kein Mann, der häusliche oder familiäre Unstimmigkeiten vor Fremden bespricht. Die tiefen Ringe unter den Augen ließen ihn heute älter als sonst aussehen, und er machte einen zerstreuten Eindruck. »Ich will nichts mehr davon hören, Katherine. Es kommt nicht in Frage. Die Ereignisse im Dorf haben nicht das geringste mit uns zu tun.«

»Dürfte ich Sie beide fragen, was Sie heute nachmittag getan haben, Mr. Trace?«

»Wir? Wir haben Vorbereitungen für den Samstag getroffen«, sagte Henry. »Ich war heute nicht im Büro. Am Morgen haben wir beide, Katherine und ich, die Hochzeitsgeschenke im großen Speisesaal aufgebaut, dann aßen wir zu Mittag und entschieden endgültig, wo das Zelt hinkommen soll. Nach dem Essen ging Katherine Pilze sammeln...«

»Pilze sammeln?« Barnaby erinnerte sich an das Häufchen auf der Treppe vor Mrs. Rainbirds Bungalow.

»Ja. In der Nähe vom Holly Cottage wachsen welche«, erklärte das Mädchen. »Sie schmecken wunderbar - ganz anders als Pilze, die man im Laden kaufen kann. Ich wollte heute abend ein Omelett machen.«

»Auf Mrs. Rainbirds Treppe lagen auch Pilze.«

»Ja - ich habe sie ihr gebracht. Das letzte Mal, als ich sie sah...«

»Wann war das?«

»Gestern bei der Gemeinderatsversammlung. Sie hat mir ein Rezept für Pilze und Anchovis-Ketchup gegeben, und ich versprach ihr, ihr das nächste Mal Pilze aus dem Wald mitzubringen. Ich war bei ihr und klopfte, aber niemand machte mir auf, deshalb habe ich die Pilze auf die Treppe gelegt und ging wieder. Jetzt muß ich immerzu daran denken... er muß da drin gewesen sein ... vielleicht genau im selben Augenblick. Aber alles war so still und ruhig. Ich dachte, sie wäre ausgegangen.« Sie wiederholte die letzten Worte mit schriller Stimme: »Ich dachte, sie wäre ausgegangen.«

»Kate.« Henry streckte ihr die Hand entgegen, und sie ergriff sie.

Sie weinte. »Alles geht schief... genau wie ich gesagt habe ... es gleitet uns aus den Händen.«

»Du mußt damit aufhören, Liebling, ja? Das ist doch Unsinn.«

Barnaby ging zum Tisch und schaute sich die Pilze an. Er nahm einen in die Hand und roch daran. Der große Korb war nur halb voll, aber es waren immer noch eine ganze Menge Pilze. »Es muß ziemlich lange gedauert haben, bis Sie so viele gefunden hatten.«

»Eigentlich nicht. Ungefähr eine halbe Stunde, würde ich sagen.«

»Wann genau waren Sie im Wald?«

»Wann bin ich von hier weggegangen, Liebling? Ungefähr um Viertel nach drei, oder? Eine Dreiviertelstunde später war ich zurück...«

»Sie sagen, die Pilze wachsen in der Nähe des Holly Cottage. Waren Sie zufällig im Haus?«

»Ja. Ich dachte, Michael könnte ...« Sie verstummte und sah Henry an. »Wie auch immer, es war reine Zeitverschwendung. Er war nicht zu Hause.«

»War das vor oder nach dem Pilzesammeln?«

»Danach.«

»Mit anderen Worten: irgendwann zwischen vier und halb fünf?«

»Ich glaube schon.« Sie erwähnte weder ihren späteren Besuch noch den Streit, und da der Zeitpunkt für Barnabys Ermittlungen ohne Bedeutung war, sprach er sie auch nicht darauf an. Zweifellos würde Katherines Verlobter nicht billigen, daß sie sich mit ihrem Bruder gezankt hatte.

»Und Sie waren hier, als Miss Lacey zurückkam, Mr. Trace?«

»Ja. Ich war mit Sam zusammen - das ist der Junge, der Reparaturarbeiten im Haus erledigt und im Garten hilft. Ich packte Katherines Rosen aus, er mischte Torf mit Knochenmehl und bereitete den Boden zum Pflanzen vor. Wir kochten uns einen Tee. Kate rief im Cottage an, um Phyllis zu fragen, ob sie uns Gesellschaft leisten will, aber Phyllis war dabei, die Vorhänge anzubringen und ihre Sachen auszupacken.«

»Ist Miss Cadell endgültig ausgezogen, Sir?« fragte Barnaby'

»Noch nicht ganz. Heute möchte sie noch hier schlafen. Zum letztenmal, glaube ich.« Barnaby strengte sich an, um die Empfindungen, die Traces Ton ausdrückte, zu deuten: Erleichterung, Zufriedenheit und eine beträchtliche Portion Besorgnis.

»Vielleicht wären Sie so freundlich, uns zu sagen, wie wir zum Cottage kommen können«, bat der Chief Inspector. »Der Weg ist schwer zu beschreiben«, sagte Katherine. »Ich bringe Sie hin.«

Während sie das Haus verließen, sagte Barnaby: »Ich überlasse Ihnen Miss Cadell, Sergeant. Sie wissen ja, was ich in Erfahrung bringen will. Und danach versuchen Sie es noch einmal im Holly Cottage. Ich erwarte Sie dann vor dem Bungalow in der Baracke.« Er sah Katherine und Troy nach, als sie über den Rasen in Richtung Pappelgruppe gingen. Die Schultern des Mädchens waren leicht gebeugt, ihr dunkles Haar wehte im Wind. Troy drängte sich dichter an sie heran, als nötig gewesen wäre, und redete allem Anschein nach unaufhörlich auf sie ein. Immer wieder zupfte er an seiner schwarzen Lederjacke und strich sein Haar glatt. Barnaby machte sich auf den Weg.

In der Baracke herrschte hektische Aktivität. Ein paar einfachere forensische Untersuchungen waren bereits abgeschlossen, und der Officer konnte Barnaby ein paar Informationen geben. Das ganze Blut stammte von Mrs. Rainbird. Unter ihren Nägeln hatte man noch nicht analysierte Fasern gefunden, die darauf hindeuteten, daß der Mörder einen Strumpf oder eine Strumpfhose über das Gesicht gezogen hatte. Die Seife im Bad war mit Blut verschmiert gewesen, das hieß, daß der Mörder vermutlich geduscht hatte. Barnaby setzte sich mit dem Revier in Verbindung und machte Inspector Moffat, der die Pressearbeit übernehmen sollte, mit den Einzelheiten vertraut. Währenddessen fuhr ein Übertragungswagen eines Fernsehsenders draußen vor, und ein uniformierter Beamter der Spurensicherung kam in die Baracke.

»Oh - Sie sind wieder hier, Sir. Eine Nachricht von einer Mrs. Quine. Ich soll Ihnen ausrichten, daß sie einen Michael Lacey im Dickicht beobachtet und gesehen hat, wie er sich auf höchst verdächtige Weise dem Bungalow näherte ...«

»Zufällig haben wir Mr. Lacey auch im Dickicht gesehen, aber er hat sich ganz normal benommen. Trotzdem vielen Dank. Hat man die Leiche schon abgeholt?«

»Sie schaffen sie gerade fort, Sir«, erwiderte der Mann, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Man hätte die Entsetzensrufe und das aufgeregte Gemurmel aus einer halben Meile Entfernung hören können.

»Haben Sie sich schon in den Nebengebäuden umgesehen?« wollte Barnaby wissen.

»Noch nicht, Sir. Wir haben gerade in der Küche angefangen.«

»Gut.«

Barnaby verließ die Baracke, verwies die Reporter und das Fernsehteam an Inspector Moffat und ging zum Wagen, um dort auf Troy zu warten. Er holte ein paar von Mrs. Rainbirds bezeichnenderweise hellblauen und rosafarbenen Schnellheftern und eins der Notizbücher aus dem Kofferraum, ließ sich auf dem Rücksitz nieder und begann zu lesen.

Zuerst blätterte er das Notizbuch durch. Im großen und ganzen glich jede Seite der, die er bereits gelesen hatte. Keine Namen wurden genannt, nur Initialen, und gelegentlich waren die Informationen mit einem roten Stern markiert. Niemand schien etwas Außergewöhnliches getan zu haben - die Aufzeichnungen berichteten lediglich von verschiedenen Gängen, Unterhaltungen, von gegenseitigen Besuchen und dem Benützen der Telefonzelle. Niemand war von Mrs. Rainbirds stark vergrößerndem Fernglas verschont geblieben.

Barnaby legte das Notizbuch weg und schlug einen der Ordner auf. Er begriff auf Anhieb, daß seine erste Vermutung, als er das Dachgeschoß betreten hatte, zutreffend gewesen war. Mrs. Rainbird schien mit ihrer Beschäftigung eindeutige Ziele verfolgt und ihr Wissen aufs trefflichste ausgenützt zu haben. Barnaby zögerte, das Wort »marxistisch« zu benutzen, um so ein individualistisches, unsoziales Geschäft wie Erpressung zu beschreiben, aber es bestand kein Zweifel daran, daß die Forderungen der Frau im vernünftigen Rahmen geblieben waren. Die Leute hatten bezahlt, was sie konnten, und Mrs. Rainbird hatte die Preise den Möglichkeiten ihrer Opfer angepaßt.

Ein Mann hatte während (Barnaby überprüfte das anhand anderer Akten) der letzten zehn Jahre zweimal wöchentlich Eier und Gemüse bei Mrs. Rainbird abgeliefert. Ein anderer hatte sie mit Brennholz versorgt. Vor ein paar Monaten hatten diese Lieferungen aufgehört, und Mrs. Rainbird hatte eine gerade Linie unter die Auflistung gezogen und »verstorben« darunter geschrieben. Armer alter Teufel, dachte der Chief Inspector und fragte sich, was der Mann wohl verbrochen haben mochte. Wahrscheinlich war alles ganz harmlos. Die Vorstellungen von richtig und falsch in einem Dorf, besonders bei der älteren Bevölkerung, erschienen moderner denkenden Menschen oft antiquiert. Barnaby schlug einen anderen Schnellhefter auf. Drei Jahre lang zwei Pfund in der Woche, dann nichts mehr. Vielleicht hatte sich das Opfer aus dem Staub gemacht - der einzige Ausweg, um die Zahlungen einstellen zu können. Er las weiter. Fünfzig Pfund im Monat. Ein Pfund pro Woche. Die regelmäßige Wartung von Dennis’ Porsche. Kostenlose Bügelarbeiten, eine Lieferung Ziersträucher für den Garten. Wer hätte gedacht, daß in einem Drei-hundert-Seelen-Nest so viele »Sünden« begangen werden? Und natürlich gab es noch Brown’s, das Bestattungsinstitut. Dennis kurvte in der Gegend von Causton herum, besuchte Hinterbliebene und spendete ihnen in seiner schleimigen, kriecherischen Art Trost. Die Menschen redeten in Phasen der Trauer ungehemmt drauflos, und vor und nach Begräbnissen wurde viel geklatscht. Bei solchen Gelegenheiten konnte man viel Brauchbares aufschnappen. Seine Mutter und er mußten ein ziemlich weitreichendes Gebiet »abgegrast« haben. Barnaby nahm ohne große Erwartungen den nächsten Schnellhefter in die Hand - er hatte keine Ahnung, daß dies die Kammer mit der schußbereiten Kugel war. Die sechste Kammer.

Jetzt brauche ich mir nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie sich den silbernen Wagen oder die Anteile an dem Bestattungsunternehmen leisten konnten, dachte Barnaby, während er die Zahlenreihen studierte. Nummer 117 C hatte Tausende bezahlt. Sogar noch bevor er auf das Datum der ersten Zahlung schaute, wußte er, was er finden würde. Es gab nicht viele Verbrechen, die solche Summen einbrachten. Genaugenommen vielleicht sogar nur eins. Ihn befiel ein Gefühl, das zu stark war, um mit Befriedigung beschrieben zu werden. Er kam sich vor, als schwebe er in höheren Sphären. Die ganze Zeit war es ihm nicht gelungen, sich den Gedanken an Bella Traces Jagdunfall aus dem Kopf zu schlagen. Obwohl offensichtlich klar war, daß es sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt hatte und nicht der geringste Beweis für etwas anderes gefunden worden war, hatte Barnaby dieses Ereignis während der ganzen Woche nicht in Ruhe gelassen. Und jetzt hielt er die Bestätigung in den Händen. Ein leises Klopfen ans Fenster riß ihn aus seinen Träumereien.

»Ah, Troy.« Er stieg aus und schlug die Tür zu. »Haben Sie mit Miss Cadell gesprochen?«

»Ja. Sie war den ganzen Tag in ihrem neuen Zuhause, das zumindest hat sie mir erzählt. Ich war auch im Holly Cottage, aber da ist immer noch niemand.« Er beeilte sich, um mit Barnaby Schritt zu halten. »Dieser Mr. Trace scheint endlos viele Cottages zur Verfügung zu haben. Manche Leute brauchen ein Leben lang, um sich so ein Häuschen zu kaufen ...«

»Zeigen Sie mir, wo Phyllis Cadells Cottage ist.«

»Oh, sie hält sich im Augenblick nicht dort auf, Chief Inspector. Sie hat mit mir das Haus verlassen. Sie ißt bei den Traces zu Abend.«

»Gut.« Barnaby überquerte die Straße. »Was für einen Eindruck hat sie auf Sie gemacht?«

»Na ja, sie wußte natürlich noch nichts von dem Mord. Nachdem ich ihr davon erzählt hatte, benahm sie sich ziemlich komisch. Sie lachte lauthals, aber es klang ... ich weiß nicht... Ich glaube, sie hat getrunken.«

Phyllis Cadell stand am Fenster des Zimmers, in dem sie Barnaby und Troy vor wenigen Tagen empfangen hatte. Sie drehte sich um, als sich die Tür öffnete, und sobald Barnaby ihr Gesicht sah, wußte er, daß seine Vermutung zutreffend war. Er trat ein paar Schritte vor.

»Phyllis Cadell, ich nehme Sie fest. Sie stehen unter Verdacht, den Mord an...«

»O nein!« Sie wandte sich abrupt ab und lief zum anderen Ende des Zimmers. »Nicht jetzt... nicht jetzt!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schreien.

6

Barnaby durchquerte das Zimmer. Als er näher kam, verstummte Phyllis und starrte ihn an. Der intensive Blick, dieses grenzenlose Elend in ihren Augen erhob sie für einen kurzen Moment über alles Triviale und machte sie beinahe zu einer tragischen Figur. Barnaby belehrte sie über ihre Rechte, und Troy, der sich bemühte, den Eindruck zu erwecken, daß er nichts anderes als diese Verhaftung erwartet hätte, holte seinen Notizblock hervor und setzte sich auf den Stuhl neben der Tür.

Phyllis Cadell blickte von einem zum anderen, blinzelte nervös und fragte leise: »Wie haben Sie es herausgefunden?«

»Wir haben einige Unterlagen in Mrs. Rainbirds Bungalow sichergestellt. Ihre Akte war auch dabei.« Sie würde nie erfahren, daß keine Angaben über die Art des Verbrechens in der Akte vermerkt waren und daß das Opfer der Erpresserin nur anhand von drei Zahlen und eines Initials identifiziert wurde. Oder daß Barnaby, da er sonst keine Beweise hatte, gehofft hatte, sie so einschüchtern zu können, daß sie ihre Schuld gestand.

Sie fing tatsächlich an zu reden. »Ich weiß, daß es Ihnen schwerfallen wird, das zu glauben, aber als ich in dieses Haus kam... natürlich war ich damals viel jünger....« Sie richtete niedergeschlagen den Blick auf den Boden - es war nicht zu übersehen, daß sie traurig wegen ihres Alters, ihrer äußerlichen Erscheinung und ihrer Reizlosigkeit war. »Und Henry war... ich tat alles im Haus, wissen Sie, und er war mir so dankbar. Dann... ich spürte, daß aus seiner Dankbarkeit mehr wurde. Bella war immer so beschäftigt. Ihre Stellung im Dorf verlangte, daß sie sich im Gemeinderat engagierte und sich für die Wohltätigkeit einsetzte. Sie war Präsidentin der Frauenorganisation und der örtlichen konservativen Vereinigung. Oh - sie kümmerte sich auf ihre lebhafte, energische Art um Henry, aber sie verbrachte eben die meiste Zeit außer Haus. Er wirkte manchmal so wehmütig und sehnsüchtig ... er saß am Fenster und wartete darauf, daß ihr Wagen in die Einfahrt einbog. Dann eines Abends - ich werde das nie vergessen«, Tränen flossen ihr über das aufgedunsene Gesicht, und ihre Stimme klang belegt, »ich machte Sandwiches - Frischkäse mit Meerrettich. Er nahm meine Hand und sagte: >Phyllis, was würde ich ohne dich anfangen?< Nicht >wir<.« Sie sah Barnaby trotzig an. »Er sagte >ich<. >Was würde ich ohne dich anfangen ?< Verstehen Sie - im Laufe der Zeit wandte er sich mir immer mehr zu. Ich hatte Verständnis für ihn. Ich liebte ihn so sehr, und es erschien mir nur natürlich, daß er anfing, mich auch ein wenig mehr zu mögen. Und dann dachte ich«, ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, »wie glücklich wir beide sein könnten, wenn Bella nicht wäre.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und schwieg so lange, daß Barnaby schon fürchtete, sie würde nie mehr ein Wort von sich geben. Aber gerade, als er etwas sagen wollte, redete sie weiter. »Zwischen mir und meiner Schwester gab es keine Zuneigung. Alle hielten Bella für einen so guten Menschen, weil sie mir ein Zuhause gab, aber sie hätte nie eine Haushälterin gefunden, die sich so für sie und ihren Mann aufopfert, wie ich es getan habe. Und sie prahlte regelrecht mit ihrem Glück. Sie merkte schnell, daß ich Henry sehr mochte. Bella konnte man nicht so leicht etwas vormachen.«

Barnaby setzte sich, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich habe schon in meiner Jugend gelernt, mit einem Gewehr umzugehen. So ist das eben auf dem Land, man vergnügt sich bei der Jagd. Aber ich konnte es nie leiden, Lebewesen zu töten.« Sie verzog den Mund, als sie begriff, wie widersinnig die Aussage unter diesen Umständen war. »Ich sagte Bella, daß ich froh wäre über eine Abwechslung von der ewigen Hausarbeit und gern mit auf die Jagd gehen würde. Henry war offenbar ein wenig überrascht, aber er freute sich. Ich nahm einen Flachmann mit Wodka mit. Damals habe ich noch nicht sehr viel getrunken. Ich hatte mir keinen endgültigen Plan zurechtgelegt, aber ich war sicher, daß sich eine Gelegenheit bieten würde. Auf der Jagd stellen sich die Leute nicht in einer Reihe auf, und sie bleiben auch nicht zusammen, sie trennen sich und schwärmen in verschiedene Richtungen aus. Aber je mehr Zeit verging, um so unmöglicher erschien es mir, mein Vorhaben auszuführen. Immer stand jemand zwischen mir und meiner Schwester, oder sie entfernte sich zu sehr und kam mir zu nahe. Ich war der Verzweiflung nahe und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich nahm einen Schluck nach dem anderen aus dem Flachmann. Mir war klar, daß ich nie wieder den Mut aufbringen würde, mit ihnen auf die Jagd zu gehen ... all die toten Vögel, das Blut... mir wurde übel dabei. Dann kam mir eine brillante Idee. Ich dachte, niemand würde mir jemals auf die Schliche kommen, wenn ich vorausginge, mich im Gebüsch verstecken und es von dort aus tun würde. Also sagte ich ihnen, daß ich mich nicht gut fühle - vielleicht sagte ich auch, ich würde mich langweilen oder so was - lind machte einen großen Bogen, bis ich vor der Jagdgesellschaft war. Ständig wurden Schüsse abgefeuert. Ich vermute, ich hätte selbst sehr leicht getroffen werden können.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und setzte heiser hinzu: »Ich wünschte bei Gott, es wäre so gewesen. Dann ... habe ich sie erschossen. Es war grauenvoll. Ich sah, wie sie vornüber fiel, und geriet in Panik. Ich sprang auf und rannte und rannte. Das Gewehr warf ich in die Büsche. Nach ein paar Minuten blieb ich stehen und trank den Rest des Wodkas, und erst dann begriff ich ...«

»Ja?« Barnaby war ganz ruhig, das Zimmer so still. Troy schrieb mit wie ein Besessener und hatte das Gefühl, daß sie seine Anwesenheit ganz vergessen hatten.

»... Mir wurde klar, daß alle erkennen mußten, daß es kein Unfall war. All die anderen befanden sich hinter ihr -, alle, außer dem Farmersjungen, und der war zu weit weg. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Ich saß im Wald und überlegte. Ich dachte daran, einfach wegzulaufen, aber dann hätte jeder gewußt, daß ich es war ... schließlich zwang ich mich, zum Haus zu gehen. Als ich ankam, war alles schon vorbei. Der Krankenwagen war gekommen und wieder abgefahren, und Trevor Lessiter erzählte mir, daß Bella einen Unfall hatte. Sie war gestolpert und auf ihr Gewehr gefallen. Ich konnte es nicht fassen, daß jemand so viel Glück haben konnte. Ich weinte und weinte vor Erleichterung. Ich konnte einfach nicht aufhören. Alle waren gerührt über so viel Geschwisterliebe. Als sie alle weg waren, bereitete ich für mich und Henry ein Abendessen zu. Ich deckte nicht den Tisch, wir setzten uns an den Kamin. Ich mußte ihn überreden, ein paar Bissen zu essen. Ich hatte nie zuvor ein solches Glücksgefühl empfunden. Ich nehme an, Sie halten das für niederträchtig, aber es ist die Wahrheit. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, daß ich ungeschoren davongekommen war und daß ich Henry endlich für mich allein hatte. Ungefähr um halb acht klingelte das Telefon.« Ihre Stimme wurde brüchig und war kaum mehr als ein Krächzen. »Entschuldigen Sie ... ich brauche etwas zu trinken.«

»Sergeant.« Barnaby gab Troy ein Zeichen.

»Ist schon gut.« Sie bediente sich selbst aus der Karaffe und gab einen Schuß Soda dazu. »Iris Rainbird rief an. Sie sagte, daß ich bei ihr vorbeikommen solle. Ich erzählte ihr, was mit Bella passiert war, und sagte, ich könne Henry nicht allein lassen. Sie meinte nur: >Sie kommen sofort hierher. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich Ihnen einen Besuch abstatte?< Sie klang eigenartig, aber ich war nicht besonders beunruhigt. Ich brachte Henry seinen Nachtisch und machte mich auf den Weg zum Bungalow.

Sie bot mir einen Kaffee an und duldete keine abschlägige Antwort, Dennis ging in die Küche. Wir saßen uns in dem abscheulichen Wohnzimmer gegenüber, und sie rückte nicht mit der Sprache heraus. Sie sagte einfach nicht, was sie von mir wollte, statt dessen zwinkerte sie mir unaufhörlich zu und meinte, daß ich jetzt in Tye House mehr denn je gebraucht würde. >Sie werden die Kastellanin sein, meine Liebe.< Dann schob Dennis den Teewagen herein. Unten stand der Kaffee und eine Schale mit Keksen, und oben lag ... das Gewehr. Niemand sagte ein Wort. Es war schrecklich. Sie wechselten einen Blick, ehe sie mich freudestrahlend ansahen, als hätte ich etwas Außergewöhnliches vollbracht. Ich vermute, das hatte ich auch.

Dennis behauptete, er hätte gesehen, wie ich auf Bella geschossen und das Gewehr versteckt habe, bevor ich weggerannt bin. Und er sagte, er und seine Mutter würden sich nichts mehr wünschen, als daß ich weiterhin ein glückliches Leben in Tye House führe, und ich könne sicherlich verstehen, daß auch arme Leute irgendwie durchkommen müßten. Sie beide hätten immer gewußt, daß ich zu den Leuten gehöre, die ihre Freunde nicht vergessen und sich ihnen gegenüber großzügig erweisen. Ich war so besessen von meinem Plan gewesen, daß ich keinen Gedanken an irgend jemanden sonst verschwendet hatte, am wenigsten an Dennis Rainbird. Aber zu der Zeit war er verrückt nach Michael Lacey gewesen. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt. Daran hätte ich denken müssen. Jedenfalls«, ihre Schultern sackten nach unten, »gibt es nicht mehr viel zu erzählen, ehrlich. Seitdem haben sie mich ausgenommen. Henry überließ mir Bellas Schmuck, ich verkaufte ihn und gab den Rainbirds das Geld. Ich selbst hatte auch noch ein bißchen Schmuck und die fünfzigtausend Pfund, die mir meine Mutter hinterlassen hatte.« Ihr Gesicht verzog sich kummervoll. »Und das alles war umsonst. Henry hat mich nie geliebt. Er war nur nett und freundlich zu mir. Und dann tauchte Katherine auf.«

Als sich das Schweigen in die Länge dehnte, erkundigte sich Barnaby: »Ist Ihre Aussage damit beendet, Miss Cadell?«

»Ja.«

»Und der Mord an Mrs. Rainbird?« Noch bevor der Chief Inspector die Frage ganz ausgesprochen hatte, wußte er, wie ihre Antwort lauten würde. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich an dem Gedanken festhielt, daß Henry sie gern hatte, und wie sie sich mit einer Flasche Wodka Mut machte, auf Bella schoß und sofort, von Entsetzen und Angst gepackt, die Flucht ergriff und das Gewehr wegwarf. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß diese stämmige Frau ein Messer schwang, immer und immer wieder zustach und in Blut watete, eiskalt die Kleider wechselte und all ihre Spuren sorgfältig beseitigte. Deshalb war er keineswegs überrascht, als er sie sagen hörte: »Damit habe ich nichts zu tun.«

Trotzdem hatte er das Gefühl, weitere Fragen stellen zu müssen. Immerhin hatte sie kein Alibi für den Nachmittag, und Mrs. Rainbirds Tod kam ihr sicherlich sehr gelegen.

»Ich weiß nicht, welche Vorteile ich jetzt noch aus ihrem Tod ziehen könnte. Ich hätte sie vor achtzehn Monaten umbringen müssen. Sie wußten beide seit Wochen, daß ich kein Geld mehr habe. Und ich machte ihnen klar, daß ich sie ins Gefängnis bringen würde, wenn sie mich hinhängen. Sie wußten genau, daß ich es ernst meinte.«

Nachdem Troy ihr die Aussage noch einmal vorgelesen hatte, setzte sie ihre Unterschrift darunter, und Troy postierte sich vor der Schlafzimmertür, während sie ein paar Sachen zusammenpackte. Sie erschien mit einem kleinen Koffer, ihrer Handtasche und einem unförmigen Regenmantel. Sie war nie eine attraktive Frau gewesen, aber zumindest hatte sie bis heute über ein gewisses Maß an Vitalität verfügt. Jetzt jedoch wirkte sie vollkommen erschöpft und alt, selbst ihr Haar schien grauer geworden zu sein. Als sie die Treppe herunterkamen, ging eine Tür auf, und Barnaby spürte, daß sie sich an ihn drängte.

»Phyllis.« Henry rollte in die Eingangshalle, Katherine hielt sich dicht hinter ihm. »Was, um alles in der Welt, ist hier los? Was ist passiert?«

»Das wirst du noch früh genug erfahren.« Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, lief sie zur Tür. Troy rannte ihr nach. Barnaby drückte die Tür hinter ihnen zu und drehte sich zu Henry und Katherine um.

»Tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, Mr. Trace, aber Miss Cadell hat gerade ein Geständnis abgelegt - sie hat Ihre Frau ermordet.«

»Das ist nicht möglich!« rief Katherine verblüfft.

Henry schien es die Sprache verschlagen zu haben. Nach einer Weile fragte er leise: »Sind Sie sicher? Da muß ein Irrtum vorliegen. Ich kann das einfach nicht glauben.«

»Ich fürchte, es besteht kein Zweifel.« Barnaby öffnete die Haustür. »Wir haben sie verhaftet. Vielleicht möchten Sie sich mit einem Anwalt in Verbindung setzen.« Er verabschiedete sich und stieg zu Troy und Miss Cadell in den Wagen.

7

Barnaby saß hinter seinem Schreibtisch. Er schob die Tranquillada-Akte beiseite und konzentrierte sich auf seinen Kaffee. Vor ein paar Minuten hatte er mit dem Krankenhaus telefoniert und erfahren, daß sich Dennis Rainbirds Zustand nicht geändert hatte, er sich aber weiterhin ganz wohl fühlte. Das bezweifelte Barnaby. Das bezweifelte er sogar sehr. Sobald Dennis Rainbirds Erinnerungsvermögen zurückkäme, würde er sich nicht mehr wohl fühlen, bis der Mörder seiner Mutter gefaßt war. Barnaby war sicher, daß Dennis über all das, was seine Mutter über andere Leute in Erfahrung gebracht hatte, auch Bescheid wußte. Und was, außer einer andauernden Geistesverwirrung, konnte ihn jetzt noch davon abhalten, sein Wissen preiszugeben? Deshalb hatte Barnaby je eine Wache vor dem Krankenzimmer und neben dem Krankenbett postiert.

Barnaby hatte den Zeitungsartikel über die Voruntersuchung im Todesfall Bella Trace vor sich liegen. Jetzt kannte er die Wahrheit und erinnerte sich an seinen ersten Eindruck, daß irgend etwas nicht so recht zusammenpaßte. Er las den Artikel noch einmal Wort für Wort durch, in der Annahme, dieses Gefühl hätte sich inzwischen in Luft aufgelöst, aber er irrte sich. Ah, egal... das war jetzt nicht mehr wichtig.

Um ihn herum herrschte geschäftige Aktivität, und ständig klingelte irgendwo ein Telefon. Die Fleet Street interessierte sich ebenso wie der Sender BBC für die Vorgänge in Badger’s Drift. Obwohl bis jetzt noch kein Aufruf an die Bevölkerung ergangen war, meldeten sich etliche Leute, die natürlich erpicht darauf waren, eine wichtige Rolle bei einem derart dramatischen Ereignis zu spielen, und versorgten die Polizei mit Informationen und Angeboten.

Überall stapelte sich Papier. Jedes kleinste Detail wurde notiert, und alles, was bis jetzt noch nicht auf Karteikarten übertragen worden war, flatterte von Schreibtisch zu Schreibtisch. Analysen und Berichte aus dem Labor wurden an die Ermittler in der Baracke durchgegeben. Eine stark vergrößerte Karte des Dorfes und der Umgebung hing hinter Barnaby an der Wand. Auf den Fernsehbildschirmen war ein Lokalreporter zu sehen, der Mrs. Sweeney und Mr. Fenston interviewte, den Seniorpartner des Bestattungsinstituts (»Wir bieten Trost in der Stunde der Not«). Die Dorfbewohner gaben Polizisten Auskunft, wo sie sich zur Tatzeit, also zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, aufgehalten hatten. Die in einem solchen Fall üblichen Routinearbeiten wurden gewissenhaft erledigt. Und obwohl Barnaby wußte, daß all die Dinge getan werden mußten, weigerte sich sein Verstand, die Details der Ermittlungsergebnisse aufzunehmen.

Seiner Ansicht nach gab es fünf Verdächtige (er hatte sich entschieden, Henry Trace auszuschließen, und Lessiter hatte ein bestätigtes Alibi), und diese fünf bewegten sich in einem bedächtigen Tanz vor seinem geistigen Auge. Wo er auch war, mit wem er auch sprach und was er auch tat, der Tanz ging weiter. Er trank seinen Kaffee aus - und sah diesen albernen Frosch wieder.

Es war kurz vor neun Uhr abends. Er kritzelte eine Bestellung für den Straßenverkauf des chinesischen Restaurants auf ein Papier - Ingwersuppe, süß-saure Garnelen, Reis und Frühlingsrollen, kandierte Äpfel - und gab sie gerade weiter, als das Telefon klingelte.

»Eine Mrs. Quine möchte Sie sprechen, Sir. Sie ist in einer Telefonzelle. Ich habe die Nummer notiert.«

»Gut... Mrs. Quine?«

»Hallo ? Was ist los ... hat Ihnen der Kerl in dieser Baracke nicht ausgerichtet, was ich gesagt habe? Über diesen Lacey?«

»Doch. Ich habe die Nachricht erhalten.«

»Wieso strolcht er dann immer noch im Dorf herum? Soll er uns erst alle aufschlitzen und in Stücke schneiden, bevor ihr eure Hintern in Bewegung setzt und etwas unternehmt? Ich hab’ gesehen, daß er frech wie Rotz auf das Haus zugegangen ist.«

»Wir auch ...« Barnaby hielt inne. Um ihn herum schrillten die Telefone, eine Schreibmaschine klapperte, draußen hielt ein Wagen mit quietschenden Reifen. Er hörte nichts von alldem. Er konzentrierte sich voll und ganz auf eine einzige Kleinigkeit. Es gab nur noch ihn, das Telefon und Mrs. Quine. Seine Kehle war staubtrocken, als er fragte: »Sie meinen, Sie haben gesehen, wie er auf das Haus zuging?«

»Das hab’ ich doch gesagt, oder? Der andere Polizist sollte ihnen das ausrichten. Er ging über den Gartenweg zur Hintertür. Er hatte den ollen Overall an und die Mütze auf dem Kopf. Ich würde ihn überall erkennen.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Also ... Die fliegenden Ärzte waren gerade zu Ende, und die nächste Serie hatte noch nicht angefangen. Ich war oben, um die Betten zu machen - deshalb konnte ich ihn sehen. Durch das Schlafzimmerfenster. Lisa Dawn machte Tee in der Küche.«

»Ja«, sagte Barnaby und wunderte sich selbst, daß seine Stimme so ruhig blieb, »aber wie spät war es da?«

»Das war um ... äh... fünf vor vier.«

Barnaby richtete sich auf und umklammerte den Hörer fester. Mrs. Quirie plapperte noch eine ganze Weile weiter, aber ihre Worte prallten an ihm ab. In seinem Kopf war alles in Aufruhr. Fünf vor vier. Lieber Gott. Fünf vor vier. Ein paar Worte sickerten zu ihm durch.

»Haben Sie diesen neugierigen Kerl vom Jugendamt zu mir geschickt? Lisa Dawn war ganz durcheinander.«

Mrs. Quine gingen die Münzen aus, und das Freizeichen ertönte. Barnaby machte sich auf die Suche nach Inspector Moffat, um sich Durchsuchungsbefehle zu beschaffen. Als er durchs Vorzimmer marschierte, brüllte er: »Troy!« Der Schrei war sicher noch auf dem Rindermarkt und im Café an der übernächsten Straßenecke zu hören. Sein Sergeant unterbrach seinen glutäugigen Flirt mit der Polizistin Brierley, sprang auf und rief ebenso laut: »Sir!«

»Den Wagen. Setzen Sie sich in Bewegung!«

Troy gab noch einmal ein donnerndes »Sir!« von sich und rannte los. So mag ich’s, dachte er, als er den Parkplatz erreichte und in den Fiesta sprang. Mit heulender Sirene und Vollgas. Der Fall war gelöst, der Schurke auf der Flucht, er und Barnaby blieben ihm dicht auf den Fersen und hielten die Handschellen bereit. Aber der Chief Inspector wurde langsam alt. Zu seiner Zeit war er vielleicht flink gewesen, aber heute ... Also mußte Troy dafür sorgen, daß die Halunken hinter Schloß und Riegel kamen. Er war ein zäher Bursche - einer der ganz harten Männer. Und später würde Barnaby eingestehen: »Ohne Sie, Sergeant, hätte ich nicht...«

»Um Himmels willen, sitzen Sie nicht rum, Sergeant! Fahren Sie los.«

»Ja, Sir.«

»Nach Badger’s Drift, und schalten Sie die verdammte Sirene aus.« Von langsam fahren hatte er nichts gesagt, und Troy drückte aufs Gas, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.

»Was ist los, Sir?« Barnaby erzählte es ihm, und Troy pfiff durch die Zähne. »Menschenskind, dann haben wir ihn also.«

»Behalten Sie die Straße im Auge.«

»Aber.. .die Sache ist ziemlich einleuchtend, nicht wahr?«

»Ganz gewiß gibt es einiges, was er uns erklären muß.«

»Ich hoffe, er ist nicht abgehauen. Er war nicht zu Hause, als ich vorhin im Cottage war.«

Nur noch einen Handvoll Leute lungerten vor dem Rainbird-Bungalow herum. Der Übertragungswagen des Senders war auf dem Weg zum nächsten Drama. Es wurde allmählich dunkel. Sobald Troy auf den Feldweg einbog, sahen sie, daß Licht im Holly Cottage brannte.

»Er ist daheim.«

»Sie brauchen nicht zu flüstern, Sergeant.« Barnaby stieg aus. »Ich denke, das Scheinwerferlicht hat ihm längst verraten, daß wir im Anmarsch sind.«

Die untergehende Sonne tauchte das Haus in gnädig sanftes Licht und umrahmte die dunklen Bäume mit Gold. Eins der Fenster im oberen Stockwerk reflektierte das rote Abendlicht. Troy blinzelte und dachte: Es sieht aus wie ein Klumpen Blut.

»Lieber Himmel, nicht Sie schon wieder.« Michael Lacey stand auf der Schwelle und musterte sie unfreundlich. Er biß von einem dicken Brot mit Käse ab. »Sie hören wohl nie auf? Wirklich, es ist mir ein Vergnügen, Steuern zu zahlen - das heißt, wenn ich jemals genügend verdiene, um Steuern bezahlen zu müssen.«

»Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

Er gab ein leises Ächzen von sich, aber es klang unecht. Ein Teil des Spiels. Er hielt ihnen die Tür auf. »Kommen Sie rein, wenn Sie müssen. Aber man hat mir bereits Fragen gestellt - einer Ihrer Leute war vor knapp einer halben Stunde hier.«

»Dann wissen Sie vermutlich schon, daß Mrs. Rainbird zu Tode gebracht wurde.«

»Zu Tode gebracht wurde? Wie wunderbar, so schön altmodisch!«

»In einer brutalen Art und Weise.«

»Ich hoffe, Sie rechnen nicht damit, daß ich aufrichtig zerknirscht deswegen bin. Sie war eine gräßliche Frau. Fast so widerlich wie ihr Goldjunge.«

»Wirklich? Ich wußte gar nicht, daß Sie sie so gut kannten.«

»Ich kannte sie nicht gut.«

Hochnäsiger Kerl, dachte Troy, Mrs. Quine sagt was anderes. Barnaby fragte Michael Lacey, wo er am Nachmittag zwischen drei und fünf gewesen war.

»Bei der Arbeit.«

»Wollen Sie uns das ein wenig näher erläutern?«

»Eigentlich nicht. Trotzdem danke.«

»Und wenn jemand sagt, er hätte Sie um kurz vor vier Uhr im Garten von Mrs. Rainbird auf dem Weg zur Hintertür gesehen?«

»Würde ich sagen, daß er zum Augenarzt muß.«

Barnaby zeigte ihm eines der beiden Formulare, die er sich im Polizeirevier hatte ausstellen lassen. »Mr. Lacey, ich habe hier eine Vollmacht, das Haus zu durchsuchen.« Bei diesen Worten veränderte sich Laceys Miene schlagartig. Das wischt ihm das Grinsen aus dem Gesicht, dachte Troy und zeigte selbst einen Anflug von einem Lächeln. »Ich hoffe«, fuhr Barnaby fort, »daß Sie sich in dieser Angelegenheit kooperativ zeigen.«

»Das können Sie nicht tun!«

»Dieses Papier ermächtigt mich dazu, fürchte ich. Sergeant ...« Barnaby deutete mit dem Kopf auf die Treppe, und Troy verschwand ins obere Stockwerk. »Würden Sie mich bitte in die Küche begleiten, Mr. Lacey?«

Er durchsuchte gründlich die Küche, während der Hausherr an der Spüle lehnte und ihn verdrossen beobachtete. Danach nahm sich der Chief Inspector das Zimmer mit dem Sofa und den Regalen vor. Er zog die Taschenbücher aus den Fächern, hob den Teppich an. Lacey hockte auf einem der unbequemen Stühle. Troy kam herein und sah seinen Boß mit einem, wie er glaubte, kaum erkennbaren Kopfschütteln an. Der Chief Inspector beendete seine Arbeit und wandte sich dem Mann am Eßtisch zu. Lacey sagte: »Wenn ich die heftige Geste der Verzweiflung richtig deute, dann hat Ihr erfolgloser Sergeant auch nichts Bedeutsames ausgegraben. Ich würde Vorschlägen, Sie ziehen fröhlich Ihrer Wege und lassen mich in Frieden.«

»Nächstes Zimmer, Troy.« Der Sergeant nickte und machte sich auf den Weg. Lacey sprang auf die Füße.

»Das ist mein Atelier. Ich möchte nicht, daß meine Arbeiten durcheinandergebracht werden. Da drin ist nichts außer meinen Bildern.«

Troy rief: »Die Tür ist verschlossen, Sir.«

»Brechen Sie sie auf.«

Michael Lacey lief auf den Flur und hielt Troy zurück. Der Sergeant grabschte erfreut nach seinen Handgelenken und verdrehte ihm die Arme auf den Rücken.

»Schon gut, Sergeant, schon gut.« Barnaby schlenderte gemächlich auf die beiden zu. »Er geht nirgendwohin, nicht wahr, Lacey?«

Troy ließ Lacey los, der die beiden Polizisten böse anfunkelte. Aber in diesem Blick lag mehr als Wut. Lacey hatte Angst.

»Warum schließen Sie die Tür nicht einfach auf, das würde uns allen eine Menge Schwierigkeiten ersparen.«

Lacey hörte nicht auf ihn, und Troy rammte mit der Schulter die Tür. Nach dem vierten Anlauf gab sie nach. Er hob die Tür in den Flur und behielt dabei Lacey, der wie erstarrt am Treppengeländer lehnte, aufmerksam im Auge.

Barnaby betrat das Atelier. Es sah harmlos und im Vergleich zum Rest des Hauses aufgeräumt aus. Etliche Bilder standen an der Wand, einige waren mit Schnüren zusammengebunden. Die Staffelei, auf der sich offenbar das Bild befand, an dem Lacey momentan arbeitete, war mit einem Tuch bedeckt. Der Fußboden war sauber gefegt, und der Geruch von Terpentin und Harz lag in der Luft. Gläser mit Pinseln reihten sich ordentlich auf einer schlichten, auf Böcken liegenden Tischplatte, und in einer Ecke stand ein Gasofen.

Troy hatte sich mit gespreizten Beinen im Flur aufgebaut und war auf alles gefaßt. Über seinem Kopf brummte der Stromzähler wie eine gefangene Biene. Er sah auf. Dünne graue Kabel schlängelten sich aus dem kleinen Kasten. Komisch, einen Stromzähler in einem Privathaus zu sehen. Die Mieter in den Gemeindehäusern hatten natürlich welche. Wie fast überall war auch dieser zu hoch oben, und er machte ziemlichen Lärm. Troy drehte sich um und sah sich das Ding genauer an. Es war nicht der Stromzähler, der so laut brummte. Auf dem Ding saßen Unmengen von Fliegen; dicke, ekelhafte Schmeißfliegen. Sie drängten sich auf irgendeinem Gegenstand, der hinter dem Stromzähler klemmte. Troy stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

»Chief...« Barnaby eilte zu ihm. »Sehen Sie - da oben.«

»Holen Sie einen Stuhl und irgend etwas, womit wir es anfassen können.«

Troy kletterte mit einem schmutzigen Küchentuch in der Hand auf einen der Eßzimmerstühle und zog das Messer aus dem unzulänglichen Versteck. Die Klinge war voll mit dunklen Flecken. Die Fliegen erhoben sich schwerfällig, entfernten sich jedoch nicht allzu weit vom Objekt ihrer Begierde. Als Troy Barnaby das Messer zeigte, setzten sie sich auf seine Hand. Barnaby sah Lacey an, der langsam auf sie zukam und das Messer erstaunt anstarrte.

»Können Sie uns erklären, was das hinter Ihrem Stromzähler zu suchen hat, Mr. Lacey?«

»Nein, das kann ich selbstverständlich nicht.«

»Gehört das Messer Ihnen?«

Da sich Lacey in Schweigen hüllte, versetzte Troy ihm einen unsanften Stoß. »He - der Chief Inspector hat Sie etwas gefragt!«

»Ich weiß nicht...« Er schaute genauer hin und verzog angewidert den Mund. »Ja ... das ist das Messer, das wir beim Gemüseputzen benutzen.«

»Und wo haben Sie die Kleider versteckt, Mr. Lacey?«

»Was?«

»Den Overall, die Mütze, die Handschuhe. Die Strumpfhose.«

»Die Strumpfhose? Wofür halten Sie mich? Für einen Transvestiten?«

»Die Kleider, die Sie trugen«, fuhr Barnaby unnachgiebig fort, »als Sie Mrs. Rainbird töteten.«

»Als ich...« Lacey blieb der Mund offen stehen. »Sie phantasieren. Das können Sie mir nicht anhängen. Ich habe viel von korrupten Polizisten gehört. Vielleicht haben Sie das Messer selbst hier versteckt. Sie könnten gut vorher schon einmal hier gewesen sein, als ich außer Haus war.«

Barnaby drehte sich um, um ins Atelier zurückzugehen, und Lacey stürmte davon. Er schubste den Chief Inspector brutal beiseite, boxte Troy gegen die Brust, so daß er das Gleichgewicht verlor, und flüchtete durch den Flur in Richtung Haustür. Troy rappelte sich auf, setzte ihm nach und erwischte ihn neben dem Polizeiauto. Als Barnaby sie erreichte, war Lacey mit Handschellen gefesselt. Troys Gesicht war vor Anstrengung und Stolz gerötet.

»Steigen Sie ein, Lacey.«

Der Festgenommene richtete einen starren Blick auf den Chief Inspector. Neben der Angst und der Hoffnungslosigkeit entdeckte Barnaby noch etwas anderes in seinem Gesicht, etwas Beunruhigendes, was er jedoch nicht genau benennen konnte. Troy verfrachtete Lacey auf den Rücksitz, und Barnaby legte das Messer in den Kofferraum.

»Haben Sie einen Schlüssel, mit dem wir das Haus absperren können?«

»Es ist nie verschlossen.«

Sie fuhren los. Als Troy vor der Kreuzung Church Lane und Street die Geschwindigkeit drosselte, kam Katherine mit zwei Hunden um die Ecke. In dem spärlichen Abendlicht konnte sie Barnaby gerade noch erkennen. Sie lächelte. Dann entdeckte sie ihren Bruder auf dem Rücksitz und rief entsetzt: »Michael!« Sie lief über die Straße auf den Wagen zu. Er hob die gefesselten Handgelenke und beschrieb mit den Händen ein Viereck vor seinem Gesicht. »Sieht aus, als wär’ ich ziemlich abgemalt!« rief er. Troy trat aufs Gaspedal.

8

Es war dunkel, als sie im Revier ankamen. Michael Lacey wurde über seine Rechte belehrt und gefragt, ob er irgend jemanden anrufen wolle. Er lehnte ab und sah sich interessiert um. Er schien sich ziemlich schnell von dem Schrecken erholt zu haben. Als Barnaby ihn dem Verantwortlichen des Zellentraktes übergab, trat er sogar mit einem gewissen Übermut auf. Barnaby hörte, wie er Witze machte und Toast, Tee, einen Grillspieß, Apfelkuchen und Eiscreme bestellte. Der Chief Inspector erkundigte sich, wie es der anderen Inhaftierten ging‘

»Gut. Sie schläft wie ein Baby und schnarcht, daß die Wände wackeln.«

Barnaby ging in sein Büro, wo Troy den Bericht über die Hausdurchsuchung fertigstellte. Es war zu dunkel, um die Suche nach den Kleidern des Mörders einzuleiten, aber gleich bei Tagesanbruch würden sie damit anfangen. Noch mehr Papiere hatten sich auf Barnabys Schreibtisch neben dem kaltgewordenen chinesischen Menü angesammelt. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, die Berichte der Kollegen sofort zu lesen. Der Mörder saß hinter Schloß und Riegel. Der Chief Inspector stellte sich ans Fenster, betrachtete den schwarzblauen Himmel mit den funkelnden Sternen und überlegte, woher dieses ungute Gefühl kam.

»Sir?« Troy hielt ihm den Telefonhörer hin. »Miss Lacey ist am Apparat.«

»Ja? Hier spricht Detective Chief Inspector Barnaby.«

»Was ist passiert? Was haben Sie mit Michael vor?«

Barnaby gab ihr Auskunft. Eine Weile herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann fing Katherine an zu schreien. Barnaby hörte sie stammeln: »Nein ... nein ... er konnte nicht... es ist nicht wahr.« Henry Trace nahm ihr den Hörer ab.

»Erklären Sie mir genau, was vorgefallen ist, Barnaby. Aus Katherine kann ich nichts Vernünftiges herauskriegen. Liebling, bitte ... es wird alles gut. Versuch dich zu beruhigen ... wir können nichts unternehmen, wenn wir nicht wissen, was los ist.«

Barnaby sagte sein Sprüchlein noch einmal auf. Er hörte Katherine kreischen: »Ich möchte ihn sehen... Henry, ich muß zu ihm.«

»Können wir ihn sehen, Chief Inspector?«

»Ich schlage vor, Sie rufen morgen noch einmal an, Mr. Trace. Wir haben ihn gerade für die Nacht in die Zelle gebracht.« Katherine schluchzte immer noch hysterisch, als Barnaby auflegte.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Er war müde, aber nicht auf eine gesunde Art. Er war das, was seine Mutter »fix und fertig« nannte - erschöpft und ausgelaugt, ohne etwas vorweisen zu können. Aber was fiel ihm ein? Natürlich konnte er etwas vorweisen. Er hatte den Mörder von Iris Rainbird gefaßt. Und morgen würden sie die blutbesudelten Kleider finden. Lacey konnte nicht weit in diesem Aufzug gekommen sein. Wahrscheinlich hatte er sie in dem Weiher im Wald versenkt. Dieser Gedanke erinnerte ihn an die Wasserpfütze im Schuppen der Rainbirds. Er fühlte sich auch, als hätte er Wasser im Gehirn. Und seine Eingeweide rumorten. Sein Magen war nie zufrieden. Wenn er ihn fütterte, beschwerte er sich, und wenn er ihn nicht fütterte, beschwerte er sich auch. Aber alles war bestens. Abgedroschene Phrasen, die ihm sonst nie in den Sinn kamen, drängten sich ihm auf. Ein sonnenklarer Fall. Mörder auf frischer Tat ertappt. Kein Problem.

Er warf das chinesische Essen in den grauen Metallabfalleimer und hievte sich aus dem Schreibtischsessel. »Ich hab’ genug«, sagte er zu niemand speziellem. »Wir sehen uns morgen.«

Troy, der während der Zwölf-Stunden-Schicht regelrecht aufgeblüht zu sein schien, sprang auf, begleitete Barnaby zur Tür und hielt sie ihm auf.

»Ein ereignisreicher Tag, stimmt’s, Sir?« Er strahlte zufrieden.

»Das können Sie laut sagen.«

»Ich meine«, Troy hielt auf dem Weg über den Parkplatz mit Barnaby Schritt, »wie oft in Ihrem Berufsleben haben Sie schon zwei Mörder an ein und demselben Tag gefaßt? Das ist doch wirklich einmalig, finden Sie nicht, Chief?«

Barnaby schloß seinen Wagen auf.

»Guter Gott«, plapperte Troy weiter, »mir sind schon einige Lügner in meinem Leben untergekommen, aber dieser Lacey...«

»Gute Nacht, Sergeant.«

Troy warf ihm noch einen glänzenden Blick durchs Fenster zu. »Ein sonnenklarer, schnellstens gelöster Fall, nicht wahr?«

Er sah dem blauen Wagen nach. Komischer alter Kauz, dachte Troy. Gelänge ihm ein so sensationeller Doppelschlag, würde er Drinks für alle spendieren, und der Schlüpfer von Miss Brierley läge noch vor dem Morgengrauen in seinem Handschuhfach.

In der Nachbarschaft war alles ganz still, als Barnaby in seine Garage fuhr. Verträumte Vorstadt. Hinter ein paar Fenstern flimmerten Fernseher, aber die meisten unschuldigen Menschen schliefen bereits tief und fest und sammelten neue Energien für die tägliche Fahrt in die Stadt.

»Bist du das, Tom?« rief Joyce wie immer.

Er blieb einen Moment im Eingang stehen und sah den Garten und die Umrisse der Bäume an. Die Blätter raschelten im Nachtwind und glänzten silbern im Mondschein. Er war froh, daß die Blumenbeete im Dunkeln lagen. Er hatte seit vierzehn Tagen nicht mehr im Garten gearbeitet. Er würde Joyce bitten, am Wochenende Unkraut zu jäten. Das erinnerte ihn daran, daß er das Wochenende vermutlich im Büro verbringen mußte, und mit einem Mal bot ihm das leise Seufzen der Bäume keinen Trost mehr. Er ging ins Haus.

»Ich habe dir Suppe warmgehalten.« Joyce trug einen Morgenmantel und Hausschuhe, und ihr Gesicht war ungeschminkt und sauber.

»Oh ...« Barnaby schlang den Arm um ihre Taille. »Du hättest dir keine solche Mühe machen sollen.«

»Wie war dein Tag?«

»Es ging so.« Barnaby nahm die Suppentasse.

»Leider ist es keine selbstgemachte.«

Barnaby trank dankbar von der Suppe. Sie schmeckte wundervoll. Natriumglutamat. Erlaubte Konservierungsmittel. Farbstoffe und all die angsteinflößenden E-Zusätze mit verschiedenen Ziffern. Herrlich.

»Du hast doch nicht vergessen, daß Cully am Wochenende kommt?«

»Doch, das habe ich.« Barnaby leerte die Tasse.

»Möchtest du noch etwas davon?«

»Ich hätte nichts dagegen.«

Sie brachte ihm die gefüllte Tasse, aber bevor er trinken konnte, legte sie die Arme um ihn. »Tom?«

»Mmm.«

»Du siehst traurig aus.« Sie zog seinen angegrauten Kopf an ihren Busen. »Möchtest du ein bißchen kuscheln?«

»Ja, bitte.« Er küßte sie. Sie schmeckte süß nach Zahnpasta und der Babylotion, die sie als Feuchtigkeitscreme benutzte. Plötzlich war er von Dankbarkeit erfüllt. Heute und jeden Tag durfte er, gleichgültig wie schlimm die Arbeitsstunden auch gewesen waren, nach Hause kommen. Er strich ihr übers Haar und setzte hinzu: »Und nicht nur, weil ich traurig bin.«

9

Es war ein wunderschöner Tag für eine Hochzeit. Mit Sommerjasmin verflochtene Hopfenranken zierten die Steinbögen der Kirche, und an jeder Bank waren altmodische Blumensträußchen befestigt. Der Altar war mit Tuberosen bedeckt. Die unvergleichlich schöne Braut trug schimmernde Seide und Spitze. Der Bräutigam fuhr im Rollstuhl den Mittelgang hinunter und kam vor den Stufen der Kanzel zum Stehen - die Braut drehte sich zu ihm um, sah ihn an, und ihr Gesicht erstarrte zu einer Maske des Entsetzens. Auf seinen makellosen Schultern saß ein grinsender Totenschädel. Der Vikar sagte: »Liebes Brautpaar...« Die Kirchengemeinde lächelte. Niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Die Glocken läuteten. Und läuteten. Und läuteten.

Barnaby tastete auf seinem Nachttisch nach der Uhr. Es war erst halb sechs, um Himmels willen. Er nahm den Hörer von der Gabel. »Barnaby«, brummte er. Er hörte zu und war plötzlich hellwach. »Allmächtiger... haben Sie Bullard angerufen? ... Nein... Ich komme sofort.«

Joyce drehte sich verschlafen zu ihm. »Liebling ... was ist los?«

Er war schon aus dem Bett gesprungen und zog sich an. »Ich muß weg ... du brauchst nicht aufzustehen.«

Sie setzte sich auf und klopfte die Kissen zurecht. »Aber du mußt doch ein Frühstück haben.«

»Die Kantine öffnet um sechs. Ich hole mir was von dort.«

»Wie lange ist sie schon tot?«

Doktor Bullard zog die Decke über Phyllis Cadells starres Gesicht. »Zwei, vielleicht drei Stunden. Irgendwann am frühen Morgen ist sie gestorben.«

Barnaby ließ sich schwer auf die Toilette sinken - außer der Pritsche gab es sonst keine Sitzgelegenheit. »Guter Gott, George, das hat uns gerade noch gefehlt. Ein Todesfall in der Zelle.«

»Tut mir leid.« Bullard lächelte - er wirkte ziemlich munter für die unchristliche Zeit. »Ich kann sie nicht wieder zum Leben erwecken. Nach allem, was man so hört, ist sie so auch besser dran, die arme Seele, denkst du nicht?«

»Das ist nicht der springende Punkt.« Barnaby schielte auf die Gestalt unter der Decke. Er wußte, was Bullard meinte. Was hätte Phyllis Cadell noch zu erwarten gehabt? Die Qualen und die Erniedrigung eines öffentlichen Gerichtsverfahrens. Jahre im Gefängnis. Im Alter einsam und ungeliebt. Und die ganze Zeit müßte sie mit dem Wissen fertig werden, daß Henry und Katherine glücklich in Tye House lebten. Trotzdem ...

Der diensthabende Sergeant kam in Barnabys Büro und schloß die Tür so vorsichtig, als wäre sie aus Glas. Er warf einen einzigen Blick auf die Gestalt hinter dem Schreibtisch, das genügte ihm. Während des ganzen Gesprächs starrte er auf den Fußboden.

»Also gut, Bateman, bringen wir’s hinter uns.«

»Ja, Sir. Es war nicht...«

»Und wenn Sie jetzt sagen, daß es nicht Ihre Schuld war, drehe ich Ihnen den Hals um.«

»Sir.«

»Erzählen Sie von Anfang an.«

»Also ... ich nahm die Gefangene in Empfang, aber noch bevor ich die Haftpapiere ausfüllen konnte, fragte sie mich, ob sie die Toilette benützen dürfe.«

»Sie haben sie doch nicht allein gehen lassen, oder?«

Bateman räusperte sich. »Die Sache ist die, Sir. Miss Brierley und Miss McKinley waren damit beschäftigt, eine Leibesvisitation bei ein paar Nutten vorzunehmen, die wir im Bezirk aufgegriffen haben. Ich habe einen Mann mit der Gefangenen mitgeschickt, zumindest bis zur Tür...«

»Na großartig, Sergeant. Brillant. Und der hat sie durch die Tür beobachtet, wie? Er konnte sehen, was sie im Schilde führte?«

»Nein, Sir.«

»Natürlich nicht. Hat sie irgend etwas mitgenommen, als sie zur Toilette ging?«

Bateman schluckte schwer und drehte den Kopf zum Fenster. »Ihre Handtasche.«

»Sprechen Sie lauter. Ich verstehe kein Wort.«

»Ihre Handtasche, Sir.«

»Ich glaube das nicht.« Barnaby vergrub sein Gesicht in den Händen. »Erzählen Sie weiter.«

»Naja, ich füllte die Haftpapiere aus, dann führte ich sie in die Zelle. Vorher listeten wir noch auf, was sie bei sich hatte, und stellten ihr eine Quittung aus. Dann brachte ich ihr eine Tasse Tee. Bei meinem ersten Rundgang schlief sie tief und fest.«

»Und wann hat sie die Tabletten geschluckt?«

»Mit dem Tee, nehme ich an. Sie muß sie aus dem Röhrchen genommen haben, als sie in der Toilette war. Sie hatte eine Strickjacke mit Tasche an und ein Taschentuch bei sich. Als ich den Inhalt ihrer Handtasche überprüfte«, versuchte Bateman sich zu verteidigen, »fand ich ein Röhrchen mit Schlafmittel, es waren sechs Tabletten drin. Sie fragte mich sogar, ob sie eine nehmen darf. Sie war ganz schön raffiniert...«

»Sie war jedenfalls ein verdammtes Stück raffinierter als Sie, das ist mal sicher.«

»Wenn das Röhrchen ganz leer gewesen wäre, hätte ich Verdacht geschöpft.«

»Die Tatsache, daß sie überhaupt so etwas in ihrer Handtasche hatte, hätte Ihren Argwohn wecken müssen, Mann. Oder glauben Sie, die Leute schleppen Schlaftabletten einfach so mit sich herum, als würde es zum täglichen Leben gehören?«

»Nein, Sir.«

»Wann haben Sie gemerkt, daß sie tot ist?«

»Bei meinem dritten Rundgang, Sir. Kurz vor fünf. Mir fiel auf, daß sie nicht mehr atmete. Ich habe sofort den Polizeiarzt gerufen, aber es war zu spät.«

»Wenn sie nicht mehr atmete, war es, verdammt noch mal, natürlich zu spät.«

Der Sergeant murmelte jämmerlich: »Ja, Sir.«

»Sie sind bei der Polizei ebenso gut zu gebrauchen wie ein Suspensorium im Nonnenkloster, Bateman.« Schweigen. »Dafür werden Sie degradiert.« Pause. »Und das ist erst der Anfang.«

»Wenn ich...«

»Sie sind vom Dienst suspendiert. Sie werden benachrichtigt, wann Sie zur Anhörung erscheinen sollen. Bis dahin möchte ich Ihr Gesicht hier nicht sehen. Und jetzt verschwinden Sie.«

Kaum hatte sich die Tür hinter dem armen Tropf geschlossen, stürmte ein junger Constable herein. »Es geht um den Häftling in Zelle drei, Sir. Er möchte eine Aussage wegen gestern nachmittag machen.«

»Ich nehme an, Sie sind lange genug bei der Polizei, um das allein und ohne großen Wirbel zu erledigen.«

»Tut mir leid, aber er will nur mit Ihnen reden.«

Der Häftling in Zelle drei beendete gerade sein Frühstück und wischte seinen Teller mit einem Stück Brot ab. »Einen Stern für den Komfort in diesem Haus, Inspector, aber die Küche hat eindeutig zwei Sterne verdient. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich ein besseres pochiertes Ei gegessen habe.«

»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und beeilen Sie sich damit.«

»Ich würde jetzt gern heimgehen.«

»Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Lacey!« Barnaby ging auf die Pritsche zu und beugte sich so weit zu dem Mann, daß ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Ich habe die Nase voll von Ihnen.« Er sprach langsam und ruhig, aber der Zorn, der von ihm ausging, war beinahe mit Händen greifbar. Lacey wurde blaß und wich ein Stück zurück. Die transplantierte Haut blieb unverändert und sah aus wie ein rosafarbener Seidenstreifen. »Und ich warne Sie«, fügte Barnaby hinzu, »wenn Sie mich gestern angelogen haben, sind Sie in ernsten Schwierigkeiten.«

»Ich habe nicht gelogen... das heißt theoretisch.« Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus - ihm saß eindeutig der Schreck in den Gliedern. »Ich sagte, daß ich am Nachmittag bei der Arbeit war, und das stimmt auch. Ich habe erste Skizzen für ein Ölgemälde gemacht, das ich von Judy Lessiter malen möchte. Ich hatte es mir schon vor einiger Zeit vorgenommen, und gestern mittag rief Judy an, um mich daran zu erinnern. Wir arbeiteten im Garten der Lessiters.«

Barnaby holte ein paarmal tief Luft - er hatte Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. »Arbeiten Sie nicht gewöhnlich zu Hause?«

»Skizzen kann man überall machen, und außerdem hat sie mich zum Mittagessen eingeladen. Eine anständige Mahlzeit schlage ich nie aus.«

»Wann kamen Sie bei ihr an?«

»Etwa um eins. Kurz nach zwei fingen wir mit der Arbeit an. Ich zeichnete bis vier, dann tranken wir Tee, aßen Kuchen und so, und anschließend arbeitete ich noch ein bißchen weiter. So um fünf bin ich gegangen.«

»Und warum«, erkundigte sich Barnaby gepreßt, »haben Sie mir das gestern nicht erzählt?«

»Na ja... ich weiß es ehrlich nicht.« Michael Lacey schluckte nervös. »Ich vermute, ich war wie vor den Kopf geschlagen, als Sie das Messer fanden ... ich geriet in Panik, und ehe ich begriff, wie mir geschah, verfrachteten Sie mich in Ihr Auto, und plötzlich saß ich hier in dieser kleinen grauen Zelle.« Er versuchte ein Grinsen. Der Chief Inspector sagte kein Wort. »Und je länger ich es aufschob, um so schwerer fiel es mir, mit der Sprache herauszurücken. Ich hielt es für besser, bis zum Morgen damit zu warten und erst einmal zu schlafen.« Ein langes Schweigen entstand. Schließlich erhob sich Lacey von der Pritsche und fragte unsicher: »Kann ich jetzt gehen?«

»Nein, Lacey, Sie können nicht >jetzt gehen<.« Barnaby trat ein paar Schritte zurück. »Eines will ich Ihnen noch sagen: Sie haben verdammtes Glück, ich hoffe, das ist Ihnen klar. Ich kenne Männer, die Ihren Kopf schon längst ein halbes dutzendmal an diese Gitterstäbe geschlagen hätten, wenn Sie sie so an der Nase herumgeführt hätten wie mich gerade.« Er knallte die Tür zu, verschloß sie von außen und warf den Schlüssel in das dafür vorgesehene Fach.

Als er die Treppe hinauf zu seinem Büro zurückging, wurde ihm bewußt, mit welcher Heftigkeit er immer wieder seine Hände zu Fäusten ballte. Er stellte sich ans Fenster und bemühte sich um Fassung. Sein Gehirn war in Aufruhr, seine Haut brannte, ein stählernes Band schien sich um seine Stirn zu schließen, und sein Magen bockte wie ein wild gewordener Mustang. Ihm war schlecht vor Wut und Frustration. Aber wirklich enttäuscht war er nicht. Ihm war schon von dem Moment an, in dem Lacey das blutverkrustete Messer fassungslos angestarrt hatte, bewußt gewesen, daß das alles zu einfach, zu simpel war. Auf frischer Tat ertappt. Kein Problem. Ein sonnenklarer Fall.

Er setzte sich auf seinen Schreibtischsessel und schloß die Augen. Allmählich beruhigten sich sein Herzschlag und sein Puls. Er atmete langsam und gleichmäßig. Fünf lange Minuten verstrichen, und er zwang sich, weitere fünf Minuten sitzen zu bleiben. Dann fühlte er sich wieder normal, und mit der Normalität kam überraschenderweise auch der Hunger. Er sah auf die Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er seine Arterien mit einer Ladung Cholesterin und ein paar Spiegeleiern aus der Kantine traktieren und trotzdem Judy Lessiter erwischen, bevor sie zur Arbeit fuhr.

10

Die Lessiters saßen beim Frühstück. Trevor, der nicht nur schlecht gelaunt war, sondern auch von Schmerzen in der Leistengegend geplagt wurde, schlug grimmig auf sein weichgekochtes Ei ein. Es rächte sich, indem es das Dotter auf seine Krawatte spritzte. Judy lachte. Trevor rieb mit der Serviette über die Krawatte und funkelte seine Frau wütend an, die seelenruhig und mit träger Gleichgültigkeit eine Seite des Daily Telegraph umblätterte.

Sie machte wieder ihre Mätzchen. Letzte Nacht war ihre Tür verschlossen gewesen, und als er angeklopft hatte - ganz leise, damit Judy nichts hörte -, hatte Barbara durch die Tür gezischt: »Verschwinde, du geiler, alter Bock. Kannst du denn an gar nichts anderes mehr denken?« Er war zwei Stunden in seinem Zimmer umhergelaufen, hin-und hergerissen zwischen Lust und Wut, und hatte Judys Anwesenheit im Haus verflucht. Er hatte sogar daran gedacht, die Leiter aus der Garage zu holen, zum Fenster seiner Frau hinaufzuklettern und in ihr Zimmer einzubrechen. Guter Gott - Judy hätte es mitbekommen, wenn er sich dazu hätte hinreißen lassen. Tränen des Selbstmitleids sprangen ihm in die Augen. Er erinnerte sich daran, daß er erst vor achtundvierzig Stunden in ihren Armen gelegen hatte. Die Nacht war beinahe so aufregend gewesen wie die vor ihrer Hochzeit. Erst jetzt wurde er sich bewußt, was für ein Narr er gewesen war. Sie hatte den Sex immer nur benutzt, um ihn am Gängelband zu führen wie einen armseligen Ochsen, dem man einen Ring durch die Nase gezogen hatte. Aber es gehörten zwei zu diesem Spiel. Sie würde schon sehen, was passierte, wenn sie das nächste Mal Geld für Kleider verlangte. Oder für die Verlängerung des Abonnements im Fitneßclub. Da konnte sie zetern und jammern, soviel sie wollte.

Judy Lessiter rührte in ihrem Kaffee und sah verträumt aus dem Fenster. Sie trug das Kleid, das sie am Abend zuvor in High Wycombe gekauft hatte. Es hatte ein grauweißes Rautenmuster und einen weißen Rüschenkragen. »Die Rüschen umrahmen Ihr Gesicht wie ein Bild«, hatte die Verkäuferin gesagt. Judys unförmige Beine steckten in blaßgrauen Strumpfhosen. Sie hatte sich ein Fläschchen Rive Gauche und Lidschatten geleistet und heute beides großzügig, aber ziemlich ungeschickt aufgetragen. Die ganze Nacht hatte sie die Ereignisse des letzten Nachmittags wieder und wieder durchlebt, und auch jetzt ließ sie alles noch einmal Revue passieren.

Mittags hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wie sie sich die endlos lange, einsame Zeit bis zum Abend vertreiben sollte, aber dann, so etwa um ein Uhr hatte sie, gestärkt durch einen kleinen Sherry, allen Mut zusammengenommen und Michael Lacey angerufen, um ihn daran zu erinnern, daß sie schon über eine Woche nichts voneinander gehört hatten und daß er doch ein Bild von ihr malen wollte. Was hatte sie schon zu verlieren? Zu ihrer Überraschung und Freude erklärte er sich auf Anhieb bereit, zu ihr zu kommen. Er sagte sogar: »Ich wollte mich gerade bei dir melden.«

Sie nahm eine Quiche aus dem Gefrierfach, steckte sie in die Mikrowelle, badete hurtig und probierte in aller Hast drei verschiedene Kleider an. Sie experimentierte sogar mit Barbaras Make-up. Eine halbe Stunde später stand Michael mit einem Skizzenblock vor ihr und forderte sie prompt auf, sich das Gesicht zu waschen.

Sie brachte die Quiche in den Garten, und er zeichnete sie zwei Stunden lang mit raschen, entschlossenen Bleistiftstrichen. Er war ganz auf seine Arbeit konzentriert, und sie bemühte sich, still zu sitzen und ihn nicht die ganze Zeit anzusehen. Er riß viele Skizzen von dem Block ab und warf sie weg. Nicht wütend - er ließ die Blätter einfach auf den Boden fallen wie ein Baum sein Laub. Um vier Uhr häufte sich Papier um seine Füße, und er steckte ein halbes Dutzend Zeichnungen in seine Mappe. Judy kochte Tee, und sie setzten sich auf die Holzbank, die die Zeder umgab, tranken Tee und aßen Ingwerkuchen.

»Kann ich eine von diesen haben?« fragte sie und hob ein paar ausgemusterte Skizzen auf.

»Nein.«

»Oh, aber Michael«, sie betrachtete eine Zeichnung, »sie ist wunderschön.«

»Sie ist grauenvoll. Alle sind schrecklich. Versprich mir, daß du sie verbrennst oder in den Papierkorb wirfst.«

Sie nickte betrübt und schenkte ihm Tee nach. Er schlug seine Mappe auf und reichte ihr nach einer Weile eine der gelungenen Skizzen. »Die hier kannst du behalten.«

Es war alles da. Der traurige Zug um den Mund, die schönen Augen, die plumpen Finger, die die Teekanne hielten, die kräftige und doch nachgiebige Nackenlinie. Er hatte die Zeichnung mit M. L. signiert. Sie war naturgetreu und unbarmherzig. Sie fühlte, wie ihre Augen brannten und ihre Kehle eng wurde, wußte aber, daß ihn nichts mehr gegen sie aufbringen würde als Tränen. Sie blinzelte ein paarmal.

»Hey, Judy ...«, sang er leise, »don’t be afraid...« Er stellte seine Tasse ins Gras und berührte ihren Arm. »Du solltest von hier wegziehen. Weg von diesem jämmerlichen Paar.«

Sie verschluckte sich fast an ihrem Tee. »Das ist leichter gesagt als getan.«

»Ach, ich weiß nicht. Wenn ich durch Europa reise, werde ich jemanden brauchen, der mir die lästigen Dinge abnimmt und Modell sitzt. Vielleicht nehme ich dich mit.« Und dann küßte er sie. Auf den Mund.

Jetzt schloß Judy die Augen wieder wie gestern bei diesem Kuß. Sie roch die Zedernnadeln und den süßen Ingwer, sie spürte dieselben feuchten Kuchenkrümel an ihren Fingerspitzen und hörte die Amsel singen. Der Kuß hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Und hundert Jahre. An diesen Augenblick werde ich mich ein Leben lang erinnern, schoß es ihr durch den Kopf, aber noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, war alles vorbei.

»Ich habe dich gefragt, ob du noch Kaffee willst.«

Judy sah ihre Stiefmutter ausdruckslos an. »Nein, danke.«

»Trevor?«

Keine Antwort. Barbara bediente sich selbst, blätterte die letzte Ausgabe von Country Life durch und warf sie angewidert beiseite. Noch mehr von diesem Schwachsinn, und sie lief in wollenen Strumpfhosen und Schnürschuhen durch die Gegend. Kein Mensch las diese Zeitschrift. Sie wanderte sofort ins Wartezimmer. Barbara beschloß, das Abonnement zu kündigen und dafür eine >pikante< Zeitung zu bestellen. Das würde den Blutdruck der alten Knacker in der Praxis ein bißchen in die Höhe treiben. Sie knabberte an ihrem gebutterten Toast und warf einen verstohlenen Blick auf die Krawatte ihres Mannes. Was für ein Morgen! Erst die Attacke auf das unschuldige Ei und dann auch noch Judy, die aussah, als wäre sie einem Reklameposter von McDonald’s entsprungen. Sie sah auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr - sie mußte nur noch sechs Stunden bis zum nächsten Schäferstündchen warten. Es klingelte.

»Wer, zum Teufel, kommt jetzt, am frühen Morgen?«

»Ich mache auf.« Barbara schlenderte hinaus und kam in Chief Inspector Barnabys Begleitung zurück.

»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« fragte der Doktor aufgebracht.

»Miss Lessiter?«

»Ja?« Judy stand unbeholfen auf wie ein Schulmädchen.

»Was ist?«

»Ich hätte nur ein paar Fragen an Sie den gestrigen Nachmittag betreffend, wenn Sie gestatten. Wo Sie waren, was ...«

»Es war bereits gestern jemand hier, der nach alldem gefragt hat«, schnaubte Lessiter.

»Ist schon gut«, sagte Judy. »Es macht mir nichts aus, alles noch einmal zu erzählen. Ich war den ganzen Nachmittag hier. Ich hatte frei. Und mein Freund Michael... Michael Lacey war auch hier. Er hat ein paar Skizzen für das Bild gemacht, das er von mir malen will.«

»Können Sie mir sagen, wann die Verabredung getroffen wurde?«

»Ich rief ihn an ...« Barbara Lessiter verdeckte unzulänglich ihr Lächeln mit der Hand. »Und er sagte sofort: >Gerade wollte ich mich bei dir melden.<« Sie warf den beiden Menschen am Eßtisch einen trotzigen Blick zu, der ihre Verletzlichkeit noch offener zutage treten ließ. »Warum ist das so wichtig?«

»Jemand hat ausgesagt, daß Mr. Lacey dabei beobachtet wurde, wie er um vier Uhr nachmittags Mrs. Rainbirds Haus betrat.«

»Nein!« rief Judy erschrocken. »Das ist nicht wahr. Es kann nicht sein. Er war hier mit mir zusammen. Wieso lassen ihn die Leute nicht in Ruhe? Immerzu versuchen sie, ihm Schwierigkeiten zu machen.«

Diesmal machte sich Barbara nicht mehr die Mühe, ihr spöttisches Grinsen zu verbergen. Judy wirbelte herum und deutete auf ihre Stiefmutter. »Sie sollten sich lieber mal mit der da unterhalten. Warum stellen Sie ihr nicht ein paar Fragen?«

»Mir?« Belustigt und erstaunt.

»Fragen Sie sie, wo ihr Pelzmantel ist. Und wozu sie fünftausend Pfund braucht. Fragen Sie sie, weswegen sie erpreßt wird.«

Barbara sprang mit einem wütenden Schrei auf und schüttete Judy ihren Kaffee ins Gesicht. Judy kreischte: »Mein Kleid! Mein neues Kleid!« Doktor Lessiter packte seine Frau und hielt ihre Arme fest. Judy stürzte aus dem Zimmer, und ihr Vater schleuderte Barbara von sich und lief ihr nach. Mrs. Lessiter sank auf den nächsten Stuhl. Eine Weile sagte niemand etwas.

»Also, Mrs. Lessiter?« meldete sich Barnaby schließlich zu Wort. »Weshalb werden Sie erpreßt?«

»Das ist kompletter Unsinn. Ich weiß gar nicht, wie diese dumme Kuh auf so eine absurde Idee kommt.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß wir eine Menge Unterlagen aus Mrs. Rainbirds Haus sichergestellt haben -Briefkopien und andere Dokumente.« Diesmal dehnte sich das Schweigen noch länger aus. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit aufs Revier nehme?«

»Lieber Himmel, nein! Warten Sie ...« Sie ging zur Kommode, nahm sich mit zitternden Händen eine Zigarette und zündete sie an. »Vor etwa einer Woche bekam ich einen Brief von ihr.«

»Einen mit ihrem Namen unterschriebenen Brief?«

»Ja. >Ihre Freundin Iris Rainbird.< Auf ihrem scheußlichen lila Briefpapier, das nach verwelkten Blumen stinkt. Sie schrieb nur, daß sie wüßte, was vor sich ginge, und wenn ich nicht wolle, daß mein Mann all die schlüpfrigen Details erfährt, müßte ich fünftausend Pfund bezahlen. Sie gab mir eine Woche Zeit, das Geld aufzutreiben, und wollte dann wieder mit mir in Kontakt treten.«

»Und warum das alles?«

»Ich habe eine Affäre mit David Whiteley.«

»Ich verstehe.« Barnabys Gedanken arbeiteten fieberhaft. Sie könnte die Frau im Wald gewesen sein (kein bestätigtes Alibi) und David Whiteley der Mann (ebenfalls kein Alibi). In dem Zeitraum, in dem Miss Simpson umgebracht worden war, hatte sie eine Spazierfahrt gemacht. Und sie hätte sich, gerade noch, durch das Fenster in der Speisekammer zwängen können. Er zögerte und überlegte, wie er die nächste, besonders delikate Frage in Worte kleiden sollte, aber sie nahm ihm die Mühe ab, indem sie erklärte: »Wir haben seinen Wagen benützt. Er hat Liegesitze. Er sagte mir, wo er arbeitete. Ich fuhr hin, versteckte mein Auto hinter einer Hecke oder unter Bäumen, und wir kletterten für eine halbe Stunde in seinen Citroën.«

Eins zu null für Sergeant Troy, dachte Barnaby. »Und Sie denken, daß Iris oder Dennis Rainbird Sie bei einer solchen Gelegenheit gesehen hat?«

»O nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aber einmal... wir hatten uns für drei verabredet, aber Henry hielt ihn den ganzen Nachmittag im Büro auf. Als es fünf Uhr wurde und ich sicher sein konnte, ihn zu Hause anzutreffen, fuhr ich hin.« Barnaby fiel der Eintrag im Notizbuch wieder ein: Mrs. L. fährt mit ihrem Wagen in die Garage von W. Und der rote Stern.

»Wir waren eigentlich übereingekommen, uns niemals bei ihm zu treffen, weil es zu riskant war, aber ich konnte nicht warten, verstehen Sie. Ich mußte ihn haben.« Sie sah Barnaby herausfordernd an. »Ich nehme an, das schockiert Sie.« Barnaby gelang es, eine vorwurfsvolle Miene aufzusetzen. »Und er war genauso schlimm wie ich. Er ließ mich nicht einmal aus dem Auto aussteigen. Danach gingen wir hinauf und fingen noch mal von vorn an.«

An dieser Schilderung war nichts Liebevolles. Sie benutzte nicht einmal den tröstlichen Euphemismus »Liebe machen«. Liebe, so wie Barnaby sie verstand, spielte in diesem Arrangement wahrscheinlich nicht einmal eine Rolle. Er fragte noch, ob sie sich am gestrigen Nachmittag gesehen hatten.

»Ja. Wir trafen uns um halb vier. Er brachte den Mähdrescher weg, deshalb stand uns der Citroën nicht zur Verfügung. Wir mußten uns mit dem Vordersitz meines Honda begnügen. Wir waren ungefähr eine Stunde zusammen, denke ich.«

»Vielen Dank, Mrs. Lessiter, Sie waren sehr kooperativ.« Barnaby drehte sich zur Tür. »Möglicherweise muß ich noch einmal mit Ihnen sprechen.«

»Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Sie drehte sich auch um, blieb abrupt stehen und starrte über Barnabys Schulter. Ihr Mann stand auf der Schwelle. Barnaby sah ihm ins Gesicht, als er vorbeiging. Zorn und Triumph schienen in seinem Inneren um die Vorherrschaft zu kämpfen.

Als die Haustür hinter dem Chief Inspector ins Schloß fiel, sagte Trevor Lessiter: »An deiner Stelle wäre ich mir nicht so sicher, ob du nach wie vor hier zu finden bist.«

»Wieviel hast du gehört?«

»Mehr als genug.« Zorn und Triumph machten einer tiefen Befriedigung Platz. Er musterte sie eingehend und unterzog sie einer genauen Prüfung. In letzter Zeit kam sie jeden Morgen ohne das, was sie Kriegsbemalung nannte, zum Frühstück. In den ersten Monaten ihrer Ehe hätte sie das niemals getan. Jetzt zeigte sich ihr wirkliches Alter. Einen solchen Gimpel wie ihn würde sie nicht so schnell wieder finden. Aber vielleicht brauchte sie das auch gar nicht. Wenn sie richtig spurte. Tat, was man ihr sagte. Sie hatte zuviel Zeit für sich, das war das Problem. Zuviel Zeit und zuviel Geld. Zuallererst würde er ihr das Taschengeld streichen. Außerdem mußte sie in Zukunft ohne Auto und ohne Mrs. Holland auskommen. Ein Haus dieser Größe sauber und in Ordnung zu halten, für drei Personen zu kochen und die normalen Pflichten einer Arztfrau sollten sie einigermaßen auf Trab halten. Und er würde sicherstellen, daß sie ihn nicht mehr so kurz hielt. Jede Nacht einmal, und wenn ihm danach zumute war, auch öfter. Außerdem gab es da noch ein paar interessante Variationen, die er im Casa Nova kennengelernt hatte. Sie konnte das alles lernen, damit er nichts entbehren mußte. Natürlich würde er weiterhin in den Club gehen - schließlich konnte er die kleine Krystal nicht enttäuschen - aber natürlich nicht mehr so oft. Er dachte an das viele Geld, das er in den letzten Jahren dort ausgegeben hatte, während seine Frau ... Er erinnerte sich an seinen Blutdruck und versuchte, ruhig zu bleiben. Ja, das Miststück hatte eine Menge gutzumachen (die ewig verschlossene Tür, die häufigen Kopfschmerzen, die bissigen Bemerkungen), aber sie würde Wiedergutmachung leisten, oder sie mußte gehen. Er sah das geschmacklose, schäbige Loch wieder vor sich, in dem sie vor ihrer Hochzeit gehaust hatte. Das hätte ihm von Anfang an zu denken geben müssen. Sie würde alles tun, um nie wieder so tief zu sinken. Sie würde in Zukunft nach seiner Pfeife tanzen. Er malte sich voller Freude seine rosige Zukunft aus und erklärte seiner Frau die neue Situation.

Barbara hörte zu, während er eine Bedingung nach der anderen aufzählte. Hin und wieder wippte er auf den Fußballen und kratzte sich mit gespreizten Fingern den Schmerbauch. Er erwartete, daß sie in Zukunft dies und das tat. Sie würde der unförmigen, froschäugigen Göre Judy eine liebende Mutter sein und die Klagen seiner von Bazillen verseuchten Patienten geduldig anhören und sich liebevoll um sie kümmern. Selbst viergängige, selbst zubereitete Menüs kamen zur Sprache.

Sie dachte an das Erpressungsgeld, das sie oben in ihrer Handtasche hatte. Viertausend Pfund. Und sie hatte noch ihre Uhr, die sie verkaufen konnte. Sie könnte genug zusammenkratzen, um ein Haus anzuzahlen. Aber was für ein Haus wäre das? Ein winziges, heruntergekommenes Ding wie das, in dem ihre Eltern nach wie vor wohnten, falls sie überhaupt noch am Leben waren. Das wäre ein bißchen viel verlangt, nur um sich an jemandem zu rächen. Und womit sollte sie die Hypothek bezahlen? Was für einen Job würde sie in ihrem Alter schon bekommen? Natürlich konnte man Zimmer vermieten, wenn man ein eigenes Haus hatte. Mit freiwilligen Extraleistungen, falls es gewünscht wurde. Aber wenn sie sich schon den Rest ihres Lebens mit einem widerlichen Kerl im Bett herumwälzen mußte, warum dann nicht hier im Luxus? Sie konnte immer die Augen zumachen und von Capri träumen. Oder von Ibiza. Oder von der Cote d’Azur.

Sie schaute aus dem Fenster auf das grüne Gras, auf dem die Tropfen der Sprinkleranlage glitzerten. Auf die blühenden Bäume und die Terrasse mit den Sonnenschirmen, den Tischen und Blumenschalen. Dann ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen. Dicke chinesische Teppiche, bequeme Sofas, Onyx-Tische. Und dafür brauchte sie nichts weiter zu tun, als jemandem etwas vorzumachen. Das war zu schaffen. Schließlich hatte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.

Sie sah ihn an. Er war wirklich in Fahrt. Angriffslustig blitzende Augen, ein paar Schaumbläschen auf den Lippen und ein boshaftes Grinsen. Sie würde ohne eigenen Wagen zurechtkommen müssen. Drei Autos in einem Haushalt waren lächerlich. Eine Kündigung für Mrs. Holland und die drastische Verkürzung der Stunden für den Gärtner, das waren die ersten Maßnahmen, die in diesem Haus ergriffen würden. Es konnte Barbara nicht schaden, wenn sie erfuhr, wie es war, jeden Tag hart arbeiten zu müssen. Und auch nachts ihre Pflicht zu tun. Die Zeit des Schmarotzens war vorbei. Ah - das hatte ins Schwarze getroffen. Zumindest hatte sie jetzt begriffen, wer in diesem Haus die Hosen anhatte. Sie kam mit einem liebevollen Lächeln auf ihn zu, streckte die Hand aus und legte sie sanft auf seinen Arm. »Verpiß dich, Pookie«, sagte sie.

11

Barnaby saß am Ende der Church Lane in seinem Wagen. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und die Sonne wärmte sein Gesicht. Er dachte nach.

Laceys Alibi war, wie er es erwartet hatte, bestätigt worden. Der Mann hatte Iris Rainbird nicht ermordet. Trotzdem hatte er versucht abzuhauen. Warum? War er wirklich in Panik geraten? Hatte er Angst vor einer Intrige gehabt? Davor, daß ihm ein Unbekannter das Verbrechen in die Schuhe schieben wollte? Eine plausible Theorie. Barnaby hatte schon erlebt, daß mutigere Männer wegen weniger durchdrehten. Lacey war losgerannt wie ein geölter Blitz, dennoch hatte Troy, der sich erst vom Boden aufrappeln mußte, ehe er die Verfolgung aufnehmen konnte, den Mann nur wenige Meter vom Haus entfernt erwischt.

Barnaby sah die Szene wieder vor sich - Laceys Gesicht. Erst Verwunderung. Dann Panik. Und noch etwas. Sie hatten sich angesehen, kurz bevor Lacey auf dem Autorücksitz gelandet war, und Barnaby hatte etwas in seinen Augen gesehen. Was? Barnaby geriet ins Schwitzen, als er sich verzweifelt an diese wenigen flüchtigen Sekunden zu erinnern versuchte.

Plötzlich wußte er es. Erleichterung - Lacey hatte befreit aufgeatmet. Nach dieser Erkenntnis ließ Barnaby die Ereignisse im Holly Cottage noch einmal Revue passieren. Lacey rannte, wurde gefaßt - und zwar früher, als es nötig gewesen wäre - und war erleichtert. Und wann genau war er losgelaufen? Nicht, wie man meinen könnte, als das Messer entdeckt wurde. Minuten später - in dem Augenblick, in dem Barnaby wieder ins Atelier gehen wollte. Das mußte es sein. Sie hatten etwas im Holly Cottage gefunden. Aber sie hatten nicht das gefunden, was Lacey unbedingt vor ihnen geheimhalten wollte.

Barnaby stieg aus und überquerte die Straße. Sein Mund war trocken, und sein Herz klopfte wild. Er stellte sich das Atelier vor. Ordentlich aufgeräumt. Professionell. Tischblöcke mit Holzplatten. Pinsel und Farben. Nichts Auffallendes, aber als er über den Feldweg lief, gewann er mehr und mehr die Überzeugung, daß ihn seine Ahnung nicht trog.

Das Holly Cottage wirkte kälter und unwirtlicher denn je. Barnaby öffnete die Haustür und rief: »Miss Lacey!« Er hielt es für unwahrscheinlich, daß sie hier übernachtet hatte, aber falls doch, wollte er sie nicht erschrecken. Niemand antwortete. Er trat über die Schwelle ins Atelier.

Alles sah genauso aus wie gestern. Er hob die Gläser, Tuben und Tiegel hoch, öffnete sie und roch daran. Sie schienen nichts Ungewöhnliches zu enthalten. Die Pinsel waren nur Pinsel. In dem Eckschrank stapelten sich Bücher und Kataloge. Er schüttelte alle aus. Kein belastender Brief fiel auf den Boden. Da waren ein Fläschchen mit reinem Alkohol, ein paar farbverschmierte Lumpen, einige saubere, zusammengefaltete Tücher. Auf dem Fensterbrett stand nichts. Barnaby sah sich die Bilder genauer an.

Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte. Iris Rainbird hatte Laceys Bilder häßliche, grelle, gewaltsame Machwerke genannt. Barnaby war sich im klaren, daß diese Bemerkung eine gemeine Hoffnung in ihm geweckt hatte, Lacey sei ein talentloser Maler. Diese Hoffnung wurde jetzt zerstört.

Das erste Bild, das er in die Hand nahm, war das Porträt von Dennis Rainbird, und es war umwerfend. Die Farbe schimmerte, als wäre sie ganz frisch. Die Mischung aus Grau und Ockergelb erinnerte Barnaby an klebrigen, feuchten Lehm. Aus der Nähe besehen wirkte das Gemälde unfertig, fast roh, aber wenn man sich ein paar Schritte entfernte, erwachten die Feinheiten plötzlich zum Leben. Dennis trug ein Hemd mit offenem Kragen, dessen Umrisse genau wie die seiner Hände mit dem dunklen Hintergrund zu verschmelzen schienen. Die zarten, vogelgleichen Knochen unterhalb des Halses schimmerten durch die dünne Haut. Die Flächen des Gesichts waren mit dicken gelben Strichen gemalt, die auf wundersame Weise die Illusion von lebendigem Gewebe mit allen Unebenheiten hervorriefen. Der Mund war straff und der Blick nach innen gerichtet und spiegelte die geheimen Gedanken wider. Der Maler hatte viel mehr auf die Leinwand gebracht als Dennis Rainbirds äußere Erscheinung. Er hatte seine Herzensgeheimnisse offenbart. Kein Wunder, daß seine Mutter das Bild verabscheut hatte.

Ein anderes Porträt. Eine alte Frau mit einem Veilchenstrauß. Ihre Augen lagen tief in dem verwitterten braunen Gesicht. Ihr Ausdruck zeigte die Würde des Alters, obwohl ihre Lippen ein unbeschwertes, jugendliches Lächeln umspielte. Dort, wo der Tau noch auf den Veilchenblüten saß, war ein Hauch von Silber zu sehen. Es gab etliche abstrakte Bilder und ein paar Landschaften. Barnaby empfand widerwillige Bewunderung für den Künstler. Jetzt kam es ihm keineswegs mehr eigenartig vor, daß sich Lacey keinen Deut um das schäbige Haus scherte, wenn er all die schönen Bilder im Kopf hatte.

Kornfelder mit Klatschmohn, ein Ufer, über und über mit Wildblumen bedeckt. Zwei dieser Bilder hätten in Miss Simpsons Garten entstanden sein können. Alle waren Meilen entfernt von dem dezenten Naturalismus, den Barnaby und seine Kunstfreunde mit ihren Aquarellen anstrebten. Hier wölbte sich ein metallisch leuchtender Himmel über beinahe farblosen Stränden, Gebäude flimmerten in der Hitze, Gärten quollen über mit üppigen Pflanzen und Blumen; alles in goldenes Licht getaucht. Barnaby lehnte die Bilder an die Wand, und die Sonne schien von den Leinwänden zu strömen und strahlende Muster auf den Holzboden zu malen. Die abstrakten Gemälde waren riesig und schlicht. Dicke weiße Farbschichten und in einer Ecke ein explodierender Stern. Galaktische Ringe von immer intensiver werdender Farbe verengten sich zu einer teerschwarzen Flamme. Barnaby fand auch eine Zeichenmappe - er öffnete sie und zog ein paar Blätter heraus. Skizzen von Judy Lessiter, hastig hingeworfen, aber voller Leben. Dieser Anblick riß Barnaby in die Wirklichkeit zurück.

Er sah sich die Gemälde noch einmal an. Sie schienen keine Geheimnisse zu enthüllen. Nichts deutete darauf hin, daß sie unter Verschluß gehalten werden müßten. Als er zurücktrat, stieß er an die Staffelei. Sie kippte zur Seite, und das Tuch rutschte herunter. Barnaby stellte die Staffelei wieder auf und hängte das Tuch darüber. Plötzlich fiel ihm auf, daß das Bild auf der Staffelei eine andere Form hatte. Er war sicher, daß gestern eine größere Leinwand hier gestanden hatte. Das hieß, daß inzwischen jemand hier gewesen sein mußte und das Bild weggeschafft hatte.

»Bringen Sie Lacey zu mir.«

»Jawoll, Sir«, rief Troy zackig, trabte zur Tür und polterte die Treppe hinunter. »Mitkommen.« Er schloß die Zellentür auf und wies mit dem Daumen in Laceys Richtung. »Bewegen Sie Ihren Hintern. Der Chief Inspector will mit Ihnen reden.« Er sah, daß der Gefangene seine Jacke aufhob. »Und das da brauchen Sie nicht«, setzte er hinzu, »Sie gehen nicht aus.«

Michael Lacey achtete nicht auf den Sergeant, drängte sich an ihm vorbei und lief eilends die Treppe hinauf. Troy holte ihn ein und bemühte sich ärgerlich, wieder Herr der Lage zu werden. Die Polizistin Brierley hatte ihn über den dramatischen nächtlichen Zwischenfall in Kenntnis gesetzt, aber er wußte nichts von Laceys Alibi und war felsenfest davon überzeugt, einen Mörder vor sich zu haben. »Seien Sie bloß vorsichtig, ja?«

Der Häftling setzte sich vor Barnabys Schreibtisch, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und sah sich interessiert um - die Telefonanlage, die Karteikarten und die Fernsehmonitore.

»Also hier spielt sich alles ab. Sehr eindrucksvoll.« Er bedachte Barnaby mit einem selbstbewußten, boshaften Lächeln. »Heute nacht in meinem Bett werde ich sicher besser schlafen als hier. Ich vermute doch, ich kann wieder in meinem eigenen Bett schlafen, oder?«

»Ihr Alibi für die Tatzeit ist zweifelsfrei bestätigt worden, Mr. Lacey.«

Der junge Mann erhob sich. »Also kann ich gehen?«

»Nur noch einen Moment.« Er nahm wieder Platz. »Ich war heute morgen noch einmal in Ihrem Cottage, um die Durchsuchung zu beenden.« Keine Reaktion. Keine Angst. Kein Erschrecken. Nicht einmal Unsicherheit. Der Junge hat seine Haut gerettet, dachte Barnaby. »Ich glaube, daß bei Ihrer Verhaftung eine andere Leinwand auf der Staffelei in Ihrem Atelier stand als heute - es war von einem Tuch verdeckt.«

»Das bezweifle ich. Ich wollte gerade mit einem Porträt von Judy Lessiter anfangen, wie Sie wissen. Ich arbeite nie an zwei Dingen gleichzeitig.«

»Trotzdem hatte ich diesen Eindruck.«

»Dann täuscht dieser Eindruck eben, Chief Inspector. Hat es Ihnen Spaß gemacht, sich bei mir umzusehen? Was halten Sie von den Bildern?« Noch ehe Barnaby antworten konnte, fuhr er fort: »Ich werde es Ihnen sagen: Sie verstehen nichts von Kunst, Sie wissen nur, was Ihnen gefällt.«

Die überhebliche Annahme, daß er nichts anderes als ein plattfüßiger Bulle und spießiger Banause war, brachte Barnaby auf die Palme. »Im Gegenteil. Ich verstehe eine Menge von Kunst, und ich denke, Sie haben ein bemerkenswertes Talent.«

Er beobachtete Laceys Gesicht. All die Streitsucht und Hochnäsigkeit verschwand. Der junge Mann strahlte vor Freude. »Ja, ich hab’ Talent, nicht wahr?« Seine Stimme drückte keinerlei Arroganz aus, nur Stolz und ein wenig Unsicherheit.

»Sie haben eine brillante Technik. Waren Sie auf einer Kunstschule oder einem College?«

»Was?« Er lachte laut los. »Ein Semester... das war genug. Lauter hochgestochene Wichser. Es gibt nur eine Möglichkeit, etwas zu lernen - man muß die großen Meister studieren«, erklärte er ernst. »Ich werde in den Prado gehen. In die Uffizien. Nach Wien, Paris, Rom und New York fahren. Und lernen.« Es entstand eine lange Pause, dann sagte er: »Stimmt etwas nicht, Inspector? Sie sehen so ... so verstört aus.« Da Barnaby nichts erwiderte, stand er auf. »Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?«

»Was? Oh.« Barnaby erhob sich ebenfalls. »Ja, Sie können gehen.«

Michael Lacey schlenderte zur Tür. »Entschuldigen Sie, Sergeant Troy. Sie sollten den Mund lieber zumachen, sonst fangen Sie sich noch was Scheußliches ein.«

Troy klappte die Kiefer zusammen und starrte die Tür, die sich hinter Lacey geschlossen hatte, fassungslos an. »Warum, zum Teufel, lassen Sie ihn gehen, Sir?«

»Er war den ganzen Nachmittag mit dem Lessiter-Mädchen zusammen.«

»Aber... Mrs. Quine hat ihn gesehen!«

»Sie hat jemanden gesehen, da bin ich sicher. Jemanden, der einen Overall und eine Mütze trug wie Lacey. Die Frage ist nur«, murmelte Barnaby, »warum der Mörder nicht Nägel mit Köpfen gemacht und auch die Kleider im Holly Cottage versteckt hat, wenn er so darauf erpicht war, Lacey die Sache in die Schuhe zu schieben.« Troy begriff, daß sein Boß nur laut nachdachte, und hielt den Mund. »Sie können nicht weit sein. Der Mörder hatte nicht viel Zeit. Mit ein bißchen Glück finden wir die Sachen heute noch. Ich gehe ins Labor und sehe nach, ob es etwas Neues gibt. Ich bin in zehn Minuten zurück. Holen Sie inzwischen einen Wagen, ja? Und nehmen Sie einen Eimer und eine Schaufel mit.« Troy öffnete wieder den Mund. Barnaby drehte sich an der Tür noch einmal zu ihm um und setzte mit einem grimmigen Lächeln hinzu: »Wir fahren an den Strand.«

12

Troy fuhr über die A 21 (Hastings und Saint Leonards) nach Turnbridge Wells und setzte das Gespräch fort, das er bei den komplizierten Auf-und Zufahrten unterbrochen hatte, um keinen Wegweiser zu übersehen. Er und Barnaby hatten über die letzten Berichte aus dem Labor diskutiert.

»Aber diese ... Fasern, die Nylonspuren, die man unter ihren Fingernägeln gefunden hat, deuten die nicht darauf hin, daß sie das Gesicht des Mörders zerkratzt hat?«

»Nicht unbedingt. Wenn Sie sich eine Strumpfhose über den Kopf ziehen, bedeckt nur ein kleiner Teil davon Ihr Gesicht. Das heißt, ein gutes Stück von dem Ding hängt herunter. Vielleicht hat sie das erwischt.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen und stellte sich - nicht zum erstenmal - den schrecklichen Moment vor, in dem Mrs. Rainbirds Besucher aus dem Wohnzimmer verschwand, vielleicht unter dem Vorwand, zur Toilette zu gehen, um wenige Augenblicke später wiederzukommen und mit einem Messer auf sie einzuhacken. Die Tatsache, daß er mittlerweile wußte, wer diese Person war, machte die Szene noch grausiger. Troy kam auf die Funde in der Scheune hinter dem Bungalow zu sprechen.

»Das muß die Decke aus dem Wald gewesen sein, Sir ... die schwarz-grünen Fasern, die in dem Schuppen gefunden wurden.«

»Ziemlich sicher.«

»Ich nehme an, sie dachten, es wäre sicherer, sie im Wasser zu versenken, als sie zu verbrennen. Weniger verdächtig.«

»Vermutlich. Ich habe das Gefühl, sie ist im Weiher in der Nähe des Holly Cottage. Und vielleicht finden wir dort auch die Kleider.«

»Und einer der Rainbirds hat Wind davon bekommen, wem die Decke aus dem Wald gehört, und versucht, Druck auszuüben.«

»Das denke ich auch. Ein ziemlich gefährliches Unterfangen. Miss Simpsons rascher, effizienter Tod hätte sie warnen müssen. >Ein Mörder scheut vor einer zweiten Tat nicht zurück<, Troy.«

»Ist das wieder Jane Austen, Sir?« fragte der Sergeant, während er durch Lamberhurst brauste. »Es kann nicht mehr weit sein... Die Decke muß ziemlich schwer zum Tragen gewesen sein.«

»Ja. Wahrscheinlich hatten sie einen Plastiksack oder eine Mülltonne mit Rädern. Und die Kleider sind sicher auch in dem Sack oder der Tonne verschwunden.«

»Alles ein wenig riskant. Bei hellichtem Tag und so.«

»Ah - aber sie sind in Panik. Die Dinge stehen nicht günstig für sie, Troy. Ihre Zeit läuft ab ... und zwar schnell.« Aus den Augenwinkeln sah er, daß Troy den Kopf zu ihm drehte.

»Was? Wollen Sie damit sagen, daß Sie wissen, wer die Morde begangen hat?«

»O ja.«

»Beide Morde?«

»Alle drei.«

»Aber... das verstehe ich nicht.«

»Passen Sie auf den Verkehr auf, Mann.«

»’tschuldigung, Sir.« Troy konzentrierte sich auf die Straße, nach einer Weile fuhr er fort: »Phyllis Cadell hat Mrs. Trace umgebracht, das ist doch sicher, oder?«

»Ich denke nicht.«

»Aber sie hat doch gestanden! Lieber Himmel, sie hat sich das Leben deswegen genommen.«

Barnaby schwieg, bis sie Saint Leonards erreichten. Als sie sich dem Meer näherten, bat er seinen Sergeant anzuhalten und fragte einen alten Mann mit grauem Schnurrbart nach dem Weg nach De Montfort Close. Troy folgte den Anweisungen des Alten und blieb vor einem weißen Häuschen mit ordentlichem Vorgarten, der sich von denen der anderen Häuser in nichts unterschied, stehen. Barnaby stieg aus und winkte Troy zurück, der Anstalten machte, ihm zu folgen.

»Werden Sie mich nicht brauchen, Sir? Für das Aussageprotokoll?«

»Kaum. Ich verschaffe mir hier nur Hintergrundinformationen.«

Als er allein war, dachte Troy angestrengt über Barnabys rätselhafte Bemerkungen nach. Seiner Meinung nach machte das alles keinen Sinn. Nicht den geringsten. Lacey mußte es getan haben. Das Lessiter-Mädchen deckte ihn. Es war ja nicht zu übersehen, daß sie verrückt nach ihm war. Statt Lacey laufen zu lassen, hätte Barnaby die Kleine wegen Beihilfe einlochen sollen. Genau das hätte er, Troy, getan. Wer, zur Hölle, sollte sonst der Mörder sein? Dennis war in seinem Bestattungsinstitut, Lessiter war im Casa Nova zugange, Mrs. Lessiter und David Whiteley trieben es in dem Honda, Katherine war mit Henry zusammen. Und wenn ein und dieselbe Person beide Morde begangen hatte, dann kam Phyllis Cadell auch nicht in Frage - sie war sicher nicht die Frau aus dem Wald, deshalb hatte sie auch keinen Grund, Miss Simpson zum Schweigen zu bringen. Und zudem (in diesem Punkt gab Troy Barnaby recht) hatte sie glaubwürdig geklungen, als sie den Mord an Miss Simpson abgestritten hatte. Wenn man einen Mord gestand, hatte es wohl wenig Zweck, einen zweiten zu leugnen, oder?

Sie mußte diejenige gewesen sein, die Bella Trace erschossen hatte. Troy strengte sich an, um sich an die Einzelheiten des Zeitungsartikels zu erinnern. Sonst hätte niemand von der Jagdgesellschaft den Schuß abfeuern können, das war bei der Untersuchung eindeutig klargestellt worden. Katherine war im Haus und machte Sandwiches ... also war Phyllis Cadell die einzige ... Moment mal! Troys Gedanken schwirrten in alle Richtungen wie aufgescheuchte Ameisen. Von einer der verdächtigen Personen war nie die Rede gewesen. Wo war Barbara Lessiter, als Bella Trace ums Leben kam? Nicht bei der Jagdgesellschaft (das wäre ein umwerfender Anblick gewesen), aber sie hatte kein eindeutiges Alibi. Und sie hätte die Gelegenheit gehabt, Miss Simpson umzubringen. Und Mrs. Rainbird. Sie war mit ihren Zeitangaben, was ihre Schäferstündchen mit Whiteley betraf, nicht gerade präzise gewesen. Und die Geheimhaltung ihrer Affäre wäre in beiden Mordfällen ein starkes Motiv. Aber Bella Trace, um Himmels willen? Was konnte ihr Tod Barbara Lessiter nützen? Andererseits - warum sollte Phyllis Cadell eine Tat gestehen, die sie nicht begangen hatte? Das machte keinen Sinn.

Troy knirschte mit den Zähnen. Er hatte mit Barnaby die ganze Zeit an diesem Fall gearbeitet. Die Verhöre mitgeschrieben und die Berichte und Analysen aus dem Labor gelesen. Was Barnaby gesehen und erfahren hatte, wußte er auch. Und es machte ihn wütend zu hören, daß sein Boß die Lösung des Rätsels bereits parat hatte. Troy schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett und jaulte auf, weil er sich dabei weh getan hatte. Was hatte er übersehen? Betrachtete er die Dinge aus einem falschen Blickwinkel? Das könnte sein. Er sollte sich eine unorthodoxe Denkweise angewöhnen, eine neue Richtung einschlagen. Ein paar Atemübungen konnten nicht schaden. Er mußte sich beruhigen und noch einmal von vorn anfangen.

Barnaby stand auf der roten Vordertreppe und betätigte den Türklopfer. Eine alte Lady machte ihm auf. Sie sah ihn an und spähte über seine Schulter auf den Wagen. Sie machte einen kummervollen, müden Eindruck.

»Mrs. Sharpe?« fragte Barnaby.

»Kommen Sie herein«, sagte sie und wandte ihr Gesicht ab. »Ich habe Sie schon erwartet.«

Teil Vier

Aufklärung 

1

Während der Wagen durch die vornehmen Straßen von Sussex und über Land raste, durchdachte Barnaby nochmals den Fall, den er trotz der anderen Morde immer als Simpson-Fall in Erinnerung behalten sollte. Er war zu einer Lösung gelangt, die er für richtig hielt, und das Puzzle war bis auf ein kleines Teil komplett. Er rief sich die fragliche Szene noch einmal ins Gedächtnis. Er erinnerte sich so lebhaft, daß er fast Wort für Wort wiederholen konnte, was gesprochen worden war. Das Problem war nur, daß dieses kleine Teilchen seine Lösung vollkommen über den Haufen warf. Trotzdem konnte er dieses Detail nicht ignorieren oder so tun, als wäre es nicht vorhanden. Irgendwie mußte es in alles andere eingepaßt werden.

Troy entspannte sich ein wenig, als sie Turnbridge erreichten. Der Mann fährt wirklich gut, dachte Barnaby. Trotz all der Rügen, die er seinem Sergeant wegen seines übertrieben rasanten Fahrstils erteilte, wußte er sein Geschick und Fahrgefühl zu schätzen. Barnaby beobachtete ihn und registrierte, wie oft er die Straße hinter sich im Rückspiegel überprüfte - sein Blick huschte vom Spiegel auf die Straße, von der Straße in den Spiegel, vom Spiegel...

»Das ist es!«

»Sir?« Troy wandte sich für den Bruchteil einer Sekunde seinem Boß zu. Aber Barnaby sagte nichts. Troy, der mit seinen Atemübungen und Grübeleien nicht das geringste erreicht hatte, hakte nicht weiter nach. Auf keinen Fall wollte er dem alten Fuchs die Genugtuung gönnen, altväterliche Belehrungen auf eifrig gestellte Fragen abzugeben und über die erstaunt aufgerissenen Augen seines Untergebenen zu lachen. Ganz bestimmt würde er ihm von selbst alles mitteilen, wenn er die Zeit für gekommen hielt. Bis dahin, nahm sich Troy vor, sollte er eben seine Schlußfolgerungen für sich behalten. »Direkt nach Causton, Sir?«

»Nein«, entgegnete Barnaby. »Ich bin seit halb sechs morgens auf den Beinen und komme um vor Hunger. Wir halten in Reading und essen etwas. Es besteht kein Grund zur Eile.«

An diese Worte sollte er sich später noch lange erinnern. Aber er konnte nicht ahnen, daß eine alte Lady in dem Ort, den sie gerade verlassen hatten, mit tränenüberströmtem Gesicht zum Telefonhörer griff und eine Nummer in Badger’s Drift wählte.

Das Zelt war riesig. Die Seitenwände flatterten und blähten sich, während sich ein halbes Dutzend Männer mit Heringen und Hämmern abmühten, um es zu stabilisieren. Vierundzwanzig Kisten Champagner und zwölf Tische auf Böcken standen neben aufeinandergestapelten Stühlen in der Nähe bereit. Der sorgfältig gepflegte, edle Rasen, der unter den Zeltbahnen von schweren Stiefeln zertrampelt wurde, verströmte bereits den warmen Duft, den man in allen Zelten wiederfindet.

Als Barnaby die Terrassenstufen hinunterstieg, entdeckte er Henry Trace, der zwischen Blumenlieferanten und den Leuten des Partyservice hin-und herrollte, nickte, lächelte, Anweisungen gab und sich bemühte, nicht im Weg zu stehen. Barnaby suchte Katherine Lacey.

»Oh, Chief Inspector.« Henry manövrierte seinen Rollstuhl geschickt über das Steinpflaster. »Wie nett. Sind Sie hergekommen, um uns Glück zu wünschen?« Sein Lächeln verblaßte, als er das Gesicht des Polizisten sah. Er hielt den Rollstuhl in einiger Entfernung an, als könnte der Abstand die Nachrichten irgendwie mildern, die Barnaby mitgebracht hatte.

»Es tut mir sehr leid, Mr. Trace, aber ich habe schlechte Neuigkeiten.«

»Ist es wegen Phyllis? Das weiß ich bereits ... man hat uns angerufen. Ich fürchte, es macht einen gefühllosen Eindruck, daß wir die Feier nicht absagen, aber die Vorbereitungen sind schon so weit gediehen«, er deutete mit einer umfassenden Geste auf das Zelt, »daß ich beschlossen habe...« Seine Stimme brach ab. Die beiden Männer sahen sich lange schweigend an. Entsetzen zeichnete sich auf Henrys Gesicht ab.

Barnaby begann schließlich zu reden, ganz sanft und leise, aber er wußte, daß er die grausamen Worte dadurch nicht erträglicher machen konnte. Troy, der sich immer gewünscht hatte, eines Tages miterleben zu dürfen, wie einer der oberen Zehntausend eine gehörige Abreibung bekam, wandte den Blick von der in sich zusammengesunkenen Gestalt im Rollstuhl ab.

»Können Sie mir sagen, wo sich Miss Lacey im Moment aufhält?« Barnaby wartete, wiederholte die Frage und wartete wieder. Er war drauf und dran ein drittes Mal zu fragen, als Henry Trace kaum hörbar flüsterte: »Sie ist zum Cottage gegangen... Jemand hat angerufen.«

»Was? Hat sie gesagt, wer angerufen hat?«

»Nein. Ich ging ans Telefon... es war eine Frau, ich glaube, sie war sehr aufgeregt. Ihre Stimme klang ziemlich alt.«

»Guter Gott!« Barnaby setzte sich augenblicklich in Bewegung. Troy lief ihm nach. »Lassen Sie den Wagen stehen... querfeldein geht’s schneller.«

Sie nahmen die Abkürzung durch den Garten von Tranquillada, stürmten an dem erschrockenen Constable vorbei, der am Tatort beschäftigt war, und rannten durch das Tor in der Hecke. Barnaby zwängte sich durch die Haselnußbüsche und bahnte sich einen Weg durch den Wald. Er lief wie der Wind und stieß ärgerlich die Steine und Äste beiseite, die ihn behinderten. Troy hörte ihn brummen; »Verdammter Idiot... verdammter, verdammter Idiot!« Da er nicht wußte, wen Barnaby damit meinte oder was er überhaupt vorhatte, rannte er einfach mit.

Henry Trace saß reglos in seinem Stuhl auf der Terrasse. Das geschäftige Treiben um ihn herum ging weiter. Schachteln mit Champagnergläsern und Körbe voller Tischdecken und Servietten wurden an ihm vorbeigeschleppt. Ein hübsches Mädchen in einem pinkfarbenen Overall hängte gerade eine Girlande aus Nelken über dem Torbogen auf. Sie sang bei der Arbeit. Henry schloß die Augen und wappnete sich gegen die nächste Welle des Schmerzes. Sie rollte langsam auf ihn zu, aber gleich darauf schien sie ihn mit aller Gewalt in Stücke zu zerreißen.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Pause. »Sir?«

»Ja?«

»Ich habe noch viele Blumengirlanden übrig und dachte, daß sie sich an der Balustrade der Terrasse gut machen würden, man könnte sie dann die Treppe hinunterfluten lassen ...«

Er sah das Mädchen blicklos an, dann das Zelt, das inzwischen mit bunten Fähnchen dekoriert war. Leute liefen hin und her und schrien durcheinander. Die Stühle wurden ins Zelt getragen. Er mußte irgend etwas unternehmen, um diese Dynamik aufzuhalten. Obwohl er zu Gott betete, das alles möge nur ein böser Irrtum sein, wußte er, daß er die Wahrheit gehört hatte. Alles, was Barnaby ihm erzählt hatte, paßte zusammen. Es mußte stimmen. Aber was sollte er jetzt dem Mädchen sagen? Er betrachtete ihr freundliches Lächeln.

»Ja«, sagte er und drehte seinen Stuhl zum Haus, »es wäre hübsch, wenn Blumen über die Treppe fluten würden.«

2

»Gehen Sie in die Küche«, rief Barnaby, »ich sehe oben nach.«

Alle drei Schlafzimmer waren leer und sahen genauso aus wie immer: das kleine mit dem schmalen Bett machte einen unverändert spartanischen Eindruck, das große war chaotisch. Barnaby schaute auch im Schrank nach und war gerade dabei, die große Truhe auf dem Treppenabsatz zu öffnen, als er Troy schreien hörte. Er raste die Treppe hinunter und fand seinen Sergeant im Atelier vor. Troy stand vor der Staffelei und starrte wie betäubt auf das Bild.

»Aber...« Er wandte sich bestürzt seinem Boß zu. »Wer ist das?«

Barnaby warf einen Blick auf die Leinwand. An der Staffelei lehnte ein Umschlag, auf dem stand: »An alle, die es betrifft.« Er schnappte sich das Kuvert und lief aus dem Zimmer. Troy folgte ihm mit hochrotem Gesicht.

Im Flur riß Barnaby den Umschlag auf und überflog hastig die Seiten. Dann stürmte er in die Küche. Etwas, was aussah wie Petersilie, war über den Tisch verstreut.. Und ein modriger Geruch lag in der Luft. Es roch nach Mäusen.

Troy beobachtete unsicher seinen Boß. Der Mann sah aus wie ein geprügelter Hund. Er sank auf einen Stuhl und schüttelte den Kopf, als müßte er quälende Gedanken oder ein lästiges Insekt vertreiben. Dann stand er auf und sah sich benommen um. Er stopfte den Brief in die Tasche und rannte von einem Raum zum anderen. Dabei gab er kein einziges Wort von sich. Troy hatte das Gefühl, daß Barnaby ganz vergessen hatte, daß er auch noch da war. Nichtsdestotrotz blieb er ihm auf den Fersen, als der Chief Inspector aus dem Haus und in den Wald lief. Troy, dem unangenehm bewußt war, welche Wirkung das Gemälde auf ihn ausgeübt hatte, stolperte ihm nach. Barnaby wechselte die Richtung, drehte sich um, lief wieder ein Stück zurück und wandte sich wieder in eine andere Richtung.

Zu spät, zu spät, war alles, was er denken konnte, als er den Wald absuchte. Die wertvollen Sekunden rannen ihm durch die Finger wie silbriger Sand. Bilder zogen an seinem geistigen Auge vorbei: ein Bildschirm mit Zeitanzeige; die Sekundenbruchteile tickten schneller, als es das Auge erfassen konnte. Eine nasale Computerstimme zählte: »Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Null.« Die letzten Körnchen tropften durch ein Stundenglas. Und über allem sah er sich selbst und Troy entspannt am Mittagstisch in Reading sitzen - Vorspeise, Hauptgericht, Käse, Dessert und Kekse, Kaffee - möchten Sie noch eine Tasse, Sir? Warum nicht? Kein Grund zur Eile. Wir haben alle Zeit der Welt. Wo, zur Hölle, war die Stelle? Er versuchte sich zu erinnern, ob es ein besonderes Merkmal gab. Ein Grenzstein vielleicht. Nein - da war nur die Orchidee, mit der alles angefangen hatte, und der Stock mit dem roten Band, aber den hatte man möglicherweise schon vor Tagen entfernt. Es gab nichts...

Gott, diese Parasole an dem Baumstamm hatte er schon einmal gesehen. Verdammt, er war im Kreis gelaufen. Er blieb stehen und nahm nur am Rande wahr, daß Troy an seiner Seite war. In seinem Bewußtsein hatten nur der eigene hämmernde Herzschlag und der intensive Schmerz, den er verursachte, Platz. Sein Jackett war naß vom Schweiß und die Haut in seinem Gesicht von Brombeerdornen aufgerissen. Er schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Er stand ganz still und zwang sich, ruhig nachzudenken.

In diesem Augenblick sah er die üppigen Büschel Nieswurz, und er wußte, wieso ihm die Parasole so bekannt vorgekommen waren. Nur wenige Meter weiter entdeckte er das Gebüsch, das die Mulde abschirmte. Er ging auf die Sträucher zu, seine Schritte verursachten keinen Laut auf dem weichen Waldboden.

Er stand vor der Mulde. Eine große Fläche war platt gedrückt. Glockenblumen und Farnblätter waren geknickt. Katherine Lacey lag in den Armen ihres Geliebten. Sie schmiegten sich aneinander wie Kinder, die in der Wildnis verlorengegangen waren und Trost suchten. Ein Glas war ihr aus der leblosen Hand gefallen. Sie trug ihr Brautkleid aus gestärktem elfenbeinfarbenem Satin. Der Schleier wurde von einem Kranz aus Wildblumen festgehalten. Die reich mit Staubperlen bestickte Schleppe floß wie ein glitzernder Bach von ihren Schultern und verlor sich in der Dunkelheit. Ihre bemerkenswerte Schönheit war selbst im Tod ungetrübt. Während Barnaby sprachlos dastand, schwebte ein großes Blatt von einem Baum und legte sich auf ihr Gesicht. Es glänzte auf der wächsernen Haut und bedeckte ihre blicklosen Augen.

3

»Es ist sehr freundlich, daß Sie mich besuchen, Chief Inspector.«

Barnaby lehnte sich in dem Ohrensessel zurück, ein Teller mit Pflaumenkuchen und ein doppelter Whisky standen in Reichweite neben ihm. »Ganz und gar nicht, Miss Bellringer. Ohne Sie hätte es, wie Sie selbst einmal bemerkten, diesen Fall gar nicht gegeben.«

»Ich hatte das Lacey-Mädchen immer im Verdacht, wissen Sie.«

»Ja.« Barnaby nickte. »Man ist geneigt, die nächstliegende Lösung zu verwerfen, aber meistens ist sie die richtige.«

»Und als Ihnen bewußt wurde, daß sie nicht allein zu Werke ging ...«

»Ganz recht. Dann wurde klar, wie alle drei Morde begangen werden konnten.«

»Die Sache mit Phyllis Cadell betrübt mich sehr. Eine schreckliche Tragödie. Trotzdem verstehe ich nicht alles. Wieso, um alles in der Welt, hat sie eine Tat gestanden, für die sie nicht verantwortlich war?«

»Das ist ziemlich kompliziert.« Barnaby nahm einen Schluck von seinem Whisky. »Und ich muß Jahre zurückgreifen, um das zu erklären. Genaugenommen fing alles in der Kindheit der Laceys an. Erinnern Sie sich an Mrs. Sharpe?«

»An das Kindermädchen? Ja. Die arme Frau. Sie haben ihr das Leben zur Hölle gemacht, glaube ich.«

»Das hat mir Mrs. Rainbird auch erzählt. Offenbar waren die Kinder ein Herz und eine Seele, solange sie klein waren; sie heckten immer etwas aus und standen füreinander ein. Als sie älter wurden, änderte sich alles. Es gab nur noch Zank und Streit. Es war so schlimm, daß die alte Nanny Sharpe, sobald die beiden alt genug waren, um für sich selbst zu sorgen, wegzog, um ein bißchen Frieden in ihrem Häuschen am Meer zu genießen. Ich glaubte diese Geschichte zunächst, denn es gab keinen Grund, sie anzuzweifeln. Und das Verhalten der Laceys machte sie noch glaubwürdiger. Ich selbst hatte einen häßlichen Streit mitangehört. Aber die Unterhaltung mit Mrs. Sharpe vermittelte mir ein ganz anderes Bild.«

Er aß einen Bissen von dem exzellenten, fruchtigen Pflaumenkuchen und spülte mit Whisky nach. Im Geiste saß er wieder auf dem harten Sofa und sah die vielen Fotos von den lächelnden Laceys vor sich. Mrs. Lacey als Kind und junge Frau, Hochzeits-und Tauffotos. Die Kinder in beinahe jedem Alter - immer zusammen und wachsam.

»Sie war die Stärkere«, sagte Mrs. Sharpe. »Sie geriet ihrem Vater nach.«

»Nicht gerade ein umgänglicher Mann, soviel ich gehört habe.«

»Er war schlecht!« Mrs. Sharpes hageres Gesicht lief rot an. »Ich kann mit dem modernen Unsinn, daß Menschen durch irgendwelche Erlebnisse verdorben werden, nichts anfangen. Es gibt Leute, die schon schlecht auf die Welt kommen, und er war einer von ihnen. Er hat meiner armen Kleinen das Herz gebrochen und sie in den Tod getrieben. Sie war ein so liebenswertes Wesen... so freundlich und sanft. Und er hatte andere Frauen ... und dieses raffinierte Ding, mit dem er schließlich auf und davon ist, soll er erst nach Madeleines Tod kennengelernt haben? Das habe ich nie geglaubt und werde es auch nie glauben. Er hat sich die ganze Zeit schon mit ihr herumgetrieben, da bin ich mir ganz sicher.«

»Der Junge war mehr wie seine Mutter, was ?«

»Er verehrte sie. Er hat mir so leid getan. Er versuchte, tapfer zu sein... sie zu beschützen, aber er konnte seinem Vater nicht Paroli bieten. Gerald war ein gewalttätiger Mann... einmal warf er Madeleine ein Bügeleisen nach, und Michael sprang dazwischen. Es traf ihn mitten im Gesicht. Daher hat er die Narbe.«

Barnaby schüttelte den Kopf. »Das wußte ich nicht.«

»Aber Katherine war genau wie ihr Vater. Und er hat sie verlassen - ohne einen Blick zurückzuwerfen. Eine weniger starke Person wäre auf ewig am Boden zerstört gewesen, aber sie... na ja, sie war eben ganz der Vater. Oberflächlich besehen nicht. Er war großtuerisch und gab immer an... sie zog sich eher in sich selbst zurück, aber im Wesen war sie wie er. Launisch und einen eisernen Willen. Und als der Vater weg war, widmete sie Michael ihre ganze Aufmerksamkeit. Und er, der arme Junge, klammerte sich nach dem Tod seiner Mutter verzweifelt an sie. Man hätte nie geahnt, daß er der Ältere war. Sie war Mutter, Vater, Schwester und alles andere für ihn. Manchmal habe ich mich gefragt, was ich überhaupt bei ihnen tat, abgesehen davon, daß sie eine Aufsichtsperson brauchten, weil sie noch minderjährig waren.

Michael fing an zu malen, als er ungefähr vierzehn war. Ernsthaft, meine ich. Er war immer gut im Kunstunterricht, und sie redeten auf ihn ein, daß er ins College gehen soll. Er war auch eine Zeitlang dort, aber dann gab er es auf. Er sagte, dort wären nur Schwachköpfe. Und Katherine stärkte ihm den Rücken. Sie redete ihm ein, er würde mehr lernen, wenn er durch Europa reist, in Galerien, Museen und ähnliches geht. Das würden alle Künstler tun, sagte sie. Jedenfalls ging das so bis kurz vor Katherines siebzehnten Geburtstag. Michael war zwei Monate vorher achtzehn geworden - da begannen die Streitereien. Auseinandersetzungen zwischen Heranwachsenden, dachte ich. Immerzu machten sie sich wegen irgendwas Vorwürfe, und jeden Tag warfen sie sich Schimpfworte an den Kopf. Sie schrie ihn an, er flüchtete aus dem Haus. Und trotzdem, Inspector«, sie beugte sich vor, und ihr Tonfall wurde ganz ruhig, »ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Ich spürte, daß die Zuneigung zwischen ihnen noch genauso stark wie früher war. Die Streitereien erschienen mir irgendwie gekünstelt... unecht.

Eines Nachts konnte ich nicht schlafen und wälzte mich bis drei Uhr im Bett herum. Schließlich stand ich auf und ging hinunter, um mir einen Tee zu kochen. Ich kam an Katherines Zimmer vorbei und hörte seltsame Geräusche... leise, erstickte Schreie. Ich dachte, sie hätte einen Alptraum und öffnete leise die Tür. Ich schaute ins Zimmer.« Ihr Gesicht wurde heiß bei der Erinnerung daran, und sie bedeckte es mit beiden Händen. »Danach konnte ich nicht mehr im Haus bleiben. Ich erklärte den Traces, daß die Kinder - ich sah sie immer noch als Kinder an, verstehen Sie? -, daß die Kinder zuviel für mich seien und daß ich mich in den Ruhestand zurückziehen wolle. Meine Schwester war ein paar Monate zuvor gestorben und hatte mir dieses Haus hinterlassen. Meine letzten Wochen in dem Cottage waren anders als die Zeit davor. Sie brauchten sich nicht mehr zu streiten, um mir Sand in die Augen zu streuen. Sie machten sich nicht mehr die Mühe, ihre Gefühle füreinander zu verbergen. Es schien ihnen nicht einmal in den Sinn zu kommen, daß das, was sie taten, nicht richtig war. Es war für sie ganz natürlich, verstehen Sie? ... Nur eine neue Dimension ihrer tiefen Zuneigung. Sie sahen nicht ein, daß ich gehen mußte. Warum ich mich nicht für sie freute. Ein paarmal dachte ich über die Möglichkeit nach, bei ihnen zu bleiben ... in gewisser Weise waren sie immer noch meine Babies, und ich hatte ihrer Mutter versprochen, mich um sie zu kümmern, aber dann sprach Katherine von ihrer Europareise. Sie wollten dahin fahren und dorthin ... ich weiß nicht, ob es einen Ort gab, den sie nicht besuchen wollte. Ich fragte: >Und wer soll das alles bezahlen?< Und sie meinte: >Henry natürlich.« Und Michael sagte: >Kate kann Henry zu allem überreden.<

Sie standen Arm in Arm am Küchentisch. Und plötzlich wurde mir bewußt, wie stark sie zusammen waren... Sie bauten sich gegenseitig auf. Man konnte es beinahe sehen... die Energie floß regelrecht zwischen ihnen hin und her und wurde immer gewaltiger. Ich hatte Angst. Ich dachte, daß nichts sie aufhalten konnte. Was auch immer sie wollten, sie würden es bekommen...

Jemand hat mir den Zeitungsartikel über die gerichtliche Untersuchung nach Mrs.-Traces Tod geschickt. Es schien eindeutig ein Unfall gewesen zu sein. Aber dann fand die Verlobung statt, und als ich hörte, daß Miss Simpson gestorben ist, konnte ich nicht anders, als mich zu fragen... Wenn ich mich mit der Polizei in Verbindung gesetzt hätte, wäre der dritte Mord vielleicht nicht passiert. Aber ich wußte es nicht, verstehen Sie? Es war nur ein Gefühl. Und wie hätte ich sie verraten können? Ich liebte sie ... es waren Madeleines Kinder.«

Nachdem Barnaby soweit gekommen war, entstand eine lange Pause. Miss Bellringer nickte ernst. »Allmählich wird mir einiges klar.« Sie goß sich Whisky nach und fuhr fort: »Aber ich verstehe noch immer nicht, wie einer von ihnen Bella getötet haben konnte.«

»Mir erging es anfangs wie Ihnen, ich konnte es mir auch nicht erklären. Ich las den Bericht über die gerichtliche Untersuchung so oft, bis ich ihn in-und auswendig kannte. Und alles stimmte so genau mit Phyllis Cadells Geständnis überein, daß kein Grund bestand, Zweifel anzumelden. Und trotzdem war etwas an der Geschichte, das nicht so recht zusammenpaßte. Ich grübelte tagelang darüber nach, bis mir schließlich ein Licht aufging. Ich bin zwar in der Jagd nicht bewandert, aber eines war mir doch klar, nämlich, daß ein Treiber nichts in der Nähe der Schützen zu suchen hat, sondern ihnen viel eher das Wild zutreiben muß. Also warum waren Michael Lacey und Mrs. Trace zusammen? Und wieso hat er sich überhaupt der Jagdgesellschaft angeschlossen? Er tischte mir eine Geschichte auf, daß er damit Geld verdient hat, aber das war weit entfernt von der Wahrheit. Er war dort, um Mrs. Trace vom Rest der Gruppe wegzulocken. Er hatte die Aufgabe, sie zu isolieren und auf diese Weise zur deutlich sichtbaren Zielscheibe zu machen. Katherine saß im Gebüsch auf der Lauer - wohlgemerkt, wir haben nur die Aussage ihres Bruders, daß sie sich in der Küche von Tye House nützlich gemacht hat -, und zu einer vorher abgemachten Zeit, die Katherine einen gewissen Spielraum ließ, wurde der Mord begangen.«

»Einfach so?«

»Beide Laceys waren erfahrene Schützen. Mrs. Rainbird wies mich darauf hin. Und bei dem Tumult mit den kläffenden Hunden und den aufgeregt umherrennenden Menschen konnte sie sich leicht auf und davon machen, ohne bemerkt zu werden. Michael, ganz der hilfsbereite Junge, lief los, um einen Krankenwagen zu rufen. Und jetzt kommt der zweite Punkt, der mir Kopfzerbrechen bereitet hat. Bei einem derartigen Unfall würde jeder zur nächsten Straße rennen und an irgendeine Haustür klopfen, aber Michael lief zum Tye House. Also zu einem Ort, der möglichst weit weg vom Unfallort war. Wieso telefonierte er nicht vom ersten Haus in der Church Lane aus? Oder vom Holly Cottage, das beträchtlich näher war? Dafür kann es nur einen Grund geben. Er wollte die Ankunft des Krankenwagens so lange wie möglich hinauszögern. Auf keinen Fall konnte er riskieren, daß kompetente Mediziner rechtzeitig eintrafen, um Bellas Leben vielleicht doch noch zu retten.«

»Ja... mir leuchtet ein, daß alles so gewesen sein könnte...« Miss Bellringer war so von Barnabys Bericht in den Bann gezogen, daß sie mit einem Stück Pflaumenkuchen auf der •Gabel dagesessen hatte, ohne einen Muskel zu rühren. Jetzt stopfte sie den Kuchen in den Mund und fragte noch kauend: »Aber... was ist mit Phyllis’ Geständnis?«

»Sie hat sich schlichtweg geirrt - wenn man ihre enorme emotionale Anspannung, ihre mangelnde Schießpraxis und den vielen Wodka in Betracht zieht, ist es eigentlich kein Wunder, daß sie ihr Ziel verfehlte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie meilenweit daneben geschossen hätte. Aber durch einen der verhängnisvollen Zufälle, die sich manchmal im Leben ereignen, stolperte Bella gerade in dem Moment über eine Wurzel, in dem Phyllis schoß. Lessiter erwähnte den Sturz bei der gerichtlichen Untersuchung. Eine andere Erklärung kann es nicht geben.«

»Aber wenn Dennis beobachtete, was geschah, dann muß er auch gesehen haben, daß Bella wieder aufstand. Nachdem Phyllis die Flucht ergriffen hatte, meine ich.«

»Das kann ich mir auch vorstellen. Aber das werden wir erst genau erfahren, wenn er wieder vernehmungsfähig ist. Mich würde es jedoch kein bißchen wundern, wenn die Rainbirds Phyllis Cadell bluten ließen, selbst wenn sie wußten, daß sie unschuldig war.«

»Gräßliche Menschen.« Miss Bellringer sah sich ängstlich in ihrem vollgestopften Wohnzimmer um, als wollte sie sich vergewissern, daß kein Wort nach außen dringen konnte. Sie bückte sich, hob Wellington auf ihren Schoß und drückte ihn an ihre flache Brust wie einen wertvollen Talisman. Er streckte steif seine Pfoten von sich. »Und der Mord an Bella - war das der erste Schritt in ihrem großen Plan?«

»Bestimmt. Sie hinterließen einen Brief, in dem sie alles genau erklären.« Ein voller Wut verfaßter Brief. Auf den ganzen sieben Seiten bedauerten sie lediglich, daß sie Miss Simpson gegenüber nicht hatten abstreiten können, an dem fatalen Freitag nachmittag an ihrem geheimen Platz im Wald gewesen zu sein. Barnaby sah keinen Grund, seine betagte Gesprächspartnerin noch mehr zu verletzen und all die Beschimpfungen zu wiederholen, die das saubere Pärchen ihrer Freundin zugedacht hatte. »Ich glaube, Sie selbst sagten einmal etwas von schlechtem Blut< in der Familie Lacey. Ich weiß noch, daß ich das damals ziemlich melodramatisch fand - als könnte Schlechtigkeit genetisch weitergegeben werden wie blaue Augen oder rotes Haar! Aber jetzt... jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Beide waren ihrem Vater offensichtlich sehr ähnlich. Sie benutzten die Menschen mit eiskalter Berechnung, und wenn sie erreicht hatten, was sie wollten, wandten sie sich ab von dem von ihnen verursachten Schmerz und Unglück und suchten sich das nächste Ziel.«

»Ziel?«

»Verzeihung ... das nächste Opfer. Sie brauchten Geld, eine Menge Geld. Es genügte ihnen nicht, in Ruhe und Frieden zu leben, bis Michael mit seinen Bildern Erfolg haben würde. Und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß er sehr erfolgreich geworden wäre. Er war außerordentlich begabt. Nein - sie wollten reisen. Die große Europatour. Venedig, Florenz, Amsterdam, Rom. Und überall wollten sie so lange bleiben, bis Michael von der künstlerischen Atmosphäre durchdrungen war. Und sie planten, sich im Ausland niederzulassen - wahrscheinlich hatten sie vor, als Mann und Frau zusammenzuleben.«

»Und Henry?«

»Ah... der Ärmste. Ich fürchte, sein Ableben hätte nicht lange auf sich warten lassen. Ich glaube, er hat schon eine gewisse Dosis der Substanz zu sich genommen, die Ihre Freundin getötet hat. Es war sicher kein Zufall, daß er an dem Abend, an dem Miss Simpson zu Tode kam, nach dem Essen eindöste. Und das tat er nicht nur bei dieser Gelegenheit. Henry sagte wortwörtlich zu mir: >Das passiert mir in letzter Zeit öfters<«

»Ich sehe ein, daß es wichtig für sie war, an diesem Abend unbemerkt aus dem Haus zu kommen, Chief Inspector. Aber ich verstehe immer noch nicht die Sache mit dem Hund.«

»Das ist ganz einfach. Sie ging mit ihrem Brief an Notcutt’s - zum Briefkasten, warf ihn ein und traf Michael auf dem Feldweg zum Holly Cottage. Sie gab ihm den Hund, und er nahm ihn mit nach Hause, während Katherine Ihrer Freundin einen Besuch abstattete - mit welchem Ausgang, wissen wir ‘ leider nur zu genau.«

»Sie muß eine ganze Weile bei ihr geblieben sein, um ... um sicherzugehen ...« Miss Bellringers Gesicht verzog sich kummervoll. »Tut mir leid ... all diese Einzelheiten machen es so real.«

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich nicht weitersprechen würde?«

»Ganz und gar nicht, aber eine kleine Stärkung kann ich schon gebrauchen.« Sie setzte Wellington auf den Boden, schraubte die Whiskyflasche auf und goß etwas davon in ihr Glas. »Darf ich Ihnen auch noch ein Schlückchen dazugeben?«

»Danke, nein. Um zum Bienenstock-Cottage zurückzukommen - Katherine mußte bleiben, bis Miss Simpson den vergifteten Wein ausgetrunken hatte. Dann ging sie zu ihrem Bruder, um den Hund abzuholen, und ab da übernahm Michael alles weitere. Bestimmt hatten sie vorgegeben, beide mit Ihrer Freundin sprechen zu müssen. Was sie zu ihr sagten, werden wir nie erfahren. Vermutlich flehten sie sie an, Stillschweigen zu bewahren, und baten um ihr Verständnis. Möglicherweise versprachen sie sogar, die Beziehung abzubrechen. Sie waren beide großartige Schauspieler.« Sein Tonfall wurde härter, als er sich an Katherines tränenreiche Vorstellung erinnerte, als sie von Benjys langsamem Dahinsiechen sprach.

»Emily muß dieses Gespräch zuwider gewesen sein. Sie war sehr heikel. Also hat Michael...?«

»Ja. Er blieb, bis sie das Bewußtsein verlor, dann machte er die Wohnzimmertür zu, damit Benjy sein Frauchen nicht sah und anfing zu bellen. Er wusch Katherines Glas ab, ließ aber das von Miss Simpson stehen. Natürlich hofften sie beide, daß es als natürlicher Tod angesehen würde, aber für den unwahrscheinlichen Fall, daß doch eine Untersuchung stattfinden würde, sollte man nur ein Glas mit Miss Simpsons Fingerabdrücken und einem Rest des Giftes finden. So wäre es auch gewesen, wenn Sie nicht...«

Miss Bellringer wurde rot. »Also war die Markierung im Shakespeare auch nur ein Fingerzeig für alle Fälle?«

»Ja. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Vielleicht schaute sich Michael ein wenig um, während er wartete. Die Zeilen müssen ihm ins Auge gefallen sein, und sie erschienen ihm passend. Er zog seinen Bleistift 6 B aus der Tasche. Wer von beiden durch das Fenster in die Speisekammer kletterte, stand nicht in dem Brief. Aber er macht deutlich, daß das Lessiter-Mädchen großes Glück hatte und gerade noch dem Tod entronnen ist.«

»Judy? Das verstehe ich nicht.«

• »Sie ging zum Holly Cottage, als Katherine bei Ihrer Freundin war. Sie hat Michael sogar durchs Fenster gesehen, aber sie hat nicht gemerkt, daß der Hund im Haus war. Wenn sie geklopft und der Hund gekläfft hätte ...«

»Armes Kind. Ich fürchte, sie ist geboren, um unglücklich zu sein. Es gibt solche Menschen.«

»Ja.« Barnaby nickte. »Sie wurde von den Laceys benutzt wie jeder, der ihre Wege kreuzte. Zum Beispiel war es sehr wichtig, daß Michael den Nachmittag, an dem der Rainbird-Mord geschah, mit ihr zusammen verbrachte. Ich erinnere mich, daß mein Sergeant sagte, er hätte großes Glück gehabt, daß er mit einem Alibi aufwarten konnte. Aber mit Glück hatte das nicht das geringste zu tun. Es war ein entscheidender Punkt des Plans, daß er sich ein sicheres Alibi verschaffte. Das Messer wurde im Holly Cottage deponiert, nicht um, wie ich zuerst dachte, Lacey in Verdacht zu bringen, sondern um die Aufmerksamkeit auf jemanden zu lenken, von dessen Unschuld der Mörder wußte. Und der beweisen konnte, daß er unschuldig war.

Selbst wenn Judy nicht bei Michael angerufen hätte, wäre er mit ihr an diesem Tag in Kontakt getreten. Seine ersten Worte bei dem Telefonat waren: >Ich wollte mich gerade bei dir melden.< Und natürlich mußte er bei den Lessiters arbeiten, damit das Messer in seinem Haus >versteckt< werden konnte. Dem Brief nach zu schließen, sollte ein anonymer Hinweis bei der Polizei eingehen, der eine Hausdurchsuchung zur Folge gehabt hätte. Aber Mrs. Quine kam ihnen zuvor.«

»Was für ein riskantes Unterfangen, in den Kleidern ihres Bruders bei hellichtem Tag herumzuspazieren!«

»Sie kam aus dem Holly Cottage und ging durch den Wald. Zweifellos hätte sie den Plan nicht ausgeführt, wenn ihr jemand begegnet wäre und ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hätte. Aber aus der Ferne, mit hochgesteckten Haaren und der Mütze, konnte man sie sehr leicht für Michael halten.«

»Der ein unumstößliches Alibi hatte.«

»Ganz recht. Sie mußten ein gewisses Risiko auf sich nehmen, denn Mrs. Rainbird hatte ihnen nur bis zur Hochzeit Aufschub für die erste Zahlung gegeben.«

»Sonst hätte sie die Bombe platzen lassen?«

Barnaby lächelte. Miss Bellringer würde ihm fehlen. »Mehr oder weniger.«

»Aber Dennis hätte doch bestimmt nicht den Mund gehalten, oder? Besonders nicht nach dem Mord an seiner Mutter. Was hatten sie mit ihm vor?«

»Michael sollte sich um Dennis kümmern. Er kam nur mit dem Leben davon, weil er sein Geschäft eine halbe Stunde früher als sonst verließ. Wir begegneten Lacey hinter dem Haus. Er gab vor, auf dem Weg zum Pub zu sein, aber jetzt wissen wir, daß er in Wirklichkeit dafür sorgen wollte, daß Dennis seine Mutter nicht lange überlebt.«

»Sie müssen vollkommen verzweifelt oder in Raserei gewesen sein.«

»In der Tat. Wenn sie gründlich nachgedacht hätten, wäre ihnen klargewesen, daß alles auffliegen würde, wenn Katherine von jemandem gesehen worden wäre - selbst aus der Ferne. Wer aus dem kleinen Kreis der Verdächtigen ähnelte Michael in Größe und Statur so sehr, daß man ihn mit ihm verwechseln könnte?«

»Aber sie hat doch sicher auch für ein Alibi gesorgt.«

»So gut wie. Sie sagte, sie habe Pilze gesammelt. Auf dem Küchentisch stand ein Korb mit Pilzen. Und sie waren frisch, ich habe daran gerochen. Sie hatte natürlich keine Zeit, sie aus dem Wald zu holen, den Mord zu begehen, zu duschen, sich umzuziehen und so weiter. Aber wenn Michael die Pilze schon am Vormittag geholt und im Holly Cottage bereitgestellt hat...«

»Ahhh.« Miss Bellringer nickte. »Das muß die Erklärung sein.«

»Nachdem sie sich gewaschen und umgezogen hatte«, Barnaby sah das Mädchen wieder in einem ironischerweise schneeweißen Kleid vor sich, »huschte sie durch die Vordertür aus dem Rainbird-Bungalow - natürlich vergewisserte sie sich vorher, daß niemand in der Nähe war - und klopfte dann von außen so kräftig an, daß sie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Mrs. Sweeney, die das Klopfen hörte und beobachtete, wie sie die Pilze auf die Treppe legte und ging, nahm an, wie jeder es getan hätte, daß sie auch über die Straße und den vorderen Gartenteil gekommen war.«

»Aber die blutverschmierten Kleider... die Mütze und alles andere. Und sagten Sie nicht auch etwas von einer Decke? Wissen Sie, was damit geschehen ist?«

»O ja ... die Decke lag zusammengerollt an der Hecke im hinteren Gartenteil. Michael holte sie dort ab, als er von den Lessiters zurückkam, und versenkte sie wieder im Weiher, aus dem sie die Rainbirds ein paar Tage zuvor gefischt hatten. Die Kleider packte Katherine schlicht und einfach in den Korb mit den Pilzen und nahm sie mit. Es war ein sehr großer Korb, und als ich ihn in der Küche sah, war er gerade mal halbvoll, also war noch genug Platz für die Sachen. Von den Rainbirds aus ging sie zum Holly Cottage, versteckte das Messer - fast zu gut, wie sich später herausstellte -, deponierte die blutigen Kleider vorübergehend im Wald und kehrte zum Tye House zurück.«

»Was soll das heißen? Was meinen Sie mit der Bemerkung über das Messer?«

»Wir hatten eine Durchsuchungserlaubnis für das Haus. Wenn sie das Messer in die Küchenschublade oder in Michaels Schlafzimmer gelegt hätte, wären wir vermutlich nie ins Atelier gegangen. Später fanden wir dort nämlich den entscheidenden Hinweis.«

»Sie dachten bestimmt, daß Sie überall suchen würden, Chief Inspector.«

»Normalerweise tun wir das auch, aber Lacey setzte, wie ich später begriff, alles daran, uns aus dem Haus zu locken. Ich konnte mich nur kurz im Atelier umsehen, und mir fiel nichts Außergewöhnliches auf. Aber als wir mit dem Wagen durchs Dorf fuhren, begegnete uns Katherine. Ihr Bruder rief ihr zu: >Sieht aus, als wär’ ich ziemlich abgemalt< und beschrieb mit den Händen ein Viereck um sein Gesicht. Ich hielt das für gespielte Tapferkeit, aber die Botschaft hätte nicht deutlicher sein können. Was ist schon gemalt, wenn nicht ein Bild? Und warum schloß er das Cottage nicht ab, wenn es so viel enthielt, was für ihn von großem Wert war? All seine Arbeiten waren dort, und er behauptete, er würde die Haustür nie zusperren. Irgend etwas mußte aus dem Atelier entfernt werden, aber wenn die Tür verschlossen gewesen wäre, hätte nur Katherine, die einen Schlüssel besaß, Zugang gehabt. So konnte jeder ins Haus, und wenn wir etwas bemerkt hätten, wäre der Verdacht nicht zwangsläufig auf Katherine gefallen.«

»Ja... das leuchtet mir ein. Aber was wurde entfernt? War es ein Bild? Wieso war das so wichtig?«

Barnaby nippte an seinem Whiskyrest, lehnte sich wieder zurück und überlegte, wie er seine Antwort formulieren sollte. Er erinnerte sich noch allzu gut an das Bild und hörte Troys Schrei: »Aber... wer ist das?« Es war wie ein Schlag in die Magengrube gewesen, und er war fast ebenso bestürzt wie Troy, als er das Bild sah. Katherine Lacey war praktisch nicht wiederzuerkennen. Es war der erotischste Akt, den er je gesehen hatte. Sie lag ausgestreckt auf dem breiten Bett, und obwohl ihre Pose auf einen postkoitalen Augenblick schließen ließ, waren ihre Glieder nicht entspannt oder gelöst. Die Gestalt schien nichts als Stärke und Kraft auszustrahlen. Ihre Haut glänzte vor Schweiß, die Beine und Arme pulsierten vor Energie, und man hatte den Eindruck, auf der Leinwand die Bewegung zu sehen. Die hingestreckte Frau wirkte gierig und unheimlich. Barnaby fühlte sich an eine Gottesanbeterin oder eher an eine lauernde Schwarze Witwe erinnert - verführerisch und tödlich. Sie sah auf dem Gemälde größer aus als die Frau, die er kannte. Hals und Schultern waren dick und kräftig, ihre Brüste prall, der Bauch stark gewölbt.

Trotz allem war das Gesicht das erschütterndste. Es war das Gesicht einer Frau in Raserei: die feuchten roten Lippen verzogen zu einem grausigen Lächeln - gierig, wollüstig und grausam. Die Augen glitzerten vor ruchloser Befriedigung. Nur ihr Haar war erkennbar, aber selbst das schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, es wand sich wie Schlangen in einem Nest. Barnaby hatte das Gefühl gehabt, daß diese Frau jeden Augenblick von der Leinwand springen und ihn verschlingen würde.

Miss Bellringer wiederholte ihre Frage. Barnaby, der spürte, daß ihm bei der Erinnerung an das Bild das Blut ins Gesicht geschossen war, erwiderte: »Es war ein Porträt von seiner Schwester, das wenig Zweifel an der Art ihrer Beziehung ließ.« Kein Wunder, dachte er, daß das schmale Bett immer unberührt ausgesehen hat. Wahrscheinlich hatte sie seit Mrs. Sharpes Auszug kein einziges Mal mehr dort geschlafen. Und jetzt wußte er auch, warum Katherine nicht in das viel größere, freigewordene Zimmer umgezogen war.

»Sie waren ganz schön gerissen... und dann dieses schreckliche Ende.«

»Ja. Eigenartigerweise sagte mein Sergeant schon sehr früh etwas, was ein Fingerzeig hätte sein können, wenn ich nur so viel Verstand gehabt hätte, ihn zu erkennen. Ihm war aufgefallen, daß Mrs. Lessiter sehr unfreundlich über Lacey sprach, und er meinte, es wäre nicht das erste Mal, daß eine verheiratete Frau in der Öffentlichkeit so tut, als könne sie ihren Liebhaber nicht leiden, um die Leute zu täuschen.«

»Die Laceys waren jedenfalls sehr überzeugend.«

»Mmm. Da war eine Episode, die mir großes Kopfzerbrechen gemacht hat. Troy und ich ...«

»Ich mag den Mann immer noch nicht.«

Barnaby lächelte zurückhaltend und fuhr fort: »Wir gingen zu Fuß zum Holly Cottage und hörten, daß sich die Laceys anschrien und schrecklich stritten. Später, als ich ziemlich sicher sein konnte, daß sie die Täter waren, wußte ich beim besten Willen nicht, wie ich diese Szene einordnen sollte. Warum spielten sie das Theater, das nur für die Öffentlichkeit bestimmt war, weiter, wenn sie allein waren? Das machte keinen Sinn. Ich fürchte, die Tatsache, daß ich die Auseinandersetzung mitangehört hatte, hat die Lösung des Falls sogar behindert. Aber als wir von Saint Leonards zurückfuhren, fiel mir auf, daß mein Sergeant ständig in den Rückspiegel schaute, und da wurde mir klar, daß der Streit meinetwegen inszeniert worden war. Wir waren zwar hinter der hohen Hecke verborgen, aber sie konnten im Spiegel, der an der Ausfahrt angebracht ist, sehen, daß wir auf das Haus zugingen.«

Lange sagte niemand etwas, dann meinte Miss Bellringer: »Das war’s dann also? Das letzte Teilchen fiel an seinen Platz.«

Barnaby trank sein Glas aus und aß den letzten Bissen Kuchen. Erst vor zwei Wochen war seine Gesprächspartnerin in seinem Büro gesessen, hatte in ihrer riesigen Tasche gekramt und ihn mit blitzenden Augen angesehen, aber ihm kam es vor, als wäre dies vor langer Zeit geschehen. Was hatte sie gerade gesagt? Das letzte Teilchen? Ja, so mußte es sein. Das vage Gefühl, daß es noch ein loses Ende gab, mußte er wohl seinem angeborenen Zweifel an einer ordentlichen Welt zuschreiben.

Es gab nichts mehr zu sagen. Er stand auf. Lucy Bellringer tat es ihm gleich und streckte ihm die Hand entgegen. »Leben Sie wohl, Chief Inspector. Es war sehr anregend, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Wie ich mich jemals wieder in der langweiligen Alltagsroutine zurechtfinden soll, weiß ich wirklich nicht.«

Barnaby drückte ihr die Hand und erwiderte aufrichtig: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Ihrer Gegenwart irgend etwas langweilig sein kann.«

Als er zum Rastplatz ging, auf dem er seinen Wagen abgestellt hatte, kam er am Friedhof vorbei. Er zögerte einen Moment, dann ging er hinein. Er umrundete das Gebäude, passierte das Tor in der Buchsbaumhecke und steuerte den Teil mit den frischen Gräbern an.

Auf einem häuften sich noch Kränze und bunte Blumenbouquets, das andere war abgeräumt. Nur eine Vase mit roten, intensiv duftenden Rosen stand unter dem schlichten Kreuz.

EMILY SIMPSON eine liebe Freundin 1906-1987

Barnaby stand eine Weile im Schatten einer Eibe und hörte dem Krächzen der Krähe zu, dann drehte er sich um und eilte davon.

Sie hatten das Abendessen fast beendet. Cully hatte verschiedene Delikatessen mitgebracht. Hühnchen in Weinsauce. Broccoli. Junge Kartoffeln. Wasserkresse. Köstlichen Zitronenkuchen. Und jetzt stand eine Schachtel mit kleinen Florentinern auf dem Tisch, die sie zum Kaffee aßen. Barnabys Magen, hin-und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Erregung, brummte leise. Cully verteilte den Rest einer Flasche Cotes de Gascogne und erhob ihr Glas.

»Auf euch, Leute.«

»Ich trinke auf Beatrice«, erwiderte Barnaby. Seine Tochter probte gerade das Stück Viel Lärm um Nichts und war glücklich, auch in den großen Ferien in Cambridge bleiben zu können, wenn sie dafür an eine große Theaterrolle kam. In der Wahl ihrer Kleider schien sie ein wenig gemäßigter zu sein, aber immer noch wirkte sie sehr extravagant. Sie trug einen dreiteiligen Herrenanzug aus den fünfziger Jahren - grau mit weißen Nadelstreifen -, und ihr pflaumenblaues Haar war kurzgeschnitten. Ein Monokel steckte an ihrem Revers. Sie wirkte aggressiv, sexy und, wegen ihrer Jugend, ausgesprochen rührend. Barnaby hatte mit Joyce nicht über die Einzelheiten des Simpson-Falles gesprochen - das hatte er sich für die erste gemeinsame Mahlzeit mit Cully aufgehoben. Und sie hatten sich alles höflich, aufmerksam und nachdenklich bis zum Ende angehört. Jetzt kam Joyce noch einmal auf das Thema zu sprechen.

»Ich dachte immer, daß ... derartige Dinge ... ihr wißt schon, was ich meine ... nur in ärmeren Familien Vorkommen.«

»O Ma, sei nicht so heuchlerisch. Wenn du damit die Arbeiterklasse meinst, warum, um alles in der Welt, sagst du es dann nicht? Außerdem stimmt das gar nicht. Es gibt eine ganze Menge Beispiele, wahre und erfundene, dafür, daß es Geschwister aus der Oberschicht miteinander treiben.« Cully knabberte an einem Florentiner. »Genau wie die arme Annabella.«

»Was?« rief Barnaby und stellte vorsichtig seine Tasse auf den Unterteller.

»Wie bitte, heißt das, nicht >was<.«

»Was soll das heißen, die arme Annabella?«

»Annabella aus Tis Pity ... Du weißt schon.«

»Nein, das weiß ich nicht. Klär mich auf.«

»Also wirklich, Dad ... Ich hab’ meine ganze Seele in dieses Stück gelegt... es war meine erste große Rolle ... Tis Pity she ’s a Whore. Du warst da und hast es dir angesehen, und du erinnerst dich nicht mehr daran?«

Doch, jetzt fiel ihm alles wieder ein. Eine abgedunkelte Bühne, plötzlich flackern Fackeln auf. Viel Brokat und stark geschminkte Gesichter wirbeln aus den Schatten. Schreckliche Bilder mit Blut und Tod. Seine Tochter in einem weißen, blutbesudelten Gewand; Dolche bohren sich in lebendes Fleisch. Ein Herz, aufgespießt auf ein Messer. Grauen über Grauen, Tod und Zerstörung, genau wie er es vor kurzem in Mrs. Rainbirds Bungalow gesehen hatte. Und die inzestuöse Leidenschaft von Annabella und ihrem Bruder Giovanni. Barnaby sah wieder den kleinen Bücherstapel auf Miss Simpsons Telefontisch vor sich. Shakespeare, The Golden Treasury. Und die Theaterstücke der englischen Renaissance.

Cully deklamierte verträumt, ihre heisere Stimme vibrierte vor verhaltener Trauer: »Eine Seele, ein Fleisch, eine Liebe, ein Ganzes ...«

Barnaby betrachtete sie mit väterlichem Stolz und Bewunderung. Er nahm seine Tasse wieder in die Hand. »Ja«, sagte er, »genauso ist es.«

Requiem für einen Mörder 

Amadeus von Peter Shaffer

Die Venticellis: Clive Everard Donald Everard Salieris Kammerdiener: David Smy Salieris Koch: Joyce Barnaby Antonio Salieri: Esslyn Carmichael Teresa Salieri: Rosa Crawley Johann Kilian von Strack: Victor Lacey Graf Orsini-Rosenberg: James Baker Baron van Swieten: Bill Last Constanze Weber : Kitty Carmichael Wolfgang Amadeus Mozart: Nicholas Bradley Majordomus: Anthony Challis Kaiser Joseph II. von Österreich: Boris Kent Katharina Cavalieri: Sarah Pitt-Keighley Wiener Bürger: Kenny Badel Kevin Latimer Noel Armstrong Alan Hughes Lucy Mitchell Guy Catchpole Phoebe Glover Bühnenbild: Avery Phillips Lichttechnik: Tim Young

Kostüme: Joyce Barnaby

Bühnenmeister: Colin Smy

Regieassistentin: Dierdre Tibbs Regie: Harold Winstanley

Der Vorhang öffnet sich

»Du kannst nun mal keine Kehle durchschneiden, ohne daß Blut fließt.«

»Natürlich nicht, denn genau das erwarten die Leute doch.«

»O Schofield«, murmelte Esslyn geringschätzig, »wie manieriert.«

Die Laienschauspielgruppe Causton Amateur Dramatic Society (CADS) unterbrach die Proben zu Amadeus für eine kleine Pause. Die Produktion stand schon fast. Die Venticel-lis hatten endlich begriffen, wann ihr Einsatz kam, die Kaminwand für Schloß Schönbrunn würde am Wochenende fertig werden, und sogar Constanze schien kurz davor, eine oder zwei ihrer Zeilen auswendig zu können, obwohl sie immer noch nicht so ganz begriffen hatte, in welcher Reihenfolge sie sie aufsagen mußte. Nun war nur noch die blutige Frage zu klären, auf welche Art und Weise sich Salieri am wirkungsvollsten die Kehle durchschneiden könnte. Tim Young, das einzige Mitglied der Truppe, das sich immer noch auf die altmodische Art rasierte, hatte versprochen, an jenem Morgen sein Rasiermesser mitzubringen. Aber bis jetzt war er nicht erschienen.

»Du... ähm... kannst du nicht so ein Ding besorgen, das Blut macht? Ich erinnere mich, beim RSC...«

»Aber sicher kann man so ein Ding besorgen, Dierdre«, entgegnete Harold Winstanley eingeschnappt. (Er reagierte stets ein wenig schroff, wenn jemand in seiner Gegenwart die RSC erwähnte.) »Ich bezweifle, daß hier viele Leute anwesend sind, denen die Tatsache nicht bewußt ist, daß man so ein Ding bekommen kann. Es ist nur so, daß ich mich bemühe, ein klein wenig erfinderisch zu sein... und versuche, von der eingefahrenen Routine abzuweichen. Comprenez?« Er ließ seinen Blick über die versammelte Truppe gleiten, um Bewunderung dafür zu erheischen, daß sein Gesicht trotz dieser sichtlich geistlosen Frage den Ausdruck übermenschlicher Geduld beibehalten hatte. »Und da wir gerade von Routine sprechen, wird es nicht langsam Zeit für den Kaffee?«

»Oh, ja, gewiß, Entschuldigung.« Dierdre Tibbs, die auf der Bühne saß und in einer fast mädchenhaften Weise ihre kordbekleideten Knie umschlungen hielt, stand auf.

»Na, mach schon, los.«

»Wenn du glaubst, Schofield wäre manieriert«, bemerkte Donald Everard und nahm damit Esslyns verächtliche Äußerung auf, »wie steht es dann mit Simon Callow?«

»Mit Simon Callow?« echote sein Zwillingsbruder.

Dierdre ließ sie erleichtert allein ihre schmutzige Wäsche weiterwaschen und lief durch den Gang zum Vereinsraum. Dierdre war offiziell Regieassistentin. In einigen Dutzenden früherer Produktionen war sie das Mädchen für alles gewesen, bis sie sich vor ein paar Wochen mit süßem Martini Mut angetrunken hatte, um dann voller Schüchternheit das Komitee der CADS um eine Beförderung zu bitten. Zu ihrer Freude hatten sie zu ihren Gunsten entschieden, wenn auch nicht ohne Gegenstimmen. Aber die Freude währte nur kurz, denn es sah so aus, als sei ihre Rolle, zumindest was den derzeitigen Stand des Stückes am Latimer anging, um nichts besser als bei vorangegangenen Produktionen, denn Harold ließ über Fragen der Regie keine Diskussion aufkommen (jedenfalls waren das seine Worte), und ihre wenigen vorsichtigen Anmerkungen wurden ignoriert oder einfach in den Boden gestampft.

Im Clubraum nahm sie die Kaffeebecher von den Haken und stellte sie sehr sorgsam auf das Tablett, damit sie nicht gegeneinanderschlugen, drehte den Wasserhahn auf und füllte den Kessel. Harold, der sich selbst ohne Umschweife als wahres Ideenbündel bezeichnete, haßte es, wenn auch nur das kleinste Geräusch seinen kreativen Gedankenfluß störte.

Als Regisseur, mußte Dierdre traurig gestehen, konnte er sich dieses Gehabe auch durchaus leisten. Vor zwanzig Jahren hatte er in Filey gespielt, eine Sommerspielzeit in Minehead produziert und war in einer erstklassigen Tournee (mit der originalen Westendbesetzung) von Das Spinnennetz aufgetreten. Gegen diese Erfahrung konnte man nicht ohne weiteres ankommen. Ein oder zwei von ihnen hatten es natürlich versucht. Besonders Neuzugänge, die noch einen eigenen Kopf hatten und bemüht waren, sich in der Hackordnung zu behaupten. Nicht, daß es viele davon gegeben hätte. Die CADS war extrem kleinlich, was die Auswahl ihrer Mitglieder anging. Nicholas, der den Mozart spielte und finster auf das Ergebnis seines Vorsprechens an der Central School of Speech and Drama wartete, beschwerte sich manchmal. Esslyn nie. Er hörte aufmerksam jedem Wort von Harold zu, um dann ganz unspektakulär doch seinen eigenen Weg zu gehen. Harold tröstete sich für eine derartige Impertinenz, indem er jeden anderen fast zu Tode kommandierte.

Dierdre löffelte billigen Pulverkaffee und Milchpulver in die Becher und goß das kochende Wasser auf. Ein oder zwei kleine weiße Klümpchen schnellten an die Oberfläche, und sie drückte sie nervös mit dem Ende eines Löffels wieder nach unten, wobei sie sich gleichzeitig daran zu erinnern versuchte, wer noch gleich seinen Kaffee mit Zucker trank und wer ihn auch ohne solchen schon süß genug fand. Am besten, ich nehme die Packung mit und frage nach. Vorsichtig lief sie durch den Korridor, dabei das schwere Tablett balancierend. Esslyn ging gerade auf Ian McKellen los.

»Also, gegen jedes bessere Wissen habe ich mir erlaubt, mich allein durch diese Plackerei zu schleppen. Von Anfang bis Ende nichts als Angeberei.«

»Aber«, erwiderte Nicholas mit unschuldig geweiteten grauen Augen, »ich dachte, das ist es gerade, worum es beim Schauspielen geht.«

Die Everards versprühten ihren giftigen Speichel gegen den zweiten Hauptdarsteller der Truppe und schrien: »Aber ich weiß genau, was Esslyn meint!«

»Ich auch. McKellen hat mich immer eiskalt gelassen.«

Dierdre warf ihre Frage nach dem Zucker ein.

»Himmel, das solltest du aber inzwischen wirklich wissen, Püppchen«, sagte Rosa Crawley. »Nur ein morceau für mich.« Sie brachte die Worte mit einer heiseren Stimme hervor. Rosa spielte Frau Salieri und hatte vorher noch nie eine derart bescheidene Rolle gehabt, aber in Amadeus war es die einzige Rolle für eine reifere Frau. Wäre sie doch augenscheinlich nie auf die Idee gekommen, eine Bedienstete oder eine ältere Bürgerin zu spielen. »Du hast uns doch bei so vielen Proben versorgt«, fuhr sie fort, »ich weiß gar nicht, wie du das immer geschafft hast.« Von allen Seiten brach halbherziges Lob über Dierdre herein, und Rosa unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sie wußte, daß Großzügigkeit gegenüber weniger bekannten Schauspielern und dem Bühnenpersonal jeden großen Star auszeichnete. Sie wünschte bloß, Dierdre wäre empfänglicher dafür gewesen. Mit einem strahlenden Lächeln nahm Rosa ihren angeschlagenen Kaffeebecher entgegen. »Vielen Dank, mein Schatz.«

Dierdre öffnete als Reaktion darauf ein wenig die Lippen. Im stillen dachte sie sich: Also wirklich, bei einer Taille wie ein Wal ist selbst ein morceau zuviel. Als wollte Rosa Dierdre noch mehr verärgern, trug sie zu allem Überfluß den langen Pelzmantel, den Dierdre bei Oxfam für Der Kirschgarten gekauft hatte. Nach der Party zur letzten Aufführung hatte er das Fest verlassen und die Garderobe ihn nie wieder in die Finger bekommen.

»O mein Gott!« Harold starrte in seinen Becher, einen blauglasierten, auf dem mit rotem Nagellack H. W. (DIR) geschrieben stand. »Nicht schon wieder diese ekelhaften Frettchenköttel. Kann denn keiner mal echte Milch mitbringen? Bitte? Oder ist das vielleicht zuviel verlangt?«

Dierdre verteilte die restlichen Becher, reichte den Zucker herum und vermied es dabei, Harold in die Augen zu sehen. Wenn echte Milch gefragt war, dann sollte sie doch jemand besorgen, der ein Auto hatte. Sie hatte schon mehr als genug Zeug zu schleppen.

»Mir ist bei dem Gedanken an ein Rasiermesser überhaupt nicht wohl«, gestand Mozarts Constanze und kam damit auf den Ausgangspunkt zurück. »Ich möchte ohne Vater kein Kind kriegen.« Sie lächelte dämlich in ihren Kaffeebecher und verzog das Gesicht, ehe sie sich an die Knie ihres Ehemannes lehnte. Esslyn lächelte und sah sich in der Runde um, als wollte er sich für die Dummheit seiner Frau entschuldigen. Dann fuhr er ihr mit dem Nagel seines Zeigefingers über den Hals und murmelte: »Eine biologische Unmöglichkeit, nicht wahr?«

»Bei dem vielen Blut dürfte es noch ein Problem geben«, warf Joyce Barnaby ein, die Kostümbildnerin und Fundusbewahrerin, Hüterin der kaiserlichen Kuchen und Hintergrundsängerin, »nämlich Esslyns Hemd bis zum nächsten Abend zu waschen und zu bügeln. Ich hoffe, wir werden mehrere Hemden haben.«

»Molto costoso, mein Liebling«, rief Harold. »Ihr scheint alle zu glauben, ich sei aus Geld gemacht. Die Leihgebühren für die Kostüme der Hauptdarsteller kosten ohnehin schon ein Vermögen. Schön und gut, Peter Shaffer kann es sich leisten, zehn Dienstboten in Kostümen des achtzehnten Jahrhunderts zu fordern...«

Joyce saß vollkommen ruhig auf ihrem Stuhl, nahm Katharina Cavalieris mit Tressen besetztes Kleid zur Hand und fuhr damit fort, den Saum umzunähen. Schließlich drehte Harold bei jeder Produktion wenigstens einmal während der Proben durch, weil er glaubte, sie würden zuviel ausgeben, aber dann, wenn irgend etwas wirklich dringend gebraucht wurde, war das Geld doch da. Joyce hatte sich schon mehr als einmal gefragt, ob das Geld aus seiner eigenen Tasche stammte. Er schien kein reicher Mann zu sein (er besaß nur ein bescheidenes Import-Export-Unternehmen), aber er gab sich vollends dem Theater hin, hatte sich ihm von ganzem Herzen und mit Körper, Geist und Seele verschrieben, so daß keiner von ihnen sonderlich überrascht gewesen wäre, wenn er den ganzen Gewinn aus seinem Geschäft in das Theaterprojekt investiert hätte.

»Ich beneide Sarah nicht um das schwere Kleid«, meinte Rosa mit ihrer heiseren Stimme zu Joyce. »Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Ranjewskaja...«

»Ist meine Polsterung bald fertig, Joyce?« unterbrach sie die zweite Frau Carmichael und erhielt viele dankbare Blicke für diesen Einwurf. Jedesmal, wenn Rosa mit Ranjewskaja anfing, hätten sich alle am liebsten versteckt. Oder mit ihrer Frau Alving. Oder, wenn gar nichts mehr half, mit ihrer Fee Carabosse.

»Und die Musik«, fragte Nicholas. »Wann bekommen wir eigentlich die Musik?«

»Sobald ich einen Achtundvierzigstundentag habe«, kam es schneller als ein Peitschenschlag von Harold zurück. »Es sei denn«, fuhr er fort und zwinkerte bei der Absurdität dieses Gedankens mit den Augen, »du willst sie selbst komponieren.«

»In Ordnung.«

»Was?«

»Ich könnte das übernehmen, ich kenne alle seine Stücke. Es ist doch nur eine Frage von...«

»Es ist nicht nur eine Frage von irgend etwas, Nicholas. Der künstlerische Wert eines Regisseurs muß in jedem kleinen Detail seiner Produktion atmen. Wenn du erst einmal damit anfängst, dieses und jenes irgendeinem Tom, Dick oder Harry zu überlassen, die es dann so machen, wie sie es haben wollen, kannst du bald abdanken.« Es war Harolds Bemühen um Ansehen innerhalb der Truppe zu verdanken, daß dieses Verb niemandem in der Truppe unangemessen erschien. »Und dann mache ich mir auch mehr Sorgen um deinen Text als um deine Polsterung, Kitty. Ich möchte, daß du ihn am Dienstag auswendig kannst. Frei und ohne zu stocken. Hast du kapiert?«

»Ich werde es versuchen, Harold.« Kittys Stimme zeichnete sich durch ein leichtes Lispeln aus. Und ihre Ds waren beinahe Ts. Diese niedliche Färbung sowie die zerzausten blonden Locken, die zarte Pfirsichhaut und der übertriebene Schwung ihrer Oberlippe schufen eine Art kindlichen Charme, der so anziehend wirkte, daß die Leute kaum bemerkten, in welchem Gegensatz all das zu dem harten Glanz in ihren azurblauen Augen stand. Wenn sie sprach, hob und senkte sich ihr köstlicher Busen eine Spur schneller, ganz so, als signalisierte sie damit, daß sie mehr denn je gefallen wolle.

Harold sah sie streng an. Es war ihm schon immer ein komplettes Rätsel gewesen, wie jemand, der zur CADS gehörte, sich nicht in jedem wachen Moment seines Lebens um das kümmerte, was in der laufenden Produktion vor sich ging. Indem man rund um die Uhr im Theater anwesend war und auch während der Zeiten seiner Abwesenheit an nichts anderes als an das Stück dachte. Avery hatte einmal völlig zutreffend festgestellt, daß ihnen Harold, wenn es in seiner Macht stünde, sogar befehlen würde, vom Latimer zu träumen. Und ausgerechnet Kitty, sagte sich Harold jetzt, hatte die meiste Zeit von allen. Er fragte sich, womit sie sich wohl den ganzen Tag lang beschäftigte, und bemerkte dann, daß er sich diese Frage wohl laut gestellt hatte. Kitty senkte jedenfalls beschämt die Augen, so als enthielte die Bemerkung etwas Anzügliches.

Dierdre begann, die Becher einzusammeln. In einigen befand sich zwar noch etwas Kaffee, aber niemand bestand hier auf eine volle Ration. Als sie Kittys Becher an sich nahm, sah sie woandershin, denn Esslyn hatte inzwischen aufgehört, den Hals seiner Frau zu liebkosen, statt dessen seine Finger in den Ausschnitt ihrer Bluse geschoben und fummelte beinahe geistesabwesend an ihr herum. Rosa Crawley entging diese gefühllose Geste ihres Ex-Ehemannes nicht, und sie wurde rot, ein häßliches Puterrot. Harold, der wie immer die Dramen, die sich hinter der Bühne abspielten, nicht wahrnahm, rief seinem Lichttechniker zu: »Wo zum Teufel ist Tim?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das solltest du aber wissen. Du lebst schließlich mit ihm zusammen.«

»Das Zusammenleben mit jemandem«, entgegnete Avery, »verleiht einem keine parapsychischen Kräfte. Als ich weggegangen bin, hat er sich gerade um die Bestellung von Faber gekümmert und gesagt, er bräuchte bloß noch eine halbe Stunde. Daher bin ich genauso schlau wie du.« Obwohl Averys Stimme fest klang, nagten panische Ängste an ihm. Es war ihm eine schier unerträgliche Vorstellung, nicht zu wissen, wo Tim war, was er tat und mit wem er es tat. Jede Sekunde, die er mit einem Mangel an diesen lebensnotwendigen Informationen verbringen mußte, kam ihm wie ein Jahr vor. »Und erwarte bloß nicht von mir, daß ich länger bleibe«, fügte er hinzu. »Ich habe eine Daube im Ofen.«

»Daubes müssen lange köcheln«, erwähnte die Garderobiere. Glücklicherweise war Tom Barnaby nicht anwesend, denn sonst hätte er sich sehr über die Art gewundert, in der sich seine Frau, deren kulinarische Katastrophen von Mal zu Mal schlimmer wurden, mit einem Mann auf eine Stufe stellte, dessen Kochkünste legendär waren. Sämtliche Mitglieder der CADS hatten sich schon auf jede erdenkliche Weise darum bemüht, von Avery eine Einladung zum Essen zu ergattern. Jene, die erfolgreich gewesen waren, hatten in den nächsten Wochen an ihren bescheidenen Tischen gesessen und ihren Triumph immer wieder erneuert, indem sie in kleinen Mengen, immer nur krümelweise, damit sie lange davon zehren konnten, gastronomische Erinnerungen preisgaben.

Jetzt erwiderte Avery spitz: »Auch nach langem Köcheln muß ein Gericht genau zum richtigen Zeitpunkt abgestellt werden, Joyce, mein Liebling. Der Grad zwischen einem wunderbaren, in sich harmonischen Eintopf, bei dem jede einzelne Zutat zwar immer noch für sich steht, aber auch in einer perfekten Beziehung zu dem Ganzen, und einem einzigen Reinfall, ist tatsächlich sehr schmal.«

»Ein bißchen wie bei einer Theaterproduktion«, sinnierte Nicholas und bedachte seinen Regisseur mit einem gewinnenden Lächeln, das jede Autorität untergrub. Das Lächeln entging Harold nicht, aber da er den subversiven Gehalt darin übersah, nickte er gespreizt.

»Gut...« Colin Smy stand auf und nahm eine gewichtige Haltung ein, so als wollte er damit sowohl seine Bedeutung als auch den Unterschied zwischen ihm und den übrigen Darstellern herausstreichen. »Einige von uns haben zu arbeiten.« Er rückte seine Banderilla zurecht und ließ der Truppe Zeit, seine Worte in vollem Umfang zu verdauen. Er stand stämmig auf seinen leicht gebogenen Beinen, die in Jeans steckten, trug ein kariertes Hemd und hatte krauses, drahtiges Haar, das sehr kurz geschnitten war. Hier und da stand es in Büscheln ab, die, in Verbindung mit einer großen Portion geballter Energie, den Eindruck hinterließen, man hätte es, wie jemand mal gesagt hatte, mit einem scharfen Foxterrier zu tun. Jetzt verschwand er in der Kulisse und rief pointiert über seine Schulter zurück: »Wenn ihr mich sucht, könnt ihr mich in der Werkstatt finden. Da ist einiges los, falls es jemanden interessiert.«

Es schien jedoch niemanden zu interessieren, und das Hämmern, das kurz darauf nicht zu überhören war, blieb betrüblicherweise unbeachtet. Über ihren Köpfen drehte Dierdre das heiße Wasser auf, schrubbte die Kaffeetassen und knallte sie dabei verärgert gegeneinander, so daß noch ein paar Bröckchen mehr von ihnen absplitterten. Keiner von den anderen hatte sich jemals blicken lassen, um ihr zu helfen, außer David Smy, der des öfteren im Vereinsraum wartete, um seinen Vater abzuholen und ihn nach Hause zu fahren. Dierdre wußte, daß dieses Los ihre eigene Schuld war, weil sie nicht schon längst energisch durchgegriffen hatte, was sie nur noch wütender machte.

»Also gut, ich denke, "Wir sollten Tim noch weitere fünf Minuten geben«, schlug Kaiser Joseph vor, der im Parkett thronte, »und dann weitermachen.«

»Das sieht dir ganz ähnlich«, antwortete Esslyn, »aber ich habe keine Lust weiterzumachen, solange die praktischen Probleme nicht gelöst sind. Natürlich könnte ich auch sagen, diese Dinge hätten alle bis zur letzten Sekunde Zeit...«

»Wohl kaum bis zur letzten Sekunde«, warf Rosa ein.

»...aber ich bin es nun einmal, der dort draußen vor den vollen Rängen steht.« (Jeder scheint hier zu glauben, wir würden im Barbicane-Theater auftreten, dachte Nicholas bei sich.) »Eine Rolle von diesem Umfang ist weiß Gott schon schrecklich genug.« (Weshalb hast du sie dann angenommen?) »Aber Salieris Selbstmord ist nun mal der Höhepunkt des Stücks. Wir müssen es nicht nur richtig hinkriegen, sondern eine geradezu brillante Darbietung liefern.«

Nicholas, der stets Mozarts Tod für den Höhepunkt des Stücks gehalten hatte, meinte: »Warum nimmst du nicht einen elektrischen Rasierer?«

»Um Himmels willen! Wenn das die Art ist...«

»Schon gut, Esslyn, reg dich ab«, beruhigte Harold seinen verärgerten Star. »Also, ehrlich, Nicholas...«

»Entschuldige.« Nicholas grinste. »Entschuldige, Esslyn, das sollte bloß ein Witz sein.«

»Totgeboren, Nico«, entgegnete Esslyn hochmütig. »Wie alle deine Witze. Um gar nicht erst davon zu reden...« Er vergrub seine Lippen in den goldenen Locken, die sich sanft um Kittys Hals rankten, und der Rest des Satzes ging verloren. Trotzdem ahnte jeder, was er vielleicht gesagt haben könnte...

Nicholas wurde weiß. Einige Momente lang erwiderte er nichts, doch dann begann er, wobei er mit einer übertrieben ruhigen Stimme sprach und dabei jedes seiner Worte mit Sorgfalt wählte: »Es sieht vielleicht nicht ganz so aus, aber auch mir bereitet dieses Problem Sorgen. Denn schließlich kann es gut sein, daß die ganze Geschichte am Ende unheimlich stümperhaft wirkt, wenn Esslyn nicht genug Zeit hat, um zu lernen, wie er mit der entscheidenden Requisite umzugehen hat.« Darauf folgte ein Crescendo von beifälligem Murmeln und angehaltenem Atem. Harold stand auf und fixierte seinen Mozart mit Kaninchenaugen.

»Dieses Wort wirst du nie wieder in meiner Gegenwart benutzen, Nicholas... ist das klar? In meinen Produktionen wird es niemals etwas Stümperhaftes geben.«

In dieser kühnen Zurückweisung des Adjektivs sprang Harold ein wenig gar zu ökonomisch mit der Wahrheit um. Die gesamte Truppe war stolz auf das, was als ihr professioneller Standard angesehen wurde, aber sowie auch nur ein Hauch ablehnender Kritik zu hören war, waren sie nur noch Amateure, von denen die meisten Vollzeitarbeitsplätze hatten, weshalb es wirklich ein Wunder war, daß jeder noch die Zeit fand, überhaupt seinen Text zu lernen, bloß um ein Stück auf die Beine zu stellen. Wieder war aus Nicholas’ Gesicht alle Farbe gewichen, und er schien sich seiner Grobheit zu schämen. Aber ehe er auch nur den Mund öffnen konnte, um den Fauxpas bei seinem Publikum wiedergutzumachen, ging die Tür auf, und Tim Young erschien. Er kam in einem dunklen Crombie-Überzieher und einem Borsalino rasch auf sie zu, ein großer Mann, der ein kleines Päckchen in der Hand trug.

»Entschuldigung, ich bin spät dran.«

»Wo bist du denn gewesen?«

»Der Papierkram schien ewig zu dauern... und dann hat auch noch das Telefon geklingelt. Du weißt ja, wie das ist.«

Tim verteilte seine Antwort mehr über die ganze Gruppe, als daß er sie direkt an Avery gerichtet hätte, der daraufhin fragte: »Wer hat angerufen?«

Tim schlüpfte aus seinem Überzieher und begann, das Päckchen zu öffnen. Jeder sah zu. Es war sehr sorgfältig verpackt. Zwei Lagen dünnes braunes Papier, dann zwei aus weichem Tuch. Schließlich wurde das Rasiermesser sichtbar. Tim klappte die Klinge auf und legte das Messer quer über seine Handfläche.

Es war ein wunderschönes Messer. Der Griff war ein eleganter Bogen aus Elfenbein, in den mit goldenen Lettern eingraviert war: E.V. Bayars, Master Cutler. (C.A.P.S.) Um diese Inschrift herum wand sich ein Kranz aus Akanthusblättern mit winzigen Blüten, die in Perlmutt eingelegt waren. Die andere Seite war bis auf drei kleine Nieten glatt. Die Klinge, deren Schneide tödlich scharf gewetzt war, blinkte und glänzte.

Esslyn, dem jetzt aufging, warum Tim das Messer mitgebracht hatte, sagte: »Sieht aber ganz schön scharf aus.«

»Das muß es auch«, rief Harold. »Die dramaturgische Wahrhaftigkeit ist von allergrößter Bedeutung.«

»Absolut«, sekundierte Rosa, etwas gar zu schnell, wie einige dachten.

»Ich gebe einen Koboldfurz auf eure dramaturgische Wahrhaftigkeit«, entfuhr es Esslyn, dann streckte er die Hand aus und nahm die Klinge mit spitzen Fingern. »Wenn ihr glaubt, ich lasse diese Klinge näher als zehn Zentimeter an meinen Hals heran, dann liegt ihr aber falsch.«

»Hast du eigentlich jemals etwas vom Herz eines Mimen gehört?« fragte Harold.

»Ja, ich habe vom Herz eines Mimen gehört«, antwortete Esslyn, »aber auch von Herzen der Marke Jack the Ripper, von Sweeney Todd und vom Tod durch einen schrecklichen Unfall.«

»Ich werde mir bis zur nächsten Probe etwas einfallen lassen«, kündigte Harold zuversichtlich an. »Hab keine Angst. Pack es jetzt erst mal wieder ein, Tim. Ich möchte gern mit Akt zwei weitermachen. Dierdre?« Pause. »Wo steckt die denn nun schon wieder?«

»Ich glaube, sie spült«, sagte Rosa.

»Himmelherrgott noch mal. Ich könnte den Abwasch eines Viergängemenüs in einem Zwanzigstel der Zeit erledigen, die sie für ein halbes Dutzend Tassen braucht. Also gut... an die Arbeit. Phoebe, du gehst besser wieder an das Skript.«

Alle verteilten sich daraufhin über die Kulisse und die Garderoben, außer Esslyn, der immer noch gedankenverloren die Klinge musterte. Harold trat an seine Seite. »Pas de problème«, meinte er. »Du mußt dich nur daran gewöhnen, das ist alles. Sieh mal, ich zeige es dir.«

Er nahm das wunderschöne Objekt und schob die Klinge zurück in den Schaft. Plötzlich klappte das Rasiermesser mit einem scharfen Klick zusammen. Harold gab einen kurzen warnenden Zischlaut von sich und Esslyn einen längeren besorgten Laut.

»Sieht nicht so aus, als könnte ich das wesentlich besser als du«, rief Harold und bedachte Esslyn mit einem verkrampften Lächeln. Dann legte er das Messer hin und nahm väterlich den Arm des anderen Mannes.

»Was ist, hast du jemals erlebt, daß ich nicht in der Lage gewesen wäre, ein verzwicktes Produktionsproblem zu lösen? Hm? In all unseren gemeinsamen Jahren?«

Esslyn antwortete mit einem besorgten Blick, der voller Zweifel war. »Glaub mir«, sagte Harold und dehnte jedes seiner Worte, die er alle in gleicher Weise betonte, um die ganze Kraft seiner Überzeugung hineinzulegen. »Du bist in sicheren Händen. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müßtest.«

Er brachte das mit uneingeschränkter Aufrichtigkeit hervor, aber sein Vertrauen war tragischerweise unangebracht. Die Rädchen griffen nämlich bereits ineinander. Und Pläne waren schon geschmiedet, von denen er zu diesem Zeitpunkt absolut keine Ahnung hatte.

Dramatis Personae

Nicholas lag auf dem Boden seines Zimmers über der Blackbird-Buchhandlung und praktizierte seine Cicely-Berry-Stimmübungen. Das tat er ausnahmslos jeden Morgen und jeden Abend, ganz gleich, wie spät er aufgestanden oder ins Bett gegangen war. Jetzt war er bei den Lippen-und Zungenübungen angelangt, und Ratatat-Töne füllten den Raum. Glücklicherweise hatten seine Nachbarn (Brown, der Begräbnisredner, auf der einen Seite und auf der anderen ein Metzger) es längst aufgegeben, sich über den Lärm zu beklagen.

Nicholas war neunzehn Jahre alt und in einem Dorf zwischen Causton und Slough aufgewachsen. In der Schule hatte man ihn als knapp über dem Durchschnitt eingestuft. Ganz gut im Sport, mäßig im Unterricht und, da er mit einem freundlichen Wesen gesegnet war, auch einigermaßen talentiert darin, sich Freunde zu machen. Als er in der Abschlußklasse anfing, sich vage Gedanken über seine Zukunft in einer Bank oder im Industriemanagement zu machen, geschah etwas, was sein Leben für immer veränderte.

Einer der Texte, die er für seine Abiturprüfung in Englisch lesen mußte, war der Sommernachtstraum. Eine Vorstellung des Stücks, gespielt von der Royal Shakespeare Company, sollte auf dem Gelände der Gesamtschule, die Nicholas besuchte, gegeben werden. Innerhalb von zwei Tagen nach der Bekanntgabe des Termins war die Vorstellung ausverkauft. Einige aus der Abschlußklasse gingen hin, Nicholas allerdings eher aus Neugier als wegen irgend etwas sonst. Er war vorher noch nie im Theater gewesen, und über die Schauspielerei wußte er genausoviel wie über Landwirtschaft, Kohleabbau oder Tiefseefischerei. Es war ihm auch nie bewußt gewesen, daß das ein Handwerk war, das man lernen, kultivieren und ausüben konnte.

Als er am Aufführungsort ankam, schienen sich die Leute zu Hunderten durch die Schule zu schieben, und die Turnhalle war wie verwandelt. Da standen Podeste und Treppen, es gab Tapeziertische, grünen Kunstrasen und sogar einen Metallbaum mit goldenen Äpfeln. Über den Boden verteilt lagen riesige Kissen, die aus Teppichstücken zusammengesetzt worden waren. Fünf Musiker saßen auf einem Sprungpferd. Über ihnen befand sich ein kompliziertes Metallgitter mit Dutzenden von Strahlern. Dann bemerkte Nicholas am anderen Ende der Halle auf einem Podium einen stämmigen Mann in Abendgarderobe mit einem breiten roten Band quer über der Brust, das ein juwelenbesetzter Stern und Orden schmückten. Er unterhielt sich mit einer Dame in einem dunkelgrünen Turnürenkleid, die Diamantohrringe und eine kleine Krone trug. Plötzlich streckte der Mann seinen Arm aus, sie legte ihre behandschuhte Hand auf seinen Unterarm, und gemeinsam schritten beide die Plattform hinab. Die Lichter strahlten weiß und hart, und das Stück begann.

Im selben Moment war Nicholas gebannt. Der Schwung, der Einsatz und die intensive Nähe der Darsteller raubten ihm den Atem. Die leuchtenden Farben der Kostüme, die durch die Schnelligkeit der Bewegungen und den Tanz der Schauspieler flirrten, verwirrten ihn. Er sah sich einem Ansturm mächtiger Gefühle ausgesetzt, die sich jeder Analyse entzogen und rasant wechselten. Noch nie hatte er eine so starke Sympathie für Helena empfunden wie in dem Moment, als er über ihre unverhältnismäßige Wut lachen mußte, und die Szene zwischen Titania und Zettel war so sinnlich, daß er fühlte, wie sein Gesicht glühte.

Er mußte des öfteren den Platz wechseln. Darsteller in roten Roben versammelten sich an einer Stelle, und er stand direkt hinter ihnen, als sei er ein Teil des Hofstaats von Theseus. Dann wurde er zu dem Podest geschoben und beobachtete, wie Zettel von einer jubelnden, kreischenden Menge auf den Schultern zu seiner Hochzeit getragen wurde. Der Eselskopf drehte sich, und als der Mann anfing zu wiehern und einen muskulösen Arm zu einem eindeutig sexuellen Gruß hob, blickten seine gelben Augen ihn an. Aber inmitten dieses scheinbar nicht zu bremsenden herrlichen Taumels aus Tanz und Bewegung, Energie und Rhythmus gab es auch bemerkenswerte Momente der Stille. Oberon und Titania beispielsweise, die sich in ihren flatternden Seidengewändern an Kletterseilen über die Bühne schwangen, kamen einander näher und näher, warfen sich Blicke tiefsten Hasses zu, hielten dann völlig unvorhersehbar inne und tauschten einen ironisch keuschen Kuß aus. Oder Priamos’ Trauer über Thisbes Tod wurde einfach, aber mit solch einer herzzerreißenden Intensität ausgedrückt, daß der gesamte Hofstaat und das Publikum plötzlich in ein allumfassendes Schweigen versanken.

Und dann die Hochzeitsfeier. Nach einem großen Fanfarenchor warfen der Hofstaat und die Diener Plastikgläser in das Publikum und rannten dann mit Karaffen umher, um die Gläser zu füllen. Alle tranken auf Theseus und Hippolyta. Ballons und Luftschlangen kamen vom Schnürboden geflogen. Elfen und Menschen tanzten miteinander, und die Halle wurde zu einer wirbelnden Masse aus Farbe, Licht und melodiösen Klängen.

Nicholas kletterte auf eine Treppe und blieb stehen, um alles zu beobachten. Seine Kehle war trocken vor Erregung und wie zugeschnürt, und dann, als hätte es Mitternacht geschlagen, hörte plötzlich jede Bewegung auf, und Nicholas bemerkte, daß Puck neben ihm stand. So dicht bei ihm, daß ihre Arme einander berührten. Der Schauspieler sagte: »Wenn wir Schatten euch beleidigt haben...«

Dann wurde Nicholas auf einmal klar, daß es zu einem Ende kommen würde. Daß diese glanzvolle goldene Vision kurz davor war, zu verschwinden und zu sterben... »Wollt ihr diesen Kindertand, der wie leere Träume schwand.« Und er befürchtete, das Herz würde ihm brechen. Puck sprach weiter. Nicholas studierte sein Profil. Er konnte die dynamische Spannung dieses Mannes förmlich spüren. Er bemerkte sie in der kampflustigen Härte des Kiefers, und der zuckende Mund versprühte einen kleinen silbernen Speichelregen, als er die abschließenden Zeilen deklamierte. Und dann, bei dem »Das Spiel zu enden, begrüßt uns mit gewog’nen Händen«, streckte er den linken Arm in einer unglaublich gütigen Geste dem Publikum entgegen, während er die Rechte Nicholas reichte und seine Hand ergriff. Für die Zeit, in der es keine weitere Zeile mehr zu rezitieren gab, standen sie zusammen da, der Schauspieler und der Junge, dessen Leben nie wieder so sein sollte wie zuvor. Dann war es vorbei.

Nicholas setzte sich, während der Applaus nicht enden wollte. Als die Truppe schließlich abtrat und das Publikum sich zerstreute, kam er wieder zu sich und bemerkte, wie er sein Glas in der Benommenheit leidenschaftlicher Gefühle umklammert hielt. Dann räumte einer der Bühnenarbeiter die Treppe fort. Nicholas trank den letzten Rest Johannisbeersaft aus seinem Glas, und sein Blick fiel auf eine rote Luftschlange und eine rosafarbene Papierrose auf dem Boden. Er hob sie auf und steckte sie vorsichtig in die Tasche. Der Schnürboden wurde abgesenkt, und er hatte das Gefühl, im Weg zu stehen. Daher zwang er sich, obwohl er um alles in der Welt dableiben wollte, den Schauplatz zu verlassen.

Draußen auf der Straße standen zwei große Möbelwagen. Jemand lud den Metallbaum mit den goldenen Äpfeln ein. Einige der Schauspieler erschienen. Sie gingen die Straße hinunter, und Nicholas folgte ihnen, weil er wußte, daß es nicht in Frage kam, jetzt schon brav nach Hause zu gehen. Die Gruppe ging in eine Bar. Er zögerte eine Weile vor der Tür, schlüpfte dann hinein und blieb als in sich versunkener Beobachter der Szene hinter dem Zigarettenautomaten stehen.

Die Schauspieler hatten ein paar Meter von ihm entfernt einen Kreis gebildet. Sie waren alles andere als elegant gekleidet, trugen Jeans, schäbige Jacken und Pullover. Sie tranken Bier, sprachen oder lachten nicht zu laut, gaben nicht an, und trotzdem ging etwas von ihnen aus... Sie waren ganz einfach anders. Sie zeichneten sich durch etwas Subtiles aus, was Nicholas nicht definieren konnte. Er sah Droll, einen Mann mittleren Alters in einer alten schwarzen Lederjacke und einer Denimschirmmütze, wie er rauchte und lächelnd den Qualm fortwedelte.

Nicholas beobachtete sie mit einer Sehnsucht, die so stark war, daß er Kopfschmerzen davon bekam. Er wünschte sich verzweifelt, ihrer Unterhaltung folgen zu können, und er war kurz davor, sich näher an sie heranzuschleichen, als sich die Tür hinter ihm öffnete und zwei Lehrer eintraten. Sofort schlüpfte er hinter ihrem Rücken auf die Straße hinaus.

Abgesehen von dem Gefühl, daß er es nicht hätte ertragen können, so schnell wieder in die Banalität alltäglicher Konversation zurückgestoßen zu werden, meinte Nicholas, daß auch er durch diese gerade gemachte begeisternde Erfahrung in irgendeiner Weise körperlich gezeichnet sein müßte. Und er befürchtete, daß das, was er fühlte, unbeholfen und unsensibel hinterfragt werden könnte.

Als er nach Hause kam, waren glücklicherweise schon alle zu Bett gegangen. Er betrachtete sich in dem Spiegel, der in der Küche hing, und über die Unsichtbarkeit seiner Veränderung war er gleichermaßen überrascht und enttäuscht. Sein Gesicht war blaß, und seine Augen schimmerten, aber abgesehen davon sah er genauso aus wie immer.

Dennoch: Er war nicht mehr derselbe. Er setzte sich an den Tisch und kramte das Glas, die Blume, die Luftschlange und die Gratisbesetzungsliste hervor. Er glättete das Papier und ging von oben bis unten die Liste der Darsteller durch. Droll wurde von Roy Smith gespielt. Nicholas malte behutsam einen Kreis um den Namen, dann spülte er sein Glas und trocknete es ab, stellte die Rose hinein, legte das Papier und die Luftschlange dazu und ging in sein Zimmer. Er lag auf seinem Bett und erlebte jeden Moment des Abends immer wieder von neuem, bis der Morgen graute. Am nächsten Tag ging er in die Bücherei und erkundigte sich, ob es im Ort eine Schauspielgruppe gab. So kam er an die Adresse vom Latimer. Er ging noch am selben Abend in das Theater und erklärte dort, er wolle Schauspieler werden, und er wurde sofort engagiert, um den Requisiteuren bei Französisch ohne Tränen zu helfen.

Nicholas entdeckte schnell, daß es solche Theater und solche Theater gab, und er betrachtete es philosophisch. Er mußte sehr viel (wenn nicht alles) lernen, und er mußte irgendwo damit anfangen. Es tat ihm leid, daß außer Dierdre keiner von der CADS den Traum gesehen hatte. Nicholas spürte allerdings auch sehr schnell, daß der Versuch, die Wirkung zu beschreiben, die das Stück auf ihn gehabt hatte, mißverstanden wurde. So bastelte er Requisiten zusammen oder lieh sie aus, war überall dabei und machte sich so nützlich, daß er immer wieder engagiert wurde. Für das nächste Stück, Einmal im Leben, stand er schon auf der Besetzungsliste. Den ersten Versuch zu soufflieren verpfuschte er zwar und zog sich damit Esslyns Zorn und Harolds müde Verachtung zu, aber er nahm das Stück mit nach Hause und las es wieder und wieder, nahm den schnellen Rhythmus auf, erarbeitete sich den Sinn der Pausen, machte sich mit Abgängen und Auftritten vertraut und wurde wesentlich besser. Bei Das kleine Teehaus half er, das Bühnenbild zu bauen, und Tim brachte ihm die Grundbegriffe des Lichtsetzens bei, teilte mit ihm die Kabine und klopfte ihm ab und an wie geistesabwesend auf den Po. Er sorgte für die Toneffekte und die Musik zu Die Schneekönigin, und in Hexenjagd hatte er endlich seine erste Sprechrolle.

Nicholas lernte seine wenigen Zeilen rasch, war stets als erster Schauspieler bei den Proben und ging als letzter. Er kaufte sich einen billigen Kassettenrecorder und feilte an einem amerikanischen Akzent, wobei er die belustigten Blicke, die einige der anderen Schauspieler miteinander austauschten, ignorierte. Er erstellte eine ganze Geschichte für seine Rolle, hörte zu und reagierte mit gespannter Konzentration auf alles, was um ihn herum auf der Bühne vor sich ging. Lange vor der Premiere konnte er schon an nichts anderes mehr denken. Als es dann soweit war und er in der überfüllten Garderobe mit zittrigen Händen zuviel Make-up auflegte, wurde ihm auf einmal bewußt, daß er seine Zeilen vergessen hatte. Verzweifelt suchte er das Buch, kritzelte seine Sätze auf ein Blatt Papier und steckte es in den Bund seiner handgesponnenen Hose. Während er in den Kulissen wartete, überkam ihn auf einmal ein Anfall von Übelkeit, und er übergab sich neben dem Feuerlöscher.

Als er schließlich auf die Bühne trat, traf ihn das Entsetzen mit der Kraft eines Orkans - Reihen von Gesichtern verschwammen in seinem Blickfeld. Er blickte noch einmal hin und dann wieder fort. Er sprach seine erste Zeile. Die Strahler brannten, aber ihm war durch das Hochgefühl und die Aufregung zugleich eher kühl, und als eine Zeile nach der anderen bis zur letzten, so, wie er sie brauchte, in sein Gedächtnis zurücksprangen, machte er zum ersten Mal die Erfahrung dieses seltsamen doppelten Bodens, der einen Schauspieler immer in der Realität hält. Ein Teil von ihm glaubte sich in Proctors Küche in Salem, mit den eisernen Töpfen und Pfannen, den armseligen Möbeln und den verängstigten Menschen, ein anderer Teil von ihm war sich aber auch dessen bewußt, daß ein Hocker an den falschen Platz gerückt worden war und John Proctor immer noch so vor seiner Frau stand, daß niemand sie sehen konnte, und daß Mary Warren ihre Kappe vergessen hatte. Hinterher im Vereinsraum machte er die Erfahrung warmherziger, enger Kameradschaft (»Das Spiel zu enden, begrüßt uns mit gewog’nen Händen«), die vorübergehend jedes derzeitige Mögen oder Nichtmögen innerhalb der Gruppe zu überwinden schien.

In der Pantomime spielte er die hinteren Beine eines Pferdes, und dann wurde ihm die Rolle des Danny in Die Nacht muß kommen angeboten. Die Proben begannen sechs Wochen vor seinem Abitur, und er wußte, daß er durch die Prüfung fallen würde. Das ewige Gemurre, das seit Monaten bei ihm zu Hause herrschte, weil er soviel Zeit im Latimer verbrachte, entlud sich in einem heftigen Streit, und er ging fort. Fast gleichzeitig bot Avery ihm das kleine Zimmer über der Blackbird-Buchhandlung an. Es kostete ihn keine Miete; statt dessen wischte er jeden Morgen im Laden Staub und putzte einmal pro Woche Averys Haus.

Nun wohnte er schon seit fast einem Jahr hier und lebte (manchmal vorzüglich) von Averys Resten, meistens von gebackenen Bohnen aus der Dose, die er vom Supermarkt, in dem er arbeitete, mitbrachte. Fast sein gesamter Lohn ging für Stimmbildungs-und Bewegungslehrgänge drauf - er hatte einen hervorragenden Lehrer in Slough entdeckt - und für Theaterkarten. Einmal pro Monat fuhr er per Anhalter nach London, um sich ein Stück anzusehen, weil er hoffte, seinen Akku durch gelegentliche Injektionen von dem, was er für das Wahre hielt, aufzuladen. (Nach einer außerordentlichen Vorstellung von Die lustigen Weiber von Windsor im Barbican, entschloß er sich, epikuräische Rede für seinen Vor-sprechtermin zu lernen.)

Er wußte immer noch nicht, ob er gut war. Brenda Leggat, die erste Cousine der Smys, schrieb in einer lokalen Zeitung über die Produktionen der CADS, und ihre Erkenntnisse waren genauso originell wie ihre Prosa. Jede Komödie war spritzig, jede Tragödie herzergreifend. Und Vorstellungen, die wirklich mal nicht in dieses Raster paßten, waren dann zumindest eine Mischung aus allem, was wir von einem Schauspieler/einer Schauspielerin/einer Soubrette/der Naiven/der gesamten Getränkebar erwarten dürfen. Auch die Gruppe durchschaute Nicholas bald gut genug, um zu wissen, daß jede direkte Frage zu seinen Auftritten entweder mit einlullenden Bemerkungen oder übersprudelnden Bestätigungen beantwortet wurde. Im Vereinsraum wurde viel über abwesende Freunde gesprochen, aber es war fast unmöglich für einen Darsteller, eine ehrliche Meinung ins Gesicht gesagt zu bekommen. Jeder außer Esslyn und den Everards (und natürlich Harold) erklärte Nicholas, er sei wunderbar. Harold lobte ohnehin sehr selten (er bemühte sich, sie alle an der kurzen Leine zu halten), und wenn, dann nur zu den Premierenabenden, an denen er sich wie ein Broadway-Impresario aufführte, sich hysterisch gab, jeden küßte, Blumen verteilte und sich sogar eine theatralische Träne abrang.

Nicholas beendete seine Übungen, dehnte und streckte sich, atmete einige Male tief durch, zog sich aus, putzte die Zähne, stieg ins Bett und versank sofort in einen tiefen Schlaf.

Er träumte von der Premiere von Amadeus, und er stand, ganz in Schwarz gekleidet, mit gekräuselten Trikothosen und einem Totenschädel unter dem Arm, in den Kulissen, weil er die Rolle des Hamlet gelernt hatte.

Rosa Crawleys Ehemann war aufgeblieben. Er hatte den Abend mit einigen befreundeten Rotariern und ihren knitterfreien Ehegattinnen im Caps and Bells verbracht. Er versuchte stets, vor seiner Frau nach Hause zu kommen, nicht nur, weil sie es haßte, das Haus leer vorzufinden, sondern vor allem, weil er sich darauf freute, die Fortsetzung der Saga vom Theatervolk zu hören, mit der sie fast in derselben Minute begann, in der sie zur Tür hereinkam. Sie begleitete ihn natürlich nie in einen Pub, und Ernest sonnte sich ein bißchen in ihrer Abwesenheit, weil er wußte, daß seine Kameraden erkannt hatten, wieviel exquisite Interessen seine Frau zu bieten hatte.

Heute abend war er nur wenige Minuten vor ihr nach Haus gekommen und hatte sich gerade seinen Kakao gemacht, als sie kam. Ernest schüttelte die Sofakissen auf, goß einen doppelten Scotch mit Eis ein, damit sich seine Frau entspannen konnte, und lehnte sich mit seinem eigenen Getränk in der Hand zurück, wobei sein Gesicht vor Erwartung leuchtete.

Rosa nippte an ihrem Whisky und beobachtete Ernest ein wenig neidisch dabei, wie er die gekräuselte Haut auf seinem dampfenden Kakao zur Seite schob. Manchmal, besonders an Abenden wie diesem, hätte sie eine Tasse Kakao vorgezogen, aber sie hatte das Gefühl, das wäre bestimmt (abgesehen von Slippery Elm Food) das gewöhnlichste Getränk auf der ganzen Welt. Wenn sie eines Abends damit anfangen würde, Kakao zu schlürfen, wäre das wohl der erste Schritt auf dem schleichenden Weg in eine behäbige Gemütlichkeit und käme im Grunde einer offiziellen Beitrittserklärung zum Verein der Leute in den mittleren Jahren gleich. Als nächstes würde sie dann wahrscheinlich in einem warmen Bademantel und im Unterrock herumlaufen. Rosa zog ihre hochhackigen Schuhe aus und massierte sich die Füße. Die Schuhe lagen da, das Oberleder nach unten, und die spitzen, zehn Zentimeter hohen Absätze ragten in die Luft.

Sie war eine kleine Frau, kaum größer als einen Meter fünfzig, von zigeunerhaftem Typ, den sie in ganz extremer Weise betonte. Ihr schwarzes Haar war von einer gleichmäßigen Intensität, ihre schönen dunklen Augen von Kajal umrahmt und mit einer doppelten Reihe falscher Wimpern dekoriert, während ihre kupferne Gesichtsfarbe vom Wind über der Heide und einem vorbeiziehenden Stern erzählte. Ihre Nase war zwar länger, als ihr lieb war, aber sie schlug auch daraus Kapital, indem sie durchblicken ließ, daß die Ursache dafür in der besonders tragischen Geschichte eines jüdischen Emigranten zu suchen sei. Eine Vorstellung, die vor allem ihre Großeltern, sture angelsächsische Bauern aus Lincolnshire, entsetzt hätte. Sie nährte diese undurchsichtige semitischzigeunerhafte Herkunft, indem sie dunkle Kleidung mit derart funkelnden Accessoires trug, daß diese eher wie ein Feuerwerk und weniger wie modische Zutaten wirkten.

Sie sah Ernest dabei zu, wie er geduldig an seiner Tasse nippte, und einmal mehr wunderte sie sich darüber, daß sie mit ihm verheiratet war. Es war für sie niemals in Frage gekommen, nach ihrer Scheidung von Esslyn solo zu bleiben. Das ging gegen ihren Stolz, und abgesehen davon, konnte sie es nicht aushalten, länger als fünf Minuten allein zu sein. Sie hatte geglaubt, in Anbetracht ihres Aussehens und ihrer Ausstrahlung kämen die Männer nur so in Scharen angelaufen, wenn erst einmal bekannt würde, daß sie zu haben war. Aber Ernest Crawley, hiesiger Bauunternehmer und gemütlicher Witwer, war der einzige ernsthafte Freier.

Er war ein entzückender Mann, der seinen Platz kannte, und schon als er ihr das erste Mal einen Heiratsantrag machte, nahm sie ihn an. Er war der CADS gegenüber schüchtern, ein bißchen reserviert und blieb den Aufführungen daher, abgesehen von Rosas Premieren und den jeweils letzten Vorstellungen, fern, vermutlich weil er glaubte, er würde ihr damit einen Gefallen tun. Gelegentlich lud Rosa die wichtigsten Personen des Ensembles zum Essen ein, und dann spielte Ernest den Gastgeber, verbarrikadierte sich hinter einem Tapeziertisch und schenkte den Frascati aus. Dann kam es ihm so vor, als würden sie alle wie Wale trinken, und er war froh, wenn es vorbei war und die Treibhausatmosphäre sich wieder auf Normaltemperatur abgekühlt hatte. Jetzt fragte er sie, wie es gelaufen war.

»Ach«, seufzte Rosa erschöpft und preßte einen Handrücken gegen ihre Stirn. »Es war schrecklich. Joyce hat immer noch nichts an meinem Kostüm getan, David Smy trampelt wie ein Elefant auf der Bühne herum, und die Venticellis sind ein hoffnungsloser Fall.«

Ernest trank seinen Kakao aus, schnappte sich eine Pfeife und stopfte sie in zufriedener Vorfreude. Er hatte natürlich seine eigenen Dramen in seinem eigenen Arbeitsbereich. Beschwerden des Vorarbeiters, Krach in den Hütten, gelegentlich auch ein schwerer Unfall. Aber die Aktivitäten am Theater bewegten sich in einer völlig anderen Sphäre. Und Rosa erzählte davon immer mit einem derartigen Elan, daß sie sich weit über die gewöhnlichen Unwägbarkeiten seines Arbeitsalltags erhoben.

»Harold sagte, er würde sie erwürgen.« (Rosa eröffnete ihre Monologe stets mit einer etwas blumigen Hyperbel.) »Einen nach dem anderen und sehr langsam, wenn sie nicht endlich ihre Stichworte lernen.«

»Tatsächlich?« Ernest hielt seine Kommentare bewußt unverbindlich. Rosas Einstellung zu ihrem Regisseur schwankte. Manchmal kannten ihr Abscheu und ihr Hohn für seine Affektiertheit keine Grenzen; und dann wieder - gewöhnlich dann, wenn sich Harold mit einer der führenden Schauspielerinnen gestritten hatte - genoß er ihre ganze Sympathie. Dann waren sie Gleichgesinnte, mit glänzendem Talent, die an ein und demselben Strang zogen und in einem See der Mittelmäßigkeit unterzugehen drohten. Heute würde es mit Sicherheit einer der letzteren Abende werden.

»Die Venticellis eröffnen das Stück, stimmt’s? Nur die beiden ... in einem Rutsch... keinen Stopp. Wie Ros und Gil... weißt du?« Ernest nickte weise. »Ich meine, sie werden diese Produktion umbringen... absolut vernichten, bevor ich meinen Auftritt habe.«

Ernest nickte erneut und stopfte noch ein wenig seine Pfeife. Er hatte keine Ahnung, wer oder was die Venticellis waren, aber die armen Kerle sollten sich besser warm anziehen, wenn sie das Rennen überleben wollten. Rosa war nun zu Boris gekommen, der, wie sie sagte, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit anmalte und den Kaiser Joseph wie eine wildgewordene bayerische Hausfrau spielte.

Wenn es Ernest in den Sinn kam, darüber nachzudenken, wurde ihm bewußt, daß Rosas Zunge in den letzten zwei Jahren, in denen sie zwölf Stücke gegeben hatten, zwar regelmäßig Vorstellung für Vorstellung total verriß, dabei aber niemals den Namen ihres ersten Mannes über die Lippen brachte. Allerdings behielt er diese Beobachtung klugerweise lieber für sich.

»Ruiniert, ruiniert!« Avery rannte durch die mit Teppich ausgelegte Diele, riß sich den Kaschmirschal vom Hals und pfefferte ihn gen Boden. Die Handschuhe flogen auf den Aubusson-Teppich, sein Mantel auf das himbeerfarbene Satinsofa. Tim stolperte im Kielwasser dieser Turbulenzen hinterher, hob Averys Sachen auf und murmelte nur: »Für manche ein echtes Unglück«, als er bei den Handschuhen ankam. Er stopfte sie rechts und links in Averys Manteltaschen und hing das Kleidungsstück in der engen Diele neben seinem eigenen Mantel auf, wobei ihn die Diskrepanz zwischen dem Tattersallkaro mit der Girlande aus türkisem Kaschmir und den kleinen Walnußfingern, die sich flehentlich in die Luft streckten, und seinem eigenen düsteren, dunkelgrauen Fischgrät-mantel und Marineschal amüsierte.

Avery, der mittlerweile sein Tablier und die Frosch-küchenhandschuhe trug, zog den Bräter aus dem Ofen. Er stellte ihn auf ein Holzbrett und hob den Deckel einen Millimeter hoch. Während sie nach Hause geeilt waren, hatte er die ganze Zeit mit dem Schicksal gehadert. Er würde Tim nicht einmal nach dem Grund und dem Inhalt der zuvor erwähnten Telefonate fragen, wenn er ein Auge auf die Daube geworfen hatte. Avery, der wußte, daß nahezu übermenschliche Zurückhaltung notwendig war, um sich an seinen Part der Vereinbarung zu halten, glaubte auf eine beinahe magische Weise daran, daß sich auch die andere Partei an ihren Teil der Absprache halten würde. Aber während er den Gartenweg hinauflief und sich sicher war, daß er einen Hauch Kohle in der kalten Nachtluft witterte, löste sich diese Gewißheit auf. Und als er gequält von bösen Vorahnungen durch das Wohnzimmer lief, war er sich ziemlich sicher, daß die Bastarde ihn mal wieder hatten hängen lassen. Und das bestätigte sich nun.

»Er hat eine Kruste!«

»Das ist schon in Ordnung.« Tim kam in die Küche geschlendert und griff nach dem Flaschenöffner. »Warum brichst du sie nicht einfach auf und rührst sie unter?«

»Das ist ein Cassoulet, mein Gott...«

»Um Himmels willen, jetzt hör endlich auf, die Hände zu ringen. Es ist doch bloß ein Eintopf.«

»Ein Eintopf! Ein Eintopf!«

»Wenigstens können wir nun nicht mehr behaupten, daß niemand in diesem Hause eine Kruste hätte.«

»Mehr als ein Witz fällt dir nicht dazu ein?«

»Es war nicht so gemeint. Ich bin nur einfach hungrig. Und wenn du dir wirklich solche Sorgen darum gemacht hast, hättest du doch früher nach Hause fahren können.«

»Und du hättest gefälligst ins Theater kommen können.«

»Ich war mit der Bestellung von Faber beschäftigt.« Tim lächelte und spielte damit den Ärger in seiner Stimme herunter. Wenn Avery in dieser Verfassung war, würde es sicher Mitternacht werden, ehe er einen Happen in den Mund bekam.

»Und die Anrufe waren von Camelot-Antiquitäten. Es ging um unsere Fußbank, und Derek Barfoot hat durchgeklingelt, um uns für Sonntag zum Essen einzuladen.«

»Oh.« Avery sah verlegen, erleichtert, dankbar und ermutigt zugleich aus. »Danke schön.«

»Sieh mal. Warum nehmen wir nicht einfach diesen Löffel mit den Löchern und...«

»Nein! Du wirst es wohl nie kapieren!« Avery stand vor seiner Kasserolle wie eine Mutter, die ihre Kinder vor einer rasenden Bestie beschützt. »Ich habe eine bessere Idee.« Er holte eine Schachtel mit Papiertüchern hervor und legte mit langsamer und ausgesuchter Vorsicht ein halbes Dutzend davon auf die gekräuselte oberste Schicht. »Das wird die ganzen Stücke aufsaugen, und dann kann ich alles zusammen mit einem Fischmesser abheben.«

»Ich dachte, das Beste säße unten«, brummte Tim, ging zur Speisekammer und holte den Wein.

Die Speisekammer war in Wirklichkeit Averys Domäne, aber sie hatte eine Nische aus Steinfliesen mit einem Gitterfenster an der Außenwand, durch das sie wunderbar kühl blieb und damit genau die richtige Temperatur für ein Weinregal hatte. Der winzige Raum war hell erleuchtet und vollgestopft mit Vorräten. Walnüsse und Haselnüsse und Sesamöl. Oliven, Kräuter und Pralinen aus der Provence. Anchovis und Provolone, Trüffel in kleinen Gläsern. Dosen mit Muscheln und Szechuanpfefferkörnern. Kartoffelmehl und viele Senfsorten. Prosciutto und Wasserkastanien. Ein Schinken mit faltiger, ledriger Haut in der Farbe von Süßholz hing neben der duftenden Salami von der Decke herab. Kleine Amaretti und Schnecken. Tomatenmark und Maronenpüree, geräucherter Fisch und Seehase, Möweneier und Regenpfeifereier und eine Chilisauce, die so scharf war, daß sie Steine aus einem Hufeisen hätte schlagen können. Tim schob einen Topf mit Pfirsichen in Brandy zur Seite, nahm eine Flasche aus dem Regal und ging in die Küche zurück.

»Welche willst du aufmachen?«

»Den Chateau d’Issan.«

Avery kaute auf seinen weichen, dicken Lippen (der kleine beruhigende Tropfen, den die Telefonate verursacht hatten, war nun verschwunden und hatte sich in einen großen See allgemeinerer Befürchtungen verwandelt) und beobachtete, wie Tim den Korkenzieher drehte, die Chromflügel nach unten drückte und mit einem sanften Plopp den Korken aus der Flasche zog. Avery fand, das sei der zweitschönste Klang auf Erden (und folgte dicht hinter dem Geräusch eines Reißverschlusses, der aufgezogen wird), während ihm der schreckliche Verdacht kam, es sei Tims Lieblingsgeräusch. Nun, da er die glatten, dunklen, seidigen Haare auf dem Handrücken seines Geliebten sah, auf die das Küchenlicht einen Flimmer zauberte, und während er beobachtete, wie seine eleganten Hände die Flasche kippten und den duftenden Wein einschenkten, stieg in Averys Bauch dieses vertraute Gefühl auf, eine Mischung aus Schrecken und Entzücken. Tim zog sein Jackett aus und legte eine olivgrüne Rehlederweste und ein schneeweißes Hemd frei, dessen Ärmel von altmodischen elastischen Bändern gehalten wurden. Dann senkte er seine schmale, ästhetische Nase über das Glas und schnupperte daran.

Avery würde nie verstehen, wieso jemand, der so leidenschaftlich auf das achtete, was er trank, nicht genauso wählerisch mit dem war, was er aß. Tim würde alles verspeisen, was er für »lecker« hielt, und das waren die unterschiedlichsten Dinge. Einmal, als sie eine Stunde im Rugbystadion festsaßen, hatte er mit allen erdenklichen Anzeichen von Genuß einen Cheeseburger und Pommes frites verdrückt, dazu einige Stücke weißes, gummiartiges Brot, ein schauriges Stück Backware mit drei Kringeln aus Marmelade in den drei Farben der Verkehrsampel, zwei Kit-Kats verschlungen und eine Tasse beißenden, rostfarbenen Tee geschlürft. Und dabei konnte Tim für sich nicht einmal die Entschuldigung geltend machen, aus der Arbeiterklasse zu stammen, wie Avery damals dachte, der sich seinerseits mit einer Orange und einem Glas lauwarmer Liebfrauenmilch abmühte. (Tim hatte ihm erklärt, daß Liebfrauenmilch nicht nur ein Produkt mehrerer Länder sei, sondern auch noch mit Frostschutzmittel gestrecktwar.)

Also warum, fragte sich Avery zuweilen, wenn er in seiner riesigen Sammlung von Kochbüchern blätterte, arbeitete er eigentlich so lange und innig in der Küche? Die Antwort schoß ihm sofort durch den Kopf, und sie blieb immer die gleiche. Avery bereitete seine Ringeltaube a la paysanne, Truites ä la creme und Fraises Romanoff nur aus einem einzigen Grund zu: Er servierte sie Tim im Geiste erregender Demut, weil das seine höchsten Leistungen waren, das Beste, was sein liebendes Herz zu bieten hatte. In derselben Weise bügelte er Tims Hemden, suchte frische Blumen für sein Zimmer aus und plante kleine Vergnügungen. Wenn er einkaufen ging, suchten seine Augen nahezu unbewußt ständig nach etwas, womit er ihm eine Überraschung bereiten, ihm ' ein Geschenk machen konnte.

Er hörte nie auf, sich über die Tatsache zu wundern, daß er und Tim seit sieben Jahren zusammen waren, insbesondere, als er die Wahrheit über dessen Freunde im Hintergrund entdeckte. Avery war schon immer schwul gewesen und hatte voller Naivität einfach vorausgesetzt, daß das bei Tim genauso gewesen wäre. Dann hatte er allerdings entdeckt, daß Tim seine sexuellen Vorlieben schmerzvoll und Stück für Stück entdeckt hatte. Daß er sich zuerst für einen ganz normalen heterosexuellen Teenager gehalten hatte, ehe darauf einige bisexuelle Jahre gefolgt waren. (Er war sogar in seinen frühen Zwanzigern mal achtzehn Monate verlobt gewesen.)

Dieses Wissen hatte Avery in einen Sog der Angst gerissen. Tims Versicherungen und sein Hinweis, daß das alles vor zwölf Jahren passiert war, hatten Avery, der von Natur aus sehr impulsiv war, nur wenig beruhigen können. Selbst jetzt noch suchte Avery, ohne es sich freilich anmerken zu lassen, bei Tim ängstlich nach Anzeichen dafür, daß sich diese früheren Neigungen wieder erneuert haben könnten, so wie eine angeberisch gefärbte Pflanze sich gelegentlich ja auch in ihre weniger auffälligen Vorfahren zurückverwandelt.

Avery dachte darüber nach, weil er nie, niemals, auch nicht in Trillionen oder Zillionen von Jahren verstehen würde, was Tim in ihm sah. Zuerst einmal gab es da den physischen Gegensatz. Tim war groß und hager, mit hohlen Wangen und einem Mund, in dem selbst in entspanntem Zustand soviel Strenge lag, daß einen seine Süße, wenn er plötzlich lächelte, fast schockierte. Avery kam es so vor, als sei er eine Figur aus einem Bild von Caravaggio. Oder vielleicht (im Moment sah sein Profil alarmierend unbeugsam aus) ein Mönch aus dem Mittelalter. Nicholas hatte mal gesagt, er glaubte, daß Tim, obwohl emotional mager, spirituell sehr opulent sei. Das war es natürlich nicht, was Avery hatte hören wollen. Er gab nicht das Geringste auf spirituelle Opulenz. Servier ihm Tag für Tag ein schönes Filet Mignon und eine zärtliche Liebkosung, hatte er nur geantwortet.

Avery wußte, daß er im Vergleich zu Tim eine schreckliche Figur hatte. Er war rundlich, und sein Aussehen war, genau wie sein Wesen, schlampig und zerfahren. Seine Lippen waren zusammengepreßt und viel zu voll, seine Augen verwaschen blau und leicht hervorstehend, und seine Wimpern farblos. Seine Nase war, bloß um anders zu sein, winzig und schmal und schien sich in der rosafarbenen Breite seines Gesichts zu verlieren. Sein Kopf war sehr rund und von einem Ring aus buttergelben Locken ohne Spannkraft umgeben, die wie Daunen von Entenküken aussahen. Wegen seiner Glatze war er schon immer unsicher bis zur Selbstquälerei gewesen und als er Tim kennenlernte, trug er eine Perücke. Am Morgen ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er sie im Mülleimer wiedergefunden. Danach war zwischen den beiden nie wieder die Rede davon gewesen, und Avery hatte mutig ohne Perücke weitergelebt, bestrahlte sich und seinen Skalp statt dessen allerdings einmal pro Woche mit einer Höhensonne.

Dann war da nicht zuletzt noch der Unterschied in ihren Neigungen und Veranlagungen. Tim war fast immer ruhig, während Avery aufgeregt zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt pendelte, wobei er sämtliche psychischen Wegstationen durchschritt. Seine Reaktionen waren jedenfalls immer höchst dramatisch. Was Tim zwar stets amüsiert zu haben schien, aber in jüngster Zeit hatte Avery ein-oder zweimal ein leises Anzeichen von Ungeduld bemerkt. Nein, nicht mehr als ein Zucken zusammengepreßter Lippen genaugenommen. Aber eben zweifellos ein Zucken. Nun, da er seinen Bordeaux trank, formulierte Avery im Geist ein weiteres von vielen Gelöbnissen. Er würde lernen, die Dinge weniger schwer zu nehmen. Er würde erst denken und dann sprechen. Erst mal tief durchatmen. Vielleicht sogar bis zehn zählen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schmortopf zu, und die Tücher waren, ohne eine Spur zu hinterlassen, versunken. Avery entfuhr ein Schrei, der bestimmt auf der halben Straße zu hören war.

»Zum Teufel.« Tim stellte sein Glas auf der Arbeitsfläche ab. »Was ist denn nun schon wieder los?«

»Die Kleenex sind auf den Boden gesunken.«

»Ist das alles? Ich dachte schon, jemand hätte versucht, dich zu kastrieren.«

»Ich wollte doch nicht, daß sie alles aufsaugen«, schluchzte Avery.

»Nun haben wir entdeckt, daß sie es doch tun. Erkenntnis ist nie umsonst. Wir geben es einfach Nicholas.«

»Das kannst du nicht machen - es ist doch voller Papiertücher.«

»Dann eben Riley.«

»Riley! Da ist eine halbe Flasche Beaune drin.«

»Dann wird er eben glauben, es sei Weihnachten.«

»Wie auch immer, Riley ist ein Fisch-und kein Fleischesser. Was hast du vor?«

»Ich mache mir einen Toast.« Tim schnitt Brot auf dem marmornen Kuchentablett. Jetzt griff er an Avery vorbei und stellte den Grill an. Dann füllte er ihre beiden Gläser wieder nach.

»Trink aus, Schatz. Und hör auf, über das Mobiliar zu fließen.«

»Entschuldige...«, schniefte und schnaubte Avery und leerte sein Glas.

»Du bist nicht... du bist nicht böse auf mich, Tim?«

»Nein, Avery, ich bin dir nicht böse. Ich stehe nur kurz vor dem Hungertod.«

»Ja. Also...«

»Bitte, hör auf, dich zu entschuldigen. Erheb dich von deinem Hinterteil und hilf mir. Da müßte doch noch etwas von der Entenleberpastete übrig sein. Und wir könnten auch die Mangoeiscreme aufessen.«

»Also gut.« Immer noch murrend und maulend ging Avery zum Kühlschrank. »Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt mit mir abgibst.«

»Hör auf, mir zu schmeicheln, das steht dir nicht.«

»Entsch...«

»Und wenn nicht ich, wer sonst?«

Diese so selbstverständliche Frage schien für Avery nicht mehr als die reine Wahrheit zu sein. In seinem Kummer ließ er den Kopf hängen und dachte nach, wobei er auf seinen runden Bauch und seine knubbeligen kleinen Füße heruntersah. Dann blickte er auf und wurde augenblicklich mit Tims strahlendem Lächeln konfrontiert. Oh, was für ein wunderbarer Tag! dachte Avery und strahlte nun seinerseits voller Glück. Und dann, um die Sache absolut perfekt zu machen und weil er und Tim gleichermaßen achtlos waren, verbrannte der Toast.

»Wir können wohl annehmen, daß das jetzt Kohlebiskuits sind«, stellte Avery fest und trank den Wein aus. Dann erklärte er, weil er die Ermahnung, nichts Schmeichlerisches zu sagen, schon wieder vergessen hatte: »Ich wünschte, ich wäre mehr wie du. Ruhiger.«

»Gütiger Himmel, das wäre ja das letzte. Ich würde es hassen, mit jemandem zu leben, der genauso ist wie ich. Das würde mich innerhalb einer Woche zu Tode langweilen.«

»Wirklich, Tim?« Averys schmerzvoller Herzschlag beschleunigte sich auf wunderbare Art und Weise. »Ist das wirklich wahr?«

»Ein Drama pro Tag hält den Trübsinn fernab.«

»Hm.« Avery schenkte sich noch mehr Wein nach.

»Ich vermute, das ist wahr.«

»Aber für heute haben wir unsere Ration gehabt. Jetzt können wir weitermachen.«

»Ja, Tim.« Avery beeilte sich in seinem Überschwang, ungesalzene Butter, Sellerie, die Pastete und eine weiße Porzellanschale voller Tomaten hervorzuzaubern. Tim hatte natürlich recht. Es war allgemein bekannt, daß Gegensätze sich anziehen. Das war wahrscheinlich der Grund, warum es insgesamt gesehen mit ihnen beiden so gut klappte. Weshalb sie so glücklich miteinander waren. Es war einfach nur dumm von ihm, gerade mit jenen Charaktereigenschaften zu hadern, die sein Partner so anziehend an ihm fand.

Avery nahm die handbetriebene Kaffeemühle und füllte ein paar Kaffeebohnen in den kleinen Holzkasten. Er weigerte sich, das elektrische Gegenstück zu verwenden, weil er glaubte, daß die unkontrollierbare Hochgeschwindigkeit die Bohnen, die er sich eigens von einer afrikanischen Kaffeefirma schicken ließ, überhitzen und ihr Aroma zerstören würde. Der Duft der Kaffeebohnen vermischte sich mit dem fruchtigen Bukett des Weins und dem sehr gewöhnlichen, aber für Avery immer wieder zutiefst befriedigenden Geruch nach frischem Toast. Er setzte sich voller Erwartungen an den geschrubbten Kiefernholztisch. Das war die Zeit, die er am meisten liebte. (Nun ja, fast.) Wenn es Essen und Wein gab, und Gerüchte und Späße.

Selbst an solchen Tagen, an denen sie nichts außer Bücher-verkaufen und Papierkram zu erledigen hätten, gab es doch immer wenigstens einen Kunden, der sich für ein übertriebenes Nachäffen oder eine groteske Unterstellung eignete, mit der sie dann ihre Späße treiben konnten. Aber natürlich waren die glanzvollsten Abende, die die höchste Unterhaltung lieferten, die Abende, die sie im Latimer verbracht hatten.

Dann konnten sie die Vorstellungen durch den Fleischwolf drehen und Beziehungen zerstückeln, Vermutungen anstellen und Meinungen über Harolds Geisteszustand (immer offen für Fragen und jedermanns Vermutungen) erörtern.

Aber gelegentlich, wenn es ein »Drama« zu Hause gegeben hatte, war Tim ein wenig mitgenommen, und dann litt Avery unter seinem Mangel an Interesse für die Vorkommnisse im Theater. Das war eine qualvolle Zeit für Avery, für den das Gerüchteverbreiten genauso leicht war wie das Luftholen, und die er daher auch mit der gleichen Notwendigkeit produzierte, mit der er atmen mußte. Als er jetzt Butter auf seinen Toast schmierte, sah er Tim an und strich dabei fein säuberlich, ein klein wenig unsicher, weiter. Aber es war alles in Ordnung. Tim sah Avery an, und seine grauen Augen, die so kalt wirken konnten, waren infolge eines leichten Anflugs von Schalkhaftigkeit erwärmt.

»Aber abgesehen davon, Frau Lincoln«, sagte er und griff nach dem Sellerie, »wie hat Ihnen denn eigentlich das Stück gefallen?«

Als Joyce Barnaby das Wohnzimmer betrat, saß ihr Ehemann vor dem Kamin und döste. Er hatte einen Fliederzweig gezeichnet, und der Stift lag noch in seiner Hand, obwohl der Skizzenblock auf den Boden gepurzelt war. Als seine Frau hinter dem Stuhl stand, die Arme um seine Brust legte und ihn an sich drückte, wurde er wach. Dann hob sie den Block auf.

»Du bist nicht fertig geworden.«

»Ich bin eingeschlafen.«

»Hast du deine Lasagne gegessen?«

Tom Barnaby gab ein abweisendes Grunzen von sich. Als Joyce von dem Vorsprechabend zu Amadeus nach Hause gekommen war und ihm erzählt hatte, daß sie die Rolle der Hüterin des Kuchens bekommen hatte, war es lediglich das rasende Sodbrennen in seiner Brust, das ihn davon abgehalten hatte, laut zu lachen. Kam er doch nie über die Tatsache hinweg, daß sie das, was sie Selbst gekocht hatte, zwar ohne große Freude, aber immerhin auch nicht mit allzu großem Widerwillen aß. Manchmal fragte er sich, ob sein ernsthafter Ausdruck des Mißfallens zu den Essenszeiten über die Jahre hinweg ein derart rituell-versteinertes Aussehen angenommen hatte, daß Joyce einfach beschlossen hatte, es als eine besondere Art von Familienwitz zu betrachten. Er beobachtete, wie sie sich über den Zweig der weißen und malvefarbenen Blumen beugte und deren Duft einsog.

»Wie ist es dir ergangen, Liebling?«

»Wie bei einem Abend mit den Marx Brothers. Ich wußte gar nicht, daß so viele Dinge schiefgehen können. Zum Glück erschien Tim nach der Pause mit seinem Rasiermesser; das hat Harold sichtlich aufgemuntert. Bis dahin war er den ganzen Abend unausstehlich. Molto distrato, mein Liebling!«

»Für was soll denn die Klinge gut sein?«

»Wart’s ab, du wirst es sehen. Wenn ich es dir jetzt schon sage, versaue ich dir damit die Premiere.«

»Nichts, worin du auftrittst, kann mir versaut werden...« Er nahm ihre Hand. »Wozu brauchst du denn so eine große Tasche?«

»Für die Garderobe. Der Hosensaum muß ausgelassen werden. Kaputter Reißverschluß. Und ein paar Bordüren, die aufgenäht werden müssen.«

»Du arbeitest zuviel.«

»O Tom.« Sie beförderte seine Füße von der Fußbank und setzte sich selbst darauf, wobei sie ihre kalten Hände dicht ans Feuer hielt. »Sag das nicht. Du weißt doch, wie gern ich es tue.«

Das wußte er. Er hatte sich vorhin ein Tonband angehört, das sie mit Arien von Katharina Cavalieri aufgenommen hatte. Joyce hatte eine wunderbare Stimme, einen vollen Sopran. Nicht ganz rein in den höheren Lagen, aber immer noch mit dem gleichen tiefen Schmelz. »Martern aller Arten« hatte ihn zu Tränen gerührt.

Als sie sich kennengelernt und ineinander verliebt hatten, war sie Studentin an der Guildhall School of Music gewesen. Er hörte sie zum ersten Mal während einer Vorstellung in ihrem letzten Studienjahr singen, und er hatte dagesessen, fassungslos und ängstlich dem wunderbaren Klang gelauscht. Eine ganze Weile danach konnte er immer noch nicht glauben, daß sie einen so gewöhnlichen Mann, wie er es war, lieben konnte. Oder daß er sich ihrer jemals sicher sein könnte.

Aber sie hatten geheiratet, und sie hatte noch vier Jahre lang gesungen, zuerst nur kleine, kaum bemerkte Rezitationen; dann trat sie dem Chor des National Opera House bei. Als Gully geboren wurde, war alles zu Ende. Barnaby und sie stimmten aber darin überein, daß es nur für eine Weile vorbei sein sollte. Vorübergehend. Das Geld war knapp, und als Cully zwei Jahre alt war, bekam Joyce ein Engagement als zweite Besetzung für Godspell. Aber eine Karriere bei der Polizei ist mühsam, Tom hatte öfter Nachtdienst, und eine oder zwei unangenehme Erfahrungen mit Babysittern ließen Joyce voller Schuldgefühle und Angst ins Theater gehen, so daß sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Also ging sie zur Causton Light Operatic Society, um ihre Stimme geschmeidig zu halten, als die CADS gegründet wurde. Es war natürlich nicht das, wovon sie geträumt hatte, aber selbstverständlich immer noch besser als nichts. Sie und Tom kamen überein, daß es nur so lange so gehen sollte, bis Cully alt genug war und man sie allein lassen konnte.

Als diese Zeit gekommen war, mußte Joyce jedoch feststellen, daß sich die Musikwelt weitergedreht hatte und nun voller talentierter, harter, karrierewilliger junger Sänger war. Und die Jahre von mehr oder weniger durchgehender Häuslichkeit hatten ihre Ambitionen stumpf werden lassen. Sie wurde sich darüber klar, daß sie keine Lust mehr hatte, nach London zu fahren, in einem schlecht beleuchteten Theater zu stehen und für ein gesichtsloses Trio irgendwo da draußen zu singen.

Besonders, wenn Scharen von Zwanzigjährigen schon in den Kulissen standen, scharf wie Rasierklingen, voller Entschlossenheit und Auftrieb, Energie und Hoffnung. Und daher ließ Joyce ihre Pläne für eine Musikkarriere fallen, allmählich und ganz ohne ein äußeres Anzeichen von Enttäuschung.

Aber ihr Ehemann sah sie ihre Theaterrollen, von denen es viele gab, mit einer derart einfühlsamen Wahrhaftigkeit spielen oder hörte, wie ihre liebliche Stimme in der Weihnachtsgeschichte die anderen anführte, und es gelang ihm nie, diesen Darbietungen ohne den peinigenden Stich aus Kummer und Reue beizuwohnen. Dieser Stich wurde zwar über die Jahre durch ihre glückliche Ehe gemildert, aber nun, da er «Martern aller Arten« noch in den Ohren hatte und aus den Augenwinkeln heraus die vielen Veränderungen erkannte, fuhr plötzlich ein Pfeil aus Trauer, ein Leiden über diese Verschwendung, wie ein Messer durch ihn hindurch.

»Tom...« Joyce nahm seine andere Hand und blickte ihm ins Gesicht. »Schon gut. Es macht doch nichts. All das. Es macht nichts. Da sind wir beide. Und da ist auch Cully. Liebling...?« Sie begegnete seinem Blick mit Kraft und Liebe. »Alles in Ordnung?«

Barnaby nickte und ließ zu, daß sein Gesicht sich aufhellte. Was hätte er sonst auch tun sollen? Die Dinge waren nun einmal nicht mehr zu verändern. Und es war eine Tatsache, daß es Cully gab.

Ihre Tochter hatte, seit sie mit vier Jahren zum ersten Mal bei einer Pantomime mitgemacht hatte, eine Theaterleidenschaft gepackt. Sie war wie der Wind auf die Bühne gesaust, als die Alte die Kinder aufforderte, auf den bösen Wolf aufzupassen, und sie trat um sich und schrie, als die Szene vorüber war, so daß sie gewaltsam von der Bühne gezerrt werden mußte. In der Grundschule hatte sie wie selbstverständlich große Vorstellungen gegeben (Eichenblatt, kleiner Hase). Jetzt, in ihrem letzten Englischjahr in New Hall, waren ihre Vorstellungen im ADC schon hervorragend.

»Ich dachte, du wüßtest das«, fuhr Joyce fort. »Du dummer alter Bär.«

Barnaby lächelte. »Es ist schon lange her, daß mich das letzte Mal jemand so genannt hat.«

»Erinnerst du dich noch daran, wie Cully dich immer so genannt hat? Da gab es diese Fernsehsendung, die sie so sehr geliebt hat...« Joyce sang: »Ich heiße Barnaby, der Bär... den Rest habe ich vergessen.«

»Ah, ja. Mit sieben war sie wirklich eine richtige Verrückte.«

Die Unterhaltung stockte einen Moment lang. Dann sagte Joyce: »Eine Nachricht von Colin.« Barnaby grunzte. »Könntest du bitte den Kamin anstreichen?«

»Joyce, ich hab’ doch Ferien.« Er murrte zwar immer, wenn sie ihn bat, bei den Bühnenbildern zu helfen, half dann aber doch jedesmal aus, soweit es seine Arbeit zuließ.

»Ich würde dich gar nicht bitten, wenn du keine Ferien hättest«, log Joyce dreist. »Wir können alle Farbe auf die Kulissen kleckern, aber dieser Kamin, den Colin da entworfen hat... er ist so schön. Tom - ein Kunstwerk. Wir können da keinen dusseligen Kerl dranlassen. Und du bist doch so toll in solchen Sachen.«

»Du streichst mir ganz schön Honig um den Bart.«

»Es ist doch wahr. Du bist ein Künstler. Erinnerst du dich noch an die großartige Figur, die du gemacht hast? Für Hin und her im Garten?«

»Nur zu gut. Und an die Briefe in der lokalen Presse.«

»Das kannst du am Samstag nachmittag tun. Nimm eine Thermoskanne und ein paar Brote mit.« Sie hielt inne. »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn wir Gartenwetter hätten.«

»Und ich würde es nicht tun, wenn wir Gartenwetter hätten.«

»Oh, danke, Tom.« Sie drückte ihre Wange an seine Hand. »Du bist süß.«

Detective Chief Inspector Barnaby seufzte und sah, wie die letzten paar kostbaren Tage seines jährlichen Urlaubs nun doch mit regen Aktivitäten ausgefüllt werden würden.

»Versuch das mal denen im Präsidium zu erklären«, erwiderte er.

Harold steuerte seinen Morgan in der Wellington Road 17 zwischen den Torpfosten mit den Styroporlöwen durch und raste auf den Stellplatz zu. Er ermutigte die Maschine, ein letztes großes, tiefkehliges Brüllen von sich zu geben, drehte dann den Zündschlüssel um und machte sich selbst Mut für das Bevorstehende. Das Ein-und Aussteigen aus einem Morgan war nämlich nicht eben leicht, doch ihn zu fahren und zu beherrschen ein Erlebnis. Es befriedigte vorübergehend Harolds unstillbaren Durst nach Bewunderung, wenn die Fußgänger ihre Köpfe nach der scharlachroten Kühlerhaube, die an ihnen vorbeiblitzte, umdrehten. Die Tatsache, daß seine Frau den Wagen nicht leiden konnte, erfüllte ihn zusätzlich mit Freude. Er zog den Schlüssel ab und klopfte anerkennend auf das Armaturenbrett. Man wußte eben instinktiv, wenn etwas richtig war, sinnierte Harold, der sich vor langer Zeit diese Lüge eines schlauen Reklamefachmanns zu Herzen genommen hatte.

Auf dem lederbezogenen Sitz neben ihm lag ein Stapel Poster, die Frau Wistanley unter befreundeten Mitgliedern der Townswomen’s Guild, ihrer Blumenarrangierklasse und in den hiesigen Geschäften verteilen konnte. Abgesehen davon, daß er seine Ideen geschickt verkaufen konnte und Interviews gab, wann immer er sich die Gelegenheit dazu verschaffen konnte, legte Harold wenig Wert auf Öffentlichkeitsarbeit. Denn schließlich, das würde er jedem Dummkopf erklären, würde Trevor Nunn ja auch nie selbst die Nachrichtenagenturen mit Filmmaterial zu seiner letzten Extravaganz beliefern. An dem kurzen Gedanken an diesen berühmten Namen hatte Harold nun schwer zu schlucken. Er war sich schon seit langem bewußt darüber, daß er, wenn er nicht so sorglos in die frühe Heirat eingewilligt hätte und wenn die Geburt seiner drei unheimlich beschränkten Kinder nicht gewesen wäre - die nun Gott sei Dank sich und ihre Kumpane kilometerweit entfernt zu Tode langweilten -, einer der Topregisseure dieses Landes hätte werden können. Wenn nicht sogar (Harold gehörte nicht zu jenen, die sich vor der Wahrheit drückten) der ganzen Welt.

Alles, was man brauchte, waren Glück, Talent und die richtige Frau. Harold glaubte, wenn man sein Glück gemacht hatte, wäre Talent kein Problem mehr. Er hatte es, Gott weiß, es quoll ja aus jeder seiner Poren. Aber die richtige Frau... ah, da lag der Hund begraben. Doris war bürgerlich und ein schlichtes Gemüt. Eine Philisterin. Als sie gerade erst frisch verheiratet waren (sie war damals ein dünnes, scheues, hübsches Mädchen), hatten die Kinder sie vollauf beansprucht, und sie hatte keine Zeit gehabt, sich für das Latimer zu interessieren. Später, als die Kinder größer wurden und ihre eigenen Wege gingen, waren ihre Bemerkungen zu den Produktionen derart unangebracht, daß Harold ihr kurzweg verbot, sich, außer zu den Premieren, überhaupt noch im Theater blicken zu lassen.

Er hatte erst kürzlich, als Rosa wieder zu haben war, daran gedacht, sich von ihr scheiden zu lassen, weil er Rosa für eine wesentlich angemessenere Regisseursgattin hielt. (Manchmal fragte er sich, ob Doris überhaupt dankbar dafür oder sich des Status’ bewußt war, den ihm seine Position als einziger Theaterimpresario der Stadt verlieh.) Wie auch immer, nachdem er seine flüchtige Schwäche für Rosa im kalten Licht der Vernunft analysiert hatte, mußte Harold zugeben, daß sie nicht ernstlich standhalten konnte. Rosa war nicht nur an die Rolle als Hauptdarstellerin gewöhnt, nein, sie genoß sie, und er konnte kein Anzeichen dafür erkennen, daß sie zu seinen Gunsten freiwillig ihre Ambitionen zurückstecken würde. Doris dagegen hatte - neben ihren besonderen Aufgaben -, Eier einzulegen, Blumen zu trocknen und unschuldig gestrickte Kreaturen mit mehrfarbigen Schaumteilen auszustopfen - die hohe Gabe, sich unsichtbar zu machen. Tatsächlich war sich Harold mit einigem Vergnügen darüber bewußt, daß sie, immer wenn er einen Raum betrat, wie die Melanchra persicaria, förmlich in ihren Holzarbeiten verschwand. Und was am wichtigsten schien, sie war nicht geldgierig. Er hatte seiner Frau und den Kindern Bescheidenheit auferlegt, und zwar in einem viel höheren Maße, als das eigentlich notwendig gewesen wäre. Über die Hälfte seines Gewinns aus der Firma (da hatte Joyce ganz recht) verschwand in seinen Inszenierungen, so daß jeder Schwätzer, der meinte, diese in irgendeiner Weise kritisieren zu müssen, wenigstens nie behaupten konnte, die Stücke wären nicht gut ausgestattet.

Ein bernsteinfarbenes Rechteck aus Licht fiel durch die Windschutzscheibe.

»Harold?«

Harold seufzte, polierte kurz den Kilometerzähler mit seinem Taschentuch und rief: »Einen Moment noch!«

Er kletterte aus dem Cockpit. Das war der Wendepunkt für ihn. Der Moment, in dem er sich aus dem heißblütigen, wilden, turbulenten Rund seiner Arena in die schattige, graue, halbverschwommene und immer noch unreale Welt des Ernährens begab.

»Dein Abendessen wird kalt.«

»Dinner, Doris.« Die Gereiztheit hatte ihn schon wieder voll in den Klauen, als er sie in die Küche schob. »Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?«

»Wie geht es ihm, Mrs. Higgins?« Dierdre betrat die Küche leise durch die Hintertür, und die ältere Frau, die am Herd saß, zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Er war ja so brav«, antwortete Mrs. Higgins. »Wenn man’s bedenkt.«

Dierdre fand, das »Wenn man’s bedenkt« sei völlig unangebracht. Sie beide wußten schließlich, daß es Mr. Tibbs nicht immer so gut ging, und ihnen war auch bekannt, weshalb. Dierdre blickte zum Kaminsims. Mrs. Higgins’ Umschlag war fort, und als die Frau sich auf die Füße hievte, bemerkte Dierdre, daß er aus der Tasche ihrer schmuddeligen Schürze hervorlugte.

»Hoppla.«

»Schläft er noch?«

»Nein. Er spricht mit sich selbst. Ich habe ihm einen schönen Teller Suppe gemacht.«

Dierdre blickte in den Topf im Spülbecken und bedankte sich: »Sie sind so nett.« Dann half sie Mrs. Higgins in den Mantel. Die Dankbarkeit und Anerkennung in ihrer Stimme waren nicht gespielt. Wenn Mrs. Higgins nicht gewesen wäre, hätte Dierdre gar kein Leben gehabt. Kein Leben außerhalb ihres Zuhauses und der Gasversorgungsgesellschaft, denn sie hätte sonst wohl kaum jemanden gefunden, der sich für ein paar Pfund mit einem verwirrten alten Mann beschäftigen würde. Nicht, daß sie die Sache mit dem Geld völlig unter den Teppich kehrte. In der Anfangszeit hatte Dierdre es Mrs. Higgins ein paarmal angeboten, aber eigentlich nur, um zu hören: »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, meine Liebe, ich sitze doch bloß nebenan und glotze in die Flimmerkiste.« Die Münzen, die Dierdre unter den Teetopf gelegt hatte, verschwanden dann allerdings doch, und nun war es auch mit dem Briefumschlag nicht anders.

Als Mrs. Higgins gegangen war, schloß Dierdre die Tür und verriegelte sie, setzte etwas Milch für ihre Horlicks auf die niedrigste Flamme und stieg die Treppe hoch. Ihr Vater saß kerzengerade in einem frischen Schlafanzug unter einem großen, düsteren Druck von Das Licht der Welt. Sein grauer Schnurrbart, in dem noch immer blaßrote Haare schimmerten, war von Tränen der Freude durchtränkt, und seine Augen leuchteten.

»Er kommt!« rief er, als Dierdre ins Zimmer kam. »Der Herr kommt!«

»Ja, Daddy.« Sie setzte sich auf sein Bett und nahm seine Hand. Es fühlte sich an, als würde sie ein paar dürre Knochen in einem Beutel aus Haut halten.

»Möchtest du noch etwas trinken?«

Sie wußte, daß es nicht gut wäre, ihn hinzulegen. Er schlief immer im Sitzen, den Rücken ganz senkrecht an eine Säule aus Kissen gelehnt. Sie tätschelte seinen Arm und drückte ihm einen Kuß auf die feuchten Wangen. Er befand sich jetzt schon seit einigen Monaten in diesem verwirrten Zustand. Die ersten Anzeichen, daß mit ihm nicht alles in Ordnung war, zeigten sich, als sie eines Abends nach dem Kulissenbau aus dem Theater kam und ihn auf der Straße traf, wo er von Haus zu Haus ging, an die Türen klopfte und den staunenden Bewohnern eine Schaufel glühende Kohlen anbot.

Gleichzeitig erschreckt und belustigt nahm sie ihn mit nach Hause, schüttete die Kohlen in den Küchenherd und fragte ihn sanft aus, um eine rationale Erklärung für sein Verhalten zu finden. Seitdem war er häufig benebelt oder verwirrt. (Dierdre verwendete immer diese neutralen Begriffe, um die schrecklichen offiziellen Definitionen zu vermeiden. Als eine der Sozialarbeiterinnen aus der Tagesstätte, in der Mr. Tibbs tagsüber versorgt wurde, ihr mit diesem Vokabular gekommen war, hatte Dierdre sie aus Angst und Ärger heraus lauthals beschimpft.)

Es gab bei ihm zwischendurch immer noch längere Phasen wunderbarer Klarheit. Nur leider ließ sich keine Regelmäßigkeit in ihrem Aufkommen oder Abklingen herausfinden. Der vergangene Sonntag war ein wunderbarer Tag gewesen. Nachmittags hatten sie einen Spaziergang unternommen, und sie konnte ihm alles über Amadeus erzählen, wobei sie die Rolle, die sie innerhalb der Produktion spielte, wie immer etwas übertrieben darstellte, damit er stolz auf sie sein konnte. Abends hatten sie dann ein Glas Portwein getrunken und ein paar klumpige hausgemachte Kuchen verspeist, und er hatte Evergreens gesungen, die er noch aus seiner Kindheit kannte. Als Dierdre geboren wurde, zählte er schon über vierzig Jahre, und daher waren die Lieder sehr alt. »Red Sails in the Sunset«, »Valencia« und »Oh, oh, Antonio«. Er hatte dazu seine Melone aufgesetzt, wirbelte den Spazierstock und war dabei nur noch ein trauriger Schatten von dem Mann, der vor Jahren Dierdre und ihre Mutter so sehr entzückt hatte. Sein Haar war damals noch rotblond gewesen, und sein Schnurrbart hatte geglänzt wie eine neue Roßkastanie. Beide hatten einige Tränen vergossen, bevor sie am vergangenen Sonntag zu Bett gegangen waren.

Dierdre schritt zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, und einen Moment lang stand sie da und schaute zum Himmel. Da standen ein leuchtender Mond und eine Kavalkade aus feinen Wolken. Gabriel, ihr Schutzengel, lebte dort oben. Aber er wandelte auch strahlend und schimmernd auf Erden, nur einen unsterblichen Atemzug entfernt, und warf dabei ein liebendes Auge auf die weltlichen Sorgen der Tibbs’. Als sie noch ein kleines Mädchen war, wirbelte Dierdre zuweilen ganz schnell herum, weil sie hoffte, sie könnte so seine fast vier Meter hohen Schwingen sehen, ehe er sich mit seinem Umhang wieder unsichtbar machen konnte. Einmal war sie sogar ganz fest davon überzeugt gewesen, den Umriß seines goldenen Fußabdrucks gesehen und dann direkt über ihrem Kopf ein Geräusch gehört zu haben, ein schnelles, schlagendes Rauschen, als wären tausend Schwäne an ihr vorbeigeflogen.

Genauso wie jeder einen Schutzengel hatte, der über ihn wachte, hatte auch jeder einen eigenen Stern. Als sie ihren Vater mal gefragt hatte, welcher denn nun der ihrige sei, hatte er geantwortet: »Das ist immer der Stern, der am hellsten leuchtet.« Heute nacht sahen sie alle gleich und irgendwie auch sehr kalt aus, fand Dierdre und ließ den Vorhang wieder los. Sie erinnerte sich an die Milch und rannte hinunter in die Küche, kam aber zu spät, um das Überkochen noch verhindern zu können.

Sie füllte den Topf erneut und stellte ihn auf den Herd zurück, und dann nahm sie ihr Skript von der nächsten Produktion (Onkel Wanja) von der Anrichte. Es war auseinandergefallen und wieder zusammengesetzt worden, und zwischen den Seiten gab es leere Blätter, wie bei allen Kopien der Stücke, in denen sie die Assistentin des Bühnenmeisters gewesen war. Dierdre fing immer schon lange vor der ersten Probe an, sehr sorgfältig und genau am jeweils nächsten Stück zu arbeiten. Sie würde es lesen und noch mal lesen, um die Charaktere genausogut kennenzulernen, als lebte sie mit ihnen. Sie bemühte sich, den Sinn zu verstehen und das Tempo zu erfassen. Ihr Kopf war voller Ideen für die Bühnengestaltung, und sie verwendete lange Papierrollen an dünnen Karteikarten, um ihre Sets zu entwerfen. Sie war von Onkel Wanja genauso begeistert wie von Der Kirschgarten, denn sie war von Tschechows einzigartiger Fähigkeit gefesselt, eine scheinbar natürliche Welt zu produzieren, die voller realer Menschen zu sein schien, und dann diese Welt mit den dramatischen Mitteln und den Grenzen des Theaters zu vereinen.

Nun, da ihr bewußt wurde, wie hungrig sie war, schlug sie Onkel Wanja zu und legte das Buch beiseite. Sie schaffte es nie, vor den Theaterabenden etwas zu essen, jedenfalls nicht, wenn sie pünktlich da sein wollte. Im Kühlschrank fand sie noch einen Rest von der Salatcreme mit einer kleinen Scheibe Rindfleisch und zwei roten Rüben. Während sie die Margarine auf das weiche Weißbrot strich, das einzige, das der Gaumen ihres Vaters noch zerdrücken konnte, flüchtete sie sich in die häufigen und beliebten Tagträumereien, in denen sie die Tiefpunkte der letzten Probe umgestaltete und das Drehbuch neu schrieb:

Dierdre: Ich glaube, die Venticellis stehen in der Eröffnungsszene viel zu dicht bei Salieri. Sie würden sich nie im Leben auf eine so intime Art an ihn drängen und ihn mit Sicherheit auch nicht berühren.

Esslyn: Sie hat völlig recht, Harold. Sie werden wirklich immer dreister. Ich hatte mir schon vorgenommen, daß wenn nicht bald einer etwas dazu sagen würde, es selbst anzusprechen.

Harold: Gut. Hört auf, den Star zu bedrängen, ihr zwei.

Und vielen Dank, Dierdre. Ich wünschte, ich hätte dich schon Vor Jahren dabeigehabt.

ODER

Harold: Dierdre, ich glaube, wir alle möchten Kaffee haben.

Dierdre: Entschuldige, aber Regieassistenten kochen keinen Kaffee.

(lautes Gelächter)

Harold: Tut mir leid. Wir sind so daran gewöhnt, daß du uns versorgst.

Rosa: Für uns war das immer selbstverständlich, Herzchen.

Esslyn: Und in der ganzen Zeit hast du deine tollen Ideen immer still für dich behalten.

Harold: Vorsicht - ich werde noch neidisch.

(Noch mehr Gelächter. Kmr geht rauf und macht den Kaffee)

oder

Harold: (RÄKELT SICH IN EINEM SESSEL IM VEREINSRAUM) Jetzt, wo alle anderen gegangen sind, kann ich es dir ja sagen, Dierdre. Ich wüßte nicht, was ich in dieser Produktion ohne dich anfangen sollte. Alles, was du sagst, ist so frisch und originell. (GROSSER SEUFZER) Ich bin so ausgelaugt.

Dierdre: O Harold, du darfst nicht glauben...

Harold: Hör mir bitte zu. Ich erarbeite gerade unsere Sommerproduktion. Für Onkel Wanja liegt viel Arbeit vor uns...

Dierdre: Ich wäre froh, wenn ich helfen könnte.

Harold: Nein, Dierdre. Ich werde dir helfen. Was ich möchte, was wir alle möchten, ist, daß du bei diesem Stück Regie führst.

Selbst Dierdres fiebrig hoffende Seele fand diesen Schlußdialog doch ein wenig zu unglaubwürdig. Als sie den letzten Rest von der dicken, gelbschimmernden Salatsauce auskratzte und auf dem Weißbrot verteilte, entwarf sie ein realistischeres Szenario. Harold würde einen Autounfall haben. Oder einen Herzinfarkt. Das Letztere war wahrscheinlicher, fand sie, wenn man sich den dicken Bauch unter der vorstehenden Brokatweste ins Gedächtnis rief. Sie betrachtete ihr fertiges Sandwich. Die Rübe fiel heraus. Sie fing sie auf, stopfte sie zurück und biß hinein. Es schmeckte nicht sehr gut. Die Milch kochte ein zweites Mal über.

»Meinst du, es wird klappen, Constanze?«

Kitty saß am Frisiertisch. Sie hatte die Strumpfhose ausgezogen und streckte ihre milchweißen Beine auf einem mit Stickereien verzierten Fußbänkchen aus. Obwohl sie ihre Schwangerschaft erst vor drei Monaten bestätigt bekommen hatte, war sie bereits dazu übergegangen, ihren kleinen Bauch festzuhalten und ein gequältes, mutiges Lächeln aufzusetzen. Manchmal wimmerte sie sogar auf eine Art, die nur den Schluß zuließ, sie würde damit auf winzige Tritte reagieren. Nun verteilte sie vorsichtig die Reinigungsmilch auf ihrem Gesicht, ehe sie die erwartete Antwort gab.

»Also, Liebster, ich denke, du wirst wunderbar sein. Es sieht doch schon hervorragend aus.«

»Beinah geschafft, oder?«

»Oh, natürlich. Und gegen solche Widerstände.«

»Absolut. Gott weiß, was Nicholas sich einbildet. Ich wundere mich, daß Harold ihm das durchgehen läßt.«

»Ich weiß. Donald und Clive sind die einzigen, die mal etwas sagen. Und das auch nur, weil sie wissen, wie du dich fühlst.«

»Hm. Sie sind in mancher Hinsicht ganz nützliche Gestalten.«

Esslyn hatte sich die Zähne geputzt und zog seinen Schlafanzug mit der halblangen Hose und der Jacke an, die aussah wie ein Judogi, setzte sich ins Bett und spannte seine Gesichtsmuskeln an. Mund öffnen, Kopf in den Nacken, Mund schließen und dabei versuchen, mit der Unterlippe an die Nasenspitze zu kommen. Er hatte die Kinnlinie eines Mannes von fünfundzwanzig. Für einen Mann von fünfundvierzig wirklich nicht schlecht. Er blies die Wangen auf und ließ sie langsam wieder einsinken (Nase zur Mundlinie). Dann betrachtete er eingehend seine hübsche Frau, die gerade mit dem Abschminken fertig wurde.

Er hatte sich stets in die bestaussehenden weiblichen Mitglieder der Truppe verliebt (das erwarteten sie auch), und in Krähenhorst hatte er sich tatsächlich mit einer munteren jungen Frau, die inzwischen Mrs. Carmichael war, in den Requisitenraum verzogen. Damals spielte sie die Poppy Dickie.

Unglücklicherweise war er unverheiratet, als die Schwangerschaft entdeckt wurde, und daher empfand er es als seine Pflicht, Kitty einen Heiratsantrag zu machen. Er tat es ziemlich kläglich. Eigentlich hatte er sich auf einige Jahre des süßen Lebens gefreut, bevor er sich jemanden gesucht hätte, der ihn im Alter versorgen könnte. Aber sie war ein fügsames kleines Ding, und er konnte nicht leugnen, daß seine späte Vaterschaft seiner Potenz einen hohen Status bei der Belegschaft seines Büros verschafft hatte. Und natürlich war es ein unglaublicher Stachel in Rosas Seele.

Er hatte das Gefühl, das sei die gerechte Entschädigung für ihr Verhalten, als er die Scheidung verlangt hatte. Sie hatte geschrien, getobt und geweint. Und geschimpft, er hätte ihr die besten Jahre ihres Lebens geraubt. Esslyn, der sich sehr vernünftig vorgekommen war, hatte ihr daraufhin erklärt, wenn er sie ihr nicht geraubt hätte, dann hätte es eben jemand anderes getan. Sie hätte sie ohnehin nur behalten können, wenn sie, statt zu leben, unberührt in einem Elfenbeinturm gesessen hätte. Und dann hatte sie noch geschluchzt, sie hätte immer Kinder haben wollen, und jetzt sei es zu spät, und all das wäre nur sein Fehler gewesen. Esslyn fand ihr Verhalten schlichtweg unmöglich.

Sie hatten zwar zuweilen darüber geredet, eine Familie zu gründen, gewöhnlich dann, wenn sie auf der Bühne eine Elternrolle spielen mußten, aber Esslyn hatte es dann immer für richtig gehalten hervorzuheben, daß ihre Bühnenkinder nach der letzten Vorstellung verschwinden würden, während echte Kinder sehr viel länger bei ihnen wären. Und daß, auch wenn sein Leben dadurch nicht weiter verändert werden würde, Rosa nicht mehr dieselbe sein könnte, denn er würde bestimmt kein Geld für ein Kindermädchen ausgeben. Er dachte, sie wüßte seine Logik zu schätzen, aber sie warf alles durcheinander, und als es um die Frage ging, wer nun White Wings zu verlassen hätte, weigerte sie sich entschieden, sich auch nur von der Stelle zu rühren, bis sie eine Entschädigung für ihre »verlorenen Babys« bekommen würde. Das hatte ihn eine ganz schöne Stange Geld gekostet. Und er war der Meinung, sich das auf irgendeine Weise zurückholen zu müssen. Als Kitty dann schwanger wurde, hatte er diesen Umstand und ihre bevorstehende Hochzeit am Ende einer Probe zu Der kleine Eckladen bekanntgegeben. Er hielt Kittys Hand ganz sanft, aber seine Augen waren auf Rosas Gesicht geheftet, und Esslyn hatte in diesem Moment einen Gegenwert für das investierte Geld bekommen.

Natürlich hatte sie dann im Gegenzug einen kleinen langweiligen Bauunternehmer geheiratet. Aber um fair zu sein, gestand sich Esslyn ein, während er seine Wangenübungen beendete und mit dem Kopfrollen zur Nackenentspannung anfing, daß es ja auch genug Leute gab, die glaubten, Buchführung wäre ein genauso öder Beruf wie das Häuserbauen. Vielleicht sogar noch öder. Esslyn allerdings sah das ganz anders. Für ihn waren das Sortieren und Trennen von Rechnungen und Quittungen, das Ordnen von Haufen wilder Spesenabrechnungen zu Säulen nüchterner, korrekter Bilanzen und das Suchen nach obskuren Kniffen und Gesetzeslücken, die es ihm ermöglichten, die Steuerbelastung seines Klienten zu senken, eine tägliche Herausforderung, die er sich nicht scheute, als einen kreativen Prozeß zu bezeichnen.

Esslyn bevorzugte es, die Abrechnungen einzelner Personen zu bearbeiten. Sein Partner, ein Spezialist in Firmenrecht, bearbeitete vornehmlich größere Konzerne, mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der Wohltätigkeitsstiftung, die das Latimer förderte. Als Insider mit genauen Kenntnissen des Ensembles hatte Esslyn diese Aufgabe automatisch übernommen, wie er auch die Abrechnungen für Harolds Im-port-Export-Firma machte, die zwar bescheiden, aber nicht uninteressant war. Er berechnete Harold nie soviel, wie er von einem Fremden verlangt hätte, und er fragte sich manchmal, ob Harold das überhaupt zu schätzen wußte.

Als er am Ende dieser Erinnerungsprozesse und des Kopfrollens angelangt war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Kitty zu. Als sie das bemerkte, fuhr sie sich mit einer koketten Geste durch die hochgesteckten Locken, eine Geste, die einem weniger selbstgefälligen Ehemann etwas zu kalkuliert erschienen wäre. Dann bewunderte sie ihren Hals im Spiegel. Auch Esslyn tat das. Nicht eine Unreinheit, kein Pickelchen und keine Falte waren dort zu sehen. Sie hatte ein hübsches, kleines Gesicht. Nicht klar genug geformt, um es als herzförmig zu bezeichnen, hatte es eher etwas von einem Fuchs. Doch durch die eng zusammenstehenden funkelnden Augen bekam es etwas sehr Ansprechendes. Nun stand sie auf, strich über ihrem Bauch, der immer noch nicht runder war als zu der Zeit ihres gemeinsamen Gerangels im Requisitenraum, den rosafarbenen Stoff des Nachthemdes glatt und lächelte in den Spiegel.

Esslyn antwortete nicht mit einem Lächeln, sondern mit einem selbstzufriedenen Nicken. Er ging sehr sparsam mit seinem Lächeln um, das er nur zu ganz speziellen Anlässen hervorholte. Er war sich schon seit längerem bewußt, daß das Aufleuchten und die Veränderung seines Gesichts die Linien von der Nase zum Mund vertiefen würden. Jetzt rief er in einer Weise: »Liebling«, die mehr wie eine Anweisung denn wie ein Kosewort klang.

Gehorsam kam Kitty zum Himmelbett und blieb an seiner Seite stehen. Esslyn machte eine Geste nach oben mit der flachen Hand, und seine Frau zog sich das Nachthemd über den Kopf und ließ es zu dem kalten, himbeerfarbenen Gekräusel aus Satin rings um ihre Füße sinken. Esslyns Blick glitt über ihre mageren, fast knabenhaften Oberschenkel, die Hüften und kleinen Apfelbrüste, und seine Lippen signalisierten Befriedigung. (Rosa hatte es sich in den letzten Jahren ihrer Ehe erlaubt, auf eine groteske Art fett zu werden.) Esslyn fummelte mit einer Hand an der Kordel seiner Schlafanzughose herum, und mit der anderen klopfte er auf das Kissen seiner Frau.

»Komm, Kitty.«

Sie faßte sich angenehm an. Fest, jung und stark. Sie roch nach Geißblatt und dem dubiosen Weißwein, den sie im Vereinsraum verkauften. Sie war eher süß unterwürfig als frech aktiv, was, so fand jedenfalls Esslyn, auch genau das Richtige war. Und, um ihre Persönlichkeit perfekt abzurunden, sie konnte nicht für einen Groschen Theater spielen.

Sein letzter Gedanke rief die Probe zu Amadeus in seinem Kopf wach, und als Esslyn begann, sich heftiger in seiner Frau zu bewegen, dachte er über seine jüngste Rolle im Latimer nach. Es war schon eine Herausforderung (Salieri war immer auf der Bühne), aber ihn beschlich zunehmend das Gefühl, daß das Spielen allein nicht mehr genug war. Es war schon mal die Rede davon, daß er doch auch versuchen sollte, Regie zu führen, und in der Tat reizte Esslyn diese Idee. Er hatte vor langer Zeit einmal eine Biographie von Henry Irving gelesen und sich selbst in einem langen schwarzen Mantel mit Astrachankragen und einem hohen Hut gesehen. Er könnte sich sogar einen Backenbart wachsen lassen...

»Wie war es für dich, Liebling?«

»Wie war was ? Oh...« Er blickte in Kittys Gesicht hinunter. Ihre Lippen waren geöffnet und ihre Augen zu einer weichen Ellipse halb geschlossen. »Entschuldigung. Wie immer, Meilen entfernt. Gut... sehr gut.«

Er gab ihr einen postkoitalen Kuß in der Art, wie einer die letzte Verzierung auf einer Eisbombe anbringt, und dann rollte er sich auf seine Bettseite. »Versuch, deine Zeilen bis Dienstag zu lernen, Kitty. Besonders für die Szene, in der wir zusammen auf der Bühne stehen. Du weißt doch, daß ich es nicht ausstehen kann, wenn ich aufgehalten werde.« Unbewußt sprach er genau wie Harold. »Ich weiß nicht, was du eigentlich den ganzen Tag lang tust.«

»Wieso?« Kitty stützte sich auf einen Ellbogen und schickte einen leuchtenden himmelblauen Blick in seine Richtung. »Ich denke natürlich an meinen Pettipoo.«

»Und ich denke auch an dich, Miezekatze«, säuselte Esslyn, und in dem Moment glaubte er sogar selbst daran. Dann erinnerte er sie noch mal: »Vergiß es nicht - bis Dienstag«, sank auf sein Kissen zurück und war zwei Minuten später fest eingeschlafen.

Die Everards, die Hofschranzen des Hauptdarstellers, lebten in einer unsagbaren Unordnung in einem schmalen Reihenhaus unten bei der Bahnlinie.

Für die anderen Bewohner der Straße waren sie kuriose Gestalten, mit denen man nichts anfangen konnte. Sie schienen keinen Berufen nachzugehen (die Vorhänge waren manchmal bis mittags zugezogen), und oft genug kamen sie erst nach dem Nachmittagstee mit ihren kleinen Einkaufsnetzen aus dem Haus.

Es schien offensichtlich zu sein, daß sie nur wenig Geld hatten. Sie gaben nie etwas an der Tür, und gelegentlich waren sie schon gegen fünf Uhr an Markttagen beobachtet worden, wie sie hinter den Ständen umherstrichen und mit sorgsamer Pedanterie die übriggebliebenen Früchte und Gemüsereste einsammelten. Verschiedene subtile und weniger subtile Versuche einiger Nachbarn, in das Haus zu kommen, waren bisher fehlgeschlagen. Es war ihnen noch nicht einmal gelungen, einen Fuß auf das schmierige Linoleum im Flur zu setzen. Und die Fenster waren derart verdreckt, daß das Innere des Hauses selbst bei zurückgezogenen Vorhängen ein Mysterium blieb.

Das verwilderte Stückchen Land, das der Garten sein sollte, war mit Nesseln, Disteln und hohem Gras zugewachsen, das gelegentlich schwankte und raschelte, wenn diverse Nagetiere in ihm herumstöberten. Auf dem Asphalt unter dem vorderen Erkerfenster stand ihr Wagen. Es war ein fünfzehn Jahre alter Volkswagen, der durch Punktschweißen und Willenskraft zusammengehalten wurde und dort ein Guinness-Schild hatte, wo eigentlich die Steuermarke hätte sein müssen. Mrs. Griggs, die Zeitungshändlerin an der Ecke, hatte der Polizei davon berichtet, und der Aufkleber verschwand für eine Weile, aber nun klebte er wieder da. Die Everards, beliebte Mrs. Griggs zu sagen, gaben ihr den Rest. Sie konnte Clives Schneidezähne, die sehr scharf aussahen und etwas vorstanden, nicht ausstehen, genausowenig wie Davids Angewohnheit, zu blinzeln und zu schielen. In ihrer Abwesenheit nannte sie die beiden die Ratte und den Maulwurf.

Einzeln zeigten sie sich nur sehr selten, und wenn das überhaupt mal der Fall war, dann umgab diesen vereinzelten Everard immer ein leiser Anflug von Unsichtbarkeit. Es war, als könnten sie nur durch ihre physische Nähe zueinander den Funken entzünden, der es ihnen ermöglichte, in ihrer ganzen bösen Vollständigkeit zu erscheinen. Sie schienen sich voneinander zu nähren, in boshafter Voraussicht und im gegenseitigen Austausch Fett anzusetzen. Nichts machte die Brüder glücklicher als die starke Verunsicherung ihrer Nachbarn, obwohl sie nie ehrlich genug gewesen wären, das auch zuzugeben. Tatsächlich war die Scheinheiligkeit ihr Lebenselixier. Niemand wäre überraschter gewesen als sie selbst, wenn jemand eine ihrer Bemerkungen falsch verstanden hätte. Oder wenn eine ihrer Intrigen oder einer ihrer Pläne den Zusammenbruch einer heiklen Beziehung verursacht hätte und dadurch Kummer entstanden wäre. Wer hätte das gedacht? Dann hätten sie geweint und sich in ihre scheußliche Küche zurückgezogen, um weitere Verschwörungen und Pläne zu schmieden.

Passanten, die an der Axon Street dreizehn vorbeikamen, starrten zu den grauen Fenstern hinüber, murmelten etwas vor sich hin und zogen die Augenbrauen hoch. Oder sie faßten sich an die Stirn. Die Frage: »Was sind denn das für welche?« wurde nicht selten gestellt. Die Antworten rangierten in einem erfreulich weiten Spektrum von subversiven Aktivitäten; es reichte von der Raubdruckproduktion von Untergrundliteratur bis hin zum Herstellen von Bomben für die IRA. Sie alle waren natürlich weit vom wahren Kern entfernt. Der Strahl der Bosheit der Everards war, obwohl mächtig, doch sehr dünn, und wenn sie nur ein bißchen Chaos innerhalb des unmittelbaren Bekanntenkreises auslösen konnten, dann waren sie schon zufrieden.

Die Proben

Das Theater lag optimal im direkten Zentrum von Causton an einer Kreuzung der Hauptdurchfahrtsstraße. Es handelte sich um ein Eckgebäude, das ursprünglich den letzten Laden (eine Bäckerei) in der High Street und das erste Geschäft (für Kurzwaren und Nähmaschinenreparaturen) in der Carradine Road beherbergt hatte. Der Komplex bestand aus langgestreckten Räumlichkeiten im Erdgeschoß (das Brot wurde im Haus selbst gebacken) und mehreren kleineren Zimmern im ersten Stock. Mit der wertvollen Unterstützung des damaligen Bürgermeisters und Stadtrats Latimer hatte die Causton Amateur Dramatic Society die beiden Häuser gemietet, und mittels eines Zuschusses des Stadtrats, dem Erlös aus verschiedenen Sammelaktionen und einem erheblichen Anteil an professioneller Hilfe waren die Gebäude komplett ausgeräumt und die Fassade erneuert worden.

Sie hatten eine Bühne mit schlichtem Bühnenrahmen gebaut, hundert dunkelgraue Plastiksitze auf dem angeschrägten Boden aufgestellt, einen einfachen Schnürboden installiert und die Beleuchtung verändert. Es gab einen Bühneneingang und zwei große Glastüren vor dem kleinen Foyer, das mit Schreibtisch, Stuhl, Telefon und einem alten Aktenschrank sowie einem Münztelefon eingerichtet war und auch als Büro diente. Darüber hinaus gab es ein Brett, an dem Farbfotografien der laufenden Produktion hingen. Der große Keller, der unter den beiden Läden lag, wurde zur Bühnenwerkstatt und zu Garderoben umgebaut. Letztere reichten von ihrer Kapazität her im allgemeinen völlig aus, sah man mal von den Weihnachtsaufführungen und Inszenierungen mit einer so großen Besetzung wie der für Amadeus ab. Die Toiletten der Darsteller befanden sich auf dem Gang, der die Kulissen mit dem Foyer verband.

Der Vereinsraum nahm Dreiviertel der oberen Etage ein und war während der Pausen auch für das Publikum geöffnet, so daß hier Kaffee und Wein verkauft werden konnte. Man hatte den Raum mit Plastiktischen und Plastikstühlen bestückt sowie einigen Sofas, die, mäßig verkleidet, schon genausooft wie manch einer der Schauspieler auf der Bühne gestanden hatten, zuweilen auch - es muß einfach gesagt werden - mit größerer Überzeugungskraft. Der Rest der oberen Etage wurde von zwei Besuchertoiletten ausgefüllt sowie von Tims Beleuchterkabine, auf deren Tür zu lesen stand: PRIVAT. KEIN ZUTRITT. Das Latimer war mit einem anthrazitfarbenen Filzteppichboden ausgelegt, und die Wände waren mit weißem Rauhputz versehen.

Viele der CADS blickten wehmütig auf jene früheren Tage vor fünfzehn Jahren zurück, als sie, umgeben von Schutt und Bauholz, von Kabelrollen und Steinstaubschwaden, aus dem Chaos ihr eigenes Theater aufgebaut hatten. Damals war vieles noch ganz anders gewesen. Harold zum Beispiel: Bartlos und schlank in alten Kordsamthosen packte er mit an, machte sich schmutzig, ermunterte die anderen, wenn sie müde wurden, und hielt ihnen den Traum vor Augen, wenn ihr Mut und ihre Begeisterung mal nachließen.

In jenen herrlichen Tagen schien es, als wären sie alle gleichgestellt. Jeder hatte seine Rolle zu spielen, und keine war weniger wichtig als die anderen. Aber nachdem das Theater offiziell eröffnet worden war und Bürgermeister Latimer seine lange, verschachtelte Rede gehalten hatte, um dann schwer betrunken an der Theke abzutauchen, begannen sich die Dinge zu ändern, und es wurde bald nur zu offensichtlich, daß manche gleicher waren als andere. Harold machte seinen Weg an die Spitze, trat jeden nach unten, der zu scheu, zu schwach oder einfach zu faul war, um sich zu wehren, bis er schließlich (niemand konnte genau sagen, wann der Punkt erreicht war, an dem es kein Zurück mehr gab) als absoluter Herrscher über alle regierte. Und nun stießen gelegentlich Leute zu der Truppe, die nichts von der großen Pionierzeit wußten, als jedes Mitglied noch etwas zu sagen hatte und mit Respekt behandelt wurde. Aufsässige Neulinge eben, die sich herzlich wenig um die Vergangenheit kümmerten.

Wie Nicholas zum Beispiel, der sich nun dem Bühneneingang des Latimer näherte. Nach allem, was Nicholas wußte, war die Causton Amateur Dramatic Society während einer Probe zu Französisch ohne Tränen ins Leben gerufen worden und würde mit Amadeus wieder sterben, wenn sein Vorsprechen beim Central erfolgreich verlaufen sollte (was einfach der Fall sein mußte). Er suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Er hatte einen eigenen bekommen, als Colin gemerkt hatte, daß er bereit war, sehr früh zu erscheinen, erst spät zu gehen, hin-und herzulaufen, sie von vorn und hinten zu bedienen und sich insgesamt äußerst nützlich zu machen. Selbst jetzt, in seiner gehobenen Position, die Esslyn widerwillig als zweite Hauptrolle anerkannte, erschien Nicholas immer noch gut eine halbe Stunde vor dem Bühnenmeister.

Tatsächlich war es noch nicht einmal sechs Uhr, als er das Gebäude betrat, so daß es ihn nicht überraschte, sofort von der Stille geschluckt zu werden. Er blieb einen Moment stehen und sog gierig die Luft ein, obwohl sie auch nicht exotischer roch als eine Orangenschale, die jemand in einen Blechmülleimer geworfen hat. Aber in seinen Lehrlingsnüstern erschien ihm dieser Duft wie eine Köstlichkeit, wie Ambrosia. Nicholas stieg leise und glücklich die Steinstufen zur Garderobe hinab.

Er zog seinen Anorak aus, schlüpfte in die Brokatjacke des Mozart und nahm sein Schwert. Nicholas war ein kleiner Mann, kaum mehr als einen Meter fünfundsechzig groß, ein Umstand, der ihm erhebliche Qualen verursachte - ungeachtet der Körpergröße eines Ian Holm, eines Anthony Sher und eines Bob Hoskins.

Selbst an einem guten Tag, wenn der Wind aus südlicher Richtung kam, hatte er Probleme mit dem Schwert, besonders dann, wenn er sich ans Klavier setzen oder aufstehen mußte. Er hatte eigentlich vorgehabt, das Schwert mit nach Hause zu nehmen und dort in Ruhe zu üben, wie er damit umgehen sollte, aber er war so dumm gewesen, Harold um Erlaubnis zu fragen, die dieser ihm prompt verweigert hatte. »Du wirst es bloß verlieren, und was machen wir dann?«

Nun legte Nicholas das Schwert um und begab sich zur Bühne, wobei er den Text seines ersten Auftritts vor sich hin murmelte und an die Premiere dachte, bei der er unter Umständen genau in diesem Moment über sein Schwert stolpern und bäuchlings auf die Bühne stürzen würde. Mit einem Kraftakt schüttelte er diese Sorge ab. Im nächsten Augenblick war er schon auf der Bühne angekommen; Turnschuhe dämpften das Geräusch seiner Schritte. Einen Moment lang verharrte er da und wurde sich aufgeregt des Schauers bewußt - halb Grauen, halb Entzücken -, der ihn immer beim Betreten der Bühne überlief, selbst dann, wenn das Theater leer war.

Aber augenblicklich war das gar nicht der Fall. Er vernahm nämlich ein Geräusch, blieb wie angewurzelt stehen und blickte sich verblüfft um. Die Sitze waren leer. Er sah in die Richtung, aus der er gekommen war, aber auch in den Kulissen war niemand auszumachen. Dann duckte er sich und blickte über den abgeschrägten Boden, weil er erwartete, dort Riley vorzufinden, der sich gegen einen widerlichen Eindringling zur Wehr setzte. Aber da war kein Kater. Dann kam das Geräusch wieder. Schrill. Mit einem unangenehmen Unterton. So, wie es klingt, wenn man mit einem Fingernagel über eine Fensterscheibe fährt. Was konnte das bloß sein? Und woher kam es? Nachdem er die Bühne, die Kulissen und den Zuschauerraum durchsucht hatte, war Nicholas einigermaßen verwirrt. Bis er den Kopf hob.

Der Anblick, der sich ihm bot, war so überraschend, daß er einige Sekunden brauchte, um genau zu erfassen, was er da eigentlich anstarrte. Jemand war in Tims Beleuchterkabine. Ein Mädchen. Nicholas schluckte schwer. Ein nacktes Mädchen. Jedenfalls so weit nackt, wie er sie sehen konnte, nämlich bis zu ihren Hüften. Darunter ging die Glaswand in solides Holz über. Das Mädchen hatte einen wirren blonden Haarschopf und schmale Schultern, und ihr Rücken war gegen das Glas gepreßt. Wenn sie ihn bog, wie sie es nun tat, hinterließen ihre Schultern unregelmäßige feuchte Kreise auf dem Glas, die wie Blüten mit Tautropfen wirkten. Ihre Arme waren ausgestreckt, und ihre Finger, die sich auf dem Glas zusammenpreßten und wieder lösten, verursachten dieses eigentümliche Geräusch. Er wußte, wer sie war. Schon ehe sie sich plötzlich seitlich verrenkte und er eine kleine Brust sah und das fast ohnmächtig wirkende Profil. Ihre Augen waren geschlossen (Gott sei Dank). Wie in den Boden zementiert stand er da, starrte und starrte, unfähig, den Blick abzuwenden, und Kitty lächelte, ein sehr intimes Lächeln voller tiefer Befriedigung.

Wer auch immer es sein mochte, der sich sonst noch in der Beleuchterkabine aufhielt, er mußte vor ihr knien oder kauern. Eine lebhafte Vorstellung dessen, was der Glückspilz da wohl tat, drängte sich Nicholas auf, und er wurde von einer derart mächtigen Woge der Lust überspült, daß sein Hals trocken wurde und er nach Luft schnappen mußte. Als sich die Woge etwas abgeschwächt hatte, holte er einige Male tief Atem und sann über die extreme Peinlichkeit seiner Lage nach. Dann begann das Geräusch wieder, und er beobachtete, wie Kitty langsam an dem Glas herunterrutschte, wobei ihre Schulterblätter zwei feuchte parallele Spuren hinterließen. Als sie verschwand, drehte sie den Kopf wieder fort und lachte ein rauhes, kehliges Lachen, das sich so ganz anders anhörte als ihr normales Glockengesäusel.

Erleichtert und doch sehr vorsichtig atmete Nicholas aus, obwohl ihm sein Verstand sagte, daß dieses Geräusch kaum wahrnehmbar war (er wunderte sich ohnehin, daß sie das laute Pochen seines Herzens nicht gehört hatte), und dann schlich er auf Zehenspitzen von der Bühne und trug seine pralle Leistengegend zum Klo. Dort hielt er sich länger auf, als es unbedingt nötig gewesen wäre, dachte darüber nach, wie er jetzt wohl am besten vorzugehen hatte, und betete nur, daß Kittys Spielgefährte nicht plötzlich auch pinkeln mußte. Er hatte gerade beschlossen, sich aus dem Haus zu schleichen und noch einmal auf die Straße zu gehen, um dann mit lauten Geräuschen wieder hereinzukommen, als er hörte, wie hinter ihm eine Tür zugeschlagen wurde. Er wartete noch weitere fünf Minuten und ging dann ins Kellergeschoß hinunter.

Als er an der Damengarderobe vorbeikam, hörte er ein Scheppern, als würde jemand mit einer Flasche oder einem Topf hantieren. Nicholas öffnete die Tür. Kitty, von einer apricotfarbenen, hochgeschlossenen Bluse und einem robusten, nein, keuschen, langen Strickrock verhüllt, schnalzte vor Schreck mit der Zunge und beschwerte sich dann: »Du hast mich ganz schön erschreckt.«

»Entschuldige... Hallo.«

»Selber hallo.« Kitty sah ihn an. »Was ist los?«

»Hm?«

»Du wirst doch wohl nicht etwa Halsschmerzen bekommen?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Aber du krächzt.«

»Ach so. Das ist nur der sprichwörtliche Frosch.« Er räusperte sich einmal, zweimal. Dann ließ er spaßeshalber ein Gurgeln hören. Aber sie blieb weiterhin ernst. »Jetzt ist es besser«, meinte er.

»Es hört sich aber noch nicht besser an. Du siehst ein wenig kränklich aus, Nico... irgendwie ausgelaugt.« Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Also, was ist los?«

»Nichts.« Nicholas fälschte sein abruptes Lachen in ein Hüsteln ab. »Dann seid ihr also heute als erste hier? Du und Esslyn?«

Er hatte die Namen automatisch zusammengefügt, weil er fand, es sei angebracht, Unwissenheit zu heucheln und Kitty zu täuschen. Er gratulierte sich selbst zu diesem schlauen Einfall. Aber kaum hatte er das getan, da tauchte ein anderer Gedanke auf. Was war, wenn Kitty tatsächlich mit Esslyn in dem Zimmer gewesen war? Es waren schon seltsamere Dinge vorgekommen. Ehepaare brauchten zuweilen extravagante Orte oder bizarre Spiele, um auf Touren zu kommen. Man mußte ja nur das Stück von Pinter nehmen. Er kommt nachmittags »unerwartet« nach Hause; sie hat ihre Schuhe mit den hohen Absätzen an. Aber das alles war doch bestimmt erst nach Jahrzehnten ehelicher Langeweile nötig. Die Carmichaels waren dagegen vergleichsweise noch keine fünf Minuten zusammen. Kitty sagte gerade etwas zu ihm.

»Oh, Esslyn arbeitet bis halb sechs. Also bin ich in meinem kleinen Suzuki schon etwas früher gekommen. Ich brauche ja immer soviel Zeit, um mich fertig zu machen.« Sie lächelte, und ihre lieblichen Lippen öffneten sich wie Rosenblätter. »Ich dachte mir, daß ich dich bestimmt schon hier antreffe, wenn ich komme.«

»...äh ... nein...«, stammelte Nicholas. »Ich habe versucht, früher zu gehen, aber heute war einer dieser Tage, an denen der Chef besonders aufmerksam ist.«

Nicholas sog die Wirkung des Lächelns ein (ein sanfter, federleichter Schlag in den Solarplexus), und seine Knie wurden weich. Er packte grimmig den Türgriff. Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er den Enthusiasmus, der ihn lange Zeit vor dem Erscheinen anderer ins Latimer geführt hatte. Dann fragte er sich, wie zum Teufel er sich auf der Bühne konzentrieren sollte, wenn er sich so elend fühlte. Mit aller Kraft rief er sich ins Gedächtnis zurück, daß es schließlich bloß Kitty war. Die hübsche, dumme, gewöhnliche Kitty. Ihre enorme Dummheit und die Tatsache, daß sie eine sehr gleichgültige und desinteressierte Schauspielerin war, hätten normalerweise ausgereicht, um ganz sicher zu sein, daß er keinerlei Interesse an ihr hatte. Und wenn sein Gehirn das verstehen konnte, dachte Nicholas, warum sollte er dann nicht auch seine Eingeweide, die sich immer noch rhapsodisch drehten, unter eine ähnlich straffe Kontrolle bringen können?

Während er fortfuhr, gegen seinen Anflug von Fleischeslust zu argumentieren, nahm Kitty ihre Drahtbürste und begann, sich zu frisieren. Sie bürstete sich das Haar hoch und aus dem Gesicht zurück, das ohne die Aureole aus goldenen Locken wirklich auf eine pikante Weise herzförmig war.

Nicholas sagte sich, es sei doch eher spitz als herzförmig. Irgendwie scharf. Ein bißchen wie ein Frettchen. Dann öffnete sie den Mund, füllte die feuchte, rosarote Höhle mit Klammern und fing an, ihr Haar hochzustecken. Durch diese Bewegung trat ihr Busen stärker hervor, drückte sich gegen ihre Bluse. Dann, noch während Nicholas zusah, sprengten die Knöpfe ihre Fesseln. Der Stoff sprang auseinander, und ihre kleinen, wunderschönen Brüste waren entblößt und doppelt verwirrend, da sie der Spiegel noch einmal zeigte. Sie stand auf und ließ mit einer leicht aufreizenden, lasziven Geste den Rest ihrer Kleidung bis auf die seidenen Strapse und die oberschenkelhohen Stiefel fallen. Dann drehte sie sich um, stellte einen Fuß auf die Sitzfläche ihres Stuhls und versuchte, ihn anzulocken.

»Nico... ? Was auf Erden ist denn heute abend bloß los mit dir?«

»Oohh... die Nerven vermutlich.«

»Richtig. So geht es mir auch. Oh, verdammt...« Kittys Haare fielen herab. »Heute ist einer dieser Tage, an denen man am besten im Bett geblieben wäre.«

Nicholas, dessen Problem sich von dem seiner Mitspielerin kaum noch mehr hätte unterscheiden können, wurde plötzlich durch etwas abgelenkt, was in der Werkstatt herumgeschoben wurde. »Ah«, murmelte er, »es scheint, wir sind nicht die einzigen, die so früh hier sind.«

»Ich würde es ja so gern abschneiden lassen.« Kitty steckte die Klammern energisch wieder zurück. »Aber Esslyn würde durchdrehen. Er denkt, eine Frau ist nur dann wirklich weiblich, wenn sie langes Haar hat.«

»Ich frage mich, wer das sein kann.«

»Wer was sein kann?«

»In der Werkstatt.«

»Colin, nehme ich an. Er hat sich doch gerade erst kürzlich darüber beschwert, wieviel er zu tun hat.«

»Wie üblich.«

»Hm, Nico...« Kitty ließ ihre Brüste sinken und wandte ihm das Gesicht zu. »Du wirst doch nicht... ich meine... bei der Premiere zusammenbrechen, Liebling? Ich würde absolut wahnsinnig werden.«

»Natürlich werde ich nicht zusammenbrechen!« schrie Nicholas beleidigt. Diese Gemeinheit schaffte es besser als jeder der vorangegangenen Versuche, seine Leidenschaft mit einem Schlag wegzuwischen und ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Diese dumme Kuh. »Du solltest mich besser kennen.«

»Aber du hast soviel Text.«

»Auch nicht mehr als in Die Nacht muß kommen.«

»... und Esslyn sagt... bei deiner Unerfahrenheit... wirst du vermutlich einfach steckenbleiben und mich im Stich lassen...«

»Esslyn soll sein Maul halten.«

»Ohhh!« Eine gewisse Boshaftigkeit funkelte in ihrem Gesicht. Dann neigte sie den Kopf verschwörerisch ein wenig zur Seite.

»Keine Angst. Ich werde es schon nicht weitererzählen.«

»Von mir aus kannst du es jedem erzählen.«

Nicholas ging raus und warf die Tür zu. Dieser herablassende Mistkerl. »Ich werde bestimmt nicht derjenige sein, der bei der Premiere zusammenbricht, Kumpel«, zischte er. In der Herrengarderobe warf er sich in seinen Mantel und band das Schwert um, sah auf seine Uhr und stellte fest, daß kaum zwanzig Minuten vergangen waren, seit er das Theater betreten hatte. Er beschloß nachzusehen, was in der Werkstatt los war.

Da handwerkte ein Mann, der einem kleinen vergoldeten Stuhl den letzten Schliff gab. Als Nicholas hereinkam, trat er einen Schritt zurück und betrachtete eines der hinteren Stuhlbeine, während glitzernde goldene Tränen von seinem Pinsel auf den bereits mit bunten Flecken übersäten Boden tropften. Es war nicht der Mann, den Nicholas hier zu sehen erwartet hatte, aber er spürte eine sofort aufkommende Herzlichkeit und Wärme in sich aufsteigen, fast schon ein Gefühl von Freundschaft, das ihn mit dieser Gestalt verband, die ihre handwerkliche Arbeit so ernsthaft betrachtete. Jeder, der aus Carmichael einen Hahnrei machen konnte, war ein Mann nach seinem Geschmack.

»Hallo«, sagte er, »ist der Chef noch nicht da?«

David Smy drehte sich um, und auf seinem freundlichen, etwas einfältigen Gesicht erschien ein leises Lächeln. »Nein, bloß ich. Und du natürlich. Oh...« Er beschrieb einen weiten Bogen mit dem Pinsel, und Nicholas, der nicht mit Farbe bekleckert werden wollte, sprang zur Seite. »Und natürlich die Möbel.«

»Richtig.« Nicholas nickte. »Ich habe kapiert.« Dann vollführte er diese klassische spitzbübische Geste, wie man sie oft in schlechten Kostümdramen sieht, aber kaum jemals im wirklichen Leben. Er legte einen Finger an den Nasenflügel, tippte dagegen und zwinkerte mit einem Auge. »Nur du und ich und die Möbel also, Dave«, antwortete er und ging auf die Bühne, um noch ein wenig zu proben.

Nach fünfzehn Minuten, die er damit verbracht hatte, sich an das Klavier zu setzen und wieder aufzustehen, um sich an das Schwert zu gewöhnen, schaute Nicholas im Vereinsraum nach, wer sonst noch gekommen war. Tim und Avery saßen an einem Tisch und tuschelten miteinander.

Als Nicholas den Raum betrat, fuhren ihre Köpfe auseinander, und sie hörten auf zu reden. Tim lächelte. »Keine Bange, wir reden nicht über dich«, beteuerte er.

»Ich hatte nicht erwartet, daß ihr schon hier seid.«

»Wirklich nicht?« fragte Avery, der stets dachte, alle redeten über ihn, sobald er ihnen den Rücken zuwandte und zwar nicht gerade freundlich. »Ich hätte das schon erwartet.«

»Uh, nicht schon wieder diese infantilen Unsicherheiten, Avery«, stöhnte Tim. »Nicht auf leeren Magen.«

»Und wessen Schuld ist das? Wenn du nicht so lange im Postamt gebraucht hättest...«

»Nico...« Tim zauberte eine schlanke Flasche unter dem Tisch hervor. »Ein Schluck De Bartoli?«

»Später. Danke.«

»Es wird kein Später geben, mein Junge.«

»Worüber habt ihr eigentlich geflüstert?«

»Wir haben uns gestritten«, erklärte Avery.

»Im Flüsterton?«

»Man hat eben so seinen Stolz.«

»Es war mehr eine Diskussion«, korrigierte Tim. »Entschuldige, aber ich kann dir nicht sagen, worum es ging.«

»Wir brechen alle Brücken hinter uns ab.«

»Avery!«

»Wenn wir es Nico nicht sagen können, wem denn dann?«

»Niemandem.«

»Aber er ist unser bester Freund.«

Nicholas verbarg taktvoll sein Erstaunen über diese Eröffnung, und das Schweigen zog sich in die Länge. Avery knabberte an seiner Unterlippe, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war. Er warf Tim immer noch flehende Blicke zu und öffnete und schloß die Faust wie unter Höllenqualen. Er sah aus wie ein Kind, dem man am Weihnachtstag verboten hatte, seine Geschenke zu öffnen. Selbst sein Lockenkranz zitterte vor lauter Anspannung.

Nicholas beugte sich zu Averys Ohr hinab. »Ich habe auch ein Geheimnis. Wir können tauschen.«

»Ohhh... das läßt sich doch bestimmt machen, nicht wahr, Tim?«

»Also, ehrlich. Du benimmst dich wie ein Zweijähriger.« Tim sah Nicholas kühl an. »Was für ein Geheimnis ist das?«

»Ein verblüffendes Geheimnis.«

»Hm. Und niemand kennt es?«

»Nur zwei andere Leute.«

»Na ja, dann ist es doch kein Geheimnis mehr.«

»Es sind die beiden, um die sich das Geheimnis dreht.«

»Ach so.«

»Gib dir einen Ruck, Tim«, drängte Nicholas. »„Fairer Tausch ist kein Raub.«

»Woher hast du nur diese gräßliche kleine Sentenz?«

»Bitte...«

Tim zögerte. »Du mußt aber versprechen, vor der Premiere kein Wort darüber zu verlieren.«

»Versprochen.«

»Er sagt das etwas zu schnell. Wenn du dein Wort brichst«, fuhr Avery fort, »dann kommst du nie ans Central.«

»O Gott.«

»Jetzt ist er ganz blaß geworden.«

»Das war aber auch dumm von dir. Seit wann hast du eine Kristallkugel?«

»Warum nur bis zur Premiere?« fragte Nicholas, der sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

»Weil es danach ohnehin jeder wissen wird. Versprichst du es?«

»Ja. Ich würde eher tot Umfallen, als etwas weiterzusagen.«

»Aber erst dein Geheimnis.«

Nicholas erzählte ihnen von seiner Entdeckung und sah dabei von einem Gesicht zum anderen. Averys Mund öffnete sich wie ein Seestern zu einem Rund aus Erstaunen und Freude. Tim lief erst purpurrot an, wurde dann weiß und schließlich wieder rot. Er war der erste, der etwas dazu sagte.

»In meiner Kabine.«

Nicholas nickte mitfühlend.

»Das ist doch wohl eine Unverschämtheit.«

»Immer ein mot juste«, kicherte Avery, der vor lauter Zufriedenheit auf seinem Stuhl zu federn schien. Nicholas fand, daß er wie eines dieser dicken Stehaufmännchen aussah, die sofort wieder aufspringen, ganz egal, wie fest man sie umStößt.

»Aber... wenn du den Mann nicht gesehen hast, woher willst du dann wissen, daß es David war?«

»Weil außer ihm niemand hier war. Außer mir, Kitty, die etwa zehn Minuten später in der Garderobe saß, und David in der Werkstatt. Und ich weiß, daß er und sein Vater oft früher kommen. Aber sie waren noch nie so früh hier wie heute.«

»Ich dachte, du schließt deine Kammer immer ab«, wunderte sich Avery.

»Das tue ich auch. Aber es gibt noch einen Zweitschlüssel am Brett im Soufflierkasten«, erläuterte Tim und fügte hinzu. »Und den werde ich in Zukunft wohl auch nach Hause mitnehmen. Ich muß schon sagen«, fuhr er fort, »er ist ein wenig zu... klobig..., David. Für Kitty, meine ich.«

»Constanze mag es vielleicht grob«, kicherte Avery. »Das muß für dich ganz schön spannend gewesen sein, Nico. Magst du solche Sachen?«

»Oh«, druckste Nicholas kleinlaut, »... nicht wirklich.«

»Nun ja, er ist ein netter Kerl«, meinte Tim. »Und ich denke, fast jeder dürfte nach Esslyn eine Erlösung sein. Das muß doch so sein, als würde man mit dem Albert Memorial ins Bett gehen.« Er krempelte die Ärmel hoch. »Beinahe Viertel vor. Ich gehe jetzt besser und kontrolliere die Lampen.«

Er nahm seine Flasche und huschte, dicht gefolgt von Avery, zur Tür. Nicholas rief ihnen voller brennender Neugierde hinterher: »Aber was ist mit eurem Geheimnis?«

»Das muß warten.«

»Ich habe Zeit. Ich bin erst in zwanzig Minuten dran.«

»Und ich bin gar nicht dran«, echote Avery, »ich kann es ihm sagen.«

»Wir werden es ihm zusammen sagen.« Tim prüfte zunächst, ob die Tür zu seinem Lichtraum offen war, zog dann aber seinen Schlüssel aus der Tasche. »Wenigstens hat David hinterher wieder abgeschlossen.«

Er schloß die Tür auf, und für genau einen Augenblick standen die drei gemeinsam im Türrahmen, und Avery ächzte wie ein gejagtes Tier. Seine Stupsnase wurde spitz (soweit das möglich war), und er schnupperte, als wollte er die Fährte des zurückgebliebenen Geruchs der Verruchtheit in der stickigen Luft aufnehmen.

»Um Himmels willen, Avery.«

»Entschuldige.«

Das Bild von Kitty überkam Nicholas so lebhaft, daß es ihm unmöglich erschien, dieser winzige Raum könnte keine Spuren ihrer Gegenwart mehr enthalten. Dann sah er auf die Glaswand und entdeckte tatsächlich die kaum sichtbaren Spuren, die ihre Schulterblätter hinterlassen hatten, als sie am Glas hinabgesunken war.

Avery rätselte: »Ich frage mich, warum sie sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht haben.«

»Reine Perversion, würde ich meinen. Nun... wir sehen uns dann später, Nicholas.«

Nicholas drehte sich enttäuscht um, als ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoß. »O Avery... du wirst doch niemandem etwas davon erzählen?«

»Ich?« Avery gab sich entrüstet. »Ich finde es toll, daß du mich das fragst. Was ist denn mit ihm?«

Nicholas grinste: »Danke.«

Unten traf er Harold, der wie immer erschien, als wäre er Napoleon persönlich. Schon als er das Foyer betrat, fing er an zu schimpfen und hörte nicht eher damit auf, bis er hastige Bewegungen, wie unnötig sie auch immer waren, in jeder Ecke des Zuschauerraumes ausgemacht hatte. Er nannte das: sie in Trab halten. »Also, wer führt das Spiel an?« rief er fragend, setzte sich in Reihe C, zündete eine Davidoff an und nahm seine Kopfbedeckung ab. Harold besaß ziemlich viele Pelzmützen. Diese war schwarz, beige und gelbgrau und mit Sicherheit das Produkt aus mehr als nur einem Tierfell. Sie hatte einen kurzen Schwanz, der wie eine Ringelschwanzle-mure auf seinem Kopf kauerte und den die gesamte Truppe als Harolds Dämon bezeichnete.

»Komm schon, Dierdre«, brüllte er, »nun mach schon, hopp, hopp!«

Das Spiel begann. Die Venticellis sprangen nach vorn auf die Bühne und standen da, geheimnisvoll ineinander verschlungen, wie ein Paar schwatzhafter Gespensterheuschrecken. Sie waren ein unschönes Paar mit talgiger, großporiger Haut und eigenartigen seidenweichen Haaren, die beim kleinsten Windhauch von ihren Köpfen abstanden und auch noch eine ganz seltsame Farbe hatten - schmutzigblond mit einem leichten Anflug von Rosa, von Friseuren »Champagner« genannt. Ihre Augenlider bewegten sich eidechsenartig, als wären sie schon uralt, obwohl sie nicht einmal ganze dreißig Lenze zählten. Sie schienen stets kurz davor zu stehen, eine geschmacklose Enthüllung kundtun zu wollen, und sie sprachen in einer Art hektischem Flüsterton. Harold mußte sie immer dazu ermahnen, lauter zu reden. Da sie sich unter Esslyns Schutz ziemlich sicher fühlten, kritisierten sie giftig jeden und alles, und ihr Atem roch feucht und modrig, wie ein gerade geöffnetes Grab. Nun, da sie ihren Eröffnungsdialog beendet hatten, tänzelten sie davon.

Esslyn betrat die Bühne, und Nicholas stand in den Kulissen und beobachtete die großgewachsene Gestalt mit einem gewissen Maß an Neid, denn es ließ sich nicht leugnen, daß sein Rivale eine blendende Figur auf der Bühne abgab. Da war zunächst einmal sein Gesicht. Hohe Wangenknochen, eher dicke aber wunderbar geformte Lippen und wahrhaft schwarze Augen, wie man sie nur äußerst selten antrifft. Seine Pupillen glitzerten hart und strahlend wie Teersplitter. Den Unterkiefer umrahmte ein leicht blauschwarzer Schimmer, wie ihn auch die Halunken in diesen Gangstercartoons immer haben.

Nicholas’ eigenes Gesicht war dagegen eher durchschnittlich und nicht gerade markant. Bräunliches (aber eben nicht ganz braunes) Haar, bläulichgraue (aber eben nicht echte blaugraue) Augen, eine annähernd (aber eben doch nicht wirklich) gerade Nase. Nur die Tatsache, daß seine für sich genommen ebenmäßigen Gesichtszüge so ungleichmäßig angeordnet waren, gab ihm etwas Besonderes. Da war beispielsweise der etwas zu große Abstand zwischen Nasenspitze und Oberlippe, weswegen er befürchtete, ein bißchen wie ein Affe auszusehen, obwohl Hazel vom Supermarkt das angeblich »sehr sexy« fand.