Aus der Reihe »Utopia-Classics«

Band 4

Frederik Pohl und Jack Williamson

Duell in der Tiefe

Abenteuer in Thetis, der Tiefsee-Metropole.

Amerikanischer Originaltitel: UNDERSEA QUEST

Aus dem Amerikanischen übertragen von Leni Sobez

1. Der Brief mit dem Wappen

Meinen Onkel Stewart Eden sah ich zum erstenmal, als ich zehn Jahre alt war.

Er kam in unser Haus in New London, wo unsere Familie immer gewohnt hatte. Die alte Haushälterin Mrs. Flaherty war die ganze »Familie«, die mir noch geblieben war. Sie hatte mich auf seine Ankunft vorbereitet, doch nicht darauf, wie er aussah.

Ich stand auf der Veranda, als mein Onkel den Gartenweg entlangkam. Er war ein blasser Riese von einem Mann, mit einem bronzefarbenen Bart. Er hinkte ein wenig aufgrund einer alten Verletzung. Seine Stimme klang erstaunlich sanft.

,,Du bist also Jim«, sagte er. Das war alles. Ich glaube, er wußte nicht viel über Zehnjährige. Vielleicht füchtete er, ich könnte in Tränen ausbrechen, wenn er mir den Kopf tätschelte oder die Hand drückte, als ob ich das wirklich getan hätte! Solange ich zurückdenken konnte, stand ich allein da, und ich hatte nur die Haushälterin, sonst niemanden.

Er stellte seine abgenutzte Tasche aus Haileder ab und sah auf die Uhr. Wie charakteristisch diese Bewegung doch war! An diesem Nachmittag mußte er sie schon hundertmal gemacht haben. Und jedesmal runzelte er die Brauen, als rasten für ihn die Stunden viel zu schnell dahin.

»Komm«, forderte er mich mit seiner sanften Stimme auf. Er nahm meinen Arm und führte mich die Stufen hinab.

Ich blieb stehen. »Was ist mit Mrs. Flaherty?« fragte ich unsicher. Die Haushälterin ließ mich nie allein weggehen, seit sie mich in einer selbstgebastelten Taucherglocke am Grund unseres Teiches gefunden hatte und die Feuerwehr rufen mußte, die mich dann befreite.

»Laß Mrs. Flaherty«, antwortete er mit seiner warmen Stimme, in der immer ein kleines Lachen war. »Du bist doch jetzt ein Mann, Jim. Wir Männer haben ein Recht, dann und wann einmal allein wegzugehen.«

Ich folgte ihm mit einem kleinen Zweifel in meinem Herzen, doch dieser Zweifel wurde bald beseitigt. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich nämlich Mrs. Flaherty, wie sie hinter einer Gardine herausspähte. Ich sah sie lächeln, aber sie betupfte sich die Augen. Arme Mrs. Flaherty! Sie war dem Andenken meiner Mutter viel zu treu und hatte nie versucht, deren Platz in meinem Herzen einzunehmen, aber sie konnte nicht anders, sie sah in mir doch ihren Sohn.

Mein Onkel fuhr mit mir in der Einschienenbahn zur Küste. Sehnsüchtig schaute ich zum Vergnügungspark hinüber, als wir vorbeifuhren, doch mein Onkel schüttelte den Kopf. »Nein, Jim«, meinte er und lachte wieder. »Karussells sind nichts für Männer. Und heute mußt du ein Mann sein. Du und ich, wir beide gehen uns etwas ansehen, das du vorher noch nie gesehen hast.«

Recht hatte er. Denn an diesem Nachmittag zeigte mir mein Onkel die See.

Etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte?

Ja. Natürlich sah ich jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster schaute, die weißen Schaumkronen der Brecher oder die schiefergraue Linie der Wetterwolken vor dem Horizont. Und dabei hatten mein Vater und ich zahllose Stunden in kleinen Segelbooten verbracht.

An diesem Nachmittag zeigte mir mein Onkel Stewart Eden die See so, wie sie wirklich war. Wir saßen auf einer Landebrücke und sahen den Möwen zu. Schlanke Unterwasserfrachter schlüpften durch das Wasser weit hinaus, und unter uns brachen sich die Wellen. Er redete. Viele seltsame und wundervolle Dinge erzählte er mir. Er zeigte mir, warum die See sein ganzes Leben war und wie ich sie zu dem meinen machen könnte.

Und die riesige See selbst zeigte er mir auch, die ungeheuren, verschlungenen Weiten und Tiefen, die Gipfel, die Städte und die unbekannten Kelp-Dschungel. Mein Onkel war ein sehr hingebungsvoller Mann. Sein Leben gehörte den Gebieten unter der Wasseroberfläche, und an diesem Nachmittag, als wir an der felsigen Küste von Connecticut saßen, begann ich den Grund dafür zu verstehen.

Die Sonne stand tief hinter uns. Mein Onkel hörte zu reden auf; nicht deshalb, weil er nichts mehr zu sagen gehabt hätte, oder weil mir die Lust zum Zuhören vergangen gewesen wäre, sondern es war ganz einfach unmöglich, eine umfassende Geschichte der See zu erzählen. Jeder Mensch mußte so etwas ganz allein für sich selbst entdecken. Die See mußte man erleben, und selbst dann konnte man nie sicher sein, daß man auch die richtigen Worte für sie fände.

Fast besorgt schaute er wieder einmal auf die Uhr und seufzte. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter.

»Das ist eine ganze Welt, Jim«, sagte er. »Und ich muß jetzt zu ihr zurückkehren. Ich wollte, ich könnte mehr Zeit mit dir verbringen, dich ein wenig besser kennenlernen. Aber ich muß heute abend wieder weg.«

Ich richtete mich so hoch auf und hielt mich so gerade wie ich konnte. »Onkel Stewart«, sagte ich mit krampfhaft tiefer Stimme, »nimm mich mit, bitte.«

Er lächelte mich nicht an, er tätschelte mir auch nicht den Kopf. Geduldig antwortete er mir: »Nein, Jim. Glaub mir, ich würde es tun, wenn es möglich wäre. Aber dir gegenüber wäre es wirklich keine Freundlichkeit. In den Städten unter der See ist das Leben hart, Jim. Für dich ist dort kein Platz. Noch nicht. Du mußt noch ein halbes Dutzend Jahre zur Schule gehen, ehe du überhaupt daran denken darfst.«

Sein Griff um meine Schulter verstärkte sich. »Aber die Zeit wird vorübergehen, Jim. Nein, nicht schnell; darüber will ich dir nichts vormachen. Es ist schwierig, zu studieren, auf die Lehrer aufzupassen und deine Bücher zu lesen, wenn dort unten die Städte in der See funkeln und auf dich warten. Es gibt Dinge im Leben, Jim, die sehr schwierig sind, aber getan werden müssen sie. Dein Vater . . .«

Er machte eine Pause und schaute weg von mir, doch dann fuhr er ruhig fort: »Dein Vater war ein feiner Mann, Jim. Wären da nicht ein schlechter Mensch und eine Pechsträhne gewesen, dann stünde er heute an meiner Stelle hier.« Er schüttelte den Kopf. ,,Aber es ist nicht recht, jemanden zu hassen, Jim.« Diesmal war das kleine Lachen aus seiner weichen Stimme verschwunden. »Aber manche Menschen sind so, daß man der Versuchung, sie zu hassen, fast nicht widerstehen kann.«

»Du meinst Mr. Hallam Sperry?« fragte ich.

»Ich meine Hallam Sperry. Alles, was dein Vater war und was er tat, das war gut, Jim. Er vor allen anderen machte Mari-nia zu einer Weltmacht. Riesenstädte unter dem Wasser! Und dein Vater hat mitgeholfen, sie zu bauen. Und dann starb er. Hallam Sperry trat an seine Stelle.« Düster schaute er über das Wasser hinaus. Dann schüttelte er wieder den Kopf und lächelte. »Zeit genug, Jim«, sagte er. »Aber dein Vater hat sich nie vor einer Verpflichtung oder einer Arbeit gedrückt, und du wirst es auch nicht tun, denn du bist der richtige Sohn deines Vaters, was, Junge? Du gehst also wieder in deine Schule zurück, machst deine Aufgaben, lernst deine Lektionen und wirst ein Mann. Sechs Jahre, Jim. Und nach diesen sechs Jahren, Jim, ist die Schule noch lange nicht vorüber. Da geht sie erst noch einmal an. Aber dann . . .« In seiner Stimme war jetzt wieder das tiefe, kehlige Lachen. »Dann, Junge, wird die Schule aber ein wenig anders sein.«

»Wie anders?« wollte ich wissen, denn ich verstand nicht ganz, was mir dieser Fremde, der mein Onkel war, sagen wollte, doch seine Worte erregten mich auf sonderbare Art und machten mich glücklich.

»Oh, ganz anders.« Jetzt lachte er mich an, und sein Lachen ließ mich meine Enttäuschung vergessen. »Verstehst du, Jim, die Leute erinnern sich deines Vaters, und ich selbst habe ja auch ein paar Freunde. Ich lasse dich nicht warten. Wenn die See für dich das Leben bedeutet, dann gehört sie dir.«

Er griff in seine Tasche. Wie ein König, der einem Edelmann ein wertvolles Schwert überreicht, so gab er mir einen marineblauen Umschlag mit einem funkelnden Platinwappen. »Mach ihn nur auf, Jim, er gehört dir«, sagte er.

Das Papier im Umschlag war steif und doch ein wenig knittrig in meiner Hand. Unter dem Wappen stand TiefseeAkademie der Vereinigten Staaten. Darunter war in der hellen, scharlachroten Farbe aller offiziellen Tiefsee-Schriften eine kurze an mich gerichtete Mitteilung zu lesen:

Sehr geehrter Herr,

Ihr offiziell bestellter Vormund, Kommandant Stewart Eden, U.S.S. (im Ruhestand) hat für Sie einen Antrag gestellt. Er wurde von der Zulassungskommission dieser Akademie in Erwägung gezogen.

Der Antrag wurde angenommen.

Am ersten September des Ihrem sechzehnten Geburtstag folgenden Jahres werden Sie gebeten, sich beim Decksoffizier der Zulassungs-Abteilung dieser Akademie zu melden, um einem Ausbildungsgeschwader zugeteilt zu werden.

Mit aufrichtigen Grüßen, Roger Shea Larrabee Vizeadmiral, U.S.S.

Ich starrte diesen wundervollen Brief an.

»Nun, Jim?« fragte meines Onkels goldene, warme Stimme nach einer Weile. »Willst du?« »Onkel Stewart, das will ich mehr als sonst etwas auf der Welt«, antwortete ich ihm.

Die sechs Jahre vergingen, wie mein Onkel es mir versprochen hatte.

Nicht schnell oder leicht, aber sie vergingen, denn ich hatte in der Schule die ganze Zeit hindurch den Brief in meinem Koffer eingesperrt. Ich mußte sehr vieles lernen, um für die Akademie bereit zu sein — Mathematik und Englisch und alle möglichen Wissenschaften — und Sprachen, Geschichte und noch eine ganze Menge mehr. Sechs Jahre waren dafür keine lange Zeit.

Aber ich lernte sie und noch ein paar andere Dinge dazu.

Und ich erfuhr auch, wer mein ruhiger, großer Onkel Stewart mit der sanften Stimme wirklich war.

2. Kadett Eden meldet sich zum Dienst

Die Bermuda-Sonne blendete. Der Wagen vom Flughafen ließ mich, den künftigen Tiefsee-Kadetten, an den Korallentoren aussteigen. Ein Kadett in seeroter Paradeuniform präsentierte zackig seine Waffe.

Ich stand da, hatte meinen Kleidersack in der Hand und überlegte unsicher, ob ich vielleicht salutieren sollte. Der grinsende Taxifahrer röhrte davon, und der Kadett nahm mir die Entscheidung aus der Hand.

»Komm her und mach Meldung«, knurrte er.

Ich versuchte strammzustehen. »James Eden meldet sich zur Stelle«, sagte ich. »Hier ist mein Befehl.«

Ich reichte ihm meine Reisedokumente, die ich in der vorhergehenden Woche mit der Post erhalten hatte. Der Kadett blätterte sie rasch durch.

»Weitergehen, Kadett Eden«, befahl er mir barsch. Dann ver-schwand für einen Moment die Ladestockförmlichkeit aus seinem Gesicht, und er lachte. »Und viel Glück«, fügte er hinzu und kehrte an seinen Posten zurück.

So sah ich zum erstenmal die Tiefsee-Akademie.

Ich ging durch das Tor. Jimmy Eden verschwand. An seiner Stelle wurde Kadett Eden, J., U.S.S., geboren.

Die ersten paar Stunden flogen nur so dahin. Es war eine Hetzjagd an ärztlichen Untersuchungen, Fragebögen, Unterredungen und Instruktionen; ich mußte meine gesamte Ausrüstung fassen und mein Quartier suchen. Die Kleiderkammer war riesig wie eine Scheune. Ein Maß-Roboter tastete mit seinen Spinnenfingern meinen ganzen Körper ab, klickte und zwitscherte dabei unaufhörlich, und unmittelbar danach nahm gleich nebenan meine Uniform Gestalt an.

Es war der seegrüne Drillichanzug der Tiefsee-Leute. Jetzt waren meine Maße festgehalten, und die übrigen Uniformen konnte ich holen, sobald ich die Sachen brauchte. Die Arme des dreidimensionalen Pantographen zeichneten den Jackenschnitt, und die Plastikspinner webten und schossen hin und her, um den Schnitt in Material zu übertragen. »He, Mister!« bellte der Leiter der Kleiderkammer, »zieh das Zeug an! Die Gezeiten warten nicht!«

Doch er hätte seinen Atem sparen können. Die Klappe schwang auf, und die Uniform schob sich heraus. Sie glänzte noch von den Tropfen der chemischen Reinigungsmittel, als ich hineinkletterte. Die Plexiglasklappe schwang wieder zu, und da sah ich mich wie in einem Spiegel. Ich konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken, denn jeder konnte jetzt sehen, daß ich ein Tiefsee-Mann war!

Aber schon wurde ich vom nächsten Mann angebellt. Ich hatte keine Zeit, mein Spiegelbild zu bewundern.

Ich stolperte aus der Kleiderscheune hinaus und ächzte unter den fast hundert Pfund meiner Ausrüstung, den Geräten und sonstigem Kram meines neuen Lebens. Als ich dann an der Tür stand, kam sie mir wie die Feuertür eines Hochofens vor, so knallte die karibische Sonne auf mich herab. Diese Hitze war nach der Kühle in der Scheune wie ein körperlicher Schlag.

Der Schlafraum, in den ich eingewiesen worden war, lag in hundert Meter Entfernung an der anderen Seite eines großen, viereckigen Hofes. Als ich dort ankam, taumelte ich.

Vielleicht war es der Schweiß, der mir in die Augen lief, daß ich den scharlachrot gekleideten Oberklassenmann nicht sah, der zackig eine Rechtsschwenkung machte und vor mir die Stufen hinaufging.

Ich knallte direkt in ihn hinein.

Meine ganze Ausrüstung kollerte über die Stufen hinab. Ich stöhnte und murmelte »Entschuldigung.« Ich bückte mich, um mein Zeug zusammenzuklauben und meine Mütze aufzuheben.

»Ach-TUNG!«

Das war ein Peitschenschlag, der mein benebeltes Gehirn klärte.

Ich sprang sofort auf. »Verzeihung, Sir«, rief ich eifrig.

Der Kadett stand auf den Stufen über mir und schaute angewidert auf mich herab. Er war so groß wie ich, aber breiter und schwerer gebaut. Seine Augen unter der flachen Mütze waren kalt. Sie erschienen mir fast gefährlich.

»Mister Landratte, halt deine Klappe! Wenn ein Offizier oder ein Mann der Oberklasse wissen will, ob es dir leid tut, dann wird er dich schon fragen. Diese Information wird nicht freiwillig gegeben. Und strammstehen, Mensch! Stramm, sage ich, die Arme an den Seiten!«

»Aber dann laß ich ja meine Mütze fallen«, wandte ich ein.

»Mister Landratte!«

»Jawohl, Sir.« Ich ließ die Arme sinken. Die Mütze fiel wieder auf den Boden. Beim erstenmal hatte ich Glück gehabt, aber beim zweitenmal zerbrach der kristallene Schirm.

Dem Oberklassenmann war das egal.

Kalt starrte er mich für einen Moment an, dann kam er die Treppe herab und ging langsam um mich herum.

»Ich habe, Mister Landratte, in meinem Leben schon viele wenig wünschenswerte Exemplare gesehen«, sagte er fast im Unterhaltungston, »aber in zwei Jahren, drei Tagen und dreizehn Stunden an der Tiefsee-Akademie nicht eines wie dich, das so wenig Aussichten verriet, jemals ein annähernd formbares Material für wenigstens einen drittklassigen Pumpenschwengel und dessen zweiten Assistenten abzugeben.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich dich eine Affenschande für den Service und die Akademie nennen wollte, Mister Landratte, dann würde ich mich einer dicken Schmeichelei schuldig machen. Infolgedessen wird es völlig ausgeschlossen sein, daß du länger als zwei Wochen auf dieser Akademie aushalten wirst. Ich sollte mir wirklich nicht die Mühe machen, auch nur das geringste Interesse an dir zu zeigen. Ich verschwende nur die kostbare Zeit des Service, wenn ich das trotzdem tue. Aber, Mister Landratte, ein guter Tiefsee-Mann ist barmherzig. Mein weiches Herz zwingt mich zu tun, was ich kann, um deinen nutzlosen und unerfreulichen Aufenthalt bei uns so gut wie möglich zu verkürzen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mich für deine Bildung zu interessieren.«

Er stemmte die Hände auf die Hüften und starrte mich an. »Um einen guten Anfang zu machen, Mister Landratte, lade ich dich ein, die Regel Nummer eins kennenzulernen. Möchtest du sie mal hören? Du kannst in zwei Worten antworten, jedes hat einsilbig zu sein, das zweite Wort heißt ,Sir'.«

Meine Kiefermuskeln zuckten, doch ich wußte nicht recht, ob vor Wut oder nervösem Lachen. Gehorsam antwortete ich: »Ja, Sir.«

Er nickte. »Sehr gut. Das heißt, sehr gut für dich, wenn man sich's genau überlegt. Du hast in der richtigen Form geantwortet, und es war das erste Mal, daß du's versucht hast. Hm. Ich gratuliere dir, Mister Landratte. Vielleicht besteht doch eine kleine Hoffnung für dich. Vielleicht hältst du's hier drei Wochen aus, ehe das Komitee zum Schluß kommen muß, daß du hinauszuwerfen bist. Laß uns jedoch im Moment mit Regel eins beginnen. Achtung, Mister Landratte! Regel eins heißt: In Gegenwart eines Oberklassenmannes wirst du unweigerlich strammstehen, bis er dir ausdrücklich erlaubt, das Strammstehen durch eine andere Haltung zu ersetzen, oder bis er etwa durch seine Entfernung um mindestens fünf Meter anzeigt, daß er kein Interesse mehr an dem hat, was du tust. Hast du das verstanden?''

Ich setzte schon dazu an, zu sagen: Ja, Sir, aber ich schloß eiligst meinen Mund wieder. Er hatte mir noch nicht die Erlaubnis zum Sprechen erteilt. Ich lernte also schon die Regeln.

Aber leider nicht schnell genug. Fast geistesabwesend starrte er meine Kinnlade an.

»Gesichtszuckungen«, stellte er scheinbar ganz versunken fest. »Diese Person ist auch körperlich unternormal, wie mir scheint, auch seelisch, geistig, gefühlsmäßig, moralisch und in jeder anderen denkbaren Weise.« Er seufzte schwer. »Nun, genug davon. Mister Landratte, es ist weitgehend bekannt, daß es absolute Konzentration erfordert, schwierige Regeln zu lernen, ganz besonders dann, wenn sie aus vierundvierzig Worten bestehen. Um dir zu helfen, erlaube ich dir, fünfzehn Touren um dieses Hofviereck zu laufen. Das wird dir guttun. Mit einer Bestrafung hat das absolut nichts zu tun, sondern es soll dir nur zur Konzentration verhelfen.«

Er nickte mit einem Ausdruck kalter Befriedigung. »Jedoch ist auch die Frage der Bestrafung zu überlegen. Ein Benehmen, das für einen Seekadetten unpassend ist, um genau zu sein, das Herumtrampeln auf einem Oberklassenmann, erfordert fünf zusätzliche Touren um das Viereck. Und für leichtfertige Vernichtung von Regierungseigentum ...« — seine Augen hingen an dem zerbrochenen Mützenschild — »noch weitere zehn Runden. Du hast jetzt genug von meiner kostbaren Zeit beansprucht, Mister Landratte, also fang freundlicherweise sofort damit an. Die Gezeiten warten nicht!«

Ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden, machte er kehrt und stieg die Stufen hinauf.

Das war also meine Einführung in die Tiefsee-Akademie.

Dreißigmal um das ganze Viereck herum mit hundert Metern pro Seite, das sind insgesamt mehr als sieben Meilen.

Ich schaffte sie. Dafür brauchte ich etwas mehr als drei Stunden, und die letzten paar Runden drehte ich in einem dem Koma ähnlichen Zustand.

Endlich war es vorüber.

Ich holte mein verstreutes Zeug zusammen. Etliche Dutzend Kadetten waren die Treppe hinaufgestiegen, während ich die Runden drehte, aber keiner hatte die Sachen auch nur angeschaut. Und dann fand ich auch noch den Weg in meinen Schlafsaal.

»Du mußt Eden sein«, sagte ein kleiner, erstaunlich jung aussehender Bursche, der strammgestanden hatte, als ich die Tür öffnete. Doch als er mich gesehen hatte, tat er gleich gemütlicher und streckte mir die Hand entgegen. »Ich heiße Eskow. Pech. Ich sah dich da draußen.«

Er grinste. Es war ein offenes, breites Grinsen, das mir gefiel. »Ich glaube, du hast jetzt schon einen großen Vorsprung vor uns«, fuhr er fort. »Aber der letzte bist du darin nicht. Früher oder später werden wir alle einmal draußen sein.«

Ich murmelte etwas, warf mein ganzes Zeug auf das Feldbett und besah mir das unordentliche Bild; ein ungemachtes Bett mit Kleidern, Büchern, Ausrüstungsgegenständen in einem Haufen darauf — nun, einladend sah das gewiß nicht aus und war ebenso zerrupft und ungepflegt wie ich.

Eskows Bett sah ganz anders aus. Es war ordentlich gemacht, eine Extradecke war straff über das Kissen gespannt; die Truhe am Fußende stand offen, und auch darin war alles in schönster Ordnung. Eskow selbst hatte rosa Wangen vom Bad und der Rasur, obwohl er, wie ich vermutete, auf das Rasieren noch eine Weile hätte verzichten können, bevor man an ihm einen Bartanflug bemerkt hätte.

Meine Gefühle mußten, alles in allem, deutlich zu erkennen gewesen sein.

»Nimm's nicht zu tragisch«, riet mir Eskow. »Ich helfe dir. Bis zum Abendessen haben wir sowieso nichts zu tun, und erst danach gibt es eine Inspektion. Hol mal tief Atem.«

Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, während Eskow geschickt alles sortierte und meine Sachen einräumte.

Wenige Minuten später fühlte ich mich schon wohler und stand auf, um ihm zu helfen. Es würde wohl sehr lange dauern, bis sich meine Füße wieder normal anfühlten, doch trotzdem schien mir, ich hätte an diesem Tag nicht allzu großes Pech gehabt. Wenn Eskow für die nächsten vier Jahre mein Zimmerkamerad sein würde, so konnte ich mich, nach dem ersten Blick zu urteilen, recht glücklich schätzen.

Beim Abendessen sah ich diesen Oberklassenmann wieder. Er hatte am Ende der Speisehalle einen kleinen Tisch für sich selbst. Ich stieß Eskow an und deutete unauffällig hinüber.

Aus dem Mundwinkel heraus wisperte mir Eskow zu — Kadetten des ersten Jahres hatten keine Erlaubnis, sich bei Tisch zu unterhalten: »Heißt Sperry. Tut mir leid, Jim, aber der ist unser unmittelbarer Vorgesetzter, der Exec. Von dem wirst du eine Menge zu sehen kriegen, bis er selbst seine Abschlußprüfungen hinter sich hat . . . Sperry«, wiederholte er und sah starr vor sich hin, »ich überlegte mir, ob er . . .«

Einer der anderen Oberklassenmänner schaute zu uns her, so daß Eskow mir nicht mehr sagen konnte, was er überlegte.

Ich wußte es sowieso. Und die Antwort hieß ja. Executive-Cadet Officer Brand Sperry, diensthabender Kadett der Fletcher Hall, war der Sohn von Hallam Sperry, dem millionenschweren Bürgermeister von Thetis in Marinia.

Schon damals war mir etwas im Gesicht des jungen Sperry bekannt erschienen und, so seltsam es klingen mag, gefährlich. Ich wußte nur nicht recht, wo ich alles einordnen sollte.

Jetzt wußte ich's. Ich hatte Hallam Sperrys Bild sehr oft gesehen, und der Kadett an dem kleinen Tisch sah nun genau so aus wie Hallam Sperry, als dessen Fotos gemacht worden waren; ein Bild des älteren Sperry, meines Vaters und meines Onkels Stewart, und es stammte aus der Zeit, da Marinia nur aus einigen winzigen Tiefsee-Außenposten bestand. Alle drei Männer waren jung gewesen, und erst sehr viel später hatte ein erbitterter Kampf Sperry von den Edens getrennt.

Lange bevor mein Vater gestorben war, glänzte sein Name noch vor Berühmtheit, doch sein Vermögen und seine Besitztümer waren dahin.

Ich hob meine Gabel an die Lippen in der ruckhaften von der Akademie als passend anerkannten Art. Die Tradition des alten Annapolis und des noch älteren West Point und der Air Academy Colorado ergab einen Reichtum militärischen Erbes und vieler Regeln, die eine Landratte in den ersten Akademietagen ehrlich erschrecken konnten. Und das war ein Grund dafür, daß ich danach kaum wußte, was ich gegessen hatte.

Wenn der Sohn des Mannes, der meinen Vater betrogen und dasselbe bei meinem Onkel versucht hatte, mein Commander sein sollte, so hatte ich eine harte Zeit in der Tiefsee-Akademie vor mir. Ganz gewiß hatte ich einen schlechten Start gehabt, und das erste Zusammentreffen war eigentlich entmutigend gewesen. Es hätte sein können, daß er mich erkannt und ab-sichtlich diese Schau abgezogen hatte, um mir klarzumachen, daß er mich unter dem Daumen hatte ...

Nein, das konnte ich doch nicht recht glauben. Was immer auch Brand Sperry s Vater gewesen war und noch war, der Sohn war ein Kadetten-Offizier im Tiefsee-Dienst, und solange wir beide diesem Dienst angehörten, würde ich niemals einen Streit provozieren. Das versprach ich mir auf der Stelle.

3. Söhne der Tiefsee-Flotte

Um 4.45 Uhr morgens war Wecken. Die Sterne standen noch am Himmel.

Wir waren dreihundert, fröstelten im ersten Dämmerlicht und standen stramm. Wir versuchten es wenigstens. Auf den heiligen Gründen der Tiefsee-Akademie müssen wir einen kuriosen Anblick geboten haben. Cadet Captain Sperry kann ich daher seine angewiderte Miene nicht einmal übelnehmen.

Nach dem Anwesenheitsappell kehrten wir in unsere Quartiere zurück und machten uns bereit für die Inspektion. Dann nahmen wir eine riesige Mahlzeit ein. Das Aufstehen vor Tagesanbruch wirkte außerordentlich appetitanregend. Und nach dem Frühstück begann das Training.

Jeder von uns war seit dem Alter von zehn oder zwölf Jahren auf diesen ersten Tag vorbereitet worden. Wir waren fit und tatenlustig. Jeder von uns hatte soviel von den Grundfächern studiert, wie unser Kopf nur halten konnte, und zwar nicht nur Mathematik und alles, was mit dem Meer zusammenhing, sondern ein ganzes Register der unterschiedlichsten Fächer, angefangen bei den Künsten über Maschinenbau, zu Ballistik und schließlich sogar Ballett. In der Schule ging die allgemeine Tendenz dahin, daß man sich immer mehr spezialisierte, aber wir, die künftigen Offiziere der Tiefsee-Flotte, mußten alles lernen, was in unsere Reichweite kam.

Wir waren bereit. Und an die Arbeit gingen wir auch sofort. Auf dem Sportplatz schwitzten wir in unseren Trainingsanzügen, standen in unserer schneeweißen Unterwäsche stocksteif stramm, wenn wir Zimmerinspektion hatten, in unseren Freizeituniformen, ebenfalls schneeweiß, ebenso stramm an unseren Schreibtischen und paradierten in unseren scharlachroten Parade-Waffenröcken auf dem Exerzierfeld.

Es war harte Arbeit.

Das war auch beabsichtigt. Ein Schwächling durfte nicht Kommandant eines Tiefsee-Schiffes werden. Das konnte sich der Service nicht leisten. Ein Augenblick des Zögerns oder der Schwäche in den Tiefen der See konnte Tod und Verderben bedeuten, denn das ungeheure Gewicht des Wassers über dem Schiff konnte jedes Objekt aus Stahl oder Eisen wie einen Schuhkarton zerquetschen. Nur eines machte es möglich, daß unsere Tiefsee-Schiffe zwanzigtausend Fuß unter der Meeresoberfläche, oft sogar noch tiefer, kreuzen konnten, und nur eines hielt die Kuppeln der Städte von Marinia am Leben.

Dieses Eine hieß Edenit.

Bob Eskow war der erste von meinen Klassenkameraden, der den Namen »Edenit« mit meinem Namen, dem des Kadetten James Eden, verband. Er fragte einmal rundheraus, ob ich vielleicht verwandt sei mit dem Erfinder Stewart Eden.

In den Jahren, seit ich meinen Onkel bewußt zum erstenmal gesehen hatte, entdeckte ich, was der Name Stewart Eden bedeutete. Ich versuchte ganz ohne Stolz zu antworten: »Er ist mein Onkel.«

»Onkel!« Bob war ungeheuer beeindruckt. Er überlegte einen Moment, dann tastete er sich vorsichtig weiter. »Es gibt da eine Geschichte, er entwickelte etwas ganz Neues und . . .«

»Ich kann darüber nicht sprechen«, erklärte ich knapp, und das stimmte auch, denn ich wußte absolut nichts darüber. Natürlich gab es dann und wann Geschichten in den Zeitungen über das, was Stewart Eden in Marinia tat, doch was ich aus den Zeitungen wußte, war auch schon alles. Was ich von meinem Onkel direkt hörte, waren Anfragen über mich und meine Studien, von sich und seiner Arbeit erzählte er nichts.

Eskow drängte nicht. Sein offenes Gesicht ließ mich genau den Moment erkennen, als er sich daran erinnerte, daß zwischen den Familien Eden und Sperry nicht alles immer ganz friedlich zugegangen war ...

Natürlich ging diese Nachricht sehr schnell herum, und ehe noch eine Woche vorüber war, gab es Wetten darüber, wie lange es dauern konnte, bis es einmal zwischen dem Exec und mir zu einem Zusammenstoß käme. Die Geschichte von Hallam Sperry s Kampf mit meinem Vater und meinem Onkel war ja jedem bekannt. Aber mein Onkel hatte mir in seinen seltenen Briefen beigebracht, daß ein kluger Mann nicht haßt. Und ich bemühte mich, seinem Rat zu folgen, wenn es um meine Beziehungen zu Brand Sperry ging.

Ich unterhielt mich darüber mit Bob Eskow an einem Nachmittag, als der Unterricht vorüber war und wir eine halbe Stunde vor dem Abendessen für uns selbst hatten. Wir saßen auf dem sandigen Rasen vor der Messehalle und musterten die riesigen Kumuluswolken, die sich über dem Wasser angesammelt hatten. Eskow meinte zögernd: »Vielleicht solltest du mit Sperry reden, Jim. Es könnte die Atmosphäre reinigen.«

Mir fiel die erste Begegnung mit ihm auf den Stufen der Hall ein. »Er mag keine Landratten«, sagte ich.

»Das Risiko mußt du eingehen, Jim. Das heißt, wenn du willst. Es ist ja dein Problem. Ich kann dir nicht sagen, was du zu tun hast. Aber ich weiß, daß sehr viel geredet wird.«

Ich strich es aus meinem Programm. In einer Woche hatte ich eines ganz gewiß gelernt: Landratten belästigten Oberklassenmänner nicht ohne Aufforderung. Jedenfalls dachte ich, das Reden würde sich schon von selbst wieder legen. Der Streit zwischen Hallam Sperry und den Edens war ja allgemein bekanntes uraltes Zeug, denn der Bruch hatte sich lange vor meiner Geburt ereignet. Warum sollte ich nun schlafende Hunde aufwecken?

Ich ahnte ja nicht, wie wach dieser eine schlafende Hund war.

Für persönliche Probleme hatte ich jedoch wenig Zeit, und als noch etliche Tage vergangen waren, legte sich das ganze Geschwätz auch wieder. Wir wurden allmählich zu Kadetten und waren nicht mehr nur verschüchterte Zivilisten. Wir arbeiteten, studierten und exerzierten, und allmählich stellte sich auch heraus, woraus wir bestanden.

Ich sagte, daß dreihundert den Kurs begannen. Im ersten Monat waren schon fünfundzwanzig ausgefallen. Einige konnten den Drill nicht ertragen, andere wieder schafften nicht die wissenschaftlichen Grundfächer des ersten Jahres, wieder anderen war die strenge Disziplin zuwider. Fünfundzwanzig, das war keine große Zahl, und man konnte als absolut sicher annehmen, daß von den dreihundert unserer Klasse bis zur Graduierung und der Verleihung des Offiziersrangs keine hundert mehr übrig sein würden.

Jene, die ausschieden, wurden im allgemeinen sehr schnell von den Tiefsee-Handelslinien aufgenommen. Wenn man schon die Aufnahmeprüfungen der Akademie bestanden hatte, so war das Qualifizierung genug für ein Tiefsee-Kommando. Von den zweihundert, die bis zur letzten Klasse ausschieden, wurde mindestens die Hälfte Offizier in der Handels-TiefseeMarine.

Manchmal überlegte ich mir allen Ernstes, ob ich wohl die erste Klasse schaffen würde. Es war auch erschreckend, wenn man die Liste dessen, was im ersten Jahr zu bewältigen war, durchsah. Tiefseebergbau; Tiefsee-Motoren und Rumpfkonstruktionen; Vaulain-Zellen, ihre Bedienung und sogar Reparatur; Troyon-Tunnelbeleuchtung; Generatoren für synthetische Luft; Tiefsee-Architektur; Eden-Generatoren, ihre Pflege und Überholung.

Natürlich hatte ich da und dort einen kleinen Vorsprung. In der ersten Klasse über den Eden-Generator war Eskow furchtbar neidisch auf mich, denn schließlich hatte ihn ja mein Onkel erfunden! Aber natürlich lag es nicht im Blut, was man von der Leistung des sehr komplizierten Eden-Generators wissen mußte, wie die Stromkreise im Gleichgewicht und die Relais zu überwachen waren. Ich wußte, was Edenit war, aber das wußten die anderen in der Klasse ja auch.

Was mir sehr viel nützte, war die geduldige Schulung, der mich mein Onkel unterzogen hatte, ehe ich zur Akademie kam. Für mich waren die wissenschaftlichen Kurse viel weniger schwierig als für die anderen, denn ich hatte mindestens die Grundlagen in der Zivilschule, die ich besuchte, in mich aufgenommen, und dort ging man langsam voran, so daß der Druck natürlich wesentlich geringer war als auf der Akademie. Hier las man an der Stirnwand eines jeden Klassenzimmers das Motto: DIE GEZEITEN WARTEN NICHT. Die ganze Akademie richtete sich danach aus. Wir mußten in einem ein-zigen Semester Kurse absolvieren, für die eine zivile Universität vier Jahre und länger ansetzte.

Aber einige der Kurse waren auch für mich völlig neu. Es gab Unterricht in Tiefsee-Kriegführung und Taktik; die Anwendung maritimer Luftfahrt; militärische und maritime Logistik und allgemeine Versorgung. Es gab Klassen, in denen wir Reichweite, Zweck und besondere Eigenschaften einer jeden Waffe büffeln mußten, die von uns oder von irgendeinem gegnerischen Tiefsee-Kriegsschiff eingesetzt werden konnte, angefangen vom Torpedo bis zum Atomstaub.

Dazu kamen die vielen ärgerlichen Einzelheiten über die akademische Disziplin, die man jede Minute des Tages im Kopf haben mußte, sogar im Schlaf, wenn irgend möglich. Es gab nie eine Sekunde, solange wir uns auf dem Gelände der Akademie befanden, da wir nicht Gefahr liefen, uns unvermittelt einem Offizier gegenüber zu sehen, oder auch einem Oberklassenmann, dem eine Kehrtwendung nicht zackig und exakt genug war. Im ersten Jahr hatten wir drei Stunden wöchentlich Ausgang, falls wir nicht für irgendein winziges Vergehen Stubenarrest hatten. Wir gingen niemals irgendwohin, wir marschierten, auch wenn wir Ausgang hatten. Wir lehnten uns nie und nirgends zurück, um uns einmal für ein paar Minuten zu entspannen, nicht einmal auf unseren Buden; wir saßen stramm. All dies lernten wir auf die harte Art in den langen Stunden der Hofrunden. Manchmal waren auf einmal hundert oder mehr von uns draußen. Aber wir lernten Disziplin, und wir vergaßen sie nie.

Das traf zu für dreiundzwanzig Stunden und dreißig Minuten täglich; aber wir hatten ja eine halbe Stunde vor dem Abendessen, wenn wir nicht gerade Runden zu drehen oder für eine Prüfung zu büffeln hatten. Da konnten wir dann auf dem Gelände herumlaufen, wie wir wollten. Diese halbe Stunde und drei Stunden Freiheit am Samstag und ein paar Minuten zwischen Frühgottesdienst und Mittagessen am Sonntag — mehr Freizeit hatten wir nicht. Und meistens wurde sie von irgendeiner Extrapflicht aufgefressen.

Das, was noch blieb, war's wert.

Die Tiefsee-Akademie ist eine sehr junge Einrichtung, verglichen mit Annapolis, aus dem sie entstand, oder dem noch viel älteren West Point. Trotzdem hat die Akademie schon eine Geschichte, und sie ist vor allem der Stolz des Service; das ganze Gelände ist angefüllt mit Museumsstücken der TiefseeFlotte.

Eskow war, um nur ein Beispiel zu nennen, geradezu fasziniert von der alten SSN-571, der Nautilus, dem ersten atomgetriebenen Unterseekreuzer. Sooft er nur konnte, zerrte er mich dorthin, und wir verbrachten Stunden unserer kurzen Freizeit damit, durch die engen Korridore und Kammern zu wandern. Dieser Rumpf lag in der sanften karibischen Dünung, und doch war es kaum zu fassen, daß diese Blechdose einmal der Stolz der Navy gewesen war; wenn man sie mit unseren modernen Tiefsee-Korvetten vergleicht, war sie erbarmenswert klein und schwach. Natürlich hatten ihre Konstrukteure alles getan, was ihnen mit ihrem Stahl möglich war, um den Rumpf so stark zu machen, wie es ging, aber sie hatten ja zur Zeit der Kiellegung der Nautilus noch nicht ahnen können, daß mein Onkel den dünnen Edenit-Film entwickeln würde, der den Wasserdruck in sich selbst zurückzwang. Dadurch erhielt die Hülle eine ungeahnte Festigkeit, die es erst möglich machte, daß ein solches Tiefsee-Schiff sich vier Meilen unter die Oberfläche des Ozeans begeben konnte.

Mein eigener Lieblingsplatz war Dixon Hall. Hier in dieser kleinen Halle war die ganze Geschichte des Tiefsee-Service zusammengefaßt, angefangen von den Diagrammen der sinkenden New Ironsides in den blutigen Oktobertagen des Bürgerkriegs, die erste Unterwasseraktion der Marinegeschichte überhaupt, bis zur Ehrenrolle der Graduierten der Akademie, die ihr Leben im Service verloren hatten. Eine ganze Wand war mit einer Weltkarte in der Mercator-Projektion bedeckt; das war eine ganz merkwürdige Karte, denn die Kontinente waren schwarz ausgespart, nur die Flüsse waren weiß eingezeichnet, und ein paar Riesenstädte waren skizziert. Die Ozeanböden waren hier jedoch in allen, auch den kleinsten Einzelheiten, erfaßt. Die Tiefen wurden von verschiedenen Farbschattierungen bezeichnet. Unterwassergebirge und einzelne Berge waren im Relief ausgeführt. Stunden konnte ich damit verbringen, die Routen der Tiefsee-Handelsschiffe nachzuziehen, das dünne Spinnwebennetz, das die Pipelines und Vakuum-Tunnels darstellten; hier wurde der Reichtum der Tiefsee transportiert. Alle Kuppelstädte von Marinia waren da, Eden Dome, Black Camp, Thousand Fathom, Gold Ridge und Rudspatt und etliche hundert andere. Sehnsüchtig besah ich mir immer wieder den Punkt weit draußen im Südpazifik, der Thetis bezeichnete, denn dort lebte mein Onkel Stewart und ging seinen geheimnisvollen Pflichten nach.

Auf dem Boden des Ozeans gab es unvorstellbare Reichtü-mer. Die Oberfläche war dreimal so groß wie die aller Kontinente zusammengenommen und dreimal so reich! Die verschatteten Zonen und die farbigen Flecken zeigten Mineralvorkommen wie Ölfelder, Goldsände, Kohlenflöze, Kupfer-, Zink-und Platinadern. Grellrot waren alle Uranfelder bezeichnet, denn Uran war das Lebensblut der Energieleitungen der ganzen Welt und besonders des Tiefsee-Service, denn ohne Atomenergie wären unsere Schiffe ebenso an die Oberfläche gebunden gewesen, wie die Schiffe der Alten. Eigentlich eine nüchterne Erfahrung, wenn man sah, wie spärlich diese Flecken waren. An jedem wurde intensiv gearbeitet, und die Lieferungen wurden, wenn man den Gerüchten glauben konnte, allmählich weniger.

Am aufregendsten waren jedoch alle weißen Flecken in der Mitte der See. Denn hier lagen die noch unerforschten Tiefen — der Philippinen-Graben, die Nares-Tiefen, die Marianas. Sechs, sieben und noch mehr Meilen nach unten, also noch unterhalb der Reichweite unserer stärksten Forschungskreuzer, unberührt und nahezu unbekannt. Auf der riesigen Karte schienen die Farbflecken, die Mineraldepots markierten, immer dichter und größer zu werden, je mehr die Tiefe zunahm, am dichtesten waren sie am Rand der unerforschten Tiefen. Das war, wie es hieß, auch ganz natürlich, denn die schwersten Mineralien lagen am tiefsten. Welche Schätze diese Tiefen noch beherbergen mußten!

Aber auch in Dixon Hall waren große Schätze — Schaukästen mit den verschiedensten Perlen, See-Amethysten und Korallen, die riesigen Elfenbeinstücke aus den tiefsten Abgründen, und von denen sagten die Wissenschaftler, sie seien die Stoßzähne vorzeitlicher See-Ungeheuer. Ich glaube, wenn ich so im Mittelpunkt der Hall stand, dann muß ich in der Reichweite meiner Augen mindestens Edelsteine im Wert von einer Million Dollar gesehen haben, und nichts davon war eingesperrt oder bewacht. Die Akademie hatte einen unglaublichen Ehrenkodex.

Es war ein wundervoller, aufregender Platz, in den man sich hineindenken konnte, bis man sich darin verlor. Am herrlichsten für mich waren die vielen Schaukästen und Schränke, wo die ganze Geschichte der Tiefsee-Navigation zusammengetragen und dargestellt war. Beebes winzige Bathysphere war da, die unglückliche Squalus, die alte Deutschland und viele andere in sorgfältig nachgebauten Modellen. Und noch etwas: das winzige Modell meines Onkels ersten zylindrischen Edenit-Tauchschiffs.

Ich glaube, hier in Dixon Hall lief ich immer am allermeisten Gefahr, gegen die Disziplin der Akademie zu verstoßen. Ganz verzaubert stand ich vor irgendeinem Modell oder einer Karte, bis die Schiffsglocke das Antreten zum Abendessen befahl, und ich kam dann immer atemlos angerannt, fast immer um einen Sekundenbruchteil zu spät, so daß ich regelmäßig von einem Offizier oder Oberklassenmann angeraunzt wurde. Dabei ging natürlich oft meine kostbare Freizeit verloren, und ich marschierte wieder einmal um den Hof herum. Eskow war meistens bei mir, wenn ich meine Runden drehte.

Ich konnte es kaum verstehen, was Eskow antrieb, sich den Mahlsteinen der Akademiejahre auszusetzen. In Bobs Familie gab es keine Tradition des Tiefsee-Service wie in der meinen.

Seinem Vater gehörte ein Zeitungsstand in New York, seine Großeltern waren aus irgendeinem Land des Balkans eingewandert.

Als ich ihn einmal danach fragte, wurde er verlegen. »Ich glaube, ich wollte nur etwas für mein Land tun«, antwortete er mit rotem Gesicht. Da ließ ich das Thema fallen. Aber Eskow war immer bei mir, ob wir nun die alte Nautilus durchstreiften oder die noch unbekannten Tiefen mit unseren Träumen und Vorstellungen füllten. Und ich wurde mir erst allmählich darüber klar, wie sehr ich mich auf Eskows heitere Bestimmtheit und ruhige Freundschaft verließ.

Das heißt, klar wurde ich mir erst darüber, als alles vorüber war.

4. Ein Mann fehlt

Noch im ersten Monat gingen wir tatsächlich unter die Wasseroberfläche.

Weit ging's natürlich nicht, aber eine Gruppe nach der anderen faßte Taucherausrüstung — Aqualungen, Gesichtsmasken, pneumatische Pistolen und Schwimmflossen —, und dann machten wir uns auf unsere erste Unterwasserexpedition.

Ich war, zusammen mit zwanzig anderen, in Gruppe Fünf unter Kadett Lieutenant Hachette. Als wir unsere Ausrüstung hatten, bestiegen wir ein Walboot und fuhren hinaus auf See. Wir blieben in Küstennähe; Bermuda war eine tief über dem Horizont liegende Linie, als Lt. Hachette Befehl gab, die Maschinen zu stoppen. Wir trieben nun also und schaukelten sanft auf der karibischen Dünung, bis wir auf Befehl des Lieutenants einer nach dem anderen über Bord gingen.

Hier war das Wasser nicht tief, nicht mehr als zwanzig Fuß, und kristallklar. Wir trugen die vorschriftsmäßig beschwerten Taucherschuhe, die für jeden auf sein eigenes Körpergewicht abgestimmt waren, und auch das Volumen des Körpers spielte eine Rolle. Hatten wir sie an, so glichen wir genau das Gewicht des von uns verdrängten Wassers aus. Man kam sich vor, als hänge man in der Luft wie Mohammeds Sarg. Wenn wir nur leise mit einem Fuß traten, so stiegen wir, holten wir mit den Armen aus, so sanken wir.

Wir sammelten uns in Reihen auf dem gerippelten sandigen Boden und warteten auf Befehle.

Reden konnten wir natürlich nicht. Wir standen da und schaukelten vor und zurück wie eine Rauchsäule an einem windstillen Tag. Mir kam besonders die absolute Stille zu Bewußtsein. Das einzige wispernde Geräusch kam von den Luftblasen, die aus meiner Atemmaske aufstiegen. Später kam ich darauf, daß dies ungewöhnlich ist, denn der Meeresgrund kann ein sehr geräuschvoller Ort sein. Fische sind durchaus nicht die stummen Tiere, für die man sie hält.

Lt. Hachette überprüfte uns noch einmal, um sicher zu sein, daß alles in Ordnung war, dann mußte jeder selbst noch einmal die ganze Ausrüstung nach Undichtigkeiten oder Funktionsfehlern absuchen. Danach erst ging's weiter. Zwei und zwei nebeneinander marschierten wir über den Meeresboden. Es ging sehr langsam und kam uns anfangs außerordentlich merkwürdig vor. Natürlich marschierten wir ohne Tritt, und der unebene Boden erleichterte es nicht gerade, wenigstens die Andeutung einer Formation einzuhalten. Wir stolperten über Sandhügel und abgebrochene Korallenäste, machten einen vorsichtigen Bogen um die Seeanemonen, die wie Chrysanthemen aussehen und wie Hornissen stechen, und müssen für die neugierigen Fischchen, die in Schwärmen über uns wegschwänzelten, einen recht lächerlichen Anblick geboten haben. Ich glaube, wir wirkten eher wie Ballettänzer denn als Marschierende. Die meiste Zeit war mein rechter Fuß schon wieder über dem Grund, bevor noch mein linker vor mir aufgesetzt hatte.

Wir hatten bei dieser ersten Tauchübung Luft für nur dreißig Minuten und marschierten an tausend Meter alles in allem, erst hundert Meter in eine Richtung, dann nach einer scharfen Wendung rechts wieder hundert Meter. Am Ende der dreißig Minuten waren wir wieder an unserem Ausgangspunkt. Lt. Hachette gab uns das Signal, und wir glitten, je zwei und zwei, nach oben zum Walboot.

Vielleicht klingt das ziemlich langweilig.

Das war es aber absolut nicht. Jede Sekunde dieser ersten halben Stunde war reines Abenteuer. Es war ein Zauberland, durch das wir wanderten, bewohnt von langzähnigen Sternfischen und langsam schwimmenden Seegurken, von pulsenden Schwämmen und grell-farbenen, fingerlangen Fischen.

Zweimal tauchten wir dann noch an diesem Tag, dann kehrte das Walboot zurück. Zwei Wochen würde es dauern, bis wir wieder an der Reihe waren, aber schon jetzt machte ich für das nächste Mal Pläne. Ich war ja auf dem Meeresboden gewesen. Das war fast so etwas wie eine Heimkehr nach einer unvorstellbar langen Zeit.

Cadet Captain Sperry bellte im Rührungswalboot: »Achtung alle Boote! Fertigmachen zum Tauchen!«

Die ganze Klasse war in Walbooten draußen. Es war unser erstes nächtliches Unterwasserunternehmen und zugleich eine Massenangelegenheit. Vierzehn Walboote folgten Sperrys Führungsboot.

Die Sonne war schon untergegangen, aber am westlichen Himmel glühte noch immer ein dünner Rand. Die Luft wurde kalt. Schweigend legten wir unsere Ausrüstung an, dann saßen wir bequem während Captain Sperry und seine CrewHäuptlinge die Einzelheiten ihrer Pläne absprachen.

Die Sterne über uns waren groß und klar. Die Milchstraße sah aus wie ein breiter Pinselstrich mit einer Leuchtfarbe. Der Orion lag nahezu am Horizont, und über uns blinkte rot der Mars. Das Sternenlicht schien sich im Wasser gefangen zu haben, doch es war nicht reflektiertes Licht, von dem die Wellen glänzten und funkelten, sondern das eigene Leuchten. Eskow wisperte: »Glaubst du, daß es unten auch so hell ist?« Ich schüttelte den Kopf. Sicher wußte ich es natürlich nicht, aber mir schien, ich hätte einmal gehört, das Leuchten sei nur eine Oberflächenerscheinung.

»Achtung an alle Boote!« kam der Ruf über das Wasser. »Ausrüstung überprüfen! Luftventile — alle abzählen!« Jeder von uns tat einen Atemzug durch die Aqualungen, und das klang wie ein richtiges Schnarchen. »Lichter!« Ein paar hundert Glühwürmchen flackerten über dem Wasser, als wir unsere Kopflampen einschalteten. »Gesichtsmasken!« Wir alle zogen die Masken über den Kopf, und ich fuhr mit den Fingern die Linie nach, wo der Gummirand mit dem Fleisch abschloß.

Alles war in Ordnung. Es kam eine kurze Pause, dann Sper-rys Stimme: »Bootskommandanten, Crew nach unten schik-ken!«

Wir schlüpften über den Bootsrand.

Unter uns war nichts als absolute Schwärze.

Kaum hatte sich das Wasser über meinem Kopf geschlossen, waren die Sterne verschwunden. Ihr Licht war hell gewesen, aber die Wasseroberfläche durchdrang es nicht. Ganz klar konnte ich die Kopflampen der vierzehn Bootsmannschaften sehen; mir kamen sie vor wie eine Tagung von Glühwürmchen. Außer den Lichtern vermochte ich jedoch nichts zu sehen, keine Gestalt, keinen Gegenstand. Dann paßten sich meine Augen allmählich der absoluten Dunkelheit an, und nun sah ich schattenhafte Gestalten, die sich unter den Glühwürmchenlichtern neben mir bewegten.

Wir versammelten uns, wie üblich, am Meeresboden, aber marschiert wurde jetzt nicht. Das war ein Manöverproblem, um uns vertraut zu machen mit dem Mann-zu-Mann-Kampf unter Wasser, falls wir einmal in eine solche Lage kommen sollten. Sechs Bootsbesatzungen hatten die Eindringlinge zu spielen, die anderen acht die Verteidiger. Wir, die Eindringlinge, mußten die Abwehrlinie der Verteidiger durchbrechen. Wurden wir daran gehindert, so waren wir »tot«. Erfolg oder Mißerfolg einer jeden Gruppe wurde nach der Zahl der Eindringlinge bewertet, die durch die Verteidigungslinie kamen.

Die Verteidiger stellten sich in etwa hundert Metern Entfernung auf. Auf ein Signal hin schalteten sie ihre Lichter ab und verschwanden nun völlig in der Finsternis, soweit einer von uns sehen konnte. Unser Crewoffizier signalisierte mit seinem Licht, und unsere Crew stieß sich vom Meeresboden ab und schwamm zum Angriff. Wir mußten, dem Plan entsprechend, erst ein Stück schwimmen, ehe wir unsere eigenen Lichter alle gleichzeitig löschten. Das war Lt. Hachettes Idee gewesen. Die Verteidiger sollten die Annäherung sehen, und wenn die Lichter aus waren, wollten wir in eine andere Richtung vorstoßen.

Unsere Crew war die letzte, die ihre Lichter abschaltete; danach war jeder für sich ganz allein.

Nun erschien mir die Übung doch recht ernst zu sein. Erst war sie mir wie ein Kinderspiel vorgekommen, als der Lieutenant sie uns in der Vorlesungshalle erklärte. Ein Unterwasserhaschen — nichts für erwachsene Männer! Aber in der Dunkelheit und allein und in einer tintenschwarzen Finsternis dem Nichts entgegenschwimmen — da ging mir auf, wie schwierig diese Übung doch war. Erst war da natürlich das Element der Gefahr. Die großen Raubfische wie Haie, Mantas und Barraku-das griffen selten einmal einen Menschen an, aber wußten sie denn in dieser Finsternis, was wir waren? Richtig, das führende Walboot war mit einem Mikrosonar-Suchgerät ausgestattet, und wenn etwas von der Größe eines Haies auch nur auf eine Viertelmeile in unsere Nähe käme, würde uns ein Unterwasseralarm sofort zurückholen, und die Übung mußte dann eben abgebrochen werden. Was aber dann, wenn ein Alarm zu spät gegeben wurde? Oder gar nicht?

Aber wir waren ja mehr als zweihundert; die Zahl allein war schon eine Sicherheit, auch wenn etwas nicht klappen sollte. Schlimmer als die schwache Möglichkeit, einem Hai zu begegnen, war der blinde, hilflose Kampf selbst. Man war in einem Nichts aufgehängt, es gab kein Oben und Unten, keine Möglichkeit zu bestimmen, ob man in die richtige Richtung schwamm oder in eine ganz verkehrte. Ich erinnerte mich der Erlebnisse bei den Tauchübungen untertags. Ich versuchte mich zu entspannen, mit meinem ganzen Körper zu »fühlen«, mit meinem Blut und den Kanälen meiner Ohren, als ich parallel zu Boden schwamm. Es war nicht leicht. Später entdeckte ich, daß ein Dutzend Kadetten in jener Nacht direkt in den Boden geschwommen waren, und zweimal soviel stießen, zu ihrem eigenen maßlosen Erstaunen, durch die Wasseroberfläche, und das schon bei den ersten paar Schwimmstößen.

Ich versuchte, das feine Wispern irgendeiner Aqualunge zu erlauschen; ich glaubte auch etwas zu hören, doch dann war das leise Geräusch weg. Ich hörte es noch einmal, war aber nicht in der Lage, die Richtung festzustellen, ob es unter, über oder neben mir war, voraus oder hinter mir. Ich strengte meine Ohren an, doch. . .

Die schnellen Schläge eines Gongs donnerten in meine Ohren. Für einen Moment war ich so verblüfft, daß ich nichts mehr denken konnte. Erst dann fiel mir ein, was es war.

Alarm! Auf dem Mikrosonar waren Haie gesichtet worden, also war die Übung damit abgebrochen, und wir mußten eiligst in unsere Walboote zurückkehren.

Um mich herum flammten die Glühwürmchenlichter auf, schwebten schnell nach oben wie die Bläschen in einem Glas Sekt. Ich schaltete auch mein Licht ein und folgte den anderen. Oben war plötzlich die Stille weg, als habe sie nie existiert. Es war eine Kakophonie von Schreien. Über dem Geschrei ließ sich die Bullenstimme von Captain Sperry vernehmen: »Zeit lassen! Nicht hasten! In das richtige Walboot einsteigen! Jeder, der in einem falschen vorgefunden wird, dreht zehn Runden im Hof. Zeit lassen! In zwei Minuten sind alle in den Booten, und das ist eine ganze Menge Zeit!«

Ich riß mir die Maske ab und trat Wasser. Ich schaute mich um und hatte Glück. Die drei grünen Lichter, die das Walboot der Crew Fünf bezeichneten, waren nur ein paar Meter weg, und mit einigen Schwimmstößen war ich am Heck. Ich kletterte hinauf und half meinem Kameraden, der mir folgte.

Das Schreien und Platschen legte sich allmählich. »Rührt euch!« schrie Sperry im Führungsboot. »Crewkommandanten berichten, sobald fertig!«

Die Stimmen der Bootskommandanten kamen herein. »Crew Eins — alles anwesend!« »Crew Zwei, alles anwesend!« »Crew Drei, alles anwesend!«

Lt. Hachette zählte im Licht seiner Kopflampe eiligst ab. »Neunzehn«, sagte er besorgt. »Wer fehlt? Männer, Namensaufruf, abzählen!«

Die Stimmen hallten. »Degaret!« »Dodd!« »Domowski!« »Ealy!« »Eckstrom!« »Eden!« Das war ich. Und nun hätte ich Bob Eskow hören müssen.

Nichts. Ich schaute mich um und konnte es nicht fassen. Aber ein Zweifel war nicht möglich.

Bob Eskow war nicht im Boot.

Lt. Hachette hatte den Rest schnell überprüft. Durch das Megaphon rief er das Führungsboot an. »Crew Fünf — ein Kadett fehlt, Kadett Robert Eskow nicht im Boot.«

Aus vierzehn Booten kam das Gemurmel vieler Stimmen, und vom Führungsboot rief Captain Sperry: »Kadett Eskow! Melden!«

Keine Antwort.

Nun wurden die großen Suchscheinwerfer eingeschaltet und suchten die Wasseroberfläche um uns herum ab, suchten nach einem Kopf, nach der Bewegung eines Armes . . . Nichts. Zweihundertachtundsechzig Kadetten waren zur Übung aufgebrochen; zweihundert-siebenundsechzig waren in den Booten.

Bob Eskow mußte noch unter der Wasseroberfläche sein.

5. Unterwassersuche

Cadet Captain Sperry fragte nicht einmal nach Freiwilligen.

Diese Haie, wenn es Haie gewesen waren, die das Mikrosonar ausgemacht hatte, und nicht Tümmler oder sogar treibende Balken, belästigten uns nicht, als wir, eine Crew nach der anderen, unsere Aqualungen wieder aufluden und über Bord gingen. Wir versammelten uns crewweise unten am Meeresboden, hatten die Lichter eingeschaltet und begannen mit der Suche.

Für Bob Eskow sah es gar nicht gut aus, aber, wie ich mir immer wieder vorsagte, nicht unbedingt tödlich. Er hatte Luft für dreißig Minuten; war er nur abgeirrt und hatte das Rückrufsignal nicht gehört — das war fast unmöglich —, so würde er selbst zurückkommen. War er aber irgendwo in einer Falle, so mußten wir ihn finden.

Aber wenn vielleicht seine Aqualunge nicht ganz funktioniert hätte, wäre es womöglich jetzt schon zu spät...

Die Walboote über unseren Köpfen begannen nun schwimmende Notfeuer abzuwerfen. Sie flammten wie kleine Sonnen, sanken etwa einen Faden tief unter die Wasseroberfläche, beleuchteten den ganzen Seeboden und hatten auch einige Reichweite. In genau eingeteilten Trupps patrouillierten wir den Seeboden und folgten den Handsignalen unserer Bootsführer. Sie blinkten immer wieder Kodesignale nach allen Richtungen, und allmählich war die ganze Klasse von einem zentralen Punkt aus weit nach allen Richtungen hin aufgefächert, und jeder einzelne suchte unter sich und etliche Yards links und rechts.

Mehr als eine halbe Meile vom Absetzpunkt aus konnte sich Bob gar nicht entfernt haben, und wir waren insgesamt fast dreihundert Leute. Wie Delphine schwammen wir durch die gespenstisch erleuchteten Wasser, tauchten tiefer, um Tangtäler und Korallenhöhlen zu untersuchen und hielten gleichzeitig Kontakt mit allen Nachbarn. Jeder verdächtige Buckel oder Sandhügel wurde untersucht. Ich kalkulierte sehr schnell: Wenn der Suchkreis in jeder Richtung eine halbe Meile ausgedehnt wurde, so mußten die ungefähr zweihundertacht-zig Personen einen Umkreis von über siebzehntausend Fuß absuchen mit einem Abstand von etwa sechzig Fuß von einem Mann zum anderen. Konnte ein Mann einen Streifen von sechzig Fuß allein gründlich absuchen? Besorgt bezweifelte ich das. Und was noch schlimmer war, ich war ziemlich sicher, daß nicht einmal die Notfeuer von den Walbooten ein so riesiges Gebiet ausreichend beleuchten konnten. Lange ehe wir die Grenze von einer halben Meile erreichten, mußten wir uns auf die relativ schwachen Kopflampen verlassen.

Wir erreichten die Halbemeilenmarke und suchten darüber hinaus.

Wir gingen bis an die Grenze unseres Luftvorrats, ehe das von der Entfernung gedämpfte Rückrufsignal zu hören war. Widerstrebend stießen wir zur Wasseroberfläche durch, nahmen unsere Gesichtsmasken ab und schwammen zu den Walbooten. Es herrschte fast absolutes Schweigen, als uns die Boote zurück an den Landesteg tuckerten.

Sehr entmutigt nahmen wir am Landesteg Aufstellung, damit der Namensaufruf stattfinden konnte, dann wurden wir entlassen.

Einige meiner Klassenkameraden fanden Worte des Mitgefühls für mich, als wir auf dem Weg zu unseren Quartieren waren. Was sie sagten, drang nicht recht zu mir durch. Ich konnte es einfach nicht begreifen, daß Bob Eskow nicht mehr bei uns sein sollte.

Mitternacht war schon vorbei, und wir gingen sofort zu Bett. Am Morgen nach einer Nachtübung fand das Wecken später statt, aber um sieben mußten wir sowieso auf sein, weil ja bald die Klassen begannen. Ich lag in meinem unglaublich leeren Zimmer und starrte zur dunklen Decke hoch, da ich einfach nicht begriff, wie so etwas passieren konnte.

Ich mußte wohl Stunden wach gelegen und in die Finsternis gestarrt haben. Dann und wann mußte ich dann doch kurz für ein paar Minuten eingedöst sein, denn jemand rüttelte mich plötzlich wach. »Eden!« hörte ich Lt. Hachettes aufgeregte Stimme. »Eden! Sie haben ihn gefunden! Er lebt.«

Im Nu saß ich auf dem Bett. »Was?« fragte ich und konnte es kaum glauben.

»Ja, es ist wahr!« versicherte mir Hachette. »Ein Fischerboot hat ihn aufgepickt, drei Meilen vom Absetzpunkt entfernt. Gott weiß, wie er dahin gelangte. Aber er lebt!«

Ja, er lebte, aber mehr wußten wir noch nicht. Zum Frühstück gab es eine offizielle Ankündigung: »Kadett Eskow wurde von einem kleinen Bermuda-Fischerboot gerettet und in ein Zivilkrankenhaus gebracht. Es geht ihm ziemlich ordentlich, doch er muß noch einige Zeit zur Behandlung im Krankenhaus bleiben.«

Ein paar Tage später bekam ich von Bob aus dem Krankenhaus einen Brief. Sehr viel erfuhr ich auch daraus nicht. Es war ein sogenanntes Siebentagewunder in der Akademie: Wie war er dorthin gelangt? Was war geschehen? Wir hatten nur eine Menge Fragen und keine Antworten, und die Tage und Wochen vergingen. Bobs Name wurde immer seltener genannt.

Für mich war das auch eine schwere Zeit. Auf der Akademie war das Kameradschaftsprinzip sehr stark. Man arbeitete mit seinem Zimmerkameraden, war mehr oder weniger füreinander verantwortlich, wußte auch immer, wo der andere war. Wäre Bob Eskow aus den Listen der Akademie gestrichen worden, so hätte ich schon einen neuen Zimmerkameraden bekommen, jemanden, dessen ursprünglicher Kamerad schon ausgeschieden war, aber er hatte nur Krankenurlaub, und das Zimmer wurde für ihn reserviert.

Ich fühlte mich sehr einsam. Wir hatten sehr hart zu arbeiten und keine Zeit zum Brüten, so daß die Wochen nur so verflogen, und das half mir über die Einsamkeit ein wenig weg. Und dann bekam ich auch einige Briefe von meinem Onkel.

Wenn ich Onkel Stewarts Briefe las, befand ich mich immer auf der langen Reise zur Tiefe von Marinia. Durch seine Worte sah ich die Herrlichkeiten und Wunder der Tiefsee, die er bewohnte und die ich zu meinem Lebensinhalt zu machen hoffte. Fast konnte ich ihn vor mir sehen: groß, sonnenbraun zu dunkler Lederfarbe vom violetten Licht der Troyon-Röhren, das Kinn mit einem bronzefarbenen Bart eingefaßt. Fast hörte ich auch seine sanfte, leise Stimme, die mir von der auf mich wartenden neuen Welt erzählte.

Fast ebenso wirklich wie die sonnenbeschienenen AkademieGründe vor meinem Fenster waren die riesigen Tiefsee-Städte, von denen er schrieb: Thetis, Nereus, Seven Dome, Black Camp und die anderen, die sicher unter ihren Edenitkuppeln auf dem Boden des Pazifiks ruhten. Und dieses Edenit hatte er erfunden. Denn Onkel Stewart war ein Mann vieler Unternehmungen. In den Jahren, seit ich ihn gesehen hatte, erfuhr ich einiges über ihn; nicht aus seinen Briefen, denn er sprach immer nur davon, was ich in Marinia tun könnte, kaum einmal von sich selbst, sondern von den Büchern und Zeitungen, die ich verschlang, sobald der Name Eden darin auftauchte. Ich hörte zum Beispiel, daß er in zwei Meilen Tiefe neue Petroleumfelder erschloß; oder daß er Platinvorkommen gefunden hatte in einem Gebiet der Unterwasserberge, die Mountains of Darkness hießen, weil an den zerklüfteten Abhängen nicht jenes phosphoreszierende Leben herrschte wie an anderen Tiefseegebirgen. Immer suchte er den Boden des Pazifiks ab, in tausend verschiedenen Unternehmungen war er der Planer und Helfer.

Erst als Bob Eskow nicht mehr da war, wurde ich mir richtig klar darüber, wie wichtig er für mich war. Naturlich blieb ich mit dem Krankenhaus in Verbindung, aber es war doch eine große Überraschung, als mich einer meiner Klassenkameraden aufhielt, um mir zu sagen, Bob sei zurück.

Ich raste in die Fletcher Hall, in den Lift und grinste über das ganze Gesicht. Ich vergaß alles um mich herum, als ich den Knopf für mein Stockwerk drückte.

»Mister Landratte!« schrie plötzlich eine mir sehr vertraute Stimme, und unwillkürlich stand ich stramm. Natürlich war es Cadet Captain Brand Sperry, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Lift stand. Die Tür begann sich gerade zuzuschieben, und ich drückte hastig auf den Halt-Knopf. Sperrys Peitschenstimme schnappte: »Mister Landratte, strammstehen!«

»Ja, Sir«, sagte ich.

»Tagesbefehl, Mr. Eden«, fuhr er mich an. »Hatten Sie eine Gelegenheit, ihn zu lesen?«

»Ja, Sir.« Ich wußte, was jetzt kommen würde.

»Oh?« Es gelang ihm, erstaunt dreinzuschauen. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht, Mr. Eden. Auf dem Schwarzen Brett ist das sehr groß angeschlagen. Ich kann es von hier aus sehen. Von heute 6 Uhr an bis auf weiteres werden keine Lifte benutzt. Das ist ein allgemeiner Befehl, Mr. Eden, von einer höheren Autorität erlassen, um Energie einzusparen. Oder wußten Sie nicht, daß es Stromkürzungen gibt? Mr. Eden, es wird zu wenig Uran geliefert, und ohne Uran muß Energie gespart werden. Verstehen Sie das?«

»Ja, Sir.« Von da an ging es noch weiter und endete mit dem Befehl, am kommenden Tag die halbe Stunde Freizeit vor dem Abendessen vor dem Schwarzen Brett strammzustehen und den Tagesbefehl auswendig zu lernen. Das war schon zu ertragen, doch was mich kränkte, war, daß Cadet Captain Sperry gut in Hörweite war, als mein Klassenkamerad mir zurief, Eskow sei wieder zurück und in unserem Zimmer. Er wußte, weshalb ich es so eilig hatte und warum ich nicht an den Tagesbefehl dachte.

Er wußte es, und trotzdem schikanierte er mich nach dieser wirklich kleinen und verständlichen Übertretung. Ich fand es allmählich immer schwieriger, unter Cadet Captain Brand Sperry leben zu müssen.

Aber fünf Minuten später entschädigte mich Bob Eskow für sehr vieles.

Ich schüttelte ihm die Hand in einem Sturm herzlicher Gefühle. »Bob!« sagte ich und stotterte vor lauter Begeisterung. »Ich hab' schon fast nicht mehr damit gerechnet, dich wiederzusehen!«

Sein breites Grinsen verlor seinen Glanz. »Du wirst mich vielleicht nicht mehr sehr lange sehen. Ich bin auf Probezeit gesetzt.«

»Aber Probezeit. . . Wieso . . .«

Er zuckte die Schultern. »Gewissermaßen haben sie ja recht. Warte nur eine Minute, dann will ich dir alles erzählen, was geschehen ist. Beim Nachtmanöver ging ich hinter dir nach unten, und wir machten uns auf den Weg zur Verteidigungslinie. Ich erinnere mich noch genau, daß ich meine Kopflampe ausgeschaltet habe. Und dann erinnere ich mich, daß ich überlegte, wie in aller Welt ich sagen könnte, ob ich nun auf- oder abwärts oder seitlich und welcher Richtung schwimme oder was sonst. Dann . . .« Er zögerte und schüttelte den Kopf. »Dann geschah etwas, Jim. Ehrlich, ich kann nicht sagen, was. Der Arzt sagte etwas über abnormale Druckempfindlichkeit und ein Blackout — na, ich weiß nicht. Mir ist nur in Erinnerung, daß plötzlich alles um mich herum wie ein Nebel war. Ich schien keinen Atem mehr zu bekommen, alles wurde schwarz, obwohl doch vorher schon alles so schwarz war, daß man nicht gut sagen kann, es sei noch schwärzer geworden, aber so war es.« Er breitete die Hände aus. »Und dann war ich auf dem Deck einer kleinen Fischerketsch, sie hatten mich nämlich in den Netzen heraufgezogen.«

»Aber Bob . ..«, begann ich.

»Ich weiß. Ich war lange Zeit im Wasser, und sie sagten mir, ich hätte keinen Sauerstoffvorrat mehr gehabt. Aber ich lebte. Sie hatten kein Radio in der Ketsch, und sie sahen auch nicht ein, weshalb sie mich zum Akademiedock bringen sollten, also brachten sie mich in ihren Heimathafen. Von dort aus riefen sie die Akademie an, und ein Arztoffizier von der Tiefsee-Basis kam und holte mich. Und dann war ich im Krankenhaus.«

»Aber was hat dich ausgehen lassen?«

Er schaute mich düster an. »Der Arzt hat mir darüber eine ganze Menge ziemlich blöder Fragen gestellt. Erst dachte er, das Atemgerät habe vielleicht nicht richtig funktioniert, aber dann bekam er einen Materialbericht, der diesen Punkt verneinte. Er strich mir also nur über den Kopf und erzählte mir, es gebe Leute, die seien eher solchen Dingen ausgeliefert als andere, und schließlich könnte ich ja auch als Landratte ein recht gutes Leben haben .. .«

Ich schaute ihn verblüfft an. »Aber hinausgeworfen hat man dich nicht?«

Er lachte und boxte mich gegen die Schulter, aber besonders glücklich war dieses Lachen nicht. »Nein, noch nicht, aber ich war nahe dran. Im Krankenhaus hatten sie ein Hearing, sobald ich wieder soweit war, daß ich aufsitzen und mich daran beteiligen konnte. Ich konnte sie schließlich davon überzeugen, daß vielleicht doch eine Panne in meinen Geräten schuld hätte, und deshalb berieten sie, daß sie mir vielleicht doch noch mal eine Chance geben könnten. Aber, weißt du, Jim, es steht in meiner Akte. Es ist keine Schande, aus medizinischen Gründen die Akademie verlassen zu müssen, ich weiß das, aber ich will nicht hinausgewaschen werden, egal aus welchem Grund. Jede Kleinigkeit, die mir sonst nur etliche Runden einbringen könnte, wird mich jetzt. . . erledigen.«

»Bob«, erwiderte ich ungehalten, »da muß doch ein Fehler vorliegen! Es ist ganz einfach nicht fair. Vielleicht war deine Ausrüstung nicht ganz in Ordnung. Sie können dir nicht so etwas in deinen Personalbogen schreiben, wenn es nicht absolut sicher ist. Haben sie deine sonstige Beurteilung hier berücksichtigt? Diese ganzen Übungen, die Unterwasserausbildung, alles ... «

Jetzt lachte er nicht mehr. »Klar, das haben sie schön getan, Jim«, antwortete er sehr ernst. »Das haben sie sogar sehr gründlich getan. Sie hatten beschworene Beweise dafür, daß ich vom ersten Tag auf der Akademie Schwierigkeiten hatte, mit dem Rest der Klasse Schritt zu halten; ich hätte praktisch immer nur geächzt und gekeucht, nicht die angemessene Anzahl von Liegestützen zusammengebracht und so weiter.«

Jetzt war ich aber ordentlich verblüfft. »Aber . . .«

»Aber nichts! Das ist die Geschichte, Jim. Ich will gar nicht leugnen, daß ich nicht so gute Muskeln habe wie du. Aber wer hat die schon? Ich meine nur, daß ich schon bei allem richtig mitgehalten habe. Nur. . . die Zeugen sagten etwas anderes.«

»Welche Zeugen?« fragte ich. »Wer hat denen solche irre Geschichten erzählt?«

»Oh. er machte es recht verständlich, Jim. Er war ein guter Freund von dir. Er war im Krankenhaus und genau das schöne Modell eines Tiefsee-Kadetten, als er die Fragen beantwortete. Du weißt schon, wen ich meine — Cadet Captain Brand Sperry persönlich.«

6. Die Kreuzfahrt der Pocatello

In meinem zweiten Sommer an der Akademie hätte ich bald meinen Onkel Stewart gesehen.

Alle ungeschickten jungen Zivilisten, die vor zwei Jahren durch das Korallentor gegangen waren, hatten sich sehr verändert; ich mich natürlich auch. Zwei Jahre Drill und harter Arbeit hatten uns zwar noch nicht zu Tiefseeoffizieren gemacht, uns aber sehr viel von unseren Zivilistenmanieren abgewöhnt. Ich konnte jetzt bis auf vierzig Fuß tauchen, mit Aqualunge auf siebenhundert Fuß, mit Anzug bis zur Grenze des Druckwiderstands der Edenit-Beschichtung. Ich wußte, welche Pflichten jeder einzelne Mann auf einem Tiefsee-Schiff des Service zu erfüllen hatte, und konnte sogar für jeden einzelnen einspringen, angefangen von Rühreiern für achthundert Mann bis zum Annäherungsmanöver des Schiffes an einen ganz besonders schwierigen Hafen und das Einlaufen selbst.

Sicher, wir lernten fast alles aus Büchern, und ich mußte die Geschicklichkeiten, die ich mir theoretisch angeeignet hatte, in die Praxis umsetzen. Dazu und für weitergehende Studien hatte ich noch zwei Jahre Zeit, ehe ich ein Kommando bekam. Ich war aber keine Landratte mehr, sondern Mittschiffsmann des Tiefsee-Service. Meine Klasse war nun nicht mehr ganz zweihundert Mann stark, und mit ihr sollte ich nun auf die im Lehrplan vorgesehene Trainingskreuzfahrt mit der alten SSS Pocatello gehen.

Die Kreuzfahrt sollte neunzig Tage dauern, quer über den Nordatlantik, durch das Mittelmeer, den Suezkanal und das Rote Meer zum Golf von Aden gehen, wo wir an einer Flottenübung teilnehmen sollten. Dann weiter durch den Indischen Ozean, durch die trügerischen ostindischen Gewässer nach Marinia. Und dort, so hoffte ich, würde ich dann die Gelegenheit haben, meinen Onkel wiederzusehen, ehe wir die lange Pazifiküberquerung zum Panamakanal machten, von dort weiter zu unserem Stützpunkt in der Karibik. Das waren etwa dreißigtausend Meilen, fast ausschließlich unter Wasser. Nur den Suez- und den Panamakanal sollten wir aufgetaucht durchfahren.

Der Atlantik war ein Kinderspiel. Ich glaube, wir brauchten dies, um uns an die Routine des Tiefsee-Schiffes zu gewöhnen. Aber wir hatten nicht viel zu tun, wir standen unsere Wachen, hielten die Maschinen am Laufen und warteten, bis die Woche der langsamen Durchquerung vorüber war. Wir hatten das Schiff zu führen, wenn auch eine reguläre Stammbesatzung an Bord war, doch die sollte nur im Notfall eingreifen und uns beobachten, so daß sie dann ihren Bericht machen konnte.

Der Zweite Offizier des Übungsschiffes war Cadet Captain Sperry. Das Kommando führte er technisch zwar nicht, aber er hatte die Funktionen eines Exec. Das schloß soviel Befehlskraft ein, daß er Bob Eskow und mir recht ungemütliche Momente bereiten konnte. Aber über den Atlantik ging alles glatt.

Wir trieben durch die Straße von Gibraltar. Die Maschinen waren abgestellt, ein Trick der alten Unterseeboote mit Dieselantrieb, dessen man sich in Kriegszeiten bediente, so daß man sich unentdeckt durch diese enge Straße stehlen konnte. Das seichte Mittelmeer ist eine Riesenpfanne, deren Wasser immer mehr verdunstet, doch es saugt aus dem Atlantik auch ständig Wasser an. Unter der heißen Sonne des Mittelmeergebiets verdunstet einiges von diesem Wasser, und es bleibt eine Salzlake zurück; die sinkt zu Boden und fließt durch die Straße von Gibraltar wieder in den Atlantik: eine dichte, schwere ausgehende Strömung wird überlagert von einer frischen, leichteren, die endlos in das Mittelmeer fließt und sich mit dem salzigeren, schweren Wasser nie vermischt.

Wir ließen uns mit der oberen Strömung hineintreiben, wenn auch immer untergetaucht. Ich war auf der Brücke und beobachtete durch das Mikrosonar das Wasser. Es war eine fast gespenstische Angelegenheit, mit toten Maschinen in diesem alten großen Kriegsschiff ruderlos dahinzutreiben und zu sehen, wie die Orientierungspunkte auf dem Sonarschirm vorbeischwebten.

»Gut gemacht«, sagte der Offizier der Stammbesatzung, der dabeistand, und ließ sein Notizbuch zuschnappen. »Sie können jetzt auftauchen, Cadet Captain Sperry.«

Wir setzten Kurs auf den Treibstoffstützpunkt am Felsen selbst, nicht weil wir Treibstoff brauchten, sondern weil wir dort neue Befehle abzuholen hatten. Die Befehle wurden nicht erklärt, doch wir hörten eine Menge Gerüchte.

Bei vollem Tageslicht kamen wir in den großen Tankstützpunkt und tauchten auf. Bevor wir noch anlegten, kam meine Ablösung, doch ich zögerte, meinen Posten zu verlassen. Bob Eskow, der als Junior Maschinen-Offizier gleichzeitig mit mir Dienst gemacht hatte, kam in unseren Wachraum, und wir beide gingen leise hinauf zum Wetterdeck, blieben aber so gut wie möglich außer Sicht. Es gab kein Verbot, dort oben zu sein, und das Schiff war gegen versehentliche Tauchmanöver gesichert, aber wir beide konnten im Moment die ätzende Zunge von Cadet Captain Sperry nicht ertragen.

Der riesige Felsen war recht eindrucksvoll. »Jim, wir müßten eigentlich Landurlaub bekommen, und dann klettern wir da hinauf und sehen uns die berühmten Affen an. Und dann können wir über die Straße hinüberschauen zum Berg Abyla. Und eine Höhle soll es geben, sie heißt St. Michael, und die Leute behaupten, durch sie könne man unter Wasser nach Afrika hinübergehen und . . .«

»Achtung an Deck«, plärrte hinter uns ein Lautsprecher. »Die beiden Kadetten am Wetterdeck. Sofort beim Offizier vom Dienst melden. Sie haben sich beide zu verantworten.«

Als wir die Stimme des Kommandanten hörten, standen wir unwillkürlich stramm. Was hatten wir angestellt? Wir salutierten der Brücke und gingen nach unten, sehr viel weniger fröhlich als noch vor ein paar Momenten.

»So, da geht unser Ausflug zu den Affen«, brummte ich. »So ein elendes Pech . . .«

Bob sah grimmig drein. Er stieß mich leicht an und machte eine Kopfbewegung zur Brücke. »Jim, der Commander hätte uns auch dann gerufen, wenn es nicht erlaubt gewesen wäre, oben zu sein. Schau mal.«

Ich schaute. Auf der Wetterbrücke stand der Commander, und er sah nicht mehr uns an, sondern überwachte aufmerksam die Anlegemanöver. Neben ihm stand jedoch der Zweite Offizier, Cadet Captain Sperry und schaute mit einem besonders befriedigten Gesichtsausdruck zu uns herüber.

Wir hatten also keinen Landurlaub in Gibraltar, sondern verbrachten unsere dienstfreie Zeit mit Liegestützen im Trainingsraum des Tankstützpunkts. Allzu schlimm war es nicht, immer zehn Minuten scharfe Übung, dann fünf Minuten Pause, alles in allem immer zwei Stunden. Aber in einer der Pausen entdeckte Bob etwas, das wir uns nicht erklären konnten.

Die Lademaschinen arbeiteten um die Pocatello, und das war normal; man erwartet, daß ein Seeschiff in einer Tankstation aufgetankt wird, und die in genau abgemessenen Abständen aufgestellten Uranpatronen, jede in einem kleinen Strahlungsdichten Behälter, waren nichts Neues für uns.

Bis Bob entdeckte, daß die Patronen vom Schiff kamen.

»Nein! Da wird Brennstoff ausgeladen?« bemerkte ich ungläubig. ,,Aber das ist doch verrückt! Wir haben dreißigtausend Meilen vor uns!«

Bob wischte sich schweratmend die Stirn, denn ihm machten solche Übungen mehr zu schaffen als mir. Er schüttelte den Kopf. »Die brauchen wir nicht«, sagte er. »Eine einzige Ladung würde diese Konservenbüchse zwei- oder dreimal mit Leichtigkeit um die ganze Erde bringen. Das ist nur unsere Notration. Trotzdem ist es recht komisch.«

Da waren wir einer Meinung. Dann hörten wir die Pfeife, und das Dutzend, das für kleinere Vergehen zu büßen hatte, nahm die Übungen wieder auf. Und wir vergaßen den Brennstoff für eine Weile.

Gegen Abend war die Pocatello wieder unterwegs, diesmal zum Flottenstützpunkt Neapel. Es war ziemlich langweilig. Kurz vor dem Golf von Neapel tauchten wir auf und fuhren zwischen Ischia und Capri bei Sonnenaufgang in die Bucht. Ich hatte die Frühwache und sah die Sonne über dem Vesuv aufgehen.

Und da kamen dann die schlechten Nachrichten: Die Kreuzfahrt war abgesagt.

Offiziell wurde kein Grund dafür angegeben, es wurde nur mitgeteilt, daß wir zu unserer Basis zurückzukehren hatten. Aber das Gerücht war nun erklärt, und nach dem, was wir, Bob und ich, in Gibraltar gesehen hatten, glaubten wir auch an dessen Wahrheit: Uranmangel.

Ich glaube, nicht ein Mann auf dem Schiff nahm den Befehl leicht, denn wir hatten uns sehr lange schon auf diese Kreuzfahrt gefreut. Für mich war sie mehr gewesen als nur eine angenehme Übungsfahrt, denn ich hatte gehofft, meinen Onkel Stewart Eden sehen zu können, wenn wir nach Marinia kamen.

Das war jetzt alles natürlich gestrichen.

Am frühen Morgen kam der Befehl zur Rückkehr zu den Bermudas. Die Pocatello wurde verproviantiert und konnte erst gegen Abend auslaufen. Bob Eskow und ich hatten Landurlaub für den Nachmittag, aber als wir im Walboot saßen, waren wir gedrückter Stimmung.

An Land wurden wir aber wieder fröhlicher. Keiner von uns beiden war jemals weit von zu Hause weg gewesen. Neapel erschien uns wie eine andere Welt, die von meinem New London und Bobs New York so weit entfernt war wie der Mond.

Wir liefen durch alte, enge Straßen, über den breiten, eleganten Boulevard am Wasser, tranken im Herzen der Stadt einen dicken, heißen Kaffee aus winzigen Tässchen. Und als wir dasaßen, kam ein magerer Mann mit freundlichem Lächeln auf seinem dunklen Gesicht zu uns. »Scusi, Signori«, sagte er. Da er die seeblaue Uniform mit den Ankern des italienischen Tiefseeflottenkommandos trug, standen wir auf.

»Hallo«, sagte ich zögernd, »wir können kein Italienisch, Sir.«

Der Mann zuckte die Schultern. »Ich spreche ein bißchen Englisch«, antwortete er langsam. »Bitte, entschuldigen Sie die Störung, aber Sie sind doch von diesem amerikanischen Tiefseeboot?«

»Ja, natürlich«, antwortete Bob lachend. »Ich bin TiefseeKadett Eskow, und das ist Kadett Eden.« Er streckte die Hand aus, und der Italiener schüttelte sie strahlend.

»Wußte ich's doch!« rief er. »Erlauben Sie mir, Sie in Neapel willkommen zu heißen, Gentlemen. Ich bin Sotto-Tenente Vittorio di Laterani, zu Ihren Diensten.«

Im gleichen Moment wurden Bob und ich uns darüber klar, daß wir mit einem Offizier mit Kommando sprachen und standen stramm. Er erwiderte unsere Ehrenbezeigung voll Höflichkeit und sagte, er freue sich riesig über unser Schiff im Hafen; gleichzeitig bot er uns für den Nachmittag seine Dienste als Führer an.

Wir sahen einander an, Bob und ich, und wir freuten uns über dieses Angebot.

Di Laterani war gerade zwanzig und seit einem Jahr Offizier. Derzeit war er stationiert bei der Marinebasis Neapel, denn sein eigener Unterseekreuzer, die Pontevecchio, lag zu einer großen Überholung im Trockendock. Bis zum Ende der Überholung hatte er viel Zeit, und wir akzeptierten natürlich sein Angebot, uns auf eine Tour mitzunehmen, sehr gerne.

Es war ein herrlicher Nachmittag, doch er nahm ein schlimmes Ende.

Während des Nachmittags hatte der Vesuv etwas stärker geraucht als gewöhnlich. Wir saßen in einem winzigen Hotel bei einem Expresso und schauten auf den Golf hinaus, als der Sturm zuschlug.

Tenente di Laterani sprang auf, als der erste Donner rumpelte. »Madre mia!« schrie er. »Kommt, Gentlemen, wir müssen uns beeilen. Bei starkem Regen ist die Straße den Berg hinab nicht passierbar. Und wenn Sie Ihr Schiff erreichen wollen ...«

Wir erreichten es nicht. Die Pocatello war weg.

Wir versuchten alles. Der Tenente schämte sich, weil er daran schuld war, daß wir unser Schiff versäumt hatten, und raste mit seinem winzigen Auto zum Basis-Hauptquartier, um für uns eine Transportmöglichkeit zu finden — ein Torpedo-Boot, ein Flugzeug, irgend etwas, das uns zu unserem Schiff bringen konnte, ehe es so weit vom Land entfernt war, daß es für die Rückreise tauchte. Aber der Sturm hielt die Flugzeuge am Bo-den, und als di Laterani endlich einen Torpedobootskommandanten gefunden hatte, der uns hinausbringen wollte, kam über den Radarschirm eine Sichtmeldung herein: »Amerikanischer Tiefsee-Kreuzer getaucht, kein Rückruf möglich.«

Wir hatten also unser Schiff versäumt.

Wir mußten uns nun beim amerikanischen Sektionsoffizier melden und die bittere Pille unserer Strafe schlucken.

Ich glaube, es wäre unter den vorliegenden Umständen noch erträglich gewesen, hätten wir unser Schiff in Gibraltar erreicht, doch es ging nicht. Der Sektionsoffizier hatte Mitleid mit uns und gab der Pocatello unsere Geschichte durch mit der Bitte, in Gibraltar aufzutauchen, so daß wir dorthin fliegen und wieder an Bord gehen könnten. Erst Stunden später kam die Antwort zurück: »Ersuchen abgelehnt. Erwähnte Kadetten werden auf dem Luftweg zur Akademie zurückkehren.

Brand Sperry, Zweiter Offizier Diensttuender Kommandant.«

Am nächsten morgen gingen wir an Bord eines zivilen Linienjets und machten uns auf den trübseligen Rückweg.

Als wir in der Akademie ankamen, begegneten wir nur steinernen Gesichtern. Der Kommandant persönlich rief uns zurück. Wir seien eine Schande für den Service, sagte er, und Eskows Unfall vom Jahr vorher erscheine jetzt in einem ganz anderen Licht und sei wohl beabsichtigt gewesen. Ich, hielt er mir vor, tue mir einiges zugute auf den Ruf meines Onkels und meines Vaters. Wir wurden vor die Wahl gestellt: entweder aus dem Service ausscheiden, oder vor ein Kriegsgericht gehen.

Ich glaube, mein Vater hätte das Kriegsgericht gewählt, doch Eskow hätte nichts davon gehabt, wenn er das getan hätte. Das Gericht hätte mit Rücksicht auf den vorigen Unfall gegen ihn entschieden, und ich mochte nicht die Möglichkeit auf mich nehmen, im Dienst zu bleiben, während Eskow aus dem glei-chen Grund unehrenhaft entlassen wurde.

Wir schieden beide aus.

Auch jetzt kam ich noch nicht auf die Idee, daß hinter dieser ganzen Geschichte andere als disziplinäre Gründe stecken könnten.

Schweren Herzen schickte ich meinem Onkel ein langes Radiogramm, um ihm zu schildern, was geschehen war, und dann packte ich meine Sachen.

7. Der Brief aus den Tiefen

Die Antwort war ein kurzes Radiogramm:

BESTÄTIGT. KINN HOCH. BRIEF FOLGT. STEWART EDEN.

Der Brief kam eine Woche später. Mir wäre lieber gewesen, es hätte eine Ewigkeit gedauert.

Es war ein ungewöhnlich langer, blauer Umschlag, und links oben las ich Namen und Adresse des Anwalts meines Onkels. Ich riß ihn auf; drei Dinge fielen heraus: ein Scheck über einen Betrag, bei dessen Anblick mir fast die Augen aus dem Kopf fielen; eine schmale gelbe Karte mit meines Onkles Gekritzel in Scharlachrot: »Mach Dir nichts draus, Jim. Ich hätte das erwarten müssen. Ist nicht Dein Fehler. Komm nach Thetis. Ich werde Dich dort treffen und es Dir erklären.«

Das war eine geheimnisvolle Mitteilung, die ich zweimal las. Ich wurde mir nicht darüber klar, was mein Onkel damit gemeint haben könnte. Ob er geglaubt hatte, ich würde die Schwierigkeiten nicht schaffen? Aber er hatte ja erwähnt, es sei nicht mein Fehler. Unruhig besah ich mir das letzte Ding.

Sofort vergaß ich alles andere. Es war dies ein Brief, sorgfältig auf blaues Cellutan getippt, mit einem Kopf, auf dem ich „Wallace Faulkner, Rechtsanwalt« las. Mr. James Eden c/o United States Tiefsee-Akademie Klasse Drei, Crew Fünf

Sehr geehrter Herr,

ich bedaure unendlich, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Onkel Stewart Eden tot ist. Kurz nachdem er Ihnen den beigeschlossenen Brief geschrieben hatte, ging er an Bord eines Kreuzers nach Seven Dome. Die Route von Thetis dorthin verläuft über den Eden Tiefen; während der Überquerung dieser Tiefen in viertausend Faden Tiefe (l Faden = 6 Fuß = 1,829 m) und auf normalem Kurs wurden vom Schiff Ihres Onkels SOS-Signale aufgefangen. Sie brachen in der Mitte ab, und weiterer Kontakt konnte nicht mehr hergestellt werden.

Selbstverständlich unternahmen die örtlichen Seebehörden alle Anstrengungen, mit Ihrem Onkel wieder Verbindung aufzunehmen, leider ohne Erfolg. Mir teilte man mit, es bestehe keine Möglichkeit für sein Überleben.

Ich nehme an, Sie wissen, daß Sie der Alleinerbe sind. Ich muß Sie jedoch warnen, daß Ihr Onkel kein sehr wohlhabender Mann war.

Im wesentlichen besteht sein Besitz aus achtzig Anteilen einer Firma, die unter dem Namen Marine Mines, Ltd. bekannt ist. Das ist die Firmenmehrheit, da nur hundert Anteile ausgegeben wurden. Der Wert dieser Anteile ist problematisch. Der Nominalwert ist pro Stück tausend Dollar, aber unter normalen Bedingungen gibt es dafür keinen Markt.

Vor einigen Jahren hat diese Firma bei der Regierung von Marinia einen Antrag gestellt auf die Ausbeutungsrechte der Eden Tiefen mit den alleinigen Oberflächen-und Mineralrechten. Das ist das bedeutendste Besitztum der Firma. Es ist durchaus möglich, daß der Boden der Eden Tiefen Minerallager von hohem Wert enthält, doch ist die Erschließung schwierig, da existierende Formen von Seefahrzeugen und Tiefseeausrüstungen in solchen Tiefen noch nicht erfolgreich eingesetzt werden konnten. Es ist möglich, daß Ihres Onkels Tod auf einen Versuch zurückzuführen ist, die größere Tiefenreichweite seiner Ausrüstung so auszuprobieren, daß der Boden der Eden Tiefen ausgebeutet werden kann. Trifft dies zu, so war sein Versuch leider erfolglos.

Um ganz offen zu sein: das Projekt, diesen Claim zu erschließen und die Vorkommen abzubauen, ist visionär und nicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Der gewaltige Druck von etlichen tausend Faden Wasser allein schon läßt den Plan als nicht realisierbar erscheinen, und außerdem sind diese Tiefen auch von vielen gefährlichen Tiefseekreaturen bewohnt wie dem Benthoctopus und einem noch fast unbekannten Tier namens K'Wapti. Auch die fabulöse Seeschlange soll dort unten hausen, obwohl dies natürlich noch nicht erwiesen ist.

Glücklicherweise habe ich unter meinen Klienten eine Person, die bereit ist zu Spekulationen in dieser Beziehung, so daß eine vage Möglichkeit besteht, daß neue Techniken eine Ausbeute gestatten. Sie wissen vielleicht, daß im Moment solche neuen Techniken nicht bekannt sind. Außerdem müssen nach den Seegesetzen solche Claims innerhalb von acht Jahren bewiesen werden, oder sie fallen wieder in staatlichen Besitz zurück. Das heißt also, die Minenarbeiten müssen innerhalb dieser Zeit in Angriff genommen werden.

Diese Achtjahresperiode endet am 1. Februar des nächsten Jahres. Sie werden einsehen, daß nicht genügend Zeit verbleibt, neue, in Kürze vielleicht entwickelte Techniken einzusetzen.

Aus diesem Grund würde ich Ihnen allen Ernstes raten, jedes Angebot zu akzeptieren, das man Ihnen für diesen Besitz macht. Ich bin autorisiert, Ihnen vierhundert Dollar pro Anteil dieses Blockes von achtzig Anteilen der Marine Mines Ltd. zu bieten, also insgesamt zweiunddreißigtausend Dollar. Erhöht kann dieser Preis nicht werden.

Bitte, informieren Sie mich über Radio sofort, daß Sie diesen Vorschlag annehmen. Ich habe schon den Verkaufsvertrag entworfen und werde ihn unterzeichnen, sobald ich von Ihnen dazu ermächtigt werde. Mein Klient könnte sein Angebot jederzeit zurückziehen, so daß Eile geboten erscheint. Ich versichere Ihnen, auf dem offenen Markt würden die Anteile nicht annähernd soviel einbringen.

Der Rest des Besitzes Ihres Onkels umfaßt auch den Seewagen, in dem er unterwegs war, und der aller Wahrscheinlichkeit nach nie geborgen werden kann; ferner ein paar persönliche Besitztümer, die Ihnen mit Tiefsee-Post zugehen.

Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihre Interessen mit dem gleichen Eifer vertrete, wie ich die Ihres Onkels wahrgenommen habe.

Ihr Radiogramm mit der Autorisierung zum Verkauf der Anteile erwarte ich umgehend.

Mit tiefstem Mitgefühl für Ihren schweren Verlust verbleibe ich

Ihr ergebenster Diener Wallace Faulkner.

8. Der Mann im weißen Anzug

Der Tod von Onkel Stewart war ein sehr schmerzlicher Schock für mich, um so mehr, als er so brutal meinem Ausscheiden aus dem Dienst folgte. Aber meine persönlichen Sorgen vergaß ich fast, als ich Faulkners Brief las, der ebenso unter diesem Verlust zu leiden schien. Wenn ich nur diese Kreuzfahrt so, wie vorgesehen, hätte vollenden können! Dann hätte ich ihn in Marinia gesehen . ..

Aber es hatte keinen Sinn, Tränen über etwas zu vergießen, das sich doch nicht ändern ließ. Ich sprach in New York mit Bob Eskow darüber, wohin ich von der Akademie aus geflogen war. Er war mit mir einer Meinung, daß Faulkners Brief ebenso viele Fragen stellte wie beantwortete, und vielleicht sollte ich das Angebot dieses ungenannten Klienten nicht allzu schnell annehmen. Dieser Besitz bedeutete jedoch wenig für mich, wenn ich ihn verglich mit dem großen persönlichen Verlust, den ich durch den Tod meines einzigen lebenden Verwandten erlitten hatte.

Seit so vielen Jahren hatte ich mich darauf gefreut, zusammen mit ihm die Wunder von Marinia zu erforsehen! Der Tiefsee-Service hätte mich sicher in diese Gegend abgestellt, dann hätten wir einander oft sehen können, und sicher hätten wir auch vieles zusammen unternommen.

Mir erschien es unmöglich, daß er tot sein könnte.

Ich beschloß, sofort nach Marinia zu reisen, um zu sehen, ob irgendeine Möglichkeit bestünde, doch meines Onkels Leiche zu finden und danach die Ausbeutungsmöglichkeiten der Eden Tiefen zu prüfen. Unmöglich? Nein, das Wort kannte ich noch nicht.

Ich schickte also Faulkner ein Radiogramm, die Anteile der Marine Mines seien nicht verkäuflich, und ich würde so schnell wie möglich nach Thetis kommen, um sein Erbe anzutreten.

Seine Antwort kam umgehend:

NICHT NÖTIG NACH THETIS ZU KOMMEN, NEHME IHRE INTERESSEN WAHR. MEIN RAT, ANTEILE SOFORT VERKAUFEN. BIN AUTORISIERT, PARIPREIS ZU BIETEN, ALSO GESAMTSUMME ACHTZIGTAUSEND DOLLAR. ANNAHME DIESES VORSCHLAGES SOFORT PER RADIO ERBETEN. VERTRAUEN SIE MIR.

WALLACE FAULKNER.

Das war ja eine aufregende Nachricht! Ich zeigte sie Bob, und er stimmte mir zu. Seltsam, daß diese unbekannte Person, die zuerst auf keinen Fall mehr als zweiunddreißigtausend bieten wollte, nun plötzlich bereit war, den Betrag mehr als zu verdoppeln!

War die Firma soviel für ihn wert, so müßte sie erst recht wertvoll sein für mich. Und Faulkner traute ich nicht ganz. Sicher, wenn mein Onkel ihm vertraut hatte, mußte er eigentlich ehrlich sein, und doch . . .

Er gab mir zu wenig Erklärungen, forderte nur Vertrauen. Warum war es ihm so eilig gewesen, die Anteile für zweiund-dreißigtausend zu verkaufen? Er mußte es doch geahnt haben, daß sein Kunde auch wesentlich mehr bezahlen würde.

»Ich weiß nicht«, meinte Bob Eskow, »ob er ein Gauner oder ein schlechter Geschäftsmann ist. Ich würde jedenfalls sehr auf ihn aufpassen.«

Meine Antwort lautete so:

ANTEILE UNVERKÄUFLICH. ANKOMME AUF ISLE OF SPAIN.

Ich fand einen Jet-Transporter nach San Franzisko, wo ich den riesigen Untersee-Liner erreichte.

In San Franzisko kam ich im Nebel an. Ich hatte gerade noch Zeit, meinen Platz auf der Isle of Spain zu buchen, meinen Paß zu bekommen und eine Stadtrundfahrt zu machen. Das Schiff hatte direkten Kurs nach Marinia und war eines der schönsten Schiffe der Pazifik-Tiefsee-Flotte. Ich freute mich auf die Reise. Wie schnell man doch vergißt! Noch war keine Woche seit der Nachricht von Onkel Stewarts Tod vergangen und nur etwas mehr als zwei Wochen, seit ich meinen Abschied von der Akademie hatte nehmen müssen — aber ich freute mich auf ein Abenteuer! Und, zugebenermaßen, auch darauf, von Wallace Faulkner und den anderen in Thetis ernst genommen zu werden. Schließlich war ich Besitzer der Mehrheitsanteile an einer Firma. Richtig, vielleicht waren sie wertlos, wie Faulkner meinte, aber...

Ich weigerte mich, dies zu glauben.

Wer mochte der Besitzer der restlichen zwanzig Prozent sein? Onkel Stewart hatte mir davon nie etwas gesagt; und Faulkner hatte sich darüber ausgeschwiegen.

Bald würden alle diese Fragen beantwortet sein ...

Meinen Paß bekam ich ohne Schwierigkeiten. Marinia war eine unabhängige Nation unter dem Protektorat der Vereinten Nationen geworden, und so reisten viele Amerikaner dorthin auf Urlaub, in Geschäften, oder um es nur einmal zu sehen. Die Isle of Spain hatte sicher eine lange Liste von Urlaubern und würde wohl in Black Camp und Eden Dome anlegen, ehe wir Thetis erreichten. Mit dem Paß bekam ich auch mein Ausweisbuch, das vom Geburtsschein angefangen mein ganzes Leben enthielt. Ich wußte nicht, welche Papiere ich sonst noch vorzulegen hatte, um mich als Erbe von Stewart Eden auszuweisen, und ich konnte nicht wünschen, daß auch nur eines fehlte. Ich packte nur einen kleinen Koffer und gab den Rest meiner Sachen im Gepäckraum des Hotels in Verwahrung.

Aus New York kam ein neues Radiogramm für mich an:

NICHT NÖTIG, DASS SIE NACH MARINIA KOMMEN, WÄRE UNKLUG. UNMÖGLICH FÜR SIE, MINENKONZESSION ZU BEARBEITEN. ICH WARNE SIE, ES IST GEFÄHRLICH UND SELBSTMÖRDERISCH. MEIN KLIENT MACHT LETZTES ANGEBOT VON DOPPELTEM NENNWERT FÜR ANTEILE. MUSS ABER SOFORT ÜBER RADIO AKZEPTIERT WERDEN. NOCH BESSERE BEDINGUNGEN NICHT AUSZUHANDELN.

WALLACE FAULKNER.

Hundertsechzigtausend Dollar! Ich fühlte mich schon reich.

Wenn es noch etwas gab, mich sofort nach Thetis einzuschiffen und noch bestimmter jedes künftige Angebot abzulehnen, so war es dieses Radiogramm. Warum lag Faulkner soviel daran, mich von Thetis fernzuhalten? Warum ritt er immer auf einer Gefahr in den Eden Tiefen herum?

Ich wiederholte mein letztes Radiogramm.

Zu meiner Verwirrung entdeckte ich, daß man mir folgte.

Ich war auf meinem Weg in die Stadt und fuhr auf dem Ex-preßrollteppich zum Hafen. Es war ein kühler, düsterer Tag, und der Nebel hing tief über der Stadt. Es war erst Nachmittag, doch überall brannten schon die Lichter wie rote Ballone im gelben Nebel. Die Leuchtfeuer vom Jethafen durchdrangen das kalte Grau nicht sehr weit, und die scharlachroten Nebelleuchten der tieffliegenden Helikopter des Vorortsverkehrs waren nur sich bewegende rote Schimmer.

Ich hatte den Mantel ganz zugeknöpft, lehnte mich an das Geländer des Expreßwagens und dachte an das vor mir liegende Abenteuer. Es war ein Zufall, daß ich ungefähr fünfzig Meter hinter mir einen großen Mann bemerkte, der mir sonderbar erschien; irgendwie ungesund, aus der Form gegangen. Er war nachlässig und mit schlechtem Geschmack gekleidet und trug eine weiße Jacke zu weißen Hosen, beide viel zu eng und angeschmutzt, darüber einen langen blauen Mantel. Sein schwarzer Stock hatte eine Silberzwinge, und auf dem Kopf trug er einen breitrandigen hohen roten Filzsombrero.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn zu kennen. Ich mußte ihn schon einmal irgendwo gesehen haben, doch ich ahnte nicht, wann und wo.

Als ich den Expreßweg verließ, vergaß ich ihn, aber nicht lange.

Im Schiffsbüro holte ich meine Reservierung für eine Kabine auf der Isle of Spain ab. Als ich mich mit der Bestätigung in der Hand umdrehte, sah ich, daß der Dicke direkt hinter mir war.

Und das war sicher kein Zufall! Und beweisen konnte ich es auch bald.

Der Mann hinter mir schien nicht auf mich aufzupassen; er fragte den Mann am Tisch etwas und bekam eine kurze Antwort; er nickte und schaute nachdenklich durch eines der Fenster hinaus. Seine Augen waren unter dem breiten Hutrand nicht zu sehen. Die Finger in weißen Handschuhen trommelten auf das Fensterbrett. Ich war sicher, daß er jeden meiner Schritte beobachtete.

Ich kaufte mir ein Nachrichtenband am Zeitschriftenstand des Gebäudes und ging durch die Tür, hinab zum Wasser. Ich hatte noch ein paar Stunden Zeit, bis das Schiff ablegte, doch keine Minute zu verlieren. Der Himmel war eine Kuppel aus trübgelbem Licht, da der Nebel alle Stadtlichter zurückwarf. Um die Straßenlaternen und die Leuchtfeuer lagen Regenbogenhalos. Und das war gut so.

Ich bog um eine dunkle Ecke in eine fast verlassen daliegende Straße am Hafen, die früher einen ungeheuren Betrieb erlebt hatte, jetzt aber sehr ruhig war. Dort duckte ich mich in eine Türnische.

Der Mann in Weiß ging wunderbar in die Falle. Auch er kam leise um die Ecke, und ich hörte ihn erst, als er fast vor meiner Tür war. Ich trat heraus, die Hand in der Tasche, so daß es aussah, als habe ich in der Tasche eine Pistole.

»Halt!« sagte ich.

Er schaute mich unter dem breiten Hutrand einen Moment lang an. »Nicht schießen«, sagte er gleichmütig.

Er atmete langsam, also war er nicht aufgeregt. Angenommen, ich hatte mich geirrt, und er war ein harmloser Fußgänger? Angenommen, er schrie nach der Polizei? Natürlich wäre eine solche Reaktion gewesen. Klar, ich konnte die Sache erklären, aber mein Schiff würde ich versäumen, und ein versäumtes Schiff genügte mir vorerst.

Der Mann war aber kein harmloser Fußgänger; er schien auch

Ärger zu erwarten. »Nur ruhig, Junge«, sagte er. »Und vorsichtig mit der Kanone sein.«

»Vorsichtig?« wiederholte ich ärgerlich. »Warum verfolgen Sie mich? Schnell, reden Sie.«

Ein wenig spöttisch erwiderte er: »Wovon reden Sie denn überhaupt?«

»Sie wissen es ganz genau!« fuhr ich auf. »Verschwenden Sie meine Zeit nicht und kommen Sie her, sonst schieße ich.«

Natürlich hatte ich kein Interesse zu schießen, selbst wenn ich eine gehabt hätte. Ich ahnte nicht, ob er das wußte, aber er kam etwas näher und bewegte den Mund, als wolle er etwas sagen.

Zu spät sah ich das winzige, glitzernde Metallding zwischen seinen Zähnen. Er hatte es im nächsten Moment zerbissen, und ich fühlte die eiskalten winzigen Tropfen an meiner Wange. Sofort verkehrte sich die Kälte zu sengender Hitze, die über meine ganze Gesichtshälfte zuckte, und heiße Nadeln stachen in mein Gehirn.

Ich hätte es doch wissen müssen, sagte ich mir in schon halber Betäubung. Ich hätte mich selbst schützen müssen. Diese Anästhetik-Kapsel war ein alter Trick. Daran hätte ich wirklich denken sollen ...

Eine Wand aus blendendem Licht flackerte vor meinen Augen, doch danach war nichts als Dunkelheit. Ich fühlte noch, wie ich stürzte .. .

Es dauerte mindestens eine Stunde, bis ich wieder zu mir kam. Steifbeinig stand ich auf. Meine Muskeln schmerzten von der feuchten Kälte. Ich war noch unter der Tür und sah weit und breit keinen Menschen. Ich lehnte mich an die Mauer und untersuchte meine Tasche.

Natürlich war ich durchsucht worden. Meine Brieftasche lag am Boden, mein Paß hing halb heraus. Aber zu fehlen schien nichts, weder Paß noch Ausweis, noch Geld oder Uhr. Das war nicht ein einfacher Raubüberfall gewesen. Da ich ziemlich viel Geld bei mir hatte und nichts fehlte, mußte es also andere Gründe geben.

Ich versuchte, meine beschmutzte Kleidung zu säubern, und torkelte noch ziemlich benommen zur Ecke. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, hoffte aber, mein Schiff noch zu bekommen, das um Mitternacht ablegte.

Ich hatte Glück. Über mir kreuzte ein leeres Taxi, und auf mein Zeichen hin setzte es neben mir auf. Flüchtig dachte ich daran, die Polizei zu verständigen, aber auf der Taxiuhr sah ich, daß ich höchste Zeit hatte, wollte ich das Schiff noch erreichen.

Zum Glück hatte ich mein Gepäck schon an Bord, und ich hatte ja bei meinem unfreiwilligen Zusammentreffen mit dem Dicken nichts verloren. Also ließ ich mich gleich zur Anlegestelle des Schiffes bringen.

Ich dachte wenigstens, daß mir nichts fehlte ...

9. An Bord der Isle of Spain

Als ich an Bord des Schiffes war, vergaß ich allen Ärger.

Das riesige Tiefsee-Linienschiff maß mehr als dreihundert Meter in der Länge, hatte den Umfang eines siebenstöckigen Hauses und schaukelte ein wenig in der Dünung des Pazifiks. An Bord ging man über eine gedeckte Rampe, aber durch die Luken ließ sich die glänzende Edenit-Schicht leicht erkennen. Bug und Heck waren wie Torpedos geformt.

Das war eine meiner größten Sehnsüchte! Unter diesen nächtlich grauen Wassern lag der Grund des Pazifiks, der vom flachen Kontinentalschelf langsam absank, dann aber in die mächtigen Tiefen stürzte, in denen Marinia lag, dreitausend Meilen weit weg und fünfzehnhundert und mehr Faden tief.

Bald, in wenigen Minuten, würde ich durch diese Wasser rasen, unterwegs sein zu den großen Tiefsee-Städten! Fast vergaß ich die Akademie, meines Onkels Tod, den Mann mit dem roten Hut.

Fast. Nicht ganz. Ich schaute mich kurz nach anderen Passagieren um. Einige Urlauber, die diese lange Tiefsee-Reise als Vergnügungskreuzfahrt benutzten. Harte Tiefsee-Minenleute, deren Gesicht gebräunt war vom Troyon-Licht. Schiffsoffiziere und Mannschaften, die sich geschickt durch die Menge bewegten, auch eine Gruppe Fähnriche und Unter-Lieutenants — da wurde ich für einen Moment rasend eifersüchtig — in der scharlachroten Uniform des Tiefsee-Service.

Keiner von all denen sah gefährlich aus, ganz gewiß nicht so wie dieser Mann im roten Hut.

Ich unterschrieb die Passagierliste und wartete auf den Steward, der mich zu meiner Kabine führen sollte. Inzwischen besah ich mir die Passagiere. Und da kam mir die Erleuchtung.

Der Mann im roten Hut sah auffallend aus; wer wirklich an mir interessiert war, wollte vielleicht unverdächtig wirken, fast unsichtbar. Und jetzt schaute ich die Passagiere mit neuen Augen an.

Da fand ich ihn. Ich war überzeugt davon.

Er saß zwischen seinem Gepäck und starrte auf den Boden, ein kleiner, geschrumpfter Mann mit ausdruckslosem Gesicht und blassen, nichtssagenden Augen. Seine Kleidung war neutral grau, weder elegant noch schäbig. Er gehörte zu jenen Menschen, die einen Raum betreten können, ohne gesehen zu werden.

Natürlich konnte er auch ein ganz harmloser Passagier sein. Vielleicht war niemand im ganzen Schiff an mir interessiert. Aber wenn mich einer in einer verlassenen Straße von San Franzisko außer Gefecht setzt, dann läßt er mich nicht einfach laufen, sondern verfolgt mich weiter und behält mich im Auge.

Und das wollte ich auch tun: ein Auge auf ihn werfen. Gründlich.

Ein weißgekleideter Steward kam zu mir, ich übergab ihm mein Gepäck und ein Trinkgeld und ließ ihn ohne mich zu meiner Kabine gehen. Ich begleitete ihn nur bis zur Salontür. Und dort wartete ich, um zu sehen, was dieser graue Mann tat.

Wenige Minuten später winkte er einen Steward heran, übergab ihm seine Koffer und ging in der gleichen Richtung davon, die mein Steward genommen hatte. Ich ließ ihn vorangehen, dann folgte ich.

Der Steward führte den Mageren an den Aufzügen vorüber, an den Rolltreppen, die zu den Luxussuiten oben führten. Gut. Seine Kabine würde also auf dem gleichen Deck liegen wie die meine. Der Steward sperrte eine Tür auf, beide traten ein.

Kaum war die Tür zu, lief ich daran vorbei. Der Dünne hatte die Kabinennummer 335, die meine war 334.

Ich fand einen Steward, um ganz sicher zu sein, und er führte mich in die Kabine neben dem kleinen Grauen. Er war also mein Nachbar. Das war sicher kein Zufall mehr, jetzt war ich dessen sicher.

Der Steward betrat hinter mir die Kabine. Er zeigte mir, wie das Troyon-Licht einzustellen, wie die künstliche Luft in Bewegung zu setzen, wie die Temperatur zu regeln war und was es sonst noch gab. Dann machte er sich an den Handtüchern zu schaffen, weil er auf ein Trinkgeld wartete.

Einen Zufall konnte ich fast sicher ausschließen. Der Mann im roten Hut hatte genug Möglichkeiten gehabt, meine Kabinennummer herauszufinden, entweder als er hinter mir anstand, während ich meine Reservierung bestätigte, oder als er später meine Taschen durchschaute, als ich bewußtlos war. Und dem kleinen Grauen war es sicher leicht möglich gewesen, die Kabine neben mir zu bekommen.

Warum?

Ich grub in meiner Tasche nach einem schönen Trinkgeld, der Steward salutierte und wollte gehen.

»Sagen Sie«, hielt ich ihn auf. »Wer ist denn das in der Kabine nebenan? Ich dachte, ich kenne ihn.«

Er schaute mich an. »Wenn Sie ihn kennen, Sir, warum ...«

Ich legte noch einen Schein in seine Hand, und da schaute er sehr erfreut drein. »Können Sie seinen Namen für mich herausfinden?« bat ich.

Der Steward spitzte die Lippen. »Ganz gewiß, Sir. In der Passagierliste steht er ja.«

»Bitte, tun Sie das.« Er nickte und ging. Fünf Minuten später war er wieder da.

»Er heißt E. A. Smith, Sir. Keine Adresse ... Der Zahlmeister sagt, es sei eine Reservierung in allerletzter Minute gewesen.«

»Danke.« Ich versuchte ziemlich unbeteiligt zu tun. »Vielleicht habe ich mich doch geirrt. Es gibt ja unzählige Smiths auf der Welt.«

»Und noch mehr, die gar nicht Smith heißen«, sagte er lä-chelnd.

Als ich am nächsten Morgen aus meiner Kabine kam, war das Schiff unterwegs. Ich spürte das leichte Rollen, nicht ruckhaft wie bei Oberflächenschiffen, sondern sehr sanft und fast einschläfernd, als es durch die tiefen Strömungen glitt. Das und das fast unmerkliche Vibrieren der Schrauben waren das einzige Signal, daß wir mit sechzig Knoten oder mehr durch die See rasten.

Nach dem Frühstück freundete ich mich mit einem jungen Offizier an, der mir anbot, mir das Schiff zu zeigen. Ich war überaus erfreut.

Erst gingen wir zur schmalen Promenade um das Kabinendeck, direkt außen am Rumpf. Er öffnete eine Metallblende, und wir schauten hinaus. Gesehen hatte ich das schon oft: Dunkelheit, durch die ab und zu ein schwachleuchtender Umriß huscht.

»Wir sind jetzt ungefähr hundert Faden tief«, erklärte mir der Offizier. »Das Wasser ist eiskalt. Der Druck liegt bei einer Vierteltonne auf den Quadratzoll.«

Ich nickte. »Das weiß ich«, antwortete ich und schloß die Blende.

Wir gingen weiter nach unten, und er zeigte mir die Ballasttanks mit den mächtigen Pumpen, das Batteriedeck mit den Reihen der Vauclain-Zellen; falls einmal der Reaktor ausfallen sollte, waren sie der Ersatz. Dann umrundeten wir den Reaktor selbst, in dem es ganz leise wisperte und sang. Der Maschinenraum war so sauber und ordentlich wie eine Küche, doch er roch etwas nach Schmieröl. Zu hören war nur die dumpfe Vibration der Schrauben und das Säuseln des aus den Turbinen kommenden Dampfes am Ende der Hitze-Aus-tauschkette.

Wir sahen auch die Frachträume, das Vordeck, den Steuerraum, das Oberdeck mit Schwimmbecken und Palmengarten, dann die SuperStruktur oben auf dem Rumpf mit dem Steuerhaus, dem Kartenhaus, dem Funkraum und den Offiziersquartieren. Das war natürlich ganz anders, als die enge, schon etwas schäbige Pocatello gewesen war.

Der Tag verging. Wir aßen, dann trieb auch der Nachmittag vorbei. Wir aßen wieder, und dann war der Abend da. Wir pflügten weiter durch die Schwärze der Tiefsee. Dann war ich müde, und ich zog mich in meine Kabine zurück.

Etwas kam mir merkwürdig vor.

Ich stand auf der Schwelle und hatte den Schlüssel noch im Schloß; ich wartete und lauschte.

Ich schaltete die Troyonröhren ein und schaute mich um.

War mein Gepäck durchsucht worden, so hatte dies ein außerordentlich geschickter Fachmann getan, denn ich entdeckte daran nichts. Das Gefühl blieb aber. Also machte ich mich daran, die Kabine gründlich zu untersuchen.

Im Bad, hinter dem Handtuchhalter, fand ich das, was ich suchte.

Am Boden war etwas Mörtelstaub, und hinter dem Handtuchhalter selbst entdeckte ich ein kleines rundes Loch, das man nur sehen konnte, wenn man die Handtücher wegschob. Es hatte vielleicht die Größe eines Kirschkerns. Es war durch die Wand gebohrt worden.

Weshalb?

Schon wieder ein Rätsel, und die Antwort konnte ich nicht einmal vermuten. Man konnte doch von der anderen Seite her nicht durch die Handtücher schauen. War es eine Lauschgelegenheit? Kaum. Es gab elektronische Geräte, die viel zuverlässiger waren.

Da ich mir nicht vorstellen konnte, wozu das Loch diente, mußte ich auf jeden Fall Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich rief also einen Steward und sagte ihm, ich hätte mich entschlossen, diesen Raum zu tauschen.

Der Steward sah mißbilligend drein, als ich ihm meinen Wunsch vorgetragen hatte. »Das ist sehr ungewöhnlich, Sir. Entspricht Ihnen die Kabine nicht?«

Es war nicht der Steward vom Vortag, und so sagte ich so hochmütig wie möglich: »Steward, ich wünsche einen anderen Raum. Das ist alles. Bitte, besorgen Sie mir einen. Ich weiß natürlich, daß ich für zwei Kabinen zu bezahlen habe und bin dazu bereit.«

Ich hatte mir da eine ziemlich dumme Rolle ausgesucht, aber ich wollte ihm noch nicht von dem Loch hinter dem Handtuchhalter erzählen. Er brummte vor sich hin, doch ich fand in meiner Tasche einen angemessenen Schein, und danach war er sehr viel aufgeschlossener. Er zuckte die Achseln. »Hierher, Sir«, sagte er mit der Resignation eines Mannes, der in seiner beruflichen Laufbahn mit den sonderbarsten Leuten zu tun hat.

Nachts schlief ich wie ein Baby.

Aber keinesfalls so tief, wie ich geschlafen hätte, wäre ich nicht umgezogen.

10. Der lange Schlaf

Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis ich wußte, wo ich war. Mein Rasierzeug und alles übrige war noch in der Kabine 334, und ich hätte es holen sollen, aber das Wispern, das von den Schrauben kam, sagte mir, daß etwas geschah. Es war anders als am Tag vorher.

Schnell zog ich mich an und ging in den Korridor hinaus. Ein Mann von der Besatzung sagte mir, wir seien dabei, in Black Camp anzudocken, und das war die erste Kuppelstadt von Ma-rinia. Ich hatte also nur Zeit für ein kurzes Frühstück und einen Gang zum Schiffsfriseur, um mich rasieren zu lassen. Den Besuch in meiner ersten Kabine schob ich auf.

Beim Friseur war ich schnell fertig, ich fühlte mich wesentlich wohler, als ich sauber rasiert in den Speisesaal kam.

Auf dem Weg begegnete mir der kleine Graue. Zum erstenmal schien er mich nun zu sehen. Mit seinen blassen Augen starrte er mich ungläubig an, dann holte er tief Luft und machte den Mund auf, als wolle er etwas sagen. Aus seinem Gesicht wich jede Spur Farbe. Er zitterte sichtlich, drehte sich um und lief davon.

Noch ein Rätsel...

Warum war er so verblüfft, als er mich sah? Ich hatte keine Ahnung. Deshalb schob ich die Frage von mir und ging zum Frühstücken.

Eben war ich fertig mit dem Essen, als wir in Black Camp andockten. Die Strecke von zweitausend Meilen und ein wenig darüber hatten wir in dreiunddreißig Stunden zurückgelegt. Ich eilte zur Promenade und spähte durch ein tief eingelassenes Bullauge hinaus.

Mein erster Blick auf eine Stadt der Tiefsee! Es war auf spukhafte Art seltsam und wunderbar, und fast vergaß ich darüber das Geheimnis, das mein Leben umwob.

Die riesige Ebene radiolaren Schlicks schimmerte in einem kalten, blaß phosphoreszierenden Licht. Irgendein optischer Trick schuf hier den Eindruck einer unglaublichen Weite, aber durch die seltsamen Brechungsverhältnisse des Wassers beschränkte sich hier die Sichtweite auf nur wenige hundert Meter.

Der kalte Ozean über uns war undurchdringlich schwarz. Merkwürdige Welt der schimmernden Ebenen und glimmenden Berge unter einem tiefschwarzen »Himmel«.

Aber das alles war mir ja vertraut. Neu war nur Black Camp selbst, die riesige, halbkugelige Kuppel aus Edenit, die sich geisterhaft aus einer in sich schwach leuchtenden Ebene erhob. Die massive Blase aus einer Metallpanzerung schützte die Stadt vor dem ungeheuren Druck der See.

Die Dockvorrichtungen waren hier wie in den übrigen Tiefsee-Städten. Aus der Stadt heraus liefen Röhren unter dem Fels des Seebodens, darüber waren die Docks. Die Docks selbst waren magnetische Metallplattformen, auf die sich die Tiefseeschiffe niederließen; im Bauch öffnete sich eine Schleuse, die eine Verbindung mit den Röhren unten herstellte.

Von meinem Platz an der Promenade konnte ich nur die Stadtkuppel und die immer gleichbleibende Tiefsee erkennen. Ich wanderte hinab zu den Salons, um die Passagiere von Bord gehen zu sehen. Wir nahmen auch etwa wieder so viele Passagiere auf, wie das Schiff verließen.

Unter jenen, die von Bord gingen, war der kleine Graue. Er wußte, daß ich da war. Einmal bemerkte ich seine Augen, die an mir hingen. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich seine Verblüffung, die fast Angst war. Dann schaute er weg und sah mich nicht wieder an.

Innerhalb weniger Minuten waren die Schleusen wieder geschlossen, und wir waren wieder unterwegs.

Ich eilte in meine alte Kabine. Da der kleine Graue nicht mehr da war, sah ich keinen Grund, nicht dorthin zu gehen. Wenn ich jetzt meine Karten richtig ausspielte, konnte ich vielleicht etwas über den Mann erfahren, der in der Kabine nebenan gewesen war.

Aber diese Chance bekam ich nie.

Sorglos sperrte ich meine Kabine auf und trat hinein.

Bläulicher Dampf wirbelte mir entgegen. Ich taumelte zurück, geblendet, keuchend, mit heftig tränenden Augen. Ich atmete nicht viel von diesem Gas ein, aber ich krümmte mich in einem fürchterlichen Erstickungsanfall.

Sofort war ein Steward neben mir. ,,Sir!« rief er. »Was ist los?« Dann erwischte er selbst einen Hauch von diesem Gas.

Wir taumelten beide weg. Er schlug auf irgendein Signalgerät in der Wand, und in der Ferne schrillte eine Alarmglocke. Ein Moment verging, dann erschienen etwa sechs Mann der Besatzung in Feuerwehruniform mit Masken und Helmen. Ohne Fragen zu stellen, rasten sie zur Kabine 334.

Zwei kamen einen Moment später heraus und schleppten mit sich einen steifen, wächsern aussehenden Körper, den Steward, der meine Kabine umgetauscht hatte.

Der Kapitän der Isle of Spain war ein taktvoller — und erbarmungsloser Mann.

Hätte ich etwas zu verbergen gehabt, so wäre ich bei ihm damit nicht durchgekommen. Ich war froh, daß ich ehrlich mit diesem bronzegesichtigen Mann reden konnte.

Ich erzählte ihm alles, angefangen von meinem erzwungenen Abgang von der Akademie, bis zum Tod meines Onkels, dem Mann im roten Hut und dem kleinen Grauen.

Ich hatte einen Blick auf den unglücklichen Steward geworfen, er war auf groteske Art steif und verbogen, und das Gas hatte sogar seine Haare gebleicht. Der Schiffsarzt nannte das Gas Lethine, und ich hatte schon davon gehört; es war absolut tödlich.

Wer auch immer hinter dem kleinen Grauen stand, er ging aufs Ganze.

Die Schiffsoffiziere handelten sofort. Als sie die ersten Worte meiner Geschichte gehört hatten, unterrichteten sie Black Camp über Radio, der kleine Graue müsse sofort festgenommen werden. Aber ich hatte meine Zweifel und meinte, der Mann ließe sich nicht leicht finden.

Unglücklicher Steward! Der Kapitän vermutete, daß er in die Kabine 334 zurückgekehrt war, weil er wissen wollte, wovor ich geflüchtet war und wofür ich sogar den doppelten Fahrpreis bezahlte. Seine Neugier war sein Verhängnis gewesen.

Endlich war die ganze Vernehmung vorbei. Der Kapitän nahm mir das Versprechen ab, daß ich bleiben sollte, wo ich war, wenn wir in Thetis ankamen, so daß die Polizei von Mari-nia mich ausfragen konnte, wenn sie das wollte, und danach konnte ich mich frei bewegen.

Ich kehrte nicht in die Kabine 334 zurück. Meine Sachen wurden in den neuen Raum gebracht, und ich hoffte inständig, daß damit die Möglichkeiten meiner unbekannten Feinde erschöpft seien.

In Seven Dome sollten wir spät nachts ankommen, aber ich war sehr müde und beschloß zu schlafen. Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir. Deshalb ging ich frühzeitig in meine Kabine. Aber zum Schlafen kam ich noch nicht.

Es klopfte an meiner Tür, ich machte sie auf. Ein Steward entschuldigte sich und reichte mir einen scharlachroten Umschlag auf einem Silbertablett. »Für Sie, Mr. Eden«, sagte er. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Ich riß den Umschlag auf und las:

Sehr geehrter Mister Eden,

es tut mir leid, von Ihren Schwierigkeiten zu hören. Sie wissen vielleicht, daß Ihr Vater, Ihr Onkel und ich einmal sehr eng verbunden waren. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.

Bitte, kommen Sie zu meiner Suite auf Deck A, wenn Sie diesen Brief erhalten haben.

Ich starrte den Brief ungläubig an, denn die Unterschrift lautete: Hallam Sperry.

11. Mein Partner, mein Feind

Hallam Sperry öffnete mir persönlich.

Das war schon etwas anderes als die kleine Kabine, die ich auf dem Deck darunter bewohnte. Es war eine richtige Suite, und ich denke, so sollte es auch sein, schließlich war die Isle of Spain einer von einem Dutzend Tiefsee-Riesen der Sperry -Linie. An den Wänden befanden sich große Fotomurale, in Drucktanks flitzten winzige Fische herum und »blühten« die merkwürdigen Blumentiere der Tiefsee; getönte Troyon-Röhren wärmten die Räume und erzeugten die Illusion von Sonnenschein.

Hallam Sperry nahm meine Hand in einen stählernen Griff. Er war ein Riese von einem Mann, so groß wie mein Onkel gewesen war, aber dunkel, während mein Onkel Stewart blond war, schwarzbärtig im Gegensatz zum rötlichen Bart Onkel Stewarts. Seine Augen waren durchdringend und forschend, tiefblau und kalt wie die Seetiefen. Aber auf seinen Lippen lag ein Lächeln, und seine Worte waren mehr als nur höflich.

»Jim Eden«, sagte er, »ich weiß eine ganze Menge über Sie, junger Mann. Ich kannte Ihren Vater und seinen Bruder sehr gut. Schlimm, das mit Stewart, aber er war ja immer tollkühn. Von meinem Jungen hörte ich über Ihr Pech auf der Akademie.«

Er bot mir einen Stuhl an. Was konnte ich zu diesem Mann sagen? Daß mein »Pech« auf der Akademie die Tat seines Sohnes war? Daß der Kampf zwischen ihm und den Edens ein öffentlicher Skandal war?

Ich sagte nichts davon. Auf der Akademie hatten wir gelernt, erst zu sprechen, wenn man wußte, was man zu sagen hatte. Möglich war ja, daß Hallam Sperry nicht ganz so schwarz war, wie man ihn zeichnete, also war es nicht fair, ihn auf der Basis von Gerüchten und alten Erinnerungen anzugreifen.

Er bot mir ein Kristallglas an mit einer blaßgrünen, starken Flüssigkeit darin. Ich nippte nur daran, dann setzte ich das Glas ab; irgendein merkwürdiges Getränk aus den Tiefen.

,,Mein alter Freund, Stewart Eden«, sagte er. ,,Oh, wir hatten natürlich unsere Meinungsverschiedenheiten, aber bewundert habe ich Ihren Onkel immer. Großer Mann. Jammerschade, daß er so abtreten mußte.«

Es war egal, was ich zur Antwort gab, er rumpelte weiter mit seinem tiefen Baß. ,,Hab' viele Jahre mit ihm gearbeitet. Mit Ihrem Vater auch. Sie werden sicher schon manche Geschichte über unsere Kämpfe gehört haben. Egal, Junge. Er ist jetzt tot. Und unsere Meinungsverschiedenheiten sind es auch. Frage: Was jetzt?«

»Verzeihung?« bat ich.

»Was jetzt für Sie«, knurrte er fast ungeduldig. »Was Sie tun wollen. Sie reisen nach Thetis. Warum?«

»Ich bin der Erbe meines Onkels, Mr. Sperry«, erwiderte ich steif. »Er hat mir alle seine Beteiligungen hinterlassen.«

»Beteiligungen!« schniefte Sperry. »Quatsch. Eine bankrotte Firma. Ein gesunkenes Schiff. Ich weiß, was diese Beteiligungen waren . . . Sie können es ja gleich wissen. Ihr Onkel hat mir Geld geschuldet. Ziemlich viel. Mehr als der Wert seines Besitzes sein kann, Junge.«

Ich rutschte unbehaglich herum. »Davon weiß ich nichts. Mr. Faulkner, Onkel Stewarts Anwalt, hat davon auch gar nichts erwähnt.«

»Natürlich nicht. Faulkner wußte es ja auch nicht.

Gentlemen's Agreement zwischen Ihrem Onkel und mir. Ich lieh ihm Geld. Ohne etwas Schriftliches. Frage: Wollen Sie das honorieren?«

Ich wollte etwas sagen, doch er redete schon weiter. »Kann im Moment zurückgestellt werden. Geschäfte haben später auch noch Zeit. Erst erzählen Sie mir was über sich selbst.« Ehe ich noch reden konnte, lachte er mich breit an. »Und trinken Sie Ihr Glas leer, Junge. Das ist ein Befehl.«

Allmählich wurde mir der Mann sympathischer. Er hatte Charme und eine harte Strenge, und die Mischung gefiel mir. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Vielleicht waren seine bitteren Kämpfe mit meinem Vater und Onkel Stewart rein geschäftliche Auseinandersetzungen zwischen starken Männern, die miteinander rivalisierten.

Ich erzählte ihm von der Akademie und meinen Beziehungen zu seinem Sohn, Brand Sperry, von dem Ärger in Italien und meinem erzwungenen Ausscheiden. Er hörte sehr aufmerksam zu. Sogar von den Radiogrammen Faulkners erzählte ich ihm und von meinen Antworten, auch von dem Mann mit dem roten Hut und dem kleinen Grauen, der mit Lethine den Steward ermordet hatte, obwohl ich gemeint war.

Wie unvorsichtig ich doch war ...

Hallam Sperry gehörte das Schiff und alles darinnen; sicher würde er sowieso alles wissen, was darin vorging. Und ich entdeckte, daß er noch sehr viel mehr wußte.

Als ich meine Geschichte beendet hatte, nippte er an seinem See-Brandy. »Junge, das war viel Pech. Frage: Was tun Sie jetzt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht genau, Sir. Erst gehe ich jetzt nach Thetis. Dann schaue ich mich um und sehe, was sich tun läßt. Über Marinia weiß ich tatsächlich noch nicht viel.«

Er lachte rumpelnd. »Hätte nie geglaubt, daß ein Eden dies zugibt! Junge, Eden Dome ist nach Ihrer Familie benannt!«

»Das weiß ich, Sir«, erwiderte ich steif. »Aber ich war ja doch noch nicht hier. Ich weiß nicht einmal, was mein Onkel in den letzten Jahren getan hat.«

Er sah mich erstaunt an. »Oh, das kann ich Ihnen schon sagen. Ich weiß alles, was in Marinia vorgeht. Besonders über Ihren Onkel Stewart wußte ich Bescheid, Junge . . . Erstens, dieser Platinplan in den Mountains of Darkness. Hat ein Jahr daran gearbeitet, aber die Ader lief aus. Dann Petroleum. Sah erst recht gut aus, aber Ihr Onkel hat das Vorkommen verkauft, weil er für etwas Geld brauchte. Und wofür? Für die Marine Mines Ltd. Jeden Nickel, auf den er die Hand legen konnte, hat er da hineingesteckt. Stewart war von jeher ein Wagehals, wissen Sie.«

»Das sagten Sie mir schon«, antwortete ich.

»Aber jetzt zurück zur Hauptfrage. In den letzten paar Jahren hab' ich Ihren Onkel besonders genau beobachtet. Schuldet mir Geld, mehr als eine halbe Million Dollar. Was wollen Sie da unternehmen?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, gab ich kleinlaut zu. »Von Ihnen höre ich zum erstenmal davon. Ich muß erst mit Mr. Faulkner darüber sprechen.«

Zum erstenmal war sein Gesicht nun irgendwie ruhig, eigentlich seltsam; aber jetzt grinsten mich seine Augen an, und das fand ich alarmierend. »Lassen Sie sich Zeit, Junge«, riet er mir, läutete nach einem Steward und bestellte Kaffee.

»Zeit zum Schafengehen«, bemerkte er. »In ein paar Minuten lasse ich Sie schon gehen. Wollen Sie sonst noch etwas wissen, Junge?«

»Nein, ich glaube nicht, Sir«, erwiderte ich. »Aber vielleicht fällt mir noch etwas ein, das ich wissen müßte.«

Er zuckte die breiten Schultern. »Habe ich Ihnen schon etwas über Marine Mines erzählt?« wollte er wissen.

»Nun, ich weiß eine Kleinigkeit darüber. Von Mr. Faulkner.«

»Wahrscheinlich sehr wenig. Ist auch nicht viel zu erzählen. Typisches Dickkopfmodell Ihres Onkels. Die Eden-Deeps ausbeuten! Er konnte doch dem Boden nicht auf tausend Faden nahekommen, nicht einmal mit seinem eigenen Edenit. Das habe ich ihm zu sagen versucht, aber genützt hat's nichts. Er wollte keine Vernunft annehmen.«

»Das haben die Mathematiker gesagt«, erklärte ich so beißend wie nur möglich. »Als Onkel Stewart nämlich zum erstenmal seinen Edenitprozeß erklärte, behaupteten die Wissenschaftler sofort, das sei unmöglich. Mit Tatsachen und Zahlen wiesen sie nach, wie lächerlich es sei. Aber als Onkel Stewart die erste Edenbeschichtung praktisch einsetzte, redeten die Mathematiker schnell von ganz anderen Dingen.«

Sperry grinste. »Gut gesagt, Junge«, gab er zu. »Ich glaube, so etwa dachte ich auch. Er ließ sich jedenfalls nicht davon abbringen, öffnete in Seven Dome ein Büro, direkt neben den Tiefen. Er hatte einen Mann namens Westervelt oder so bei sich. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Als Ihr Onkel starb, verschwand er. Ich hörte zuletzt, er verstecke sich in Kelly's Kingdom, weil er Schwierigkeiten mit dem Gesetz hatte. Mehr weiß ich nicht. Und die Marine Mines haben nie etwas erreicht. Ist nur eine Papierfirma. Mit Papiervermögen.«

Ich versuchte mein Temperament im Zaum zu halten. »Dieses Vermögen war aber für jemanden hundertsech-zigtausend Dollar wert, Papier oder nicht Papier.«

»Für wen?«

»Das weiß ich nicht«, mußte ich zugeben. »Ein Klient Faulkners.«

»Natürlich können Sie's nicht wissen, aber ich sag's Ihnen, wenn Sie's wissen wollen. Ich war's, der die hundertsechzigtausend angeboten hat, aber Sie wollten nicht. Vielleicht haben Sie mir damit sogar einen Gefallen getan. Ist's sowieso nicht wert.«

Ich starrte ihn an. »Warum . . . wie ...«

Er stand auf und lachte schallend. »Junge, Junge, Sie sind für Marinia noch etwas zu feucht hinter den Ohren. Keine Beleidigung beabsichtigt. Ich sag' Ihnen auch den Grund: Sie haben nämlich in den Mines einen Partner.«

»Nun, natürlich. Aber . . .«

»Nichts aber. Der Partner bin ich. Mir gehören zwanzig Prozent des Firmenkapitals. Den Rest sollte ich aus Profiten bekommen. Welche Profite? Wurden ja nie Profite gemacht. Aber ich konnte mir das Spiel leisten, also ging ich drauf ein. Ich habe verloren. Wenn ich aber Alleinbesitzer der Mines bin, vielleicht kann ich dann etwas damit anfangen. Ich habe in Marinia ein bißchen Einfluß, wissen Sie. Ich könnte mir den Claim vielleicht um ein paar Jahre verlängern lassen. Vielleicht kommt doch noch was dabei 'raus. Ein Spiel bleibt es trotzdem und nicht einmal sehr aussichtsreich für mich, weil ich ja nur eine Minorität habe. Verstehen Sie?«

Nein, ich verstand nichts. Aber ich war zu jung und zu stur, als daß ich das hätte zugeben können. »Ich werde lieber erst mit Mr. Faulkner sprechen, Sir. Ich bezweifle nichts von dem, was Sie sagen, Sir, aber .. .«

»Aber, aber . . .«, spöttelte er. Noch immer lachte er so kalt wie vorher. Aber nun veränderte sich abrupt seine Stimmung. Er setzte die Kaffeetasse so hart auf den Tisch, daß sie klirrte. »Nun ist's aber genug«, knurrte er. »Zeit fürs Bett. Gehen Sie in Ihre Kabine, Junge. Und schlafen Sie.«

Er läutete nach dem Steward, rieb sich die Augen und öffnete mir die Tür. »Schlafen Sie drüber, Junge«, sagte er. »Wollen Sie die Schulden Ihres Onkels bezahlen oder soviel Sie können? Nehmen Sie mein Angebot für die Anteile an, dann vergesse ich den Rest. Oder nicht? Zwingen kann ich Sie selbstverständlich nicht. Es ist ja ein Getlemen's Agreement. Aber entscheiden Sie sich.«

Ohne jede Eile stapfte er zur Tür, die in den Nebenraum führte. Der Steward verbeugte sich höflich und schloß mir die äußere Tür vor der Nase zu.

12. In Thetis Dome

Endlich dockten wir in Thetis an.

Die Isle of Spain tropfte förmlich aus der Dunkelheit in eine leuchtende, sehr flache Ebene aus blauem Schlamm. Wir ankerten auf der üblichen metallenen Plattform.

Westlich von uns lag Thetis. Die schimmernde Kuppel wölbte sich hoch in das dunkle Wasser. Östlich und nördlich lagen zerklüftete schwarze Hügel, im Süden eine Tiefe, und an ihrem Rand war ein phosphoreszierendes Tal mit seltsamen fließenden Dingern, die wie Ranken und dicken, großen Gebilden, die wie Bäume aussahen. Sie sahen wie Ranken und Bäume aus, doch ich sollte bald herausfinden, daß sie's nicht waren. Hier in dieser Tiefe gab es keine Vegetation, und die entzückenden Blüten und seilartigen Lianen waren Tiere, keine Pflanzen.

Ich ging von Bord, holte mein Gepäck ab und begab mich sofort zu Faulkners Büro.

W-17, S-469, Ebene 9 — die Adresse kannte ich auswendig. Sie hatte auf dem langen blauen Umschlag gestanden, in dem der Scheck meines Onkels angekommen war.

Vom Lift stieg ich direkt in einen großen Warteraum unter den Docks, der aus dem lebenden Felsen unter dem Meeresboden gehauen war. Er war hell mit dem kalten, violetten Troyon-Licht erleuchtet, vollgepackt mit den von Bord gegangenen Passagieren, mit Zollbeamten und vielen anderen Leuten. Mir erschien es fast unbegreiflich, daß sich vier Meilen hoch die See über uns auftürmte.

Ich fand eine Rollbahn, die in die richtige Richtung führte, und damit wurde ich sehr schnell durch einen langen Tunnel getragen. Ich fand dann die Liftreihe, die ich gesucht hatte, und bald war ich auf Ebene 9. Als ich den Lift verließ, trat ich in eine breite Straße hinaus.

Auch hier war es strahlend hell vom violetten Troyon-Licht, und viele Menschen waren unterwegs. Das war nun mein erster Blick auf eine Stadt von Marinia, und wenn ich offen bin: sehr begeistert war ich nicht. Die Leute schienen sehr grob und waren nachlässig gekleidet. Ich sah zahlreiche scharlachrot ge-kleidete Seepolizisten, die sich rasch und zielbewußt durch die Menge bewegten. Die Gebäude, die sich zu einer Höhe von einigen Dutzend Fuß erhoben, um die nächste Ebene zu stützen, waren schäbiger, als ich mir vorgestellt hatte.

Natürlich war es nicht die Schuld Marinias selbst, und ich war mir auch klar darüber, daß dies nicht typisch sein konnte, um so mehr als ich dann die breiten, schönen. Wohnebenen zu sehen bekam, die Viertel mit den riesigen, eleganten Verwaltungsgebäuden. Ebene 9 war so etwas wie ein Niemandsland zwischen Fabrik-und Lieferviertel weiter unten und den Verwaltungsund Wohnebenen darüber.

Und Faulkners Büro lag in einer besonders unschönen Nachbarschaft.

Es war in einem Gebäude mit einer langen nach oben führenden Treppenflucht. Am Kopf dieser Treppe kam ich in einen dunklen, niederen Raum, der nach Staub und abgestandener Luft roch. Unter der einzigen Troyon-Röhre standen zwei schmutzige Stühle und ein uralter, zerschundener Tisch. Das war alles.

In einem Stuhl hinter dem Tisch lehnte ein riesiger Mann. Die Füße hatte er auf den Tisch gelegt, und die knochigen Hände waren hinter seinem struppigen Kopf verschränkt. Der Mund war offen und zeigte gelbe Zähne. Das dunkle Gesicht wies viele Narben und Falten auf. Er schnarchte laut.

Ich hüstelte. »Guten Tag«, sagte ich.

Der Mann ließ die Füße auf den Boden fallen und blinzelte mich an. »Eh?« fragte er, dann klärten sich seine Augen.

»Was wollen Sie?« fragte er verdrossen.

»Ich möchte zu Mr. Wallace Faulkner«, erklärte ich ihm.

Der große Mann schüttelte den Kopf. »Nicht da.«

»Wann wird er erwartet?«

»Weiß nicht. Kommt heute nicht mehr.«

»Es ist aber sehr wichtig, daß ich ihn sehe. Wo kann ich ihn jetzt finden?«

»Kommen Sie morgen wieder«, knurrte der Mann. »Wer sind Sie?«

»James Eden«, antwortete ich.

Ich dachte, die Augen des großen Mannes seien erstaunt größer geworden, doch er sagte nur: »Ich bestell's ihm.«

Das gefiel mir alles nicht — der Schmutz, das elende Büro, mein Eindruck von Faulkner, gewonnen aus seinen Briefen und Radiogrammen. »Sir«, versuchte ich es noch einmal, »ich muß Mr. Faulkner ganz dringend sprechen. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, ihn heute irgendwo zu erreichen?«

»Ich hab's Ihnen doch schon gesagt, es geht nicht«, knurrte der andere. »Kommen Sie morgen. Gleich in der Frühe. Verstanden?«

Also konnte ich nur gehen, und um dies zu unterstreichen, schwang er wieder seine Füße auf den Tisch, lehnte sich zurück und machte sich daran, den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen.

Ich verließ das Büro und ging die Treppe hinab. Auf halber Höhe blieb ich stehen, denn ich glaubte meinen Namen gehört zu haben.

Einen Augenblick blieb ich stehen und lauschte, aber ich wurde nicht gerufen, sondern ich gewann den Eindruck, daß der Große sehr nachdrücklich meinen Namen einem anderen gegenüber erwähnte.

Also kehrte ich wieder um. An der Tür hörte ich dann: » . . . Eden. Bis morgen früh dann.« Der Telefonhörer wurde auf die Gabel geknallt. Ich wartete, hörte aber nichts mehr, bis der Mann wieder zu schnarchen anfing. Jetzt schlief er, aber er hatte meinetwegen jemanden angerufen. Und das gefiel mir alles absolut gar nicht...

Wenn ich Faulkner erst am nächsten Morgen sehen konnte, hatte ich fast einen ganzen Tag Zeit, die ich verbringen konnte, wie ich wollte. Ich konnte mich in Thetis umschauen und alle Wunder der Hauptstadt von Marinia kennenlernen.

Allmählich wich die Bedrückung von mir. Einen Polizisten bat ich, mir ein Hotel zu empfehlen. Er zählte einige auf und beschrieb mir, wie ich hinkommen könnte und wo es ein Telefon gab, um mich anzumelden.

Das Telefon war in einer Kneipe. Die Gäste schienen die gleichen groben Leute zu sein, die sich in den Straßen drängten, aber ich brauchte nicht mit ihnen zu trinken. Ich fand die Telefonkabine und rief das erste Hotel an, das der Polizist mir genannt hatte.

Der Mann vom Empfang war höflich und kurz. Sie hatten ein Zimmer frei, das sie für mich reservieren wollten. In einer Stunde sollte ich da sein, sobald ich mein Gepäck abgeholt hatte.

Als ich zur Tür ging, drehte sich ein großer, magerer Mann an der Bar so schnell um und trat vor mich, daß ich nicht rasch genug reagieren konnte; ich streifte ihn etwas, und er verschüttete ein paar Tropfen von seinem Drink.

,,He, aufpassen, Mac!« knurrte er mich an.

»Entschuldigen Sie«, bat ich und wartete, bis er zur Seite trat, doch das tat er nicht. Er stellte seinen Drink ab und rückte noch näher an mich heran.

»He, du meinst wohl, der Platz gehört dir?« herrschte er mich an. »Bloß 'reinkommen zum Stänkern, was?«

Er schien einen Streit direkt zu suchen. Ich fürchte mich davor nicht, aber eine Kneipenschlägerei war nicht gerade das, womit ich meinen ersten Tag in Thetis verbringen wollte. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Es war nicht meine Absicht, Sie anzurempeln. Wollen Sie mich jetzt vorbei lassen?«

Das schien er als persönliche Beleidigung zu empfinden. »Dich vorbei lassen? Ihr Landratten glaubt wohl, ihr könnt auf uns 'rumtrampeln wie ihr wollt, was? Aber da habt ihr euch getäuscht.« Er stand jetzt so nah vor mir, daß er mich berührte.

Na, gut. Es sah nach Rauferei aus. Ich trat also einen Schritt zurück, um mir Raum zu verschaffen.

,,He, Kelly, was ist da los?« hörte ich einen rumpelnden Baß fragen. »Will dir dieser kleine Junge ans Leben?«

Das war der Seepolizist, den ich um Auskunft gebeten hatte. Groß und breit stand er unter der Tür. Sein Ton klang humorvoll, aber so schaute er nicht drein. Der Magere faßte es auch nicht so auf. Schnell schätzte er die Lage ab. ,,Ah, ihr Cops geht mir auf die Nerven«, sagte er. »Warum kümmert ihr euch nicht um eure eigenen Sachen?«

Die Augen des Polizisten funkelten gefährlich. »Na, schön, mein Sohn«, sagte er. »Wenn du hier 'raus willst, dann komm mit mir.«

Ich ging an Kelly vorbei, ohne ihn anzuschauen. Der Polizist schloß hinter uns die Tür.

»Hab' mir gedacht, daß du hier Ärger kriegst. Kaum hatte ich dich zum Telefon geschickt, da dachte ich mir, Shaughnessy, sagte ich zu mir, der Junge paßt nicht in die Kneipe. Also hab' ich nachgeschaut, was los ist.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Allerdings glaube ich, es hätte keine großen Schwierigkeiten gegeben.«

Für mein Gepäck brauchte ich nur ein paar Minuten, und damit beladen studierte ich die Straßen- und Ebenenbezeichnungen, um den besten Weg zu meinem Hotel zu finden.

Ich hätte wohl besser jemanden gefragt, aber ich mag nicht gern, wenn ich mich selbst als unwissend hinstellen muß.

Endlich kam ich zu dem Entschluß, ich würde wohl am besten durch eine schmale Verbindungspassage gehen zu einer anderen Bank von Expreßlifts, und von dort aus konnte ich ohne Aufenthalt zum Stockwerk 18 gebracht werden, wo das Hotel lag.

Ich machte mich auf den Weg und stöhnte ein wenig unter der Last meines Gepäcks. Ich mußte zwischen Lagerhäusern durchgehen. Hier waren nur wenige Mensehen zu sehen; ich nehme an, es ist so wie auf der Erdoberfläche, daß die geschäftige Zeit bei Lagerhäusern die frühen Morgenstunden sind. Natürlich spielte vier Meilen unter der Wasseroberfläche der Tag keine besondere Rolle; er war genauso künstlich beleuchtet wie die Nacht. Mir schien nur, die Troyonlampen flackerten ein wenig heftiger als vorher und waren etwas schwächer. Die Fronten der Lagerhäuser warfen verzerrte Schatten. Einige schienen sogar lauernden Menschengestalten zu ähneln.

Und die gab es auch.

Ich fand es zu meinem Leidwesen heraus; an einer Kreuzung stellte ich meine Koffer ab, denn ich wußte nicht recht, welche Richtung ich nun einschlagen sollte. Ich hörte Schritte hinter mir, die plötzlich schneller wurden, als gehe einer zum Angriff über. Mehr aus Neugier denn aus Angst drehte ich mich um.

Zu spät. Etwas Hartes schlug an meine Schläfe — und das war für einige Zeit alles.

Als ich aufwachte, lag ich auf dem kalten, glatten Metallboden eines völlig dunklen Raumes. Meine Fußknöchel waren zusammengebunden, um die Taille hatte ich eine Schnur, und meine Handgelenke waren damit an meinen Körper gebunden. Die Knoten waren so scharf angezogen, daß mein Blut nicht mehr richtig zirkulieren konnte und meine Hände und Füße völlig taub waren.

Ich sah nichts und hörte nichts. Es roch nach Keller, abgestanden und muffig. Wo in Thetis konnte ein solcher Raum sein?

Da ich es nicht ahnte, gab ich meine Vermutungen auf. So kühl und leidenschaftslos wie nur möglich versuchte ich meine Lage abzuschätzen. Panische Angst, hatte man uns beigebracht, sei der allerschlimmste Feind, und überläßt man sich ihr, kann sich eine böse Lage nur verschlimmern.

Und im Sonnenschein der Karibik hatte alles so harmlos geklungen!

Genau hatten sie uns allerdings nie gesagt, was man tun sollte, wenn man von unbekannten Personen gefesselt und in einem unbekannten Raum festgehalten wurde. Mir erschien alles im Moment lächerlich. Ich hatte doch keinem Menschen etwas getan. Warum war ich also angegriffen worden?

Die wichtigste Frage war im Augenblick jedoch nicht das Warum, sondern das Wie: wie ich aus dieser Lage wieder herauskommen konnte. Ich schien da wenig tun zu können. Wer mich gefesselt hatte, der hatte vorher von einem Meister in dieser Kunst Unterricht erhalten.

Einen Arm konnte ich eine Kleinigkeit bewegen. Und fände ich etwas, um die Schnüre daran zu wetzen, so wäre es denkbar, daß ich sie ausfransen konnte. Es war natürlich, gefesselt wie ich war, gar nicht so einfach, in dieser Finsternis etwas zu finden, doch ich machte den Versuch.

Es war umsonst. Der Boden war eben und nackt. Und die Knoten konnte ich nicht erreichen.

Vielleicht überließ ich mich in diesem Moment ein wenig der Verzweiflung, ich weiß es nicht, aber ich warf mich heftig herum — und spürte, daß die Schnur um meine Taille ein wenig nachgab.

Nun war meine rechte Hand ein wenig hinter mir, die linke vor mir. Wieder zerrte ich an der Schnur, wieder gab sie eine Spur nach.

Vermutlich brauchte ich dazu mindestens eine halbe Stunde, aber schließlich hatte ich die linke Hand an meiner Gürtelschließe. Und den Seegeistern sei Dank, ich trug meinen Akademiegürtel mit den scharfen Ankern an der Schnalle.

Es war die beste Hoffnung, die ich hatte, und nun sägte ich die Schnüre an den scharfen Ankern praktisch durch. Ich dachte schon, mir würden die Arme abbrechen, aber nun hatte ich doch wieder Hoffnung, mich nach einiger Zeit befreien zu können.

Doch genau da lief meine Zeit ab. Hinter mir hörte ich ein leises Klicken, ein schwaches Licht drang in den Raum. Ich sah nur das, was direkt vor meinen Augen war — glatte Metallwände, an denen ein dünner Film Feuchtigkeit hing, nichts sonst. Aber jemand hatte hinter mir eine Tür geöffnet.

Ich blieb bewegungslos liegen. Leise Schritte. Pause. Dann zogen sich die Schritte wieder zurück. Die Tür klickte. Dann Finsternis. Jemand war also gekommen, hatte nach mir geschaut und war wieder gegangen. Was dies zu bedeuten hatte, wußte ich nicht, aber vielleicht hatte man nachgesehen, ob ich schon bei Bewußtsein war. Hoffentlich hatte ich denjenigen getäuscht.

Ich rieb erneut, aber nur ganz kurze Zeit, denn die Tür ging wieder auf, doch die Schritte waren diesmal nicht leise.

Hinter mir waren etliche Männer, und sie sprachen miteinander, ohne die Stimmen zu verstellen.

»Klar, er ist wach«, sagte einer der Männer. »Jack, gib ihm einen Tritt, dann siehst du's schon.«

Das tat Jack, und er trat mich an das rechte Schulterblatt. Zum Glück wurde mir kein Knochen gebrochen, aber mir hatte es auch so gereicht, denn ich flog ein ganzes Stück weit und kam auf die andere Seite zu liegen, so daß ich die Männer anschaute.

Der Mann, der mich getreten hatte, war ein breiter Kerl mit einem Gesicht wie eine Kröte. Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. Auch den zweiten nicht, doch den dritten kannte ich. Es war Kelly, der in der Kneipe der neunten Ebene mit mir hatte raufen wollen.

»Was soll das alles?« fragte ich angestrengt durch einen Nebel des Schmerzes. »Was ...«

»Maul halten«, fauchte Kelly mich an. »Jack, wenn er seine Klappe wieder aufmacht, trittst du ihm die Zähne ein. Komm, hilf mir.«

Kelly trat zurück und schaute ausdruckslos drein, als Jack und der andere Mann mich aufhoben und aus dem Raum hinaustrugen, einen schwach erhellten Korridor entlang.

»Kelly, das gefällt mir gar nicht«, sagte der Mann zu meinen Füßen. »Angenommen, die Seecops kommen vorbei?«

»Angenommen, der Mond fällt auf uns?« höhnte Kelly. »Du wirst nicht fürs Denken bezahlt. Jack hat sich nach den Cops umgesehen. Er sagt, auf der ganzen Ebene war nicht ein einziger Patrouillenjeep zu sehen.«

»Richtig«, gab Jack zu. Dieser Jack machte nicht viel Worte. Ich tat den Mund auf, um etwas zu sagen, aber das plötzlich in seinen Augen aufflammende Interesse gab mir zu denken. Sie schleppten mich noch ein Stück weiter, dann ließen sie mich fallen.

»Okay«, knurrte Kelly. »Haut ab. Ich brauch' euch nicht mehr.«

Die beiden verschwanden eiligst. Kelly kam näher und bückte sich neben mir, fummelte auch auf dem Boden herum, und ich hörte etwas laut klirren, konnte aber nichts sehen.

»Na, gute Reise«, sagte er grinsend. Kalte, feuchte Luft schlug mir entgegen. Kelly hob den Fuß, um nach mir zu stoßen, und da wurde mir klar, was er getan hatte. Er hatte eine Falltür geöffnet, und unter ihr lagen die Abwässertunnel von Thetis!

Als sein Fuß herabkam, warf ich mich in meiner Verzweiflung herum, und die Schnur, die um mein linkes Handgelenk gelegen hatte, riß. Es war aber zu spät. Sein Fuß traf mich schmerzhaft in die Seite und warf mich über den Metallrand. Ich fing mich zwar, doch eine taube Hand reichte nicht zum Festhalten.

Ich stürzte in das eisige, schnellfließende Wasser. Einen Augenblick lähmte mich die Kälte, und ich sank tief hinab. Doch dann arbeitete ich mich wieder in die Höhe. Irgendwie kam ich an die Oberfläche, schwamm, hustete und keuchte und bekam kalte, feuchte Luft in meine Lungen, als ich mit einiger Geschwindigkeit von der Flut mitgerissen wurde.

Fast hätte ich nun aufgegeben, aber etwas in mir ließ das nicht zu. Jedenfalls strampelte und schwamm ich, so gut ich konnte, denn ich wollte wenigstens solange am Leben bleiben, bis ich zu den Ventilatorpumpen kam.

Dort würde mein Leben sowieso zu Ende sein, denn dem Druck dieser mächtigen Pumpen konnte ich doch nicht widerstehen.

Trotzdem kämpfte ich weiter.

Da sah ich ein Licht. Es war sehr schwach, sehr weit entfernt, und ich sah es durch den Salzwasserschleier. Ich blinzelte, schaute wieder — es kam näher. Es war ein schwaches Flakkern auf einer Rampe neben dem Abwässerstrom.

Es war ein tragbares Troyon-Licht, daneben ein Mann, der ins Wasser schaute.

Ich versuchte zu rufen, doch ich brachte nur ein Gurgeln heraus. Vielleicht hatte er mich gehört. Vielleicht war es auch nur Zufall, daß er in die Richtung schaute, in der ich kämpfte. Aber ich hörte seinen Schrei, und ich fand sogar den Atem, ihm eine gehustete Antwort zu geben.

Er handelte blitzschnell. Kaum hatte er mich gesehen, da wurde ich schon an die Rampe getrieben, auf der er stand. Einen Moment später wäre ich nicht mehr zu retten gewesen. Aber als ich an ihm vorbeischwamm, griff er mit einer langen Stange nach mir.

Etwas Scharfes hakte sich in meine Schulter. Die Haut riß auf, und der Bootshaken glitt über meinen Rücken und den Oberarm. Meine Jacke riß auf, noch ein Stück — und hielt.

Er half mir auf die Rampe hinauf und stellte mich auf die Beine. Keuchend lehnte ich an der Wand. Er grinste mich an.

»Mensch«, sagte er, »du hast dich wohl sehr nach einem kalten Bad gesehnt. ..«

13. Der Eremit von Kelly's Königreich

»Danke«, sagte ich dafür, daß er mir das Leben gerettet und das seine dabei riskiert hatte. Wäre er ausgeglitten und in das rasende Wasser gestürzt, hätten wir beide nicht überlebt. Ich konnte im Moment nichts anderes sagen als »danke«.

»Klar«, meinte mein Retter ganz selbstverständlich und musterte mich, während ich wieder zu Atem zu kommen versuchte. Er war ein großer, breiter, kohlschwarzer Neger mit freundlichen Augen, der den Kopf schüttelte, als er die Stricke an mir bemerkte. »Hm. Vielleicht bist du gar nicht zum Vergnügen geschwommen«, sagte er und grub aus seiner Hosentasche ein Messer aus.

Als das Blut wieder in meine Finger und Füße schoß, war dies ein scheußlicher, fast unerträglicher Schmerz, aber ich hätte nie gedacht, daß ich einen Schmerz so willkommen heißen könnte! Nun allmählich wagte ich an mein Glück zu glauben: ich lebte ja!

»Danke«, sagte ich noch einmal. »Du hast mir das Leben gerettet. Ich hoffe, ich kann dir das einmal vergelten.«

Er lachte leise. »Ich hoffe, das kannst du nie, mein Freund. Diese Art Vergeltung hätt' ich nicht gern. Komm, laß dir helfen.« Ich stützte mich auf ihn und hinkte ein paar Schritte dorthin, wo das Troyon-Licht lag. Es war eine kleine Röhre, und sie flackerte ziemlich schwach, als sei der Gasvorrat nahezu erschöpft. Ich sah mich um.

In der Rampe sah ich eine Nische, kaum kopfhoch und breit genug für einen Mann, um sich hineinzulegen. Ein paar abgenutzte Decken sah ich, etliche Bretter, die offensichtlich als Bett dienten, ein paar Packkisten. »Willkommen bei mir zu Hause«, sagte der Mann. »Ich heiße Gideon Park. Keine sehr elegante Wohnung, was? Aber du bist ein gerne gesehener Gast.«

»Mr. Park«, sagte ich allen Ernstes, »ich habe noch nie einen Platz gesehen, der mir besser gefallen hätte.«

Er lachte breit. »Kann ich mir denken. Aber wenn's dir nichts ausmacht, dann sag' Gideon zu mir. Den Namen bin ich besser gewöhnt. Deshalb hab ich ihn mir ja auch zugelegt. Getauft haben mich meine Leute Walter, aber wir waren elf, und da sind ihnen ordentliche Namen allmählich ausgegangen. Und wenn du's nicht vorziehst, die ganze Sache zu vergessen, dann könntest du die Neugier eines alten Mannes befriedigen. Wer hat dich denn so verschnürt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich wollte, das wüßte ich, Mr. . . . Gideon, meinte ich. Einer namens Kelly, und ein anderer, der Jack hieß; mehr weiß ich nicht. Sie nahmen mir alles aus den Taschen, und ich denke, daß sie auch nicht mehr von mir wollten. Warum sie aber ausgerechnet mich herausgesucht haben, werde ich wohl nie erfahren.«

Gideon runzelte die Brauen. »Gibt eine Menge Kellys hier herum. Aber der eine ist wohl ein großer, magerer Kerl mit einem scheußlichen Naturell, was?«

»Ja, genau. Kennst du den etwa?«

Gideon nickte. »Tut mir leid, daß ich das sagen muß. Ist aber eine lange Geschichte. Du kannst von Glück reden, daß du noch am Leben bist.«

Das verdaute ich recht nachdenklich. Meine Finger und Zehen fühlten sich allmählich an, als könnte ich sie doch tatsächlich eines Tages wieder benutzen. Ich versuchte aufzustehen, doch meine Knie waren wie Griesbrei; allmählich gelang es mir aber. Ich spannte meine Muskeln und übte sie. Das tat zwar erst ziemlich weh, aber gebrochen schien nichts zu sein.

Natürlich war ich tropfnaß. Gideon und ich wurden uns darüber gleichzeitig klar. Er sagte: »Zieh mal das Zeug aus, Freund, dann mach ich ein kleines Feuer. Weil du schon nicht ertrunken bist, können wir auch dafür sorgen, daß du keine Lungenentzündung kriegst.« Er zerbrach ein paar dünne Bretter über den Knien, baute sie über einer altmodischen Zeitung auf und zündete das alles an. Es rauchte in der feuchten Luft, aber bald trieb das Feuer die Nässe aus dem Brennmaterial, und die Flammen züngelten hoch. Gideon hängte meine nassen Sachen nahe ans Feuer, und ich rückte auch näher, um die Wärme zu genießen. Er begann mit einigem Zeug zu klappern. »Wenn ich schon ein Feuer mach', könnten wir auch eine Tasse Tee trinken. Tut uns beiden gut.« Er stellte Wasser zum Kochen auf und hockte sich auf die Fersen. Er lachte, weil er wohl die Neugier in meinen Augen gelesen hatte.

»Du wunderst dich wohl, in welche Geschichte du da 'reingekommen bist?« fragte er. »Meine Siedlerstelle sieht wohl ein bißchen merkwürdig aus, was?«

»Zugegeben, ich bin ein bißchen neugierig.«

Gideon nickte. »Man lebt. Da kommt allerlei Zeug geschwommen. Thetis ist ziemlich tief unten, weißt du. Der Druck ist schrecklich. Sogar durch die Felsen sickert das Wasser. Deshalb muß immer gepumpt werden. Und weil sie das Wasser sowieso 'rauspumpen, werfen sie in die Kanäle auch gleich alles, was sie nicht mehr brauchen. Das meiste ist wertloses Zeug. Andere Dinge sind Kuriositäten — so wie du.« Er grinste breit. »Aber ab und zu kommt was vorbei, das ich verkaufen kann. Das fisch' ich 'raus und leg's zur Seite, und wenn ich genug hab', mach' ich die Reise in die Wohnebenen und verhökere das Zeug. Meistens krieg' ich genug, daß ich mir was zu Essen kaufen kann, Tee und andere Sachen .. . Und dann komm' ich wieder heim in Kelly's Königreich.«

»Wieso Kelly's Königreich?« wollte ich wissen. »Hat das mit dem Kelly zu tun, von dem wir vorher geredet haben?«

Gideon zuckte die Schultern. »Die untersten Ebenen haben sie schon vor dreißig Jahren so geheißen. Der Kelly, den du kennst, war damals vielleicht noch gar nicht geboren. Ich meine, er hat sich eher nach dem Platz genannt, nicht umgekehrt. Aber Namen, mein Freund, sind Angelegenheiten der Leute. Ich hab' mir meinen auch selbst ausgesucht. Und du hast auch einen Namen. Aber weil du ihn noch nicht gesagt hast, wird kein Gentleman dich in die Verlegenheit bringen, dich . . .«

»Oh, entschuldige, Gideon«, unterbrach ich ihn. »Ich heiße James Eden.«

Jetzt verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. »Was?« fragte er.

Ich blinzelte. »James Eden«, wiederholte ich. »Ich bin Stewart Edens Neffe. Vielleicht hast du von ihm gehört.« Er stand auf, schaute auf mich herab, und sein Gesicht war eine Maske. »James Eden«, sagte er, und dann kam lange nichts mehr.

Schließlich griff sein langer Arm zu mir herab, er packte meine Hand und zog mich auf die Füße. Ich erwartete schon einen Kampf, denn seine Miene konnte ich nicht deuten.

Aber sein Händedruck war warm und fest. »Jim, neun Jahre lang hab' ich für Stewart gearbeitet. Und lebte er noch, würd' ich jetzt noch für ihn arbeiten, wenn er mich haben wollte. Dein Onkel Stewart hat mir zweimal das Leben gerettet, und so, denke ich, sind wir für das zweite Mal quitt. Ich schulde dir nur noch eines. . .«

Das waren die ersten freundlichen Worte, die ich gehört hatte, seit ich Bob Eskow in New York verließ. Wie lange war das schon her! Die Akademie hatte mich hinausgeworfen, und mein Onkel Stewart war tot, und das ganze Tiefsee-Leben ... Ich war glücklich.

Das Wasser kochte, und Gideon brühte Tee auf. Während wir vorsichtig an der heißen Flüssigkeit nippten, erzählte er mir, was er über meinen Onkel wußte. Gideon selbst war ein Grundgeher gewesen, einer jener tollkühnen Männer, die in Tiefsee-Ausrüstung unter ungeheurem Druck durch den Bodenschlamm wateten. Er hatte für Onkel Stewart in den Mountains of Darkness geschürft, Testlöcher für Öl gebohrt, Seite an Seite mit ihm nach Perlmuscheln und den kostbarsten aller Perlen in den Kadang-Betten gesucht. Als Onkel Stewart seine anderen Holdings veräußerte, um sich auf Marine Mines Ltd. zu konzentrieren, hatte Gideon keinen anderen Job annehmen wollen. Er war hinabgegangen in Kelly's Königreich, um Schätze aus den Kanälen zu bergen und zurückzukehren, sobald Onkel Stewart ihn brauchte.

Aber Gideon wußte wenig von Marine Mines; ich fragte natürlich, aber er konnte mir nichts sagen.

Seit Onkel Stewarts Tod hatte Gideon versucht, Pläne zu machen, aber gelungen war ihm das nicht. Jeder Plan ging davon aus, daß er für meinen Onkel arbeiten wollte. Ich bot ihm sofort einen Job an mit Pflichten, die ich selbst noch nicht umreißen konnte, und einen Lohn, wie er ihn für angemessen hielt, solange mein Geld reichte.

»Du redest genauso wie dein Onkel«, brummte er. »Ich hab' ihm angeboten, daß ich keinen Lohn will, aber das wollte er nicht. Du sorgst dafür, daß wir beide zu essen haben und nicht wegen Herumtreibens mit dem Gesetz in Konflikt kommen, und mehr will ich nicht, bis wir alles schön in die Reihe gekriegt haben.«

Ich war erschöpft und konnte nicht mehr länger wach bleiben. Gideon legte einige Decken auf die Bretterplattform, und ich schlief sofort ein.

Als wir aufwachten, machte Gideon wieder Tee und brachte etwas zu essen. Meine Kleider waren nun trocken, nur sahen sie nicht sehr schön aus. Kelly und seine Komplizen hatten meine Taschen durchwühlt, aber das Geld hinter meiner Gürtelschließe nicht gefunden. Gideon und ich gingen also einkaufen.

Als wir für die Reise gekleidet waren, wurde es Abend. Die Troyon-Lichter machen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, aber wir waren müde, und da jeder Mensch Schlaf braucht, hielten sich die Tiefsee-Städte an den Zeitrhythmus der Welt oben. Ich rief Faulkners Büro an in der Hoffnung, ihn vielleicht zufällig zu erwischen, bekam aber keine Antwort. Gideon und ich verbrachten daher den Abend damit, die Sehenswürdigkeiten von Thetis zu besuchen. Das war ein sehr vergnügliches, entspannendes Erlebnis. Ich war wieder mit der Welt ausgesöhnt, als wir schließlich in einem sauberen, bescheidenen und gemütlichen Gasthaus zu Bett gehen konnten, einem Haus, das er mir empfohlen hatte.

Es war das letzte Mal für einige Zeit, da ich mit der Welt in Frieden lebte ...

Am nächsten Morgen ging ich direkt zu Faulkners Büro. Wieder nahm ich erst den Lift, dann stieg ich die lange, dunkle Treppe hinauf und betrat den niedrigen Raum.

Diesmal war der häßliche Kerl hinter dem Tisch wach; er las ein Nachrichtenblatt, seine Füße lagen wieder auf dem Tisch.

Als er mich sah, wurden seine Augen immer größer und ungläubiger, und schließlich fiel ihm die Kinnlade herab. Endlich erholte er sich von seiner Verblüffung. »Sie«, brummte er, aber seiner Miene nach zu urteilen hatte er einen Geist gesehen.

»Ja, ich«, sagte ich. »Ist Mr. Faulkner jetzt da?«

Sein Neandertalgehirn suchte offensichtlich nach einer Entscheidung. »Ich schau mal nach«, sagte er schließlich unsicher.

Erstaunlich geschickt stemmte er seinen schweren Körper in die Höhe, rollte seine Massen durch den Raum und verschwand durch die Tür, auf der Faulkners Name stand. Ich wartete lange; endlich kam er heraus und schnarrte: »Sie können 'rein.«

Der Raum, den ich jetzt betrat, war etwas größer als der des Neandertalers, aber ebenso dunkel und niedrig. An den Wänden standen zahllose Bücher in Regalen, viele alte Bände mit zerschlissenem Ledereinband. Die Luft roch nach Staub, Moder und trockener Verwesung.

Faulkner saß unter einer trüben Troyon-Leuchte und sah mir kalt entgegen. Er war mittelgroß, mitteldünn, mittelblaß und verrunzelt, mittelalt und recht nichtssagend. Sein schwarzer Anzug war für einen erfolgreichen Anwalt recht abgetragen und nicht besonders sauber. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern waren hart.

»Mr. Faulkner?« fragte ich.

Er saß da, als habe er einen Stock verschluckt. »Ja, der bin ich«, antwortete er barsch. »Und Sie behaupten James Eden zu sein.«

Ich musterte ihn neugierig. »Der bin ich wirklich«, korrigierte ich ihn. »Sie haben mir ein paar Radiogramme wegen des Besitzes meines Onkels geschickt, Mr. Faulkner. Ich teilte Ihnen mit, ich würde selbst kommen, um mein Erbe anzutreten. Bekamen Sie meine Mitteilung?«

»Hm«, brummte er. »Warum haben Sie die Verabredung gestern nicht eingehalten?«

»Weil ich zusammengeschlagen und ausgeplündert wurde, Mr. Faulkner«, erwiderte ich gereizt. »Es tut mir leid, wenn Ihnen das ungelegen kam.«

»Hm«, brummte er wieder. Sein Gesicht drückte gar nichts aus. »Und was wollen Sie?«

»Nun, ich schrieb Ihnen doch, daß ich den Besitz meines Onkels zu übernehmen gedenke.«

»Nein, wirklich«, erwiderte er mißmutig. »Und wer war denn Ihr Onkel?«

Ich konnte nicht glauben, daß ich recht gehört hatte. »Mein Onkel Stewart Eden«, antwortete ich einigermaßen verwirrt. »Sie kannten ihn doch, Mr. Faulkner!«

»Ich kannte ihn. Aber Stewart Eden ist tot, junger Mann. Und außerdem möchte ich gerne einen Ausweis von Ihnen sehen.«

»Ich sagte Ihnen doch, Mr. Faulkner, daß ich ausgeraubt wurde!« fuhr ich auf. »Alle meine Papiere sind weg.«

»Hm«, machte er skeptisch.

»Was wirklich passierte«, erklärte ich nachdrücklich. »Ich...«

»Reicht schon, junger Mann«, unterbrach er mich scharf. »Hat keinen Sinn, darauf herumzureiten. Als Anwalt möchte ich Sie mit dem Gesetz bekanntmachen. Es ist ein schweres Verbrechen, sich als Erbe eines Besitzes auszugeben, um materiellen Gewinn zu erzielen. Mein Rat an Sie lautet also: Geben Sie's auf.«

»Was?« fragte ich verblüfft.

»Ich glaube, Sie haben mich recht gut verstanden. Sie sind nicht James Eden. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber das ist sicher, daß Sie nicht Eden sind.«

»Hören Sie, Mr. Faulkner!« rief ich. »Sie irren. Ich bin James Eden.« Er schrie: »Und ich sage, Sie sind's nicht! Hier, in diesem Büro, habe ich James Eden kennengelernt. Sie sehen ihm auch nicht ähnlicher als mir.«

»Was?« fragte ich ungläubig.

»Hochstapler!« schrie er. »Hinaus aus meinem Büro! Sofort! Und Sie können mir auf Knien danken, daß ich Sie nicht der Polizei übergebe!«

»Das ist lächerlich, Mr. Faulkner«, schrie ich nun auch. »Natürlich bin ich James Eden. Ich kann es beweisen.«

»Dann tun Sie's doch!« brüllte er.

Ich zögerte. »Nun, das wird etwas dauern. Ich muß meine Papiere in den Staaten neu anfordern.« »Lügner!« tobte er. »Ich habe hier in meinem Schreibtisch das Ausweisbuch des richtigen James Eden mit seinem Bild, den Fingerabdrücken und allem, was sonst noch dazugehört.«

»Sie .. . Was?« keuchte ich.

Er riß eine Schublade auf. »Da, schauen Sie selbst!« Er warf mir ein vertrautes rotes Büchlein entgegen, ich hob es auf...

Vertraut? Seit vielen Jahren hatte ich es mit mir herumgetragen. Es war nicht ein Duplikat meines Buches, es war das echte, bis zum letzten Eselsohr, Tintenklecks und verwischtem Eintrag.

Aber das Bild war nicht das meine. Der Mann war ein Fremder. Seine Beschreibung war nicht die meine.

Faulkner entriß mir das Buch. »Bishop!« brüllte er, und der Neandertaler rollte herein und musterte mich schmatzend. Zu mir sagte er scharf: »Hinaus!«

Was hätte ich sonst tun sollen?

Gideon hatte vielleicht die richtige Erklärung. »Dein Freund, Mister Faulkner, hat es vielleicht veranlaßt, daß man dich zusammenschlug und ausgeplündert hat«, meinte er. »Jim, er will dich so dringend aus dem Weg haben, daß er nicht mal vor einem Mord zurückschreckt.«

»Aber mein Ausweisbuch, Gideon!«

Er schüttelte den Kopf. »Jim«, erklärte er mir geduldig, »in Thetis gibt es genug Leute, die jedes Dokument der ganzen Welt fälschen können. Für einen, der sich in dem Geschäft auskennt, ist das nicht schwierig. Die Frage ist nicht ,wie', sondern ,warum'. Ich will nicht zu Schlüssen springen, aber einer erscheint mir sicher: Marine Mines Limited scheint viel wertvoller zu sein, als man dich glauben lassen wollte.«

Verstört schüttelte ich den Kopf. »Das kann doch nicht sein. Das ganze Gebiet liegt unterhalb der Tiefengrenze, und selbst wenn Onkel Stewart dort etwas gefunden haben sollte, dann gibt es noch immer keine Möglichkeit, es abzubauen.«

Gideon zuckte die Schultern. »Hast du eine bessere Idee?«

Die hatte ich natürlich nicht. Wortlos saßen wir eine Weile da. Dann sagte ich: »Nun, was soll ich tun? Zurückgehen und wieder aus Faulkners Büro hinausgeworfen werden?«

Gideon schüttelte den Kopf, und in seinen Augen blitzte ein Funken auf. »Nein, diesmal nicht, Jim. Erst siehst du zu, daß du hier in Thetis beim Konsul ein Duplikat deiner Papiere bekommst. Dann gehen wir zusammen zu Faulkner, du und ich. Und dann möchte ich sehen, wer da hinausgeworfen wird.«

Ich tat das, was Gideon mir geraten hatte.

Das Büro des Einwanderungsinspektors war auf Ebene Einundzwanzig, also dort, wo alle Regierungsgebäude lagen.

Ich erklärte meinen Fall einem Assistenten am Paßschalter. Er nickte unverbindlich, entschuldigte sich, kam zurück und brachte mich zum Büro des Inspektors.

Er war ein dicklicher, kahlköpfiger etwas barscher kleiner Mann namens Chapman. Er schüttelte mir kräftig die Hand und hörte sich meine Geschichte an; ein paarmal nickte er verständnisvoll.

»Sowas kommt vor«, sagte er. »Schade, aber so ist es. Aber wir können Ihnen helfen, junger Mann.« Er drückte auf einen Klingelknopf, und seine Sekretärin wies mir den Weg zum Laboratorium.

Ich wurde ausgezogen, gemessen, gewogen; die Fingerabdrücke wurden mir abgenommen, meine Retina abgelichtet, mit natürlichem, fluoreszierendem und Röntgenlicht wurde ich fotografiert, ich wurde durch eine Mühle an Fragen und Fangfragen gedreht, meine Zähne wurden gezählt und aufgenommen, die Poren meiner Fußsohlen zählte man und hielt sie graphisch fest, und das alles dauerte weit über eine Stunde.

Als alles zu Ende war, führte mich ein Labormann zurück zum Inspektor.

Inspektor Chapman reichte mir einen Paß, auf dem in großen roten Buchstaben stand: VORLÄUFIGER PASS. »Den tragen Sie in den nächsten zwei Wochen immer bei sich. Bis dahin haben wir Bescheid aus den Vereinigten Staaten. Wenn Ihre Statistik mit den Informationen übereinstimmt, die unser Labor von Ihnen hat, stellen wir Ihnen einen neuen Dauerpaß aus. Dieser hier wird Ihnen nicht viel nützen. Sie können sich damit praktisch nur in Thetis bewegen. Ohne Dauerpaß können Sie hier nicht abreisen.«

»Und Sie werden die Nachricht in diesen zwei Wochen haben?« fragte ich. »Vielen herzlichen Dank, Sir.«

Er begleitete mich zur Tür. »Oh, nichts zu danken. Es gehört zu meinen Pflichten, Leuten auszuhelfen, die ein wichtiges Dokument verlieren.« Er musterte mich. »Natürlich immer vorausgesetzt, daß das beanspruchte Dokument tatsächlich den betreffenden Leuten gehört.«

14. Der Auswurf von Marinia

Wir mußten also warten, bis die Sache mit meinen Papieren geklärt werden konnte; wir mußten solange warten, bis wir Faulkner Paroli bieten konnten, bis wir die Antwort auf viele Fragen wußten.

Gideon und ich hatten viel Zeit, die wir totschlagen konnten. Die benutzten wir dazu, uns gründlich in der Kuppelstadt Thetis umzuschauen. Gideon kannte sie recht gut, angefangen von den obersten Verwaltungsebenen bis hinab zu den Unterkellern, die noch unter dem Seeboden lagen. Und er zeigte mir alles, was es zu sehen gab.

Er nahm mich mit zu den großen Tiefsee-Kais, nicht zum Linienschiff-Terminal, wo die Isle of Spain angedockt hatte, sondern zu den Frachthäfen, wo sich der ganze Handel der Tiefsee-Welt abspielte. Durch die Fenster in der Kuppelwand konnten wir zuschauen, wie bei Flutlicht die riesigen Frachter hereinkamen und von winzigen Seewagen, die wie Schildkröten aussahen, ent- und beladen wurden. Wie Egel saugten sie sich an den Schleusen fest und schlüpften wieder davon. Wir beobachteten einen ungeheuer großen Tanker, der fünfmal vergebliche Versuche zum Anlegen machte. »Ist ja auch ein ekliger Job für sie«, meinte Gideon. »Sie sind leichter als das Wasser, und es ist nicht so einfach, genau in die richtige Richtung zu schwimmen — bei der Größe!« Ich nickte und überlegte: Leichter als Wasser? Und doch, es konnte nicht anders sein. Die Ladung aus Petroleum und seinen Nebenprodukten brachte mehr als nur das Gewicht des Laderumpfes, um ein gleiches Volumen an Seewasser zu verdrängen. Wenn man so durch die Kuppelfenster schaute, war man sich kaum des Wassers da draußen bewußt. Es sah fast aus wie ein interplanetarer Raum, und die Tiefsee-Schiffe nahmen die Stelle der Raketen ein. Der Schlamm im Wasser um Thetis kam natürlich nie ganz zur Ruhe und machte das Wasser wolkig, aber es war eher so, als herrsche hier Landnebel. Ich konnte aber die Umrisse des Gesichts des Tankerpiloten sehen, als er den Ingenieur durch die Bordverständigung wegen der mißlungenen Anlegeversuche beschimpfte. Als dann endlich die magnetischen Greifer faßten, sah ich auch das Lächeln des Triumphs auf seinem Gesicht. Er war im Brückenhaus nicht allein. Neben ihm waren Männer in der Uniform des Service ...

Und einer von ihnen war kein Fremder für mich. »Bob!« rief ich. »Bob Eskow!«

Gideon sah mich neugierig an. »Ein Bekannter von dir?« fragte er.

»Mein allerbester Freund, den ich auf der Welt habe. Gideon, das ist ein Glück für mich! Wie können wir zu diesem Tanker kommen?«

Er kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, wandte er vorsichtig ein. »Weißt du, Jim, wir ahnen ja immer noch nicht, was Kelly wollte, als er dich zusammenschlug. Und dieses Kelly-Königreich da unten, wo die Frachter entladen . . .«

Aber meine glückliche Miene muß ihn wohl überzeugt haben. Er gab sich geschlagen. »Na, schön. Komm mit«, sagte er.

Wir fuhren mit einem Expreßlift nach unten, aber es dauerte sehr lange. Auf der Entladeebene kamen wir in eine schlecht beleuchtete Sektion von Thetis, der ähnlich, in der ich hereingekommen war, doch noch ein ganzes Stück verwahrloster. Auch hier gab es lange Reihen von Lagerhäusern und Mengen von Dockarbeitern. Ich hielt mich eng an Gideons Seite, als er sich durch die Menge schob.

Aber die Art Ärger, mit der ich gerechnet hatte, gab es nicht. Von Kelly war nichts zu sehen, niemand schaute uns an, niemand versuchte, Kellys Manöver an uns zu wiederholen. Was dann tatsächlich passierte, war nur sehr viel schlimmer.

Wir erreichten den Tanker, es war die S.S. Warren F. Howard, und fuhren mit dem kleinen pneumatischen Lift zum Eingangsport. Ich hielt einen Mann von der Besatzung an und fragte nach dem Weg zur Brücke. Mit Gideon rannte ich die engen Gänge entlang, kletterte durch einen Aufgang und stand im Brückenhaus.

Bob war nicht da.

Der Pilot, wie der Lotse genannt wurde, unterhielt sich mit einem Decksoffizier, und ein bißchen gereizt schauten sie mir entgegen. »Ist Bob Eskow hier?« fragte ich aufgeregt. »Ich sah ihn von der Kuppel aus.« Der Pilot flüsterte etwas, der Decksoffizier nickte nachdenklich. »Wer will ihn sehen?« fragte er.

»Mein Name ist.. .«

Da traf mich Gideons Ellbogen scharf in den Rippen. »Nur ein paar Freunde, Sir«, sagte er. »Könnten Sie uns sagen, wo wir ihn finden?« »Wie sind Sie an Bord gekommen?« knurrte der Decksoffizier.

»Einfach hereingegangen, Sir«, erwiderte Gideon mit Unschuldsmiene. »War das nicht richtig?«

Der Decksoffizier sah ihn lange an. Zu mir sagte er: »Sie müssen gehen. Bob Eskow ist in seinem Quartier und kann nicht gestört werden.«

»Aber ich sah ihn doch eben!« rief ich.

»Und mich haben Sie gehört.« Der Offizier griff nach einem Klingelknopf, und ein Mann kam herein. »Bringen Sie diese beiden Männer weg«, befahl er.

Äußerst widerstrebend ging ich. Am Port fragte ich den Mann: »Können Sie Mr. Eskow eine Nachricht von mir übermitteln?«

Der Seemann war unentschlossen, bis er den Schein in meiner ausgestreckten Hand bemerkte. »Klar«, meinte er freundlich. »Was soll ich ihm bestellen?«

Eilig schrieb ich eine Notiz und unterzeichnete sie mit »Jim«. Der Seemann verschwand sofort damit.

»Ich weiß nicht recht«, murmelte Gideon, »ob das auch klug war, Jim. Weißt du, wem das Schiff gehört?«

Ich schüttelte den Kopf. »Hallam Sperry s Tankerflaggschiff ist das. Und der Erste Offizier ist sein spezieller Freund. Deshalb wollte ich nicht, daß du ihm sagst, wer du bist.«

»Aber er hätte es mir doch sicher nicht abgeschlagen, einen alten Freund sehen zu können«, wandte ich ein.

»Weißt du das so bestimmt?« Darauf konnte ich nicht mehr antworten, weil der Seemann wieder zurück war. Seine Miene war eiskalt.

»Mr. Eskow sagt, er habe nie von Ihnen gehört.« Und er verschwand, ehe ich meine fünf Sinne wieder zusammenbringen konnte.

Im Hotel starrte ich vom Fenster aus auf die geschäftig herumeilenden Marinianer hinaus. Selbst Bob Eskow schien sich nun gegen mich gewandt zu haben! Niemand, außer Gideon, war nun noch auf der ganzen Welt da, dem ich vertrauen konnte. Ich fühlte mich ungeheuer verlassen.

Ich grübelte vor mich hin. bis Gideon kam. Er hatte mich ins Hotel vorausgeschickt, während er selbst noch etwas Geheimnisvolles zu erledigen hatte, wahrscheinlich unten in Kelly's Königreich. Sein Gesicht war ernst, als er kam. Sofort sagte er: »Jim, da ist was los. Unten auf den Ladeebenen gehen Gerüchte um. Hast du schon je den Namen Catroni gehört? Sperry muß etwas haben.«

»Nein, noch nie.«

»Ein Glück für dich«, bemerkte er. »Catroni ist aus den Staaten und allen europäischen Ländern hinausgeworfen worden und steht jetzt auf Hallam Sperrys Gehaltslisten hier. Wofür wird er bezahlt? Niemand weiß es — offiziell wenigstens. Aber der Mann ist ein richtiger Strolch. Jetzt mach dir selbst deinen Reim drauf.«

»Klingt ja so, als könnte man dem nicht trauen«, sagte ich.

Gideon nickte nüchtern. »Das ist es ja, Jim. Jemand hat ihm etwas zu sehr vertraut. Er war bei deinem Onkel, als der Seewagen verlorenging. Und sie sagen...« Er zögerte und blickte mich beschwörend an. »Sie sagen, aber mach dir jetzt nicht zuviel Hoffnung, Catroni sei gesehen worden, als er gestern in Sperrys Quartier ging.«

Ich sprang auf. »Gideon! Wenn das bedeutet...«

»Ich weiß, was es bedeutet, Jim. Stimmt es, daß Catroni hier ist, und war er wirklich bei Stewart Eden, dann gibt es vielleicht — ich sage, vielleicht! — eine Chance. Jim, der Himmel weiß, welche Chance, denn wenn Catroni heimlich zurückkam, muß er irgendwo dreckige Arbeit getan haben, die er jetzt vertuschen will. Aber ...« »Gideon«, unterbrach ich ihn, »gehen wir sofort zu Hallam Sperry!«

»Du bist wahnsinnig geworden!« rief Gideon entgeistert.

»Nein, Gideon. Ich kann ihn schon besuchen. Ich habe seine Einladung. Auf dem Schiff hierher hat er mir ein Angebot gemacht. Ich kann ihm sagen, daß ich darüber mit ihm reden möchte. Vielleicht kann ich dann etwas herausbringen.« Gideon schüttelte düster den Kopf, aber ich gab nicht auf. »Verstehst du denn nicht, Gideon. Ich muß es doch versuchen. Sperry wird es nicht wagen, offen etwas zu tun. Für ihn steht zuviel auf dem Spiel. Und, Gideon, nimm mal an, deine Information ist nicht richtig? Angenommen, Sperry ist nicht ganz so schwarz, wie du ihn siehst?«

In seinen Augen las ich verletzten Stolz. »Na, gut, Jim«, sagte er. »Ich kann es dir nicht verdenken, daß du dich selbst überzeugen willst.« Er ließ sich erschöpft in seinen Stuhl fallen und sah mich nicht an. »Ich hoffe nur, daß es dir nicht allzu weh tut, was du zu sehen bekommst.«

»Setzen Sie sich doch«, rumpelte Hallam Sperry ungeduldig.

Ich setzte mich und begann: »Mr. Sperry, ich...«

Er unterbrach mich sofort. »Mein Sohn ist hier«, sagte er.

»Brand. Sie erinnern sich doch an Brand, eh? Hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich sollte wohl sagen, über James Eden, was?«

Die Frage sollte humorvoll klingen, doch dem widersprachen seine Augen. »Was meinen Sie damit?« wollte ich wissen.

Er zuckte die Schultern. »Was wollen Sie?« fragte er.

Ich war verwirrt. »Nun, auf der Isle of Spain machten Sie mir doch einen Vorschlag, Mr. Sperry.«

Er schüttelte seinen mächtigen Kopf. »Das können Sie vergessen. Ich bin ein alter Mann und trage es Ihnen nicht nach, daß Sie mich hereinlegen wollten. Aber Sie hatten kein Glück damit.« Mit seinen seekalten Augen starrte er mich an. »Sie sind auch nicht mehr James Eden, als ich es bin. Sie wissen es, ich weiß es, also welchen Sinn hat es, einem alten Mann etwas vormachen zu wollen?«

»Mr. Sperry«, fuhr ich erbittert auf, »ich bin James Eden. Ich wurde zusammengeschlagen und ausgeplündert, meine Papiere wurden gestohlen, aber ich bekomme neue aus Amerika.«

Er lachte. »Das ist es, Junge. Bleiben Sie nur dabei.«

»Bitte, Mr. Sperry! Sie sagten, Ihr Sohn sei hier. Bitten Sie ihn doch, er soll mich identifizieren.«

Hallam Sperry musterte mich lange und eingehend. Dann erhob er sich und goß einen Drink für sich ein. »Brand?« sagte er.

Prompt kam eine Stimme aus dem Grill über Hallam Sperrys Schreibtisch. »Ja, Sir?«

»Brand, hast du uns auf dem Scanner beobachtet?«

»Ja, Vater«, hörte ich die harte Stimme. »Er ist ein Hochstapler, Sir. Den habe ich noch nie gesehen.«

»Danke, Brand«, erwiderte der alte Mann. Dann legte er einen Schalter am Schreibtisch um, nippte an seinem Drink und musterte mich mit seinen kalten Augen. »He, wollen Sie noch immer streiten?«

Auf einmal sah die Welt für mich ganz schwarz aus. Ich konnte ihn nur anstarren. Waren denn alle plötzlich verrückt geworden? Wie konnte Brand Sperry leugnen, daß ich James Eden war?

Dann erinnerte ich mich der Worte, die mir schon vorher geholfen hatten: Panische Angst ist der größte Feind.

Ich fing mit einer Tatsache an: Ich wußte, daß ich klar im Kopf war.

Und die anderen Tatsachen mußte ich im Licht dieser ersten sehen: Wenn ich klar im Kopf bin, dann bin ich wirklich James Eden; und wenn ich James Eden bin, dann versuchen all diese Leute, die Sperrys und ihre Helfer, mich aus dem Weg zu schaffen.

Und wenn sie mich aus dem Weg zu schaffen versuchen, dann haben sie mich irgendwie zu fürchten. Etwas, das ich tun kann; etwas, das sie verhüten wollen; etwas, das ich herausfinden und unter allen Umständen tun mußte!

Es würde viel Zeit beanspruchen, all dies genau zu beschreiben, was in diesen paar Momenten durch meinen Kopf raste, aber ich hatte meinen Entschluß in einem einzigen Augenblick gefaßt.

»Wo ist Catroni?« fragte ich. »Mr. Sperry, wenn Catroni überlebte, dann lebt auch mein Onkel vielleicht noch.«

Langsam fiel die Starre von Hallam Sperry ab. Die Flasche mit dem seegrünen Brandy fiel auf den Boden und zerbrach. »Catroni war bei meinem Onkel Stewart. Ich will mit ihm sprechen.« Ich stand auf und trat vor Hallam Sperry, der voll eisiger Ruhe dasaß und nicht einmal die zerbrochene Flasche beachtete.

»Würden Sie das wiederholen?« sagte er langsam.

»Wo ist Catroni?« fragte ich nachdrücklich. »Ich weiß, er ist hier irgendwo.«

»Catroni ist tot«, erwiderte er ruhig.

»Nein, Sir. Catroni ist nicht tot. Ich weiß, daß er lebt.« In den kalten Augen war ein Flackern, das ich nicht deuten konnte. Triumph oder heimliches Lachen vielleicht.

»Sie glauben mir also nicht?« fragte er.

»Nein, Sir«, erwiderte ich scharf.

»Natürlich nicht.« Er nickte. »Nachrichten, die uns nicht passen, wollen wir nie glauben. Nun, junger Mann, ich werde Sie überzeugen.« Er legte wieder den Schalter an seinem Tisch um. »Brooks, dieser junge Gentleman hier will wissen, ob Catroni tot ist oder lebt. Wollen Sie's ihm zeigen?«

»Ja, Sir«, erwiderte eine Stimme im Sprecher. Es folgte eine kurze Pause. Dann ging die Tür auf, und ein kurzer, stämmiger Ringertyp kam herein und blinzelte. Er trug merkwürdige, schlechtpassende Kleider, die zu seinem Oranggesicht nicht paßten: eine altmodische Butler-Livree. »Sir?« fragte er.

»Der hier, Brooks«, rumpelte Hallam Speny. »Nehmen Sie ihn mit und überzeugen Sie ihn, daß Catroni tot ist. Zeigen Sie ihm den — Beweis.«

Da hätte ich mißtrauisch werden müssen. Nun, das war ich zwar, aber was konnte ich tun, wenn Hallam eine Gemeinheit vorhatte?

Nichts. Jedenfalls nicht mehr, als ich tat. Ich folgte dem Orang in Butlerkleidung einen mit Gobelins behängten Gang entlang und kam durch eine unverdächtige Tür in einen winzigen Raum mit weißen Wänden.

Ein Toter lag auf einem schmalen Tisch, ein kleiner, dunkelhäutiger Mann. Er hatte ein seltsames Ding auf dem Kopf, eine Art Metallhaube, von der Drähte zu einer klickenden, surrenden Maschine an einer Wandseite führten.

Die Maschine kannte ich; einmal hatte ich sie auf der Akademie gesehen. Man nannte sie Gehirnpumpe. Ein elektronischer Apparat war dies, der die Gedanken aus dem Geist eines Menschen und all seine Geheimnisse herausziehen konnte, allerdings von einem lebenden Gehirn. Es war eine häßliche Maschine, und ich sah noch genau das Plakat vor mir, das im Museum unter dieser Maschine gehangen hatte:

DER GEBRAUCH DIESER MASCHINE IST UNGESETZLICH LAUT INTERNATIONALEM ÜBEREINKOMMEN. SELBST IN KLEINEN DOSEN BEWIRKT EIN ANSCHLUSS GEHIRNSCHÄDEN. EIN LÄNGERDAUERNDER ANSCHLUSS FÜHRT UNWEIGERLICH ZUM TOD.

Der Affenbutler sagte: »Sie wollten doch Catroni sehen? Da ist er. Ist doch mausetot, was?«

»Sie haben ihn getötet!« rief ich scharf. »Er ist nicht mit meinem Onkel ertrunken. Vielleicht ist mein Onkel überhaupt nicht ertrunken! Ich werde dies berichten bei...«

Der Affe griff mit einem langen Arm aus und versetzte mir einen ungeheuren Stoß. In diesen Hängeschultern und langen Armen war eine unglaubliche Kraft, und ich flog durch den halben Raum. »Halt die Klappe«, hörte ich ihn von weither sagen, und dann ging er und schloß hinter sich die Tür.

Einige Zeit verging. Ich versuchte die Tür zu öffnen, wußte jedoch schon vorher, daß ich eingesperrt und in einer Falle war. Da saß ich nun zusammen mit dem Toten vor dieser klickenden, surrenden Maschine und konnte über den Zusammenbruch all meiner Pläne nachdenken.

Die Tür ging auf. Es war wieder der Butter. Bei ihm befand sich mit gefesselten Händen und zornblitzenden Augen ein großer schwarzer Mann — Gideon.

»He, du kriegst Gesellschaft«, höhnte der Affenbutler. »Ich laß euch jetzt allein. Habt eine Menge miteinander zu reden.«

Er schob Gideon so heftig herein, daß er taumelte. Die Tür wurde hinter ihm abgesperrt.

15. Am Grund der Tiefen

Einige Zeit verging. Gideon und ich unterhielten uns kurz. Dann hatten wir nichts mehr, worüber zu reden war. Er hatte draußen vor Sperrys Quartier auf mich gewartet, war überfallen und hereingeschleppt worden; wir waren gefangen.

Gideon hatte recht behalten.

Er lief ruhelos herum, probierte, suchte und spähte. Ich saß ruhig da und versuchte zu überlegen. Wirklich, wir waren in einer verzweifelten Lage. Mein Zweifel an Hallam Sperry hat-ten sich mehr als bestätigt. Er war zwar der Bürgermeister von Marinia, aber trotzdem ein Schurke und Verbrecher. Als Gefangene in seinem Heim waren wir hilflos. Und wir konnten nicht auf Hilfe von außen zählen, denn wer wäre da gewesen, um uns zu helfen? Bob Eskow hatte geleugnet, mich zu kennen, falls er überhaupt meine Mitteilung erhalten hatte.

Die Polizei — gut, sie würde uns helfen, aber dazu müßte sie wissen, in welchen Schwierigkeiten wir waren, und das erfuhr sie ja nicht. Meine Ausweispapiere waren nur bedingt gültig, und wenn ich nicht rechtzeitig beim Inspektor erschien, würde das Paßamt die ganze Sache vergessen. Und Gideon war selbst so etwas wie ein Ausgestoßener, der in Kelly's Königreich hauste, ohne Familie, ohne Freunde, die sich über seine Abwesenheit Gedanken machten.

Nein, auf Hilfe von außen konnten wir nicht hoffen.

Noch weniger auf Hilfe von innen.

Da sagte Gideon: »Jim, komm mal hierher.«

Ich schaute zu ihm hinüber. Er stand neben der klickenden, summenden Maschine und hielt etwas in der Hand, eine Spule mit einem metallischen Faden. »Jim, das war auf der Aufnahmespule«, sagte er aufgeregt. »Wahrscheinlich ist es das, was aus Catroni selbst herausgezogen wurde.«

Ich machte einen möglichst großen Bogen um die Leiche auf dem Tisch und ging zu ihm. Es war gespenstisch, im Gehirn eines Toten herumzupicken. »Was ist damit? « fragte ich.

»Ich weiß noch nicht«, antwortete er, doch er legte die Spule ein. »Es muß aber etwas sehr Wichtiges sein, wenn Hallam Sperry diesen Catroni umbringen muß, um daran zu kommen.«

Er führte den Metallfaden durch ein dünnes Loch zu einem Abspielgerät und legte einen Schalter um. Die Spule begann sich langsam zu drehen und glitt durch einen magnetischen Scanner. Er setzte die Kopfhörer auf, die an der Maschine hingen; sie waren kleiner als jene, die der Tote auf dem Kopf hatte, aber im Muster ähnlich. Einen zweiten Satz reichte er mir.

Ich setzte ihn auf und war sofort viele hundert Meilen entfernt im Kopf eines anderen Mannes. Ich sah, was er sah, fühlte, was er fühlte. Ich beobachtete eine Szene, die sich weit weg vor Monaten abgespielt hatte.

Sie waren in dem Seewagen, Catroni und mein Onkel Stewart und ein Mann namens Westervelt, von dem Sperry gesagt hatte, er sei spurlos verschwunden.

Ich hörte sie miteinander reden, als sei ich dabei; ich sah sie herumgehen, dies und jenes tun, die Geräte bedienen, Hebel bewegen, die den Wagen in die Tiefe schickten.

Dies war nämlich meines Onkels eigener Seewagen, der mit der neuen Edenitbeschichtung versehen war und einen sehr viel größeren Druck als die bisherige Beschichtung aushalten sollte.

Sechs Meilen tief war er nun, sechs Meilen, und noch immer gingen sie tiefer. Mit jedem Faden Tiefe wurden neue Rekorde aufgestellt, und die milchig glänzende Edenit-Panzerung hielt auch diesem ungeheuren Druck stand!

Mein Onkel Stewart klatschte Catroni auf den Rücken. »Es geht«, sagte er lachend. Catroni nickte ungeduldig. Seine Augen hingen am Tiefenmesser vor ihm. In Catronis Helm hörte ich ein gefährliches Flüstern, wortlos zwar, aber verständlich. Mich schauderte, ich lauschte und beobachtete und wußte, was nun kommen mußte.

Noch tiefer sank der Wagen, während Ingenieur Westervelt Geräte nachstellte und Catroni das steigende Niveau der Flüssigkeit in den Schwebetanks anpaßte. Stewart Eden führte sein kleines Schiff. Er sah aus wie ein Krieger, der gegen die Teufelsgötter des sagenhaften Atlantis kämpfte.

Manchmal war die Sicht etwas wolkig getrübt, als sei Catro-nis Aufmerksamkeit auf innere Gedanken gerichtet, die sich nicht mit der Szene vor ihm beschäftigten. Ich sah, daß der kleine Seewagen immer tiefer ging, bis er in fast acht Meilen Tiefe auf dem schlammigen Meeresboden zur Ruhe kam.

Dann war eine wolkige Pause, als verberge Catroni seine Gedanken sogar vor sich selbst. Aber dann und wann konnte ich doch einen Blick erhaschen, einen von meinem Onkel, von Westervelt und Catroni selbst, die eine schimmernde Edenitrü-stung anlegten, die Schleusen überprüften und schließlich auf den Seeboden hinausstiegen. Hier war jetzt sehr wenig zu sehen. Die hellen Flutleuchten des Seewagens, die auf der Oberfläche fünfzig Meilen weit zu erkennen waren, gingen in den Strömungen des Ozeanbodens fast unter. Der Boden selbst war ohne Merkmale, nur Schlamm.

Catroni und mein Onkel kamen miteinander zurück. Wester-velt stand an den Schleusenpumpen, um sie einzulassen. Dann verschwanden Westervelt und mein Onkel in den Maschinenraum.

Und Catroni tat das, wofür man ihn bezahlt hatte.

Während Westervelt und mein Onkel im Maschinenraum waren, entlud Catroni durch Kurzschluß drei ganze Reihen der Kaltröhrenzellen, die das Lebensblut des Schiffsantriebs waren. Er flutete alle Ballasttanks und zerschlug die wundervollen Pumpen, die Stewart Eden gegen den mächtigen Druck konstruiert hatte. Systematisch vernichtete er auch die sonische Verständigungsausrüstung.

Dann wartete er auf die Rückkehr meines Onkels und Westervelts. Als sie kamen, schlüpfte er an ihnen vorbei und rechnete damit, daß sie nicht auf die Instrumentenanzeiger sehen würden. Er wußte, daß auf den ersten Blick von seiner Arbeit nichts zu sehen war, denn er hatte die Pumpendeckel wieder aufgelegt, und die Kaltröhrenzellen sahen so wie immer aus.

An der Schleuse machte er auch die Druckanzüge aus Spezia-ledenit unbrauchbar, die mein Onkel und Westervelt getragen hatten.

Dann floh er. Das Klicken des Schleusenschlosses war die erste Warnung.

Catroni hielt sich in seiner Edenitpanzerung noch etwa eine halbe Stunde beim Seewagen auf. Er wußte natürlich, daß weder mein Onkel, noch Westervelt leicht aufgaben, und er wartete auf das, was sie tun würden.

Er sah, daß sich sehr langsam das Schleusentor wieder schloß. Catroni wunderte sich darüber, und etwas wie Bewunderung war in seinem Geist zu lesen.

Daß die Tür geschlossen wurde, war an sich schon erstaunlich. Die beiden, die dem sicheren Tod ausgeliefert schienen, hatten wohl den Kaltröhrenzellen das letzte bißchen Energie entzogen, um die Motoren in Tätigkeit zu setzen, die jene Schleusentür zuschoben. Es war jedoch hoffnungslos, das Wasser aus der Schleusenkammer selbst pumpen zu können. Sie konnten jetzt nur noch darauf hoffen, daß sie die innere Tür öffnen konnten, und dann schoß das Wasser in das Innere des Seewagens und machte das Leben dort noch unerträglicher. Die Energie, die sie dafür verbrauchten, würde ihnen Wochen ihres Lebens stehlen, denn wenn erst die Zellen völlig leer waren, mußte sie sterben, falls nicht doch die Edenit-Panzerung nachgab und der Wasserdruck sie vorher zerquetschte.

Sie versuchten es. Und es gelang ihnen, einen der Spezialdruckanzüge zu reparieren.

Wir spürten in Catronis Geist Verblüffung und Angst. Er sah, wie sich die Schleuse wieder öffnete, sah eine Gestalt in schimmerndem Anzug vorsichtig heraussteigen, und wir fühlten ein Zögern, ob er den Mann nun angreifen sollte, der es wagte, hier am Boden des tiefen Ozeans weiterleben zu wollen.

Aber der Ozean tat Catronis Arbeit.

Der Anzug war beschädigt, und so konnte auch die Spezial-Edenit-Ausrüstung an den Flickstellen dem ungeheuren Druck nicht standhalten.

Catroni hatte sich außerhalb der Reichweite der Scheinwerfer versteckt. Er sah, wie sich die Gestalt im Anzug ein Stück bewegte, wie der Mann versuchte, den winzigen Propeller anzuwerfen, der ihn in Sicherheit hätte bringen sollen, sah den schimmernden Arm, der sich hob . . .

Eine ganze Seite des Anzuges wurde schwarz!

Der Eden-Effekt, die wunderbare Aktivierung der Metallmoleküle, die den Druck in sich selbst zurücklenkte, ist nur solange wirksam, als der Film milchig schimmert. Wenn dieser Schimmer erstirbt, wird die Anzugbeschichtung zu gewöhnlichem Metall und kann dem Druck des Wassers in diesen Tiefen auf gar keinen Fall widerstehen.

Die dunkle Seite des Anzugs wurde zusammengepreßt wie eine Blechdose in einer hydraulischen Presse. Die andere Seite schwoll an und wurde ebenfalls dunkel. Eine kleine Blase formte sich, die ein wenig stieg und außer Sicht verschwand.

Und eine leichte Strömung trieb den Körper davon.

Catroni wartete noch einen Moment länger, denn er konnte damit rechnen, daß der andere Mann im Seewagen ebenfalls dieses Abenteuer wagen würde. Dann stellte Catroni seinen eigenen Propeller an, und die Energie seines Schulterpacks trug ihn sieben Meilen und mehr nach oben, wo ein gechartertes Amphibien-Tauchschiff wartete ...

Wir hätten noch mehr sehen können, doch das genügte uns. Außerdem wurden wir unterbrochen.

Jemand brüllte und riß mir den Helm vom Kopf, und die fernen Eindrücke löschten aus wie eine Lampe. Der Affenbutler grinste mich an, und Hallam Sperry stand hinter ihm.

»Ha, die Gentlemen sind aber eifrig an der Arbeit«, rumpelte Hallam Sperry. »Spionieren und herumsuchen. Nun, wir ließen euch hier, und da habe ich wohl kein Recht, mich darüber zu beklagen.«

Ich versuchte ihn anzufallen, doch die unglaubliche Kraft des Orangbutlers hielt mich auf. »Sperry!« schrie ich gellend, »Sie haben diesen Gangster angeheuert, um meinen Onkel zu töten!«

Sperry zuckte die Schultern. »Hm, vielleicht hab' ich das getan«, gab er zu. »Hier wird um hohe Einsätze gespielt, junger Mann. Solange man gewinnt, ist es egal, auf welche Art.«

Ich fühlte, wie sich Gideon hinter mir zum Sprung auf Sperry bereit machte, aber auch der Butter bemerkte es. Mich ließ er fallen, sprang zurück und riß einen Revolver aus der Tasche.

»Moment«, warnte er.

Hallam Sperry lachte. »Setzen Sie sich doch, Gentlemen«, befahl er. »Brooks wird sich wesentlich behaglicher fühlen. Sie auch.«

Brooks. Ich besah mir diesen Mann noch einmal, und nun weckte der Name in mir eine Erinnerung. »Oh«, sagte ich. »Jetzt weiß ich's. Sie waren einer von jenen Männern, die mich zusammenschlugen und in den Abwasserkanal warfen.«

Sperry nickte. »Sie haben ein sehr genaues Wahrnehmungsvermögen«, bestätigte er. »Er war es. Aber das ist jetzt vorbei. Wir wollen es also vergessen. Frage: Was tun wir jetzt?«

»Wahrscheinlich dasselbe, was Sie mit meinem Onkel getan haben«, erwiderte ich voll Bitterkeit. »Sie würden mich umbringen, ohne auch nur die leisesten Gewissensbisse zu spüren.«

»Sicher. Wenn es sein muß. Aber ich wünsche ...« Sperry musterte mich voll Berechnung. »Ich wünsche, ich hätte ein wenig mehr Informationen. Dieser Narr Catroni war ein bißchen zu hastig, wie Sie wahrscheinlich selbst gesehen haben. Er hatte den Befehl, zu warten, bis Stewart Eden die Ergebnisse seiner Expedition schriftlich festgehalten hatte. Er hatte vielleicht Angst, das Schiff oben würde nicht auf ihn warten. Er verließ also den Seewagen so vorzeitig. Ich weiß also überhaupt nichts von dem, woran mir lag. Gibt es am Boden der Tiefen nun Uran oder nicht?«

»Mr. Sperry, soll ich sie an die Gehirnpumpe anschließen?« fragte Brooks eifrig.

Sperry schüttelte den Kopf. »Nur Geduld, Brooks«, rumpelte er. »Junger Mann, Sie wissen doch, was die Gehirnpumpe tun kann. Ich mußte sie bei Catroni einsetzen, weil ich nicht glauben konnte, daß er wirklich so dumm war. Ich dachte, er wollte mich betrügen, doch das schien nicht zuzutreffen. Er starb wegen meines Verdachts. Zugegeben, es ist kein schöner Tod, und die Gehirnpumpe ist für jene, die an sie angeschlossen werden, wahrlich kein Vergnügen.« Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen, dann fuhr er wie zu sich selbst sprechend fort: »Ich nehme ja wirklich nicht an, daß Sie etwas über die Angelegenheiten Ihres Onkels wissen, das mir entgangen sein könnte. Aber ich kann nicht das Risiko eingehen, mich zu irren. Ich könnte Sie also leicht an die Gehirnpumpe anschließen und es herausfinden. Natürlich wissen Sie, daß Sie dann tot sein werden, wenn ich's tue.«

»Sperry, mich können Sie nicht bluffen«, sagte ich.

»Bluffen? Das tu ich niemals. Ich erwäge nur die Möglichkeiten. Und ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, daß ich Sie im Moment noch gar nicht tot sehen möchte. Sie sind mir noch immer diese Anteile schuldig. Sind Sie tot, geht das alles an Ihre Erben, wer immer die auch sein mögen. Kreuzen sie auf, muß ich mich mit denen beschäftigen. Können Sie aber nicht gefunden werden, wird das Gericht ersatzweise eintreten und für die Zukunft deren Interessen schützen. Sie verstehen, daß ich hier in Marinia großen Einfluß habe, und eine Katastrophe wäre so etwas nicht, aber es würde mir nicht gerWepwsrieen<<Sie?«: fragte ich.

»Die Anteile«, erwiderte er scharf. »Überschreiben Sie mir die.«

»Und dann was?« forderte ich zu wissen. »Dann töten Sie uns?«

Sperry breitete die Hände aus. »Was soll ich dazu sagen?« erwiderte er leise, trat einen Schritt näher und sah mir mit seinen eisigen Augen tief in die meinen. »Es gibt viel schlimmere Dinge, als nur umgebracht zu werden, junger Mann.« Lange verkrallten sich unsere Blicke ineinander, dann blinzelte er und war wieder ein höflicher, netter, alter Mann.

»Sie sehen, ich spreche mit Ihnen über alles, was ich im Kopf habe. Offen und ehrlich. Das zahlt sich immer aus. Ich will, daß Sie meine Lage klar sehen, Mr. Eden. Ich habe einige Anteile der Marine Mines, doch ich will sie alle. Ich habe den ersten Versuchswagen Ihres Onkels mit der gleichen Ausstattung wie jener, den Catroni für mich — äh — neutralisiert hat. Ich stelle mir vor, daß er ebenso leistungsfähig ist. Ist dort unten Uran, dann will ich es haben. Auf der ganzen Welt herrscht Uranmangel, und der Mann, der genug davon hat, kann sich die ganze Welt dafür kaufen.«

In seinen Augen flackerte animalische Gier, und für einen Moment sah ich Hallam Sperry so wie er war, den Wolfsmenschen, der alles vernichtete, was ihm auf dem Weg zur Ultimaten Macht vor die Füße kam.

Hallam Sperry seufzte schwer und wandte sich ab. »Brooks, Sie kümmern sich um die zwei«, befahl er. »Etwas später will ich noch einmal mit ihnen reden.«

Dann war er gegangen, und die Tür schlug hinter ihm zu.

Wir waren in einer aussichtslosen Lage. Zu einem Ärger waren viele andere Schwierigkeiten gekommen, aber das Schlimmste sollte erst noch kommen.

Und dieses Schlimmste war — Gideon.

Als Hallam Sperry ging, ließ er uns unter Brooks wachsamen Augen zurück. Gideon saß unbeweglich an der Wand, rührte sich lange nicht, und ich machte mir Sorgen. »Gideon?« fragte ich leise.

Er antwortete nicht, sondern starrte nur vor sich hin. Sein Gesicht war faltig und voller Angst. Fast sah ich ihn zittern.

Das war der schlimmste Schock für mich: Gideon schien völlig die Nerven verloren zu haben. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mich auf seine Stärke verlassen hatte, auf seine Weisheit und Geduld — und jetzt stand er unmittelbar vor dem Zusammenbruch.

Es sah recht finster für uns aus.

Brooks bemerkte es und grinste. »Sind doch alle gleich«, meinte er verächtlich. »Der macht uns keinen Ärger mehr. Und du auch nicht«, fügte er kalt hinzu.

»Der einzige Ärger ist nur der, den du dir selber machst«, bemerkte ich. »Damit kannst du nicht davonkommen.«

»Was? Das können wir nicht?« Ehe ich mich's versah, knallte er mir seine waffenscheinpflichtige Hand an den Kopf. Ich taumelte.

»So, das war jetzt für nichts. Also tu nichts«, warnte er mich.

Ich schüttelte den Kopf und erhob mich auf Hände und Knie. Auf der Akademie hatten wir natürlich häufig den Kampf Mann gegen Mann trainiert, und hätte ich auf Gideon zählen können, daß er für Ablenkung sorgte, hätte ich ihn schon angegriffen, obwohl er wesentlich schwerer war als ich und ein Muskelpaket war. Aber Gideon saß noch immer starr hinter mir und schien nicht einmal zu bemerken, was vorging.

»Brooks, dafür wirst du noch bezahlen«, sagte ich. »Im Moment habt ihr uns, aber früher oder später wird dich doch jemand in die Finger kriegen, wenn du kein Schießeisen bei dir hast.«

»Schießeisen?« bemerkte er verächtlich. »Wer braucht denn eines?« Er klopfte sich auf die Tasche. »Da ist's, und da bleibt's. Wenn ich mit euch zwei miserablen Figuren nicht ohne Kanone fertig werde, kann ich gleich freiwillig nach Alcatraz zurückgehen und Steine klopfen.« Er trat einen Schritt näher und stand nun drohend über mir. »Auf die Füße, Kleiner. Ich hab' heute mein Morgentraining noch nicht gehabt. Und wenn du ein bißchen Sport treiben willst — bitte sehr. Sperry macht's nichts aus, wenn ich dich für die Gehirnpumpe vorher ein bißchen weich klopfe.«

Die Gehirnpumpe . . . Das also hatten sie mit uns vor...

»Na, komm schon«, forderte er mich auf, und seine Augen glühten gierig. Er war wirklich ein starkes, wildes Tier mit kräftigen Stiefeln und einer Gemeinheit, die aber nichts Tierisches an sich hatte, weil sie nur ein Mensch aufbringen kann. Es sah ganz so aus, als stehe mir eine harte Zeit bevor.

Ich stemmte mich in die Höhe und sprang ihn an. Es war so, als springe ich einen Tiger-Tank an; er schleuderte mich mit einem Hieb seiner Riesenfaust weg. Er lachte, drosch auf mich ein, ich prallte von der Wand ab und...

Da griff Gideon ein.

Wie ein schwarzer Blitz sprang er auf und hockte dem Orang im Genick. Ich griff wieder an, bezog aber einen Schlag von Brooks, der mich zu Boden schickte. Für einen Augenblick konnte ich nur die beiden beobachten, weil meine Muskeln mir nicht gehorchten. Sie waren ein ungleiches Kämpferpaar — Gideon etwas größer als der Affenmann, aber mindestens fünfzig Pfund leichter. Nach der ersten Überraschung schnaufte Brooks nur ein bißchen, und schon flog Gideon in eine Ecke. Der Butler folgte ihm und erwischte ihn an der Kehle. Diese enormen Pranken schüttelten das Leben aus Gideon heraus. Ich kauerte hier, gelähmt, mußte mit meinem eigenen Körper kämpfen, um aufzustehen und Gideon zu helfen...

Aber Gideon brauchte keine Hilfe. Die harte Zeit in Kelly's Königreich hatte ihn mehr Tricks gelehrt, als wir auf der Akademie hatten lernen können. Ich sah nicht einmal, was eigentlich geschah. Ich sah nur, daß Gideon die Knie hochzog und dann voll ungeheurer Kraft den Affen in eine Ecke beförderte und im nächsten Augenblick über ihm war. Dann griff der Butler nach seiner Waffe.

Im nächsten Augenblick stand Gideon blutend und atemlos über ihm, die Waffe in der Hand.

»Jim, steh auf«, keuchte Gideon. »Wir machen einen kleinen Spaziergang.«

16. Vater Neptun: Farmhelfer

Wir kamen irgendwie heraus. Ich weiß nur noch, daß Gideon führte und der Butler mißmutig mitstapfte und Türen aufsperrte, während Gideon nach anderen Bediensteten Sperrys Ausschau hielt. Wir hatten Glück. Keiner hielt uns auf. Natürlich hatte der Butter noch mehr Glück, denn Gideon hielt die Waffe auf ihn gerichtet. Wir nahmen den Butler mit zu den Aufzügen, dannsprangen wir hinein und ließen ihn stehen. Wir hatten es eilig.

Warnend griff Gideon nach meinem Arm. Es waren noch andere Passagiere in der Kabine, also konnten wir hier nicht über unsere Pläne reden. Wir fuhren immer weiter hinunter, zur untersten Ebene der Lagerhäuser, ehe mich Gideon am Ärmel zupfte und mit mir ausstieg. Dann folgten wir einem langen, muffigen Korridor, bogen in einen Seitengang ein und hörten nun das Wasser rauschen.

Wir waren wieder zurück in Gideons Eremitenversteck, auf der Rampe über dem tosenden Abwasser. »Gut, Junge«, sagte er, »hier sollen sie uns mal finden!«

Gideons kleiner Vorrat an Lebensmitteln und Feuerholz war noch intakt. Er machte sich sofort daran, ein Feuer anzuzünden und einen Topf Wasser aufzusetzen, damit wir Tee bekamen, und ich versuchte inzwischen, in meinem Kopf alles auszusortieren.

»Ich versteh's nicht, Gideon«, sagte ich. »Brand Sperry sollte nicht hier sein. Er müßte doch auf der Akademie sein.«

»Sein Alter muß ihn wohl hergerufen haben«, meinte Gideon.

»Aber das kann er doch nicht! Ich meine, wenn Sperry mitten im Jahr einfach weggeht, verdirbt das seine Chancen der Graduierung, und dann ...«

»Vielleicht, ist ihm das egal, Junge.« Gideon reichte mir düster eine winzige Tasse Tee, die ich schnell wegstellte, weil ich mir daran die Finger verbrannt hatte. »Vielleicht ist die Akademie für Sperry im Moment nur eine Tüte kleiner Kartoffeln. Paß auf, da schmort etwas ganz Großes.« Nachdenklich musterte er mich über den Rand seiner Teetasse. Er trank den Tee so heiß, daß er Asbestlippen haben mußte. »Überleg dir doch: Du wurdest den ganzen Weg von den Vereinigten Staaten nach Marinia verfolgt. Das waren Sperrys Leute. Glaubst du, die tun's nur zum Spaß? Das war erstens. Zweitens: Einer dieser Männer versuchte dich zu ermorden. Glaubst du. das war nur ein Witz? Drittens: Jemand machte sich die Mühe, sich hier für dich auszugeben und dich nebenbei fast umzubringen. Jim, das wird allmählich ein verdammt schlechter Scherz!«

»Aber warum das alles?«

Gideon stellte seine Teetasse ab und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Was hat dein Onkel in den Eden Tiefen gesucht, Jim?« wollte er wissen.

»Nun ja, Uran natürlich.«

»Uran.« Er nickte. »Und warum herrscht auf der ganzen Welt ein solcher Uranmangel, daß überall Energie gespart werden muß? Warum ist Uran so knapp, daß einer, der ein Vorkommen entdeckt, damit praktisch sein eigenes Todesurteil unterschreibt? Uran! Uran ist Macht, und Macht ist das, was Hallam Sperry über alles in der Welt liebt.«

»Aber Gideon, ein Mann wie Hallam Sperry braucht so etwas doch gar nicht zu tun! Er ist doch reich und mächtig, ist der Bürgermeister von Marinia, hat Schifffahrtslinien und TiefseeMinen und sonst noch jede Menge Eigentum.«

»Warum?« Gideon spitzte die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich dir das richtig sagen kann, Jim. Du mußt in Hallam Sperrys Geist hineinschauen, um die Antwort zu erfahren. Macht ist eine Krankheit. Je mehr du hast, desto kränker bist du. Und Hallam Sperry ist so krank, daß es nicht mehr schlimmer kommen kann. Marinia? Jim, Marinia ist zu klein für ihn!«

»Aber. . .«

»Aber nichts, Jim.« Er stand auf und kramte in den Spalten der Wand nach Decken, die er sauber gefaltet aufgeräumt hatte. »Ich weiß nicht, ob du's bemerkt hast, aber es ist ziemlich spät, und wir haben einen harten Tag hinter uns. Wir wollen jetzt lieber schlafen. Vielleicht können wir am Morgen ein paar Antworten finden.«

Ich schlief zwar, aber sehr schwer und unruhig und von wilden Träumen gequält. Als ich aufwachte, war Gideon nicht da.

Ich suchte die Rampe nach beiden Seiten hin ein ganzes Stück ab und fand ihn nicht. Es waren schlimme zwanzig Minuten. Dann hörte ich, daß sich vorsichtige Schritte näherten. Ich verdrückte mich in eine Spalte, bis der Mann, der da kam, zu sehen war. Und es war Gideon.

Er lachte mich an. »So früh schon auf, Jim?« begrüßte er mich. »Ich dachte, du würdest mindestens noch eine Stunde schlafen.«

»Wo warst du?« fragte ich. »Ich dachte schon ...«

»Du dachtest, der alte Hallam Sperry hätte mich weggeholt, was? Ich hatte nur ein kleines Geschäft zu erledigen, das ist alles.« Er nahm einen Rucksack ab. »Hier, da ist Frühstück. Wir kochen jetzt und essen, dann besuchen wir einen Freund von mir. Vielleicht hat er ein paar Informationen für uns.«

Wir aßen ziemlich schnell, aber dann bestand Gideon darauf, noch etwas auszuruhen. »Vertrau dem alten Gideon«, sagte er. »Ich habe einen Freund da draußen, der inzwischen Informationen ausgräbt. Man muß ihm ein bißchen Zeit lassen. Hier sind wir außerdem sicherer als sonst irgendwo. Und behaglicher haben wir's auch.«

Behaglicher — damit hatte er sicher recht. Als Gideon endlich meinte, es sei an der Zeit, führte er mich durch Nebenwege und Tunnels, wie ich sie mir nicht einmal im Traum vorgestellt hätte, zu Vierteln von Thetis, von denen ich nichts ahnte. Wir kamen heraus in einer breiten, hohen Kammer, wo der Boden mit einer grünlichen, schleimigen Flüssigkeit bedeckt war und die Luft nach Seetang und lodinen roch. Gideon blieb am Eingang stehen.

»Weißt du, Jim, wofür in Thetis ein solcher Raum gut ist?« fragte er. »Hier, die Antwort liegt vor deinen Augen.«

Über den ganzen Boden waren Ballen von nassem Kelp und anderen Seegewächsen aufgestapelt, durchwegs auf niederen Regalen, nur eine Handbreite über dem Boden. Aus diesen Pflanzenballen tröpfelte grünlicher Saft, und daher stammte die Nässe. »Das hier ist nämlich die Ablaufkammer. Was in den Farmen draußen geerntet wird, kommt hier herein. Da wird es gestapelt, damit die Flüssigkeit abläuft, dann wird es in Ballen gepreßt und kommt zum Weiterverarbeiten.«

»Das riecht aber ziemlich kräftig.«

Gideon lachte. »Versuch mal, ein paar Minuten lang den Geruch auszuhalten. Ich bin gleich wieder da.«

Da stand ich nun, und er ging vorsichtig durch die weite Kammer, bis er meinen Blicken entschwand. Niemand sonst war in der Nähe. Ich hörte ferne Stimmen, aber dieser Ablaufraum brauchte anscheinend keine oder wenig Aufsicht.

Lange brauchte ich nicht zu warten, dann kam Gideon. Er keuchte. »Komm, Jim. Wir müssen hier 'raus! Sperry hat die ganze Stadt auf uns gehetzt, wir müssen ganz schnell weg!«

Fast ohne zu denken, folgte ich ihm den Weg zurück, den wir gekommen waren, wieder durch die schmalen Tunnels, in denen sich Gideon so gut auskannte. Unterwegs berichtete er mir: »Ich hab' einen Freund von mir gebeten, er soll sich mal umhören, was da vorgeht. Jim, es gibt Ärger! Sperrys ganze Polizei ist hinter uns drein. Bei Sicht schießen, ist der Befehl.«

»Aber das kann er doch nicht!«

»Jim, er kann alles tun. Er ist der Bürgermeister, das Gesetz in Thetis. Wir müssen sofort von hier verschwinden.«

»Aber wohin können wir gehen?«

»Da ist doch der Ozean, Junge! Wohin denn sonst? Wohin würde dein Onkel gehen, wenn er in Schwierigkeiten wäre? Doch in die Tiefen!«

»Aber, Gideon, wir können zu den Behörden gehen und alles erklären. Sperry kann doch nicht einfach Gesetze umkehren!«

»Versuchen kann er's jedenfalls«, erklärte Gideon noch immer keuchend. »Verstehst du nicht, Junge? Sperry ist hier in Thetis das Gesetz. Wir müssen uns früher oder später gegen ihn stellen, ganz gewiß, aber nicht jetzt und nicht so. Unser Wort steht gegen das seine. Man würde uns vor Gericht nur auslachen. Und vergiß nicht, du hast nicht mal einen Paß! In der Minute, da du in eine Polizeiwache gehst, bist du auch schon verhaftet — falls du solange lebst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Was nützt es uns denn, wenn wir wegzukommen versuchen? Wir kommen zur Gangway von Sperrys Linienschiffen und dann . . .«

Gideon grinste. »Wer hat was von Linienschiffen gesagt? Na, komm schon mit.«

Er ging voran, ich folgte zögernd. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Zweimal versteckten wir uns in Seitengängen als wir in der Ferne die scharlachroten Polizeiuniformen sahen.

Endlich kamen wir zu einem trostlosen Gewirr schmutziger Tunnels, wo das subsonische Pochen mächtiger Maschinen sich zu lautem Dröhnen vereinte. Es war die Hauptpumpstation für die Abwässer von Thetis.

»Jetzt leise«, warnte Gideon. »Wir müssen jetzt ein paar Gesetze brechen.«

Er ging voran durch einen engen Tunnel in eine Kammer, die von einer einzigen flackernden Troyon-Röhre erhellt war. Ein ältlicher Mann saß da und schien zu schlafen; der Kopf fiel ihm immer auf die Brust. Der ganze Raum hatte an den Wänden viele Taucherausrüstungen. Wir blieben kurz am Eingang stehen. Gideon war leise wie ein herumwandernder Geist, als er den alten Mann nachdenklich musterte. Er schüttelte den Kopf und zog mich in den Tunnel hinaus.

»Das Risiko ist zu groß«, flüsterte er. »Der Wachmann hätte in zwei Minuten die Polizei da. Wir müssen den anderen Port versuchen.«

»Und was tun wir dann?«

»Einen Druckanzug stehlen, Jim. Was hast du gedacht? Wir gehen in den Ozean hinaus.«

»Gideon, das ist Wahnsinn«, wandte ich ein. »Wohin können wir gehen? In einem Druckanzug kommen wir nicht zu einer anderen Stadt. Man würde uns ja doch nur erwischen. Komm, wir gehen nach oben zurück . . .«

»Und stellen uns Sperry zur Verfügung, was? Jim, manchmal wundere ich mich wirklich, was man euch auf dieser Akademie beigebracht hat. Überlaß es mir, Jim. Wir holen uns ein paar Anzüge, dann schleichen wir zum Farmgürtel hinaus. Dort können wir uns vielleicht einen Seewagen ausborgen. Wenn, dann gehen wir nach Seven Dome. Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen, daß wir dort aufgepickt werden könnten. Das Risiko gehen wir ein. Alles klar? Also jetzt — Anzüge fassen. Hier mit diesem Wächter können wir sie nicht kriegen.

Wir müssen es am anderen Port versuchen.«

Ich überlegte. »Na, gut«, gab ich schließlich nach. »Du mußt es am besten wissen. Warum können wir den Wachmann nicht einfach ein bißchen verschnüren? Er ist allein, wir sind zwei. Wir können . . .«

Gideon schaute mich entgeistert an. »Das ist die Hauptpumpstation, Jim. Was dann, wenn etwas zusammenbricht, wenn wir weg sind, und der Wachmann ist gefesselt? Thetis würde sofort ertrinken, Junge. Schau mal, tu mir einen Gefallen. Hör zu denken auf. Komm nur mit!«

Ich kam mit.

Zugeben mußte ich dann, daß es doch irgendwie zu laufen schien. Der andere Port war im Moment nicht besetzt, vermutlich machte der Wachmann gerade eine Runde. Wir fanden ein paar Edenit-Druckanzüge, die uns paßten, untersuchten sie schnell und schlüpften durch die Ausgangsschleuse, die wir hinter uns wieder versiegelten.

Um uns herum kochte das Wasser und prasselte an unsere Beschichtung. Selbst die Spritztropfen kamen mit solcher Wucht herab, daß sie mich fast von den Füßen rissen. Aber es war nur ein paar Augenblicke, bis sich die Schleusenkammer gefüllt hatte und der Druck dem Außendruck angepaßt war.

Wir öffneten die äußerte Schleusentür und kletterten eine metallene Leiter hinab, die auf den Seeboden führte.

Der Schlamm war fast knietief. Gideon gestikulierte. Wir waren noch zu nahe an Thetis und konnten unsere Helmsprechgeräte noch nicht benutzen; ich verstand, was er wollte, ich sollte die Schwimmvorrichtungen meines Anzugs ebenso einstellen, wie er es mit den seinen tat. Auf die Art reduzierten wir unser tatsächliches Gewicht auf wenige Pfund, so daß wir zwar nicht in die Meilen offenen Wassers über uns hinausschwimmen konnten, aber auf der Schlammoberfläche konnten wir gehen und brauchten nicht mühsam zu waten.

Auf Zehenspitzen gingen wir langsam und mit den schwebenden Bewegungen von Ballettänzern über den Seeboden. Es war fast so wie bei den Übungen in den flachen Gezeitengewässern der Karibik. Ich fühlte mich sicher in der Taucherausrüstung, die mein Onkel der Welt geschenkt hatte und spürte nicht den erdrückenden Druck von außen, von den Meilen Wassers über uns. Hier war der Schlamm dunkel und nackt. Die Lichter von Thetis hinter uns spendeten noch so viel Helligkeit, daß wir miteinander Kontakt halten konnten; unsere Helmlampen durften wir noch nicht einschalten, da wir sonst gesehen werden konnten. Ein paarmal schlüpften über uns die Lichter eines Tiefseelinienschiffs weg, aber sonst war das dunkle Wasser absolut still.

Etwa eine halbe Stunde lang glitten wir über den kahlen Boden, dann hatten wir eine kleine submarine Hügelkette zu nehmen. Vor uns sahen wir die langen Kelp-Zweige, die Lichter und Bauten der Tiefseefarmen, die Thetis umgaben.

Das Kelp war nur ein entfernter Verwandter des Tangs, den wir aus dem Sargossomeer kannten. Die Kelpstämme waren dick, die Vegetation sehr üppig, da sie sich an den Abwässern von Thetis mästete und am Licht der Schwimmbatterien. Andere Vegetationen hatte es noch nie hier gegeben. Es gab viele Unterarten, die sich in der Farbe des Spektrums, vor allem in der Größe unterschied, angefangen von winzigen moosähnlichen Gewächsen bis zu Stämmen, die sich zwanzig Meter und mehr in das eisige Wasser vorschoben. Ein Teil davon war für die Ernährung bestimmt, ein anderer Teil als Brennstoff und Treibmittel, wieder andere dienten als lebende osmotische Minenmaschinen, die in der Lage waren, reine Elemente aus dem umgebenden Seewasser herauszuziehen. Das waren die wunderbarsten Gewächse von allen, denn sie ermöglichten eine richtige Ernte von Meersalzen, aus denen Magnesium, Eisen, Gold, Silber und viele andere Mineralien der Tiefsee herausgefiltert werden konnten. Aus natürlichem Kelp holte man jene Iodine heraus, die die Chemiker früher Zeiten so sehr erstaunt hatten. Natürlich hatten alle diese Gewächse auch ihre Grenzen. Und einige wenige Metalle wie Uran, das wichtigste von allen, gab es im Seewasser nicht in solchen Mengen, die ein umständliches Herausfiltern überhaupt gerechtfertigt hätten. Man mußte sich also hier auf die Minen verlassen.

Sofort dachte ich wieder an meinen Onkel Stewart, der jetzt unter einem Berg von Wasser begraben lag, weil Hallam Sperry ihn beseitigen wollte. Die Sichtplatte meines Druckanzugs beschlug sich . . .

Gideon stieß mich in den Rücken und brachte seinen Helm an den meinen. Das Sprechgerät stellte er auf die geringste Lautstärke ein. »Siehst du das Gebäude?« Er deutete auf eine Lichtergruppe, die hinter dem wehenden Kelp fast verborgen war. »Dort haben sie die Seewagen geparkt. Das ist nämlich nicht nur eine von Sperrys Farmen, sondern auch noch eine TiefseeFlottenbasis. Sie ist natürlich bewacht, aber halte dich dicht bei mir, Jim, wir schaffen's schon.«

Er führte, ich folgte. Das Wachstum war hier sehr üppig, und ab und zu mußten wir anhalten und uns mit unseren Seemessern, die in Kniescheiden im Anzug steckten, freihacken. Weit rechts von uns schwebten Erntemaschinen durch das Wasser und sammelten das Kelp in dicken Bündeln ein, die in die Stadt transportiert wurden zur Weiterverarbeitung. Die Ernte war hier nicht auf eine Jahreszeit beschränkt, sondern erfolgte das ganze Jahr hindurch. Nach den Erntemaschinen kamen Kultivatoren und Sämaschinen, und kaum war die alte Ernte eingebracht, wuchs schon die neue heran.

Wir hatten Glück. Niemand sah uns, obwohl Seewagen in unserer Nähe herumschwammen und ein paar Gruppen in Tiefseeanzügen in den Kelpdschungeln arbeiteten. Und wenn uns jemand sah, dann nahm man wohl an, daß wir auch nur Arbeiter waren. Und Gideon arbeitete sich so vorsichtig durch das Kelpgewirr, daß wir keinem auffielen.

Bald hatten wir den Porteingang des Gebäudes erreicht, um den die Seewagen auf Abruf angedockt waren. Natürlich konnten wir jetzt noch nicht miteinander sprechen. Ich mußte mich auf Gideons Zeichen verlassen. Wir krochen zum Eingangsport und blieben stehen. Er spähte in alle Richtungen, dann betätigte er die Portkontrollen. Um uns herum spürten wir eine rollende Bewegung, als mächtige kleine Pumpen Innen- und Außendruck ausglichen. Dann öffnete sich der Port, wir traten in die Schleusenkammer und schlössen die äußere Tür.

Sofort begann das Wasser zu fallen.

Wären wir mit einem Seewagen gekommen, so hätten wir eine Kontrolle über uns ergehen lassen müssen. Ein Wagen wäre durch Mikrosonar entdeckt worden, und dann hätten etliche Alarme geklingelt, aber wir, die wir durch den Kelpdschungel gekommen waren, befanden uns im blinden Fleck der Sonaranlage, und niemand konnte vermuten, daß jemand so dumm sei, zu Fuß über den Seeboden zu kommen. Man hatte sonst ja auch wenig Grund, dies zu tun. In den Farmen war nichts von erheblichem Wert außer den Seewagen selbst und den Farmmaschinen.

Als das Wasser aus der Schleusenkammer verschwunden war und die innere Tür aufging, stapfte er mir voran durch die Eingangskammer. Hier waren Männer zu sehen, die an Sprechverbindungen arbeiteten oder sonst durch die Korridore liefen, aber die schauten uns kaum an. Gideon bewegte sich so sicher, als kenne er sich genau aus; in Wirklichkeit war dies auch so, denn er hatte in seinem langen Tiefsee-Leben auf solchen Farmen gearbeitet. Sofort ging Gideon zum Anzugraum. Dort zogen wir unsere Anzüge aus, und zum Glück waren wir allein.

Dann stahlen wir einen Seewagen.

Es war, bis zu einem gewissen Punkt natürlich, erstaunlich leicht. Gideon führte wie immer an, und wir marschierten ganz offen durch die langen Korridore der Farmverwaltung zu den Eingangsports, wo die Wagen angedockt waren. Dann wurden wir aber vorsichtiger. Gideon entdeckte ein kleines Büro. Als niemand zu sehen war, schlüpften wir dort hinein und warteten. Der Bereitschaftsraum lag direkt vor unserer Tür, und dort gaben die Wagenführer ihre Berichte ab und empfingen ihre Befehle. Manchmal war ein Dutzend Männer im Raum, ein paar Augenblicke später war gar niemand da.

Wir hörten uns ihre Unterhaltung an und versuchten inzwischen zu bestimmen, in welchen Seewagen wir wohl am leichtesten schlüpfen konnten, welcher auch genügend Treibstoff für die Fahrt zu Seven Dome hatte. Etliche Bemerkungen kamen mir rätselhaft vor. Ihnen entnahm ich, daß einer der Seewagen ein Spezialfahrzeug und anders als die anderen war.

Und da dämmerte mir allmählich etwas. Ich stieß Gideon aufgeregt an, doch er wisperte mir zu, ich solle warten, alle seien jetzt bald weg.

Die Gruppe der Wagenführer unterhielt sich und ging. Das schien unsere Chance zu sein. Gideon winkte mir zu, und wir beide verließen auf Zehenspitzen das kleine Büro und gingen in den Bereitschaftsraum, hinter dem die Seewagen warteten.

»James Eden!« erscholl hinter uns eine mir bekannte Stimme.

Ich wirbelte herum. An der anderen Tür zum kleinen Büro lehnte ein großer junger Mann in Zivilkleidung. Brand Sperry!

Gideon war schneller als ich. Er hatte noch die Waffe, die er Sperrys »Butler« abgenommen hatte, sie war in seiner Hand, und der junge Sperry blickte in ihre Mündung, bevor ich noch erkannte, wer er war. »Sperry, sei ruhig«, warnte ihn Gideon leise. »Sei ruhig, wenn du am Leben bleiben willst.«

Brand Sperry wollte sich umdrehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Er musterte uns kalt. »Was wollt ihr? « fragte er.

Ich holte tief Atem. Ich hatte den Hauch einer Idee, bezogen aus den Gesprächen der Wagenführer, die ich mit angehört hatte. Mir schien, daß dieser Spezialwagen tatsächlich sehr speziell sein könnte. Hallam Sperry hatte ja behauptet, er habe etwas sehr Spezielles; das war in dem Raum, in dem der tote Catroni gelegen hatte ...

»Wir wollen meines Onkels Versuchswagen, Sperry«, sagte ich. »Wir wissen, daß er hier ist. Wo ist er?«

Gideon war großartig. Er schaute mich schnell an, dann steifte er mir den Rücken. »Richtig, Sperry. Und beeil dich!« Vermutlich hat er aber wohl für einen Moment gedacht, ich sei wahnsinnig geworden.

Aber das war ich nicht. Brand Sperrys kalte Augen flammten, und er schnappte: »Dieser Eskow, dieser kleine ... Er hat es euch verraten!«

»Sperry, halt die Klappe«, warnte ihn Gideon scharf. .»Du willst doch hier keine Aufmerksamkeit erregen. Denn sonst bist du als erster dran, verstanden?«

»Moment mal, Gideon«, bat ich. »Was ist das mit Eskow?«

»Das wißt ihr doch«, schnaubte Sperry. »Ich hab's meinem Vater erzählt. Ich wußte doch, daß es ein Fehler war, ihn herzubringen. Wir haben alles getan, daß er Ihre erste Nachricht nicht bekam, aber wir wußten natürlich, daß Sie ihn früher oder später erreichen würden. Und ich wußte, daß er Ihnen alles verraten würde.«

»Sperry«, antwortete ich, »ich habe Eskow nur durch die Sichtluke am Dock gesehen. Es ist ja ziemlich egal. Aber wo ist er?«

Sperry zuckte die Schultern. »Vor ein paar Stunden hab' ich ihn im Bereitschaftsraum gesehen. Mein Vater hat ihn vom Liniendienst weggenommen, weil er glaubte, wir könnten aus ihm vielleicht Informationen über Sie herausholen. Ich habe ihn gewarnt.«

Ich schaute Gideon flehend an, doch er las meine Gedanken. »Nein, Jim. Wir haben keine Zeit, alte Freunde zu suchen. Jeden Augenblick kann jetzt jemand kommen, und was ist dann mit uns? Du, Sperry — wir wollen den Seewagen. Du bringst uns zu ihm, verstanden?«

»Das werde ich nicht tun!« fuhr Sperry auf, und für einen kurzen Augenblick bewunderte ich ihn fast, wie er sich gegen uns stellte. »Legen Sie die Kanone weg. Ich lasse die Posten ... «

Gideon lachte breit. »Mr. Sperry«, sagte er leise, »ich würde dir nicht raten, uns Ärger zu machen. Wirklich nicht. Und nun schlug er einen anderen Ton an. »Du junger Idiot!« knurrte er. »Jim Eden und ich waren nahe an der Gehirnpumpe, die dein Vater illegal anwendet. Wir wissen, daß er Jims Onkel versenkt hat, daß er Jim mehrmals zu ermorden versuchte. Wir kennen jeden dreckigen Trick und jeden korrupten Beamten hier in Marinia und wissen, daß jeder nach der Pfeife deines Vaters tanzt. Glaubst du, ich würde es mir zweimal überlegen, dich zu erschießen, wenn du's darauf anlegst? Mensch, setz dich in Bewegung! Bring uns zu Edens Seewagen, aber sofort, hörst du? Und dank deinem Glücksstern, daß ich dich nicht schon totgeschossen habe!«

Brand Sperry nahm Vernunft an. Er führte uns zu dem Seewagen, denn er wußte, daß Gideon die Waffe in der Tasche umklammert hielt. Scharf befahl er dem Wagenmeister, er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern, als der Mann Fragen zu stellen begann. Der Himmel weiß, was der Wagenmeister dachte, aber da er ja für Sperry arbeitete, wußte er sicher auch, daß es sich nicht auszahlte, einem, der Sperry hieß, in den Weg zu treten.

Steif marschierte Brand Sperry vor uns her in die Ein- gangsschleuse des Seewagens, und nicht einmal schaute er zurück. Wir folgten ihm.

Dann waren wir drei drinnen, das Schiff wurde versiegelt und legte von der kleinen Kuppel ab.

Wir waren frei!

»Klug gearbeitet, Jim«, bestätigte Gideon. »Ich hörte zwar, was die Wagenführer sagten, aber mir fiel nicht im Traum ein, daß dies der erste Tiefsee-Wagen sein könnte, den dein Onkel gebaut hatte. Also gehört er dir, und wir brauchen ihn nicht einmal zu stehlen.«

»Wir werden schon sehen, wie das Gesetz darüber denkt«, schnappte Brand Sperry. »Ihr seid ganz gemeine Diebe!«

Gideon sah ihn an und machte nur eine kleine Bewegung mit der Waffe. Da schwieg Brand Sperry.

Gideon übergab mir die Kontrollen, und ich setzte Kurs nach Seven Dome. Er stand neben mir und beobachtete mich nachdenklich, bis ich mich unbehaglich fühlte. »Wolltest du nicht dorthin, Gideon?« fragte ich schließlich. »Seven Dome? Du hast doch gesagt.. .«

»Ich weiß schon, was ich gesagt habe, Jim«, gab er zögernd zu. »Nur ...«

»Was nur?«

Er sah sich im Wagen um. Er sah fast wie jeder andere aus, vielleicht war die Edenit-Beschichtung heller als sonst, weil sie wohl auch dicker war, viel stärker aufgeladen. »Das ist doch die gleiche Beschichtung wie in dem Wagen, in dem dein Onkel Stewart unterging, nicht wahr?« fragte er.

»Ich denke schon«, antwortete ich.

»Dann müßte er also einigen Druck aushalten können. Richtig?«

Jetzt war ich allmählich an Gideons Art gewöhnt, auf komplizierten Umwegen dorthin zu gelangen, wohin er wollte; ich nickte nur und drängte ihn nicht zum Weiterreden.

Erst bog er einmal in eine andere Richtung ab. »Erinnerst du dich an das, was wir auf dem Gehirnpumpenband von Catroni sahen?« Ich nickte. »Klar, daran erinnerst du dich. Nachdem Catroni herausging, folgte ihm ein Mann. Nur war dessen Anzug beschädigt worden. Deshalb konnte der Anzug dem Druck nicht standhalten, und er wurde getötet.«

»Das ist richtig, Gideon. Mein Onkel.«

»War er das?« fragte Gideon scharf. »Es war ja noch ein Mann an Bord, Westervelt, der Ingenieur.«

»Du meinst also, der Mann, der getötet wurde, könnte vielleicht nicht mein Onkel gewesen sein?« fragte ich langsam.

»Das ist richtig, Jim.« Gideons dunkles Gesicht war sehr nüchtern. »Das ist ja nur eine Vermutung. Erhoffe dir nicht allzu viel, Jim. Selbst wenn der erste, der 'rauskam, Westervelt war, dann könnte es dein Onkel später mit dem zweiten Anzug versucht haben, wenn er ihn flicken konnte. Oder die Beschichtung des Seewagens hat den Wochen, die er da unten liegt, doch nicht standgehalten. Oder die Luft ist ihm ausgegangen ... Oh, das ist nur eine ganz winzige Chance. Aber, was, Jim, wenn er dort unten am Boden der Eden Tiefen noch lebt?«

Ich schaute ihn lange und forschend an. Dann beschäftigte ich mich wieder mit den Instrumenten, und wir wurden ganz schön durchgebeutelt, als ich den Wagen herumwarf.

»Gut. Das werden wir jetzt herausfinden«, sagte ich. »Oder wir gehen beim Versuch unter.«

17. Hinab in die Tiefen

Wir drei waren eine recht merkwürdige Crew, als wir durch das kalte, dichte Wasser zu den Eden Tiefen vorstießen.

Brand Sperry setzte sich nach den ersten Minuten auf den Sitz des Navigators und starrte in die Schwärze hinaus. Er redete nichts. Und ich war froh, daß ich ihn nur sehen und nicht dete nichts. Und ich war froh, daß ich ihn nur sehen und nicht auch noch hören mußte.

Zum Glück wußten wir ziemlich genau, wo mein Onkel zu finden sein müßte, denn Catroni hatte angegeben wo er das Schiff verlassen hatte. Durch Catronis Augen sah ich noch immer das ganze Instrumentenbrett vor mir. Wenn ich auf der Akademie etwas gelernt hatte, so war es das Ablesen der Instrumente in jedem Tiefsee-Schiff. Es konnte mir also keine Schwierigkeiten machen, unser Schiff genau über das meines Onkels zu setzen.

Ich schätzte, die Reise würde etwa eineinhalb Stunden dauern. Ich stellte die Instrumente auf Automatik, aber ich konnte mich trotzdem vom Pilotensitz nicht trennen. Ich saß da und behielt die Instrumente im Auge und sah dem Entfernungsmesser zu, der langsam seinen Bogen beschrieb, beobachtete, wie die Meilen an uns vorüberglitten, und kaum konnte ich die Hände vom Tiefenruder lassen; dabei wußte ich, daß der Autopilot die Stabilisatoren und Tiefenruder zuverlässiger bediente als es je ein Mensch tun konnte.

»Bist du müde, Jim?« erkundigte sich Gideon. »Willst du ein wenig schlafen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Aber wenn du willst...«

»Ich kann auch nicht. Bist du sicher, daß du uns zu Stewarts Wagen bringen kannst?« fragte er ein bißchen besorgt.

Ich zuckte die Schultern. »Ich garantiere nur, daß ich den unseren genau über seinen setzen kann. Runtergehen auf die Tiefe — das ist eine andere Sache. Ich kann mit dem Wagen tauchen. Ich weiß nur nicht, ob er dem Druck standhält. Vergiß nicht, Gideon, das ist der erste Versuchswagen, den mein Onkel gebaut hat. Vielleicht ist er so widerstandsfähig wie der andere, vielleicht aber auch nicht.«

Gideon nickte nachdenklich. »Nun, das werden wir heraus-finden.«

Das schloß also alle Möglichkeiten mit ein.

Wir pflügten weiter durch die dunklen Wasser. Die kleinen Motoren des Seewagens summten fast unhörbar, die Reibung des an der Edenitbeschichtung vorüberstreifenden Wassers war wie ein leises Zischen zu hören. Der Autopilot klickte dann und wann langsam, und die Instrumente schläferten mich fast ein. Es gab noch andere Geräusche . ..

Abrupt kam mir zu Bewußtsein, daß ein Geräusch nicht stimmte.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf und lauschte. Von irgendwo im Wagen kam ein schwaches Kratzen. Es hörte auf, dann vernahm ich es erneut.

Auch Gideon hörte es. Ich sah auch die Spannung in seinen Augen, als wir beide gleichzeitig die gleiche Idee hatten.

Da war noch jemand im Seewagen!

Gideon warf einen drohenden Blick auf Brand Sperry, der aber nicht auf ihn achtete, und trat leise, die Waffe in der Hand, zur Tür des anderen Abteils. Narren, die wir waren, daß wir nicht den ganzen Wagen untersucht hatten! Ich war furchtbar wütend auf mich selbst.

Gideon riß die Tür auf, spähte hinein, tat einen Satz, und dann hörte ich einen Tumult.

Einen Moment später erschien Gideon wieder. »Jim«, sagte er und stöhnte schwer dazu, »wir hätten jetzt einen ordentlichen Tritt verdient. Schau mal, wer nebenan am Kommunikator war! Weiß Gott, was der alles gefunkt hat!«

Er deutete mit der Waffe auf eine andere Gestalt, die unsicher durch die Tür kam ...

Bob Eskow!

»Bob«, sagte ich, und er starrte mich an.

»Dacht« ich mir's doch, daß du's bist, Jim«, sagte er. »Aber ich konnte es nicht glauben. Jim Eden — ein Dieb!«

Ich konnte seine Miene nicht deuten. »Junger Mann«, sagte Gideon ziemlich scharf, »Jim Eden ist ebenso wenig ein Dieb wie...«

Ich unterbrach ihn. »Bob, hör mir zu. Du mußt mir vertrauen.« So kurz es ging, schilderte ich ihm alles, was mir zugestoßen war, seit ich nach Marinia kam; meine Hoffnungen, meines Onkels Schiff zu finden, die Falschheit der Sperrys, die Gefahren für unser Leben.

Es war eine lange Geschichte, und ich wußte nicht, ob er mir glaubte, während ich erzählte. Als ich fertig war, seufzte er und schaute auf den Boden.

,,Jim, ich weiß nicht recht. . .«, sagte er müde. »Es ist schwer zu verstehen... Zugegeben, ich wußte, daß etwas nicht stimmte. Als ich dich an den Landebrücken sah und du davonliefst. . .«

»Bob, ich bin doch gar nicht davongerannt! Ich versuchte dich doch zu sehen, ich habe dir eine Mitteilung geschickt. Aber man sagte mir, du wolltest mich nicht sehen.«

Er schaute mich grimmig an. »Ich bekam keine Nachricht. Verstehst du? Entweder bist du davongerannt, oder es ist das wahr, was du sagst, und die Sperry-Bande hinderte mich daran, dich zu sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Wie soll ich das jetzt wissen? Als du an Bord dieses Schiffes kamst, machte ich gerade eine Inspektion. Ich dachte mir, daß du's bist, Jim, und ich wußte absolut nicht, was ich tun sollte. Als einzige Lösung fiel mir ein, Thetis zu benachrichtigen, damit sie einen Patrouillenwagen hinter uns her schicken. Ich dachte, Jim, die Gerichte müßten entscheiden . ..«

»Die Gerichte sind Hallam Sperry«, warf Gideon grimmig ein.

Bob nickte langsam. »Das sagst du. Aber . . .«

Eine kleine Glocke schellte und störte unsere Unterhaltung. Ich lief zu den Instrumenten zurück. »Wir sind genau über dem Netzpunkt«, rief ich. »Wenn unsere Berechnungen stimmen,

dann ist der Seewagen meines Onkels direkt unter uns!«

Mit einer Handbewegung schaltete ich den Autopiloten ab und ging auf Handbetrieb über. Bob Eskow warf ich einen zögernden Blick zu.

Er nickte, wenn auch ebenfalls zögernd. »Wir sind jetzt schon so weit, Jim, und du kannst weitermachen. Ist das Schiff deines Onkels dort unten, dann beantwortet das viele Fragen. Aber Jim, vergiß nicht, daß ich Thetis benachrichtigt habe. Jeden Moment könnte ein Wagen der Seepatrouille aufkreuzen.«

Gideon lachte leise. »Ha, ha, Junge«, sagte er, »da haben sie aber einen feinen Job, wenn sie uns folgen wollen. Das sind die Eden Tiefen. Jim, 'runter!«

Ich nickte und berührte die Instrumente. Die Schwimmtanks begannen sich zu füllen, als die winzigen Pumpen zu dröhnen begannen und Seewasser in die Tanks pumpten. Ich setzte Kurs für einen weiten Kreis und stellte die Tauchflügel ein. Das Klinometer zeigte erst drei, dann fünf Grad Tauchwinkel an. Und dann drückte ich die Tauchflügel langsam auf die vollen fünfzehn Grad Schnelltauchwinkel und öffnete die Propellermotoren . . .

Unser kleiner Seewagen kletterte hinab in die Eden Tiefen . ..

Schon jetzt waren wir an der untersten Grenze der meisten Seewagen, sogar mit der Standard-Edenit-Ausrüstung. Fast vier Meilen Wasser waren über uns. Der Druck hätte jeden Stahl zerquetscht und sogar Quarz zu Mehl zerrieben. Immer noch tiefer gingen wir hinab, viereinhalb Meilen, und da sah ich etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte. Erst glaubte ich, meine Augen seien überanstrengt, aber dann schimmerte ein wenig Licht an den Wänden der Kabine. Wie Hexenfeuer war es; erlosch und flackerte wieder, wurde stärker, und dann wurde mir klar, daß dies der Schimmer der Edenit-Beschichtung war. Und dieses Licht, das sich auf der Innenseite des Rumpfes zeigte, ließ mich ahnen, welch ungeheuren Kräfte dagegen drückten, Kräfte, die jedes Metall zerstörten und sogar normales Edenit durchdringen konnten.

Und wir sanken noch immer.

In einer weitgezogenen Spirale machten wir tausend Fuß in der Minute. Nun waren wir auf fünf Meilen Tiefe, dann sechs, und die Hexenfeuer an der Wand des Rumpfes wurden immer heller.

Brand Sperry starrte sie an. Sein Gesicht war eine Maske. Gideon musterte ihn, dann warf er mir einen warnenden Blick zu. Brand Sperry war im Bann der Angst.

Nun ja, mir liefen auch Schauer das Rückgrat entlang. So tief war ich vorher noch nie gewesen, und nur drei Männer hatten bis jetzt eine solche Tiefe erreicht. Zwei von ihnen waren sicherlich tot, der eine sehr schnell nach dem Versagen seines Anzuges, der andere sehr langsam und qualvoll unter Hallam Sperrys Gehirnpumpe. Und der dritte Mann war mein Onkel, der Erfinder jener sich in flackernden Lichtern manifestierenden Kraft, die das Wasser aus unserer Kabine fernhielt. Und er hatte diese Tiefe erreicht in dem Schiff, das er nach dem Versuchsmodell gebaut hatte.

Waren viele Verbesserungen nötig gewesen? Ich wußte es nicht.

Sechs Meilen Wasser — sogar eine Edenit-Beschichtung mußte unter diesem ungeheuren Druck leiden und Ermüdungserscheinungen zeigen. Ein leises Ping, so leise, daß wir es unter normalen Umständen sicher nicht gehört hätten, alarmierte uns. Wir saßen alle aufrecht da, mit weit aufgerissenen Augen und gespannten Gesichtern warteten wir auf den Wassereinbruch ...

Er kam nicht. Es war nur ein Geräuschchen gewesen, sonst nichts. Aber Brand Sperry drehte durch. »Eden halt!« schrie er. »Bringen Sie uns sofort hinauf! Das ist Mord!« Er funkelte mich wie irr an. Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, doch da sprang er mich an. Ich duckte mich weg.

Gideon war auf der Hut. Als Brand Sperry an mir vorbeisprang, traf ihn Gideons Faust direkt hinter dem Ohr. Sperry gab keinen Laut von sich; bewußtlos lag er da.

Wir drei starrten ihn wortlos an. Endlich räusperte sich Gideon. »Junge, dieser Pirat da stellt mir eine Frage. Du und ich, Jim, wir beide wissen, was wir tun. Wir müssen das Risiko eingehen. Aber was ist mit Sperry und deinem Freund Bob? Jim, deren Risiko ist es nicht.«

Ich schluckte. Wirklich, es war nicht einfach. Die Versuchung war groß, zu sagen, na, klar, Gideon', und den Seewagen wieder nach oben zu lenken, so schnell es nur ging. Jetzt war das Flackern an der Wand von betäubend greller Farbe. Ich hörte, wie das belastete Material stöhnte und ächzte, und ich konnte mir genau vorstellen, wie es sein würde, wenn die Beschichtung dem Druck nicht standhielt, und die See donnernd über uns hereinbrach . . .

Bob Eskow war der ruhigste von uns allen. Sein Gesicht schien aus Seebasalt geschnitzt zu sein.

»Weiter, Jim«, sagte er.

Sechseinhalb Meilen. Sieben. Ich riß meine Augen los von dem Tiefenruder, dann schaltete ich den Scanner-Antrieb des Mikrosonars ein. Auf dem Sichtschirm erschienen schwache Farbpunkte. Noch war nichts zu erkennen.

»Jim«, sagte Gideon leise, aber so, daß ich unwillkürlich meine Augen vom Schirm losriß. »Jim, schau mal auf den Boden.«

Durch die Tür tröpfelte ganz dünn ein Faden Wasser ...

18. Der Grund der Welt

Training hat ungeheuer viel zu bedeuten.

Ich glaube, wäre mir auf der Akademie nicht eingebleut worden, daß panische Angst der größte Feind ist, dann wäre ich wohl in diesem Moment zusammengebrochen. Ich hätte den kleinen Seewagen auf kürzestem Weg wieder nach oben gebracht, den Ballast aus den Tanks geblasen und uns damit wahrscheinlich alle getötet.

Eine leise, eindringliche Stimme in mir, die mehr Verstand hatte als ich, erklärte mir, daß mein Bild nicht ganz stimme. Für einen Sekundenbruchteil veränderte ich nichts an den Instrumenten.

In diesem Sekundenbruchteil begriff ich. In einer Tiefe von sieben Meilen tröpfelte das Seewasser nicht. Woher dieses Sik-kerwasser stammte, wußte ich nicht, aber es kam jedenfalls nicht durch ein Leck.

Ich sprang von den Instrumenten auf und sperrte sie in der gegenwärtigen Stellung. Dann rannte ich zurück ins andere Abteil. Dort waren die Wände eisig kalt, weil niemand sich darin aufhielt und daher auch keine Wärme erzeugt wurde. Die Feuchtigkeit war Kondenswasser, und das war durch die Tür getröpfelt, als dünner Faden.

Langsam kehrte ich an meinen Platz zurück und erzählte Bob und Gideon, was es war. Keiner sagte ein Wort.

Brand Sperry rührte sich wieder. Gideon stand neben ihm, schaute zwar noch Bob an, war aber bereit, sich mit Sperry zu beschäftigen, falls es dieser wieder auf einen Streit anlegte. Aber er schien nicht dazu in Stimmung zu sein. Er öffnete die Augen, schaute mich einmal an, dann starrte er zur Decke hinauf.

Ich ging an meine Kontrollen zurück. Auf dem Mikrosonarschirm erkannte ich nun einen winzigen, torpedoförmigen Umriß, der ein wenig verwischt und in den Grund eingesunken war. Aber er war leicht zu erkennen. Dieser Umriß mußte das Schiff meines Onkels sein; ja, es war gar nicht möglich, daß es sich um etwas anderes handelte.

Die Beschichtung hielt. Ich schickte nun wirklich ein leises Gebet zum Himmel, als ich unser Schiff auf das andere setzte. Wir spürten einen winzigen Ruck, dann lag Hülle an Hülle. Nun berührten wir meines Onkels Schiff. Oder sein Grab?

Was nun? Gideon und ich schauten einander fragend an.

Es war unmöglich, von einem Schiff zum anderen zu kommen, da wir keine Anzüge hatten, die einem solchen Außendruck standhielten. Die Anzüge im Seewagen waren mit Stan-dard-Edenit beschichtet wie alle übrigen in den Seewagen der Ozeane. Für vier Meilen Tiefe waren sie absolut sicher, sogar für fünf, aber für siebeneinhalb?

»Jim, die Greifer«, sagte Gideon.

Ich nickte. Es war die einzige Möglichkeit. Ich bewegte unser Schiffchen in genauer Übereinstimmung mit dem Muster des anderen auf dem Mikrosonar, dann öffnete ich vorsichtig die Rheostaten für die magnetischen Greifer. Für diese Geräte war es eine recht große Ladung, aber es mußte gehen. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht.

Nun begann ich mit den Ballastpumpen und drückte mit ihnen einen Teil des Wassers aus den Schwimmtanks; nicht zuviel, denn das würde unsere Greifer zu sehr belasten, und die Magnete konnten brechen. Dann schaukelte ich die zwei miteinander verbundenen Seewagen hin und her mit den Propellerantrieben, bis ...

Es war schon eine merkwürdige Sache, und in seichtem Wasser wäre ein solches Manöver unmöglich gewesen. Hier war es theoretisch auch nicht möglich, aber praktisch . . .

Im seichten Wasser hätte es Strömungen und Turbulenzen gegeben, und jede Bewegung des Schiffchens im Schlamm hätte ihn noch mehr aufgerührt, den Wagen noch tiefer hineingewühlt.

Aber am Boden der Eden Tiefen lag das Wasser kalt und tot da. Die Saugkraft des Schlammes war nicht übermäßig groß, und es dauerte auch nur ein paar Momente, bis wir frei waren.

Ja, wir waren frei! Ich setzte Kurs für eine ziemlich steile Aufwärtsspirale, um über die Gebirgszüge wegzukommen, die die Eden Tiefen umgeben. Wir waren auf dem Rückweg nach Thetis.

Thetis war unser Ziel, doch nicht zu erreichen.

Wir hatten das Gebirge noch nicht passiert und waren noch ein paar hundert Faden unterhalb der normalen Tiefen für Tiefsee-Wagen, als wir die ersten Anzeichen von Schwierigkeiten bemerkten.

Es war nur ein flackernder Schatten am Rand des Mikrosonars, ein Schatten, der sich teilte und bewegte, wieder vereinte und sich in drei Schatten aufteilte.

Die Seepatrouille!

»Jim, daran bin ich schuld«, sagte Bob Eskow. »Ich habe sie gerufen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du getan, weil du es für richtig hieltest, Bob. Für uns heißt die Frage: was tun wir jetzt?«

»Aufgeben«, meldete sich Brand Sperry. Nun, da wir die unheimliche Tiefe verlassen hatten, schien er sich wieder zu erholen; frech war er ja schon wieder. »Sie sind abgeschlagen. Egal, was Sie im Sub Ihres Onkels finden — gegen meinen Vater kommen Sie nie an, Eden!«

Wir hörten gar nicht hin. Gideon überlegte laut: »Wenn ich mir so die Karten anschaue, fällt mir was auf. Wir sind nur fünfzig Meilen von Fisherman's Island entfernt. Dort hatte dein Onkel einen Posten für Lufttransportverbindungen, als er in diesem ganzen Gebiet seine Minenoperationen laufen hatte. Ich glaube, die Insel ist jetzt verlassen. Ist ja auch ganz winzig und mit einem Korallenriff. Keine Eingeborenenbevölkerung.«

»Was könnte uns die Insel nützen?« fragte Bob.

Gideon zuckte die Schultern. »Wir könnten uns da eine Weile verstecken«, schlug er vor. »Und... Ja, über Sie weiß ich ja nicht Bescheid, Mr. Eskow, aber Jim und ich, wir beide kön-nen's gar nicht erwarten, in Stewart Edens Seewagen zu kommen.« Warum, das sagte er nicht, aber ich wußte auch so, was er dachte und vorhatte. Keiner von uns wollte nur eine Hoffnung aussprechen, die mehr als verwegen war. Nur, wir wußten ja nicht sicher, ob Onkel Stewart tot war.

Gideon erklärte die Vorteile seines Planes: Die Route zur Insel war für uns sowieso perfekt. Wir konnten uns fast die Hälfte der Strecke an diesen Bergrücken klammern und waren noch unterhalb der normalen Seetiefen, auch außerhalb der Reichweite der Orter. Eine Mikrosonarausrüstung hat gewisse Grenzen. Es ist schwieriger, nach unten zu suchen als nach oben, da die Reflexe vom Seegrund stören. Und wenn wir den Bergrük-ken überschritten, dann konnten wir uns dazu Täler aussuchen, die ein gutes Versteck boten. Die Seepatrouille müßte dann schon ein unerhörtes Glück haben, uns zu finden.

Für diese Fahrt brauchten wir nicht einmal zwei Stunden, obwohl wir zwischen den Tiefseegipfeln wahre Schlangenlinien fuhren. Die Wagen der Seepatrouille hatten wir dauernd auf unserem Sonarschirm, aber sehr weit weg. Ich konnte sicher sein, daß sie uns noch nicht entdeckt hatten.

Wir kreisten erst noch um die Unterwasserberge, die sich dann zu Fisherman's Island erhoben und peilten die Oberfläche an. In nur wenigen Metern Tiefe fand ich auf der Sonarplatte den Kanal zur Lagune innerhalb des Korallenriffs. Manchmal ging es recht knapp her, und unser Beutewagen hing nur wenig über dem Seegrund. Nur etwas über hundert Meter vom Strand entfernt tauchten wir auf.

Mir schien es Jahre her zu sein, seit ich zum letztenmal die Erdoberfläche gesehen hatte. Ich öffnete die obere Luke und schob meinen Kopf durch. Vorsichtshalber kniff ich die Augen zusammen, damit die Sonne mich nicht blendete.

Aber es war gar keine Sonne. Es war Nacht, zahllose Sterne glänzten oben, und das Wasser schien mit leuchtendem Leben angefüllt zu sein. Der Strand war dagegen ganz schwarz. Ich hatte fast vergessen, daß es so etwas wie Tag und Nacht gab!

Schnell prüfte ich mein Chronometer nach; noch etwa eine Stunde bis Sonnenaufgang. Als ich mir so den Horizont besah, glaubte ich, ein ganz schwaches Schimmern zu erkennen.

»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte Gideon.

Wir brauchten eine volle Stunde, bis wir meines Onkels Seewagen in die richtige Position gebracht hatten. Wir setzten die Greifer und die hydraulischen Extensoren ein, bis es uns gelang, das Schiff unter dem unseren herauszuholen und es auf den Korallensand zu setzen. Die Flut war hoch, und das Wasser spülte über die Oberseite des Wagens. Wir warteten also noch, erst eine halbe Stunde, dann noch eine halbe Stunde, bis die Wasserlinie erheblich unter der Einstiegsluke lag.

Wir vier standen oben auf dem kleinen Seewagen und warteten, bis das Wasser weit genug fiel. Brand Sperry tat hochmütig und schwieg; Bob Eskow war hundemüde; Gideon und ich dagegen waren so gespannt, daß wir kaum mehr den Augenblick erwarten konnten, da wir die Luke öffnen durften.

Schließlich konnten wir nicht mehr länger warten. Wir überließen es Bob Eskow, Brand Sperry zu bewachen. Gideon und ich mußten uns sehr anstrengen, bis wir die Luke offen hatten und hineinklettern konnten. Eine Sturzsee folgte uns, aber das war alles.

Innen war es dunkel und feucht; die abgestandene, heiße Luft war reines Gift. Ich hustete heftig, dann auch Gideon. Er war vorsichtiger gewesen als ich. Während ich wie betäubt herumschaute, klickte es, und Gideon hatte seinen Handscheinwerfer eingeschaltet.

Wir waren in dem hinteren Abteil. Um uns herum sahen wir die Beweise für Catronis Sabotage, das verwüstete Instrumentarium, demolierte Ausrüstung, zerschlagene Maschinen. Es würde viel Zeit vergehen, bis dieses Schiff wieder eingesetzt werden konnte.

Aber wir hielten ja nicht nach den Verwüstungen Ausschau, sondern suchten jeden Winkel des Abteils nach einer Spur von meinem Onkel ab. Wir fanden nichts und hörten auch kein Geräusch.

Ich glaubte, dies war der schlimmste Augenblick für mich. Den Seewagen selbst hatten wir zwar gerettet, und das war sicher schon ein großer Triumph, doch ich hatte so sehr gehofft, meinen Onkel lebend darin vorzufinden! Ich hatte irgendwie das Gefühl gehabt, ich brauchte nur die Luke zu öffnen, und mein Onkel komme lachend heraus ...

Gideon berührte meine Schulter. Wir hatten keine Hoffnung mehr, als wir zum vorderen Abteil vorstießen.

Hier gab es keine Zerstörungen. Mein Onkel und sein Freund hatten sich hier aufgehalten, als sie, die Nichtsahnenden, von Catroni so furchtbar betrogen wurden. Catroni hatte das Schiff gemordet. Hier war die Dunkelheit noch schwärzer. Gideon ließ das Licht seines Handscheinwerfers spielen . . .

Gemeinsam und gleichzeitig sahen wir es: einen Haufen Lumpen, so sah es aus, vor dem Instrumentenbrett. Wir machten gleichzeitig einen Satz, Gideon ein wenig länger als ich.

Das Gesicht war blaß und still, aber es war das meines Onkels Stewart. Die Augen hatte er geschlossen. Keine Spur von Leben oder Bewegung war zu entdecken. Gideon beugte sich über ihn.

Die Zeit stand still. Schließlich blickte Gideon mit großen Augen zu mir auf.

»Ehre sei Gott, Jim Eden«, sagte er im Ton glücklicher Er-leichterung. »Er lebt!«

19. Zurück von den Toten

So war es gewesen, als mein Onkel Stewart zu uns zurückkehrte.

Bob Eskow half uns. Wir drei brachten ihn vorsichtig durch die enge Luke in unseren eigenen Seewagen. Stewart öffnete die Augen und sah mich an. Er lächelte. Aber zum Sprechen fehlte es ihm noch an Kraft.

Wieder einmal half mir die Ausbildung an der Akademie. Für die Männer der Tiefsee-Flotte waren Erschöpfung, Verhungern und die Giftwirkung verbrauchter Luft nichts Fremdes. Man hatte uns unerbittlich gedrillt in allen Methoden der Wiederbelebung. Aus dem kleinen Sanitätsschrank des Seewagens nahmen wir einige Anregungsmittel heraus und vor allem jene neuen chemischen Mischungen, die auch einen fast Toten ins Leben zurückholen. Stewart brauchte das alles. Während ich eine Zuckerlösung für intravenöse Ernährung mischte, spritzte ihm Gideon schnell eine ganze Reihe von Stimulatoren, und Bob baute den Herzstimulator auf, damit er zur Hand war, falls wir ihn brauchten. Wir hatten meinen Onkel Stewart lebend wiedergefunden, und jetzt konnten wir ihn natürlich nicht sterben lassen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir an ihm arbeiteten. Es war vermutlich kaum länger als eine halbe Stunde, doch für uns blieb die Zeit stehen. Ebenso gut hätten es Sekunden oder Jahre gewesen sein können.

Erst als die letzte Injektion gemacht war, begann die Zeit wieder zu ticken. Die Nährlösung tropfte in seine Adern, und nun öffnete mein Onkel Stewart wieder die Augen.

Sie waren wach und klar, warm und fröhlich, so wie ich sie aus meiner Kindheit an der Küste von New London in Erinnerung hatte.

»Hallo, Jim«, flüsterte er.

Wie kann man uns übelnehmen, daß wir in der wilden Erregung dieses Augenblicks einige Kleinigkeiten vergaßen?

Wir setzten Onkel Stewart so bequem auf, wie es in der Enge eines Seewägens überhaupt möglich war. Wir wickelten ihn warm ein und hielten ihn so ruhig wie nur möglich, und dann sahen wir einander verblüfft an. Uns fiel etwas ein.

Was war aus Brand Sperry geworden?

Wir überließen Gideon meinen Onkel, und Bob und ich rannten zu unserem Seewagen. Er schaukelte sanft in der ablaufenden Flut und sah harmlos und verlassen aus.

Das war er auch. Brand Sperry war verschwunden.

Bob und ich schauten über die friedliche Lagune, doch der Frieden war eine Täuschung. Wir wußten es, denn wir hatten die dreieckigen Rückenflossen der Haie gesehen, wir kannten auch die Höhlen der Riesenkraken und die anderen Gefahren der Seichtwasser, die so harmlos aussahen.

»Wenn er so dringend weg wollte, dann lassen wir ihn doch gehen«, meinte Bob Eskow.

Ich nickte. »Wir können ja auch nichts tun. Und hier bleiben können wir auch nicht ewig. Lassen wir ihn in Ruhe. Er hat keinen Ärger mehr.«

Wir kehrten zu unserem Seewagen zurück und fühlten uns erleichtert und entspannt; zum erstenmal seit Monaten, schien mir.

Stewart Eden hatte sich aufgesetzt, und seine Augen glänzten. Gideon erklärte, jetzt sei er kräftig genug und könne reden, wenn wir ihn nicht aufregten. Stewart lachte leise. »Nach der großen Kur, die ich gerade hinter mir habe, könnt ihr mich gar nicht aufregen, Gideon. Glaub mir, es war eine Zeit der Ruhe.

Viel Schlaf, viel Muße. In dieser Beziehung habe ich gar keine Klagen ... «

Wir drängten ihn, er solle uns seine Geschichte erzählen, doch viel war das nicht. Wir hatten aus dem Geist des toten Catroni sowieso das meiste entnommen, und den Rest hatten die Verwüstungen in seinem Seewagen erzählt. Nur noch ...

»Uran«, wisperte mein Onkel, und seine funkelnden Augen schauten weit über uns hinaus. »Viele tausend Tonnen höchstprozentigen Erzes, Jim! Man braucht nur den Schlamm wegzukratzen, dann ist es da. Die Eden Tiefen sind das reichste Lager spaltbaren Materials, das die Welt je gesehen hat, und mit meinem neuen Edenit braucht man es nur zu holen. Das haben wir bewiesen.« Er lehnte sich an die Wand und keuchte vor Anstrengung. »Das ist Energie für die Welt, Energie für alle Maschinen, die der Mensch in den kommenden Jahrhunderten bauen kann. Billige Energie und in Mengen, von denen die Welt nicht einmal ahnt.« Er lächelte. »Weißt du, Jim, daß du ungeheuer reich sein wirst?«

»Das gehört nicht mir, Onkel Stewart!« protestierte ich. »Es gehört alles dir. Du hast den Claim auf Eden Tiefen eingebracht. Du hast diese Beschichtung erfunden.«

»Was hat mir das alles genutzt, als ich eingeschlossen da unten lag und zusehen mußte, wie der Sauerstoff immer weniger wurde? Nein, Jim, das gehört nicht mir, es ist für uns alle. Ein Anteil für dich und einer für mich — ja, das schon; und einer für Gideon und Bob Eskow. Da brauchen wir nicht kleinlich zu sein. Es ist genug da für uns alle. Jim, wir sind auf Tausenddollarscheinen herumgelaufen. Wir werden reicher sein als der alte Hallam Sperry je war und sein wird.«

»Hallam Sperry«, sagte Gideon nachdenklich. »Mister Eden, da fällt mir was ein. Entschuldigen Sie.« Er verschwand in den Kontrollraum, und einen Moment später hörten wir ein Geräusch, als habe er einen Schlag empfangen.

Er kam zurück mit tiefen Falten auf der Stirn. »Vielleicht halten wir die Gratulationen noch ein wenig auf. Könnten verfrüht sein. Während wir da 'rumsitzen, unser Geld zählen und Pläne machen, wie wir's ausgeben wollen, ist der Ärger unterwegs. Und er kommt schnell.«

Ich sprang ans Mikrosonar, und da sah ich, daß Gideon recht hatte. Quer über den blauen Schirm zog sich eine dünne Spur. Das war auch ein Seewagen, nicht für extreme Tiefen, aber sehr nahe; auch nicht auf Patrouille, sondern direkt auf Fishermen's Island ausgerichtet. Dafür gab es nur eine Erklärung. Brand Sperry hatte eine Gelegenheit gefunden, an die Schiffskommunikation zu kommen und Alarm zu schlagen. Und seines Vaters Schiff war uns nun auf der Spur.

»Alle Luken sichern!« schrie ich Bob Eskow zu, und er gehorchte, dem Akademiedrill entsprechend, sofort. Gideon saß schon an den Instrumenten, und ich startete die Motoren. Wir schlüpften aus der Lagune hinaus und gingen auf Tiefe. Hoffnung hatten wir keine, daß wir entkommen konnten. Sie hatten uns gesehen und waren zu allem entschlossen. Wir konnten nur noch fliehen, mehr nicht.

So schnell es ging und die Maschinen es erlaubten, stiegen wir hinab in die pazifischen Tiefen. Minutenlang gingen wir immer tiefer. Auf dem Schirm beobachteten wir die Spur des Verfolgers. Sie holten nicht erkennbar auf, aber ich wußte genau, daß unser Glück einmal ein Ende haben würde. Unser kleiner Seewagen hatte eine ungeheure Belastung hinter sich. Es war ja noch primitiv gebaut, und bei der Rettung meines Onkels waren wir sicher bis an die äußerste Grenze seiner Belastbarkeit gegangen. Wenn wir nur soviel Abstand halten konnten, daß wir vor dem Verfolger Thetis oder eine andere Unterwasserstadt erreichten! Dort konnten wir wenigstens hoffen, Sperrys Schergen und Ganoven so lange zu entgehen, bis wir einen Beamten fanden, der so hoch über Sperry stand, daß ihn dieser nicht zu bestechen gewagt hatte ...

Das war natürlich aussichtslos. Zur nächsten Stadt brauchten wir einige Stunden. Und bei unserer Geschwindigkeit mußten wir mit einem baldigen Zusammenbruch unserer Energievorräte rechnen.

»Geh tief hinab«, sagte mein Onkel. »Vielleicht können wir sie bluffen.«

Ich blinzelte ihn an und schöpfte wieder Hoffnung. »Bluff? Onkel, das ist kein Bluff. Du hast recht. Auf die Art können wir ihnen ewig auskommen. Wir gehen auf den Grund der Eden Tiefen, und da erreichen sie uns nie. Wir können . . .«

»Nein, Jim.« Er schüttelte den Kopf. »Selbst am Grund der Eden Tiefen kommen wir ihnen nicht aus. Sie kreisen nur über uns und warten. Wenn wir auftauchen, und das müssen wir einmal, sind sie da. Aber es ist noch viel schlimmer. Schau.«

Er deutete auf ein Schott. Ich verstand nicht gleich.

Gideon tat es. »Das ist ein Leck«, sagte er düster.

Stewart Eden nickte. »Das ist ein Leck, und wir sind etwa tausend Faden tief. Hätten wir meinen eigenen Wagen statt diesem ... Aber wir haben ihn nicht und können deshalb nie auf den Boden der Eden Tiefen gehen, mein Junge. Wir können nur hoffen. Sperry zu überreden, sonst. . .«

Es war ein verzweifeltes Spiel, doch es mußte gewagt werden.

Hallam Sperry hatte nun alle Trümpfe in der Hand. Wir wandten uns von dem winzigen Leck ab und schauten auf den Mikrosonarschirm, auf dem der kleine Lichtpunkt unseres Verfolgers langsam näherrückte. Es war hoffnungslos.

Einen Augenblick lang glaubten wir eine Chance zu haben. Der Lichtpunkt stieg hinauf zu Fisherman's Island. Ich dachte: jetzt haben sie uns verloren. Oder sie glauben, wir seien noch auf der Insel.

Ich wußte jedoch gleich selbst, daß dies nicht stimmte. Nur einen Augenblick lang zögerte der Lichtpunkt, dann glitt er an einem Unterwasserberg entlang und war auf unserer Spur.

Hallam Sperry hatte nur solange angehalten, daß er seinen Sohn abholen konnte. Das hatte ihn nur Minuten gekostet, und weitere Verzögerungen würde es nicht geben.

Nach einer Stunde hatten wir das Ende vor uns.

Mein Onkel Stewart war auf den Füßen, und in seiner leisen, heiser flüsternden Stimme klang kalte Wut mit. »Ihr verdammten Seebanditen! Ihr miserablen Kinder aller Teufelsfische! Ah, Hallam Sperry, wie es mich gelüsten würde, dich den verdienten Weg gehen zu sehen! Dem Tod kann ich entgegensehen, aber daß solche wie du die Welt regieren — das tut weh.«

»Mr. Eden, setzen Sie sich hin und ruhen Sie aus«, redete ihm Gideon zu. »Sie erschöpfen sich damit ja nur.«

»Mich erschöpfen! Ich erschöpfe diesen Sperry, wenn ich ihn je in die Finger bekomme, Jim.«

»Jawohl, Sir«, antwortete ich automatisch.

»Jim, ich habe dir versprochen, du darfst auf Tausenddollarnoten Spazierengehen, und jetzt kann ich mein Versprechen nicht halten. Es tut mir leid, Junge. Jetzt kann ich dir nur das Grab eines Tiefseemannes versprechen.«

»Das ist gut genug für mich, Onkel Stewart«, antwortete ich. »Aber ich würde es sehr hassen, wenn Hallam Sperry die Kontrolle über die Eden Tiefen bekäme.«

Um Stewart Edens Lippen lag wieder das alte, kämpferische Lächeln. ,,Junge, wenn das alles ist, was dich stört«, sagte er mit seiner Wisperstimme, in der das alte Lachen war, »das können wir erledigen. Eskow, können Sie Thetis auf den Kommunikator kriegen?«

»Ja, Sir. Aber sie können uns nicht mehr rechtzeitig erreichen.«

»Natürlich nicht. Holen Sie Thetis jedenfalls herein, mehr will ich nicht.« Bob tat es, und mein Onkel schrieb sorgfältig eine lange Mitteilung auf den Rücken einer Karte der Eden Tiefen.

Es dauerte lange Minuten; der Lichtpunkt kam immer näher. Aber endlich hob Bob den Kopf. »Kontakt mit Thetis hergestellt, Sir!« meldete er.

»Gut. Hier ist die Mitteilung«, antwortete mein Onkel lachend.

Bob nahm sie und las die erste Zeile. »Da ist aber keine Adresse vermerkt, Sir. An wen soll sie gehen?«

»An alle, die daran interessiert sind, Junge! Nicht warten. Die Mitteilung muß herausgegangen sein, ehe Hallam Sperry uns einholt. Ein kleiner Rammstoß seines Wagens, und wir gehen auf wie eine Auster.«

Bob sah bestürzt drein, doch als er weiterlas, schaute er erst ungläubig drein, dann grinste er breit. »Aye, aye, Sir«, sagte er fröhlich und beugte sich über das Gerät.

Ich schaute ihm über die Schulter und las folgende Mitteilung:

An alle, die es angeht:

Hier spricht Stewart Eden. Wir werden verfolgt und in Kürze gerammt und versenkt werden von einem Seewagen, der entweder von Hallam Sperry befehligt wird oder in seinem Auftrag handelt. Hallam Sperry war der Komplize, als mein Ver-suchs-Tiefsee-Wagen demoliert wurde, während ich mich in den Eden Tiefen befand. Sperry ist nun im Besitz eines von zwei eodstierenden Modellen, die mit einer neuen Form der Edenit-Beschichtung versehen sind. Diese Beschichtung macht es möglich, jede Wassertiefe, die es auf Erden gibt, aufzusuchen. Mit dieser Beschichtung wird es auch möglich sein, die riesigen Unranerzfelder am Grund der Eden Tiefen ab-zubauen. Ich, Stewart Eden, übertrage hiermit alle Titel und Rechte an der Herstellung dieser neuen Beschichtung der ganzen Welt, für immer und unwiderruflich. Die Herstellung- formel ist wie folgt: Ein Generator, der ein K-87Magnetstriktionsjels erzeugen kann, wird in Reihen verbunden mit. . .

Der Rest war Technik, die Wirkung offensichtlich: Mein Onkel Stewart hatte Hallam Sperry seines Super-Edenits beraubt und es gleichzeitig der ganzen Welt vermacht! Die Milliarden, die dieses Verfahren ihm eingebracht hätte, konnte Hallam Sperry jetzt abschreiben. Vielleicht hatten wir damit auch unser Leben verspielt, aber Hallam Sperry konnte die Eden Tiefen nicht mehr zu seinem eigenen Profit ausbeuten!

20. Duell in den Tiefen

Der Lichtpunkt in der Mitte des Mikrosonarschirms war unser eigener Wagen, aber der Verfolger war nun so nahe, daß sich die beiden Punkte fast berührten.

Diese Subs sind bewaffnet; aber bei der Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegten, sind Waffen nutzlos. Sie haben Torpedos und Seeraketen und Minen, aber nichts davon ist schneller als ein mit voller Geschwindigkeit dahinrasender Seewagen, besonders in diesen Tiefen. Und wir waren einander so nahe, daß eine Explosion, die uns vernichtete, auch Hallam Sperrys Wagen zerstört hätte. Allein die Druckwellen hätten schon den Rumpf beider Fahrzeuge eingedrückt.

Wir mußten also nur fürchten, gerammt zu werden, und das konnte jetzt jeden Moment geschehen.

Mein Onkel Stewart hatte sich nun so erholt, als habe er einen Monat der Ruhe unter Troyon-Lampen verbracht; er war an den Instrumenten. Den Seewagen hatte er gebaut, und er konnte den letzten Knoten herausholen. Einen Vorsprung vor Sperry schaffte er jedoch nicht. Jede Minute kam er eine Spur näher, jede Sekunde mußten wir nun mit dem Rammstoß rechnen, der die Platten unseres Rumpfes bersten ließe und uns in die Tiefe und in den Schlamm schickte.

Wir waren schon zu tief, und von Sicherheit konnte keine Rede mehr sein. Gideon und Bob Eskow versuchten eine Leckstelle nach der anderen abzudichten, aber die Dichtung wurde vom Wasserdruck noch schneller herausgedrückt wie sie hineingetrieben wurde. Wir waren jetzt fünfzehnhundert Faden tief, also unterhalb der Sicherheitszone eines normalen Seewagens und zweimal so tief, wie es unser hinkendes leckendes Schiffchen eigentlich zuließ.

An Flucht war nicht zu denken. Wir konnten nicht einmal kämpfen. Nur rennen konnten wir. Und auch das war hoffnungslos.

»Verdammt noch mal!« röhrte mein Onkel Stewart. »Gideon und Bob — verzeiht mir, daß ich euch in diese Lage brachte. Bei dir, Jim, brauche ich mich nicht zu entschuldigen. Wir sind vom gleichen Blut. Aber dein Kampf ist's nicht. Bob, auch nicht deiner, Gideon.«

Gideon grinste breit. »Jetzt schon, Captain«, sagte er. »Und der von Bob Eskow auch. Was, Bob? Ich bezweifle, daß Hallam Sperry uns am Leben ließe, selbst wenn wir uns ihm ergäben.«

Stewart Eden schlug auf den Tiefenkompaß, so daß sich die Nadel wie irre drehte. »Das wollte ich nur wissen. Na, schön, meine Jungen! Einer für alle — alle für einen, was? Ich kann euch keine Hoffnung machen, aber ich werde mit uns ein paar von den Sperrys ertränken. Auf die Stationen!«

Schon standen wir auf unseren Posten — eine wohl überflüssige Geste bei dem, was wir vor uns hatten. Aber für Bob und mich war dies selbstverständlich, der Drill von der Akademie wirkte nach. Und Gideon hatte so viele Jahre unter der See verbracht, daß er automatisch dem Befehl gehorchte.

Onkel Stewart wendete den Wagen so plötzlich, daß er einen Satz tat. Er stellte sich also zum Kampf. Sollten sie's haben, wenn sie gerammt werden wollten! Und keinen sanften Stoß von hinten, sondern mit voller Kraft von vorne, und wenn wir dabei in die Tiefe geschickt wurden — nun, die anderen kamen auch nicht ungeschoren davon.

Unsere Verfolger schwangen weg, nach außerhalb unseres Wendekreises und in die andere Richtung. Auf einer graphischen Darstellung hätte der Kurs der beiden Wagen ausgesehen wie ein Blütenblatt mit einem Schwung von zweihundertsiebzig Grad. Am Ende der Wendung rasten wir beide aufeinander los, und das bedeutete für uns beide die völlige Vernichtung.

Sie wichen aus. Stewart hatte dies vorausgesehen, und er hatte das kaum sichtbare Zucken auf dem Schirm bemerkt, als Hallam Sperrys Hand für einen Sekundenbruchteil unentschlossen über den Instrumenten hing, weil er die Vernichtung beider Wagen — vor allem des seinen natürlich — vermeiden wollte. Onkel Stewart schwang das Ruder herum, aber unsere Maschinen ermüdeten schon, während das andere Schiff für eine endlose Unterseekreuzfahrt ausgerüstet war.

Aber dann rasten wir wieder in gerader Linie durch die Tiefen, nur waren diesmal die Rollen vertauscht: Wir waren die Verfolger, die anderen das gehetzte Wild. Sie rannten mit der ganzen Kraft ihrer Maschinen.

Stewart Eden hatte wieder sein Kampflächeln aufgesetzt. »Es ist's wert, Junge, auf diese Art zu enden«, sagte er mit dem leisen Lachen in seiner Stimme, »es ist's wert, einen Hallam Sperry davonlaufen zu sehen. Ah! Fast könnte ich ihm dieses Augenblicks wegen verzeihen.«

»Aber so können wir ihn doch nicht rammen«, wandte ich ein. »Wir haben nicht genug Tempo drauf; ihm würde nichts passieren, aber unsere Platten würden zweifellos nachgeben.«

»Da hab' ich noch einen Trick oder auch zwei auf Lager, Junge. Beobachte seinen Kurs, Junge. Er rennt wie ein aufgescheuchter Hase. Wenn er nur zwei Knoten an uns verliert, wenn er nur einen Gradbruchteil vom Kurs abkommt— ich nagle ihn schon fest, vertrau mir nur!«

Es stimmte. Der Kurs von Hallam Sperrys Schiff war alles andere als pfeilgerade. Er schoß hier- und dorthin, auf und ab; das war keine Ausweichtaktik, wie wir sie in der Akademie gelernt hatten, sondern es konnte nur pure Unentschlossenheit sein, als breche jemand, der die Instrumente bediene, allmählich unter der Anstrengung zusammen; als habe er Angst, das Falsche zu tun, um es um so sicherer zu tun!

Dann kam der Moment. Der fliehende Seewagen bog zwei Punkte nach Steuerbord aus, zögerte, kehrte zurück, bog wieder aus. An Tempo verlor er dabei nicht viel, aber das genügte. Mein Onkel ließ seine Faust niedersausen auf den Notschalter, und sofort war es stockdunkel um uns. Alle Lichter waren aus, die Ballastpumpen hielten an. Die Luftzirkulatoren rührten sich nicht mehr, die Heizschlangen erkalteten, sogar die Instrumen-tenlichter gingen aus.

Und jedes Watt gesparter Energie ging in die summenden Maschinen. Zwei Knoten machten wir mehr, und Stewart navigierte blind. Aber wir stürmten voran.

Dann kam der Aufprall.

Von vorne hörten wir einen kreischenden Krach. Unsere Bugplatten hatten sich an den Schrauben des anderen verhängt. Unser Wagen bäumte sich auf, dann war er frei.

Stewart stellte mit einer einzigen Handbewegung alle Verbindungen wieder her, alle Stromkreise arbeiteten wieder, und er spähte auf den Mikrosonarschirm.

»Schau mal, wie die rollen«, rief er.

Das taten sie auch. Die Spur auf dem Schirm zeigte Sperrys Schiff, das in irren Spiralen herumtorkelte. Wir hatten eine der Schrauben zerschlagen, vielleicht sogar die Tauchvorrichtung im Heck demoliert. Tödlich war dieser Schaden vermutlich noch nicht, doch das Schiff war mindestens vorübergehend außer Kontrolle.

Unser eigenes Schiff sah auch nicht gut aus, das entdeckten wir, als alle Lichter wieder brannten. Vorher waren es nur winzige Springbrunnen gewesen, aber jetzt röhrte ein Strom am vorderen Schanzkleid. Gideon lief, um den Schaden zu besehen.

»Sieht schlimm aus«, meldete er ernst. »Wenn wir jetzt gleich aufsteigen könnten, wäre es vielleicht zu machen, daß wir nach Hause hinken.«

Stewart Eden schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Gideon«, flüsterte er, »schau dir mal den Mikrosonar-Schirm an.«

Wir alle schauten, und sofort wußten wir: Dies war das Ende. Die irre Spirale des Sperry-Schiffes hatte sich wieder gestreckt. Sie lagen jetzt auf unserem Kurs, etwa eine Viertelmeile unter uns und ziemlich weit westlich, doch sie näherten sich mit voller Geschwindigkeit. Der Schaden, den wir ihnen zugefügt hatten, mußte sich auf das Tempo nicht auswirken.

Und wir nahmen Wasser auf. Oben hätten wir pumpen und treiben können, doch in der Tiefe waren wir zum Untergang verdammt auch dann, wenn sie uns nicht rammten. Sie konnten es aber leicht tun. Mit dem zusätzlichen Wassergewicht war unser Schiffchen recht langsam und schwerfällig.

Sie rammten uns nicht.

Während wir den Schirm beobachteten, kam der andere Wagen auf unsere Höhe und zog, wie früher die alten Flugzeuge, eine Schleife; es stieg und ging dann hinab, schoß mit Volltempo in die Tiefen, immer weiter, immer weiter, bis der Lichtpunkt vom Mikrosonar-Schirm verschwand.

»Was in aller Welt...«, begann Bob Eskow. Wir wußten es nicht.

»Vielleicht haben wir ihnen doch einen größeren Schaden zugefügt als wir dachten«, meinte ich, doch mein Onkel schüt-telte den Kopf.

»Nein . . . Aber . . .«

Erklären konnten wir es uns nicht, was sie taten, und wir konnten kaum glauben, was wir sahen.

Ich ahne vielleicht, was im Seewagen vorgegangen war. Ich erinnerte mich an Brand Sperry am ersten Tag in der Akademie. Er war streng und martialisch, aber kein Verbrecher. Als er herausfand, daß sein Vater all dies tat, was ihn zu hassen gelehrt wurde, als er erfuhr, daß die Herrschaft seiner Familie über Marinia Blut, Terror und Bestechung bedeutete, da, glaube ich, hat er eine Grenze gesehen und ernsthaft erklärt: »Nein! So nicht!« Ich denke, als der Wagen in diesen Spiralen floh, da war es nicht der Kampf eines Rudergängers mit seinem Instrument, sondern eher einer zwischen Vater und Sohn, schweigend und tödlich in den tiefen Wassern des Pazifiks, und es ging um das Kommando. Ich denke, als der Wagen wieder ausgerichtet war, dann stieg und fiel, da hatte der Sohn gewonnen — und gleichzeitig verloren.

Auf dem Schirm torkelte ein Lichtpunkt herum. »Da sind sie!« rief Bob Eskow. »Sie kommen zurück!«

Aber mein Onkel Stewart war erfahrener als Bob. Er schüttelte den Kopf. Ohne jede Hast setzte er den Seewagen auf einen Kurs, der sanft und langsam nach oben wies. Er sparte damit Energie, die den schwer arbeitenden Pumpen zugute kam.

»Der Seewagen?« fragte er. »Nein, das nicht, Bob. Schau mal ganz genau auf den Schirm.«

Wir schauten alle. Es war kein Seewagen, diese formlose Masse. Es sah aus wie eine Luftblase, die wabbelnd zur Oberfläche trieb.

Eine Luftblase. Nichts kam von dem zerstörten Schiff an die Oberfläche als nur eine Luftblase. Nichts sonst kündete den Tod von Vater und Sohn.

Wir stiegen auf zur Oberfläche und setzten Kurs auf Fisher-man's Island, wo wir zur Rückkehr nach Thetis abgeholt werden konnten.

21. Die lange Reise

Fisherman's Island hatte sich nicht verändert. Wir ankerten fast am gleichen Punkt des Korallenriffes wie vorher; Bob arbeitete am Kommunikator, während wir die Pumpen einsetzten, um den letzten Tropfen Wasser herauszuholen.

Bob warf mir einen besorgten Blick zu. »Ich kann von Thetis nur die Mitteilung erhalten, wir sollen uns zur Abholung bereithalten. Jim, das klingt mir nicht gut.«

Onkel Stewart rieb sich das lange Kinn. »Ist auch nicht richtig«, gab er zu. »Jungens, wir haben dem Oktopus den Kopf abgehackt, aber die Arme sind ja auch noch da. Die Sperrys sind aus dem Weg, aber die Männer, die sie an die Macht gebracht haben, sind noch in Thetis.«

»Du meinst, Sperrys Seepolizei will uns Schwierigkeiten machen?« fragte ich.

»Ob ich das meine?« Mein Onkel deutete auf den Mikrosonarschirm. »Was sagst du dazu?«

Da war etwas Großes, noch ziemlich weit weg, doch es näherte sich sehr schnell. »Ich kann es mir nicht denken. Wie ein Polizeischiff von Marinia sieht es nicht aus. Und für einen Frachter ist es viel zu schnell.«

Stewart Eden schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, Jungens ... Aus Marinia ist das nicht. Oder sie haben etwas Neues auf Kiel gelegt, als ich da unten in den Tiefen lag. Na, wir werden es bald wissen.«

Das Schiff flog förmlich durch das Wasser auf uns zu. So schnell wäre vielleicht die Isle of Spain oder ein anderes Linienschiff gewesen, aber von deren Routen waren wir weit weg.

Gideon hüstelte. »Und was passiert, wenn es die Seepolizei ist?«

»Dann gibt's vermutlich Ärger«, meinte mein Onkel grimmig. »Es kommt ganz darauf an.« Er sah mich mit düsterem Humor an. »He, Jim, damit hast du wohl nicht gerechnet. Ich wollte dich auch bestimmt nicht in solche Dinge hereinziehen. Für dich hatte ich ganz andere Pläne; viel Geld aus den Lizenzen für das neue Edenit, die Minen in den Tiefen . . . Aber wir können nicht immer vorher wissen, wie etwas ausgeht.«

»Sie haben doch noch all das, Mr. Eden«, sagte Bob.

Stewart Eden schüttelte den Kopf. »Der Claim auf die Tiefen läuft ab. Hallam Sperrys Trick, mit dem er mich für eine Weile ausschaltete, hat dafür schon gesorgt. Und das neue Edenit habe ich ja der Welt geschenkt

Das kann ich doch nicht zurücknehmen.« Er legte mir seine Hand auf die Schulter und blinzelte. »Würde ich auch nicht tun, wenn ich's könnte. Es gibt genug Geld zu verdienen und Dinge zu tun. Wenn wir Geld brauchen, verdienen wir's uns. Und wenn nicht — was nützt uns das Geld, wenn wir keines brauchen?«

»Onkel Stewart«, sagte ich, »mir ist es nie um Geld gegangen, und ich will es auch jetzt gar nicht haben. Ich habe das bekommen, was ich mir am allermeisten auf der ganzen Welt gewünscht habe.«

Stewart Eden schaute mich lange an. Wir Edens zeigen unsere Gefühle nicht gern, und er sagte auch nichts. Es war nicht nötig.

»Das Ding, das da kommt, ist jetzt innerhalb von tausend Metern«, meldete Gideon.

Wir wandten uns alle zum Mikrosonar um, wir ein wenig besorgt, Onkel Stewart mit einem Lächeln. Ich verstand ihn nicht recht. Es sah meinem Onkel so gar nicht ähnlich, ruhig und unbesorgt dazusitzen, wenn sich eine unbekannte Gefahr so rasch näherte. Ich war richtig verblüfft.

»Glauben Sie, daß es die Seepolizei ist?« fragte Bob nun.

Zu meinem größten Staunen lachte Onkel Stewart breit. Er mußte meine Bestürzung bemerkt haben, denn er lachte nun laut. »Nein, Bob«, antwortete er, »das ist nicht die Seepolizei. Was hat man euch auf der See-Akademie beigebracht?«

Ich sah Bob an, er mich, dann schauten wir beide auf den Schirm und dann . . .

»Ja, natürlich!« rief Bob, und sogar Gideon lehnte sich zurück und seufzte erleichtert.

Wir kletterten durch die Luke hinaus und kamen gerade rechtzeitig auf Deck, um die Nase der langen, grauen Nares auftauchen zu sehen, die das Flaggschiff des PatrouillenKommandos der Tiefsee-Flotte von Marinia ist.

Das Kommando hatte Flottenkapitän Bogardus, ein strenger Mann mit vier Ärmelstreifen und einer Brust voll Bändern. Seine Augen waren durchdringend schwarz. Wir wurden mit allen militärischen Ehren zur Kommandokabine geführt, und dazu gehörte auch ein bewaffneter Posten in Paradeuniform.

Sie sagten uns nicht, ob sie ein Ehrengeleit waren oder Gefangenenwärter, und ich hatte gewiß keine Lust, zu fragen.

Bob und ich salutierten zackig, wie wir es auf der Akademie gewohnt waren. Gideon und mein Onkel taten es ziviler. »Danke, Captain, daß Sie uns aufgepickt haben«, sagte mein Onkel Stewart. »Sie haben uns wirklich einen Gefallen getan.«

»Das«, antwortete der Kapitän frostig, »wird sich erst herausstellen. Es wird Sie interessieren zu hören, daß der Gouverneur von Marinia diesem Kommando den Befehl erteilte, Sie abzuholen.«

»Ich weiß seine Besorgnis zu schätzen«, erwiderte Onkel Stewart gemessen.

»Nein, wirklich.« Der Kapitän nickte. »Gentlemen, Sie können sich setzen. Ich brauche kaum zu erwähnen, daß Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden einen ganz 'schönen Wirbel machten. Anschuldigungen gegen den Bürgermeister von Thetis . . .«

»Den verstorbenen Bürgermeister von Thetis«, berichtigte mein Onkel.

»Gut. Den verstorbenen dann. Schön. Aber er war eine verantwortliche Persönlichkeit der Öffentlichkeit, und ist er jetzt tot, so müssen die Umstände seines Todes untersucht werden, Mr. Eden. Sehr genau, wie Sie wissen. Und Sie werden beweisen müssen, daß er und sein Sohn versucht haben, Sie zu rammen.«

»Selbstverständlich«, sagte mein Onkel. Und nun hielt Flottenkapitän Bogardus die Hand auf zum Zeichen, daß Onkel Stewart noch nicht gehen sollte. Mir schien seine Miene jetzt weniger frostig zu sein.

»Ich brauche natürlich nicht zu erwähnen, Mr. Eden, daß Ihr Wort einiges Gewicht hat. Angenommen, Sie fangen jetzt ganz von vorne an und erzählen mir, was es mit dem ganzen Durcheinander auf sich hat. . .«

Länger als eine Stunde erzählten wir und beantworteten die Fragen des Kapitäns, und ein Seemann nahm alles auf einem Diktiergerät auf. Dann entschuldigte sich der Kapitän und ließ uns kurz allein.

Bob war schon wieder etwas nervös geworden, als wir draußen das scharfe Klicken von Absätzen hörten; Flottenkapitän Bogardus kam herein.

»Ich hatte Verbindung mit dem Gouverneur von Marinia«, berichtete er. »Ich bekam meine Befehle, und wir sind unterwegs nach Thetis.«

Ein schneller Kreuzer der Tiefsee-Flotte frißt die Meilen nur so in sich hinein. Wir hatten kaum Zeit, zu essen und uns ein wenig in Ordnung zu bringen, da waren wir auch schon in Thetis.

Nun mußten mein Onkel und ich ein unerledigtes Geschäft zu Ende bringen.

Wir gingen zu einem gewissen Gebäude und durch eine ganz bestimmte Tür, und der Mann hinter dem Schreibtisch sprang in die Höhe und starrte uns an, als seien wir Gespenster.

»Stewart Eden!« ächzte der Mann.

»Ja, genau. Faulkner, was ist los?« fragte mein Onkel. »Glaubten Sie, ich sei endgültig aus dem Weg geschafft?«

Der Anwalt ließ sich zurückfallen. Er keuchte. »Mein Herz . .

. Dieser Schock . . .«

»Schlimm, schlimm, aber wir erlebten auch ein paar Schocks. Erkennen Sie meinen Neffen hier, den Sie umzubringen versuchten?«

»Umzubr . . . Unsinn! Dieser junge Mann wollte nur Wirbel machen, und außerdem ist er gar nicht Ihr Neffe, sondern ein Hochstapler. Ich habe den richtigen James Eden gesehen und...«

»Das genügt jetzt, Faulkner!« Onkel Stewards leise Stimme war wie ein Peitschenschlag. Er sah aus wie ein rächender Seegott, der einen Ungetreuen bestraft.

»Faulkner, von Ihnen haben wir jetzt genug Lügen gehört. Jetzt wollen wir die Wahrheit wissen. Alles!«

»Was . . . wollen Sie?« fragte er und war leichenblaß.

»Die Wahrheit, Faulkner! Die Wahrheit über Sie und Hallam Sperry, nur für den Anfang. Sie waren mein Anwalt, haben mein Geld genommen. Und die ganze Zeit über haben Sie mich an Sperry verkauft und jedes dreckige Geschäft mit ihm gemacht! Das stimmt doch, Faulkner?«

»Ich . . .« Er schluckte heftig. »Ja . . .«

»Sie haben Sperry sogar nachdrücklich geholfen, die Macht in Thetis an sich zu reißen, nicht wahr?« fuhr Onkel Stewart unbarmherzig fort. »Ihm haben Sie meine Edenit-Patente verkauft und den Kontrakt so gefälscht, daß ich meine Lizenzgebühren verlor. Richtig? Und mit diesem Geld und dieser Macht haben Sie ihm geholfen, hier ein Reich für ihn und sich aufzubauen.«

Faulkner nickte. Er starrte meinen Onkel so fasziniert an wie ein Kaninchen eine Schlange und konnte sich nicht mehr bewegen.

»Dann hat mich Sperry aus dem Weg geschafft. Dann kam Jim. Ihn wollten Sie mit Lügen abspeisen. Als er nicht darauf hereinfiel, versuchten Sie ihn hinauszukaufen. Als das auch nicht gelang, wollten Sie ihn umbringen. Das ging auch nicht, also ließen Sie ihn ausplündern, damit einer Ihrer Ganoven sich seiner Papiere bedienen konnte. Das stimmt doch alles, Faulk-ner?«

Etwas glitzerte in Faulkner s Augen, das ich vorher nicht gesehen hatte. Er schaute immer noch meinen Onkel an, aber von Zeit zu Zeit huschten seine Augen rasch zur Tür, als warte er auf jemanden.

»Ob das stimmt, Eden?« fragte Faulkner gereizt. »Natürlich stimmt's! Sie und Ihr Neffe waren von Anfang an Vollidioten, und Geld und Macht sind an Sie beide verschwendet!« Er stand auf und beugte sich über den Tisch. »Das will ich Ihnen beweisen. Reingekommen sind Sie, aber so leicht kommen Sie nicht wieder 'raus. Lebend nicht. Ich habe meine Befehle gegeben. Befindet sich in meinem Büro ein unwillkommener Besucher, so wartet mein Mann Bishop nur darauf, ihn zu gegebener Zeit hinauszuwerfen. Und die Zeit ist gekommen. Bishop! Schieß die beiden zusammen!«

Die letzten Worte schrie er triumphierend. Aber es war ein flüchtiger Triumph. Wie ein Blitz war Onkel Stewart an der Tür und riß sie auf. »Ihr Mann hat andere Pflichten übernommen, Faulkner. Sehen Sie selbst!«

Entsetzt starrte Faulkner seinen Neandertaler an, der sich hilflos im Griff zweier riesiger Männer der Tiefsee-Flotte wand.

Thetis stand unter Kriegsrecht. Das hatte Flottenkapitän Bo-gardus auf Befehl des Gouverneurs von Marinia ausgerufen. Für uns war es ein neuer Tag. Die Sperrys gab es nicht mehr. Faulkner, seine Leute und ein paar Dutzend andere Gauner waren hinter Schloß und Riegel. Von Sperrys Macht war auch nicht mehr übrig als von einer Seifenblase.

Nach den ersten paar Stunden Kriegsrecht beruhigte sich die Lage wieder, doch es wurde nicht zurückgenommen, bis Wahlen stattfinden konnten. Lange dauerte das nicht. Nach ein paar Tagen hatte die Tiefsee-Flotte Thetis gesäubert. Bob Eskow und ich schlenderten einen breiten Boulevard entlang, vorbei an den vielen Bürgern von Thetis, die ihre Wahlkugeln warfen. Es herrschte Ruhe. Die Wahlkabinen wurden von einer ganzen Abteilung der Tiefsee-Flotte bewacht, und alles, was dem Patrouillenkommando von Marinia unterstand, war hier vertreten: die hellen scharlachroten Uniformen der Westlichen Alliierten, die seeblauen mit den verschlungenen Ankern der Europäischen Union, sogar die seegrundgrauen des Asiatischen Kommandos. Sie wechselten einander ab in der Polizeiaufsicht über Thetis.

Ich wußte genau, was Bob dachte, als wir diese Tiefseemänner sahen, und ich dachte wie er. Dann seufzte er. »Jetzt sind die Sperrys aus dem Geschäft, und ich bin meinen Job los.«

»Und ich suche mir auch besser einen«, antwortete ich.

Im Hotel, in dem wir mit meinern Onkel Stewart wohnten, fanden wir eine Mitteilung vor. »Sofort bei Flottenkapitän Bogardus melden.«

Mein Onkel war im Kommandoraum des Kapitäns und wartete auf uns. Er lachte. Vielleicht hätte ich etwas vermuten sollen, doch ich tat es nicht. Da reichte mir der Kapitän den vertrauten Umschlag mit dem Platinwappen, und jetzt erst dämmerte es mir. »Die Tiefsee-Flotte macht nicht oft einen Fehler, aber wenn sie's tut, gibt sie's immer zu«, sagte er. »Sie beiden sind unter Druck von der Akademie abgegangen, und jetzt läßt sich nicht mehr daran zweifeln, daß dieser Druck unzulässig war. Nun, das ist von der Akademie. Für Sie beide. Machen Sie nur auf!«

Die Worte tanzten vor meinen Augen, als ich las: »Mit Rücksicht auf neue Informationen ...«, hieß es da, und »... Ausscheiden mißbilligt« Am wichtigsten war der letzte Satz: »Die Kadetten Eden, J. und Eskow, R., werden daher mit dem nächsten schnellen Transportmittel zur Akademie reisen, um das Training sofort wieder aufzunehmen. Im Auftrag des Kommandanten, U.S.S.S.«

Wir waren wieder aufgenommen! Und rehabilitiert!

Wie betäubt schauten wir einander auf dem Gang vor der Kommandokabine an, Bob und ich. Wir konnten unser Glück nicht fassen.

»Na, schön«, meinte ich und tat ganz überlegen, »es sieht so aus, als brauchten wir uns eine Weile nicht um einen Job umzuschauen.«

»Na, klar«, antwortete Bob mit einem Pokergesicht, und dann grinste er von einem Ohr zum anderen. »Jim, wir haben's geschafft! Komm, du Landratte, wir müssen packen. Die Gezeiten warten nicht!«

ENDE