Die Erde zu verlassen, den Weltraum, die Gestirne zu erkunden, ist ein Wunschtraum der Menschheit von alters her. nicht allzulange mehr wird es dauern, dann wird das, was gestern noch Utopie war, Wirklichkeit sein. Wie eine solche kosmische Reise aussehen könnte, beschreibt der Autor dieser Erzählung in lebendiger Form: Wir begleiten eine sowjetische Expedition unter Führung ihres kühnen Kommandanten Kamow auf ihrer ersten Fahrt zur Venus und zum Mars. Über sieben Monate dauert der erlebnisreiche „schwerelose“ Flug durch das All bis zum letzten Reiseziel, dem rätselhaften „roten Planeten“. Hier in dem unbekannten Gelände, der endlosen Marswüste mit ihren bodenlosen „Sümpfen“, den furchtbaren Sandstürmen, den gefährlichen raubtierähnlichen „Echsen“ drohen den vier Erdbewohnern täglich neue Gefahren. Äußerste Vorsicht ist geboten, das zeigt der tragische Tod Hapgoods, des Konstrukteurs eines amerikanischen Raumschiffes, das ebenfalles auf dem Mars gelandet ist. — Nach viertägigen Forschungfahrten auf dem fremden Planeten soll es zu Erde zurückkehren. Aber kurz vor dem Abflug ereignet sich ein dramatischer Zwiscehnfall: Kamow kommt von seiner letzten Erkundungsfahrt nicht wieder. Aus Zeitnot muss die Expedition den Rückflug ohne ihren Kommandanten antreten, um die Erde noch auf ihrer Bahn zu erreichen. Was ist mit Kamow? Diese Frage lastet schwer auf den Expeditionsmitgliedern. Die überraschende Antwort darauf erhalten sie erst bei ihrer Ankunft auf dem heimatlichen Raketenflugplatz.
Das Buch, dem eine spannende Fabel zugrunde liegt, unterscheidet sich von manch anderen Zukunftsromanen dieser Art dadurch, dass es dem leser zugleich in unterhaltsamer Weise interessante wissenschaftliche Kenntnisse vermittelt.
Georgi Martynow
220 Tage im Weltraumschiff
Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Übersetzung: Erich Ahrndt
Kultur und Fortschritt, 1958
Illustrazionen: L. Rubinstein
Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
Vor dem Start
Morgen ist es so weit!
Genau um zehn Uhr vormittags wird das von Kamow gesteuerte Weltraumschiff die Erde verlassen …
Wer hätte gedacht, daß ich ihn begleiten werde!
Viel Wundersames erwartet uns auf der weiten Reise.
Wird es mir gelingen, all denen, die nicht dabei waren, ein lebendiges Bild davon zu vermitteln? Es muß mir gelingen, denn der Zweck meiner Teilnahme an der Expedition ist es ja, alles, was wir sehen und erleben, mit Bleistift, Fotoapparat und Filmkamera festzuhalten. Das Tagebuch, das ich heute beginne, wird mir später, wenn ich nach siebeneinhalb Monaten wieder zur Erde zurückgekehrt bin, als Grundlage für ein Buch über den Flug dienen.
Fange ich also ganz von vorn an …
Am 29. April, es sind nun gerade zwei Monate her, ließ mich unser Chefredakteur zu sich rufen.
Als ich eintrat, bat mich der Chef, Platz zu nehmen.
„Wir wollen Ihnen vorschlagen“, sagte er, „an einer etwas ungewöhnlichen Reise teilzunehmen …“ Er sah mich an, und da er merkte, daß ich antworten wollte, fuhr er rasch fort: „Es handelt sich um eine Expedition, die mit Gefahren verbunden ist.“ Die letzten Worte des Chefs ließen mich aufhorchen.
„Gefahren schrecken mich nicht“, erwiderte ich. „Je ungewöhnlicher eine Aufgabe ist, desto interessanter ist sie.“
„Ich wußte, daß Sie so antworten werden“, sagte der Chef. „Sie sind jung und gesund. Außerdem sind Sie ein tüchtiger Journalist und verstehen mit Fotoapparat und Filmkamera umzugehen. Gerade auf diese Eigenschaften kommt es an. Ich werde aber nicht auf Ihre Zusage dringen. Sie haben das Recht, abzulehnen.“
„Was es auch sein mag, ich denke nicht daran, abzulehnen“, entgegnete ich.
Er sah mich an mit einer Miene, die ich im Augenblick nicht zu deuten wußte, und lächelte. „Um so besser“, meinte er. „Wer Kamow ist, werden Sie wohl wissen?“
Bei dieser Frage fuhr ich zusammen. Kamow? Der Konstrukteur und Kommandant des ersten Raumschiffes der Welt? Der Mann, der bereits zweimal die Erde verlassen hat? Hatte ich mich auch nicht verhört?
„Natürlich“, antwortete ich. „Wer kennt ihn nicht!“
›Also darum hat er die Expedition als gefährlich bezeichnet‹, dachte ich. Der Name Kamow ließ keinen Zweifel daran, daß es sich um einen Flug ins Innere des Sonnensystems, vielleicht gar auf einen Planeten, handelte. Wer von uns hat nicht schon davon geträumt, eine solche Reise zu unternehmen? Aber es ist doch wohl ein Unterschied, ob man nur davon träumt, oder ob man plötzlich zu einer solchen Reise aufgefordert wird.
„Wenn Sie wollen“, sagte der Chef, „können Sie an seiner Expedition teilnehmen.“
„Wohin, wenn ich fragen darf?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn Sie zusagen, erfahren Sie alles Weitere von Kamow selbst.“
„Warum machen Sie dieses Angebot gerade mir?“
„Weil Sie der geeignete Mann zu sein scheinen.“
Alles das war für mich so überraschend, daß ich erst einmal meine Gedanken sammeln mußte.
„Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Antwort morgen gebe?“
„Übereilen Sie sich nicht!“ warnte der Chef. „Solch ein Angebot will reiflich überlegt sein. Sie könnten sonst Ihren Entschluß später bereuen.“
Am nächsten Morgen sagte ich dem Chef, ich sei bereit, mitzufliegen, wohin es auch immer gehe.
„Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt!“ gab er mir darauf zur Antwort.
Mit verständlicher Erregung drückte ich am Abend desselben Tages auf den Klingelknopf an Kamows Wohnungstür. In wenigen Augenblicken sollte ich dem Mann gegenüberstehen, der als erster in der Geschichte der Menschheit die Erde verlassen und den Weg in die endlose Weite des Weltraumes gebahnt hatte.
Mir öffnete Kamows Frau, Serafima Petrowna Kamowa.
„Sergej Alexandrowitsch erwartet Sie schon“, sagte sie, als ich ihr meinen Namen genannt hatte.
Dann trat ich in das Arbeitszimmer des berühmten Astronautikers.
Ich hatte Kamow vorher noch nicht gesehen, erkannte ihn aber sofort, als er sich hinter seinem Schreibtisch erhob, um mich zu begrüßen. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir nach zahllosen Fotografien vorgestellt hatte: ein etwas schwerfällig wirkender mittelgroßer und breitschultriger Mann mit ruhigen, sicheren Bewegungen. Seine ganze Erscheinung ließ auf einen starken Charakter und einen unbeugsamen Willen schließen. Am stärksten beeindruckten mich seine Augen, die unergründlich tief schienen und eine große Ruhe ausstrahlten. Über der hohen Stirn wellte sich weiches stahlgraues Haar. Das Gesicht mit den allzu dichten Brauen und dem ein wenig massiven Unterkiefer war nicht gerade schön, wohl aber energisch und kühn.
Kamow schüttelte mir kräftig die Hand und sagte: „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Genosse Melnikow.“ Er forderte mich auf, in einem Sessel Platz zu nehmen, und ließ sich mir gegenüber nieder.
„Machen wir uns also näher miteinander bekannt“, schlug er vor. „Zunächst — wie alt sind Sie?“
„Siebenundzwanzig.“
„Ihrem Aussehen nach hätte ich Sie jünger geschätzt“, meinte Kamow. „Wo sind Sie denn so braun geworden?
Ihr Haar ist ja ganz weiß im Vergleich zu Ihrem Gesicht!“
Ich erzählte ihm von meiner zweimonatigen Reise durch Kasachstan, von der ich erst vor zwei Tagen zurückgekehrt war.
„Und nun wollen Sie sich schon wieder auf den Weg machen?“ fragte er lächelnd. „Sie sind also fest entschlossen, mitzufahren? Haben Sie es auch gut überlegt? Sie wissen doch noch gar nicht, wohin die Reise geht.“
„Stimmt schon“, gab ich zu, „das Ziel der Expedition ist mir nicht bekannt, aber allein Ihr Name sagt mir, daß ich es nicht auf der Erde zu suchen habe. Wenn es Ihnen nur recht ist, daß ich mitfahre — mein Entschluß steht fest,“
„Und wie ist Ihre Gesundheit? Man wird Sie einer strengen Untersuchung unterziehen.“
„Davor habe ich keine Angst. Ich wurde erst im vorigen Jahr, als es nach dem Südpol ging, von einer Ärztekommission untersucht; man fand absolut nichts an mir auszusetzen. Ich bin kerngesund.“
„Wenn ich Sie mir so ansehe“, sagte er, „glaube ich das gern. Schön! Wir werden also wieder vier Mann sein. Unserer Expedition sollten ursprünglich nur Wissenschaftler angehören. Außer mir noch drei. Die Teilnehmer sind schon seit langem ausgewählt und haben sich in einem einjährigen Kursus vorbereitet. Vor einem Monat ereignete sich aber ein Unglück, durch das wir einen Expeditionsteilnehmer verloren …“ Er schwieg und sah mich prüfend an.
„Unser Freund“, fuhr Kamow fort, „kam bei einem Autounfall ums Leben. Wir können ihn jetzt nicht mehr durch einen anderen Wissenschaftler ersetzen. Die Forschungsarbeit während einer Weltraumfahrt erfordert eine lange Vorbereitung.“
„Und da beschloß man, ihn durch einen Journalisten zu ersetzen?“
„Nun, ganz so ist es nicht“, meinte Kamow. „Es war meine Idee, jemand zu suchen, der Journalist, Fotograf und Kameramann in einem ist. Vor allem ging es uns darum, jemand an Bord zu haben, der astronomische Aufnahmen macht. Unser verunglückter Freund hatte einen solchen Lehrgang hinter sich; wir können nun zwar ohne die Mithilfe eines Astronomen auskommen, aber nicht ohne einen Fotografen und Kameramann. Aus diesem Grunde haben wir Sie um Ihre Teilnahme ersucht.“
„Aber ich habe doch keine Ahnung von astronomischem Fotografieren.“
„Wir bringen es Ihnen bei. Da Sie über Erfahrung verfügen, dürfte es nicht so schwer sein, Sie auch mit der Technik des astronomischen Fotografierens vertraut zu machen.
Und daß Sie ein erfahrener Journalist sind, wird uns ebenfalls zustatten kommen. Nach unserer Rückkehr muß der Weltöffentlichkeit von unserer Fahrt berichtet werden.“
„Ich werde mein möglichstes tun“, sagte ich. „Dürfte ich aber wissen, wohin die Reise geht?“
Kamow schwieg und sah mich lange mit seinen seltsam ruhigen Augen an. „Die Anforderungen, die an die Gesundheit der Passagiere gestellt werden“, sagte er langsam, „sind andere als die sonst üblichen. Es ist möglich, daß Sie nicht zugelassen werden …“ Er hielt wiederum inne und fuhr dann in gewohntem Ton fort: „Sollte dieser Fall jedoch eintreten, dann werden Sie natürlich Stillschweigen bewahren. Sie wissen, daß meine erste Fahrt eine Probefahrt war, die ich allein unternommen habe. Mein Schiff umflog den Mond und kehrte wieder zur Erde zurück. Die zweite Fahrt unternahm ich mit dem Astrophysiker Paitschadse. Wir landeten auf der Mondoberfläche und verbrachten dort einige Stunden. Beide Male hatte in technischer Hinsicht alles reibungslos funktioniert. Hierauf wurde beschlossen, eine dritte Expedition durchzuführen — zum Mars. Unterwegs wollen wir noch die Venus besichtigen. Ist Ihnen nun nicht bange geworden?“
„Keineswegs!“ erwiderte ich, ohne damit eine Unwahrheit zu sagen. „Jetzt brenne ich noch mehr darauf, mitzufliegen, nur bedrückt mich, daß ich dabei so wenig zu tun haben werde. Wird diese Arbeit meine Teilnahme auch rechtfertigen?“
„Wer sagt Ihnen denn, daß Sie wenig zu tun haben werden?“ fragte Kamow.
Ich fühlte, daß ich rot wurde. „Ich denke …“
„Denken Sie lieber nichts“, unterbrach mich Kamow.
„Ihre Aufgabe ist sehr verantwortungsvoll. Die Auswertung der Aufnahmen, die Sie machen werden, ist für die Wissenschaft außerordentlich wichtig. Und sollten Sie trotzdem noch freie Zeit haben, dann werden Sie mir helfen, die Geräte zu bedienen.“
Ich schaute ihn verwundert an.
„Da gibt es nichts zu staunen“, sagte Kamow lächelnd.
„Das ist nicht so schlimm. Während der Fahrt läßt sich das Raumschiff leicht führen. Anders verhält es sich beim Aufstieg, bei der Landung oder in der Nähe der großen Planeten. Da ist die Sache komplizierter. Unsere Steuerkabine hat hervorragende Geräte. Die werden Sie gleich in den ersten Tagen der Fahrt meistern lernen.“
„Wie lange dauert die Expedition?“
„Was meinen Sie wohl?“
„Ich nehme an — zwei, drei Jahre.“
Kamow lachte. „Die Atomtechnik entwickelt sich schnell“, sagte er. „Wenn die erste Mondfahrt noch zwei und die zweite einen Tag in Anspruch nahm, so sind wir seitdem ein großes Stück vorangekommen. Die gesamte Expedition soll zweihundertfünfundzwanzig Tage dauern, also siebeneinhalb Monate.“
„Nicht länger?“
„In diesen siebeneinhalb Monaten“, fuhr Kamow fort, „legen wir rund eine halbe Milliarde Kilometer zurück. Die Durchschnittsgeschwindigkeit wird hundertzweitausendsechshundert Kilometer in der Stunde betragen.“
„Das klingt ja wie ein Märchen!“
Kamow schüttelte den Kopf. „Diese Geschwindigkeit ist nicht so groß, wie Sie glauben“, sagte er. „Die Technik ist dabei, Geschwindigkeiten zu erreichen, die den freien Flug zu jedem Planeten gestatten, ohne daß man an Termine gebunden wäre. Unser Schiff aber muß sich an einen genauen Zeitplan halten, weil seine Geschwindigkeit geringer ist als die Bahngeschwindigkeit der Erde. Die Erde einzuholen sind wir zunächst noch nicht imstande.“
„Sie sagten, Sie hätten vor, auf dem Weg zum Mars die Venus zu besichtigen. Das verstehe ich nicht ganz.“
„Was ist Ihnen daran nicht klar?“
„Wie Sie auf dem Weg zum Mars zur Venus kommen wollen. Die Erde hat doch ihren Platz zwischen den beiden Planeten.“
„Ihre Verwunderung wäre gerechtfertigt“, entgegnete Kamow, „wenn die Planeten unbeweglich wären. Sie bewegen sich jedoch, und obendrein mit verschiedener Geschwindigkeit. Oft befinden sich beide, das heißt Venus und Mars, von der Erde aus in ein und derselben Richtung.
Damit Ihnen unsere Flugbahn klarer werde, will ich sie Ihnen einmal aufzeichnen.“
Er nahm ein Blatt Papier und zog darauf mit einem Bleistift rasch ein paar Kreise. „Sehen Sie her“, sagte er. „Der Punkt in der Mitte, um den ein kleiner Kreis beschrieben ist, stellt die Sonne dar. Der erste größere Kreis ist die Bahn der Venus. Zwischen ihr und der Sonne haben wir noch den Planeten Merkur, aber ich lasse seine Bahn weg, weil wir sie nicht brauchen. Der zweite Kreis ist die Erdbahn, der dritte — die Bahn des Mars. Was ich hier zeichne, entspricht natürlich nicht dem richtigen Maßstab, es soll ja auch nur ein Schema sein. Die Kreise, die ich mit einer ›1 versehe, bezeichnen die Stellung der Planeten zur Zeit unseres Starts. Die Planeten bewegen sich auf ihren Bahnen alle in der gleichen Richtung, auf dieser Skizze von rechts nach links. Von dem Kreis aus, der die Erde darstellt, beginnt unsere Flugbahn. Ich markiere sie als gestrichelte Linie. Sehen Sie, hier, an diesem Punkt treffen wir die Venus …“
Er zeichnete einen zweiten Kreis auf der Venusbahn und schrieb daneben die Zahl ›2‹.
„Von da aus fliegen wir zum Mars weiter, den wir hier, an dieser Stelle, erreichen, und danach geht es zurück zur Erde, die inzwischen über die Hälfte ihrer Jahresbahn hinter sich gebracht hat und etwa hier steht …“
„Klar“, sagte ich.
„Diese Zeichnung ist nur ein grobes Schema“, bemerkte Kamow. „Die Bahnen der Planeten bilden in Wirklichkeit keine geschlossenen Kreise, da sich die Sonne, der sie folgen, selbst im Weltraum bewegt, aber so ist es Ihnen verständlicher.“
„Ich danke Ihnen! Jetzt ist mir alles klar.“
„Nun werden Sie auch begreifen, warum wir den Start nicht um einen Tag verschieben können. Das würde alle unsere Pläne über den Haufen werfen.“
„Ich verstehe!“
„Für heute genug davon. In den siebeneinhalb Monaten unserer Reise werden wir noch genügend Zeit und Gelegenheit haben, uns über alle diese Fragen zu unterhalten. Ihre Teilnahme an der Expedition beginnt morgen früh mit der Untersuchung durch die Ärztekommission. Wir müssen jeden Tag nutzen, um Sie auf den Flug vorzubereiten.“
Damit war meine erste Unterredung mit Kamow beendet.
Es war schon gegen Mitternacht, als ich nach Hause kam. Diese Nacht schlief ich sehr schlecht. Erst gegen Morgen schlummerte ich ein; aber nicht einmal im Schlaf verließ mich der Gedanke, daß sich alle meine Hoffnungen zerschlagen konnten.
Meine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Die aus drei Ärzten bestehende Kommission, der ein namhafter Professor vorstand, klopfte, horchte und maß lange an mir herum. Man prüfte meine Augen und mein Gehör, drehte mich auf einem karussellähnlichen Gestell und ließ mich in einer Hängevorrichtung sogar ein paar Minuten mit dem Kopf nach unten baumeln, um darauf abermals endlos lange an mir herumzuhorchen. Zum Schluß klopfte mir der alte Professor auf die Schulter und sprach Worte, die mir wie Musik in den Ohren klangen:
„Ein idealer Organismus! Junger Mann, Sie können sogar zum Polarstern fliegen, wenn es Ihnen einmal auf unserer Erde zu langweilig geworden ist.“
Nach der Untersuchung fuhr ich geradeswegs zu Kamow, um von ihm die ersten Anweisungen entgegenzunehmen. Er freute sich, als er hörte, daß alles gut abgegangen war.
„Es hätte mir leid getan, Sie zu verlieren“, sagte er. „Ich bin froh, daß das nicht der Fall ist. — Machen Sie sich bekannt“, fügte er hinzu und führte mich zu einem hochgewachsenen, hageren Mann, der am Schreibtisch saß. „Das ist Konstantin Jewgenjewitsch Belopolski, mein Gehilfe während der Fahrt,“
Als Kamow mich vorstellte — er erwähnte dabei, daß ich an dem bevorstehenden Flug teilnehme —, drückte Belopolski mir die Hand, tat dies aber, wie mir schien, völlig gleichgültig. Nicht einmal der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht, das, obwohl er erst fünfundvierzig Jahre zählte, von tiefen Furchen durchzogen war.
Ich weiß noch, daß mich diese schweigsame Begrüßung unangenehm berührte, und ich dachte sogar, daß es kein besonderes Vergnügen sein müßte, auf einer langen Reise einen solchen Gefährten zu haben. Heute weiß ich, daß dieser Mann an und für sich sehr wortkarg ist und nur über Astronomie und Mathematik längere Zeit sprechen kann.
Ganz anders begrüßte mich der vierte Expeditionsteilnehmer, Arsen Georgijewitsch Paitschadse, den ich zwei Tage darauf kennenlernte.
Noch jung, nicht älter als fünfunddreißig Jahre, genoß er schon weit und breit den Ruf eines ausgezeichneten Kenners der Spektralanalyse.
„Boris Nikolajewitsch Melnikow?“ fragte er und drückte mir die Hand mit solcher Kraft, daß ich vor Schmerz das Gesicht verzog.
Paitschadses ganze Erscheinung — seine kleine, schmächtige Gestalt, sein gebräuntes Gesicht mit dem kurzgeschnittenen Schnurrbärtchen über der Oberlippe und seine freundlichen Augen — flößte mir ein solches Zutrauen ein, als kannte ich ihn schon seit Jahren.
Er bat mich, ihm meinen Lebenslauf zu erzählen, berichtete dann von sich selbst, und wir schieden als Freunde. In den zwei Monaten, die seitdem vergangen sind, habe ich mich davon überzeugt, daß Paitschadse ein entgegenkommender, mitteilsamer Mensch ist, der mir ein guter Reisegefährte sein wird. Auf unserem Schiff soll ich die Kajüte mit ihm teilen, und darüber freue ich mich sehr.
Unter angestrengter Arbeit war der Starttag unmerklich herangerückt. Das Schiff und seine Besatzung waren bereit. Drei Tage vor dem Abflug besichtigten wir es zum letzten Male. Alle Geräte und Apparate wurden überprüft, die Ladung kontrolliert. Während Kamow und Belopolski das Schiff inspizierten, kontrollierte Paitschadse die astronomischen Geräte, und ich sah nach meiner Foto- und Filmapparatur. Mir stehen drei Filmapparate zur Verfügung, ein tragbarer und zwei, die in die Schiffswände eingebaut sind und selbsttätig funktionieren können, dazu noch vier ausgezeichnete Kameras, jede mit sechs auswechselbaren Objektiven, und ein kleines Fotolabor.
Kamows Expedition ist überhaupt auf großzügige Weise ausgerüstet. Jede Eventualität ist einbezogen, nichts ist vergessen, nichts außer acht gelassen. Jedes Detail ist sorgfältig bedacht und ausgeführt.
Die nächste Eintragung in mein Tagebuch werde ich bereits während der Fahrt vornehmen.
Für heute ist’s genug … Zehn Minuten nach zwölf …
Um sieben Uhr früh werde ich mit dem Wagen abgeholt.
Meine letzte Nacht also auf der Erde!
Morgen starten wir ins Unbekannte!
Der Abflug
Zweiunddreißig Stunden unterwegs …
Der erste Tag ist vergangen. Ich stelle das nach der Uhr fest. Einen Wechsel von Tag und Nacht gibt es in unserem Schiff nicht und wird es auch nicht geben. Ununterbrochen beleuchtet die Sonne die rechte Bordwand, und das Schiff dreht sich in bestimmten Abständen um seine Längsachse, damit sich seine gesamte Außenfläche gleichmäßig erwärme.
Die Motoren haben längst ihre Arbeit eingestellt, wir fliegen nach dem Trägheitsgesetz weiter, mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigeinhalb Kilometern in der Sekunde. Wir merken das nicht.
Das Schiff schwebt in einem endlosen Raum.
Dieses Bild, das ich mir auf der Erde so grauenvoll vorgestellt hatte, ist hier gar nicht furchterregend. Wir haben überhaupt nicht das Empfinden, über einem Abgrund zu schweben, weil rings um uns die gleiche Leere ist und die Begriffe „oben“ und „unten“ sich schon längst verwischt haben. Sobald die Motoren aussetzten und das Schiff, seinem Beharrungsvermögen folgend, mit konstanter Geschwindigkeit weiterflog, schwand die Schwere, und mit ihr schwanden die üblichen Vorstellungen. Gewohnheitsgemäß gilt für mich noch alles, was unter meinen Füßen ist, als „unten“, und was über meinem Kopf ist, als „oben“; aber ich brauche mich nur um hundertachtzig Grad zu drehen, damit das, was eben noch oben war, nach unten rücke und umgekehrt. Dazu bedarf es eines ganz geringen Kraftaufwandes, wenn man als Anhaltspunkt einen fest angebrachten Gegenstand oder einfach die Wand benutzt.
Ich wiege nichts! Der Zustand der Schwerelosigkeit, an den ich vor dem Flug so oft und nicht ohne Bangen gedacht habe, ist in Wirklichkeit überhaupt nicht schlimm; im Gegenteil, er ist angenehm. Gleich am ersten Tag habe ich mich daran gewöhnt.
Augenblicklich halte ich mich am Tisch auf und schreibe.
Unsere Kajüte ist nicht groß. Eine Wand ist halbrund und hat ein rundes Fenster. Wenn das Fenster nicht gebraucht wird, ist es von außen mit einer dicken Stahlplatte abgedichtet. Die Rückwand ist gerade und reicht von einer Bordwand zur andern. In ihr befindet sich die „Tür“, eine runde Öffnung mit einem Durchmesser von einem Meter.
Wenn ich die Kajüte verlassen will, stoße ich midi irgendwo leicht ab und gleite durch die Tür hindurch wie ein Fisch. Die beiden Seitenwände stellen regelmäßige Halbkreise dar und haben keine Öffnungen. An die eine ist der Tisch festgeschraubt, an dem ich jetzt mitten in der Luft „sitze“.
Außer dem Tisch befindet sich in der Kabine ein Schrank, in dem wir neben Instrumenten und Geräten auch unsere Privatsachen halten. Er ist aus Aluminium und nimmt die ganze dem Tisch gegenüberliegende Wand ein.
Betten gibt es in der Kajüte nicht. Zu beiden Seiten des Fensters hängen zwei Netze mit Metallschnallen. In die Netze legen wir uns schlafen. Das geht so vor sich: Wir stoßen uns irgendwo ab, gleiten durch die Luft auf unsere Netze zu, kriechen hinein und schließen die Schnallen. Der schwerelose Körper übt keinerlei Druck aus, man schläft in jeder Lage wie auf Daunen. Das Netz verhindert, daß der Körper während des Schlafens in der Kajüte herumgeistert.
Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß in unserer schwerelosen Welt ab und zu eine kaum merkliche Schwerkraft entsteht, und zwar dann, wenn sich das Schiff um seine Längsachse dreht. So gering diese Kraft auch ist, genügt sie doch, um einen ganz woanders aufwachen zu lassen, als wo man sich „hingelegt“ hat. Genauer gesagt, ist das keine Schwerkraft, sondern eine Auswirkung der Fliehkraft.
Während der Drehung beginnt alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zu wandern.
Dieselbe Kraft erzeugt auch das Trugbild, das wir vom Fenster aus genießen können. Im Augenblick der Drehung entsteht der Eindruck, daß sich das ganze Weltall in Bewegung setzt und langsam um das Schiff kreist. Ein unbeschreibliches Schauspiel!
Eine wichtige Einzelheit muß ich noch erwähnen. Die runde Tür ist stets durch einen Deckel hermetisch abgeschlossen. Wenn wir uns von einem Raum in den andern begeben, sind wir verpflichtet, alle Türen hinter uns zu schließen; dazu braucht man nur auf einen Knopf zu drücken. Diese Maßnahme hat ihren Grund. Der Weltraum ist nicht leer. In ihm bewegen sich zahllose Materieteilchen aller Größen, vom Staubkorn bis zu großen Massen. Nach Kamows Ansicht ist ein Zusammenstoß mit derartigen wandernden Körpern kaum möglich, und dennoch ist er nicht ausgeschlossen. Wenn einer dieser Körper, und sei es auch nur ein winziges Teilchen, gegen das Schiff flöge, käme es bei der beiderseitigen gewaltigen Geschwindigkeit zu einer mehr oder minder starken Explosion. In der Bordwand entstünde ein Leck, und da außerhalb des Schiffes ein absolutes Vakuum herrscht, würde die im Inneren vorhandene Luft unaufhaltsam durch dieses Leck entweichen.
In wenigen Sekunden wäre die gesamte Besatzung des Raumschiffes tot. Da das Schiff in hermetisch abgeschlossene Zellen eingeteilt ist, kommt aber ein derartiges Ende der Expedition kaum in Betracht.
Wird die Bordwand in einem Augenblick durchschlagen, da sich jemand in der Kajüte aufhält, und ist die Explosion nicht allzu stark, so kann sich der Betreffende retten, indem er ein Pflaster auf die Einschlagstelle legt. Solche Pflaster liegen überall in verschiedenen Größen griffbereit.
Soeben hatte Paitschadse die Kajüte „betreten“. Um die Schranktür zu öffnen, nahm er eine solche Stellung ein, daß er im rechten Winkel über meinem Kopf hing.
Ich wußte, daß sowohl er als auch die im Schrank enthaltenen Gegenstände nicht auf mich herunterfallen konnten, aber die Macht der „irdischen“ Gewohnheit ließ mich eine Bewegung zur Seite tun. Das Heft flog sofort in die entgegengesetzte Richtung.
Paitschadse bemerkte es und lachte. Er nahm ein Gerät aus dem Schrank und glitt dann durch eine geschickte Wendung in der Luft an meine Seite. Dabei gelang es ihm, mein Heft aufzufangen. „Darf ich darin lesen?“ fragte er.
Ich nickte. Er studierte aufmerksam die letzten Seiten.
„Die physikalischen Erscheinungen in dem Schiff sind gut geschildert“, sagte er, als er mir das Heft zurückgab, „warum haben Sie aber den Start nicht beschrieben?“
„Dieses. Tagebuch ist nur ein Konzept“, sagte ich. „Ich schreibe, wie es gerade kommt. Den Start schildere ich noch.“
„Man darf nie etwas tun, wie es gerade kommt!“ Er legte mir die Hand auf die Schulter, worauf ich sogleich etwas absackte. „Sie nehmen mir’s doch nicht übel, was?“
„Aber nein, Arsen Georgijewitsch! Natürlich nicht.“
* * *
In der Nacht vor dem Start schlief ich wider Erwarten gut.
Punkt sieben Uhr holte mich Paitschadse mit dem Wagen ab. Ich nahm meinen kleinen Koffer, der mich auf allen meinen Reisen begleitet hatte, und bestieg den Wagen mit einem Gefühl der Erleichterung. Endlich hatte das Warten ein Ende. Nun gab es kein Zurück mehr! Der Wagen ließ das Dynamo-Stadion hinter sich und jagte die Leningrader Chaussee entlang. Unser Raumschiff sollte seine Reise vom Ufer der Kljasma aus antreten. Von dort war Kamow bereits zu seinen ersten beiden Flügen gestartet.
Als wir ankamen, war es neun Uhr morgens.
Der von einer hohen Mauer umgebene Raketenflugplatz stellte ein riesiges Feld von fünfzehn Kilometer Durchmesser dar. In der Mitte des Flugfeldes erwartete uns das startbereite Schiff. Es ruhte dreißig Meter über dem Erdboden auf dem stählernen Gerüst des Startturms. In einem großen einstöckigen Gebäude, das wir im Scherz „Weltraumbahnhof“ nannten — es beherbergte Werkstätten und Laboratorien zur Instandhaltung des Schiffes —, trafen wir Kamow, Belopolski und die Mitglieder der Regierungskommission.
Paitschadse und ich waren die letzten. Kamow unterhielt sich mit dem Vorsitzenden der Kommission, dem Akademiemitglied Woloschin. Belopolski setzte sich gleich, nachdem er uns begrüßt hatte, in den Wagen und fuhr zum Schiff. „Es ist Zeit!“ sagte er.
Woloschin umarmte ihn. Er war sichtlich erregt. „Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen Erfolg!“ sagte er.
„Nun werden wir es kaum erwarten können, bis Sie zurückkehren.“
Er umarmte auch Paitschadse und mich, und dann verabschiedeten wir uns von den anderen Kommissionsmitgliedern. Alle waren sehr aufgeregt, nur Kamow schien die Ruhe selbst.
Ein letzter Händedruck, letzte gute Wünsche, und der Wagen fuhr an. Acht Minuten später waren wir am Schiff.
Belopolski erwartete uns am Aufzug. Neben ihm stand Ingenieur Larin, der Leiter der technischen Vorbereitungen.
Bis auf ihn hatte das gesamte Flugplatzpersonal den Startplatz bereits verlassen.
Über unseren Köpfen, etwa zehn Stockwerke hoch, schimmerte der weiße Rumpf des Raumschiffes in der Sonne. Siebenundzwanzig Meter lang und sechs Meter breit, erinnerte es in seiner Form an eine riesengroße Melone.
Kamow wechselte einige Worte mit Larin, worauf der Ingenieur sich von uns verabschiedete und mit seinem Wagen wegfuhr. Es war fünfzehn Minuten vor zehn. Mit Larins Abfahrt war unsere letzte Verbindung zu den Menschen abgebrochen.
„Gehen wir!“ sagte Kamow.
Der Aufzug beförderte uns rasch zur Plattform hinauf.
Von dieser Höhe aus konnte man den ganzen Raketenflugplatz überblicken. Das letzte, was ich sah, ehe ich durch die Eingangsöffnung des Schiffes kroch, war eine fern am Horizont aufsteigende rote Rakete.
„Schnell!“ sagte Kamow. Er folgte mir, und wir schlossen durch einen Druck auf den Knopf die Luke.
„Was ist das für eine Rakete?“ fragte ich Kamow.
„Das Zeichen, daß es bis zum Start nur noch zehn Minuten sind“, antwortete er.
Wir befanden uns nun im vorderen Teil des Schiffes mit dem Observatorium und dem Leitstand. Der Raum war von elektrischem Licht durchflutet.
Paitschadse reichte uns große Lederhelme. Ich fragte, wozu wir sie brauchten.
„Zum Schutz der Ohren“, erwiderte er. „Setzen Sie den Helm auf, ziehen Sie die Riemen fest an, und legen Sie sich hin.“ Er wies auf eine breite Matte, die auf dem Fußboden lag. „Die Beschleunigung beträgt zwanzig Meter.
Das ist nicht viel, aber im Liegen kann man’s leichter ertragen. Es wird fast eine halbe Stunde dauern.“
„Wir werden also gar nichts sehen?“ fragte ich enttäuscht.
„Doch. Wenn die Motoren aussetzen, öffnen wir die Fenster.“
Er setzte sich den Helm auf und legte sich zu Belopolski auf die Matte. Mir blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun.
Kamow, der den gleichen Helm aufhatte wie wir, nahm in dem Ledersessel am Steuerpult Platz und ließ die Stoppuhr nicht aus den Augen. Dieser Sessel, der mit dem Pult ein Ganzes bildet, kann sich mit ihm, entsprechend der Schiffslage, nach allen Richtungen drehen. Er wird nur beim Start und in der Nähe von Planeten benutzt. Unterwegs, wenn die Schwerkraft im Raumschiff aufgehoben ist, braucht man ihn natürlich nicht mehr.
Ich schaute auf die Uhr. Zwei Minuten vor zehn.
Was ich in diesem Augenblick empfand, ist schwer zu beschreiben. Meine Erregung hatte sich bis zur Qual gesteigert.
Noch eineinhalb Minuten … Noch eine Minute.
Dreißig Sekunden … Zwanzig … Zehn …
Kamow warf einen Hebel am Pult herum, dann noch einen. Durch den Helm, der die Ohren fest umschloß, war ein zunehmendes Dröhnen zu hören. Ich fühlte, wie der Schiffsleib erbebte. Dann drückte mich eine sanfte Gewalt fest zu Boden. Mein Arm mit der Uhr sank unwillkürlich herab. Ich mußte mich anstrengen, ihn wieder zu heben. Er war merklich schwerer als sonst.
Eine Minute nach zehn …
Wir flogen also schon!
Das Dröhnen nahm jetzt nicht mehr zu, war aber so stark, daß es ohne den über den Kopf gestülpten Schutzhelm wohl kaum zu ertragen gewesen wäre.
Das Schiff steigerte mit jeder Sekunde seine Geschwindigkeit um zwanzig Meter und flog immer schneller.
Ich bedauerte, daß ich die entschwindende Erde nicht auf die Platte bannen konnte. Das wären sehr effektvolle Aufnahmen geworden.
Die Zeit verging. Seit dem Start waren etwa fünfzehn Minuten verstrichen. Wir befanden uns weit außerhalb des Bereichs der Atmosphäre und flogen im luftleeren Raum.
Mich ergriff fieberhafte Ungeduld. Ich konnte einfach nicht mehr still liegen. Der Lärm, den unsere Atomdüsenantriebe verursachten, zerrte an den Nerven und weckte den quälenden Wunsch, wenigstens für einen Augenblick davon befreit zu sein.
Etwa zwanzig Minuten nach dem Start stand Kamow plötzlich auf und trat an eines der Fenster. Er schob die Fensterplatte etwas beiseite und sah durch einen schmalen Spalt hinaus. Ich hätte viel darum gegeben, an seiner Stelle zu sein.
Die letzten Minuten zogen sich unglaublich in die Länge.
Es blieben noch drei Minuten, noch zwei …
Unser Schiff erreichte allmählich die ungeheure Geschwindigkeit von achtundzwanzigeinhalb Kilometern in der Sekunde. Nach dem Verstummen der Motoren würden wir mit dieser Geschwindigkeit vierundsiebzig Tage lang fliegen, bis wir die Venus erreicht haben.
Als nur noch eine Minute geblieben war, schloß ich die Augen und bereitete mich auf die gewaltige Umstellung vor, die nun erfolgen sollte: von doppelter Schwere zu völliger Schwerelosigkeit.
Plötzlich geschah etwas. In meinen Ohren dröhnte es zwar noch immer, aber ich fühlte mit meinem ganzen Körper, daß eine Veränderung vor sich gegangen war. Ein leichter Schwindel befiel mich, ging aber sofort wieder vorüber. Die Matte, auf der ich lag, wurde plötzlich so weich, daß ich sie nicht mehr spürte. Mir war, als läge ich auf Wasser. Das Dröhnen ebbte rasch ab, und was ich noch zu hören wähnte, war nur der Nachhall in meinen Ohren.
Ringsum herrschte Stille. Die Motoren hatten ihre Arbeit eingestellt. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich Kamow am Pult stehen.
Er stand — aber seine Füße berührten den Boden nicht.
Unbeweglich und ohne jeden Halt hing er in der Luft.
Ich lag da und konnte mich nicht entschließen, auch nur ein Glied zu rühren.
Paitschadse nahm den Helm ab und erhob sich. Kein Akrobat auf der Erde hätte das auf diese Weise fertiggebracht. Er zog ein Bein an, setzte den Fuß auf den Boden und richtete sich allmählich zu seiner vollen Größe auf.
Belopolski setzte sich auf und nahm mit sonderbaren, unsicheren Bewegungen ebenfalls den Helm ab. An seinen Lippen merkte ich, daß er etwas sagte. Paitschadse reichte ihm die Hand, und plötzlich schwebte Konstantin Jewgenjewitsch in der Luft. Zum ersten Male sah ich sein sonst so unbewegliches Gesicht erregt. Er wollte sich auf die Beine stellen, kippte aber um und stand kopf. Paitschadse half ihm lachend, seine vorherige Lage wieder einzunehmen. Er sagte etwas, doch durch den Helm hörte ich keinen Laut.
Totenstille umgab mich.
Die beiden Astronomen begaben sich zum Fenster. Genauer gesagt, tat das nur Paitschadse. Belopolski schwebte, seine Hand fest umklammernd, hinter ihm her. Nachdem er die Wand erreicht hatte, hielt er sich an einem der zahllosen Riemen fest, die überall angebracht waren, und bekam offenbar Halt. Paitschadse drückte auf einen Knopf, und die metallene Platte vor dem Fenster glitt zur Seite. Neugierde bewog mich, die schutzbietende Matte zu verlassen.
Langsam löste ich die Riemen und nahm den Helm ab. Es war eigenartig, die Schwerelosigkeit seiner Arme zu spüren. Ich warf den Helm auf die Matte, aber er fiel nicht hinab, sondern blieb in der Luft hängen.
Bemüht, jede heftige Bewegung zu vermeiden, stellte ich mich vorsichtig auf die Beine. Alles ging gut, und selbstzufrieden dachte ich schon, daß ich Belopolskis Beispiel nicht folgen würde. Als ich aber merkte, daß ich in der Luft schwebte, suchte ich instinktiv nach einem Halt.
Dabei tat ich eine unwillkürliche Bewegung, meine Füße berührten einen kurzen Augenblick den Boden, und ich flog leicht wie eine Feder zur Decke oder, besser, zu dem Teil des Raumes, den ich bisher als Decke angesehen hatte.
Das Schiff schien sich blitzartig gedreht zu haben. Der „Fußboden“ und alles, was sich auf ihm befand, war nun „oben“, Kamow, Paitschadse und Belopolski dagegen hingen mit dem Kopf nach unten.
Das Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Halse, und ich unterdrückte mit knapper Not einen Schrei. Kamow sah mich an. „Machen Sie keine schroffen Bewegungen“, sagte er. „Sie wiegen jetzt nichts mehr. Denken Sie daran, was ich Ihnen auf der Erde gesagt habe! Schwimmen Sie durch die Luft, als ob sie Wasser wäre. Stoßen Sie sich von der Wand ab, aber nur ganz leicht, und bewegen Sie sich auf mich zu.“
Ich folgte seinem Rat, konnte aber die Stärke des Stoßes nicht genau berechnen und flog an Kamow vorbei, worauf ich ziemlich heftig gegen die Wand prallte.
Es lohnt nicht, alle die Vorfälle, die sich in diesen ersten Stunden ununterbrochen mit mir und Belopolski ereigneten, ausführlich zu beschreiben. Wären uns alle diese unfreiwilligen Flüge und Purzelbäume auf der Erde passiert — wir hätten uns längst das Genick gebrochen; jedoch in dieser unwahrscheinlichen Welt kamen wir mit ein paar blauen Flecken davon.
Kamow und Paitschadse hatten bereits auf dem vorhergehenden Flug Erfahrungen sammeln können, und mit ihrer Hilfe eigneten wir uns auch die ersten Fertigkeiten in der Fortbewegung an. Aber selbst ihnen unterliefen bisweilen Fehler.
Wir brachten mehrere Stunden am Fenster des Observatoriums zu. Das Fenster war nicht sehr groß, ungefähr einen Meter im Durchmesser, bot aber trotz der beträchtlichen Stärke des Glases eine erstaunlich gute Sicht.
Die Sternenwelt machte auf uns einen überwältigenden Eindruck. Einen besonders verblüffenden Anblick boten in diesen ersten Flugstunden jedoch die Erde und der Mond.
Die Entfernung, in der wir uns befanden, ließ uns die beiden Himmelskörper ungefähr gleich groß erscheinen. Zwei riesige Kugeln, die eine blaßblau, die andere gelb, hingen hinten, ein wenig links von der Flugbahn des Schiffes, im Raum.
Etwa eine Stunde lang herrschte an Bord tiefes Schweigen. Alles schaute der fernen Erde nach. Auf ihrer Scheibe konnte ich fast keine Einzelheiten unterscheiden, und sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Globus oder den Abbildungen in den Schulbüchern.
Während ich durch das Schiffsfenster den frei im All schwebenden Erdball betrachtete, dachte ich daran, daß die Menschen jahrtausendelang ihren kleinen Planeten für den Mittelpunkt der Welt gehalten hatten. Es zog mich zur Kamera. Ich wollte dieses Bild auf den Zelluloidstreifen bannen. Millionen Menschen sollten sehen, was wir vier Glücklichen nun mit eigenen Augen erblickten.
Unterwegs
In hundertzwanzig Stunden werden wir die Venus erreichen. Die erste Etappe unserer weiten Reise nähert sich ihrem Ende. Der ferne und unerreichbare Planet, der so schön am morgendlichen und abendlichen Himmel der Erde leuchtet — nun sind wir ihm schon nahe!
Nahe? Offensichtlich habe ich mir durch den ständigen Umgang mit Astronomen auch schon astronomische Begriffe angewöhnt, wenn mir eine Entfernung von mehr als fünfzehn Millionen Kilometern so kurz vorkommt.
Die Venus steht jetzt zwischen uns und der Sonne und kehrt uns ihre unbeleuchtete Seite zu. Dafür sehen wir sie vor dem Hintergrund der Sonnenscheibe, und unsere beiden Astronomen stellen ohne Ende Beobachtungen an, die auf der Erde nur selten möglich sind. Ich habe mein Pensum an fotografischen Aufnahmen, das mir für diesen Abschnitt unserer Reise gestellt war, erledigt. Es gab so viel zu tun, daß ich zwei Monate lang keine Zeit fand, meine Aufzeichnungen fortzusetzen.
Nun habe ich alle belichteten Filmstreifen und die Negative geprüft. Es sind einmalige Aufnahmen! Paitschadse half mir bei der Ausfüllung der Karteikarten, die ich jeder Aufnahme beilege. Trotz des gewaltigen Ausmaßes seiner Arbeit findet dieser Mann immer Zeit, mir zu helfen. Er ist unermüdlich. Stundenlang arbeitet er im Observatorium, ohne an Erholung zu denken.
Belopolski steht ihm nicht nach. Außer den astronomischen Arbeiten gehört es zu seinen Obliegenheiten, tagtäglich zugleich mit Kamow hochkomplizierte Berechnungen zur Feststellung unserer Flugbahn und unseres Ortes im Raum auszuführen.
Obwohl die Berechnungen für die gesamte Flugdauer schon auf der Erde vorbereitet wurden, hält Kamow die tägliche „Ortung“, wie er es nennt, für unerläßlich. Die Ergebnisse der Berechnungen werden verglichen, und es ist noch nicht vorgekommen, daß sie voneinander abgewichen wären. Wir legen täglich über zwei Millionen Kilometer zurück. und man begreift, daß der kleinste Fehler uns weit von jenem winzigen Punkt entfernen würde, den der Planet Venus, die „Schwester der Erde“, die ihr an Umfang und Masse fast gleichkommt, in diesem gewaltigen Raum darstellt.
Zu meinen Pflichten zählt auch noch der Wachdienst am Schaltbrett. Dieser Dienst, der ununterbrochen nach einem genauen Plan durchgeführt wird, ist obligatorisch für die ganze Besatzung; aber Kamow und ich suchen in stillschweigendem Einvernehmen die beiden Astronomen davon zu befreien, denn sie haben ohnehin mehr als genug zu tun. Die Aufgaben des Wachhabenden sind nicht schwer.
Er muß dafür sorgen, daß keine Seite des Schiffes überhitzt wird. Um dies zu verhindern, läßt er es sich um seine Längsachse drehen, damit die Sonnenstrahlen seine Außenfläche gleichmäßig erwärmen. Das geschieht mittels einer massiven Scheibe von zwei Meter Durchmesser, die durch einen Elektromotor angetrieben wird. Diese schnell rotierende Scheibe bewirkt, daß sich das Schiff langsam dreht.
In der Regel ist der Wachhabende verpflichtet, die Drehung vorher bekanntzugeben, damit die Arbeit am Fernrohr nicht gestört werde. Sollte sich die Drehbewegung verzögern, so passiert auch nichts weiter, weil der weiße Schiffsrumpf die Sonnenstrahlen gut reflektiert und sich nur langsam erwärmt.
Der Wachhabende muß ferner die Atemluft kontrollieren, die Kohlensäure daraus entfernen und sie durch Sauerstoff ersetzen. Alle diese Vorgänge werden durch einen Druck auf die entsprechenden Knöpfe am Schaltbrett vollzogen und an Hand von Geräten überprüft, die auf jede mit dem Schiff oder in seinem Innern vor sich gehende Veränderung reagieren. Ich habe zum Beispiel schon erwähnt, daß wir verpflichtet sind, alle Türen hinter uns zu schließen; aber wenn das jemand vergäße, würde ein entsprechendes Lämpchen den Wachhabenden sofort durch ein rotes Blinklicht darauf aufmerksam machen.
Also ist sogar für den Fall Vorsorge getroffen, daß jemand zerstreut sein sollte.
Bei übermäßiger Erhitzung der Außenwand schaltet sich die Scheibe, die das Schiff dreht, selbsttätig ein und bleibt nach einer Drehung um hundertachtzig Grad stehen. Sollte der Wachhabende einmal vergessen, die Sauerstoffspeisung abzustellen, so schließt sich der Hahn von selbst, sobald die Konzentration der Luft ihre Norm erreicht hat.
Und so ist es mit allem. Unser vortreffliches Schiff ist vollkommen automatisiert. Alles geschieht mit Hilfe empfindlicher und „denkender“ Geräte, die durch elektrischen Strom gespeist werden. Mit diesem versorgen uns transportable, aber leistungsfähige Akkumulatoren, die eigens für Kamow angefertigt worden sind. Die Ladung dieser Akkumulatoren deckt den inneren Bedarf des Schiffes für die gesamte Flugdauer. Außerdem haben wir noch eine mit lichtelektrischen Zellen ausgerüstete Ladestation, die die Sonnenstrahlen unmittelbar in elektrischen Strom umsetzt.
Dieses Sonnenkraftwerk ist sozusagen unsere Notstromversorgungsanlage.
Alles, was an Bord vorhanden ist, bis auf die Motoren, kann ausgewechselt werden; für einige besonders wichtige Geräte und Apparate haben wir sogar zwei- und dreifachen Ersatz.
Wenn ich an die gewaltige Last denke, die unser Schiff trägt, dann erfüllt mich höchste Bewunderung für die Leistungen der modernen Atomtechnik. Unsere Motoren sind im Vergleich zum ganzen Raumschiff sehr klein, und doch sind sie so stark, daß sie ihm eine unvorstellbare Geschwindigkeit vermitteln können. Kamow allerdings hält diese Geschwindigkeit für unzureichend. Als sich einmal zwischen uns ein Gespräch über die Weltraumfahrten der Zukunft entspann und er wiederum klagte, wir flögen zu langsam, fragte ich ihn, warum er die Motoren beim Start von der Erde nicht habe länger laufen lassen. Dann hätten wir doch eine größere Geschwindigkeit erreicht.
Er gab mir zur Antwort: „Theoretisch stimmt das, aber in der Praxis ist die Sache komplizierter. Das Problem der Erreichung hoher Geschwindigkeiten hängt vom Problem des Materials ab, aus dem die Düsen und andere Teile des Motors hergestellt werden. Bei der Atomspaltung entwickelt sich eine gewaltige Temperatur. Wir haben aber heute noch keine Metalle, die so schwer schmelzbar sind, daß sie einer derartigen Erhitzung längere Zeit widerstehen könnten. Durch zahlreiche Versuche wurde festgestellt, wie lange die Düsen arbeiten können, und diese Zeit reicht gerade aus, um von der Erde, der Venus und dem Mars aufzusteigen. Die Reservezeit beträgt einige Minuten und ist nur für unvorhergesehene Zwischenfälle gedacht. Sogar für das Absteigen zu den Planeten mußte ich zwei zusätzliche Motoren einbauen.“
„Wie steht es dann mit dem Flug in der Atmosphäre?“ fragte ich.
„Dafür haben wir einen Kleinmotor, der lange arbeiten kann, aber nur eine geringe Geschwindigkeit entwickelt. Unser Schiff stellt zwar die Krönung der modernen Technik dar, doch es ist noch längst nicht vollkommen. Denken Sie zum Beispiel nur einmal daran, daß wir uns auf dem Mars nicht eine Stunde zu lange aufhalten dürfen. Zeigt das etwa nicht, wie machtlos wir eigentlich noch sind? Wenn unser Schiff eine höhere Geschwindigkeit besäße, zum Beispiel vierzig oder fünfzig Kilometer in der Sekunde, mindestens aber eine etwas größere Geschwindigkeit als die Erde, so brauchten wir uns um keine Termine zu kümmern und könnten auf dem Mars bleiben, solange wir wollen. Vorerst aber sind uns die Hände noch gebunden. Stellen Sie sich vor, jemandem von uns stößt auf dem Mars etwas zu, sagen wir, er erkrankt, der Krankheitserreger ist eine uns unbekannte Mikrobe in der Atmosphäre des Planeten. Die verdoppelte Schwerkraft beim Aufstieg könnte sich als schädlich, ja sogar als lebensgefährlich für den Kranken erweisen, und trotzdem wären wir gezwungen, ohne Rücksicht auf die Folgen, den Abflug zur Erde genau zum festgesetzten Zeitpunkt anzutreten. Andernfalls wäre die ganze Expedition dem Verderben preisgegeben, weil wir die Erde nicht einholen können. Darin besteht die Gefahr unseres Fluges. Andere Gefahren sehe ich nicht.“
„Mir scheint, es gibt auch noch andere“, sagte ich. „Ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Warum erachten Sie es nicht für nötig, nach vorn Ausschau zu halten? Das Schiff kann doch mit einem der wandernden Körper zusammenstoßen, von denen Sie mir selber erzählt haben.
Wäre es nicht gut, wenn man einen solchen Körper auf der Flugbahn des Schiffes rechtzeitig bemerkte?“
„Davon hätten wir nichts“, erwiderte Kamow. „Kleine Teilchen lassen sich sowieso nicht in einer Entfernung erkennen, die noch Maßnahmen gegen einen Zusammenstoß gestatten würde, und sollte ein großer Körper in die Flugbahn des Schiffes geraten, so warnt uns der Funkscheinwerfer.“
„Was ist denn das?“
„Habe ich Ihnen nicht davon erzählt?“
„Nein.“
„Ein Funkscheinwerfer“, sagte Kamow, „ist im Grunde genommen dasselbe wie ein Radargerät. Er arbeitet mit Ultrakurzwellen, und zwar, genau wie die Radaranlage, nach dem Prinzip der Widerspiegelung von Funkwellen.
Wenn der ausgesendete Funkstrahl auf einen Gegenstand stößt, kehrt er um und signalisiert sowohl das Hindernis als auch die Entfernung, in der es sich befindet. Der Funkscheinwerfer, den wir an Bord haben, ist ununterbrochen in Betrieb und tastet die Flugbahn ab; er erleuchtet uns gewissermaßen den Weg. Seine Funktion erinnert an die eines gewöhnlichen Scheinwerfers, daher sein Name. Ich war überzeugt, daß Sie von ihm wußten.“
„Ich höre zum ersten Male davon“, sagte ich.
„Das ist wohl nur darauf zurückzuführen, daß Sie in so großer Eile auf den Flug vorbereitet wurden. Im übrigen werden wir wohl kaum ein Warnsignal hören. Den Zusammenprall mit einem Körper, der dem Schiff gefährlich werden könnte, halte ich für ausgeschlossen. Selbst die feinsten Stoffteilchen im interplanetaren Raum sind ja einige Kilometer voneinander entfernt.“
„Und doch verlangen Sie von uns, die Türen zu schließen?“
„Ja, denn wir haben kein Recht, den Erfolg der Expedition aufs Spiel zu setzen. Auch wenn nur eine theoretische Gefahr besteht, sind wir verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“
„Ich habe gehört, daß die Meteore in Schwärmen fliegen“, sagte ich. „Wenn die Erde einem solchen Schwarm begegnet, kann man ein Feuerwerk von Sternschnuppen beobachten.“
„Für die Erde mit ihren Ausmaßen“, erwiderte Kamow, „sind diese Schwärme tatsächlich sehr dicht, aber für unser Schiff liegen sie sehr weit auseinander. Selbst wenn wir dem geschlossensten dieser Schwärme begegneten, flögen wir durch ihn hindurch, ohne ihn überhaupt zu bemerken.
Auf jedes Teilchen eines solchen Schwarms entfällt ein Raum von etlichen Kubikkilometern.“
„Demnach wären interplanetare Reisen ungefährlich?“
Kamow zuckte die Schultern. „Alles auf der Welt ist relativ“, meinte er. „Das gilt auch für interplanetare Reisen. Ein Raumschiff kann tausend Jahre lang fliegen, ohne einem Meteor zu begegnen, es kann aber auch schon in der ersten Flugstunde mit einem zusammenstoßen. Jedenfalls ist bei einem Eisenbahnzug die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe hundertmal größer als bei einem Weltraumschiff. Und doch fahren die Leute mit der Eisenbahn.“
Nach diesem Gespräch hörte ich auf, über „wandernde Körper“ und die Folgen einer Begegnung mit ihnen nachzudenken, obwohl diese Frage mich von dem Augenblick an beunruhigt hatte, da wir von der Erde aufstiegen. Ich hatte schon mehrmals ein Gespräch über dieses Thema mit Kamow angeknüpft, aber er hatte den Funkscheinwerfer seltsamerweise nicht ein einziges Mal erwähnt.
Seitdem wir die Erde verlassen haben, sind mehr als zwei Monate vergangen. Das Leben an Bord vollzieht sich nun nach einer unumstößlichen Ordnung. Es hat sich eine feste Tageseinteilung herausgebildet, das heißt eigentlich keine Tageseinteilung, sondern eine Einteilung der täglichen vierundzwanzig Stunden, da wir hier, wie gesagt, einen Wechsel von Tag und Nacht nicht kennen. Zu bestimmten Zeiten finden wir uns alle zum Frühstück, zum Mittag- oder Abendessen zusammen. Als Nahrung dienen uns wohlschmeckende, eigens für uns zubereitete Konserven, die wir direkt aus den Büchsen essen. Wir trinken kein Wasser, sondern Säfte, die in verschlossenen Gefäßen aufbewahrt werden, aus denen wir sie durch einen Schlauch heraussaugen, denn schwerelose Flüssigkeit läßt sich nicht ausgießen, auch wenn man sich noch so müht. Der Speisezettel ist abwechslungsreich, so daß wir keine Ursache haben, über das Essen zu klagen.
Die Tage verlaufen eintönig, und dennoch ist es erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Langeweile gibt es nicht.
Jeder hat seine Arbeit. An Bord herrscht stets die gleiche Temperatur. Die Luft ist rein und völlig staubfrei. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt. Körperliche Anstrengungen kennen wir nicht. Ich kann jeden beliebigen Gegenstand, und sei er noch so schwer, mühelos von einem Platz zum anderen tragen.
„Warten Sie nur!“ sagte Kamow, als wir einmal darauf zu sprechen kamen. „Wenn Sie erst wieder auf der Erde sind, wird Sie jede Bewegung ermüden. Ihr Körper wird Ihnen schwer und unbeholfen vorkommen. Übrigens werden Sie sich bald davon überzeugen können, daß selbst die kurze Zeit, die seit dem Start vergangen ist, genügt hat, Sie der Schwere zu entwöhnen.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte ich.
„Ich spreche von dem Augenblick, da Sie wieder Ihr normales Gewicht erlangen.“
„Wann wird das sein?“
„Wenn wir den Abstieg zur Venus beginnen. Würde das Schiff mit seiner augenblicklichen Geschwindigkeit in ihre Atmosphäre hineinfliegen, so würde es durch die Reibung an der Gashülle des Planeten verbrennen. Also muß ich bremsen; dadurch entsteht Schwerkraft. Die negative Beschleunigung wird zehn Meter in der Sekunde betragen, was der Beschleunigung des freien Falls auf der Erde gleichkommt.“
„Mit welcher Geschwindigkeit werden wir in die Venusatmosphäre eindringen?“
„Mit einer Geschwindigkeit von siebenhundertzwanzig Kilometern in der Stunde.“
„Wieviel Zeit brauchen Sie, um unser Schiff zum Bremsen zu bringen?“
„Siebenundvierzig Minuten und elf Sekunden. Aber das heißt nicht, daß wir eine Dreiviertelstunde unter der Arbeit unserer Motoren zu leiden haben werden, wie das beim Abflug von der Erde der Fall war. Die Motoren werden viel leiser laufen und durch den Helm nur schwach zu hören sein. Außerdem brauchen Sie sich nicht hinzulegen, sondern können den Abstieg zum Planeten vom Fenster aus beobachten.“
Ich sah diesem bedeutsamen Ereignis mit großer Spannung entgegen.
Als wir noch auf der Erde waren, hatte ich ein Buch von Belopolski über die Planeten des Sonnensystems gelesen, um mit meiner Unkenntnis in Fragen der Astronomie nicht allzusehr aufzufallen. Dennoch sind die Kenntnisse, die ich daraus geschöpft habe, offensichtlich unzureichend. Was werden wir zu sehen bekommen, wenn wir die Wolkendecke der Venus durchstoßen haben? Besteht Aussicht, auf diesem Planeten Leben zu entdecken, und was für Leben mag das sein?
Mit all diesen Fragen wandte ich mich an Kamow.
„Fragen Sie Belopolski“, antwortete er. „Einen besseren Kenner des Sonnensystems finden Sie nicht.“
Ich konnte mich nicht entschließen, Belopolski bei der Arbeit zu stören, und wartete die Zeit des gemeinsamen Frühstücks ab.
Als wir uns in Kamows Kajüte eingefunden hatten — dort befindet sich ein zweiter Satz der Geräte des Hauptschaltbretts, so daß man diese während des Essens im Auge behalten kann —, sprach ich ihn an.
„Konstantin Jewgenjewitsch!“ sagte ich. „Können Sie mir etwas von der Venus erzählen, der wir uns nähern?“
„Was möchten Sie denn wissen?“ fragte er.
„Das, was der Wissenschaft über diesen Planeten bekannt ist.“
„Ein weites Gebiet“, meinte Paitschadse.
„Natürlich nicht alles“, beeilte ich mich zu sagen, „nur das Wichtigste. Was werden wir auf ihm sehen?“
„Ihre erste Frage ist zu umfangreich“, sagte Belopolski, „und die zweite läßt sich nicht beantworten. Der Planet Venus ist unter einer dicken Wolkenschicht verborgen, die sich niemals auflockert. Alle unsere Kenntnisse beziehen sich nur auf die oberen Schichten seiner Atmosphäre. Die Oberfläche des Planeten hat bisher noch niemand gesehen, und es weiß auch niemand, was sie darstellt. Hypothesen und Vermutungen sind zwar für die Entwicklung der Wissenschaft nützlich, können aber keinen Anspruch auf Unbestreitbarkeit erheben.“
„Und welche Vermutungen hat die Wissenschaft?“ fragte ich.
„Vermutungen, die auf vorhandenem Tatsachenmaterial beruhen“, erklärte mir Belopolski, „heißen ›Arbeitshypothesen‹. Ich will Ihnen die Fakten aufzählen, die uns von der Venus bekannt sind, werde Ihnen aber kaum etwas Neues mitteilen können. Der Planet ist durchschnittlich hundertacht Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, das heißt, er ist ihr um fast zweiundvierzig Millionen Kilometer näher als die Erde. Er ist unser nächster Nachbar im Weltraum, abgesehen vom Mond und von einigen Asteroiden. Die Bahngeschwindigkeit der Venus beträgt fast fünfunddreißig Kilometer in der Sekunde. Die Zeit, in der sie eine volle Umdrehung um die Sonne ausführt, oder ein Venusjahr, beläuft sich auf Null Komma zweiundsechzig Erdjahre, mit anderen Worten — ungefähr siebeneinhalb Monate. Der Radius des Planeten beträgt siebenundneunzig Hundertstel des Erdradius, infolgedessen ist sein Durchmesser nur um fünfhundertsiebenundfünfzig Kilometer kleiner als der der Erde. Beide Planeten sind also fast gleich groß. Die Zeit, in der sich die Venus einmal um ihre Achse dreht — oder die Länge ihres Tages —, ist nicht genau bekannt. Das ist eine Frage, die wir noch lösen müssen.
Die Astronomen neigen zu der Ansicht, daß die Kräfte der Gezeiten, die durch die Sonne auf der Venus hervorgerufen werden, die Drehung des Planeten stark hemmen und daß ein Tag auf ihm wahrscheinlich einigen Wochen bei uns gleichkommt, aber das läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dank ihrer Sonnennähe erhält die Venus mehr Licht und Wärme als die Erde; ihre Durchschnittstemperatur ist höher als die der Erde. Das Vorhandensein einer dichten Wolkendecke muß in den darunterliegenden Luftschichten einen sogenannten Treibhauseffekt hervorrufen, und man nimmt an, daß die Bodentemperatur des Planeten höher ist als bei uns in den Tropen. In den oberen Schichten der Venusatmosphäre haben die Spektrographen der Erde viel Kohlensäure, jedoch keinen Sauerstoff entdeckt. Das ist alles, was die Astronomen der Erde darüber sagen können.
Man vermutet, daß die Venusoberfläche mit großen Meeren und sumpfigem Festland bedeckt ist. Daß auf diesem Planeten Leben existiert, wird für wenig wahrscheinlich gehalten. Ich habe die Worte ›Spektrographen der Erde und ›Astronomen der Erde‹ absichtlich betont, denn auf unserem Schiff hat die Astronomie wesentliche Berichtigungen an diesem Bild vorgenommen.“
Er sah dabei Paitschadse an, auf dessen Gesicht ein Lächeln lag.
„Die Spektralanalyse“, fuhr Belopolski fort, „hat auf der Erde einen Feind. Das ist unsere Atmosphäre. Sie hemmt und verzerrt das Licht der Himmelskörper, die einzige Quelle, aus der wir Erkenntnisse über die physikalische Natur der Sterne und Planeten schöpfen. Der Ozon in der Erdatmosphäre läßt zum Beispiel keine ultravioletten Strahlen durch, schränkt also das erhaltene Spektrum ein.
Die Struktur der Erdatmosphäre ist noch nicht restlos erforscht, daher die Ungenauigkeit unseres Wissens. Im Observatorium unseres Schiffes herrschen andere Bedingungen. Atmosphäre gibt es hier nicht. So ist es uns gelungen, vollständigere und umfangreichere Spektren zu erhalten.
Aus ihnen ersahen wir etwas, was uns auf der Erde entgangen war. Wir haben Neues in Erfahrung gebracht, und das gestattet uns einige Schlußfolgerungen.“
„Welche?“ fragte ich.
„In der Frage, die Sie interessiert“, antwortete Belopolski, „das heißt in der Frage der Venus, hat Arsen Georgijewitsch eine außerordentlich wichtige Tatsache festgestellt, und zwar die, daß in ihrer Atmosphäre Sauerstoff nicht nur vorhanden ist, sondern sogar in ziemlich großer Menge vorkommt. Diese Tatsache läßt den Schluß zu, daß es auf der Venusoberfläche eine Pflanzendecke gibt, denn das Vorhandensein freien Sauerstoffs ließe sich kaum anders erklären. Damit haben wir wiederum den Beweis dafür, daß dort Leben existiert.“
„Pflanzliches“, bemerkte Kamow.
„Wollen Sie damit sagen, kein tierisches?“ fragte ich.
„Ich wollte nur betonen, daß Konstantin Jewgenjewitschs Ausführungen über das Vorhandensein von Leben auf der Venus nicht so aufzufassen sind, als existiere auf ihr das gleiche Leben wie auf der Erde“, entgegnete Kamow.
„Aber könnte es dort, zum Beispiel in den Meeren, nicht die allerprimitivsten Lebewesen geben?“
„Das ist möglich, muß aber nicht unbedingt so sein.
Wenn irgendwo Bedingungen vorhanden sind, die die Entstehung von Leben begünstigen, dann wird dort auf diese oder jene Weise auch Leben entstehen. Auf der Venus sind solche Bedingungen vorhanden, sie haben, wie man nunmehr mit Bestimmtheit behaupten darf, bereits zur Entstehung von Leben in pflanzlicher Form geführt; aber ob dieses Leben noch andere uns bekannte Formen angenommen hat, kann man natürlich nicht sagen.“
„Werden wir diese Formen, wenn es sie wirklich gibt, auch entdecken können?“
„Das hängt von Sergej Alexandrowitsch und von Ihnen ab“, erwiderte Paitschadse. „Je näher das Schiff an die Oberfläche des Planeten herankommt, und je besser Sie alles Sichtbare mit der Kamera festhalten, desto leichter wird diese Frage zu beantworten sein.“
Ich erkundigte mich, wie lange wir uns in der Atmosphäre der Venus aufhalten würden.
„Nicht länger als zehn, zwölf Stunden“, antwortete Kamow und wandte sich an Belopolski. „Ich beabsichtige, das Schiff so zu lenken, daß wir auf der Linie des Terminators in die Atmosphäre hineinstoßen und die ganze Tageshälfte des Planeten überfliegen. Wenn die Venus sich tatsächlich so langsam dreht, wie man vermutet, werden wir etwa zehn Stunden brauchen. Sollten die Wolken bis zur Oberfläche des Planeten hinunterreichen, so müßten wir in dichtem Nebel fliegen. In diesem Fall würden wir uns in der Atmosphäre der Venus gerade so lange aufhalten, wie Boris Nikolajewitsch zu seinen Aufnahmen braucht. Sie müssen auf einen solchen Stand der Dinge vorbereitet sein“, sagte Kamow, an mich gewandt. „Die Aufnahmen müssen dann mit infraroten Strahlen gemacht werden; ich meinerseits werde mir Mühe geben, so weit hinunterzugehen, daß die Nebelschicht, die uns von der Oberfläche trennt, möglichst dünn ist.“
„Im Nebel könnten wir leicht gegen Berge fliegen.“
„Ich hoffe doch, daß der Funkscheinwerfer uns rechtzeitig warnt.“
Der Weltraumkapitän
Ralph Bason, Mitarbeiter der Zeitung „New York Times“, stürzte keuchend vor Erregung in Charles Hapgoods Arbeitszimmer und ließ sich in den Sessel fallen, der vor dem Schreibtisch stand. Schwer atmend, stieß er nichts weiter hervor als: „Sie sind fort!“
Hapgood legte den Füllhalter aus der Hand, runzelte die Brauen und sah Bason durchdringend an.
„Wie sagten Sie?“ fragte er langsam.
„Sie sind fortgeflogen. Ich habe es eben im Rundfunk gehört. Heute um zehn Uhr Moskauer Zeit ist Kamows Raumschiff gestartet!“
Hapgood zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. „Wohin?“ fragte er ein wenig heiser.
„Zum Mars. Sie sind uns zuvorgekommen.“
„Zum Mars?“ Hapgood sah Bason eine Zeitlang nachdenklich an. „Sonderbar, Ralph!“ sagte er dann: „Das Kamow auf den Mars wollte, wußte ich; der Planet steht aber augenblicklich nicht gerade so, daß es günstig wäre, mit der Geschwindigkeit, die Kamows Raumschiff meines Erachtens haben müßte, einen Flug dahin zu unternehmen.
Da stimmt etwas nicht! Wurde nicht gesagt, wann sie zurückkehren sollen?“
„Anfang Februar nächsten Jahres oder, ganz genau, am elften Februar. Außerdem wurde bekanntgegeben, daß Kamow unterwegs die Venus besichtigen will.“
Hapgood zog die Brauen hoch. „Sieh mal einer an! Sogar die Venus? Wollen mal sehen!“ Er nahm einen Bogen Papier, breitete ihn auf dem Schreibtisch aus und zeichnete mit Hilfe eines Zirkels und eines Rechenschiebers ein Schema des Sonnensystems. Bason, der sich von seinem Sessel erhoben hatte, sah ihm aufmerksam zu.
„Hier stehen Erde, Mars und Venus am heutigen Tag“, erklärte ihm Hapgood. „Und hier, Ralph, schauen Sie her, wird die Erde an dem Tag stehen, an dem sie zurückkommen, das heißt am elften Februar. Sehen wir zunächst von der Geschwindigkeit ihres Schiffes ab, so wäre wohl diese Flugbahn hier am vorteilhaftesten.“ Hapgood zog auf dem Blatt eine gestrichelte Linie. „Demnach …“
Hapgood hielt mitten im Satz inne und vertiefte sich in Berechnungen. Bason wartete geduldig auf das Ergebnis.
Um Hapgood nicht zu stören, setzte er sich wieder in den Sessel.
So vergingen anderthalb Stunden. „Demnach“, fuhr Hapgood schließlich in seinem Satz fort, als hätte er ihn gar nicht unterbrochen, „muß ihre Geschwindigkeit mindestens achtundzwanzig Kilometer in der Sekunde betragen, vorausgesetzt, daß sie weder auf der Venus noch auf dem Mars landen, sonst wäre ihre Flugroute nicht durchführbar. Eine andere aber kann ich mir nicht vorstellen. Ich hätte nicht gedacht, daß sie eine solche Geschwindigkeit erzielen können.“
„Sie haben vieles nicht gedacht, Charles!“ Bason machte kein Hehl aus seinem Ärger. „Kamow hat Ihnen nicht zum ersten Male eins ausgewischt.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Ralph! Noch ist nicht alles verloren! Wir geben den Kampf nicht auf. Noch ist Hoffnung!“
„Was für eine? Ich sehe keine. Unser Raumschiff, dessen Geschwindigkeit geringer ist …“
„Vierundzwanzig Kilometer.“
„… kann Kamow nicht einholen“, schloß Bason.
„Einholen nicht“, entgegnete Hapgood ruhig, „aber überholen kann es ihn, denke ich.“
Bason sah ihn verwundert an.
„Ich verstehe Sie nicht“, meinte er.
„Dabei ist das ganz einfach“, erwiderte Hapgood.
„Der Motor meines Schiffes kann zehn Minuten arbeiten und gestattet uns bei einer Beschleunigung von vierzig Metern in der Sekunde eine Geschwindigkeit von vierundzwanzig Kilometern — genauer gesagt, dreiundzwanzig Komma acht. Wenn wir die Beschleunigung beim Aufstieg auf fünfzig Meter steigern, erhalten wir eine Endgeschwindigkeit von achtundzwanzigeinhalb Kilometern. Und das genügt vollauf, Kamow zu überholen, um so mehr, als wir uns den Umweg zur Besichtigung der Venus ersparen.“
„Sind Sie davon überzeugt?“ fragte Bason, der aus Hapgoods Worten neue Hoffnung schöpfte.
„Ja, aber nur, wenn wir den Flug spätestens am zehnten Juli antreten.“
„Es wird schwer halten, mit den Vorbereitungen so schnell fertig zu werden.“
„Ich werde alles tun, damit wir es schaffen“, sagte Hapgood. „Wir haben noch sieben Tage Zeit. Wenn wir uns ordentlich ins Zeug legen, werden wir rechtzeitig fertig.
Kommen Sie morgen um neun Uhr wieder zu mir.“
Als der Journalist gegangen war, saß Hapgood noch lange Zeit tief in Gedanken versunken. Er war sich darüber im klaren, daß sein Entschluß, die Beschleunigung auf fünfzig Meter zu erhöhen, schwere Folgen für die Gesundheit haben konnte. Schon die ursprüngliche Beschleunigung von vierzig Metern hätte die dem Organismus zumutbare Belastung um das Anderthalbfache überschritten. Laut ärztlicher Feststellung betrug die Beschleunigung, die ein Mensch ohne Schaden für seine Gesundheit vertragen konnte, dreißig Meter in der Sekunde, und das auch nur eine Minute lang. Er aber hatte vor, sich und seinen Begleiter zehn Minuten lang einer auf das Fünffache gesteigerten Schwerkraft auszusetzen. Zwar wollte er den Start im Wasserbad liegend durchführen, doch war er sich nicht gewiß, ob ihm dies die erwünschte Wirkung verbürgte. Das Risiko war sehr groß, aber es blieb keine andere Wahl. Entweder nahm er das Wagnis auf sich, oder er gab den Kampf auf und mußte erleben, daß sein Rivale einen vollen Triumph feierte.
* * *
Der Name Charles Hapgood war seinerzeit in den Vereinigten Staaten überaus populär. Der talentierte Ingenieur und bekannte Theoretiker der Astronautik hatte die erste mit Atomdüsenantrieb versehene Stratosphärenrakete der Welt konstruiert.
Nachdem er mit ihr über den Atlantischen Ozean geflogen war und dabei alle bisher erzielten Geschwindigkeitsrekorde weit hinter sich gelassen hatte (der Flug dauerte nur eine Stunde und fünfzehn Minuten), hatte er sich in der ganzen Welt einen Namen gemacht. In einem Interview, das er nach diesem Flug gab, erklärte er, sein nächster Flug werde über den Bereich der Erde hinausgehen. Die amerikanischen Zeitungen nannten Hapgood einen „Weltraumkapitän“, worauf der seinerzeit noch völlig unbekannte sowjetische Ingenieur Kamow in einem Artikel, in dem er den Erfolg des amerikanischen Konstrukteurs würdigte, die Bemerkung fallen ließ, ein solcher Titel sei noch etwas verfrüht.
„Formal hat er recht“, sagte Hapgood im Gespräch mit einem Zeitungskorrespondenten, der ihn fragte, wie er über diesen Satz denke, „aber eine Überquerung des Atlantiks und ein Flug, sagen wir, zum Mond unterscheiden sich wenig voneinander. Von der Stratosphärenrakete zum Weltraumschiff ist es nur ein Schritt, und ich werde diesen Schritt in Kürze tun.“
So dachte Charles Hapgood, aber in Wirklichkeit kam es anders, und den ersten Schritt zur Eroberung des Weltraums tat nicht er, sondern jener sowjetische Ingenieur Kamow.
Damit begann zwischen ihnen ein hartnäckiger Kampf um die Führung in der Raumschiffahrt. Die Regierung der Vereinigten Staaten gewährte Hapgood jedwede Unterstützung.
Das erste Ziel Hapgoods sollte der Mond sein, den Kamow nur umflogen hatte. Hapgood, der davon ausging, daß Kamow mindestens zwei Jahre brauche, ehe er seinen zweiten Flug durchführen könne, trieb den Bau seines Raumschiffes energisch voran.
Das Schiff war bereits fertig, als die Nachricht eintraf, daß Kamow und Paitschadse den Mond erreicht hatten.
Das war für Hapgood ein schwerer Schlag. Er verfolgte aufmerksam alles, was von Kamows Vorbereitungen auf seinen dritten Flug in der Fachliteratur durchsickerte, und versuchte, sich eine Vorstellung vom Schiff seines Rivalen zu machen. Aber Kamow war sehr vorsichtig, und bis zum letzten Tag blieben Hapgood so wichtige Daten wie Geschwindigkeit und Maße des russischen Raumschiffes unbekannt. So kam es, daß er die Kräfte und Möglichkeiten des Rivalen unterschätzte und die eigenen überschätzte.
Dennoch entschloß er sich, zur vollen Gewähr seines Erfolges die Beschleunigung bis auf vierzig Meter zu steigern.
Hapgood baute sein Schiff so, daß nur zwei Personen darin Platz fanden. Alle Angebote amerikanischer Wissenschaftler, die gern an dem Flug teilgenommen hätten, beantwortete er mit einer kategorischen Absage und erklärte ein für allemal, auf die erste Reise nur einen Pressevertreter mitnehmen zu wollen.
Nachdem das Schiff fertig war, wandte sich Hapgood in einem offenen Schreiben an die Journalisten Amerikas.
Bason meldete sich zum Mitfliegen.
„Was hat Sie veranlaßt, zu mir zu kommen?“ fragte Hapgood den jungen Korrespondenten der „New York Times“.
„Das will ich Ihnen offen gestehen“, antwortete Bason.
„Ich bin ehrgeizig.“
„Aha! Also ehrgeizig sind Sie? Haben Sie auch an die Gefahren gedacht, die Ihnen drohen? Vielleicht ist es nicht Ruhm, was Sie erwartet, sondern der Tod.“
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, entgegnete Bason.
Er war groß und breitschultrig und hatte, wenn auch nicht schöne, so doch anziehende Gesichtszüge. Ein typischer junger Durchschnittsamerikaner.
Hapgood war zufrieden. Eben solch einen Gefährten brauchte er.
„Ich will auch offen zu Ihnen sein“, sagte er. „Vor allem ist es mir darum zu tun, Kamow zu schlagen.“ Bason nickte. „Um dabei ganz sicher zu gehen, mußte ich die Beschleunigung des Raumschiffes mit vierzig Metern in der Sekunde festlegen. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß das für die Besatzung gefährlich ist.“
Das Gesicht des Journalisten zeigte bei dieser Mitteilung nicht das geringste Anzeichen von Beunruhigung oder Besorgnis. „Ich kenne mich in diesen Dingen wenig aus“, antwortete er mit gewinnender Offenherzigkeit. „Sie sagen, das sei gefährlich. Ich glaube es Ihnen. Aber wenn Sie sich in diese Gefahr begeben, warum sollte ich es dann nicht auch tun?“
„Nun, wenn es so ist“, meinte Hapgood erfreut, „dann bin ich sehr froh, einen solchen Begleiter gefunden zu haben.“ Er schüttelte Bason kräftig die Hand.
Über der Venus
Den 15. September werden wir nie vergessen. An diesem Tage durchstießen wir die Wolkendecke der Venus.
Der geheimnisvolle Schleier, der die Oberfläche des Planeten verborgen hielt, ist nun gelüftet.
Das, was unter dichten Wolken versteckt war und dem menschlichen Auge vor noch so kurzer Zeit als unerreichbar galt, bot sich unseren Blicken dar, und die Kamera hielt alles im Bild fest.
Wir näherten uns der Venus am 14. September etwa um zwölf Uhr. Der Planet, der uns anfangs als eine schmale Sichel erschien, vergrößerte sich schnell und zeigte sich uns gegen zwanzig Uhr in seiner vollen Phase. Die sonnenbeschienene Venus leuchtete wie ein schneeiger Berggipfel an einem klaren, sonnigen Tag auf der Erde. Es waren noch etwa zwei Millionen Kilometer bis zur Venus, und ihre sichtbare Fläche wirkte fast genauso groß wie die des Mondes, wenn wir ihn in der Vollmondphase sehen.
Mit bloßem Auge konnte man erkennen, daß die Oberfläche des Planeten dicht bedeckt war mit weißen Wolken.
Vor dem Hintergrund des schwarzen, sternenbesäten Himmels sah die schneeweiße „Schwester der Erde“ märchenhaft schön aus. Ich klebte förmlich an meinem Fenster, außerstande, mich von diesem Anblick loszureißen, und machte eine Farbfilmaufnahme nach der andern.
Am 15. September um sieben Uhr morgens befahl uns Kamow, die Helme aufzusetzen, und schaltete die Motoren zum Bremsen ein.
Ich hörte das bekannte Getöse, jedoch nicht so stark wie beim ersten Male. Durch die Fensterscheiben drang der Widerschein einer Flamme.
Wieder sein Gewicht zu spüren, war angenehm, aber es trat auch genau das ein, was Kamow vorausgesagt hatte.
Die Bewegungen waren gehemmt, und der Körper kam einem schwerer vor, als er war. In vierundsiebzig Tagen war uns die völlige Schwerelosigkeit zur Gewohnheit geworden.
Die Venus, deren Scheibe indessen ungefähr die zehnfache Größe des Vollmondes angenommen hatte, lag direkt unter uns, und das Schiff stürzte aus einer Höhe von vierzigtausendsechshundert Kilometern mit der ungeheuren Geschwindigkeit von achtundzwanzig Kilometern in der Sekunde auf sie hinunter. Die Bremswirkung der Motoren setzte diese Geschwindigkeit langsam, aber stetig herab.
Der Abstieg dauerte siebenundvierzig Minuten. In dieser Zeit verließ ich mein Fenster nur, um die automatischen Filmapparate, die den näher kommenden Planeten im Bild festhielten, zu überprüfen und den Film auszuwechseln.
Der Planet rückte näher.
Nach zwanzig Minuten hatte sich die Geschwindigkeit des Schiffes auf sechseinhalb Kilometer in der Sekunde verringert, und wir waren auf eine Entfernung von vierzehntausend Kilometern herangekommen.
Die Venus nahm nun fast den ganzen sichtbaren Himmelsraum ein. Aus dieser Entfernung schien sie nicht mehr so blendend weiß. Deutlich zeichneten sich Schatten zwischen den einzelnen Wolkenmassiven ab. Ich sah durch ein starkes Fernglas, bemüht, wenigstens einen Spalt in dieser zusammengeballten Masse zu entdecken, aber ich fand keinen. Die Wolkendecke war offenbar sehr stark.
›Sollten Kamows Befürchtungen wirklich zutreffen und die Wolken bis an die Oberfläche des Planeten hinunterreichen?‹ dachte ich. Wie ärgerlich, wenn wir gar nichts zu sehen bekämen! Aber was könnte es überhaupt zu sehen geben? Wie Belopolski sagte, vermuteten die Gelehrten auf der Venus nur Meere und sumpfiges Festland. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß das Vorhandensein einer Vegetation so gut wie sicher sei. Vielleicht sehen wir, wenn wir die Wolkenschicht durchstoßen, ein blühendes, bewohntes Land, große Städte, bebaute Felder, Schiffe auf einem Meer. Was für ein Anblick wird sich uns in wenigen Minuten wohl bieten?
Ich war sehr erregt, und meine Gefährten empfanden das gleiche wie ich. Selbst der unerschütterliche Kamow gestand mir später, daß ihn die gleichen Gedanken bewegt hatten wie mich. Zum ersten Male in der Geschichte standen Menschen im Begriff, in das Geheimnis einer andern Welt einzudringen. Auf dem Mond war man zwar schon gewesen, doch hatte man dort von vornherein gewußt, daß einem eine tote Welt ohne jedes Leben begegnen würde, während wir hier vor einem noch ungelösten Rätsel standen. Damals handelte es sich um den kleinen Begleiter der Erde, den man bereits genau erforscht hatte, jetzt aber um einen Planeten, der, fast so groß wie der unsere, noch voller Geheimnisse war.
Es vergingen wieder fünfzehn Minuten, und die Entfernung oder, genauer gesagt, die Höhe schmolz auf fünftausend Kilometer zusammen. Die Geschwindigkeit des Schiffes fiel bis auf siebeneinhalb Kilometer in der Sekunde und nahm immer noch ab. Nach weiteren zehn Minuten war das Schiff dem Planeten bereits so nahe, daß ich die Wolkendecke nicht mehr ganz überblicken konnte.
In diesem Augenblick brach Kamow das Schweigen, das während des Abstiegs geherrscht hatte.
„Konstantin Jewgenjewitsch“, sagte er, „stellen Sie die Entfernung zur oberen Wolkenschicht fest!“
„Hundertfünfundsechzig Kilometer“, antwortete Belopolski prompt.
„Nach dem Funkscheinwerfer beträgt die Entfernung zur Oberfläche des Planeten hundertsiebenundsiebzig Kilometer“, sagte Kamow. „Demnach liegt die obere Grenze der Wolkendecke in zwölf bis dreizehn Kilometer Höhe.“
Der entscheidende Augenblick rückte heran. Die Geschwindigkeit des Schiffes hatte sich so weit verringert, daß die Entfernung von hundertsechzig Kilometern, die wir vor kurzem noch in fünfeinhalb Sekunden zurückgelegt hatten, bereits zum Manövrieren ausreichte.
Kamow drückte auf einen Knopf. Von meinem Fenster aus sah ich, wie sich aus der Bordwand des Schiffes langsam eine breite Tragfläche herausschob. Die gleiche Tragfläche erschien auch auf der andern Seite. Nach wenigen Augenblicken umschloß uns die Wolkendecke des Planeten. Wir befanden uns in dichtem Nebel. Ich vernahm deutlich, wie die Motoren kurz verstummten und wieder einsetzten. Statt zu bremsen, trieben sie uns nun vorwärts. Unser Schiff, das sich in ein Düsenflugzeug verwandelt hatte, sank tiefer und tiefer.
Belopolski verließ seinen Platz und stellte sich ans Pult.
Kamow ließ kein Auge vom Periskop, und Belopolski begann die Flughöhe abzulesen, die der Funkscheinwerfer anzeigte: „Neun Kilometer! … Achteinhalb! … Acht! …
Siebeneinhalb!“
Der dichte milchige Nebel war immer noch undurchdringlich. „Sieben! … Sechseinhalb! … Sechs!“
Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Nur noch sechs Kilometer trennten uns von dem fremden Planeten, auf den noch keines Menschen Blick gefallen war. Würden diese verflixten Wolken denn niemals aufhören?
„Fünfeinhalb! … Fünf!“
Ich fühlte, daß das Schiff die Richtung änderte. Nach dem senkrechten Sturzflug flogen wir nun fast waagerecht.
„Unendlichkeit!“ las Belopolski ab.
Vor uns waren also keine hohen Berge.
„Richten Sie den Funkscheinwerfer auf die Venus“, sagte Kamow.
„Vier!“ verkündete Belopolski. „Dreieinhalb! … Drei!“
In diesem Augenblick ertönte die Klingel des Filmapparates, das Zeichen dafür, daß der Film zu Ende ging. Aufspringen und das Band auswechseln war Sache von Sekunden! Trotzdem verpaßte ich den Augenblick, da wir aus den Wolken hervorstießen.
Belopolski hatte eben „Anderthalb!“ verkündet, als Kamow den Kopf wandte und leise sagte: „Die Venus!“
Ich stürzte zu dem einen Fenster, Belopolski zum andern. Unter uns breitete sich, so weit das Auge reichte, eine wildbewegte Wasserfläche. Aus tausendfünfhundert Meter Höhe waren die langen Wogenkämme mit den weißen Schaumkronen deutlich zu sehen. Offenbar wehte ein starker Wind. Von Festland sah man keine Spur. Ob das da unten ein See oder ein großer Ozean war, und ob es überhaupt festes Land gab, wußten wir natürlich nicht. Über uns war ein bleierner Himmel — eine dichte Wolkendecke — › unter uns ein bleiernes Meer und dazwischen trübes Zwielicht, das dieses düstere Panorama beleuchtete. Wir befanden uns über der Tageshälfte der Venus, aber der Beleuchtung nach hätte es eher Abend sein können. Die zehn Kilometer dicke Wolkenschicht ließ das Sonnenlicht nur spärlich durch. Wenn wir trotzdem etwas sahen, so hatten wir das lediglich der Sonnennähe des Planeten zu verdanken. Bei uns auf der Erde wäre es unter solchen Bedingungen völlig dunkel gewesen.
Über uns und um uns zuckten auf allen Seiten bis zum Horizont fast ununterbrochen Blitze. Donnerschläge krachten von elementarer Gewalt. Schwarzen Wänden gleich strömte Regen herab und vereinigte über riesige Strecken hin Himmel und Meer.
Das Schiff flog jetzt horizontal in tausend Meter Höhe mit einer Geschwindigkeit von etwa siebenhundert Stundenkilometern. Kamow mußte alle Augenblicke die Richtung ändern, um den mächtigen Gewitterwolken auszuweichen, die sich uns nacheinander in den Weg stellten.
Nachdem wir vierzig Minuten so geflogen waren, sahen wir uns gezwungen, eine dieser Fronten am Rande zu durchbrechen, und konnten uns mit eigenen Augen davon überzeugen, daß solche Gewitter, wie die auf der Venus, auf der Erde niemals vorkommen.
Der fremde Planet bereitete den ungebetenen Gästen nicht gerade einen liebenswürdigen Empfang. Das Schiff schien in einem Meer zu versinken. Eine einzige Wassermasse umschloß uns von allen Seiten. Es wurde stockfinster. Pausenlos zuckten Blitze auf, getrübt von der dichten Wasserwand, und unaufhörlich dröhnten Donnerschläge, in deren Lärm das Geräusch unseres Motors völlig unterging.
Zum Glück dauerte alles nur eine Minute. Das Schiff durchstieß die Gewitterfront und ließ sie als düstere, schwarze Wand zurück.
Unsere Flughöhe hatte sich inzwischen erheblich verringert. Es waren nicht mehr als dreihundert Meter, die uns noch vom Meeresspiegel trennten. Durch die schweren Wassermassen, die sich über das Schiff ergossen, hatten wir ganze siebenhundert Meter an Höhe eingebüßt. Wären wir der Gewitterfront nicht so schnell entronnen, so hätte es leicht passieren können, daß wir im Meer gelandet wären.
Es wurde etwas heller, die Sicht besserte sich. Ich nutzte die Gelegenheit, um einige Aufnahmen vom Ozean der Venus zu machen.
Daß es kein See, sondern ein Ozean war, zeigte sich immer deutlicher. Wir flogen schon fast zwei Stunden, aber nirgends ließ sich auch nur die Andeutung einer Küste entdecken.
Vor uns tauchte wieder eine breite schwarze Wand auf.
Diese Gewitterfront war so groß, daß es unmöglich war, daran vorbeizukommen. Würde Kamow noch einmal das Wagnis von vorhin unternehmen? Nein, er unternahm es nicht! Unser Schiff stieg steil empor. Eine Minute später flogen wir wieder in milchigweißem Nebel, und das mit unheimlicher Kraft tobende Gewitter blieb unter uns.
„Ein überwältigender Anblick!“ sagte Paitschadse. „Der Planet ist voll junger, unverbrauchter Kräfte. Solche Gewitter hat es auch einmal auf der Erde in ihrem frühen Entwicklungsstadium, vor vielen Millionen Jahren, gegeben. Jetzt bin ich fest davon überzeugt, daß auf der Venus einst Lebewesen existieren werden.“
Wir hatten die Helme längst abgenommen. Der Atmosphärenmotor arbeitete verhältnismäßig leise, so daß man sich mühelos unterhalten konnte.
„Existieren werden?“ fragte ich gedehnt. Insgeheim hatte ich immer noch gehofft, wir würden schon jetzt Leben entdecken; dabei sprach mir Arsen Georgijewitsch von ferner Zukunft.
„Sie hätten wohl gern gesehen, daß es auf diesem herrlichen Planeten schon jetzt Leben gibt?“ fragte er mich.
„Gut, ich will Ihnen entgegenkommen. Es ist durchaus möglich, daß im Meerwasser bereits ganz primitive Organismen entstanden sind. In Millionen Jahren werden sich aus ihnen verschiedene Formen der Tierwelt entwickeln.“
„Warum nur ganz primitive?“ versetzte ich. „Vielleicht sind jetzt schon irgendwelche Ichthyosaurier oder Brontosaurier vorhanden.“
„So suchen Sie sie doch!“ meinte er. „Sehen Sie zu, daß Sie sie mit Ihrer Kamera einfangen.“
„Ich werde es versuchen, sobald Sergej Alexandrowitsch tiefer geht.“
Kamow war inzwischen schon mehrmals heruntergegangen, aber immer wieder aufgestiegen, weil wir das Gewitter noch immer nicht überflogen hatten. So vergingen anderthalb Stunden. Endlich erblickten wir die Oberfläche des Planeten von neuem. Unter uns lag immer noch der Ozean.
„Es muß hier Kontinente oder Inseln geben“, meinte Belopolski. „Der Planet hat zweifellos eine Vegetation, anders läßt sich das Vorhandensein freien Sauerstoffs nicht erklären. Wir werden bestimmt noch Festland sehen.“
Eine Stunde nach der andern verging, aber der Ozean blieb immer derselbe. Das Schiff flog in diese und in jene Richtung, stieg empor und ging wieder tiefer. Kamow manövrierte hin und her, um den zahlreichen Wolkenbrüchen auszuweichen, deren fürchterliche Gewalt wir bereits verspürt hatten.
Unverwandt blickte ich durch mein Fernglas auf die schäumende Oberfläche des Ozeans, in der Hoffnung, wenigstens eine Spur von Leben zu entdecken — aber vergebens. Weder im Wasser noch in der Luft regte sich Leben.
Ich schraubte das stärkste Objektiv auf meinen Apparat und fotografierte den Ozean der Venus Dutzende von Malen. Es konnte ja sein, daß auf einem der Bilder sichtbar wurde, was meinem Auge verborgen blieb.
Wir hatten etwa fünftausend Kilometer zurückgelegt, als das Schiff gegen Ende der achten Stunde schließlich einen Küstenstreifen überflog. Das Wasser wurde von Wald abgelöst. Er war genauso endlos wie der Ozean. Eine dichte Pflanzendecke breitete sich nach allen Seiten bis zum Horizont aus. Aber die Pflanzen waren nicht grün wie auf der Erde, sondern hatten Schattierungen von Orangefarben bis Rot.
Kamow ging noch tiefer. Wir sahen riesige Bäume. Sie standen so dicht beieinander, daß wir bei unserer Geschwindigkeit von zweihundert Metern in der Sekunde unmöglich erkennen konnten, was unter ihnen vorging.
Ich stellte den Filmapparat auf die höchste Aufnahmegeschwindigkeit ein und richtete das Objektiv senkrecht nach unten. Außerdem machte ich mit der Kamera ungefähr hundert Aufnahmen, wobei ich die kürzeste Belichtungsdauer wählte, die der Verschluß hergab. Mehr war nicht zu machen. Kamow konnte die Geschwindigkeit nicht herabsetzen, ohne zu riskieren, daß sich das Schiff in den Boden bohrte.
„Schade, daß wir nicht auf der Venus landen“, meinte ich.
„Wo denn?“ fragte Kamow kurz.
In der Tat, zum Landen war nirgends Platz. Der Wald stand dicht wie eine Mauer und zeigte nicht eine einzige Lichtung. Es war ein Urwald, wie ihn wohl auch die Erde in der Steinkohlenformation gekannt hatte. Welche Baumarten mochten darin vertreten sein? Glichen sie denen auf der Erde? Ich hoffe, meine Aufnahmen werden uns darüber Aufschluß geben.
Gegen Ende der neunten Flugstunde erblickten wir einen gewaltigen Fluß, dessen Ufer ebenfalls dicht bewaldet waren. Offenbar mündete er in den Ozean, den wir vor kurzem überflogen hatten.
Kamow wendete und flog längs des Flußbettes weiter.
Da die Gewitter uns gerade eine Ruhepause gönnten, ging er bis auf hundert Meter hinunter. Paitschadse gesellte sich zu mir, und wir fotografierten zu zweit das nahe Ufer.
Wenn es auf dem Planeten überhaupt Vertreter der Tierwelt gab, dann mußten sie hier anzutreffen sein.
Der Fluß war etwa vier Kilometer breit. Auf seiner glatten Oberfläche schwammen zahlreiche Bäume, die wohl von Stürmen entwurzelt worden waren. Anfangs hielt ich sie für schwimmende Tiere, aber schon bald merkte ich, daß ich mich geirrt hatte.
Im Wasser des Flusses spiegelte sich unser Schiff samt seinen Tragflächen und dem grellroten Feuerschweif hinter seinem Heck.
Manchmal sahen wir schmale Nebenflüsse, die aus dem Waldesdickicht hervorströmten. Nur einmal passierten wir einen Arm von etwa einem Kilometer Breite. Von Leben war jedoch auch hier nirgends eine Spur.
Allmählich wurde der Fluß schmaler. Bald sahen wir, daß wir uns einem hohen Gebirgskamm näherten, dessen Gipfel in die Wolken hineinragten. Mit dem Funkscheinwerfer stellten wir fest, daß die Höhe des Gebirges siebentausend Meter betrug. Wie seine Gipfel beschaffen waren, sollte für uns ein Geheimnis bleiben. Das Schiff überflog sie in zehntausend Meter Höhe.
Das Überqueren des Gebirgskammes verschaffte uns einen unerwarteten und überwältigend schönen Anblick. Der bereits gewöhnte milchigweiße Nebel teilte sich plötzlich.
Wir flogen zwischen zwei Wolkenbergen. Über dem Schiff wölbte sich wieder der dunkelblaue Himmel, an dem die gleißendhelle Sonne strahlte, die hier entschieden größer war, als von der Erde aus gesehen.
Unwillkürlich stießen wir Rufe des Entzückens aus, aber das in seiner Schönheit so ergreifende Bild verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war. Das Schiff flog von neuem in eine Wolke. Wieder ballte sich vor den Fensterscheiben dichter Nebel. Wir gingen tiefer. Die Berge lagen nun weiter hinter uns. Unter uns war erneut ein Ozean.
Das Schiff hatte eine Strecke von fast achttausend Kilometern zurückgelegt, als wir bemerkten, daß es dunkler wurde. Offenbar ging der Tag auf dieser Venushälfte zur Neige, und wir flogen in den Bereich der Nacht hinein.
Kamow wandte sich an die beiden Astronomen. „Wie steht es mit Ihrem Pensum?“ erkundigte er sich.
„Alles erledigt!“
„Haben Sie Luftproben entnommen?“
„Ja, vier.“
Wir nahmen tatsächlich Luft von der Venus mit. In die Schiffswände sind hermetisch abgeschlossene luftleere Platinkästchen eingebaut mit kleinen Löchern, die sich elektrisch öffnen und schließen lassen. Vier dieser Kästchen sind jetzt mit Luft von der Venus gefüllt. Auf der Erde soll diese Luft analysiert werden.
„Wie sieht es bei Ihnen aus, Boris Nikolajewitsch?“
fragte midi Kamow.
„Ich habe rund dreihundert Aufnahmen gemacht, die Kinofilme nicht gerechnet.“
Eine Zeitlang schwieg Kamow. Dann sagte er leise mit unterdrückter Erregung: „Das Schiff verläßt die Venus!“
Wie rasch waren diese unvergeßlichen Stunden verflogen! Ich warf einen letzten Blick auf den Planeten, den wir nun verlassen sollten.
Kamow stellte den Motor ab, der in Betrieb war, und schaltete die anderen ein. Vom Heck her ertönte mächtiges Getöse. Das Raumschiff zog die Tragflächen ein und jagte mit zunehmender Geschwindigkeit in die Höhe.
Begegnung mit einem Asteroidenbrocken
Seit fast zwei Monaten habe ich mein Tagebuch nicht angerührt. In dieser Zeit war auch nichts vorgefallen, was besonderer Erwähnung wert gewesen wäre. Das Leben an Bord ging wieder seinen ruhigen, geregelten Gang.
In dem Moment, als wir von der Venus abflogen, betrug ihre Entfernung zum Mars dreihundertsiebzig Millionen Kilometer. Da sich aber der Mars auf seiner Bahn uns entgegen bewegt, brauchte unser Schiff nur zweihundertfünfzig Millionen Kilometer zurückzulegen, um ihn zu erreichen, zeitlich also zweitausendfünfhundert Stunden oder hundertvier Tage. Vierundfünfzig davon sind bereits vergangen.
Wie ich schon erwähnte, war nichts Besonderes vorgefallen — bis auf den gestrigen Tag, den 7. November, der niemals aus unserem Gedächtnis schwinden wird. An diesem Tag ereignete sich etwas, was nach Paitschadses Worten nur alle tausend Jahre einmal vorkommen kann.
Die Begegnung, die uns beinahe das Leben gekostet hätte, fand um einundzwanzig Uhr fünfzehn statt. Ich wollte mich gerade zum Schlafen in die Kajüte begeben, als plötzlich der Automat des Funkscheinwerfers in Tätigkeit trat.
Ein hämmernder Glockenton erfüllte das Raumschiff, und mein Herz krampfte sich zusammen, als mir zum Bewußtsein kam, daß Gefahr im Anzug war. Seit dem Start ertönte dieses Schreckenssignal jetzt zum ersten Male.
Blitzschnell flog Kamow an mir vorüber, zum Pult hin.
Ich folgte ihm nicht, sondern blieb dort, wo mich der Alarm überrascht hatte. Paitschadse, der sich am Fenster auf hielt, verharrte regungslos und ließ den Kommandanten nicht aus den Augen. Alle Muskeln angespannt, wartete ich auf einen Befehl, voller Bereitschaft, ihn augenblicklich auszuführen, wie immer er lauten mochte. Aber es kam kein Kommando.
Das Schiff erbebte plötzlich, und eine unsichtbare Gewalt schleuderte mich gegen die Wand. Ein fürchterliches Getöse schlug mir betäubend ans Ohr, und mich durchzuckte der Gedanke an eine Katastrophe. Aber schon begriff ich, was geschehen war: Kamow hatte unangekündigt einen der Motoren eingeschaltet. Zum ersten Male hörte ich dieses Getöse ohne Helm.
Zu unserem Glück hielt der ungeheuerliche Lärm nicht länger als fünf Sekunden an. Dann trat wieder Stille ein, und ich fühlte mich wie von einer Last befreit. Mir war schwindlig, in meinen Ohren dröhnte es noch immer, doch das konzentrierte und ernste, dabei aber ruhige Gesicht Kamows gab mir die Gewißheit, daß die unbekannte Gefahr vorüber war.
„An die linken Fenster! Melnikow zur Aufnahme!“ rief Kamow. und preßte das Auge ans Periskop.
Sofort war ich bei dem in die linke Schiffswand eingebauten Filmapparat. Ohne noch zu wissen, was vor sich ging, öffnete ich das Objektiv und schaltete das Band ein.
Dann ergriff ich in fieberhafter Eile die tragbare Filmkamera und öffnete „mein“ Fenster.
Anfangs sah ich nichts. In der dunklen Leere leuchteten friedlich wie immer unzählige Sterne. Alles war wie sonst.
Da aber tauchte vor uns an der Bordwand der grell erleuchtete gezackte Rand eines riesenhaften Körpers auf. Er wurde von Sekunde zu Sekunde größer und schien mit unheimlicher Geschwindigkeit geradeswegs auf unser Schiff zuzufliegen.
Ich erblickte bizarr aufgetürmte Felsen mit scharfen Vorsprüngen und tiefen schwarzen Spalten. Es sah aus, als würde dieser in der Sonne funkelnde Bergkoloß das kleine Raumschiff, das ihm furchtlos entgegenjagte, im nächsten Augenblick zerschmettern.
Der unförmige Klumpen tauchte im Nu vor den Schiffsfenstern auf und versperrte uns die Sicht. Er flog so dicht an uns vorbei, daß man wohl nur die Hand auszustrecken brauchte, um seine graue Oberfläche zu berühren. Über seine Felsvorsprünge und tiefen Schluchten glitt blitzartig der Schatten unseres Schiffes.
Wieder zeigte sich ein ungleichmäßiger, gezackter Rand, und der Koloß verschwand so schnell, als wäre er hinter uns im Raum zerschmolzen. Wieder erschloß sich uns die friedlich leuchtende Sternenwelt. Unergründliche Leere umgab von neuem das Schiff, und es schien, als hätte es den ungestalten Brocken, der unserem Weltraumflug beinahe ein Ende gesetzt hätte, niemals gegeben.
All das hatte höchstens zwanzig Sekunden gedauert. Erschüttert, wenn nicht gar ein wenig verstört, hörte ich auf, die Kurbel zu drehen, und stellte den automatischen Apparat ab. Mehr gab es nicht zu filmen.
Kamow atmete tief auf. Sein Gesicht war sehr blaß. Er zog ein Tuch hervor und wischte sich mit einer müden Bewegung die Stirn.
„Was war das?“ fragte ich flüsternd Paitschadse.
„Ein Asteroid“, antwortete er. „Einer jener Zwergplaneten, die den Astronomen der Erde unbekannt sind.“
„Wir haben als erste einen aus größter Nähe gesehen …
und so nahe“, sagte Belopolski.
„Für eine solche Begegnung standen zwar die Chancen eins zu hunderttausend“, meinte Kamow, „und trotzdem werde ich mir meine selbstsichere Behauptung, daß sie unmöglich sei, nie verzeihen.“
„Wozu so reden?“ meinte Paitschadse. „Eine Begegnung mit einem Asteroiden war erst hinter der Marsbahn zu befürchten. Dort ist ihre Hauptzone. In der Nähe der Erdbahn sind sie selten. Was eben geschah, ist ein höchst seltener Ausnahmefall.“
„Aber dieser höchst seltene Ausnahmefall hätte Ihnen das Leben kosten können“, sagte. Kamow.
„Und Ihnen auch“, versetzte Belopolski. „Die heutige Technik ist noch nicht imstande, einen solchen Zusammenstoß abzuwenden. Wenn er stattgefunden hätte, wäre niemand daran schuld gewesen.“
Kamow schwieg eine Weile.
„Sie haben natürlich recht“, meinte er dann. „Ich werfe mir nur vor, daß ich von der Unmöglichkeit einer solchen Begegnung gesprochen habe. Das soll nicht nur uns, sondern allen Weltraumfahrern der Zukunft eine nützliche Lehre sein. Wer hat Wache am Pult?“
„Ich“, antwortete Belopolski.
„Bleiben Sie weiter auf Ihrem Posten!“
„Wollten Sie sich nicht schlafen legen?“ wandte sich Paitschadse an mich, als sich die Tür hinter dem Kommandanten geschlossen hatte. „Gehen wir. Für heute reicht’s an Interessantem. Noch etwas dürfte sich schwerlich ereignen.“
In der Kajüte machten wir es uns in unseren Netzen zu beiden Seiten des runden Bordfensters bequem.
„Ich denke immer noch an die Worte Konstantin Jewgenjewitschs“, sagte ich. „Erinnern Sie sich? Er meinte, die heutige Technik sei noch nicht imstande, einen solchen Zusammenstoß zu verhüten. Aber wäre es nicht möglich, den Funkscheinwerfer mit einem Automaten zu koppeln, der die Flugrichtung des Schiffes beim Auftauchen eines Hindernisses ändert? Könnte man das Schiff nicht mit einer Art Kurssteuerung versehen?“
„So etwas gibt es nicht“, erwiderte Paitschadse. „Was sich für ein Flugzeug eignet, muß sich noch lange nicht für ein Raumschiff eignen. Bedenken Sie nur, daß wir nach dem Trägheitsgesetz fliegen. Die Motoren sind ja gar nicht in Betrieb. Um den Kurs zu ändern, müßte man sie einschalten. Im voraus berechnen, ob ein plötzlich auftauchender Körper mit dem Schiff zusammenstößt oder nach welcher Seite man auszuweichen hat, kann kein Automat.
Jedenfalls bis jetzt noch nicht“, fügte er hinzu. „In der Zukunft wird es einen solchen Apparat geben.“
„Dann wollen wir dem Zufall danken, daß wir diesmal noch davongekommen sind.“
„Zufall?“ fragte Paitschadse. „Unser Kommandant hat ein scharfes Auge und eine sichere Hand. Im Augenblick der Begegnung beobachtete ich gerade ein vor uns liegendes Objekt, und so sah ich gleich nach dem Alarmsignal den Zwergplaneten rechts oberhalb unserer Flugbahn auftauchen. Ein Zusammenstoß war unausbleiblich, seine Flugbahn schnitt den Weg unseres Schiffes. Jeder andere an Kamows Stelle wäre seitwärts ausgewichen, aber Sergej bremste das Schiff nur, gerade so viel, wie nötig war, um den Planeten vor dem Bug vorbeizulassen. Es gehört schon ein sicheres Augenmaß und große Kaltblütigkeit dazu, sich zu solch einem Manöver zu entschließen. Bedenken Sie: er mußte sofort handeln, er hatte nicht eine Sekunde Zeit zum Überlegen.“
Paitschadse sprach äußerlich ruhig, aber mir fiel auf, daß er Kamow beim Vornamen genannt hatte. Das tat er nur dann, wenn er stark erregt war.
„In welchem Abstand sind wir am Planeten vorbeigeflogen?“
„Es waren höchstens sechshundert Meter.“
Erst jetzt erkannte ich das ganze Ausmaß der Gefahr, der unser Schiff entronnen war.
„Bei einem so geringen Abstand hätte doch der Planet Anziehungskraft auf uns ausüben müssen“, sagte ich.
„Dieses winzige Glied des Sonnensystems“, erwiderte Paitschadse, „konnte bei der hohen Geschwindigkeit unseres Schiffes keinerlei Wirkung auf uns ausüben. Das Schiff ist nicht um einen Millimeter von seinem Weg abgewichen. Nicht einmal ein Körper von der Größe des Mondes kann den Flug unseres Schiffes, das sich mit einer Sekundengeschwindigkeit von achtundzwanzig Kilometern fortbewegt, nennenswert beeinflussen. Und so ein Krümel schon lange nicht.“
„Krümel ist gut!“ sagte ich und dachte dabei an den riesigen Gesteinsklumpen.
Paitschadse lachte. „Für die Astronomie“, meinte er, „ist die Erde nur ein kleiner Planet und ein Asteroid von höchstens dreißig Kilometer Durchmesser nichts weiter als ein Staubkörnchen. Aber so klein dieser Planet auch sein mag, mich wundert, daß er noch nicht entdeckt ist. Seine Bahn verläuft doch nahe der Erdbahn.“
„Sein Name stand ja nicht auf ihm geschrieben“, meinte ich. „Vielleicht war er einer von denen, die man auf der Erde kennt.“ Ich biß mir auf die Zunge, als ich sah, daß Paitschadse die Brauen runzelte, aber es war zu spät. Der Satz war mir schon entschlüpft. „Entschuldigen Sie, Arsen Georgijewitsch!“ beeilte ich mich zu sagen. „Es war ein Scherz. Und ein schlechter, ich gebe es zu.“
„Der Ring der Asteroiden“, erklärte Paitschadse, als hätte er meine Worte nicht gehört, „liegt zwischen der Mars- und Jupiterbahn. Wie man annimmt, hat es dort einmal einen großen Planeten gegeben, der aus unerklärlichen Gründen in viele Teile zerfallen ist. Die kleinen Planeten sind Bruchstücke eines großen. Heute haben wir einen solchen Planeten aus der Nähe gesehen und uns davon überzeugen können, daß er ein Bruchstück ist und kein Körper, der sich selbständig gebildet hat. Sonst hätte er Kugelform haben müssen. Die Theorie, nach der die Asteroiden als Bruchstücke eines großen Planeten entstanden sind, hat sich bestätigt. Das ist das hochwichtige Ergebnis unserer heutigen Begegnung. Der Asteroidenring liegt, wie gesagt, zwischen der Bahn des Mars und der des Jupiter, aber es gibt auch Asteroiden, die über diesen Bereich hinausgehen.
Gegenwärtig kennt man die Bahnen von dreitausendfünfhundertzwanzig kleinen Planeten. Bei der Vorbereitung unserer Expedition wurde die Möglichkeit, einem von ihnen zu begegnen, in Betracht gezogen. Von jedem uns bekannten …“ — er betonte das letzte Wort — „
… Asteroiden, dessen Bahn das Schiff kreuzen konnte, hat man den Ort im Raum berechnet. Wir sollten keinem einzigen begegnen. Folglich handelt es sich bei dem Gesteinsbrocken, den wir heute gesehen haben, um einen Zwergplaneten, der auf der Erde unbekannt ist.“
Er sah mich von der Seite an und zeigte wieder sein gewohntes freundliches Lächeln. „Die Astronomie ist eine exakte Wissenschaft“, sagte er. „Gute Nacht, Boris Nikolajewitsch!“
Auf dem Mars
Der Mars! Immerzu möchte man diesen Namen wiederholen. Draußen vor den Fenstern des Schiffes ist die Nacht hereingebrochen. Die erste Nacht für uns seit sechs Monaten! Die Sonne ist nicht zu sehen. Sie ist genauso am Horizont untergetaucht wie auf der Erde.
Ein Sonnenuntergang! Diese so natürliche, vertraute Erscheinung kam uns hier außergewöhnlich und geheimnisvoll vor. Klein und kalt im Vergleich mit der Sonne, wie wir sie von der Erde her kennen, warf sie ihre letzten Strahlen auf das reglose Raumschiff und verschwand … Wie Diamanten glitzern die Sterne in den uns von Kind auf bekannten Sternbildern am Himmel, einem Himmel, der für Erdbegriffe viel zu dunkel ist. Die Sandwüste, das Dickicht blaugrauer Pflanzen und der unbewegliche Wasserspiegel des Sees, an dessen Ufer das Schiff gelandet ist, sind in Finsternis getaucht. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir das Raumschiff verlassen. Morgen!
Kamow hat Ruhe angeordnet. Paitschadse schläft in einer zwischen Fenster und Tür aufgespannten Hängematte.
Ich kann nicht schlafen und sitze auf meiner Lagerstatt. Die Nerven verlangen nach einer Beruhigung. Mein Tagebuch!
Das alte, bewährte Mittel! Ich werde unsere Ankunft auf dem Mars schildern …
Unser großartiges Schiff erreichte genau zur festgesetzten Zeit den Punkt im Weltenraum, an dem die Begegnung stattfinden sollte.
Während wir uns dem Ziel näherten, hatten wir den von der Sonne hell beschienenen Planeten fast gerade vor uns und sahen ihn von Tag zu Tag größer werden. Seine Farbe war jetzt nicht mehr Rotorange, wie wir sie von der Erde her an ihm kannten, sondern Gelborange. Den Grund dafür suchte ich in der Geschwindigkeit unseres Schiffes, aber wie mir Paitschadse erklärte, war diese zu gering, als daß sie eine merkliche Beschleunigung der Lichtwellen, selbst der uns entgegenkommenden, hätte hervorrufen können.
„Um rotes Licht gelb erscheinen zu lassen“, sagte er, „müßte die Geschwindigkeit des Schiffes das Fünfhundertfache betragen. Dann würde sich die Wellenlänge des roten Lichtes verkürzen und in die des gelben verwandeln, was im Auge eine entsprechende Wahrnehmung hervorriefe.
Das kann aber nur mit einer einzelnen Spektrallinie geschehen, während der Mars ein kontinuierliches Spektrum ausstrahlt.“
„Warum hat sich dann seine Farbe so verändert?“ fragte ich.
„Das frage ich mich auch“, erwiderte er. „Wahrscheinlich, weil hinter den Bordfenstern keine Atmosphäre ist.
Wenn ich eine Erklärung dafür gefunden habe, setze ich Sie in Kenntnis.“
Wir waren zu zweit im Observatorium. Kamow und Belopolski schliefen. Ich schaute angespannt auf die kleine, sich schon deutlich abzeichnende Scheibe des Planeten.
Die winzige Kugel schien zusehends näher zu kommen.
Was mochte uns dort, am Ziel unserer weiten Reise, erwarten?
„Glauben Sie, daß es auf dem Mars denkende Wesen gibt?“ fragte ich.
„Darauf kann ich nur eins antworten: Die Wissenschaft befaßt sich nicht mit Spekulationen. Es sind noch keinerlei Spuren intelligenter Wesen festgestellt worden.“
„Und die Kanäle?“
Er zuckte die Schultern. „Schiaparelli, der auf dem Mars feine gerade Linien entdeckte, nannte sie ›canali‹. Die dünnen geraden Linien sind von der Erde aus zu sehen. Wir fotografieren sie auch. Aber es besteht kein Grund, sie als ein Ergebnis bewußter Tätigkeit zu betrachten. Jetzt, da wir dem Mars so nahe sind, sehe ich diese Kanäle gar nicht mehr.“
„Wie kommt das?“
„Ganz einfach: Zuerst waren die feinen Linien durch unser Fernrohr immer deutlicher zu erkennen. Als wir dann näher kamen, begannen sie zu verschwimmen und zu verblassen, bis sie schließlich ganz verschwanden.“
„Sie sind also nur eine optische Täuschung?“
„Eher eine durch die Entfernung hervorgerufene Täuschung als eine optische. Doch sie muß ihre Ursache haben. Schiaparellis und Lowells Gegner hielten die Kanäle für eine durch die Entfernung bedingte optische Täuschung. Möglicherweise hatten sie recht.“
Der Abstieg zum Mars unterschied sich in nichts vom Anflug der Venus. Nur gab es hier keine Wolken, die die Oberfläche des Planeten verhüllt hätten. Die Marsatmosphäre war rein und durchsichtig.
Genau wie hundertvier Tage zuvor wurden die Motoren eingeschaltet, um das Schiff zu bremsen. Die Besatzung befand sich auf ihren Plätzen — Paitschadse und Belopolski an den Geräten, ich an meinem Fenster, Kamow am Steuerpult.
Der Mars vergrößerte sich rasch und schien sich in rasendem Tempo auf uns zuzubewegen. Allmählich verlor er seine Kugelgestalt, und seine Oberfläche vertiefte sich zu einer gigantischen Schale. Je näher wir kamen, desto weiter bogen sich die Ränder dieser Schale auseinander, und als das Schiff bis auf tausend Kilometer heran war, verschwanden sie hinter den Linien des fernen Horizonts.
Wir flogen über eine endlose Ebene. Nirgends war auch nur eine Anhöhe zu entdecken. Eine glatte, gelblichbraune Fläche mit einigen dunklen Flecken, das war alles, was man sehen konnte.
„Wüste!“ sagte Kamow.
Ich war arg enttäuscht. Nach dem Reinfall mit der Venus hatte ich meine ganze Hoffnung auf den Mars gesetzt. Daß dieser Planet bewohnt war, stand für mich außer Zweifel.
In meiner Erinnerung wurden alle Wesen — von den häßlichen Spinnen Wells’ bis zu den hochentwickelten Marsbewohnern Alexej Tolstois — wieder lebendig, alle diese Gestalten, mit denen die Vorstellungskraft zahlreicher Verfasser utopischer Romane diesen rätselhaften „roten Planeten“ bevölkert hatte. Und nun flog das Schiff mit gebreiteten Schwingen über eine tote, trostlose Wüste!
Das Schiff ging auf tausend Meter nieder. Durchs Fernglas waren alle Einzelheiten gut zu erkennen. Sand, nichts als Sand und vereinzelt blaugraue Flecken unbekannter Gewächse.
Wir flogen mit einer Stundengeschwindigkeit von sechshundert Kilometern westwärts, eine Richtung, die der Drehung des Planeten entgegengesetzt war. Der Landschaftscharakter änderte sich allmählich. Immer häufiger zeugten ausgedehnte Flecken von Vegetation. Der Boden fiel sacht ab, und bald befanden wir uns in etwa dreitausend Meter Höhe.
Die Sandwüste schwand. Unter uns lag ein dichter Teppich unbekannter Gewächse. Doch dazwischen erhob sich kein Baum, kein größerer Strauch. Dann blinkte ein kleiner See auf, noch einer und noch einer, immer mehr. Näherten wir uns etwa einem Ozean? Keine Spur. Zwei Stunden später begann der Boden anzusteigen, und wir sahen wieder die tote Sandwüste.
„Sergej Nikolajewitsch!“ sagte Belopolski. „Kehren wir lieber um und landen im Seengebiet.“
„Wollen mal abwarten. Bis jetzt haben wir ja nur einen kleinen Teil des Geländes zu Gesicht bekommen. Solchen Senken wie der vorhin, müßten wir eigentlich noch begegnen.“
Die Worte unseres Kapitäns bewahrheiteten sich erst nach vier Stunden. Inzwischen breitete sich unter uns immer die gleiche endlose, traurige Einöde aus. Augenscheinlich gab es auf dem Mars weder Berge noch Hügel. Die Bodensenke, die wir gesehen hatten, war bei über tausend Kilometer Breite so flach gewesen, daß sie den Eindruck, die Oberfläche des Planeten sei glatt wie eine Billardkugel, nicht hätte ändern können. Mag sein, daß es irgendwann einmal auf dem Mars Berge gegeben hatte, doch dann mußten Winde und Regenfälle, die es wohl auch gegeben hat, sie mit der Zeit so weit geglättet und eingeebnet haben, daß nichts mehr von ihnen übriggeblieben ist.
Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu. Bald würde die Nacht hereinbrechen, für uns die erste Nacht nach sechs Monaten. Eine Nacht auf einem fremden Planeten.
Gegen Ende der siebenten Flugstunde bemerkten wir Anzeichen einer neuen Senke. Auf dem gelbbraunen Grund der Wüste zeigten sich immer mehr Oasen mit niedrigen Gewächsen. Danach begann der Boden abzufallen, und neue Seen tauchten auf.
Die Sonne stand schon ganz niedrig über dem Horizont, als Kamow sich entschloß, den Flug abzubrechen.
Die Geschwindigkeit sank. Das Schiff beschrieb weite Kreise über dem ausgewählten Landeplatz und ging allmählich immer tiefer. Das Motorengeheul ließ nach. Man spürte das Beben des Schiffskörpers.
Der entscheidende und zugleich gefährlichste Augenblick des Fluges war gekommen. Das Raumschiff, das Dutzende von Tonnen wog, konnte sich bei niedriger Geschwindigkeit nur schwer in der dünnen Marsatmosphäre halten. Jede Sekunde konnte es abstürzen.
Kamow ließ kein Auge vom Periskop. Mit sicherer Hand bediente er Hebel und Knöpfe des Steuerpults.
Wir waren nur noch fünfzig Meter vom Boden entfernt, als plötzlich die Geschwindigkeit zunahm. Die Anziehungskraft des Planeten hatte das Beharrungsvermögen des Schiffes in seiner Flugbahn überwunden. Mit den Tragflächen balancierend, segelte das Schiff nach unten.
Dann ertönte ein knirschendes Geräusch. Vor den Fensterscheiben stoben Wolken feinen Sandes auf, und unser Schiff, das mehr als vierhundertvierzig Millionen Kilometer durchs Weltall geflogen war, stand still.
Das Ziel war erreicht. Wir waren auf dem Mars!
Von der Größe des Augenblicks überwältigt, fielen wir einander in die Arme.
„Sergej Alexandrowitsch“, sagte Paitschadse, „wann gedenken Sie auszusteigen?“
„Bei Tagesanbruch“, antwortete Kamow.
„In welchen Breiten befinden wir uns?“
„Ungefähr am Äquator.“
Die Nacht würde also ganze zwölf Stunden dauern.[1]
Wie schwer es auch war, so lange zu warten, fiel es doch keinem von uns ein, die Anordnung unseres Kommandanten anzufechten. Es wäre unvernünftig gewesen, das Schiff zu verlassen und in die Finsternis hinauszugehen, in der tausend Gefahren lauern konnten. Die Nacht war schon hereingebrochen. Rasch wie in den Tropen war sie dem Tag gefolgt.
„Das beste ist“, meinte Kamow, „wir gehen jetzt in unsere Kajüten und schlafen, bis es hell wird. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns. Zwar ist die Schwerkraft auf dem Mars nicht so groß wie auf der Erde, so daß uns die körperliche Arbeit nicht viel ausmachen wird, aber wir sind sie alle schon lange nicht mehr gewöhnt.“
Morgen gehen wir an die Arbeit. Das Programm dafür ist bereits auf der Erde entworfen worden und sieht, je nachdem was wir auf dem Planeten vorfinden, drei Varianten vor. Ich fürchte, wir werden selbst die letzte noch kürzen müssen, die für den Fall gilt, daß sich der Mars als unbewohnt erweist. Nach dem zu urteilen, was wir von den Schiffsfenstern aus gesehen haben, ist der Planet eine einzige Wüste. Das Sammeln von Pflanzenproben wird nicht lange dauern. Der morgige Tag soll der Vorbereitung dienen, danach wollen wir vier Ausfahrten unternehmen, um das Gelände in einem Umkreis von hundert Kilometern zu erforschen. Die erste Ausfahrt unternehmen Kamow und Paitschadse, die zweite Belopolski und ich. Diese Regelung haben wir getroffen, weil entweder Kamow mit einem Astronom oder aber Belopolski an Bord bleiben muß für den Fall, daß eine der Ausfahrten unglücklich endet. Unser Schiff muß unter allen Umständen zur Erde zurückkehren.
Im Dunkel der Nacht
Am 10. Juli stand Charles Hapgoods Weltraumschiff startbereit auf einem eigens dafür errichteten Gerüst inmitten des weiten Feldes, das sich Hapgood als Raketenflugplatz ausgewählt hatte.
Schon am frühen Morgen umringte eine riesige Menschenmenge das Flugfeld. Die Gegend war nur dünn besiedelt, und den überwiegenden Teil der Menge bildeten Leute, die aus den verschiedensten Städten des Landes, sogar aus New York und Washington, herbeigeeilt waren, um dem Start des Weltraumschiffes beizuwohnen.
Der Start war auf acht Uhr morgens angesetzt. Die von Bason eigens hergebetene Sportkommission überprüfte ein letztes Mal die Siegel an den Geräten des Steuerpultes, verabschiedete sich und verließ das Schiff.
Hapgood und Bason waren allein. Beide hatten Gummianzüge an. Um die schädliche Wirkung der aufs Fünffache gesteigerten Schwerkraft abzuschwächen — die Beschleunigung beim Aufstieg sollte fünfzig Meter in der Sekunde betragen —, mußten sie unter Wasser tauchen.
Hapgood schloß die Eingangstür. Sie befanden sich in einer engen Kabine, der einzigen im Schiff, die vollgestopft war mit Proviantkisten, Behältern mit flüssigem Sauerstoff und sonstigem Gerät, so daß kaum ein freies Plätzchen blieb.
Hapgood warf einen Blick auf die Uhr.
„Legen Sie sich hin!“ sagte er zu Bason.
Bason hielt die Gummihaube unschlüssig in der Hand und starrte entsetzt auf den langen Aluminiumkasten, der wie ein Sarg aussah. „Aber wie komme ich denn da wieder heraus, wenn Ihnen etwas zustößt?“ fragte er.
„Wenn mir was zustößt, hat es für Sie auch keinen Zweck mehr, herauszukommen“, entgegnete Hapgood. „Ist es nicht einerlei, auf welche Art man stirbt? Ohne mich sind Sie sowieso verloren. Sie können das Raumschiff doch nicht steuern.“
Bason stieß einen tiefen Seufzer aus und stülpte sich die Haube über den Kopf. Es kostete ihn große Überwindung, in den Kasten zu steigen. Endlich war er drin. Er hörte noch, wie Hapgood die Luftzufuhrschläuche anschloß und den Deckel des Kastens zuschraubte, dann füllte sich sein „Sarg“ mit Wasser. Nun lag er in diesem Kasten eingesperrt, außerstande, allein wieder herauszukommen. Die Luft, das wußte er, reichte für vierzig Minuten. Wurde er bis dahin nicht herausgeholt, mußte er elendiglich ersticken.
Sein Leben hing von Hapgood ab. Wenn dem aber etwas zustieß! Warum klopfte Hapgood nicht, wie vereinbart, an den Kastendeckel, um zu erfahren, ob alles in Ordnung war? Er brauchte ja nur den Luftleitungshahn abzudrehen, und gleich wäre alles zu Ende …
Da, das Atmen wurde schon schwerer! …
Dann hörte Bason es deutlich dreimal an den Kastendeckel pochen. Das vereinbarte Klopfzeichen! Ja, die Luft strömte ungehindert ein … Es atmete sich leicht …
Das Klopfen wiederholte sich. Bason hob die Hand und antwortete mit drei Schlägen.
Nachdem Hopgood sich vergewissert hatte, daß sein Begleiter wohlauf war, prüfte er noch einmal den Deckelverschluß und trat ans Fenster.
Draußen, auf dem weiten Feld des Raketenflugplatzes, liefen Reporter mit Filmapparaten und Kameras hin und her, verfolgt von motorisierten Polizisten, die sich vergeblich bemühten, sie aus der verbotenen Kilometerzone hinauszudrängen.
Hapgood sah auf die Uhr und fluchte. Bis zum Start waren es keine zehn Minuten mehr. Begriffen diese Leute denn nicht, welcher Gefahr sie sich aussetzten, wenn sie der Rakete so nahe blieben?
Eilig traf er die letzten Vorbereitungen. Er sah nochmals die Schläuche nach, die beide Kästen, den Basons und den eigenen, mit Atemluft versorgten, und überprüfte die Leitungen, mit deren Hilfe er den Atom-Düsenmotor anlassen wollte.
Dann setzte er sich die Haube auf, befestigte sie an seinem Gummianzug und zog den luftdicht schließenden Kragen fest zu. Hierauf stieg er in den Kasten und legte die Luftschläuche an. Als er den Deckel von innen zugeschraubt hatte, ließ er Wasser einlaufen. Alles war zum Abflug bereit.
Durch die Brille der Haube sah er das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es fehlten noch zwei Minuten.
Hapgood war völlig ruhig. Obwohl er wußte, daß das von ihm gebaute Raumschiff noch längst nicht vollkommen war, fürchtete er die Gefahren nicht, die beim Start drohten. Er wollte einfach nicht an sie denken. Der große Augenblick, dem er sein Leben gewidmet hatte, war gekommen. Er startete zu einem Weltraumflug. Alles andere existierte für ihn nicht mehr.
Noch eine Minute!
Er dachte an Kamow. Sein Rivale flog jetzt da irgendwo im Raum, weit weg von der Erde, ohne zu ahnen, daß Hapgoods Raumschiff ihm nachjagte, daß dieses Raumschiff eher auf dem A4ars sein würde als seins …
Der Sekundenzeiger riß Hapgood aus seinen Gedanken.
Es war soweit!
Hapgood drückte mit fester Hand auf den Knopf.
* * *
Unerträglich langsam verstrich die Zeit … Hundertsiebzig Flugtage, Tage qualvoller Untätigkeit, die sich durch nichts voneinander unterschieden, schlichen in trostloser Eintönigkeit dahin.
Das Außergewöhnliche der Situation, das Gefühl der Schwerelosigkeit und das grandiose Bild des Weltalls, das sich vor den Fenstern der Rakete ausbreitete, büßte schnell den Reiz der Neuheit ein. Es gab absolut nichts zu tun.
Die Rakete flog, den ewigen Gesetzen des Universums gehorchend, und mußte sie zum Ziel tragen, falls sie nicht unterwegs gegen einen Himmelskörper prallten, der Hapgoods Aufmerksamkeit entgangen war. Übrigens glaubte Hapgood nicht an die Möglichkeit einer solchen Begegnung.
Mit Ralph Bason hatte er sich ein für allemal verkracht.
Das kam so: Als man beraten hatte, welche Nahrungsmittel mitgenommen werden sollten, war Bason mit Hapgood einer Meinung gewesen, daß man auf alkoholische Getränke verzichten müsse; doch am zweiten Flugtag sagte er plötzlich: „Ich langweile mich zu Tode! Kommen Sie, Charles, trinken wir einen!“
„Was meinen Sie?“ fragte Hapgood aufhorchend. Er konnte sich nicht erklären, woher Bason Alkohol haben konnte, denn er selbst hatte vor dem Start die ganze Ladung des Raumschiffes genau überprüft. ›Wenn er ohne mein Wissen zwei, drei Flaschen mit an Bord geschmuggelt hat, ist das ja weiter nicht schlimm‹, dachte er. Aber die Sache erwies sich als durchaus nicht so harmlos.
Hapgood war aufs höchste empört, als er erfuhr, daß Bason insgeheim mit dem Lieferanten abgemacht hatte, einen Behälter statt mit flüssigem Sauerstoff mit Whisky zu füllen. „Idiot!“ schrie er, außer sich vor Zorn. „Was sollen wir denn am Ende der Reise atmen? Ihren verdammten Schnaps wohl?“
Basons eigenmächtiges Vorgehen konnte die schwersten Folgen haben. Das Schiff hatte zwölf Sauerstoffbehälter geladen. Durch den Verlust auch nur eines Behälters wurde die ganze Expedition gefährdet.
„Sie haben doch selber gesagt“, versetzte Bason gelassen, ohne sich an den Wutausbruch seines Begleiters zu kehren, „daß der Luftvorrat für den ganzen Flug ausreicht, auch für den Rückflug. Wozu brauchen wir so viel! Wir füllen eben unsere Behälter auf dem Mars nach.“
„Womit denn?“
„Womit schon? Mit Marsluft natürlich, eine Pumpe haben wir ja.“
Hapgood starrte Bason sekundenlang an, außerstande, auch nur ein Wort hervorzubringen.
„Woher wissen Sie denn“, sagte er endlich, „daß sich die Marsluft zum Atmen eignet? Ist Ihnen etwa nicht bekannt, daß unsere Behälter nicht mit Luft, sondern mit flüssigem Sauerstoff gefüllt sind? Wir haben keine Möglichkeit, aus der Marsatmosphäre Sauerstoff zu gewinnen.“
„Was machen wir denn da?“ stammelte Bason verwirrt.
„Das es so ist, habe ich nicht gewußt. Fliegen wir schnell zur Erde zurück.“
„Umkehren kann ich nicht mehr. Hören Sie, was ich Ihnen als Kommandant des Raumschiffes sage: Sie werden Ihr Vergehen mit dem Leben bezahlen. Wenn der Sauerstoff nicht reicht, werfe ich Sie aus der Rakete hinaus.“
„Wir müssen eben weniger atmen!“ murmelte der Journalist erschrocken. „Vielleicht können wir mit dem Sauerstoff sparsamer umgehen.“
„Meinetwegen brauchen Sie überhaupt nicht zu atmen“, erwiderte Hapgood, der sich inzwischen wieder gefaßt hatte.
Als bis zum Mars noch sechs Tage verblieben waren, sagte Hapgood: „Die Landung ist gefährlich. Ich werde vielleicht Ihre Hilfe brauchen.“
Zu seiner Verwunderung gehorchte der Journalist ohne Widerrede.
Der letzte Flugtag brach an. Die Rakete näherte sich dem Ziel. Hapgood erklärte Bason, was er bei der Landung zu tun habe. „Wenn die Bremswirkung aufhört, öffnen Sie auf mein Kommando den Fallschirm.“
„Gut!“ antwortete Bason. „Wie werden Sie die Rakete bremsen?“
„Mit dem einen Motor, den wir haben“, sagte Hapgood, „können wir die Rakete nicht bremsen. Wir müssen uns die Reibung der Atmosphäre des Planeten zunutze machen.
Wenn meine Berechnungen stimmen, und daran zweifele ich nicht, dauert das zwölf Stunden und verlangt von mir ein Höchstmaß an Konzentration.“
Wie vorgesehen, flog die Rakete am 28. Dezember pünktlich um zwei Uhr am Mars vorüber, berührte leicht seine Atmosphäre und zog, nachdem sie einen Halbkreis beschrieben hatte, abermals an dem Planeten vorbei, diesmal von der andern Seite. So drang Hapgood, der in einer weit ausgezogenen Spirale einen Anflug nach dem andern unternahm, von Mal zu Mal immer tiefer in die Atmosphäre vor und minderte durch die dabei entstehende Reibung die kosmische Geschwindigkeit seines Raumes herab. Bei ihren letzten Runden kam die Rakete nicht mehr aus der Gashülle des Mars heraus. Als die Geschwindigkeit auf tausend Kilometer in der Minute gefallen war, entschloß sich Hapgood, den Flug abzubrechen. Der erhitzte Schiffskörper hatte die Temperatur im Innenraum auf fünfzig Grad erhöht, und die beiden Raumfahrer fühlten, daß sie eine solche Hitze nicht länger ertragen konnten. Aus Furcht, die Besinnung zu verlieren, lenkte Hapgood die Rakete auf die Planetenoberfläche, bis zu der es noch gegen fünftausend Meter waren.
„Den Fallschirm!“ rief er Bason zu. Der entscheidende Moment war gekommen. Würde der Fallschirm halten?
Hapgood verspürte einen starken Ruck. Über der Rakete spannte sich ein riesiges Seidendach aus. Die Geschwindigkeit nahm sofort ab. Der Fallschirm hatte standgehalten.
Schweißüberströmt, die Zähne schmerzhaft zusammengebissen, hielt Hapgood das Raumschiff in waagerechter Lage. Es bedurfte dazu übermenschlicher Anstrengung und größter Geschwindigkeit.
Als sie keine fünfhundert Meter mehr über dem Boden waren, wurde es plötzlich dunkel. Die Sonne verschwand am Horizont; an der Schnelligkeit, mit der die Nacht hereinbrach, merkte Hapgood, daß sie sich in den „Tropen“ des Mars befanden.
Sie mußten also blind landen, wobei sie Gefahr liefen, in einen der Seen zu geraten, von deren Tiefe Hapgood keine Vorstellung hatte. Aber ihm blieb keine andere Wahl. Die Rakete sank rasch tiefer und tiefer … Ein heftiger Stoß, das Klirren zerbrochenen Geräts am Armaturenbrett, ein Schreckensschrei Basons, und das Raumschiff hatte aufgehört zu fallen. Sie waren auf dem Mars.
Hapgood sah instinktiv nach der Uhr. Dreizehn Uhr vierunddreißig. Er wandte sich an Bason. „Notieren Sie!“ sagte er mit vor Erregung heiserer Stimme. „Am 28. Dezember 19.. um dreizehn Uhr vierunddreißig Washingtoner Zeit[2] erreichte das von Charles Hapgood konstruierte und gesteuerte amerikanische Raumschiff den Planeten Mars.“
„Mit der Besatzung, bestehend aus genanntem Charles Hapgood und dem Korrespondenten der Zeitung ›New York Times‹, Ralph Bason“, ergänzte der Journalist. „Aber das ist erst ein halber Sieg. Wollen wir uns den ganzen sichern, müssen wir aus der Rakete aussteigen und den Fuß auf den Boden des Planeten setzen. Das russische Raumschiff kann jeden Augenblick eintreffen.“
„Wenn es nicht schon da ist“, murmelte Hapgood.
„Schnell, Charles!“ In fieberhafter Eile holte der Journalist den Fotoapparat hervor.
Hapgood wußte, was Bason wollte. Ohne zu säumen, nahmen sie die Uhr vom Armaturenbrett herunter, die auf der Erde von einer Kommission mit einem Siegel versehen worden war. Das Zifferblatt, das nicht nur die Zeit, sondern auch das Datum anzeigte, mußte außerhalb des Raumschiffes fotografiert werden. Damit sollten unwiderlegbar Tag und Stunde ihrer Ankunft auf dem Mars nachgewiesen werden. Der Fotoapparat war ebenfalls versiegelt. Mit Sauerstoffmasken, Uhr, Fotoapparat und einer starken Magnesiumlampe versehen, krochen beide in die enge Ausstiegkammer des Schiffes.
Als sich die Innentür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Hapgood: „Eigentlich ist es unklug, bei dieser Dunkelheit hinauszugehen und unbekannten Boden zu betreten.“
„Dann lassen Sie es eben bleiben!“ entgegnete Bason.
„Ich gehe allein. Ich habe keine Lust, mich wegen Ihrer Feigheit um alle Früchte des Fluges bringen zu lassen.“
Vom Ehrgeiz gepackt, vergaß er in diesem Augenblick völlig, daß sie nur wenig Aussichten hatten, zur Erde zurückzukehren. „Machen Sie auf!“ rief er gebieterisch, als er sah, daß Hapgood zögerte.
Die Schlösser schnappten. Kalte Luft strömte in die Kammer und kühlte ihre erhitzten Körper. Die Tür öffnete sich.
Das erste, was Hapgood ins Auge fiel, war das vertraute Sternbild des Großen Wagens dicht über dem Horizont. In der dünnen Atmosphäre des Mars leuchteten die Sterne viel heller als auf der Erde.
„Steigen Sie aus!“ sagte Bason. „Ich will Ihnen nicht das Recht streitig machen, den Planeten als erster zu betreten.“
Das Raumschiff war am Ufer eines kleinen Sees gelandet. Die Tür befand sich gut anderthalb Meter über dem Sandboden. Nur mit Mühe überwand Hapgood eine unerklärliche Angst und sprang hinunter. Dank der geringen Anziehungskraft des Mars setzte er so leicht auf, als wäre er von einem Stuhl gesprungen. Bason reichte ihm Uhr, Lampe und Apparat und folgte nach.
Einige Meter von ihnen entfernt ragte das Gestrüpp unbekannter Pflanzen empor. Im nächtlichen Dunkel, nur vom Licht der Sterne erhellt, schien es voller unheimlicher, ungelöster Rätsel.
„Wir müssen weiter weg gehen, damit ich die Rakete mit aufs Bild bekomme“, rief Bason, dessen Stimme durch die Sauerstoffmaske und in der dünnen Luft wie ein klägliches Piepsen klang.
Ringsum herrschte tiefe Stille. Nicht der leiseste Windhauch bewegte die eisige Luft. Und ebenso eisig wie die Luft war auch der Glanz der unzähligen Sterne, zwischen denen, hart am Horizont, ein großer Stern bläulich schimmerte.
„Die Erde!“ flüsterte Hapgood.
Als sie sich zehn Schritte von der Rakete entfernt hatten, machten sie halt. Hapgood nahm die Uhr in die Hand, Bason trat etwas beiseite, hielt mit der Linken die Magnesiumlampe hoch und drückte mit der Rechten auf den Auslöser des Apparates. Grelles Blitzlicht erhellte das dichte Gestrüpp, den Landeplatz, den See, die unbewegliche Rakete an seinem Ufer und die Gestalt Hapgoods mit der Uhr in der ausgestreckten Hand.
Wie er so dastand, mit der Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, wirkte er wie ein phantastisches Wesen, wie ein Bewohner dieses fremden, unerforschten Planeten. So sollte Bason ihn sein Leben lang in Erinnerung behalten!
Schnell schaltete er die Lampe auf einen neuen Blitz ein.
Doch kaum hatte er sie für eine zweite Aufnahme hochgehoben, als er ein feines, zischendes Pfeifen vernahm. Ein langgestreckter dunkler Körper, der sich von dem etwas helleren Horizontstreifen abhob, schnellte dicht an ihm vorbei.
An Basons Ohr drang ein markerschütternder Schrei.
Mit einer unwillkürlichen Bewegung drückte er auf den Auslöser. Der milchigweiße Magnesiumblitz entriß der Finsternis ein Bild, das dem Journalisten augenblicklich kalten Angstschweiß aus allen Poren trieb.
Zwei Schritte entfernt, dort, wo eben noch Hapgood gestanden hatte, glänzte das silbrige Fell eines langen Tieres, das einer dicken Riesenschlange glich. Starr vor Schreck, sah Bason Hapgoods Beine unter dem Leib des Tieres hervorragen. Und da erlosch auch schon die Lampe.
Die wieder eingetretene Dunkelheit, die nach dem grellen Licht noch undurchdringlicher schien, erfüllte Basons Herz mit Todesangst. Mit einem wilden, gellenden Schrei schleuderte er die Lampe von sich und stürzte wie von Sinnen zum Raumschiff. Wie gehetzt jagte er durch die offene Tür der Ausstiegkammer und schlug sie hinter sich zu.
Kraftlos und unfähig zu denken, lag er im Dunkeln auf dem Boden der Kammer, von einem widerwärtigen, heftigen Zittern befallen. Vor seinen Augen stand unablässig das Bild des grauenhaften Endes seines Gefährten: das riesige zottige Schlangenungeheuer und die unter ihm hervorragenden Beine. Reglose Beine. ›Also war er schon tot‹, war der klare Gedanke, den er fassen konnte.
Die Übelkeit ging allmählich vorüber, auch das Zittern ließ nach. Bason richtete sich auf und lauschte. Ringsum herrschte Stille. Nicht ein Laut drang von draußen herein.
Er vernahm nur die schnellen Schläge seines Herzens, das sich noch nicht beruhigt hatte. ›Vielleicht hätte ich ihn doch retten können?‹ fragte er sich beklommen. ›Nein, unmöglich, er war schon tot!‹ beruhigte er sich.
Bason stand auf und knipste Licht an. Die Außentür war zu. Er wunderte sich darüber, denn ihm war entfallen, daß er sie selber zugeschlagen hatte. Dann nahm er die Sauerstoffmaske ab, die er immer noch aufhatte, und wankte ins Innere der Rakete. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam ihn. Wie er ging und stand, sank er zu Boden und schlief augenblicklich ein.
Bason hätte nicht sagen können, wie lange er geschlafen hatte, aber als er die Augen öffnete, drang durch die schmalen Fenster Tageslicht. Er richtete sich auf und begann, den Kopf in die Hände gestützt, zu grübeln. Hapgood war tot, und er war nun allein auf dem Mars in einer Rakete, mit der er nichts anzufangen wußte. Sicherer Tod erwartete ihn.
Nichts konnte ihn mehr retten. Nichts, als … Aber durfte er denn hoffen, daß das sowjetische Raumschiff ausgerechnet hier landete? Der Planet war groß. Kamow konnte mit seinem Schiff auf jedem beliebigen Punkt der hundertfünfzig Millionen Quadratkilometer großen Marsoberfläche niedergehen. Es blieb also nicht einmal ein Hoffnungsschimmer… Wie lange würde sich seine Qual hinziehen? Die Luft würde ihm drei Monate reichen. Drei Monate …
Er trat ans Fenster. Ob der fürchterliche Marsbewohner noch da war? Ihm kam der Gedanke, daß es eigentlich nicht übel wäre, das Tier zu fotografieren. ›Das gäbe eine sensationelle Aufnahme‹, dachte er, aber gleich darauf lachte er bitter auf. ›Wer würde sie denn zu sehen bekommen? Draußen war es Tag. Nichts rührte sich in dem sonnenbeschienenen blaugrauen Gestrüpp und auf dem Platz, auf dem das Raumschiff gelandet war. Die Lampe, die Bason weggeworfen hatte, lag noch im Sand. Von Hapgood aber war nirgends eine Spur. Da fiel Basons Blick auf einen dunklen Fleck — an dieser Stelle hatten sie in der Nacht gestanden —, und er sah das Bein eines Menschen. Der Fuß, mit Hosenresten eines blauen Overalls, steckte in einem ihm wohlbekannten Schuh. Daneben lag eine zerdrückte Uhr. Der Fleck da war Blut, und das Stück Bein war alles, was die Marsschlange von seinem Gefährten übriggelassen hatte. Bason zitterte am ganzen Leib. Eine Schwäche in den Knien zwang ihn, sich an die Wand zu lehnen.
Nein, fort aus dieser schrecklichen Welt! … Schluß machen!
Doch plötzlich fuhr er zusammen und ließ die Hand sinken.
Nicht mehr als dreihundert Meter von der Rakete entfernt bewegte sich etwas Glitzerndes, das rasch näher kam.
Die Sonne spiegelte sich hell auf der offenbar metallenen Oberfläche; was für eine Form der Gegenstand hatte, war in dem Gestrüpp nicht zu erkennen. Bason preßte die Stirn gegen die Fensterscheibe und verfolgte den rätselhaften Gegenstand, der genau auf die Rakete zusteuerte.
„Das sieht ja aus wie das Verdeck eines Autos“, sagte er laut vor sich hin. Aber wo sollte auf dem Mars ein Auto herkommen? War der Planet wirklich bewohnt, und Marsmenschen näherten sich dem Weltraumschiff? Sollte das wirklich die Rettung in letzter Minute sein?
Jäh aufkeimende Hoffnung ließ Bason das Herz höher schlagen. Wenn die Marsmenschen ein Gefährt bauen konnten, das nach Erdbegriffen einem Auto glich, dann mußte ihre Technik einen hohen Stand haben.
›Aber vielleicht ist es nur der glitzernde Panzer eines Marstieres?‹ dachte Bason. ›Wer weiß, was noch für Wesen diesen Planeten bevölkern. Der funkelnde Gegenstand näherte sich indessen mit großer Geschwindigkeit. Es war offensichtlich: er hielt auf das amerikanische Raumschiff zu.
Einige Sekunden später wurde Bason klar, daß es sich nicht um ein Tier handelte, sondern um einen Wagen, der von Menschen oder von menschenähnlichen Wesen erbaut worden war. Er erkannte deutlich das weißlackierte Verdeck des geheimnisvollen Autos.
Der Rakete näherten sich denkende Wesen. Noch ein paar qualvolle Augenblicke vergingen, dann schoß, die Pflanzenstengel unter sich zermalmend, ein kleines blendendweißes Raupenfahrzeug auf den Sandplatz heraus, auf dem es scharf bremste und hielt. Hinter den Glasscheiben der Wagenfenster waren Menschen zu sehen. Als der Mann am Steuer sich nach vorn beugte, prallte Bason mit einem dumpfen Aufschrei zurück. Er hatte das ihm von Fotografien her bekannte Gesicht Paitschadses erkannt.
Am Morgen
Von allen Planeten des Sonnensystems ist den Menschen zweifellos derjenige am bekanntesten, den man im Altertum nach dem Kriegsgott Mars benannt hatte. Seinen Namen verdankt der Planet der „blutroten“ Farbe, durch die er sich von den anderen „Wandelsternen“, den Planeten, unterscheidet. Kein Himmelskörper gab Anlaß zu so viel Meinungsverschiedenheiten, Mutmaßungen und Annahmen wie der Mars. Und kein anderer Planet spielte eine so große Rolle in der Entwicklung der Astronomie. Der geniale Kepler entdeckte die Bewegungsgesetze der Planeten eben durch die Beobachtung des Mars.
Besonders große Popularität erlangte der „rote Planet“
seit dem Jahre 1895, als der italienische Astronom Schiaparelli die Vermutung aussprach, die feinen geraden Linien, die er selber auf der Scheibe des Planeten entdeckt hatte, seien künstlich angelegte Kanäle und stellten ein grandioses, von denkenden Wesen erbautes Bewässerungssystem dar. Diese Annahme fand in der breiten Öffentlichkeit großen Anklang, stieß aber in den Kreisen der Astronomen auf ernste Einwände. Die Existenz der „Kanäle“
wurde angezweifelt. Man stellte die Behauptung auf, auch wahllos verstreute dunkle Flecken könnten in der gewaltigen Entfernung wie gerade Linien aussehen. Die alle fünf- bis siebzehn Jahre stattfindenden großen Oppositionen des Mars, bei denen der Planet der Erde am nächsten kommt, brachten keine Klarheit in das heißumstrittene Problem.
Die Frage blieb offen.
Der Mars ist ein kleiner Planet. Sein Durchmesser ist halb so groß wie der der Erde. Infolge seiner geringen Schwerkraft ist die Atmosphäre des Planeten sehr dünn und weist eine ähnliche Dichte auf wie die Luft an der Grenze der Erdatmosphäre. Der Mars ist anderthalbmal so weit von der Sonne entfernt wie die Erde und empfängt bedeutend weniger Wärme und Energie. Infolge der großen Ent fernung von der Sonne ist die Bahn des Mars bedeutend länger als die der Erde, auch bewegt sich der Planet selbst langsamer. Zu einer vollen Umdrehung braucht er 687 Erdtage. Da aber die Achse des Mars fast in demselben Winkel geneigt ist wie die Erdachse, vollzieht sich auf ihm der gleiche Wechsel der Jahreszeiten wie auf der Erde, nur dauern diese daselbst doppelt so lange. Tag und Nacht wechseln genauso wie auf der Erde und fast in den gleichen Zeiträumen. Eine volle Umdrehung des Mars um seine Achse dauert nur siebenunddreißigeinhalb Minuten länger als eine Erdumdrehung.
Der Mars war — solange Kamows Weltraumschiff noch nicht den Planeten Venus besucht hatte — der einzige Himmelskörper, auf dem die Astronomen Leben vermuteten. Die jahreszeitlich bedingten Veränderungen der Farbe einiger Teile des Planeten erinnerten stark an die entsprechende Verfärbung der Pflanzen auf der Erde im Frühling und im Herbst. Die Existenz von Leben auf dem Mars blieb umstritten, und eben weil diese Frage bei den Erdbewohnern großes Interesse hervorrief, war das Ziel der ersten kosmischen Reise der rätselhafte Planet.
Die Besatzung des Raumschiffes fand nun das Problem der „Kanäle“ sehr zuungunsten derer gelöst, die sich für ihre künstliche Entstehung ausgesprochen hatten. Und mehr noch: Selbst die Existenz langer gerader Linien auf dem Mars, die scheinbar eine gewisse Ordnung in ihrer Anlage aufzeigten, erwies sich als eine Sinnestäuschung, die, wie Paitschadse sagte, durch die Entfernung hervorgerufen wurde.
* * *
Am 29. Dezember brach auf dem Längengrad des Mars, auf dem das sowjetische Weltraumschiff gelandet war, der Morgen an; fast halb so groß wie auf der Erde, stieg die Sonne langsam am dunkelblauen, violett getönten Himmel auf, an dem die größeren Sterne immer noch weiterleuchteten. Über die Seen, die in großer Zahl im Umkreis verstreut lagen, lief eine leichte Bewegung: Das Eis, das in der Nacht ihre Oberfläche bedeckt hatte, taute, und zwar schnell. Dann wurde der Wasserspiegel wieder unbeweglich. Die Pflanzen entfalteten ihre Blätter und wandten sie der Sonne zu.
Merkwürdig wirkten diese Pflanzen mit ihrer blaugrauen und tiefblauen Färbung auf das irdische Auge. Nicht mehr als hundert bis hundertdreißig Zentimeter hoch, waren die dicken Stengel kerzengerade gewachsen wie junge Tannen.
Von ihnen setzten sich, unten spärlich und oben dicht, bis zu einem Meter lange, schmale Blätter mit scharfgezackten Rändern ab. Sie waren fest und biegsam, in der Mitte hellgrau mit einem Stich ins Blaue, an den Rändern tiefblau.
Bei Einbruch der Nacht falteten sie sich zusammen wie Schmetterlingsflügel.
Die Sonne stieg höher; ihre Strahlen glitten als grelle Lichtflecke über den schneeweißen Rumpf des Weltraumschiffes, das dicht am Ufer eines Sees lag. Die zwei Meter hohen Räder des Schiffes hatten sich tief in den Sandboden eingegraben. Seine Tragflächen warfen dunkle Schatten.
Gleich daneben, in unmittelbarer Nähe des Wassers, stand ein niedriges, ebenfalls weißes Raumfahrzeug, das im Vergleich zu dem riesigen Schiffsleib winzig aussah. Auf allen vier Seiten hatte es lange, schmale Fenster.
Aus dem Dickicht sprang ein kleines zottiges Tier hervor. Seine Größe, die ruckartigen Bewegungen und die langen Ohren erinnerten an einen Hasen. Das langhaarige blaugraue Fell des Tieres paßte sich der Farbe der Pflanzen gut an. Seine großen runden, schwarzsamtenen Augen standen dicht beieinander. In weiten Sätzen erreichte das Tierchen den Sandstreifen am Ufer des Sees, wo es sich plötzlich auf die Hinterpfoten setzte. Aus den Sträuchern sprangen noch zwei „Häschen“ und gesellten sich dem ersten zu.
Da schnappte eine unsichtbare Feder, am Schiffskörper öffnete sich mit leichtem metallischem Klang eine schwere Schiebetür, und ein Mensch kam zum Vorschein, bekleidet mit pelzledernem Overall und einem Heim auf dem Kopf.
Eine Metalleiter rasselte zu Boden.
Die Tiere hoppelten davon und verschwanden im Dickicht. Der Mensch, der sie aufgescheucht hatte, sprang, ohne die Leiter zu benutzen, aus zwei Meter Höhe leicht auf den Boden. Nach ihm trat ein zweiter in die Türöffnung, genauso gekleidet wie der erste.
„Diese Tiere“, sagte er, „sind nicht vor uns erschrocken, sondern vor dem Lärm. Sie haben noch nie einen Menschen gesehen, weshalb sollten sie ihn fürchten? Aber die Färbung ihres Fells ähnelt der Farbe der Pflanzen, zwischen denen sie leben. Demnach muß es auf dem Mars Wesen geben, die Jagd auf sie machen und vor denen sie sich verbergen Anders kann sich die Schutzfarbe nicht herausgebildet haben.“
„Sie haben recht. Diese ›Hasen‹ sind bestimmt nicht die einzigen Bewohner des Planeten. Wir müssen ihre Feinde ausfindig machen.“
„Gestern haben wir keine gesehen, Sergej Alexandrowitsch.“
„Da haben wir doch den Geländewagen montiert. Der Lärm wird wohl alle Tiere verscheucht haben“, antwortete Kamow. „Wo solche ›Hasen‹ sind, muß es auch ›Wölfe geben; nur wissen wir vorläufig noch nicht, wie sie aussehen.“
„Vorsicht kann nie schaden“, meinte Paitschadse.
Die Sauerstoffmasken umschlossen zwar ihre untere Gesichtshälfte, aber die eingebauten Tonverstärker gestatteten ihnen, sich zu unterhalten, ohne die Stimme zu heben. Kamow kletterte die Leiter hinunter. Nach ihm verließ Melnikow das Raumschiff, eine Filmkamera in der Hand. Über seine Schulter hingen zwei Selbstlader, die er Paitschadse reichte. Kamow und Paitschadse waren nicht nur mit Gewehren, sondern auch mit Revolvern bewaffnet. Jedem hingen außerdem ein Fernglas und ein Fotoapparat auf der Brust.
„Sowie Sie unsere Abfahrt gefilmt haben“, sagte Kamow zu Melnikow, „kehren Sie aufs Schiff zurück und erinnern Konstantin Jewgenjewitsch an meine Anordnungen. Ich wiederhole: Das Schiff ist nur im Notfall zu verlassen. Wenn eine solche Notwendigkeit eintritt, dürfen nur Sie allein aussteigen. Belopolski darf nicht für eine Sekunde von Bord gehen. Auch wenn wir bis zum Abend nicht zurück sind, unternehmen Sie nichts. Falls die Verbindung unterbrochen wird, schalten Sie den Leitsender ein und lassen ihn so lange in Betrieb, bis der Geländewagen zurück ist. Und wenn er überhaupt nicht wiederkommt, fliegen Sie pünktlich, wie vorgesehen, zur Erde zurück.“
„Wird gemacht, Sergej Alexandrowitsch! Gute Fahrt!“
„Bei Einbruch der Dunkelheit stellen Sie den Scheinwerfer an“, fügte Kamow hinzu. „Wir können möglicherweise aufgehalten werden. Beim Scheinwerferlicht werden wir das Schiff leichter finden. Also dann: auf Wiedersehen!“
Er drückte Melnikow die Hand und begab sich zum Wagen. Paitschadse saß bereits am Steuer. Kamow bestieg den Geländewagen, schlug die hermetisch schließende Tür zu und öffnete den Hahn der Sauerstoff-Flasche. Als Luftdruck und Zusammensetzung im Wageninnern normal geworden waren, nahm er die Maske ab. Paitschadse tat das gleiche.
Dann warf er einen Hebel herum. Ein kaum merkliches Zittern des Geländewagens zeigte an, daß der starke Motor seine lautlose Arbeit aufgenommen hatte.
Der Wagen steuerte langsam auf den Pflanzenwall zu, der das Raumschiff umgab. Paitschadse konnte sich nicht entschließen, die Sträucher zu zerknicken. „Schade drum, Sergej Alexandrowitsch!“
„Halten Sie mehr nach links!“ sagte Kamow. „Ich glaube, dort ist eine Lichtung.“
Der Geländewagen schwenkte ein, gewann an Tempo und jagte nach Westen.
Melnikow, der seine Aufnahme beendet hatte, schaute ihm nach. Kamows Worte: „Und wenn er überhaupt nicht wiederkommt, fliegen Sie pünktlich, wie vorgesehen, zur Erde zurück“, klangen ihm noch immer in den Ohren.
Wenn er nicht wiederkommt … Nein, das kann nicht sein! Er kommt wieder … Er muß wiederkommen!
Er seufzte und ging langsam zum Schiff. Als er die Ausstiegkammer betreten hatte, zog er die Leiter hinter sich ein und drückte auf einen Knopf. Die Außentür schloß sich.
Zehn Sekunden später öffnete sich automatisch die Innentür, ließ Melnikow durch und schloß sich wieder. Melnikow nahm die Maske ab und ging ins Observatorium.
Belopolski hatte seinen Platz am Fenster nicht verlassen.
„Sie sind noch zu sehen“, sagte er.
In der Ferne leuchtete über den Spitzen der Sträucher das schnell kleiner werdende weiße Verdeck des Geländewagens. Dann blitzte für einen kurzen Augenblick die Karosserie noch einmal auf und verschwand.
„Nun heißt es warten“, sagte Belopolski. „Morgen ist die Reihe an uns.“
›Morgen? Wenn es nur erst soweit wäre!‹ dachte Melnikow und begab sich zur Funkstation.
Das leichte Knistern des Überspannungsableiters und das rote Lichtpünktchen der Kontrollampe gaben die beruhigende Gewißheit, daß die Funkstelle des Geländewagens in Betrieb war. Kamow hatte versprochen, die erste Meldung nach einer halben Stunde durchzugeben.
Melnikow setzte sich an den Apparat. Belopolski wanderte eine Weile ziellos im Observatorium auf und ab, dann nahm er neben ihm Platz.
Endlich waren die dreißig Minuten um. Im Lautsprecher knackte es.
„Hier spricht Kamow“, erklang die bekannte Stimme.
„Wie bin ich zu verstehen?“
„Wir hören gut“, antwortete Belopolski.
„Ich höre Sie auch gut. Neues gibt es bisher nicht zu berichten. Wir fahren durch Gelände, das sich von der Umgebung des Raumschiffes in nichts unterscheidet. Haben auch einige Hasen gesehen. Einen hätten wir beinahe überfahren. Er sprang uns genau vor die Gleisketten, aber Arsen Georgijewitsch konnte noch ausweichen. Offenbar gibt es hier sehr viel davon, aber andere Tiere sind nicht zu sehen. Wir werden ständig geraden Kurs halten. Was gibt es bei Ihnen Neues?“
„Nichts. Alles beim alten.“
„Beobachten Sie das benachbarte Gelände. Das nächste Gespräch werden wir genau in einer Stunde führen.“ Die Stimme verstummte. Das ausgeschaltete Mikrofon knackte.
„Bleiben Sie hier, Konstantin Jewgenjewitsch?“ fragte Melnikow.
„Ich gehe ins Labor. Sergej Alexandrowitsch bat mich, den Film von heute zu entwickeln. Ich bin bald wieder zurück.“
„Gehen Sie nur.“ Belopolski sah seinen jungen Gefährten prüfend an. „Gehen Sie nur“, wiederholte er, „und seien Sie unbesorgt! Die beiden werden pünktlich zurückkommen. Es besteht keinerlei Anlaß zur Beunruhigung.
Und sollte es auf dem Mars größere Tiere geben, so werden sie es nicht riskieren, den Geländewagen anzugreifen.“
„Das beunruhigt mich ja auch am allerwenigsten“, erwiderte Melnikow. „Aber stellen Sie sich einmal vor, die Sauerstoff-Flasche wird undicht, und die Atemluft geht ihnen aus. Oder sie haben eine Panne am Motor oder am Wagen. Eine Kette kann reißen — sie werden sie nicht reparieren können. Wenn ihnen das in großer Entfernung vom Raumschiff passiert, sind sie verloren.“
„Boris Nikolajewitsch“, sagte Belopolski, „Sie haben sich meiner Meinung nach schon davon überzeugen können, daß alles, was wir an Bord haben, von bester Qualität ist.“
„Ich weiß, aber trotzdem …“
„Theoretisch besteht eine einzige Gefahr“, fuhr Belopolski fort. „Ich betone: theoretisch. Auf dem Mars kommen Sandstürme vor. Sie sind derartig heftig und erfassen eine so große Fläche, daß wir sie von der Erde aus durch unsere Fernrohre beobachten konnten. Auf der glatten Oberfläche des Mars muß es starke Winde geben, die durch die ungleichmäßige Erwärmung der Luft in den verschiedenen Teilen des Planeten hervorgerufen werden. Diese Winde wirbeln gewaltige Sandmassen auf und tragen sie mit großer Geschwindigkeit fort. Hier liegt tatsächlich eine Gefahr. Aber ich wiederhole, es ist nur theoretisch eine Gefahr. Der Geländewagen ist auch für einen solchen Fall gerüstet. Sein Motor muß damit fertig werden, und den Kurs kann man mit Hilfe des Leitsenders halten. Außerdem sind die Stürme besonders heftig in den Wüsten, die wir gesehen haben, und nicht hier. Immerhin befinden wir uns in einer tiefen Senke. Der Geländewagen wird kaum darüber hinauskommen. Machen Sie sich also keine Sorgen, unsere Freunde werden wohlbehalten zurückkehren.“ Belopolski sprach mit ruhiger Stimme. Seine Argumente waren logisch und begründet, und doch ließ sich Melnikow von der scheinbaren Ruhe des Astronomen nicht täuschen. Ihm fiel auf, daß Belopolski eine Redseligkeit an den Tag legte, die ihm sonst gar nicht eigen war. Er nahm seinen Apparat, kroch durch die Luke und begab sich in sein Fotolabor.
Belopolski sah ihm mit teilnahmsvollem Blick nach. Er hatte für Melnikows Verfassung volles Verständnis. ›Ich habe ihm alle Gefahren aufgezählt, die uns bekannt sind‹, dachte er. ›Aber wieviel andere kann es noch geben, von denen wir nichts wissen! Seufzend wandte er sich der Funkstation zu. Das rote Lämpchen brannte nach wie vor gleichmäßig und beruhigend. Sein dünner Strahl verkündete stumm, daß im Geländewagen alles in Ordnung war.
Die Stunde verging, und zwischen dem Geländewagen und dem Raumschiff fand wiederum ein kurzes Gespräch statt. Es gab nichts Neues. Der Wagen fuhr immer noch durch das gleiche Gelände.
Für Melnikow und Belopolski zog sich dieser Morgen unendlich in die Länge. Die Sonne näherte sich auf ihrer Bahn allmählich dem Zenit. Das draußen angebrachte Thermometer zeigte fünfzehn Grad Wärme.
Dem Stand der Sonne nach war es etwa elf Uhr „Ortszeit“, wie Belopolski sich ausdrückte, als Kamow mitteilte, sie hätten bereits hundert Kilometer zurückgelegt.
„Der Motor arbeitet ausgezeichnet“, sagte er. „Wir fahren noch etwa fünfzig Kilometer und biegen dann nach Süden ab.“
Nach diesem Gespräch waren zwei Stunden vergangen.
Der Zeitpunkt der nächsten Meldung war herangerückt, aber der Lautsprecher schwieg. Der Uhrzeiger hatte schon längst die vereinbarte Zeit überschritten, das Kontrollämpchen zeigte nach wie vor an, daß die Funkstelle des Geländewagens funktionierte, und das leise Knistern im Lautsprecher bezeugte, daß auch die Funkstation des Raumschiffes in Ordnung war; aber es kam kein Anruf.
Belopolski schaltete entschlossen das Mikrofon ein.
„Warum melden Sie sich nicht?“ sprach er laut. „Antworten Sie … Antworten Sie!“ Er wartete und wiederholte die Worte. Melnikow lauschte mit angehaltenem Atem.
„Dem Wagen kann nichts passiert sein“, sagte Belopolski, wobei er sich die redlichste Mühe gab, ruhig zu sprechen. „Die Station ist in Betrieb. Vielleicht sind sie ausgestiegen.“
„Beide?“
Diese Frage ließ Belopolski zusammenzucken. Kamow hatte gesagt, sie würden den Geländewagen unter keinen Umständen gleichzeitig verlassen. Einer von ihnen mußte also im Wagen geblieben sein. Warum antworteten sie nicht?
„Sergej Alexandrowitsch! … Arsen Georgijewitsch! …
Warum schweigen Sie? … Warum schweigen Sie …? Antworten Sie! … Antworten Sie!“
Keine Antwort.
Im Observatorium trat beklommenes Schweigen ein.
Melnikow und Belopolski suchten ihre Unruhe voreinander zu verbergen, ließen aber kein Auge von dem roten Pünktchen der Kontroll-Lampe. Beide fürchteten, das Lämpchen könnte plötzlich erlöschen. Das kaum hörbare Knistern im Lautsprecher kam ihnen so laut vor, daß sie es immer wieder für das langerwartete Knacken des eingeschalteten Mikrofons hielten. Aber Minute um Minute verging, und die Funkstation schwieg beharrlich …
Ein Schuß fällt
Der Geländewagen glitt schnell und leicht über den Sandboden. Die breiten Raupen hinterließen eine deutliche Spur. Da die weißgestrichene Karosserie die Sonnenstrahlen gut reflektierte, war es im Inneren des Wagens nicht heiß. Kamow und Paitschadse fühlten sich auf den weichen, bequemen Sitzen sehr wohl. Die Eintönigkeit der Umgebung wirkte zwar ein wenig ermüdend, aber sie gaben die Hoffnung nicht auf, endlich etwas Interessantes zu erblicken, und schauten aufmerksam nach allen Seiten aus.
Bisweilen mußten sie einen See umfahren, und einmal wäre der Wagen beinahe im Flugsand stecken geblieben. Die Raupen sanken plötzlich in den Boden ein, doch Paitschadse schaltete geistesgegenwärtig auf den Rückwärtsgang, und sie kamen glücklich aus der unerwarteten Falle wieder heraus.
„Ein richtiger Sumpf“, meinte Kamow, „nur daß er aus Sand ist. Diese Stelle muß noch untersucht werden.“
Vom Raumschiff trennten sie bereits mehr als hundert Kilometer, aber dieser Umstand brachte sie keineswegs aus der Ruhe, und der Geländewagen setzte seinen Weg unbeirrt in gleichbleibendem Tempo fort.
Kamow warf einen Blick auf die Uhr. „Halb zwölf. Wir haben hundertvierzig Kilometer zurückgelegt. Es wird Zeit, abzubiegen. Wir erforschen das Gelände noch ungefähr fünfzig Kilometer nach Süden und fahren dann zum Schiff zurück.“
„Soll ich wenden?“
Kamow erhob sich und beobachtete das vor dem Wagen liegende Gelände aufmerksam durchs Fernglas. Überall Sand und Gestrüpp. Er wollte schon die Hand mit dem Glas sinken lassen und die Erlaubnis zu einer Wendung um neunzig Grad geben, als er sich plötzlich mit einem Ruck nach vorn beugte. „Was ist denn das?“ fragte er. „Schauen Sie, Arsen Georgijewitsch!“
Paitschadse führte das Glas an die Augen.
In etwa zwei Kilometer Entfernung, rechts vom Wege des Wagens, erhob sich über dem blauen Pflanzenteppich ein länglicher mattglänzender Körper, der sich in dem ebenen Gelände deutlich von den bereits zur Gewohnheit gewordenen Formen der Marslandschaft unterschied.
„Es sieht wie Metall aus“, bemerkte Kamow.
Als sich der Geländewagen bis auf einen halben Kilometer genähert hatte, sagte Kamow, das Fernglas vor den Augen: „Ich weiß, was es ist. Ein Raumschiff, nur sehr viel kleiner als unseres.“
„Ein Raumschiff? …. Wir sind nicht allein auf dem Mars?“
„Offensichtlich nicht. Allem Anschein nach ist dies das amerikanische Raumschiff von Charles Hapgood.“
Der Wagen hielt zehn Schritte von dem amerikanischen Raumschiff, das wie ein sagenhafter geflügelter Walfisch auf dem Sand lag. Es war silbern gestrichen, etwa zwölf Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Die langen, spitz zulaufenden Tragflächen, die aus dem unteren Teil des Rumpfes herausragten, verliehen ihm das Aussehen eines Transportflugzeugs. Räder hatte es nicht. Das ganze Heck bedeckte eine Masse starken Seidengewebes.
„Sehr interessant!“ sagte Kamow. „Ein Weltraumschiff, das mit Hilfe eines Fallschirms auf dem Planeten gelandet ist. So etwas ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Die Tragflächen genügen doch voll und ganz für eine gleitende Landung.“
„Wo sind denn die Amerikaner?“ fragte Paitschadse.
In der Tat, neben dem Raumschiff war niemand zu sehen.
„Entweder schlafen sie, oder sie sind fortgegangen“, gab Kamow zur Antwort. Er sah sich aufmerksam um und packte seinen Begleiter plötzlich an der Schulter. „Sehen Sie!“
sagte er erregt. In ihrer Nähe hob sich ein dunkler Fleck vom Sandboden ab. Daneben lagen das Bein eines Menschen, das in einem dicksohligen Schuh steckte, eine große zerbrochene Uhr und eine zertrümmerte Magnesiumlampe.
„Eine sonderbare Geschichte!“ sagte Kamow. „Hier hat sich eine Tragödie abgespielt! Sollte ihr wirklich die ganze Besatzung zum Opfer gefallen sein? — Bleiben Sie hier!“
verfügte er dann und setzte die Sauerstoffmaske auf. „Ich steige aus, das muß geklärt werden.“
„Seien Sie vorsichtig, Sergej Alexandrowitsch!“ Paitschadse stülpte sich ebenfalls die Maske übers Gesicht.
„Das waren die ›Wölfe‹, die wir noch nicht gesehen haben. Das ist ihr Werk.“
Kamow zog den Revolver aus der Tasche und steckte ihn in den Gürtel. Paitschadse nahm ein Gewehr in die Hand und drückte auf einen Knopf, worauf in den Fenstern die Scheiben herunterklappten.
„Bleiben Sie unter allen Umständen im Fahrzeug!“ ordnete Kamow an, öffnete die Tür und stieg aus.
Als er den dunklen Fleck erreicht hatte, bückte er sich und betrachtete aufmerksam das menschliche Bein, das unterhalb des Knies abgerissen war. Andere Körperteile waren nicht zu sehen.
›Was hat die Uhr hier zu suchen?‹ fragte er sich. ›Wie kommt sie hierher? Sind hier mehrere Menschen ums Leben gekommen oder nur einer? Wie ließ sich das nur feststellen? Das Schnappen eines Schlosses veranlaßte ihn, sich rasch wieder aufzurichten. Am Schiff öffnete sich eine Tür.
Ein Mann erschien in einem dunkelblauen Overall. Sein Gesicht bedeckte eine Sauerstoffmaske.
Wie überlegend blieb er auf der Türschwelle stehen, dann sprang er herunter und ging mit unsicheren Schritten auf Kamow zu. „Guten Tag! Sind Sie die russischen Raumschiffer?“ klang es dumpf hinter der Maske hervor.
„Ja“, antwortete Kamow. „Wer sind Sie?“
Bason schrak bei der unerwartet lauten Antwort zusammen. Kamow — er erkannte ihn — hatte ihn auf englisch angesprochen. „Ich gehöre zur Besatzung des amerikanischen Weltraumschiffes“, erwiderte er.
„Das habe ich mir schon gedacht. Ihrer Statur nach sind Sie zwar nicht Charles Hapgood, aber ich vermute, daß dieses Raumschiff unter seinem Kommando geflogen ist.
Wo ist Hapgood selbst?“
„Das ist alles, was von ihm übrig blieb.“ Bason wies auf das abgerissene Bein. „Heute nacht überfiel uns ein unbekanntes Tier. Es hat Charles Hapgood zerrissen. Ich selbst brachte mich mit Mühe in Sicherheit, nachdem ich alle Patronen verschossen hatte. Meinen Kameraden vermochte ich nicht mehr zu retten.“
„Wie sah das Tier aus?“ fragte Kamow rasch.
„Es war eine dicke, zottige Schlange von silbriger Farbe.
Ich sah sie nur beim Aufleuchten des Magnesiumblitzes und konnte sie nicht richtig erkennen.“
„Dann ist es nicht verwunderlich, daß Sie das Tier nicht getroffen haben“, meinte Kamow, „denn Sie schossen ja blind.“
Bason errötete, aber Kamow bemerkte es nicht.
„Wer ist noch bei Ihnen?“ fragte er.
„Niemand. Wir waren zu zweit.“
„Wie heißen Sie?“
„Ralph Bason, Korrespondent der ›New York Times‹.“
„Ihre Expedition verfolgte demnach keine wissenschaftlichen Zwecke?“
„Hapgood stellte Beobachtungen an.“
„Das stimmt, er war ein großer Gelehrter. Schade, daß er ums Leben gekommen ist.“ Plötzlich blitzte in Kamow ein Gedanke auf, und er sah den Amerikaner scharf an: „Sie sagten, das Tier hätte Sie heute nacht überfallen. Wann sind Sie gelandet?“
„Gestern am späten Abend. Und Sie?“
„Warum sind Sie nachts ausgestiegen? Ins unbekannte, gefahrdrohende Dunkel? Warum haben Sie nicht bis Tagesanbruch gewartet wie wir? Ich weiß, weshalb Sie das getan haben. Die Uhr und die Lampe verraten es besser als alle Worte. Aber erlauben Sie, Mr. Bason, daß ich Ihnen sage: Sie und Hapgood haben sich wie kleine Jungs benommen.“ Kamow war tief empört. Es dauerte ihn, daß Charles Hapgood so sinnlos ums Leben gekommen war.
„Wir sind vierundzwanzig Stunden vor Ihnen auf dem Mars angekommen“, fuhr er fort, da Bason keine Antwort gab, „haben unser Schiff jedoch erst gestern früh verlassen.
Und haben keine Uhr fotografiert.“
„Wir wollten die ersten sein“, sagte Bason. „Wir fürchteten, Sie, Mr. Kamow, könnten uns zuvorkommen.“
„Sie kennen mich?“
„Wer kennt den ›Mondkolumbus‹ nicht! Sie und Mr.
Paitschadse sind so berühmt, daß man Sie gleich erkennt, vor allem auf dem Mars.“
„Was gedachten Sie denn nach Hapgoods Tod zu tun?“
fragte Kamow. „Können Sie das Schiff steuern?“
„Nein“, gab Bason freimütig zu. „Ich wollte mir das Leben nehmen und hätte es auch schon getan, wenn nicht Sie im letzten Moment dazwischengekommen wären.“
Kamow begann der Mann leid zu tun. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „wenn ich heftig zu Ihnen war. Mich schmerzt, daß Charles Hapgood für nichts und wieder nichts umgekommen ist. Das hat mich etwas aus der Fassung gebracht. Sie brauchen sich durchaus nicht das Leben zu nehmen. Sie fliegen ganz einfach mit uns zur Erde zurück.“
Kamow ging zu dem Geländewagen und wiederholte Paitschadse sein Gespräch mit Bason. „Sie haben beide ihren Leichtsinn teuer bezahlen müssen“, sagte er. „Dieser Reporter ist noch ganz jung, hat aber schon graues Haar.
Wahrscheinlich hat er es in dieser Nacht bekommen.“
Während Kamow mit Paitschadse sprach, überdachte Bason angestrengt seine Lage. Der Siegeslorbeer war ihm entgangen. Die Russen hatten sie überflügelt. Ein jäh in ihm aufzuckender Gedanke benahm ihm den Atem … Kamow war hier … Er konnte ein Weltraumschiff steuern.
Ihn festnehmen und zwingen, zur Erde zu fliegen!
Der Amerikaner war von den furchtbaren Ereignissen der voraufgegangenen Nacht so geschwächt, daß ihm das Denken Mühe machte. Er legte sich keine klare Rechenschaft über sein Vorhaben ab. Aber eines war ihm klar: Kamows Angebot annehmen hieße sich blamieren und alles verlieren. Er mußte es versuchen.
Kamow trat wieder auf ihn zu. „Wir müssen den Rückweg antreten“, sagte er. „Bis zu unserem Schiff sind es an die hundertfünfzig Kilometer. Nehmen Sie Ihr privates Gepäck mit. Es ist doch nicht viel?“
„Nein, gar nicht viel“, beteuerte Bason. „Ich bin gleich fertig. Kommen Sie doch mit auf unser Schiff und sehen Sie es sich einmal an! Schade, daß wir es hier zurücklassen müssen. Aber was bleibt uns übrig, wenn sein Kommandant tot ist? Haben Sie denn auf Ihrem Schiff noch Platz für mich?“
„Den haben wir“, erwiderte Kamow lachend. „Bei uns könnten noch zehn Mann unterkommen.“
„Warten Sie, ich lasse die Leiter herunter“, sagte Bason, als sie am Schiff angelangt waren. Aber Kamow griff schon mit beiden Händen nach dem unteren Rand des Türrahmens, zog sich empor und sprang behende ins Innere. Der Amerikaner folgte ihm und schloß die Tür. In der engen Kammer hatten sie zu zweit kaum Platz zum Stehen, um so weniger, als sich auch die Innentür in Angeln bewegte. Kamow staunte über die Enge des Raumes. Freier Platz fand sich sehr wenig. Offenbar hatte das Schiff nur eine Kajüte, in der sich die Besatzung zwischen den Geräten und der gesamten Ausrüstung aufhalten mußte.
Kamow trat ans Steuerpult und betrachtete es aufmerksam.
„Beeilen Sie sich!“ sagte er. „Wir können nicht lange warten. Packen Sie ein, was Sie brauchen.“
Er wollte sich umdrehen, als er plötzlich spürte, wie sich ihm ein Riemen um den Leib schlang. Seine Arme preßten sich fest an die Seiten. Noch einmal wurde der Riemen um ihn herumgeschlungen, und er war gefesselt.
Aber Kamow verlor die Ruhe nicht, gelassen wandte er den Kopf. „Was soll das heißen, Mr. Bason?“
Der Amerikaner gab keine Antwort, setzte sich die Maske auf und verließ rasch das Schiff. Die Tür der Ausstiegkammer klappte hinter ihm zu.
Kamow spannte alle Muskeln an, doch der starke Riemen gab nicht nach. ›Bason ist zu Paitschadse gegangen‹, überlegte er. ›Was hat der Mann vor? Welchen Zweck verfolgt er mit diesem rätselhaften Überfall? Der Amerikaner begab sich unterdessen zum Geländewagen. Der Plan, nach dem er vorgehen wollte, stand für ihn fest. Er war aus der Verzweiflung geboren, in die Bason nach den Erlebnissen der vergangenen Stunden geraten war. Er wollte Paitschadse töten und den Sauerstoff, der sich im Wagen befinden mußte, an sich bringen. Kamow würde dann nichts anderes übrigbleiben, als das amerikanische Raumschiff zur Erde zu fliegen. Sonst dachte er an nichts.
Paitschadse saß im Wagen und wartete geduldig auf Kamow. Die Zeit des vereinbarten Gesprächs mit dem Raumschiff rückte heran. Er war überzeugt, daß der Kommandant diesen Augenblick nicht versäumen würde.
Gleich mußte er herauskommen, sie würden den Freunden von dem unerwarteten Ereignis berichten und den Rückweg antreten. Er sah, wie sich die Schiffstür öffnete und Bason herabsprang. Kamow konnte er nicht sehen.
Bason kam näher und blieb stehen. Paitschadse gefiel der Blick des Amerikaners nicht. Er spürte eine leichte Unruhe und erhob sich. „Was gibt’s?“ fragte er.
Bason riß die Hand hoch. Durch die dünne Luft peitschte der schwache Knall eines Schusses. Paitschadse fiel schwer gegen die Tür, die aufging, und plumpste in den Sand.
Bason zitterte vor Aufregung. Er trat näher, bemüht, den Toten nicht anzusehen. Die Sache mußte zu Ende geführt werden. Ihm blieb keine andere Möglichkeit, die Erde wiederzusehen, wenn er jetzt nicht handelte. Um Kamow jede Fluchtmöglichkeit zu nehmen, mußte er den Wagen unbrauchbar machen.
Den Revolver hielt Bason noch immer in der Hand. Er steckte ihn in die Tasche. Da das Metallgehäuse über dem Motor zugeschraubt war, begann er nach einem Schraubenschlüssel zu suchen. Der mußte im Werkzeugkasten liegen.
Aber wo war der Kasten? Sicherlich unter dem Sitz.
Bason bückte sich.
„Halt! Nicht rühren!“ ertönte da hinter ihm eine Stimme.
Der Amerikaner drehte sich hastig um. Zwei Schritte vor ihm stand Paitschadse. Er hielt in der linken Hand einen Revolver, der auf Basons Kopf gerichtet war.
„Wo ist Kamow? Wenn ihm was passiert ist, schieße ich Sie über den Haufen. Antworten Sie!“
„Ich habe ihn nur gefesselt.“
„Ihr Glück, wenn es so ist!“ Paitschadse atmete erleichtert auf. „Kehren Sie mir den Rücken zu, nehmen Sie den Revolver aus der Tasche und werfen Sie ihn fort!“
Bason gehorchte. Die Erregung von vorhin war verflogen. Sein Wille war gebrochen.
Paitschadse trat mit dem Fuß auf die am Boden liegende Waffe. Nach einigem Zögern steckte er seinen Revolver in den Gürtel und befühlte mit der Linken die Taschen des Amerikaners. „Drehen Sie sich um!“ befahl er dann. „Gehen Sie auf Ihr Schiff zurück. Ich folge Ihnen. Bei der geringsten falschen Bewegung schieße ich.“
„Lassen Sie mich hier“, bat Bason mit matter Stimme.
„Ich möchte nicht wieder zur Erde zurück.“
„Das bestimmt Kamow. Von mir aus können Sie hierbleiben.“
Gesenkten Hauptes begab sich Bason zum Schiff. Er sah nicht, daß Paitschadse taumelte und sich mit der linken Hand an der Wagentür festhielt, um nicht zu fallen. Unter Aufbietung aller Willenskraft überwand Paitschadse seine Schwäche und folgte dem Amerikaner. Sein rechter Arm hing kraftlos von der Schulter herab. „Lassen Sie die Leiter herunter!“ gebot er.
Schweigend führte Bason auch diesen Befehl aus.
Kamow stand ans Schaltbrett gelehnt und blickte den eintretenden Bason fragend an. Als er hinter seinem Rücken Paitschadse bemerkte, lächelte er und nickte, als wollte er sagen: ›Ich wußte, daß es so kommen würde. Bason löste die Riemen.
„Ich danke Ihnen, Arsen Georgijewitsch!“ Kamow streckte ihm die Hand hin. Erst jetzt merkte er, daß sein Gefährte totenblaß war. „Was ist Ihnen? Sind Sie verletzt?“
Paitschadse berichtete kurz den Vorfall. „Die Kugel traf mich in die rechte Schulter“, sagte er. „Ist wohl nicht weiter schlimm. Tut auch nicht sehr weh. Nur schwach bin ich.“
„Na, wir werden gleich sehen!“ sagte Kamow. Sich vor Wut kaum beherrschend, wandte er sich an Bason: „Wo ist hier Verbandzeug?“
Der Journalist zeigte auf einen kleinen Kasten mit einem roten Kreuz auf dem Deckel.
„Helfen Sie dem Verwundeten beim Ausziehen!“
Kamow machte den Kasten auf. Was er brauchte, fand er. Die Kugel war unterhalb des rechten Schlüsselbeins eingedrungen. Als Kamow dann den Rücken des Verwundeten untersuchte, stellte er fest, daß sie im Körper steckengeblieben war. Dadurch wurde die Sache weit ernster.
„Ich fürchte, wir werden um eine Operation nicht herumkommen“, meinte er. „Auf jeden Fall müssen wir so schnell wie möglich zu unserem Schiff zurück.“ Flink und geschickt legte er den Verband an. „So, nun geht’s! Bleiben Sie noch ein Weilchen ruhig sitzen. Sich mit einer solchen Wunde niederfallen zu lassen, war immerhin sehr riskant.“
„Der Angriff kam zu überraschend“, sagte Paitschadse.
„Ich konnte nichts anderes tun. Er hätte sonst noch einmal geschossen und vielleicht besser getroffen. Es war natürlich eine primitive List, aber mir schien, daß er in solchen Dingen noch unerfahren ist. Was er vorhatte, begreife ich nicht. Was wollte er mit dem Überfall bezwecken?“
„Ich glaube, ich habe seine Absicht durchschaut“, antwortete Kamow und fuhr, zu Bason gewandt, auf englisch fort: „Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde mich bereit erklären, mit Ihnen zu fliegen und meine Kameraden im Stich lassen? Als einziges kann ich Ihnen zugute halten, daß Ihnen die Nerven durchgegangen sind. Wenn Sie sich wieder besonnen haben, werden Sie sich selber schämen.
Beeilen Sie sich!“ fuhr Kamow fort. „Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie!“
„Er bittet darum, hierbleiben zu dürfen. Er möchte nicht zur Erde zurück. Ich kann ihn verstehen.“
„Unsinn!“
Bason holte gehorsam einen kleinen Koffer hervor. Teilnahmslos nahm er auf, was mit ihm und um ihn geschah.
„Brechen wir auf!“ sagte Kamow und beugte sich zu Paitschadse. „Wie fühlen Sie sich, Arsen Georgijewitsch?“
„Ganz gut.“ Paitschadse erhob sich, taumelte jedoch und wäre umgefallen, wenn Kamow ihn nicht aufgefangen hätte. „Mir ist so schwindlig.“
„Fassen Sie mich um den Hals“, sagte Kamow. „Wir müssen nur das Stück bis zum Wagen schaffen, dann bringe ich Sie schnell nach Hause. Gehen Sie voran!“ befahl er Bason.
Der Amerikaner gehorchte schweigend. Er sprang zu Boden und half Kamow, den Verwundeten herunterzulassen. „Ich bedaure sehr, Mr. Kamow“, sagte er, „daß ich mich zu dieser sinnlosen Tat hinreißen ließ. Ich begreife selber nicht, wie ich dazu fähig war. Ich muß nicht bei Sinnen gewesen sein. Charles Hapgoods Tod hat mich ganz durcheinandergebracht.“
„Das ist nicht verwunderlich“, erwiderte Kamow. „Hinzu kommt, daß Sie in der letzten Zeit viel getrunken haben.
Ich denke, das Gericht wird das in Betracht ziehen. Legen Sie Hapgoods Bein ins Schiff.“
Er nahm Paitschadse auf die Arme.
„Bin ich Ihnen nicht zu schwer, Sergej Alexandrowitsch?“
„Keine Spur! Sie haben wohl vergessen, daß wir auf dem Mars sind?“
Er trug den Kameraden zum Geländewagen und legte ihn bequem auf den Rücksitz hin.
Ehe sie losfuhren, schaltete Kamow den Sender ein.
„Endlich!“ ertönte Belopolskis Stimme. „Was ist passiert, Sergej Alexandrowitsch?“
„Ich werde alles erzählen, wenn wir zurück sind“, erwiderte Kamow. „Jetzt aber hören Sie gut zu. Paitschadse ist verwundet. Bereiten Sie eine bequeme Lagerstatt vor.
Wenn Sie den Geländewagen kommen sehen, soll Melnikow von Bord gehen und mir helfen, Paitschadse ins Schiff zu tragen. Außerdem bringen wir noch jemand mit. Richten Sie für ihn eine Reservekajüte ein.“
„Einen Menschen? … Woher?“
„Er gehört zur Besatzung des amerikanischen Raumschiffes. Zu Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Gedulden Sie sich noch ein wenig. Unser Wagen wird mit Höchstgeschwindigkeit fahren. Unterwegs bin ich nicht zu sprechen.
In anderthalb Stunden sind wir zurück. Alles klar?“
„Nein, bis jetzt ist noch gar nichts klar“, antwortete Belopolski. „Aber Ihre Anordnungen werden ausgeführt.“
„Also bis nachher!“ Kamow schaltete das Mikrofon aus und drehte sich zu Paitschadse um. „Liegen Sie bequem, Arsen Georgijewitsch?“
„Sehr bequem, seien Sie unbesorgt!“
„Ich lasse den Wagen auf Höchsttouren laufen, Arsen Georgijewitsch. Wir kennen den Weg, es ist also nicht gefährlich. Wenn die Geschwindigkeit Ihnen Beschwerden macht, sagen Sie es.“
„Es wird schon gehen“, antwortete Paitschadse. „Ich fühle mich ganz wohl.“
Der Rückweg nahm keine anderthalb Stunden in Anspruch. Der Wagen fuhr mit einer Geschwindigkeit von hundertzehn Stundenkilometern und folgte genau seiner alten Spur, die auf dem festen glatten Boden deutlich zu erkennen war. Die starke Federung der Passagierkabine und die Polstersitze erleichterten die Beförderung des Verwundeten, und Kamow hoffte, daß es ohne Komplikationen abgehen werde. Zum Glück handelte es sich um keine schwere Wunde. Man würde zwar die Kugel entfernen müssen, aber das machte Kamow als Arzt keine Sorge.
Im Raumschiff war alles vorhanden, was zu einer Operation benötigt wurde. Wäre die Wunde gefährlich gewesen, dann hätte sich eine bedrohliche Situation ergeben können.
In drei Tagen sollte das Raumschiff wieder vom Mars starten. Die verdoppelte Schwerkraft beim Aufstieg könnte einem ernsthaft Erkrankten gefährlich werden. Kamow wußte sehr wohl, daß er, um die anderen Besatzungsmitglieder nicht ins Verderben zu stürzen, selbst dann starten müßte, wenn es für Paitschadse den Tod bedeutete.
Der Wagen näherte sich dem weißen Giganten. Da ging die Schiffstür auf, und Melnikow sprang zu Boden. In den Händen hielt er einen länglichen Gegenstand. Eine Tragbahre.
Der Wagen hielt. Als Kamow sich umdrehte, sah er, daß Paitschadse bewußtlos war. Die Fahrt hatte ihn doch zu sehr angestrengt. Das Gesicht des Verwundeten schien leblos. Kamow fühlte ihm besorgt den Puls. Gott sei Dank, es war nur eine Ohnmacht. Jetzt hieß es, keine Zeit verlieren!
Von der Schnelligkeit, mit der die Operation durchgeführt wurde, hing viel ab.
Rasch stülpte er Paitschadse die Maske über und öffnete den Hahn des Luftschlauches. Nachdem er dem Amerikaner durch Zeichen bedeutet hatte, das gleiche zu tun, machte er die Tür auf und stieg aus.
„Was hat Arsen Georgijewitsch? Wieso ist er verwundet?“ Trotz der Maske sah man, wie erregt Melnikow war.
Er schaute auf den reglosen Körper des Kameraden, ohne Bason zu beachten, den er ganz vergessen hatte.
Zu zweit klappten sie die Tragbahre auseinander und betteten den Verwundeten darauf. Er kam nicht zu sich. Sie trugen den Verwundeten stumm ins Innere des Schiffes, wo Belopolski ihnen besorgt entgegentrat. Hinter ihnen ging Bason mit gesenktem Kopf.
„Folgen Sie mir!“ sagte Melnikow dann, zu Bason gewandt.
Nachdem er den Amerikaner in die Reservekajüte geführt hatte, kehrte er ins Observatorium zurück, wo Kamow die Operation vorbereitete. Da Paitschadse immer noch bewußtlos war, wollte Kamow den Eingriff ohne Narkose vornehmen. Die Kugel müßte sich in höchstens fünf Minuten entfernen lassen. Tatsächlich war fünf Minuten später alles bereits vorüber.
„jetzt nichts als Ruhe und Pflege“, ordnete Kamow an.
„Ist er außer Gefahr?“
„Zweifellos. Die Wunde ist nicht gefährlich. Die Ohnmacht rührt vom Transport her. Ich denke, in drei Tagen, bis zu unserem Start, wird Arsen Georgijewitsch sich genügend erholt haben.“
Nach etwa drei Minuten schlug Paitschadse die Augen auf.
„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Kamow.
„Gut.“
„Liegen Sie möglichst still.“
„Gestatten Sie mir, den Verwundeten zu pflegen“, bat Melnikow.
„Bei Arsen Georgijewitsch wird ununterbrochen gewacht“, sagte Kamow. „Der Reihe nach.“
„Sie haben immer noch nicht erzählt, was sich zugetragen hat“, mahnte Melnikow.
„Ich tue es gleich.“
Nachdem Kamow ausführlich über die Ereignisse des Tages berichtet hatte, meinte er: „Dieses Unglück macht uns wirklich einen Strich durch unseren Plan. Aber das ist nicht ganz so schlimm, wie es scheint. Der Planet stellt eine Wüste dar. Den ›Sumpf‹ untersuchen, Pflanzenproben sammeln und Jagd auf vorhandene Tiere machen, können wir auch zu dritt. Morgen fahren Boris Nikolajewitsch und ich zu dem amerikanischen Schiff. Wir werden nach Hapgoods sterblichen Überresten suchen und sie begraben. Unterwegs sehen wir uns dann auch noch einmal den ›Sumpf näher an. Konstantin Jewgenjewitsch wird wieder an Bord bleiben müssen.“
„Ich werde Pflanzen sammeln“, erwiderte Belopolski.
„Aber erst nach unserer Rückkehr. Solange wir weg sind, dürfen Sie das Schiff nicht verlassen. Vergessen Sie nicht, daß noch niemand weiß, was es alles für Tiere auf dem Mars gibt. Hapgoods Tod hat deutlich genug gezeigt, daß wir sehr vorsichtig sein müssen.“
Die Springechse
Am nächsten Tag, gleich nach Sonnenaufgang, begab sich der Geländewagen erneut auf Fahrt. Kamow setzte sich ans Steuer. Neben ihm nahm Melnikow Platz.
Im hinteren Teil des Wagens waren Spaten, Hacken, Leinen, Drahtseile und eine elektrische Winde verstaut.
Kamow schloß die Tür und ließ den Motor an. Melnikow füllte unterdessen die Kabine mit Sauerstoff.
Der Wagen zog scharf an und jagte nach vorn.
Die eintönige Marsebene schien ohne Leben. Nicht ein einziger „Hase“ zeigte sich auf dem Weg des Geländewagens, der schnell und gleichmäßig Kilometer um Kilometer zurücklegte.
Die beiden Weltraumfahrer schwiegen. Melnikow war sehr erregt, zu stark empfand er die Ungewöhnlichkeit der Fahrt auf dem Planeten, den er von der Erde aus so oft als kleinen rötlichen Stern gesehen hatte. Kamow, der dasselbe bereits am Tage vorher durchgemacht hatte, war ruhig.
„Achtung!“ sagte er plötzlich. „Sehen Sie, da vorn!“ Melnikow führte das Fernglas an die Augen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
„Sehen Sie nichts?“
„Nein, Sergej Alexandrowitsch.“
„Das ist es eben!“ meinte Kamow. „Vor uns liegt ein Sumpf! Eine richtige Falle. Gestern haben wir ihn auch nicht bemerkt. Gut, daß wir kein großes Tempo drauf hatten, denn wir mußten den Rückwärtsgang einschalten. Sehen Sie, wie die Spur vorn einen Bogen macht?“
Er ließ den Wagen halten. Der „Sumpf“ unterschied sich in nichts vom umliegenden Gelände, nur daß der Sand ein wenig dunkler war und die Gewächse sich höher erhoben als auf den anderen Stellen.
„Wenn man im Schritt fährt, kann man solch einen ›Sumpf‹ rechtzeitig entdecken“, sagte Kamow. „Aber selbst bei dreißig Kilometer Geschwindigkeit werden sie einem schon gefährlich. Wer weiß, wie tief sie sind.“
Sie setzten die Sauerstoffmasken auf und stiegen aus.
„Halten Sie recht oft nach allen Seiten Ausschau“, riet Kamow. „Wenn uns eine solche Schlange überrascht, von der Bason sprach, kann es ein schlimmes Ende nehmen.“
Sie standen zwar auf einem freien Platz, doch in der Nähe wuchsen viele Pflanzen, die die Sicht behinderten. Das an die Naturbedingungen des Mars gewöhnte Raubtier konnte sich leicht an die Menschen heranschleichen.
„Wir müssen möglichst schnell fertig werden“, sagte Kamow. Er sprach leise, und in seiner Stimme klang verhaltene Erregung.
Während Melnikow den Revolverlauf fester umklammerte, starrte er angestrengt zu der nahen Pflanzengruppe hinüber. Ihm war, als regte sich dort etwas unter den langen Blättern. Instinktiv trat er an Kamow heran. „Dort ist etwas“, flüsterte er.
Kamow blickte in die Richtung, in die die Hand seines Begleiters wies, riß dann den Revolver hoch und schoß.
„Es ist nichts, wie Sie sehen“, sagte er. „Bewahren Sie nur ruhig Blut, obwohl es hier wirklich unheimlich ist.“
Der Knall des Schusses hatte auf Melnikow beruhigend gewirkt, er schämte sich seines Kleinmuts, steckte den Revolver in den Gürtel seines Overalls und begann Kamow zu helfen. Zu zweit schleppten sie die Winde aus dem Geländewagen, stellten sie auf und schlossen den Motor mit Hilfe von Gummikabeln an den Akkumulator des Wagens an. Kamow nahm eine Eisenstange mit zugespitztem Ende und ging, den Sandboden abtastend, langsam vorwärts. Der Boden schwankte. „Das ist kein gewöhnlicher Sumpf wie auf der Erde“, meinte er, „das ist etwas anderes.“ Er hatte erst fünf oder sechs Schritte getan, als die Stange plötzlich seiner Hand entglitt und im Sand verschwand. Kamow blieb wie angewurzelt stehen.
„Man möchte beinahe glauben, daß unter der Sandschicht Wasser ist“, sagte er, „aber auf Wasser kann sich Sand nicht halten. Unser Glück, daß wir gestern nicht an diese Stelle geraten sind. Der Wagen hätte genauso versinken können wie die Stange.“ Er trat einen Schritt zurück.
„Prüfen wir mal, wie tief es hier ist.“
Melnikow holte aus dem Wagen einen langen, spitzen Eisenstab, der mehrere durchgehende Löcher aufwies. An dem Stab war ein Drahtseil befestigt. Vorsichtig setzten sie ihn an der Stelle auf, wo vorhin die Stange verschwunden war, und ließen ihn los. Der Stab versank ebenfalls im Nu.
Das Seil, das sich von einer Trommel abwickelte, glitt über den Sand und verschwand in dem Abgrund. Die Schnelligkeit, mit der es sich abwärts bewegte, zeigte eindeutig, daß der Stab auf keinerlei Hindernis stieß. Das Seil zwischen der Winde und der Meßstelle grub sich immer tiefer in den Sand ein; um es weiter verfolgen zu können, traten Kamow und Melnikow zur Winde zurück, die neben dem Geländewagen stand. Nach einer Minute hatte sich das tausend Meter lange Seil vollständig abgerollt und spannte sich fast senkrecht nach unten.
„Ein wirklich bodenloser Abgrund“, sagte Kamow. Er schaltete den Motor ein, die Trommel drehte sich nun andersherum und spulte das Seil wieder auf. In den Löchern des Eisenstabes fand sich der gleiche Sand wie an der Oberfläche.
„Sie können sich in den ersten Sekunden gefüllt haben“, meinte Kamow. „Wir haben noch nicht den Beweis dafür, daß die Sandschicht tausend Meter hinunterreicht.
Aber der Stab ist völlig trocken. Demnach gibt es unter der oberen Schicht kein Wasser. Warum ist er aber frei gefallen? Versuchen wir es noch mal mit einem längeren Seil.“
Der Versuch wurde wiederholt. In tausenddreihundertzwanzig Meter Tiefe stand der Stab still. Als man ihn wieder hochzog, fand man in den Löchern den gleichen Sand.
Kamow setzte sich auf dem Funkwege mit Belopolski in Verbindung und erstattete ihm Bericht. „Probieren Sie es doch an anderen Stellen“, riet Belopolski.
Der „Sumpf“ umfaßte eine Fläche von etwa einem Hektar. Noch drei Stunden lang maßen Kamow und Melnikow die Tiefe, wobei sie das „Ufer“ entlanggingen, ohne jedoch einen Versuch von der Mitte aus zu riskieren. Das Ergebnis war überall das gleiche. Allem Anschein nach gab es an dieser Stelle unter der Marsoberfläche einen tiefen Schacht, angefüllt mit Sand, der aus unbekannten Gründen keine große Dichte aufwies. Die Tiefenmessung mit Hilfe eines Echolots ergab dasselbe Resultat: tausenddreihundertzwanzig Meter. Der zutage geförderte Sand wurde fürsorglich in Blechbüchsen verwahrt.
„Mit den Geräten, die wir besitzen“, sagte Kamow, „können wir nicht mehr tun. Dieses Rätsel werden spätere Expeditionen lösen.“
Sie wollten eine der auf dem „Sumpf“ wachsenden Pflanzen mitnehmen, die etwas höher waren als die neben dem Raumschiff und auch von anderer Struktur sein konnten. Wider Erwarten erwies sich das als ein schwieriges Unterfangen. Kamow tastete den Boden um die ausgewählte Pflanze ab; als er sich überzeugt hatte, daß man hier nicht Gefahr lief zu versinken, begann er die Wurzeln freizulegen. Melnikow stand Wache und beobachtete das Gelände. Mehrere Male wechselten sie sich ab. Die Gewächse hatten unzählige, ineinander verflochtene Wurzeln, was die Arbeit sehr erschwerte. Melnikow schlug vor, die Pflanze mit Hilfe der Winde loszureißen, aber Kamow lehnte das entschieden ab. „Wir müssen sie in unversehrtem Zustand auf die Erde bringen“, erklärte er. „Die Winde könnte die Wurzeln abreißen.“
Nach zwei Stunden angestrengter Arbeit hatten sie es geschafft. Die Marspflanze wurde vorsichtig aus dem Sand gezogen, auf das flache Verdeck des Wagens gelegt und mit einem breiten Riemen festgebunden, auf eine Weise, daß weder der Stiel noch die sorgsam hingebetteten Wurzeln beschädigt wurden. Auf dem Raumschiff sollte die kostbare Fracht im Kühlraum die Reise zur Erde antreten, um dort in den Laboratorien eines botanischen Instituts einer gründlichen Untersuchung unterzogen zu werden.
Der Geländewagen jagte wieder im alten Tempo der Spur vom Vortag nach.
Plötzlich, in etwa fünfzig Meter Entfernung war ein riesiges Tier aus dem Gesträuch auf den Weg gesprungen. Kaum hatten sie sein silbriges Fell und die lange, einem Krokodilsrachen ähnelnde Schnauze erkennen können, da duckte sich das Tier angesichts des rasch näher kommenden Geländewagens zu Boden und verschwand mit einem gigantischen Sprung wieder im Gebüsch.
Kamow trat in voller Fahrt auf die Bremse der rechten Gleiskette. Mit einer scharfen Wendung schoß der Wagen, die Sträucher unter sich zermalmend, ins Gebüsch hinein und nahm die Jagd auf.
„Setzen Sie die Maske auf!“ rief Kamow erregt. „Halten Sie den Apparat bereit! Wir müssen es um jeden Preis fotografieren!“
Er bremste den Wagen so scharf, daß Melnikow mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß.
Zwanzig Meter von ihnen entfernt lag das verfolgte Tier an einem See, an den Boden geschmiegt. Es konnte nicht weiter, das Wasser versperrte ihm den Weg.
Melnikow drehte die Kamerakurbel. Kamow setzte ihm und sich selbst rasch die Sauerstoffmasken auf.
Sekundenlang verharrte das Tier regungslos. Dann sperrte es den riesigen Rachen weit und drohend auf und entblößte mehrere Reihen spitzer, dreieckiger Zähne. Vom Kopf bis zur Spitze seines zottigen Schwanzes war das Tier drei bis dreieinhalb Meter lang. Den Leib, der nicht dicker war als der eines Krokodils, stützten drei Paar Beine; die beiden dicht beieinanderstehenden vorderen Paare waren kurz und mit scharfen Krallen versehen, die Hinterbeine dagegen lang und eingeknickt wie bei einer Heuschrecke.
Offensichtlich hatte das Tier es ihnen zu verdanken, daß es so gewaltige Sprünge vollführen konnte. Das Tier richtete seine runden, graugrünen Augen mit den schmalen Katzenpupillen auf den Geländewagen und sprang plötzlich, die Hinterbeine kraftvoll streckend, aus zwölf Meter Entfernung auf ihn zu.
Der Überfall kam so unerwartet, daß Melnikow zurückprallte. Kamow ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
Während das Tier sprang, gab er Gas, und der Wagen schoß vorwärts, mit einer Wendung nach rechts dem See ausweichend. Das Tier flog über ihn hinaus in den Sand.
Durch den Mißerfolg ergrimmt, drehte es sich blitzschnell um und sprang zum zweiten Male. Diesmal erreichte es sein Ziel. Der Geländewagen erbebte unter dem Anprall.
Kamow stellte den Motor ab.
Das Tier war auf dem Dach, und seine Krallen — vielleicht waren es auch seine Zähne — kratzten am Metall.
Zerdrückt und verstümmelt fiel die so mühevoll erstandene Pflanze in den Sand.
„Bereit halten!“ befahl Kamow.
Melnikow legte den Filmapparat beiseite und griff nach dem Gewehr.
Der Wagen fuhr langsam an, aber das Tier blieb auf dem Verdeck. Vielleicht war es über diese ihm bisher unbekannte Art der Fortbewegung erschrocken. Sein Schwanz hing herab und streifte mit der Spitze den Boden. Das Kratzen am Metall hörte auf.
„Wir müssen es zum Abspringen bringen“, sagte Kamow. Er drückte auf den Hupknopf. Ein heulender Ton zerriß die Stille der Einöde. Das Tier in seinem Entsetzen wollte herunterspringen, rutschte aber mit seinen Krallen an dem glatten Metall ab und stürzte unmittelbar vor den Gleisketten rücklings zu Boden. Einen kurzen Augenblick lang hatte Melnikow das helle Bauchfell und die sechs Pfoten, die hilflos in der Luft zappelten, dicht vor Augen, dann krümmte sich das Tier, warf sich herum und stob mit Zehnmetersprüngen davon.
Kamow erhöhte das Tempo, und der Wagen holte den Flüchtling, der dem ununterbrochenen, noch nie vernommenen Hupengeheul zu entrinnen suchte, rasch ein. Kamow öffnete das vordere Fenster.
„Schießen Sie nur, wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind“, sagte er. „Versuchen Sie den Kopf zu treffen.“
Melnikow verfolgte aufmerksam jede Bewegung des Tieres, aber dessen ruckartige Sprünge machten es ihm unmöglich, genau zu zielen. „So wird’s nichts“, meinte er.
„Irgendwann muß er ja mal ermüden“, entgegnete Kamow.
„Wer weiß, wann. Am Ende rasen wir noch in einen Sumpf hinein.“
„Gut! Versuchen wir es anders.“
Kamow schaltete die Hupe aus. Die plötzliche Stille veranlaßte das Tier, haltzumachen und den Kopf zu wenden.
Der Wagen hielt drei Schritte von ihm entfernt. Das Ziel war kaum zu verfehlen, und Melnikow schoß.
„Es ist, scheint’s, getroffen“, sagte Kamow.
Die beiden beobachteten das Tier scharf.
„Ich habe ihm zwischen die Augen gezielt“, bemerkte Melnikow.
Sie warteten einige Minuten, dann traten sie, die Waffe schußbereit in der Hand, vorsichtig heran. Das Tier war tot. Die Kugel hatte es genau zwischen die Augen getroffen.
Sie konnten vor Erregung kaum sprechen. Zu ihren Füßen lag ein Tier, geboren und aufgewachsen auf dem Mars — das Ergebnis einer langen Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten, einer Entwicklung, die unbekannte Stadien durchlaufen hat. Was hatte dieses Tier mit den Tieren der Erde gemeinsam? Worin unterschied sich sein Organismus, der unter ganz anderen Bedingungen existierte, von dem ihren? Welche Geheimnisse würde die Untersuchung dieses von einer irdischen Kugel getöteten Wesens den Wissenschaftlern offenbaren?
„Werden wir es auf das Verdeck ziehen können?“
„Versuchen wir’s!“
Aber auch die geringe Schwerkraft auf dem Mars half nicht; sie konnten den Koloß nicht bewältigen. Das Tier war zu schwer für zwei Mann. Da sich nichts Taugliches für eine behelfsmäßige Rampe fand, mußten sie auf die Dienste der Winde verzichten.
„Uns bleibt nichts anderes, als es abzuschleppen“, sagte Kamow. „Wir werden Vorsorge treffen, daß das Fell nicht beschädigt wird. Wenn wir Wagensitze unterlegen und langsam fahren, wird alles gut gehen.“
Das taten sie denn auch. Sie koppelten vier Sitze des Geländewagens zusammen und hoben den Tierleib mit Hilfe der Winde auf die so entstandene Lederunterlage. Inzwischen verging über eine Stunde.
„Zum amerikanischen Schiff kommen wir heute nicht mehr“, meinte Melnikow.
„Wir fahren morgen hin.“
Die Rückfahrt dauerte sechs Stunden. Der Geländewagen fuhr mit dem langsamsten Gang. Oft wurde angehalten, weil die sich lockernden Teile des improvisierten Anhängers wieder befestigt oder der abrutschende Tierleib zurechtgerückt werden mußte.
Die Sonne neigte sich dem Westen zu, als die erschöpften Jäger endlich das Schiff erreichten. Das tote Tier in den Kühlraum zu befördern, erwies sich ebenfalls als ein schweres Stück Arbeit.
„Von den fünf Tagen sind schon drei vergangen“, meinte Kamow, als das schwierige Werk getan war, „und wir haben erst sehr wenig geschafft.“
„Dafür werden wir uns eben in den restlichen zwei Tagen ein bißchen dahinterklemmen“, erwiderte Belopolski.
„Eigentlich haben wir doch gar nicht so wenig geschafft.
Daß wir diese Echse mit auf die Erde bringen, ist schon ein großer Erfolg.“
„Wie sagten Sie? Echse?“
„Ja. Springechse. Das ist meiner Meinung nach der passendste Name für dieses Tier.“
Im Sandsturm
Am vierten Tag nach der Landung auf dem Mars standen Belopolski und Melnikow eine Stunde vor Sonnenaufgang auf. Man hatte bemerkt, daß sich jeden Morgen vor dem Schiff die kleinen Tiere einfanden, die wie Hasen aussahen. Kamow hatte Anweisung gegeben, wenigstens eins davon zu erlegen. Als der Rand der Sonnenscheibe erschien, krochen die beiden Männer, ein Gewehr mit Scharfschützenvisier in der Hand, auf die Tragfläche des Schiffes. Sie brauchten nicht lange zu warten. Wie auch an den vorangegangenen Tagen, stellten sich die „Hasen“ mit den ersten Sonnenstrahlen ein. Fünf Tiere kamen mit weiten Sprüngen ans Ufer des Sees gehüpft. Zwei Schüsse knallten zu gleicher Zeit, und zwei „Hasen“ wurden Beute der Jäger.
Zufrieden kehrten sie an Bord zurück; der zweite Kühlraum nahm die beiden weiteren Vertreter der Marsfauna in Verwahrung.
Beim Frühstück drängte Kamow zur Eile. Auf der Fahrt zum amerikanischen Schiff wollte er noch eine neue Sumpfpflanze als Ersatz für die alte beschaffen.
Der Wagen legte rasch die fünfzig Kilometer zurück, die das Schiff vom „Sumpf“ trennten.
War es nun, daß Ihnen die Erfahrung vom Vortag half oder daß sie es mit einer „leichteren“ Pflanze zu tun hatten, jedenfalls hielten sie sich am „Sumpf“ kaum eine Stunde auf und jagten, nachdem sie ihr Gewächs auf dem Wagendach verstaut hatten, den Weg entlang, auf dem tags zuvor das Auftauchen der Springechse ihre Fahrt unterbrochen hatte. Die Uhr im Geländewagen zeigte zehn Uhr morgens, als am Horizont die Silhouette des amerikanischen Raumschiffes auftauchte. Zwei Minuten später waren sie am Ziel.
Kamow hielt aufmerksam Ausschau. Auf den ersten Blick schien sich in diesen zwei Tagen nichts verändert zu haben. Die Reste der Uhr und die zerbrochene Lampe lagen auf derselben Stelle. Die Tür des Raumschiffes war zu.
Bei näherer Untersuchung bemerkte er jedoch zahlreiche Spuren im Sand und noch mehr auf der Tragfläche des Schiffes, die stark zerkratzt war.
„Hier sind Tiere gewesen“, sagte er. „Und nicht nur eins, sondern mehrere. Wir müssen sehr vorsichtig sein.
Diese zottigen Springechsen sind verdammt gefährlich.“ Er überlegte. „Wir werden nach Hapgoods Überresten suchen, ohne den Wagen zu verlassen. Die Fenster müssen wir allerdings öffnen. Halten Sie das Gewehr bereit. Womit ist es geladen?“
„Mit Sprengpatronen.“
„Dann ist alles in Ordnung. Fahren wir!“
Der Geländewagen setzte sich in Bewegung.
Die Durchsuchung der Umgebung des Raumschiffes dauerte fast eine Stunde. Ringsum war alles still. Nicht ein Tier zeigte sich, obwohl im Sande häufig Spuren zu sehen waren.
Die Suche verlief ergebnislos. Als die beiden zum Schiff zurückkehrten, mußten sie sich bereits beeilen.
Abwechselnd verließen sie den Wagen, um mit dem Spaten eine tiefe Grube auszuheben. Dann las Kamow die Scherben der Uhr und eine Lampe auf, begab sich ins Innere des Schiffes und legte am Schaltbrett ein großes versiegeltes Kuvert hin. Das Kuvert barg ein Protokoll über die Landung der Amerikaner auf dem Mars mit einem Bericht über das Ende des Schiffskommandanten, Charles Hapgood. Das Protokoll war von Kamow in russischer und englischer Sprache abgefaßt und von ihm und Bason unterschrieben worden. An Bord fand Kamow eine amerikanische Flagge. Er nahm sie an sich nebst einem kleinen Metallkasten, in den er hineinlegte, was von Hapgood übriggeblieben war, und verließ das Schiff.
Kurz darauf versank der in das Sternenbanner gehüllte „Sarg“ in der Grube. Die Grube wurde zugeschüttet, und wenig später wölbte sich darüber ein kleiner Hügel. Mehr gab es hier nicht zu tun, und Kamow setzte sich wieder auf seinen Platz am Steuer. Es war gegen ein Uhr mittags. In anderthalb Stunden würden sie bei ihrem Schiff sein.
Der Wagen fuhr an. Als Melnikow sich noch einmal nach dem amerikanischen Schiff umsah, fiel ihm auf, daß das Wasser des darunterliegenden Sees dunkel geworden war und sich stark kräuselte. „Ein Wind kommt auf“, sagte er.
Kamow warf einen Blick auf den Himmel. Er war dunkelblau wie immer, hier und da leuchteten Sterne. Fast im Zenit, nicht weit von der Sonne, stand der Deimos, einer der beiden Trabanten des Mars. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen.
„Drei Tage war es windstill“, meinte er. „Kein Wunder, wenn diese Stille nun ein Ende nimmt. Auf dem Mars muß es Winde geben.“
Im Lautsprecher knackte es, dann meldete sich Belopolski: „Sergej Alexandrowitsch, hören Sie mich?“
„Wir hören“, antwortete Kamow.
„Wo befinden Sie sich?“
„In der Nähe des amerikanischen Raumschiffes. Sind gerade losgefahren.“
„Was haben Sie dort für Wetter?“
„Ein leichter Wind ist aufgekommen.“
Belopolski schien Paitschadse etwas zu fragen. „Wir bitten Sie, möglichst schnell zu fahren“, sagte er dann. „Alles deutet darauf hin, daß ein Sandsturm im Anzug ist.“
„Gut, Konstantin Jewgenjewitsch.“
Der Geländewagen jagte in rasendem Tempo vorwärts.
Die Glieder seiner Gleisketten verschmolzen zu blitzenden Streifen. Der Wind wehte genau von vorn, aber der starke Wagen schien das zu „übersehen“. Der Wind wurde stärker. Feiner Staub flog durch die Luft und verhängte den Horizont mit einem nebligen Schleier. „Der Sturm ist ganz nah“, sagte Kamow. Und wie zur Bestätigung dieser Worte wirbelte ein heftiger Windstoß eine Sandwolke vor dem Wagen auf und schleuderte sie gegen die Fenster.
Wieder knackte es im Lautsprecher. „Hier spricht Belopolski.“
„Wir hören.“
„Dem Raumschiff nähert sich von Osten eine riesige Sandmauer. Sie bewegt sich rasch vorwärts. Wir fürchten, Sie erreichen das Schiff nicht mehr rechtzeitig. Sind Sie schon am ›Sumpf‹ vorbei?“
„Noch nicht.“
„Ist es noch weit bis dahin?“
„Etwa zwanzig Kilometer. In zwölf Minuten werden wir dort sein.“
Am Horizont wuchs weithin eine riesenhafte Wand empor, bestehend aus dichten hochgewirbelten Sandmassen, die der Wind rasend schnell dem Wagen entgegentrieb. Die Begegnung mußte in wenigen Sekunden stattfinden. Die Sturmwand näherte sich mit Ungestüm. Vor ihr drehten sich Sandhosen wild im Kreise.
Kamow sah vorn bereits die Biegung der Wagenspur, die am „Sumpf“ vorbeiführte. Noch ein Stück! … Noch ein kleines Stück!
Sie schafften es! Die gefährliche Stelle lag hinter ihnen.
Da fuhr ein furchtbarer Wirbelsturm auf den Wagen nieder, als wollte er sich für die erlittene Niederlage rächen. Die Geschwindigkeit sank sofort auf vierzig Stundenkilometer.
Undurchdringliche Finsternis hüllte alles ringsum ein.
Schwere Sandmassen prasselten gegen die Wagenfenster, und die Scheiben knirschten, als riebe sie jemand mit Schmirgelpapier.
„Bitten Sie Belopolski, das Leitsignal zu geben!“
Wie als Antwort auf diese Worte leuchtete am Armaturenbrett ein verschwommener grüner Kreis auf, in dessen Mitte sich deutlich ein schwarzer Streifen abzeichnete.
„Bravo! Er ist von selbst daraufgekommen!“ sagte Kamow.
Nun galt es nur noch, die Richtung strikt einzuhalten.
Der schwarze Streifen durfte sich nicht verzerren und nicht breiter werden, denn dies würde bedeuten, daß der Geländewagen vom geraden Weg abgewichen war. Alles andere war Sache des Motors und der starken Wände des Wagens.
Etwa eine halbe Stunde war vergangen.
Plötzlich leuchtete vorn, inmitten der pechschwarzen Nacht, ein winziges helles Pünktchen auf.
„Der Scheinwerfer!“ sagte Kamow. „Wir sind also schon fast zu Hause.“
„Erstaunlich, daß er bei solch einem Sturm noch zu sehen ist.“
„Vierhundert Kilowatt! Das ist ja beinahe ein Leuchtfeuer.“
Melnikow schaltete das Mikrofon ein. „Wir sehen den Scheinwerfer“, meldete er.
„Großartig!“ erwiderte Belopolski. „Er brennt schon seit einer Viertelstunde. Dann sind Sie also ganz in der Nähe.
Sehen Sie ihn gut?“
„Ganz deutlich.“
Der Wagen verlangsamte seine Fahrt. Das Schiff war unmittelbar in der Nähe. Der Scheinwerfer leuchtete wie ein heller Stern, und in seinem Licht sah man verschwommen die vor dem Fenster wirbelnden Sandkörner. Der Sturm hielt mit unverminderter Kraft an, er wurde sogar noch heftiger. Aber er war nun nicht mehr gefährlich. Der Geländewagen näherte sich seinem Ziel.
Der Scheinwerferstrahl knüpfte ein unsichtbares Band zwischen ihm und dem Raumschiff, vereinte die beiden Männer mit den Freunden, die hinter den sicheren Bordwänden ungeduldig warteten.
Der Stahlobelisk am Marssee
Aus dem Geländewagen auszusteigen, erwies sich als gar nicht so leicht. Man konnte keinen Schritt tun, ohne daß der Orkan einen umwarf. Als der Wagen hielt, wurde er im Nu bis an die Fenster mit Sand zugeschüttet. Das in der Nähe liegende Raumschiff war im Dunkel kaum zu erkennen. Nur das grelle Licht des Scheinwerfers ermöglichte es ihnen, sich einigermaßen zu orientieren.
Kamow steuerte den Wagen dicht an das Schiff heran, in den Windschutz der linken Bordwand. Auf seine Bitte ließ Belopolski die Tragfläche ein Stück heraus, so daß der Wagen von oben geschützt war. Die Tür der Ausstiegkammer befand sich nun genau gegenüber der Wagentür.
So war der Übergang an Bord nicht mehr gefährlich, und die Heimgekehrten verließen nacheinander den Wagen.
Der Sturm tobte noch anderthalb Stunden, dann legte er sich ebenso unvermittelt, wie er gekommen war. Die Sandwolke jagte am Raumschiff vorüber und verschwand hinter dem Horizont. Der Wind wehte noch eine Zeitlang, dann hörte auch er auf. Die Umgebung des Schiffes sah wieder so aus wie am Morgen.
„Sonderbar!“ sagte Belopolski. „Wenn wir diesen Sturm verschlafen hätten, würden wir es einfach nicht glauben, daß es ihn gegeben hat.“
In der Tat, weit im Umkreis entdeckte man auch nicht eine Spur mehr von dem Orkan. Die Sandschicht, die den Boden bedeckte, schien unberührt. Das Dickicht der Pflanzen stand da wie zuvor, nicht einmal über ihren Wurzeln hatten sich Sandwehen gebildet. Nur an der rechten Bordwand des Raumschiffes ragte ein gewaltiger Hügel empor und versperrte’ aus allen Fenstern die Aussicht nach dieser Seite.
„Heben Sie das Schiff!“ sagte Kamow zu Melnikow.
Melnikow drückte auf einen Knopf am Pult. Ein Motor lief an, und die Räder schoben sich aus dem Rumpf heraus.
Langsam hob sich das Schiff. Der Sandhügel, der sich an der Bordwand angehäuft hatte, fiel zusammen, und die Fenster wurden wieder frei.
Auch auf dieser Seite hatte sich nichts geändert. Der glatte Spiegel des Sees war blank wie vor dem Sturm.
Bis Sonnenuntergang war noch viel Zeit. Der Rest des Tages wurde für die Errichtung eines Obelisk verwendet, der laut Expeditionsprogramm auf dem Platz aufgestellt werden sollte, auf dem das Raumschiff gelandet war.
Bason war in seine Kajüte eingesperrt; man wollte ihn erst wieder herauslassen, wenn das Schiff den Rückflug antrat.
Die für das Denkmal vorgesehene Stelle lag unweit des Raumschiffes mitten auf einer kleinen, von dichtem Gestrüpp umgebenen Lichtung. Von da bis zu den ersten Sträuchern waren es mehr als zwanzig Meter, so daß das Erscheinen einer Springechse nicht unbemerkt bleiben konnte. Alle Männer waren gut bewaffnet.
Paitschadse bestand darauf, sich in der Ausstiegkammer an der geöffneten Tür aufhalten zu dürfen. Von hier oben war das Gelände gut zu übersehen, und das Auftauchen eines großen Tieres konnte seiner Aufmerksamkeit kaum entgehen. Er selbst war durch den vor der Tür stehenden Geländewagen geschützt.
Nachdem alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, machten sich die Weltraumfahrer an die Arbeit.
Eine unvorhergesehene Schwierigkeit ergab sich bei der Beförderung der dünnen Eisenpfähle, die dem Obelisk einen festen Halt im Sand geben sollten. Die Pfähle waren zwölfeinhalb Meter lang; sie durch die Ausstiegkammer hinauszutragen, erwies sich als unmöglich, der enge Raum bot keinen Platz zum Wenden. Man mußte sich der Luke im Observatorium bedienen, durch die die Expeditionsteilnehmer das Schiff beim Start von der Erde betreten hatten, als die Ausstiegkammer vom Gerüst des Startturms verstellt war.
Die vier Pfähle wurden ins Observatorium getragen, die runde Tür, die in die inneren Räume führte, fest geschlossen. Die Räder wurden eingezogen; nun befand sich die Luke dicht über dem Boden. Kamow blieb im Observatorium und reichte den anderen nacheinander die schweren Stangen zu. Dann schloß er die Luke, erneuerte die Luft im Raum und stieg aus, nachdem er den Schiffsrumpf wieder gehoben hatte.
Das Einschlagen der Pfähle erwies sich selbst hier als ein nicht leichtes Unternehmen. Auf der Erde hätten sie zu dritt diese Arbeit überhaupt nicht bewältigen können. Doch die geringere Anziehungskraft des Mars kam ihnen jetzt wieder einmal zugute.
Mit Hilfe der elektrischen Winde wurde der erste Pfahl aufgerichtet. Melnikow und Belopolski, die auf leichten Aluminiumleitern standen, brachten an seinem Ende einen schweren Hammer an. Ebenso wie die Winde wurde der Hammer mit elektrischem Strom betrieben, den die Akkumulatoren des Geländewagens lieferten. Auf der Erde wog der Hammer an die dreihundert Kilogramm, hier aber wog er nur hundertzehn. Doch auch das war noch viel; beide hatten sich tüchtig anzustrengen, um ihn auf diese Höhe zu bringen.
Der Pfahl mußte vorsichtig eingerammt werden. Mit jedem Schlag drang er einen halben Meter tiefer in den Sandboden ein. Den Hammer unter diesen Umständen in der Gewalt zu behalten, war schwierig, Kamow schaltete den Strom nur kurz ein, so daß der Hammer nicht mehr als einen oder zwei Schläge ausführen konnte, worauf Melnikow und Belopolski jedesmal einige Stufen herabstiegen.
Das wurde so lange fortgesetzt, bis das obere Ende der Stange mit der Oberfläche des Sandes abschloß.
Nach einer kurzen Ruhepause begann man den zweiten Pfahl einzurammen. Schließlich war der vierte und letzte Pfahl eingeschlagen. Auf die Pfähle wurde eine dicke Stahlplatte gelegt und fest angeschraubt. Der Sockel war fertig. Was noch zu tun war, ging leicht von der Hand.
Gegen acht Uhr abends war man mit allem fertig. Auf dem Sandplatz erhob sich nun inmitten der wunderlich blaugrauen Pflanzen für lange Zeit ein drei Meter hoher Obelisk aus rostfreiem Stahl. Auf seiner Spitze leuchtete in den Strahlen der untergehenden Sonne ein fünfzackiger Stern.
In den Felsen gefangen
Kamow fuhr südwärts, in der Richtung, die man noch nicht erforscht hatte. Vormittags hatten Melnikow und Belopolski auf ihrer dreistündigen Fahrt nach Norden und Osten nichts Neues entdeckt. Kamow wollte das geplante Programm zu Ende führen und begab sich allein auf die letzte Forschungsreise. Der Wagen fuhr mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern, und Kamow schaute aufmerksam nach vorn, um nicht unversehens in einen „Sumpf“ zu geraten. Das Gelände fiel allmählich, aber merklich ab. Die Seen wurden häufiger, und die Pflanzen schienen hier von höherem Wuchs als in der Umgebung des Raumschiffes. Kamow stellte fest, daß das Gestrüpp immer dichter wurde und sich über immer größere Flächen erstreckte. Wenn es späterhin in ununterbrochenes Dickicht übergehen sollte, würde er umkehren müssen. Dort einzudringen wäre nicht ratsam. Vorläufig waren die Abstände zwischen den Sträuchern aber groß genug, daß der Wagen sich hindurchmanövrieren ließ.
Kamow hatte einen weiten Ausblick und brauchte deshalb nicht den plötzlichen Überfall einer Echse zu fürchten.
Spuren dieser Tiere waren übrigens nirgends zu sehen.
So verging eine weitere Stunde. Vom Raumschiff trennten ihn bereits etwa siebzig Kilometer. Es wurde Zeit, umzukehren. Das Auseinandernehmen und Verladen des Geländewagens würde zwei Stunden beanspruchen. Pünktlich um acht Uhr sollte das Raumschiff den Mars verlassen.
Kamow brachte den Wagen zum Stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Überall dasselbe. So stellte er denn die Funkverbindung zum Schiff her und meldete, daß er nun die Rückfahrt antrete. „Ich schlage einen andern Weg ein“, sagte er. „Geben Sie in einer Stunde das Leitsignal.“
Er wendete ostwärts. Nachdem Kamow das Gelände in dieser Richtung auf einer Strecke von zwanzig Kilometern erforscht und nichts Beachtliches bemerkt hatte, drehte er kurzentschlossen nach Norden ab und fuhr „nach Hause“.
Ebenso aufmerksam wie zuvor, jedoch ohne Hoffnung, etwas zu sehen, was sich von der gewohnten Landschaft unterschied, beobachtete Kamow die wohlbekannten einförmigen Bilder der Marswüste, die an den Wagenfenstern vorbeizogen.
Parallel zur Fahrtrichtung tauchte eine lange Kette deutlich sichtbarer Spuren auf. Kamow verlangsamte das Tempo, um sie zu betrachten. Es waren Sprungspuren einer Echse, jenes scheußlichen zottigen Tieres mit dem Krokodilsrachen, das den Mars beherrschte. Wann mochte es hier vorbeigekommen sein? Das festzustellen war unmöglich.
Vielleicht gestern, vielleicht vor wenigen Minuten, kurz vor dem Eintreffen des Geländewagens. Auf dem festen Sand hielten sich Spuren lange. Ebensogut konnte es auch ganz in der Nähe auf der Lauer liegen und mit seinen Katzenaugen den Wagen beobachten, die langen, wie bei einer Heuschrecke eingeknickten Hinterbeine angezogen, um sich im nächsten Augenblick auf das Gefährt zu stürzen.
Wie viele Rätsel barg der Organismus des Tieres? Welcherart mochten seine Atmungsorgane sein? Es atmete dünne Luft mit einem sehr geringen Sauerstoffgehalt. Kein Tier der Erde hätte hier atmen können. Seine gewaltigen Sprünge, von denen jeder seinen Körper zwölf Meter nach vorn warf, erforderten viel Kraft. Woher nahm es die?
Kamow schrak aus seinen Gedanken auf, als rechts von ihm, etwa einen Kilometer entfernt, eine kleine Gruppe von Felsen oder Hügeln auftauchte. Er hatte sich schon so sehr an ebenes Gelände gewöhnt, daß sein Bewußtsein den seltenen Anblick nicht gleich aufnahm. Berge auf dem Mars!
Sandhügel konnten es nicht sein. Der Wind hätte sie längst eingeebnet. Also waren es Felsen. Bis jetzt hatten sie auf dem Planeten nicht einen Stein gefunden.
Der Geländewagen legte die kurze Entfernung rasch zurück. Je näher Kamow dem Felsen kam, desto erregter wurde er. Endlich! Endlich hatte er etwas vor sich, was sich von der Eintönigkeit des bisher Gesehenen unterschied!
In der Lage der Gesteinsblöcke — er sah schon deutlich, daß sie sandfrei waren — glaubte er eine gewisse Ordnung festzustellen, deren System er noch nicht erkennen konnte.
Sollten das Überreste eines von denkenden Wesen errichteten Bauwerks sein?
Inzwischen war der Geländewagen an die Gesteinsblöcke herangekommen. Die Gruppe bestand aus einigen Dutzend fünf bis fünfzehn Meter hohen Felsen, die eine Fläche von etwa einem Hektar einnahmen. Kamow schaute sich das ihm zunächst befindliche Gestein aufmerksam an. Es schien eine Art Glimmergranit zu sein. Deshalb also hatte er die Felsen zuerst für Sandhügel gehalten! Die braune Färbung des Gesteins ließ sich kaum von der Farbe der Wüste unterscheiden.
Er ließ den Wagen langsam an den Granitfelsen entlangfahren und fotografierte jeden einzelnen mehrere Male. Sie standen so dicht beieinander, daß er nirgends eine Möglichkeit zur Durchfahrt entdeckte. Ob ihrer Anordnung eine bestimmte Regelmäßigkeit zugrunde lag, wie er anfänglich angenommen hatte, oder ob sie in dem der Natur eigenen wirren Durcheinander gruppiert waren, konnte er nicht feststellen. Die Beantwortung dieser Frage war aber von größter Bedeutung. Handelte es sich um eine natürliche Formation oder um ein im Laufe der Zeit zerfallenes, bis zur Unkenntlichkeit zerstörtes Bauwerk einstiger Bewohner des Planeten?
›Ich muß das herausbekommen, koste es, was es wolle! dachte Kamow. ›Wenn ich auf einen Felsen klettere, der in der Mitte steht, kann ich das Panorama von oben, aus der Vogelschau aufnehmen. Das gäbe bestimmt Aufschluß über die Gesamtanordnung der Granitblöcke und vielleicht auch eine Antwort auf diese Frage. Er sah auf die Uhr. Die Zeit wurde bereits knapp. ›Macht nichts!‹ sagte er sich. ›Ich fahre eben auf meiner alten Spur zurück. Auf bekannter Strecke kann man voll aufdrehen.
Dadurch spare ich mindestens eine Stunde. So lange habe ich noch Zeit. Im Empfänger knackte es, und er vernahm die Stimme Belopolskis: „Hier spricht das Raumschiff.“
„Ich höre!“
„Wie gewünscht, schalte ich jetzt den Leitsender ein.“
„Nicht nötig!“ sagte Kamow. „Ich werde auf demselben Weg zurückkehren.“
„Der Wagen steht am Fuß einer Gruppe von Granitfelsen. Ich habe durch Untersuchungen viel Zeit verloren.“
Im Lautsprecher waren deutlich Ausrufe der Verwunderung zu hören. „Felsen?“ fragte Belopolski dann. „Wo haben Sie die entdeckt, Sergej Alexandrowitsch?“
„Ungefähr achtzig Kilometer südlich von unserem Schiff. Ich habe sie fast alle fotografiert, muß aber noch herausbekommen, ob es sich hier um eine natürliche Formation oder um Reste eines Bauwerks handelt. Dazu muß ich in das Innere der Felsengruppe eindringen. Mit dem Wagen geht das nicht.“
„Sie wollen aussteigen?“ fragte Belopolski.
„Das ist unumgänglich. Außerdem muß ich Gesteinsproben sammeln.“
„Seien Sie vorsichtig, Sergej Alexandrowitsch!“ Das war Paitschadses Stimme.
„Selbstverständlich!“ antwortete Kamow. „Aber es besteht gar kein Grund zur Besorgnis. Das Gelände ist völlig verödet. Erwarten Sie mich in zwei Stunden zurück.“
Nachdem Kamow seine Waffe geprüft hatte, schnallte er sich den Sauerstoffbehälter auf den Rücken und zog, damit er ihn beim Klettern nicht behinderte, die Riemen fest an.
Der Felsen, den er sich ausgewählt hatte, stand etwa fünfzehn Meter vom Wagen entfernt und war mindestens zehn Meter hoch. Von seinem Gipfel mußte sich ein weiter Ausblick bieten. Das Gestein war stark verwittert, aber dieser Umstand konnte Kamow nur zustatten kommen! Um so leichter würde er die steile Wand bezwingen. Für alle Fälle nahm er noch ein langes Seil mit. Er setzte die Maske auf und verließ den Wagen, dessen Tür er fest hinter sich schloß.
Kamow trat an den Felsen heran. Wind und Wetter hatten das Gestein zerstört und gehöhlt. An vielen Stellen waren große Granitstücke abgebröckelt. Dicht unter dem Gipfel hatte sich ein Vorsprung gebildet, über den sich eine Schlinge werfen ließ. Das würde den Aufstieg bedeutend erleichtern. Schon der zweite Wurf gelang. Die Schlinge legte sich fest um den Vorsprung. Kamow begann sich hinaufzuziehen. Obwohl sein Körpergewicht hier nur etwa dreißig Kilogramm betrug, hatte er doch nicht erwartet, daß der Aufstieg so mühelos vor sich gehen würde. In wenigen Minuten hatte er den Gipfel erreicht. Stehen konnte er hier nicht, also legte er sich auf den Bauch, wobei er sich mit den Füßen gegen den Vorsprung stemmte, über den er sein Seil geworfen hatte.
Kamow konnte nun das ganze Felspanorama übersehen.
An der Gruppierung der Felsen erkannte er sofort, daß sie auf natürlichem Wege entstanden waren. Er unterdrückte seine Enttäuschung und machte etliche Aufnahmen. Dann wandte er sich vorsichtig nach der anderen Seite, um auch diese zu fotografieren.
Am Fuße des Felsens, den er erklommen hatte, befand sich ein freier Platz von zwanzig bis fünfundzwanzig Meter Durchmesser. Als Kamow hinunterschaute, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Einem Teppich gleich breitete sich da unten matt schimmernd das ihm wohlbekannte silbrigweiße Fell. Echsen!
Es waren sehr viele. Eng aneinandergedrängt lagen sie auf dem Sand und schienen zu schlafen. Sonderbar, daß sie seine Gegenwart nicht spürten. Er war ihnen doch ganz nahe gewesen, als er am Fuße des Felsens stand. Vielleicht ging diesen Raubtieren die Witterung ab, die bei ihren Artgenossen auf der Erde so hoch entwickelt war? Ohne es zu ahnen, war er auf ihren Unterschlupf gestoßen, auf die Stätte, an der sich die Raubtiere tagsüber verborgen hielten.
Er mußte schleunigst von hier weg, solange sie noch schliefen. Wenn auch nur eine von ihnen aufwachte, ihn sah, war der Rückweg abgeschnitten.
Kamow machte rasch einige Aufnahmen. Er konnte sich nicht enthalten, die schlafenden Echsen zu fotografieren.
Auf der Erde hätte das Schnappen des Kameraverschlusses die Tiere sofort geweckt, aber in der dünnen Marsluft pflanzte sich der Schall nur schlecht fort. Die Echsen lagen immer noch unbeweglich.
Kamow steckte den Apparat ein und ließ sich behutsam hinab zum Seil. Ach, schliefen doch die Tiere nur noch drei, vier Minuten, er würde seinen Wagen erreichen!
Während er sich mit beiden Händen am Seil festhielt, schaute er nach unten. Vor Entsetzen begann ihm das Herz wie rasend zu hämmern. Wieder jagte ihm ein Schauer über den Rücken. Direkt unter ihm, an der Stelle, wo er sich hinablassen mußte, schimmerte ein langer, silbriger Leib. Graugrüne Katzenaugen starrten ihn unverwandt an und verfolgten jede seiner Bewegungen. Sprungbereit duckte sich das Tier zu Boden.
Konnte es einen zehn Meter hohen Sprung ausführen?
Kamow nahm den Revolver und kletterte, das Tier nicht aus den Augen lassend, wieder auf den Gipfel. Warum hatte er nur kein Gewehr mitgenommen! Aus dieser Entfernung hätte jeder Schuß tödlich getroffen. Mit dem Revolver aber konnte er das Tier unter Umständen nur verwunden. Zudem würden die schlafenden Echsen natürlich erwachen. Nein, schießen durfte er nicht. Er schmiegte sich an den Felsen, bemüht, nicht die geringste Bewegung zu tun, und beobachtete seinen Gegner.
Das Raubtier machte keine Anstalten zu springen. Es lag im Sand und sah den Menschen unverwandt an.
Wenn das Tier sich nicht zurückzog, würde die Lage ernst werden. Vor seinen Augen hinunterzusteigen, war unmöglich. Warten? Wie lange? Worauf?
Kamow wußte nichts von der Verhaltensweise der Echsen. Wie lange mochte die Geduld des Tieres reichen, wie hoch mochte der Grad seines Vorstellungsvermögens sein? Ob es begriff, daß der Mensch da oben wieder herunterkommen mußte? Was mochte es überhaupt von dem ihm unbekannten Wesen denken, das plötzlich in seinem Reich aufgetaucht war?
Kamow beschloß, eine halbe Stunde zu warten. Wenn die Echse sich nicht zurückzog, würde er versuchen, sie zu erlegen oder durch den Schuß zumindest in die Flucht zu schlagen. Der Knall würde in der dünnen Luft die anderen Tiere vielleicht gar nicht wecken.
Minute um Minute verging. Wenn man den Wagen auf dem Mars zurückließ, standen Kamow noch einige Stunden zur Verfügung. Inzwischen konnte viel geschehen.
Obwohl er sich in einer tragischen Situation befand, verließ ihn seine Ruhe nicht. Kaltblütig überlegte er, auf welche Weise er sich aus der unerwarteten Gefangenschaft befreien konnte. Wenn er das Seil einzog, würde er mit seiner Hilfe den etwa fünf Meter entfernten Nachbarfelsen erreichen, der am Gipfel eine scharfe Zacke aufwies, um die er die Schlinge leicht werfen konnte. War das Seil erst einmal daran befestigt, dann würde er, wie auf einer Brücke, hinübergelangen.
Das Seil war fünfzig Meter lang. Es mußte also genug davon übrigbleiben, daß er das Manöver wiederholen und sich dem Geländewagen so weit wie möglich nähern konnte. Dann wollte er versuchen, das Tier zu töten, falls es ihm folgte, und sich in den Wagen werfen, ehe die anderen zur Stelle waren.
Kamow begann vorsichtig das Seil einzuziehen. Das Ende lag in der Nähe der Echse, und er wartete gespannt, wie sich das Tier verhalten würde.
Dem Tier war es nicht entgangen, daß sich das Seil vor ihm bewegte. Es wandte den Kopf, richtete die Augen aber sofort wieder auf den Menschen. Ihm galt offensichtlich sein größeres Interesse.
Doch schon hatte Kamow das ganze Seil an sich gerafft.
Er wollte mit der Ausführung seines so gewagten Planes so lange warten, bis die halbe Stunde, die er sich als Frist gesetzt hatte, abgelaufen war. Vielleicht zog sich die Echse doch noch zurück.
Einen Augenblick lang glaubte Kamow, seine Hoffnung erfülle sich. Das Tier hörte auf, ihn zu beobachten. Es strich am Fuße des Felsens umher und schenkte dem Menschen scheinbar keine Beachtung.
Hatte es ihn vergessen?
Das war durchaus möglich.
Doch keine Spur! Nach kurzer Zeit stellte das Tier seine Wanderung ein, legte sich abermals nieder und richtete den Blick starr auf den Felsengipfel.
›Stures Biest!‹ dachte Kamow.
Die festgesetzte Zeit war verstrichen.
Vorsichtig kniete er sich hin, holte mit der Schlinge aus und warf. Obwohl er sich in dieser Kunst nie geübt hatte, legte sich die Schlinge zu seiner Verwunderung gehorsam um die ausersehene Felszacke.
Den Fuß in eine Spalte geklemmt, zog er heftig an dem Seil, um dessen Festigkeit zu prüfen. Das Seil gab unerwartet leicht nach. Die Felszacke, die so zuverlässig ausgesehen hatte, wankte und stürzte in die Tiefe. Um ein Haar hätte Kamow das Gleichgewicht verloren. Mit unwahrscheinlicher Muskelanspannung bog er sich noch im letzten Moment zurück und rettete sich davor, aus zehn Meter Höhe den unter ihm liegenden Ungeheuern in den Rachen zu fallen.
Der Granitbrocken schlug fünf Schritte von der unten lauernden Echse entfernt in den Sand. Erschrocken sprang das Tier mit einem Satz zwischen zwei Felsen hindurch, mitten unter seine schlafenden Artgenossen.
In der Herde erhob sich Unruhe. Der silbrige Teppich in der Tiefe begann zu wogen und zu flimmern.
Während Kamow den abgebrochenen Gesteinsklumpen und die eigene Unvorsichtigkeit verfluchte, verließ eine Echse nach der anderen den Lagerplatz und strebte den mittleren Durchgängen zwischen den Felsen zu. Bald sah Kamow überall ringsum ihre silbern glänzenden Felle. Er zählte mehr als fünfzig Tiere. Nun war an einen Abstieg nicht mehr zu denken. Alle Fluchtwege waren verlegt. Solange die Ungeheuer nicht abzogen, mußte er auf seinem Felsen ausharren.
Kamow wußte nur zu gut, daß sich die Echsen aller Voraussicht nach erst bei Anbruch der Dunkelheit entfernen würden. Die Sonne ging hier um acht Uhr zwanzig Moskauer Zeit unter. Also blieben bis dahin noch vier Stunden.
Der Sauerstoff in der Flasche würde so lange reichen. Daß die Tiere zu ihm heraufklettern könnten, brauchte er nicht zu befürchten. Sie machten keinerlei Anstalten, auf den Felsen zu springen, was Raubtiere auf der Erde unbedingt getan hätten. Er war an seinem uneinnehmbaren Zufluchtsort außer Gefahr und hätte in Ruhe abwarten können, bis die Tiere ihren nächtlichen Streifzug antraten, wenn … ja wenn das Raumschiff den Mars nicht hätte pünktlich um acht Uhr verlassen müssen. Spätestens um sieben Uhr mußte er sich befreien, koste es, was es wolle, sonst blieb ihm keine Hoffnung mehr, das Schiff rechtzeitig zu erreichen. Was ihn dann erwartete, war der Tod. Kamow hatte Belopolski das Versprechen abgenommen, unter allen Umständen pünktlich zu starten. „Auch dann, wenn Sie sich verspäten?“ hatte Konstantin Jewgenjewitsch gefragt.
„Auch dann!“ hatte er geantwortet, ohne zu schwanken.
Belopolski würde Wort halten. Er wußte, welche Folgen eine Verzögerung haben konnte.
Heimwärts!
Gegen Mittag hatte ich Kamow zu seiner letzten Fahrt mit dem Geländewagen hinausbegleitet. Sergej Alexandrowitsch war ausnehmend guter Laune. „Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden!“ scherzte er, als er sich ans Steuer setzte. Dann fuhr der Wagen davon.
Ich kehrte an Bord zurück. Belopolski saß an Paitschadses Bett. Dicht neben ihm befand sich auch die Funkstation. Ich ging in mein Laboratorium und räumte auf.
Nachdem ich meine Arbeit im Labor beendet hatte, kehrte ich zu den beiden Astronomen zurück. Sie unterhielten sieh über Dinge, die nichts mit dem Mars und unserem Aufenthalt auf dem Planeten zu tun hatten. Kamow hatte sich noch nicht gemeldet. Ich trat ans Fenster und blickte hinaus auf das bereits vertraute Bild der Marswüste. Der Tag war klar und windstill.
Um vierzehn Uhr zehn teilte Kamow mit, er trete die Rückfahrt an. Er bat uns, in einer Stunde das Leitsignal zu geben, weil er auf einem anderen Wege zurückkehren wollte.
Die Stunde verging. Belopolski schaltete das Mikrofon ein. Es folgte ein kurzes Gespräch, von dem ich nicht ein Wort vergessen habe. Kamow überraschte uns mit der Neuigkeit, daß er Felsen entdeckt habe. Diese Worte wirkten zündend, sogar Paitschadse richtete sich erregt auf. Felsen auf dem Mars! „Endlich!“ murmelte er.
Kamow sagte, er wolle den Wagen verlassen, um seine Entdeckung näher zu untersuchen und Gesteinsproben zu sammeln. Paitschadse bat ihn, vorsichtig zu sein, worauf Kamow das Gespräch ziemlich hastig abbrach. Möglicherweise befürchtete er weitere Einwände.
Als ein Geräusch verkündete, daß Kamow abgeschaltet hatte, sprang Paitschadse unerwartet von seinem Lager auf.
Belopolski schüttelte mißbilligend den Kopf.
„Es besteht doch gar kein Grund zur Besorgnis“, sagte er.
„Ich weiß“, antwortete Paitschadse.
„Weshalb regen Sie sich denn auf?“
„Das weiß ich nicht, aber ich bin nun mal aufgeregt.“
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an Basons Aufnahme, die ich entwickelt hatte — Hapgoods Kopf im Rachen des Ungeheuers — und sagte unwillkürlich: „Und wenn nun eine Echse …?“
Keiner sprach ein Wort. Im Observatorium trat bedrückende Stille ein. Paitschadse vergaß Kamows Mahnung, bis zum Start liegenzubleiben, und schritt in dem engen Zwischenraum zwischen Pult und Tür langsam auf und ab.
Hin und wieder blieb er stehen und schickte einen langen, flehentlichen Blick zur Funkstation, als wolle er den Empfänger zum Sprechen bewegen. Belopolski schaute öfter als nötig auf die Uhr und verriet dadurch sein geheimes Bangen.
„Erwarten Sie mich in zwei Stunden zurück“, hatte Kamow gesagt.
Stunde um Stunde verstrich, doch von Kamow kam kein Lebenszeichen. Belopolski schaltete einige Male das Mikrofon ein. Nichts rührte sich. Nur das gleichmäßig leuchtende Kontrollämpchen zeigte an, daß die Funkanlage des Geländewagens in Betrieb war.
Quälend langsam verging die Zeit. Ich verließ meinen Platz am Fenster nicht einen Augenblick. Die Augen schmerzten, so angestrengt spähte ich in die Richtung, in der der Wagen auftauchen mußte. Die Stunde, zu der Kamow zurück sein wollte, war längst verflossen, aber der Wagen zeigte sich nicht. Die Kontrollampe in der Funkstation brannte zu unserer größten Qual nach wie vor.
Was war los? Wo befand sich Kamow? Warum blieb er dem Wagen so lange fern? Unwillkürlich drängte sich einem die furchtbare Frage auf: Ist er noch am Leben?
Die Zeit verstrich … Ich wagte nicht, auf die Uhr zu sehen. Es ging nur noch um wenige Minuten.
Unablässig klangen mir die Worte Kamows im Ohr:
„Das Schiff muß unter allen Umständen pünktlich starten“, worauf Belopolski geantwortet hatte: „Das verspreche ich Ihnen.“ Würde sich Konstantin Jewgenjewitsch entschließen können, sein Versprechen zu halten?
Ich wußte, er würde sich dazu entschließen müssen. Die begrenzte Geschwindigkeit des Schiffes machte uns zu Sklaven des Terminplanes. Das Raumschiff mußte zur festgesetzten Zeit den Mars verlassen, wollte man nicht die ganze Expedition dem Untergang preisgeben.
Im Observatorium herrschte tiefe Stille. Jeder verschloß seine Gedanken in sich, keiner wagte, dem andern in die Augen zu sehen, aus Furcht, er könnte in ihnen die eigene unausgesprochene Frage lesen.
Der erste, der es nicht mehr aushielt und das Schweigen brach, war Belopolski. Er sprang plötzlich auf und trat mit schnellen Schritten ans Fenster. Einige Minuten sah er mit seltsam starrem Blick in die Ferne. Große Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Er drehte sich um und sagte leise:
„Noch zwanzig Minuten!“
Ich zitterte am ganzen Körper. Paitschadse rührte sich nicht. Keiner von uns antwortete.
„Bringen Sie Bason her“, wandte sich Belopolski darauf an mich.
Bason herbringen … Wahrhaftig, ein tröstlicher Ersatz für Kamow!
Zu viert waren wir hier angelangt, und zu viert würden wir auch wieder zur Erde zurückfliegen.
Ich öffnete die Tür zu Basons Kajüte. „Folgen Sie mir!“
„Verläßt das Schiff den Mars?“ fragte der Amerikaner.
Ich gab ihm keine Antwort.
„Setzen Sie die Helme auf!“ befahl Belopolski in englischer Sprache. Er wollte diese schrecklichen Worte nicht zweimal aussprechen. Der Helm, den er Bason reichte, war, wie ich bemerkte, sein eigener. Den, der Kamow gehörte, behielt er für sich.
So war denn alles zu Ende … Wir flogen fort! …
„Konstantin Jewgenjewitsch!“ flüsterte Paitschadse.
Belopolski schaute ihn fragend an, aber Arsen Georgijewitsch sagte weiter kein Wort.
Eine endlos lange Sekunde verging …
„Gut!“ meinte Belopolski. „Ich werde noch zwanzig Minuten warten.“
Paitschadse erhob sich plötzlich und sagte laut und vernehmlich: „Der Wagen kann eine Panne haben. Sergej Alexandrowitsch wartet vielleicht auf uns!“
Belopolski wies schweigend auf das rote Lämpchen der Funkstation. Dann sagte er leise: „Die Luft!“
Paitschadses braunes Gesicht wurde aschfahl. Er und auch ich hatten sofort begriffen, was Konstantin Jewgenjewitsch damit meinte. Das Signallämpchen erbrachte den unwiderleglichen Beweis, daß die Funkanlage des Geländewagens funktionierte. Wenn der Empfänger dennoch schwieg, bedeutete es, daß Kamow nicht im Wagen war.
Der Sauerstoffvorrat des Behälters, den er beim Verlassen des Fahrzeuges mitgenommen haben mußte, reichte nur für sechs Stunden. Seit dem letzten Gespräch waren bereits fünf Stunden verflossen. Kamow hatte also nur noch für eine knappe Stunde Luft zum Atmen …
„Wir müssen ihn suchen!“ sagte ich.
Belopolski erwiderte mit sonderbar tonloser Stimme:
„Gut! Das Schiff wird seinen Kommandanten noch zehn Minuten lang suchen. — Kein Wort mehr!“ Fast schreiend stieß er den Befehl hervor.
„Alles in die Netze!“
Im Observatorium waren Hängematten zur besonderen Verwendung aufgespannt worden. Da es auf dem Mars keinen Startturm gab, mußte das Schiff die Flugrichtung ändern.
Belopolski nahm den Platz am Steuerpult ein. Sein Netz blieb leer.
Selbst bei meinem ersten Start auf der Erde hatte ich keine so qualvolle Unruhe empfunden. Ich ließ kein Auge von unserem neuen Kommandanten. Sein Gesicht war sehr blaß, schien jedoch ruhig und konzentriert. Welche übermenschliche Anstrengung mochte es ihm kosten, sich zur Ruhe zu zwingen!
* * *
Der Schiffsleib erzitterte. Das immer stärker anschwellende Dröhnen der Motoren schien die ganze Welt, das ganze Universum zu füllen …
Das Raumschiff rollte an. Noch war es auf der Oberfläche des Mars. Aber da drückte Belopolski auf den wohlbekannten Knopf: Die Räder rutschten weg. Wir waren in der Luft.
Eine schnelle Handbewegung … Die mächtigen Raketenantriebe verstummten, sofort setzte der Atmosphärenmotor ein. Der jähe Aufstieg des Schiffes wurde unterbrochen, und es flog, willig seinem Kommandanten gehorchend, genau wie vor fünf Tagen, über dem Planeten dahin.
Sowohl Paitschadse als auch ich sprangen aus unseren Netzen und stürzten zu den Fenstern. Das Schiff beschrieb einen weiten Kreis und kehrte zu der Stelle zurück von der wir kurz zuvor aufgestiegen waren. Im Scheinwerferlicht war das Gelände zu erkennen. Der See und der Platz, auf dem unser Schiff gestanden hatte, huschte vorüber.
Wir flogen südwärts, in der Richtung, die Kamow mit seinem Wagen eingeschlagen hatte. Nach vier Minuten hatte das Schiff über hundert Kilometer zurückgelegt und kehrte wieder um. Weiterzufliegen hatte keinen Sinn. Der Geländewagen konnte sich höchstens achtzig Kilometer von unserem früheren Standort entfernt haben.
Hundert Kilometer hin, hundert Kilometer zurück — und wieder hundert Kilometer in derselben Richtung.
Nichts … Die Marswüste war dunkel und leblos.
Alles vorbei! Sergej Alexandrowitsch war rettungslos verloren.
Das Raumschiff drehte scharf ab. Wir flogen in einer anderen Richtung davon.
Ich warf einen Blick auf Belopolski. Er beugte sich über das Periskop. Die fest zusammengepreßten Lippen bewiesen seine Entschlossenheit. Er beachtete uns nicht. Mir schien, er hatte uns in diesem schrecklichen Augenblick völlig vergessen.
Paitschadse wandte sich vom Fenster ab und begab sich auf seinen Platz. Ich folgte ihm mechanisch. Über sein Gesicht rannen unaufhörlich Tränen. Ich kam nicht mehr dazu, mich niederzulegen. Ein heftiger Stoß warf mich ins Netz. Lähmend erfaßte das bekannte Gefühl der doppelten Schwerkraft den Körper. In meinen Ohren war ein mächtiges, schier unerträgliches Dröhnen.
Allein geblieben
Braune Granitfelsen ragen düster in die regungslose, kalte Luft. An ihrem Fuße schleichen langgestreckte, zottige Tiere umher, die kümmerlich entwickelten Vorderbeine träge voreinandersetzend. Ihr silbriges Fell glänzt in den Strahlen der untergehenden Sonne. Hin und wieder nähert sich das eine oder andere einem hohen Felsen, duckt sich wie zum Sprung zu Boden und starrt mit unbeweglichen graugrünen Augen zum Gipfel hinauf.
Auf dem Gipfel des Felsens liegt ein Mensch. Er hat den Kopf auf den gewinkelten linken Arm gelegt. Die Rechte umklammert den blitzenden Stahl eines Revolvers.
Der Mensch liegt schon lange dort. Er ist sterbensmüde.
Längst hat er die Hoffnung auf Rettung aufgegeben. Er kann nicht hinuntersteigen, kann nicht zu dem weißen Wagen mit den blanken Fenstern gelangen, der Rettung und Leben bedeutet. Verlockend nahe steht der Wagen, aber auf dem Weg dorthin lauert der Tod, der grauenvolle Tod im Rachen eines Ungeheuers.
Nein, alles, nur das nicht! Mag lieber der Sauerstoff ausgehen, der die Maske speist, die der Mensch auf dem Gesicht trägt.
Die Sonne steht ganz niedrig über dem Horizont. Gleich wird die rasch hereinbrechende Tropennacht alles verdunkeln. Die Luft wird noch kühler werden, eisig kalt.
Aber daran denkt der Einsame nicht. Was kümmert ihn der Frost, wenn der Sauerstoff nur noch eine Stunde reicht.
Dort in dem weißen Wagen, fünfzig Meter von ihm entfernt, liegen Flaschen mit dem belebenden Gas, doch was nützt ihm das? Sie sind ihm ebenso fern wie die Trabanten des Mars, die jetzt dort oben am dunkelnden Himmel leuchten.
Der Mensch weiß, daß er dem Tode verfallen ist, aber seine Augen unter den dichten buschigen Brauen blicken ruhig und gefaßt. Seine Bewegungen sind sicher und gemessen. Er führt die Hand an die Augen und schaut auf die Uhr. Die Zeiger stehen auf acht Uhr zehn. Er richtet sich auf, scheint zu horchen. Aber ringsum herrscht Totenstille.
Auch nicht ein Laut durchdringt das Schweigen der Wüste.
Mit ärgerlicher Gebärde legt er sich von neuem auf den kalten Granit.
Wieder vergehen zehn Minuten. Die Sonne versinkt hinter dem Horizont. Die Luft wird rasch kälter. Der Nachtfrost setzt ein. An die Ohren des Mannes dringt ein Laut.
Er richtet sich auf, beugt sich mit dem ganzen Körper nach der Seite, von der das so lang erwartete Geräusch kommt.
Immer lauter wird es, als habe sich in einem fernen Gebirge eine Steinlawine gelöst und rolle mit unheimlichem Getöse zu Tal. Das Gesicht des Lauschenden wird kreideweiß, aber um seine Mundwinkel huscht ein beifälliges Lächeln.
Das Geräusch ebbt allmählich ab, und in das Gesicht des Mannes kehrt die Farbe zurück. Mit einer unendlich müden Bewegung läßt er sich auf sein steiniges Lager nieder.
Vorbei. Er ist allein auf dem Mars. Allein auf dem riesigen Planeten I Der Tod wird nicht lange auf sich warten lassen.
Noch dreißig, vierzig Minuten — dann ist alles zu Ende!
Aber was ist das?
Von neuem erhebt sich das Geräusch. Immer lauter, immer deutlicher … Es kommt näher, schwillt an zu ohrenbetäubendem Lärm … Am Horizont bricht ein greller Lichtstrahl hervor, fährt herab auf den Boden des Planeten, entreißt der Dunkelheit hier dichtes Gestrüpp, dort die Eisfläche eines zugefrorenen Sees.
Der Mann auf dem Felsen preßt den Körper ans Gestein, als fürchte er, gesehen zu werden.
Er hat in der Tat Angst davor. Sofort durchzuckt ihn der Gedanke an den weißen Wagen. Wenn der Scheinwerferstrahl ihn berührt, wird das lackierte Verdeck hell aufleuchten, und jene, die das gleißende Licht herunterschicken, werden den Wagen entdecken.
Tausend schwere Granateinschläge scheinen sich zu einem einzigen, für die Ohren unerträglichen Gedröhn zu verdichten. Die dünne Luft gerät in Bewegung. Pfeifend fährt ein jäh aufkommender Wind gegen die Felsen. Breite Tragflächen verdecken den Himmel über dem Kopf des Mannes. Der Scheinwerferstrahl huscht vorbei. Das Gelände hüllt sich in gespenstisches rotes Licht.
Das Heck der vorüberjagenden Maschine speit eine lange grellrote Flamme aus, die wieder erlischt. Das Donnern erstirbt in der Ferne.
Der Einsame atmet erleichtert auf. Er fährt sich mit der Hand über die Stirn, wie um unerwünschte Gedanken zu verscheuchen.
Das Geräusch ertönt von neuem, aber nicht mehr so laut wie vorher. Die Maschine kommt zurück. Sie fliegt in zwei Kilometer Entfernung an dem Felsen vorbei, auf dem der Mann sie gespannt verfolgt. Diesmal erhebt er sich: man kann ihn nicht sehen. Der Scheinwerferstrahl gleitet über den Boden hin und beleuchtet sekundenlang die Felsen im Umkreis. Doch selbst diese kurze Zeit genügt dem Mann, etwas zu bemerken, was sein Herz mit unbändiger Freude erfüllt: Die Tiere sind weg!
Im roten Widerschein der Flamme erblickt er springende Schatten, die sich schnell entfernen. Die zu Tode erschreckten Echsen suchen ihr Heil in der Flucht. Der Mensch ist frei.
Rasch läßt er sich an dem Seil hinunter und läuft zu dem weißen Wagen. Mehrere Male stürzt er im Dunkeln hin, stößt sich schmerzhaft an scharfen Gesteinskanten. Aber was bedeutet schon der Schmerz im Vergleich zu dem Bewußtsein, dem gräßlichen Los, von den Beherrschern des Mars gefressen zu werden, entronnen zu sein!
Mag ihn trotzdem der Tod erwarten — den gierigen Rachen der Raubtiere wird sein Leib nicht zum Fraß dienen.
Er sitzt bereits in dem gepolsterten Wagen, als er noch einmal das Weltraumschiff erblickt, sein ureigenes Werk, von dem er nun für ewig Abschied nimmt.
Es fliegt in großer Entfernung vorüber, aber er braucht nur die Hand auszustrecken, auf einen Knopf zu drücken, und auf dem Verdeck des Geländewagens erstrahlt ein starker Scheinwerfer. Der mächtige Vogel wird das Licht sehen und sich niederlassen. Gerade weil er das hofft, überfliegt er so beharrlich den Raum, in dem sich sein verschollener Kommandant befinden kann.
Die Kameraden suchen ihn immer noch. Sie haben viel Zeit verloren. Die ferne Erde nähert sich unerbittlich dem Punkt, an dem das Raumschiff ihr begegnen soll. Wenn der Planet diesen Punkt überschritten hat, ist er nicht mehr einzuholen. Das hieße für alle der Tod. In dem müden Kopf des Mannes jagt ein Gedanke den anderen.
Aus den Motoren läßt sich noch viel herausholen. Man könnte den Flug beschleunigen und es doch noch schaffen.
Hier ist der Knopf, ganz nahe … Den Scheinwerfer einschalten … Sich retten … Der Selbsterhaltungstrieb läßt die Hand nach dem rettenden Knopf greifen. Schon haben die Finger seine Fläche berührt. Nur noch ein leichter Druck … Aber Wille und Vernunft siegen.
Hat er das Recht, das Leben der Kameraden zu gefährden und den Erfolg der ersten großen kosmischen Reise aufs Spiel zu setzen, nur weil er das eigene Leben retten will? Das Raumschiff muß zur Erde zurückkehren. Und es wird zurückkehren.
Kamow läßt entschlossen die ausgestreckte Hand sinken.
Fern am Horizont, in der Richtung, die das Raumschiff beim Abflug zur Erde einschlagen muß, taucht ein kurzer roter Strich auf, der langsam emporzusteigen scheint.
Schon hat er sich in einen Punkt verwandelt, wird immer kleiner und verliert sich unmerklich aus den Augen.
Das ist die Feuerspur hinter dem Heck des Weltraumschiffes, das sich vom Mars entfernt.
Kamow schließt die Augen.
* * *
Der Geländewagen folgte langsam seiner alten Spur. Den Geländewagen wollte er neben dem Obelisk aufstellen, dann fände die nächste Expedition ihn sofort. Und darin würde man auch den Brief entdecken, den er, Kamow, vor seinem Tode verfaßt.
Der nächste Flug zum Mars würde voraussichtlich in zwei, drei Jahren stattfinden. Der Wagen dürfte diese Zeit in dem trockenen Klima gut überstehen. Man brauchte dann nur die Akkumulatoren auszuwechseln und konnte ihn wieder benutzen.
Kamow schaltete ab und zu den Scheinwerfer ein, um zu kontrollieren, ob er richtigen Kurs hielt. Er bediente sich des Lichtes nicht allzu oft, da er befürchtete, in der Nähe herumstreifende Tiere anzulocken.
Er fuhr langsam, zur Eile bestand kein Grund, bis zum Sonnenaufgang war es noch weit. Mit dem Vorrat an komprimiertem Sauerstoff in den Behältern kam Kamow mindestens zwei Wochen aus. Die Energie der Akkumulatoren würde bei ununterbrochener schnellster Fahrt vierzig Stunden reichen. Nahrungsmittel konnte er sich aus Hapgoods Raumschiff holen, vorausgesetzt, daß er es fand.
Im amerikanischen Schiff mußte auch Papier zu finden sein. Arbeit hatte er genug für die Zeit, die ihm noch blieb.
Er konnte und mußte die Betrachtungen und Berechnungen niederschreiben, die er in bezug auf Weltraumflüge angestellt hatte.
In Hapgoods Schiff gab es natürlich auch Sauerstoff.
Wenn Kamow wollte, konnte er sich weit länger als zwei Wochen am Leben erhalten.
Jedem Menschen auf der Erde, der in eine scheinbar aussichtslose Lage gerät, bleibt trotzdem die Hoffnung, daß ihm der Zufall andere Menschen zuführt, die ihm helfen.
Er muß bis zum Letzten um sein Leben kämpfen. Kamow aber hatte absolut nichts, worauf er hoffen durfte. Niemand konnte ihm zu Hilfe kommen. Er war allein auf einem fremden Planet. Die Erde war weit von ihm entfernt, unvorstellbar weit. Das Raumschiff wird sie in anderthalb Monaten erreichen. Selbst wenn es dann unverzüglich zurückflog — was an und für sich völlig unmöglich war —, würde es doch erst nach vier Monaten wieder auf dem Mars eintreffen. So lange reichte der Sauerstoff im amerikanischen Schiff nicht aus. Daß es vernünftige Wesen auf dem Mars gab, war ausgeschlossen, und gar Hilfe von sonstwoher zu erhoffen, einfach unsinnig.
Systematisch durchdachte Kamow alle Möglichkeiten zu seiner Rettung, weil er sich überzeugen wollte, daß es nicht einmal theoretisch eine Möglichkeit gab.
Das amerikanische Raumschiff! Auf den ersten Blick der leichteste Weg zur Rettung. Nichts einfacher als das — einsteigen und zur Erde fliegen. So würde zweifellos jeder denken, der nicht mit der Steuertechnik kosmischer Schiffe vertraut ist und wenig Ahnung von Weltraumnavigation hat. In den unermeßlichen Weiten, über die sich das Sonnensystem erstreckt, sind Erde und Mars winzige Pünktchen. Will man von einem dieser Punkte zum andern gelangen, so muß man den kaum spürbaren Einflüssen, die von beiden Planeten, der Sonne und selbst anderen Planeten, insbesondere dem Jupiter, auf das Raumschiff ausgeübt werden, peinlichst Rechnung tragen. Der Kommandant eines Weltraumschiffes muß sein Schiff genau kennen, er muß wissen, wie groß und wie schwer es ist, wie die Motoren angeordnet sind, was sie leisten und welche Geschwindigkeit sie dem Schiff vermitteln; er darf sich nicht um einen Zentimeter in der Sekunde irren. Ohne diese Voraussetzungen würde sich das Schiff rettungslos in den Weiten des Raumes verlieren und sein Ziel nie erreichen. Kamow wußte das nur zu gut. Mit einem fremden Schiff, von dessen Konstruktion und Motoren man keine Daten hat, zur Erde fliegen zu wollen, war dasselbe, als wollte man mit verbundenen Augen ein Gewehr abschießen und gleich beim ersten Schuß ein zwei Kilometer entferntes Zwanzigkopekenstück treffen. Ein aussichtsloses Unterfangen!
Schluß! Alle nur erdenklichen Möglichkeiten einer Rettung, sogar die unwahrscheinlichsten waren durchdacht und erwogen, die Konsequenzen gezogen. Also genug!
Als Kamow den Scheinwerfer einschaltete, mußte er feststellen, daß er vom Weg abgekommen war. Er wendete und fuhr zurück. Bald stieß er wieder auf die alte Spur. Er hatte die Biegung nach Norden verpaßt.
Von der Wegbiegung bis zum Landeplatz des Raumschiffes waren es noch siebzig Kilometer.
Draußen herrschte strenger Frost, doch im Wagen war es heiß. Die hermetisch verschlossenen Fenster und Türen ließen keine Außenluft herein, und die Wände des Geländewagens wurden elektrisch geheizt.
Kamow knöpfte den Pelzoverall auf und nahm den Helm vom Kopf. Er war hungrig, aber er hatte nichts Eßbares bei sich.
Es waren noch anderthalb Stunden bis Sonnenaufgang, als sich der Wagen dem wohlbekannten Platz näherte. Undeutlich ragte auf der Lichtung die dunkle Silhouette des Stahlobelisk empor. In seinen glattpolierten Flächen spiegelten sich funkelnd die Sterne. Der zugefrorene See schien merkwürdig nahe an die Lichtung herangerückt. Es fehlte dazwischen der riesige Leib des Schiffes.
Den Sonnenaufgang verschlief Kamow. Der erschöpfte Organismus forderte sein Recht. Er erwachte erst gegen Mittag.
Kamow beschloß, Hapgoods Raumschiff aufzusuchen, sich daraus die nötige Menge Wasser und Nahrungsmittel zu nehmen und dann zu dem Obelisk zurückzukehren. Daß er es in dem amerikanischen Schiff weitaus bequemer haben konnte, daran mochte er nicht denken. Er wollte die letzten Tage hier verbringen.
Die Spuren der Gleisketten waren verweht: Wind und Sand hatten sie zugeschüttet.
Kamow lenkte den Wagen nach Westen. Dort wird er das Schiff suchen, wenn er hundertfünfzig Kilometer zurückgelegt hat. Er erinnerte sich, daß Paitschadse und er während der ersten Ausfahrt den Kurs genau nach Westen gehalten hatten und nirgends abgebogen waren. Dieser Umstand kam ihm sehr zustatten. Andernfalls wäre es eine unlösbare Aufgabe gewesen, das kleine Schiff inmitten der endlosen Wüste zu finden.
Der einzige Orientierungspunkt unterwegs, der „Sumpf“, lag fünfzig Kilometer entfernt; Kamow, der diese Strecke durchfuhr, gewann die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein. Er erkannte die denkwürdige Stelle leicht, die zu erreichen er und Melnikow sich so beeilt hatten. Nun fuhr der Geländewagen schneller.
Als der Kilometerzähler anzeigte, daß hundertfünfzig Kilometer zurückgelegt waren, hielt Kamow den Wagen an, stieg aus und kletterte aufs Verdeck.
Das amerikanische Schiff war nirgends zu sehen.
Ohne Zweifel, er war vom damaligen Weg abgewichen.
Aber um wieviel?
Nach kurzem Überlegen beschloß Kamow, nach rechts abzubiegen und in dieser Richtung zehn Kilometer zu fahren. Wenn er das Schiff nicht entdeckte, wollte er auf der Wagenspur zurückkehren und das gleiche Manöver nach links wiederholen. Ließ sich das Schiff auch auf dieser Seite nicht finden, so würde er es weitersuchen, indem er immer größere Kreise beschrieb. Umzukehren, ohne das Schiff gefunden zu haben, bedeutete, Hungers zu sterben.
Kamow wußte, daß er nur wenig vom Weg abgewichen sein konnte. Das Ziel mußte irgendwo in der Nähe sein.
Tatsächlich, als er etwa acht Kilometer zurückgelegt hatte, sah er linker Hand einen Sandhügel. Im ersten Augenblick glaubte er, wiederum auf Felsen gestoßen zu sein; aber als er näher hinsah, erkannte er das amerikanische Raumschiff, vor dem der Sturm, der hier einem Hindernis begegnet war, einen Sandberg aufgehäuft hatte.
Die Eingangstür war unter diesem Berg verschüttet.
Kamow arbeitete nicht weniger als drei Stunden, bis er zu ihr vordringen konnte. Zum Glück waren die Spaten, die sie auf ihrer letzten Fahrt hierher mitgenommen hatten, im Wagen liegengeblieben. Ohne Spaten hätte er den Sand mit den Händen wegschaufeln müssen.
Zum dritten Male betrat er nun das Innere des amerikanischen Schiffes.
Neben dem Steuerpult sah er den dicken Briefumschlag, den er selbst hingelegt hatte, den Umschlag mit dem Protokoll über das Ableben des Kommandanten dieses Schiffes.
›Welch merkwürdige Fügung des Schicksals‹, dachte Kamow. ›Beide Weltraumschiffe haben auf dem Mars ihre Konstrukteure verloren.
Er fand den Aluminiumkasten, in dem Proviant lag, aber Getränke fand er nicht. Hatten die Amerikaner denn nichts zu trinken gehabt? Irgendwo mußte doch zumindest Wasser sein. Mehr noch als der Hunger plagte Kamow jetzt der Durst. Er begann zu suchen; dabei wunderte er sich immer mehr über das Durcheinander von Behältern, Flaschen, Kisten und verschiedenartigen Gefäßen, zwischen denen man sich kaum rühren konnte.
Als er den Hahn eines Stahlbehälters aufdrehte, entdeckte er darin Alkohol. Komischer Einfall‹, dachte er, Alkohol in solcher Menge auf eine kosmische Reise mitzunehmen, und noch dazu in einem so schweren Gefäß! In anderen Behältern war flüssiger Sauerstoff. Viele Behälter waren leer.
Ein großer Aluminiumtank enthielt Wasser. Es roch scharf nach Metall und, wie ihm schien, auch nach Gummi.
Von dem Tank führten Schläuche zu zwei länglichen, sargähnlichen Kästen. Das Wasser war offensichtlich nicht zum Trinken bestimmt.
Endlich fand er mehrere Flaschen mit Orangensaft. ›Sehr schön! Was will ich mehr?‹ dachte er.
Nachdem Kamow Hunger und Durst gestillt hatte, forschte er nach Schreibpapier. Hapgood war Wissenschaftler, sagte er sich, er muß Beobachtungen angestellt und niedergeschrieben haben.
Neben dem Steuerpult stand ein großer gelber Lederkoffer. Die Schlösser ließen sich nicht öffnen. Der Schlüssel fehlte. ›Das muß Hapgoods Koffer sein‹, überlegte Kamow. Sicherlich hat er darin seine Notizen verwahrt.‹ Die Schlösser waren stark und machten ihm lange zu schaffen.
Endlich war der Koffer geöffnet. Zwei dicke Hefte lagen obenauf. Kamow sah sie flüchtig durch und legte sie beiseite. Sie enthielten Aufzeichnungen astronomischer Beobachtungen. Ganz unten, auf dem Kofferboden, lagen eine lederne Aktentasche und ein Bündel Zeichnungen.
Kamow machte die Mappe auf. Ihr Inhalt waren engbeschriebene Blätter. Schon ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu begreifen, was das war. Kamow stockte der Atem.
In qualvoller Erregung griff er nach dem Bündel und schnürte es auf. Oh, wenn er das gewußt hätte — er wäre sofort hierhergeeilt! Was er jetzt vor Augen hielt, könnte ihn gerettet haben.
Vor ihm lag das Projekt des amerikanischen Raumschiffes. Was für ein Hohn des Schicksals, ihm diesen Fund in die Hände zu spielen, jetzt, da er völlig nutzlos für ihn war!
Zuviel Zeit hatte er schon verloren …
Kamow sah mechanisch Hapgoods Aufzeichnungen durch und suchte, ohne sich dessen bewußt zu sein, nach den Daten über die Geschwindigkeit des Schiffes.
„30,75 km in der Sekunde.“
„Und die Erde bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von neunundzwanzig Komma sechsundsiebzig“, sagte er laut. Die Bogen entglitten seinen Händen. Zu spät!
Mit knapp einem Kilometer in der Sekunde mehr konnte er die verlorene Zeit nicht wettmachen. Dieser Kilometer ermöglichte eine Einsparung von höchstens dreißig Stunden, und auch die drei Stunden, die Kamow zur Verfügung standen, um sich mit dem Raumschiff vertraut zu machen, reichten bei weitem nicht aus. Der Hoffnungsfunke erlosch.
Etwa zwei Stunden lang studierte Kamow das Projekt. In die Welt der Technik vertieft, vergaß er ganz seine verzweifelte Lage. Die Zeit hörte für ihn auf zu existieren.
Doch plötzlich zuckte er zusammen, und seine Augen hefteten sich auf eine kurze Formel, die mit einem Male ins Riesenhafte wuchs und alles andere verdrängte.
Aber natürlich! Daß er daran nicht gedacht hatte! Fünfzig Meter! — eine Beschleunigung, bei der sich die Schwerkraft verfünffacht!
Nun wurde ihm auch klar, welche Bewandtnis es mit den Aluminiumkästen und dem daran angeschlossenen Wasserbehälter hatte. Er bezweifelte jedoch, daß das Wasserbad den Schaden, den der Organismus durch eine solche Beschleunigung erleiden mußte, verringern konnte.
Aber wenn Hapgood nicht an eine begrenzte Beschleunigung gebunden war, dann hatte sein Motor vielleicht genügend Reserven, um auch diese Geschwindigkeit noch zu überschreiten …
Zum dritten Male im Lauf eines Tages keimte in Kamow die Hoffnung auf Rettung auf. Nachdem er die technischen Daten des Motors gefunden hatte, war es ihm ein leichtes, festzustellen, daß sich die Beschleunigung auf fünfund-fünfzig Meter erhöhen ließ.
Das entschied alles. Zwar konnte ihn eine derartige Beschleunigung gleich in den ersten Flugminuten töten, aber es war die einzige Möglichkeit, die Erde einzuholen.
Die Erde
Am 11. Februar um acht Uhr morgens fanden wir uns alle im Observatorium ein. Die letzten Flugstunden brachen an.
Die Erde war ganz nahe. Im Schiff war alles „klar zur Landung“. Ich hielt wie immer meine Apparate bereit und stand an meinem Fenster. Paitschadse hantierte an seinen astronomischen Geräten. Er war in diesen Wochen zusehends abgemagert. Arsen Georgijewitsch trug an dem Verlust am schwersten von uns allen. Er und Kamow hatten sich sehr gut verstanden. Die unvergeßlichen Stunden ihrer historischen Mondfahrt hatten sie eng miteinander verbunden.
Um acht Uhr dreißig war das Schiff mit dem Erdtrabanten auf gleicher Höhe. Wir flogen in etwa zweihundert Kilometer Abstand an ihm vorbei. Gleich danach erblickten wir den heimatlichen Planeten.
Mein Herz begann freudig zu schlagen. Die Kehle war mir wie zugeschnürt. Die Erde! Sie leuchtete vor dem schwarzen Hintergrund des Raumes als bläuliche Scheibe, umgeben von dem schmalen Lichthof der schimmernden Atmosphäre. Das Schiff flog genau auf sie zu.
Ebenso wie beim Anflug der Venus sollte das Raumschiff die Landung auf der Erde in siebenundvierzig Minuten bewältigen und einundvierzigtausend Kilometer von der Erdoberfläche entfernt mit dem Abstieg beginnen.
Als die Motoren zu bremsen begannen, waren wir der Erde schon so nahe, daß ich mühelos Asien erkannte, das von hellem Sonnenschein überflutet war. Europa umhüllte noch der Schatten der Nacht. Ohne es zu merken, waren wir in die Atmosphäre eingetaucht.
Ich hatte gedacht, unser Schiff würde direkt über Moskau niedergehen, aber als er in dreißig Kilometer Höhe zum horizontalen Flug ansetzte, sah ich unter uns die Berge des Ural. Belopolski führte das Schiff westwärts und ging allmählich immer tiefer. Wir näherten uns Moskau.
Das Schiff war in tausend Meter Höhe, als am Horizont das Panorama der Hauptstadt auftauchte. Das Raumschiff hielt auf den Raketenflugplatz zu.
Unter uns sahen wir das riesige Rollfeld. Von dort hatten wir unsere Reise angetreten. Nun kehrten wir wieder zu ihm zurück. Menschenleer lag es da unter seiner glatten weißen Schneedecke. Von der hohen Einfassungsmauer grüßten unzählige Fahnen herauf. Zahlreiche Freunde hatten sich zu unserem Empfang eingefunden.
Die letzte Schleife. Wir landeten. Die Motoren verstummten. Weich setzten die Räder auf dem Boden auf.
Belopolski öffnete die beiden Türen der Ausstiegkammer vom Pult aus. Die Aluminiumleiter rasselte in den Schnee.
Nacheinander verließen wir das Schiff.
Einem Auto entstieg Akademiemitglied Woloschin, der Vorsitzende der Regierungskommission. Er kam auf uns zu.
Belopolski legte die Hand grüßend an den Helm. Gleich würde er Woloschin die Erfüllung des Auftrags melden und in der knappen Sprache des Rapports vom Tod des Raumschiffkommandanten berichten, und nur drei Schritte entfernt stand freudestrahlend, einen riesigen Blumenstrauß im Arm, Serafima Petrowna Kamowa. Sah sie denn nicht, daß ihr Mann nicht unter uns war? Warum zeigte Woloschin keinerlei Verwunderung darüber, daß ihm Belopolski Bericht erstattete und nicht Kamow?
Die furchtbaren Worte waren gesprochen, aber auf Serafima Petrownas Gesicht lag immer noch das Lächeln von vorhin.
Nach dem Rapport umarmte Woloschin den Schiffskommandanten. „Ich beglückwünsche Sie zum glanzvollen Abschluß der ersten kosmischen Reise“, sagte er laut.
„Durch Ihre glückliche Rückkehr haben Sie unserer Heimat ein herrliches Geschenk gemacht. So nehmen denn auch Sie ein Geschenk in Empfang.“
Die Mitglieder der Kommission traten auseinander. Mit Blumen im Arm schritt rasch der Mann auf uns zu, dem all unsre Gedanken in den vergangenen sechs Wochen gegolten hatten: Heil und munter, mit freudestrahlenden Augen, stand vor uns Sergej Alexandrowitsch Kamow.
Kamow und Paitschadse stürzten einander in die Arme.
* * *
Die kosmische Reise ist beendet. Der erste Versuch, zu anderen Planeten vorzudringen, ist geglückt.
In knapp siebeneinhalb Monaten hat unser Weltraumschiff zwei Planeten des Sonnensystems besucht und ist nach einem Flug von mehr als einer halben Milliarde Kilometern wieder zur Erde zurückgekehrt.
Wir werden uns zu vielen weiteren Reisen rüsten. Unsere Weltraumschiffe werden auf unzähligen Flugbahnen durch die Weiten des Universums ziehen. Sie werden alle die Geheimnisse ergründen, die von der Natur heute noch eifersüchtig gehütet werden. Der forschende Blick des Menschen wird in die entferntesten Winkel unserer Welt, unseres Sonnensystems, dringen. Der Erkenntnis sind keine Grenzen gesetzt!
ENDE