Claudia Kasper

Debug Session

Manchmal fühlte Herb sich unsagbar einsam und vermisste die Freunde aus der Anfangszeit.

Schon seit Jahren gab es für ihn bloß noch Kollegen. Kurz nachdem sich David Bowie die Schminke aus dem Gesicht gewaschen hatte, während in einer Garage in Kalifornien der erste Apple zusammengebaut worden war, bestanden die Tage noch aus unzähligen Tassen Kaffee. Würstchen zweifelhafter Qualität sowie Bergen von Festplanen, Grafikkarten und Laufwerken, die montiert werden mussten, um dann überall in der AustroVersicherung verteilt zu werden. Sie hatten Rechner zusammengebaut, programmiert, getestet — zehn, zwölf und noch mehr Stunden am Stück. In den Anfängen war das absolute Beherrschen der jungen Zunft noch möglich — wenn auch nur für diejenigen, die in den richtigen Jahren geboren waren, ihr Verstand durfte gleichzeitig mit den Geräten heranreifen. Nicht alle überstanden diesen Prozess unversehrt. Niemand war überrascht, als einige in den ersten Tagen überschnappten, trunksüchtig wurden oder — praktisch über Nacht — verschwanden. Andere wieder wurden einfach müde — resignierten und beschieden sich, richteten sich auf einer bequemen Plattform behaglich ein und bildeten nach Ablauf des ersten Jahrzehnts die solide Armee der Unersetzbaren in den Firmen. Nur die wenigsten sind den Weg konsequent weitergegangen, Neuerung um Neuerung voller Begeisterung annehmend. Ihr Versland schien sich Siebenmeilenstiefel übergestreift zu haben, ohne jemals in Versuchung zu geraten, das Erreichte wohlgefällig betrachten zu wollen. Doch der Höhenflug konnte nicht ewig dauern. Erste. Verschleißerscheinungen machten sich bemerkbar, und das Muster blieb immer gleich.

Zuerst verfiel die Rüstung der wackeren Hightech-Ritter. Irgendwann gegen Ende der Siebziger hatten sie wohl noch einmal Stöße von Jeans und stapelweise T-Shirts gehamstert, einem kollektiven, düsteren Überlebensinstinkt folgend, wie um die Bekleidungsfrage ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Manchen gelang es auch — in einem letzten Aufbäumen des Selbsterhaltungstriebes — eine eigene Wohnung zu kaufen, doch viele blieben wohl für immer in Hinterzimmern bunter Wohngemeinschaften — sofern sie je ihr Elternhaus verlassen hatten.

Die koffeinverseuchten, junkfood-durchsetzten Jahre begannen, ihren Tribut zu fordern, das Gehirn fing widerwillig mit den ersten Rationalisierungsmaßnahmen an: belanglose Alltäglichkeiten wurden von der Liste gestrichen. Alltagsrechnungen wurden immer später bezahlt. Grünpflanzen vertrockneten, und in den Zimmern begann die Farbe abzublättern. Nur das Wissen glänzte und strahlte weiter, immer raffinierter, verzweigter, vollendeter. Inzwischen konnte sich noch kaum jemand mit ihnen messen. Die wahre Brillanz ihrer Lösungen blieb den Kollegen zumeist verborgen, und an die Einsamkeit mussten sie sich eben gewöhnen.

Herb saß an der südlichen Fensterfront des Großraumbüros gleich neben dem holzverkleideten Mittelträger. Von seinen Kollegen in der Abteilung der Versicherung bekam er auf den seltenen Betriebsfesten ab und zu ein liebevolles 'Herbie' zu hören, und manch einer dachte dabei wohl an ein seltsames Kräutlein, dass da in der Kollegenschar vor sich hin vegetierte.

Als Alix zum ersten Mal durch den Mittelgang schlenderte, fiel ihr ein erstaunlich heftiges Geklapper auf: unzählige Finger, die ähnlich einem Platzregen auf eine Tastatur niedergingen. Neugierig geworden, warf sie einen Blick hinter den Raumteiler, um nachzuzählen, wie viele Hände hier wohl tippen mochten — und sah nur Herb, in einer schwarzen Jeansjacke, beide zeitlos und unzerstörbar.

Mitte oder Ende 30, schien er gleichzeitig mit den ersten PC-Tastaturen hier Einzug gehalten zu haben, doch manche munkelten. Herb sei bereits vorher jahrelang im Keller vor dem hauseigenen Großrechner gesessen. Alix erzählte er einmal zu vorgerückter Stunde auf einer Betriebsfeier, er habe schon als fünfjähriger Bub in der Garage seines Onkels mit einer echten IBM-Lochkartenwalze gespielt.

Die meiste Zeit über lebte er von heißer Bratwurst und ihren Anverwandten — ganz nach den unausgesprochenen Regeln seiner Zunft. Sein eigentlicher Treibstoff jedoch war die ständige weiterwuchernde Computertechnik. Minderbegabte nahm er nicht ernst, grenzte sich bewusst von ihnen ab. Eine Karriere im Sinne von Beförderungen, markanten Gehaltserhöhungen oder gar einer leitenden Funktion hatte Herb weder angestrebt noch erreicht, dennoch genoss er eine Sonderstellung im Büro.

Herb generierte krisenfesten, kristallklaren Code, Zeile um Zeile mehr Gedicht als Software, und das tat er wenigstens 50 Stunden pro Woche. Aber er kam und ging, wie es ihm gefiel. Sein Boss nahm stillschweigend zur Kenntnis, dass Herb irgendwann nach 11 Uhr gemächlich hereinschlenderte — müde, ungelenk, nach einer Tasse Kaffee Ausschau haltend.

Herb saß Tag für Tag vor seinem Bildschirm und löste Probleme: objektorientierte, systemnahe und mit besonderer Vorliebe compilerverschuldete. Er ergründete das menschliche Versagen seiner Kollegen, lächelte nur zynisch beim Anblick so manchen Codekonstrukts, während er flickte, korrigierte oder einfach verwarf. Er wurde nur ungern um Rat gefragt und blieb so meist von Trivialitäten verschont.

Doch am liebsten arbeitete Herb ruhig vor sich hin, und das SFI — Schadenfall — Informationssystem bot ihm ausreichend Gelegenheit dazu, für Herausforderungen war gesorgt. Keine Niederlage auf meinem ureigensten Gebiet und wenn ich den Compiler Stück für Stück auseinander nehmen müsste — es ist noch genug Zeit. Assembler lese ich schneller als W. die Tageszeitung, für mich existieren keine unlösbaren Probleme. Die Maschine versagt — ich nicht! Gegen 17 Uhr setzte die erste Welle der Shut-Downs ein, die zweite folgte wie immer gegen 19 Uhr. Witze und obszöne Bemerkungen spülten die Programmierer aus dem Gebäude, bis schließlich die Räume zur Ruhe gekommen waren und mit ihnen auch Herb. Er holte sich gerade frischen Kaffee, als der Abteilungsleiter I. vorbeikam und ihm wohlwollend zunickte: „Haben Sie die Einführung in 'Management by Love' gelesen? Nein? Ja zum Teufel, Herb, wollen Sie ewig Programmierer bleiben? Ohne solides Wirtschaftswissen gibt es nun mal keine Projektleitung in dieser Firma, das müssen Sie doch inzwischen endlich kapiert haben. Mann! — Herb, es ist bereits 20 Uhr, werden Sie noch länger brauchen?"

„Kommt ganz darauf an, ob Sie den Einsatztermin verschieben möchten. Nein?"

„Es ist bedauerlich, dass der zuständige Projektleiter W. nicht mehr im Haus ist. Also appelliere ich an Sie…"

„Bedauerlich? Ich finde es bedauerlich, dass Sie W. nach wie vor Projekte anvertrauen, und das Allerschlimmste ist, dass er einen Teil davon sogar selber kodieren darf. Ob die Schwierigkeiten vorhersehbar waren? Für mich schon, für W. offenbar nicht, sonst wäre er ja nicht heimgegangen, oder? Wie bitte?! Nein, es hat durchaus nichts mit meinem Kommunikationsmodul zu tun. Nein, ich weiß noch nicht, woran es liegt, sonst wäre ich nicht mehr hier."

„Wenn wir nicht unter Zeitdruck stunden, müsste ich Sie nicht darum bitten, die Sourcen zu bereinigen."

„Das bliebe Ihnen so und so nicht erspart — sofern Ihr SFI jemals auch nur die Testphase erreichen soll. Wenn Sie mir eine Freude machen wollen, dann lassen Sie mich nächstens das ganze Paket alleine schreiben, und ersparen mir diese Murkserei in letzter Minute."

„Herb, bei aller Hochachtung vor Ihren Leistungen, die mangelnde Teamfähigkeit wird Ihnen noch eines Tages das Genick brechen. Schönen Abend noch!"

Gedankenverloren nahm Herb das Basisprogramm so lange Stückchen für Stückchen auseinander, bis er den von Projektleiter W. gewünschten Stein endlich einpassen konnte. Gegen 22 Uhr wurde er hungrig und ging zu einer Imbissbude, die garantiert bis Mitternacht geöffnet hatte. Abends hatte fast immer Klaus Dienst — und den hätte Herb schon fast als Freund bezeichnet, da Klaus ihm die richtige Mischung an Respekt, gespickt mit Bewunderung entgegenbrachte und prinzipiell kein Trinkgeld erwartete.

„Guten Abend Meister, was darfs denn sein? Käsekrainer mit süßem Senf gefällig?"

„Ja. passt. Was macht dein Marktforschungspaket? Ist die Editierfunktion endlich fertig?" „Schneiden? Bitte sehr! Und voila — ein Apfelsaft gespritzt, geht aufs Haus."

„Ah, deine Software macht wieder Ärger. Na. hast du den Laptop dabei? Ja? Lass sehen, wo fehlts denn…"

Klaus durfte sich zu Herbs engsten Bekannten rechnen, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Bekanntschaft erst ein halbes Jahr alt war. Rund um die Uhr bastelte Klaus verbissen an vermeintlich genialer Software herum, und die dabei zahlreich auftretenden Schwierigkeiten besprach er stets mit Herb. Sei es, dass sich das Betriebssystem quer legte oder sich die Idee nicht dingfest machen ließ — statt des sonst üblichen Trinkgelds bekam Klaus immer wieder mal einen grenzgenialen, von Herb höchstpersönlich entworfenen Algorithmus, der normalerweise auch klaglos funktionierte. Tat er das einmal nicht, so wagte Klaus vor lauter Hochachtung dennoch nicht, bei Herb zu reklamieren und bastelte lieber tagelang selber daran herum, endlos verstrickt in Adressen, Gleichungen und sich rekursiv aufrufende Funktionen, oftmals ratlos angesichts einer Komplexität auf die ihn in der Hochschule niemand vorbereitet hatte.

„Praxis fehlt mir, das ist alles. Nur die verdammte Praxis. Zwischen Senf und Leberkäse kann man gar keinen klaren Gedanken fassen!"

Diesmal war es vergleichsweise einfach für Herb. „Anfänger!", murmelte er halblaut, während er den Laptop zum Klappern brachte.

..He, deine Wurst wird kalt!"

,Pack sie mir ein!..'. So. das müsste reichen! Sieh mal, ob du jetzt alleine weitermachen kannst.“

„Soll ich sie noch schnell in die Mikrowelle schieben?"

Herb schüttelte den Kopf. „Danke für den Apfelsaft."

„Geht klar. Arbeite nicht zu viel, mach es doch mal wie dein Projektleiter W., der hat mehr Freundinnen als mein Rechner Steckplätze…"

Herb hatte sich das Leben geschaffen, von dem er immer geträumt hatte: einen geschützten Raum ohne Fallstricke für das eigene Selbstverständnis — und dabei doch voll von möglichen Triumphen. Eines Tages wurde die Konstruktion aus Leberkäsesemmeln, virtuellen Funktionen und gelegentlichen Besuchen im Münzwaschsalon von außen infiltriert. Am Anfang bemerkte er eigentlich nur das Knacken der Äpfel und Karotten wenn Alix Pause machte. Frisch, saftig, aber nicht unbedingt verlockend.

Solches Zeug verursacht doch nur Magendriicken und Blähungen, satt wird man davon auch nicht.

Doch die Frau war hübsch, jedenfalls jung und offenbar durchaus bereit, männliche Blicke auf sich zu ziehen. Ihre Kleidung drückte das deutlich aus. Der eine oder andere Kollege hielt sich in den unvermeidlichen Stunden der Selbstüberschätzung für etwas Besonderes und versuchte sein Glück bei ihr. Einige feinfühlige Manier — Herb gehörte zweifellos zu ihnen — betrachteten sich von vornherein als für derartige Dinge nicht in Frage kommend und ersparten sich damit so manchen Rückschlag.

Umgeben von technischen Dokumentationen, Aug in Aug mit Bruder Computer und Freund Compiler konnte Herbs Selbstbewusstsein ungehemmt wuchern. Irgendwann einmal war es dann stark genug — eine leichte Ahnung vager Freuden ließ ihn Alix schließlich mit gewissem Interesse betrachten — um ihrem Blick nicht mehr sofort, sondern erst nach 10 Sekunden auszuweichen. Am Parkplatz vor dem Büroturm sprach Alix ihn einmal einfach an: ob er sie ein Stück mitnehmen könne, hinein in die Stadt? Bei dieser Hitze seien öffentliche Verkehrsmittel eine Zumutung und außerdem… Herb war viel zu verblüfft, um ablehnen, und fuhr ein paar völlig unnötige Schleifen, bis er endlich ein „Gehen wir noch auf einen Eiskaffee?" herausbrachte.

Immerhin — das war mal etwas Neues, Aufregendes. Müde fühlte er sich dennoch, als er schließlich mit Alix in einem Cafe saß, und reden mochte er schon gar nicht. Eigentlich genügte ihm ihre bloße Anwesenheit — es hatte so etwas anheimelnd Normales mit ihr beisammen zu sitzen — ungewohnt, aber durchaus nett. Alix hatte eine hübsche, sanfte Stimme, die stets ein wenig eindringlicher wurde, sobald sie ihm eine Frage stellte. Und genau diesen Moment fürchtete Herb.

Noch war sie ja freundlich zu ihm. Doch schon bald würde sie herausfinden, dass er ein Langweiler war.

Alix gefiel ihm, er hörte gerne ihre Stimme. Irgendwie fing er gerade noch ein paar Wortfetzen auf — es ging ihr also um die Zukunft, und der Satz entpuppte sich als Frage. Herb versuchte sich zu konzentrieren.

„Die unglaubliche Entwicklung der letzten 50 — nein, was sage ich, 30 Jahre hat die Menschen weiter gebracht als die Jahrhunderte davor. Überleg mal, was uns so alles erwartet: LCD-Bildschirme, Direktinput über Hirnwellensensoren, implantierbare Hilfsgeräte, neuronale Netze — auf welche davon freust du dich denn am meisten?"

„Denkst du immer nur an Rechner, Software oder ans Internet?"

„Das ist nun mal die Zukunft — schon jeder zweite Würstelmann hämmert unter der Theke Code in seinen Laptop während oben die Cevapcici brutzeln."

„Gerätst du immer an so schräge Typen? Oder vielleicht sollte ich mir die Frage besser selber stellen…"

Am Abend kam Herb meist spät nach Hause. Er öffnete die Wohnungstür, und der Geruch überreifer Bananen schlug ihm entgegen. Seine Wohnverhältnisse hätte ein Außenstehender wohl sehr leicht als trist empfinden können — allerdings nur ein Mensch, der keinerlei Augen für Synthesizer, Mischpult, Computer und Musikinstrumente hatte. Gitarren in reichlicher Auswahl, einige davon verstaubt, eine defekte Westerngitarre, doch alle zentral im Wohnzimmer arrangiert. Ganz offensichtlich wurden sie kaum benützt, sondern dienten als Ausstellungsstücke eines anspruchsvollen Selbstbildes, das immer noch an der Illusion der eigenen Vielseitigkeit fest halten wollte. Helle, rohe Bretter an den Wänden meterweise Sciencefiction-Literatur, dazwischen einige Grünpflanzen: nicht wirklich lebendig, aber eben auch nicht vollständig vertrocknet.

Über die Jahre hinweg fand er auch immer wieder eine ruhige Minute, um versonnen an der Mikrowelle lehnend die verblassenden Farben der Gewürze in den Schraubglasern zu betrachten. Langsam wechselte das kräftige Rot des Paprikapulvers zu einem blassen Orange, daraus wurde im Verlauf zweier weiterer Jahre eine Art rötliches Grau und wies somit die gleiche Farbe auf wie die Fliesen am Herrenklo der AustroVersicherung — einsamer Ort der Begegnung mit der eigenen Sexualität. Armseliger noch die Verhältnisse in der eigenen Wohnung, wo ein paar achtlos am Boden des Kleiderkastens verstreute alte Playboy-Nummern eine Art unwilligen Tribut an lästige biologische Gegebenheiten des männlichen Daseins darstellten. Auf der unbezogenen Hälfte des Doppelbetts saßen die fluseligen, zerschmusten Stoffveteranen aus Kindertagen. Durften sie auf baldige Gesellschaft hoffen? Für einen Moment dachte er an Klaus: „Du solltest dir an deinem Projektleiter W. mal ein Beispiel nehmen. Er ist heute schon wieder mit so einer blonden Schönheit weggefahren. Also, wenn du mich fragst…"

Ja, an der Copa Cagrana hatte er mit Alix einen wundervollen Abend verbracht. Alix war einfach schön, ganz verwundert hatte Herb es schließlich registriert, erst nachdem sie sich schon stundenlang unterhalten hatten. Zuerst konnte er nicht abschalten nach offenbar zu viel Arbeit. Er kam mit einem Kopf voll Basisklassen und Instanzen zur Verabredung, der innere Compiler lief einfach weiter, die Syntax vernebelte den Blick, der sich schließlich am Bierglas fing.

Was, zum Teufel, hat sie gesagt?? Ich soll schon wieder eine Antwort geben?!

„Wie ist denn dein Tag so gelaufen?"

„Frustrierend, ich habe acht Stunden vergeudet beim Suchen eines Trivialfehlers, der sich dann als fehlerhafter Code in einer falsch dokumentierten Betriebssystemfunktion herausgestellt hat. Nullbyte statt Backslash, muss ich noch mehr sagen?"

„Nicht nötig — aber, wenn alles Einfühlungsvermögen fürs Aufspüren undokumentierter Betriebssystemfunktionen verwendet wird — was bleibt dann für eine Frau in deinem Leben?"

„Frau hab ich keine, und Freundin brauche ich keine. Nein, das war nicht persönlich gemeint, wir trinken doch nur eine Tasse Kaffee zusammen."

„Was ist heute los mit dir? Ärger im Büro? — Ignoriere diese Idioten einfach…"

„Na klar, darin bin ich Weltmeister: leider kann ich mir das auf die Dauer auch nicht leisten, und wenn ich noch so brillant bin. Alix, kennst du eigentlich Cyberfroh?"

„Nie gehört? Hast du dort mal gearbeitet?"

Ja, das ist eine dieser kleinen Softwarepressen, die aus hochmotivierten Neohackern mittelmäßige Buchhaltungspakete herausquetschen — in endlosen Überstunden, versteht sich. Und der saftlose Programmierertrester wird regelmäßig ausgewechselt. Ich flog dort sozusagen vor der Zeit raus, bloß weil ich der Compilerfirma eine penible Aufstellung aller Compilerfehler schickte — sollten sie eben auch von meinen unzähligen Nachtschichten profitieren…"

„… und sehen was du draufhast…"

„Genau. Die Antwort kam dann postwendend, allerdings war der Brief dann nicht an mich, sondern direkt an meinen Chef gerichtet, mit der etwas barsch formulierten Anfrage, wie viele Lizenzen er eigentlich zu kaufen gedenke oder ob vielleicht eine Anzeige wegen Raubkopiererei erwünschter wäre…"

„Pech für dich, aber gar nicht so erstaunlich. Immerhin wird 75 Prozent der kommerziellen Software illegal verwendet, bei den Spielen sieht es noch viel schlimmer aus. Viel eigenartiger finde ich die Verletzlichkeit der Dinge. Die Kaffeemaschine geht über, die Glühbirne fällt aus, ein Dreijähriger wirft versehentlich das Telefon hinunter — schwupps, schon funktioniert es nicht mehr. Ein bisschen Wasser tropft auf das elektronische Notizbüchlein — alles kaputt, unbrauchbar. Ein Narr, wer mehr erwartet?"

„Nein, ein Techniker…"

„Sind das denn diametrale Erwartungen: der Glaube an die Dinge oder der Glaube an die Menschen. In der perfekten Welt müssten wohl beseelte und unbeseelte Dinge gleichermaßen funktionieren."

„Einige wenige meinen immer noch, dass im Paradies keine Computer mehr benötigt werden." Der Abteilungsleiter I. machte seine übliche Abendrunde, nicht ohne Herb, dem einzigen noch anwesenden Programmierer anerkennend auf die Schulter zu klopfen.

„Ohne Ihren vorbildlichen Einsatz wäre es schlecht bestellt um unser SFI. Werden Sie noch länger hier bleiben? W. war heute bei mir und hat gesagt, dass das Kommunikationsmodul noch immer nicht…"

Die Gegenseite hat gepfuscht, die würfeln dort offenbar um unsere Spezifikationen…"

„Ja. selbstverständlich, die Leute vom Großrechner sind Schuld daran, natürlich, das hätte mir gleich klar sein müssen. Herb, hören Sie endlich auf, diese Abteilung als feindliches Lager zu betrachten. Teamgeist, Teamgeist! Hören Sie. haben Sie die Sache im Griff? Gut. Bis morgen früh?"

„Es dauert nicht mehr so lange, nein, ich kann nicht genau sagen, wann ich fertig bin. Heute Abend wollte ich eigentlich…“

„Wenns wichtig ist, kann ich Ihnen ja eine Entschuldigung schreiben,“

„Ja, ganz toll, lassen Sie den Schlüssel einfach hier."

Achselzuckend fuhr er fort, warf den Compiler an und ging zur Kaffeemaschine. Wieder an seinem Platz, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Eigentlich hätte er es wissen müssen. Nichts wirklich Überraschendes also. Es bedeutete bloß, dass er bis zum Morgengrauen hier würde sitzen müssen, genau genommen bis zum Beginn des neuen Arbeitstages.

Scheiß Computer. Wer braucht schon du Hotline?. Komm schon, komm schon was heißt hier 'Internal Compiler error. Please contact Megasoft Technical Support '? Wenn das die Hochsprache nicht schafft — auch gut, kommt eben knallharter Maschinencode hinein. Wo hängt es jetzt schon wieder? Ah, Freund Compiler kann keine Pointeraddition mehr… Wer heutzutage schon alles programmiert — keine Ahnung von der Maschine, keine Ahnung von der Sprache. Was lernen sie schon an der Hochschule? Nachdenken? Nicht einmal lesen können die meisten. Sonst müsste ich nicht mitten in der Nacht hier sitzen…

Während die Maschine sich nach einem neuerlichen Komplettversagen surrend bemühte, wieder hochzukommen und dabei penibel und langsam ihre Ressourcen und Kapazitäten durchzählte, lehnte sich Herb zurück. Gesprächsfetzen des letzten Treffens mit Alix trieben durch seine Gedanken.

„Wenn du einen Brief von mir willst, dann besorg dir doch gefälligst eine E-Mail-Adresse." Hatte er das wirklich gesagt? Ja. er hatte sich müde und gereizt gefühlt, außerdem schrieb er nicht gerne mit der Hand. Einen flüchtigen Moment lang hatte er es sogar irgendwie witzig gefunden — genau so lange, bis er es ausgesprochen hatte. Natürlich, so sollte man mit einer Frau nicht reden, schon gar nicht mit einer, die man noch nicht mal besonders gut kannte — und von der man etwas wollte. Verdammt. Vielleicht sollte er Alix anrufen. Eigentlich wäre das schon vor Tagen fällig gewesen. Morgen am Vormittag — vielleicht geht sie ja an meinem Tisch vorbei. Doch zuerst musste diese Datenbank unterjocht werden. Endgültig. Doch damit würde es jedoch noch nicht getan sein. 'Hostverbindung', das hatte er sich für diese Nacht auf seine Fahne geheftet — mochte das auch stundenlanges Studium von APPC — Protokollen bedeuten. Die latente Übelkeit kam mit an Sicherheil grenzender Wahrscheinlichkeit von den acht Tassen Kaffee, dennoch war seine Arbeit in den letzten Stunden extrem gut gelaufen: der Code hatte sich praktisch von allein geschrieben, Zeile um Zeile: transparent und zielgerichtet, dabei von den Kollegen kaum zu durchschauen, geschweige denn zu verändern, so hatte er die perfekte Hülle für das Problem geschaffen. Spät, erst gegen 23 Uhr, wurde Herb hungrig und holte sich eine weitere Tasse Kaffee. Am Rückweg zu seinem Schreibtisch ging er an Alix’ Tisch vorbei und strich mit den fingern sanft über ihre Tastatur — zu intimeren Gesten war es bis dato leider noch nicht gekommen. Ein dumpfes Unbehagen mutierte plötzlich zur unangenehmen Erkenntnis, dass er am vorhergehenden Abend mit Alix verabredet gewesen war, was er total vergessen hatte — das würde auch ihren bösen Blick vom Vormittag erklären

Es war so viel zu tun, verdammt, sie halsen mir immer ihren Müll auf. Das muss Alix doch wissen! Ich hätte sie anrufen müssen, vielleicht hätten wir dann wenigstens gemeinsam hier sitzen können.

Genau genommen hatte er sie noch nie angerufen, obwohl er ihre Nummer längst schon auswendig kannte. Tief drinnen platzte ein Tütchen und unbekannte Gefühle — gemischt wie bunte Drops — kugelten in sein Gehirn und begannen, den Denkprozess zu verkleben. Um den Termin — W.’s Termin natürlich wieder einmal — halten zu können, würde er schon noch ein paar Stunden dranhängen müssen. Verdammt! Ungeduld haue er früher nicht gekannt. Er wurde ärgerlich, versuchte besser zu denken und rascher zu tippen, doch die Maschine fühlte, dass die Hand des Meisters unsicher war und widersetzte sich. Fortgewischt war die Magie der Dunkelheit, die ihn sonst in solchen Nächten dem Morgengrauen entgegentrieb. Seine Bewegungen wurden fahrig, die Gedanken begannen zu schlingern.

Das Problem müsste rascher gelöst werden. Ich werde den Algorithmus präzisieren. Ja, so kann es funktionieren und morgen, morgen wirdalles fertig sein, wie immer. Sie brauchen mich. Die Konstruktion ist zu kompliziert — W. hat es verpfuscht. In Wirklichkeit ist es doch ganz simpel. Ich werde neu anfangen, keine faulen Kompromisse. Ja, von Grund auf sauber, geradlinig. Ich muss bessere Funktionen schreiben, ohne all die lästigen Parameter. Es muss einfacher werden. Alix ist auch unkompliziert. Ich werde sie anrufen. Weg mit den Schleifen, weg mit dem Tand. Es geht auch anders, es gibt immer einen Weg. Wie schnell kann man denken?

Herb hatte kaum jemals schneller gearbeitet. Ein jähes Hochgefühl beflügelte ihn, und er wollte Alix anrufen. Vielleicht konnten sie ja gemeinsam irgendwo frühstücken. Geistesabwesend tippte er die Nummer ein. Der Compiler kaute noch am neuen Sourcecode, Projektleiter W. hob ab und das Surren im Hintergrund war ihm wohl vertraut.

Mein eifrigster Mitarbeiter — was für eine Plage! ..Herb. Sie sinds? Was macht denn die Hostkommunikation? Haben wir schon eine Verbindung? Herb?"

„Ja, ja, es ist alles da, alles vom Feinsten. Ihr Modul habe ich neu geschrieben, braucht nur mehr einen Bruchteil der Systemressourcen, wird Ihnen gefallen …"

Mein Gott, so ein Idiot! „Wunderbar, ganz wunderbar. Wenn wir Sie nicht hätten. Gehen Sie endlich heim Mann, süße Traume."

Herb lehnte sich zurück. Eine Fehlermeldung des Compilers geriet in sein Blickfeld. Irgendetwas muss schief gelaufen sein. Ihm wurde kalt. Was habe ich falsch gemacht? Die Verbindung muss ganz einfach klappen, und was wollte W. eigentlich von mir? Um diese Zeit? Weiß Gott in welchem Bett er liegt! Ich sitze hier und räume seinen Mist weg!

Herb fühlte sich müde und gereizt, doch er wollte den Bodensatz der Nacht für den endgültigen Triumph nützen. Alix würde stolz sein. W. hatte es ja gerade gesagt: ohne ihn, ohne Herb wären sie gar nichts, nur ein Haufen Versager ohne Zukunft in dieser Firma! Das Beste ist: es braucht nur mehr eine, eine einzige, die allerletzte Übersetzung! Auf ein Neues! Bei dem satten Klacken der Eingabetaste lehnte sich Herb entspannt zurück, um die Augen zu schließen. Das gleichmäßige Surren des Computers erfreute ihn. als die Festplatte zu knurren begann, glitt er langsam in einen regelmäßig wiederkehrenden Traum, der ihn oft nach einem viel zu langen Arbeitstag heimsuchte.

In den datendurchsetzten Szenen verfolgt ihn ein unlösbares Problem. Der Raum zum Agieren ist beschränkt, gerade genug Möglichkeiten, um nicht in Aussichtslosigkeit zu erstarren. Ein endloses Sich-im-Kreisdrehen — immer wieder eine neue Kompilierung, ein neues Spiel, eine neue Idee, ohne jemals ein Ziel zu erreichen. Endgültiges Scheitern ist nicht möglich, denn auch das würde Freiheit bedeuten — bei aller darin enthaltenen Enttäuschung. Jede Idee ist nur noch Zwang zum wieder und wieder Durchdenken, Umgestalten. Ausprobieren. Schnell und noch schneller werden sie vom Gehirn produziert und von den tippenden Fingern exekutiert. Diesmal zieht sich quer durch den vertrauten Albtraum ein unendliches rotes Telefonkabel. Es ringelt sich an den Tischbeinen empor, kriecht über die Tastatur und umschlingt den Bildschirm. Herb versucht es zu entwirren, mit Logik zuerst, doch der Anfang lässt sich nicht finden. Irgendwann wird ihm heiß, er wird zornig, reißt daran herum, nur um jetzt auch selber hineinverwickelt zu werden. Das rote Kabel umwickelt seine Handgelenke und schlängelt sich den Arm empor. Der Raum wird immer kleiner, und doch reicht die Verzweiflung in diesem Traum jetzt weder zum herzklopfenden Erwachen noch zum Aufgeben.

Die Putzfrauen kamen gegen 5 Uhr früh. Schon einige Male hatten sie Herb wecken müssen, der über der blank gescheuerten Tastatur eingenickt war. Diesmal hatten sie keinen Erfolg. Ein halbes Jahr später wurde die AustroVersicherung wegen grober Missachtung des Arbeitszeitgesetzes mit tragischem Ausgang zu einer empfindlichen Geldbuße verurteilt. Das Schadensfall — Informationssystem konnte planmäßig den Echtbetrieb aufnehmen.