Maigret in Arizona

Georges Simenon

1949

1

Inhaltsverzeichnis

Maigret als Deputy-Sheriff

Der Klassenbeste

Der kleine Chinese, der nicht getrunken hat

Der Mann, der die Uhren aufzog

Die Aussage des Chauffeurs

Das Defilee der Kollegen

Die Fragen des Kommissars

Das Einschreiten des Negers

Die flache Flasche des Sergeants

Maigret als Deputy-Sheriff

»He! Sie!«

Maigret blickte sich um, wie in der Schule, um zu sehen, wer gemeint war.

»Ja, Sie da hinten …«

Der abgemagerte Greis mit dem gewaltigen weißen Schnurrbart, eine Erscheinung, die lebendig aus der Bibel erstanden schien, streckte einen zitternden Arm aus. Auf wen? Maigret schaute seinen Nachbarn, seine Nachbarin an. Schließlich merkte er betroffen, daß sich alle ihm zugewandt hatten, selbst der Coroner sowie der Sergeant der Air Force, der verhört wurde, und der Attorney, die Geschworenen, die Sheriffs.

»Ich?« fragte er und machte Anstalten, sich zu erheben, so erstaunt war er, daß man ihn brauchte.

Doch all diese Gesichter lächelten, als wüßten alle Anwesenden außer ihm Bescheid.

»Ja«, sagte der Greis, der aussah wie Hesekiel oder auch wie Clemenceau. »Wollen Sie bitte sofort Ihre Pfeife ausmachen!«

Er erinnerte sich nicht einmal, sie angezündet zu haben. Verwirrt behielt er Platz und stammelte eine Entschuldigung, während seine Nachbarn lachten, es war jedoch ein freundliches Lachen.

Nein, es war kein Traum. Er war hellwach. Er, Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei, wohnte hier, über zehntausend Kilometer von Paris entfernt, der Untersuchung eines Coroners bei, der weder Jacke noch Weste anhatte und dennoch würdig und wohlerzogen wirkte wie ein Bankangestellter.

Im Grunde war er sich völlig klar darüber, daß sein Kollege Cole sich ihn auf höfliche Art vom Halse geschafft hatte, aber er konnte ihm nicht böse sein, denn er hätte es an der Stelle des FBI-Beamten genauso gemacht. Hatte er nicht automatisch ähnlich gehandelt, als er vor zwei Jahren den Auftrag erhalten hatte, für seinen Kollegen von Scotland Yard, Mister Pyke, den Lotsen zu spielen, und hatte er ihn nicht oft auf der Terrasse irgendeines Cafés sitzenlassen, wie man einen Schirm an der Garderobe abgibt, und ihm mit einem beruhigenden Lächeln gesagt:

»Ich bin gleich wieder da…«

Mit dem Unterschied allerdings, daß die Amerikaner herzlicher waren. Ob in New York oder in den zehn oder elf Staaten, die er in der letzten Zeit durchreist hatte, alle klopften ihm auf die Schulter.

»Wie heißen Sie mit Vornamen?« Er konnte ihnen doch nicht antworten, er habe keinen. So sah er sich gezwungen, zu gestehen, daß er Jules hieß. Darauf dachte sein Gesprächspartner einen Augenblick nach.

»Oh, yes Julius!«

Er sprach es Dschuljes aus, was für ihn wohl weniger schlimm klang.

»Have a drink, Julius!«

Und so hatte er auf dem langen Weg in einer Vielzahl von Bars eine Unmenge Biere, Manhattans und Whiskys getrunken.

Gerade vor dem Mittagessen hatte er noch mit dem Bürgermeister von Tucson und dem Sheriff der County, dem Harry Cole ihn vorgestellt hatte, dem Alkohol zugesprochen.

Was ihn am meisten erstaunte, war nicht so sehr die Umgebung oder die Bevölkerung, sondern er selbst oder vielmehr die Tatsache, daß er, Maigret, sich hier aufhielt, in einer Stadt von Arizona, und daß er im Augenblick zum Beispiel auf einer der Bänke in einem kleinen Saal eines Amtsgerichts saß.

Hatte man vor dem Essen etwas getrunken, so hatte man zu den Speisen eiskaltes Wasser aufgetragen. Der Bürgermeister war sehr nett gewesen. Und der Sheriff hatte ihm ein kurzes Schreiben und die hübsche silberne Plakette eines Deputy-Sheriffs überreicht, wie man es in den Cowboy-Filmen sehen kann.

Von denen hatte er schon acht oder neun entgegengenommen, er war bereits Deputy-Sheriff von acht oder neun Counties in New Jersey, Maryland, Virginia, North oder South Carolina und er wußte nicht mehr genau, ob von New Orleans und Texas.

In Paris hatte er häufig ausländische Kollegen empfangen, doch er selbst machte jetzt zum erstenmal eine solche Reise, eine Studienfahrt, wie man das offiziell nennt, »um sich über die amerikanischen Methoden zu informieren«.

»Sie sollten ein paar Tage in Arizona verbringen, bevor Sie nach Kalifornien fahren. Das liegt auf Ihrem Weg.«

Immer lag es auf seinem Weg. So brachte man ihn dazu, Hunderte von Meilen zurückzulegen. Was die Leute dort als kleinen Umweg bezeichneten, konnte drei oder vier Tage in Anspruch nehmen.

»Das liegt ganz in der Nähe!«

Mit anderen Worten bedeutete dies, daß es ein oder gar zweimal soweit entfernt lag wie Marseille von Paris, und es kam vor, daß er einen ganzen Tag in einem Pullman fuhr, ohne eine richtige Stadt zu erblicken.

»Morgen«, hatte Cole, der Mann vom FBI, zu ihm gesagt, der ihn in Arizona betreute, »werden wir uns mal die mexikanische Grenze ansehen. Das sind nur zwei Schritte.«

Diesmal meinte er damit an die hundert Kilometer.

»Das wird Sie interessieren; denn über Nogales, die Grenzstadt, die sich beiderseits der Ländergrenze erstreckt, wird, das meiste Marihuana geschmuggelt.«

Er hatte erfahren, daß Marihuana, eine mexikanische Pflanze, beiden Süchtigen allmählich Opium und Kokain ersetzt.

»Dort wird auch der größte Teil der Autos, die in Kalifornien gestohlen werden, außer Landes gebracht.«

Vorerst aber hatte Harry Cole ihn eindeutig abgeschüttelt. Er schien an diesem Nachmittag etwas vorzuhaben.

»Vor dem Coroner findet gerade eine Verhandlung statt. Würde es Ihnen Spaß machen, ihr beizuwohnen?«

Er hatte Maigret hingeleitet und ihm einen Platz auf einer der drei Bänke in dem kleinen Saal mit den weißen Wänden verschafft, wo die amerikanische Flagge hinter dem Friedensrichter hing, der das Amt des Coroners versah. Cole hatte nichts davon angedeutet, daß er seinen französischen Kollegen sich selbst überlassen würde. Er hatte einige Hände gedrückt, auf ein paar Schultern geklopft. Dann hatte er beiläufig gesagt:

»Ich hole Sie nachher wieder ab.«

Maigret wußte nicht, was verhandelt wurde. Niemand im Raum hatte eine Jacke an. Allerdings betrug die Temperatur an die fünfundvierzig Grad. Die sechs Geschworenen saßen auf derselben Bank wie er, jedoch am anderen Ende, in der Nähe der Tür, und unter ihnen befanden sich ein Neger, ein Indianer mit starken Kieferknochen, ein Mexikaner, der den beiden ein wenig ähnelte, und eine ältere Frau, die ein geblümtes Kleid und einen Hut trug, der komisch in die Stirn gedrückt saß.

Von Zeit zu Zeit stand Hesekiel auf und versuchte, den riesigen Ventilator zu regulieren, der an der Decke surrte und soviel Krach machte, daß man die Stimmen kaum vernahm.

Es schien alles recht locker zuzugehen. In Frankreich hätte Maigret gesagt: ohne Umstände. Der Coroner saß auf einem Podium, und zu seinem blütenweißen Hemd hatte er eine seidene Krawatte mit Rankenmuster umgebunden.

Der Zeuge oder der Angeklagte, Maigret wußte es nicht genau, hatte nicht weit von ihm auf einem Stuhl Platz genommen. Es war ein Sergeant der Luftwaffe in Khakiuniform. Vier weitere saßen in einer Reihe den Geschworenen gegenüber und machten den Eindruck von übereifrigen Schülern.

»Erzählen Sie uns, was sich am Abend des 27. Juli zugetragen hat.«

Dies war Sergeant Ward, Maigret hatte seinen Namen verstanden. Er war mindestens ein Meter fünfundachtzig groß und hatte blaue Augen unter dichten schwarzen Brauen, die an der Nasenwurzel zusammentrafen.

»Ich habe Bessy gegen halb acht in ihrer Wohnung abgeholt.«

»Lauter! Wenden Sie sich den Geschworenen zu. Können die Geschworenen ihn verstehen?«

Die Herren schütteltén die Köpfe. Sergeant Ward räusperte sich, um eine klare Stimme zu bekommen.

»Ich habe Bessy gegen halb acht in ihrer Wohnung abgeholt.«

Maigret mußte sich doppelt anstrengen, denn seit seiner Schulzeit hatte er selten Gelegenheit gehabt, seine englischen Sprachkenntnisse anzuwenden, und so entgingen ihm einige Wörter, Redewendungen ließen ihn den Faden verlieren.

»Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wie lange kennen Sie Bessy Mitchell schon?«

Der Sergeant überlegte wie ein guter Schüler, bevor er auf eine Frage des Lehrers antwortet. Eine Sekunde sah er zu jemandem hinüber, der neben Maigret saß und den der Kommissar noch nicht kannte.

»Seit sechs Wochen.«

»Wo haben Sie sie kennengelemt?«

»In einem Drive-in, wo sie Kellnerin war.«

Maigret waren diese Drive-in-Restaurants nicht unbekannt. Oft hielten die mit einer Führung beauftragten Kollegen vor allem abends vor einem kleinen Lokal am Straßenrand an. Man stieg nicht aus. Eine junge Frau kam, nahm die Bestellung entgegen, brachte einem Sandwiches, Hot dogs oder Spaghetti auf einem Tablett, das an die Autotür gehängt wurde.

»Haben Sie sexuelle Beziehungen mit ihr gehabt?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Auch an jenem Abend?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wo war das?«

»Im Wagen. Wir haben in der Wüste gehalten.«

Die Wüste, Sand und Kakteen, begann vor den Toren der Stadt. Wüstenstreifen erstreckten sich sogar zwischen den einzelnen Stadtvierteln.

»Haben Sie sie nach diesem Datum oft wiedergesehen?«

»Etwa dreimal in der Woche.«

»Und jedesmal hatten Sie Verkehr mit ihr?«

»Nein, Euer Ehren.«

Maigret rechnete fast damit, den kleinen pedantischen Richter nach dem Warum fragen zu hören.

Doch seine Frage lautete:

»Wie häufig?«

»Einmal die Woche.«

Nur der Kommissar zeigte ein leichtes Lächeln.

»Immer in der Wüste?«

»In der Wüste oder bei ihr zu Hause.«

»Lebte sie allein?«

Sergeant Ward betrachtete die Gesichter auf den Bankreihen, deutete auf eine junge Frau, die links von Maigret saß.

»Sie lebte mit Erna Bolton zusammen.«

»Was haben Sie am 27. Juli getan, nachdem Sie Bessy Mitchell in ihrer Wohnung abgeholt hatten?«

»Ich habe sie in die Penguin Bar geführt, wo meine Freunde auf mich warteten.«

»Welche Freunde?«

Diesmal wies er auf die anderen vier Soldaten in Fliegeruniform und nannte sie bei Namen.

»Dan Mullins, Jimmy van Fleet, O’Neil und Wo Lee.«

Letzterer war ein Chinese, der kaum sechzehn Jahre alt zu sein schien.

»Waren weitere Personen mit Ihnen in der Penguin Bar?«

»Nein, Euer Ehren. Nicht an unserem Tisch.«

»Saßen Leute meinem anderen Tisch?«

»Da war noch Bessys Bruder, Harold Mitchell.«

(Das war Maigrets rechter Nachbar, und der Kommissar hatte bemerkt, daß er unter dem Ohr einen dicken Furunkel hatte.)

»War er allein?«

»Nein. Zusammen mit Erna Bolton, dem Musiker und Maggie.«

»Wie alt war Bessy Mitchell?«

»Sie hatte mir gesagt: dreiundzwanzig.«

»Wußten Sie, daß sie in Wirklichkeit erst siebzehn war und damit noch keine Bar besuchen durfte?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sind.Sie sicher, daß ihr Bruder es Ihnen nicht gesagt hat?«

»Er hat es mir später verraten, als sie bei dem Musiker anfing, Whisky aus der Flasche zu trinken. Er hat mir gesagt, er wolle nicht, daß man seiner Schwester Alkohol gibt, daß sie minderjährig sei und er die Aufsicht über sie habe.«

»War Ihnen nicht bekannt, daß Bessy verheiratet und bereits geschieden war?«

»Nein, Euer Ehren. «

»Haben Sie ihr die Heirat versprochen?«

Sergeant Ward zögerte sichtlich.

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie wollten sich scheiden lassen, um sie zu heiraten?«

»Ich hatte ihr gesagt, daß ich es tun würde.«

Im Türrahmen stand ein dicker Deputy-Sheriff — ein Amtsbruder — in gelblicher Leinenhose, aufgeknöpftem Hemd und einem Ledergürtel voller Patronen; ein gewaltiger Revolver mit Hornkolben hing an seinem Gesäß…

»Haben Sie alle miteinander getrunken?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Haben Sie viel getrunken? Wieviel Gläser etwa?«

Ward schloß einen Moment die Augen, um es im Kopf zu überschlagen.

»Ich habe sie nicht gezählt. Nach den Runden zu urteilen, waren es vielleicht fünfzehn oder zwanzig Bier.«

»Für jeden?«

Und er ganz offen:

»Ja, Euer Ehren. Und auch ein paar Whiskys.«

Merkwürdigerweise schien das niemanden sonderlich zu überraschen.

»Und in der Penguin Bar hatten Sie eine heftige Auseinandersetzung mit Bessys Bruder?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Stimmt es, daß er Ihnen vorwarf, Beziehungen zu seiner Schwester zu unterhalten, obgleich Sie verheiratet sind?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Hat er Ihnen das nie vorgeworfen? Er hat Sie nicht gebeten, seine Schwester in Ruhe zu lassen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Aus welchem Anlaß haben Sie mit ihm Streit gehabt?«

»Ich habe von ihm das Geld zurückgefordert, das er mir schuldete.«

»Handelte es sich um eine größere Summe?«

»Etwa zwei Dollar.«

Kaum der Preis für eine der zahlreichen Runden in der Penguin Bar.

»Haben Sie sich geschlagen?«

»Nein, Euer Ehren. Wir sind auf den Gehsteig hinausgegangen. Wir haben uns auseinandergesetzt und sind in die Bar zurückgekehrt, um zusammen einen zu trinken.«

»Sie waren betrunken?«

»Noch nicht sehr.«

»Und weiter ist im Penguin nichts passiert?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sie haben also nur getrunken, und zwar bis ein Uhr morgens, da dann das Lokal geschlossen wird.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Hat nicht einer Ihrer Kameraden Bessy den Hof gemacht?«

Sergeant Ward brauchte eine Weile, bis er zugab:

»Sergeant Mullins.«

»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Nein. Ich habe es so eingerichtet, daß er nicht neben ihr saß.«

Sein Kamerad Mullins war ebenso groß wie er, hatte auch dunkelbraunes Haar; die Mädchen mußten ihn für einen hübschen Jungen halten, der irgendwie an einen Filmstar erinnerte, ohne daß man hätte sagen können, an welchen.

»Was geschah morgens um eins?«

»Wir sind zu dem Musiker Tony Lacour gegangen.«

Er mußte sich ebenfalls im Saal befinden, doch Maigret kannte ihn nicht.

»Wer hat die zwei Flaschen Whisky bezahlt, die Sie mitgenommen haben?«

»Ich glaube, Wo Lee hat eine von ihnen bezahlt.«

»Hat er während des ganzen Abends mit Ihnen getrunken?«

»Nein, Euer Ehren. Caporal Wo Lee trinkt nicht und raucht nicht. Er hat darauf bestanden, etwas zu bezahlen.«

»Wieviel Zimmer hat die Wohnung des Musikers?«

»Ein Schlafzimmer … einen kleinen Wohnraum … ein Bad und eine Küche …«

»In welchem Raum haben Sie sich aufgehalten?«

»In allen, Euer Ehren.«

»In welchem Zimmer haben Sie sich mit Bessy gestritten?«

»In der Küche. Wir haben uns nicht gestritten. Ich traf Bessy an, wie sie Whisky aus der Flasche trank. Es war nicht das erste Mal, daß das geschah.«

»Sie meinen, nicht zum erstenmal an diesem Abend?«

»Ich will sagen, daß das vor dem 27. Juli schon vorgekommen ist. Ich wollte nicht, daß sie soviel trinkt, denn hinterher war ihr immer schlecht.«

»Befand sich Bessy allein in der Küche?«

»Sie war mit ihm zusammen.«

Mit einer Kinnbewegung deutete er auf Sergeant Mullins.

Und da passierte es Maigret, der bisher unbeteiligt und schläfrig gewesen war und von dem ganzen Fall nichts wußte, daß er manchmal den Mund öffnete, als brenne ihm eine Frage auf den Lippen.

»Wer hat vorgeschlagen, für den Rest der Nacht mit dem Wagen nach Nogales zu fahren?«

»Das war Bessy.«

»Wie spät war es da?«

»Etwa drei Uhr morgens. Vielleicht halb drei.«

Nogales war jene Grenzstadt, Zu der Harry Cole den Kommissar führen wollte. Während die Bars in Tucson früh um eins schließen, kann man jenseits des Schlagbaums zu jeder Nachtstunde etwas zu trinken bekommen.

»Wer ist in Ihren Wagen gestiegen?«

»Bessy und meine vier Kammeraden.«

»Bessys Bruder hat Sie nicht begleitet, auch nicht der Musiker, Erna Bolton oder Maggie Wallach?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sie wissen nicht, was die gemacht haben?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wie war anfangs die Sitzverteilung im Auto?«

»Bessy saß vorne, neben mir, dem Fahrer, und dem Sergeanten Mullins. Die drei anderen hatten hinten Platz genommen.«

»Haben Sie nicht kurz angehalten, bevor Sie die Stadt verließen?«

»Doch, Euer Ehren.«

»Und Sie hatten Bessy gebeten, sich woanders hinzusetzen. Warum?«

»Damit sie nicht mehr neben Dan Mullins saß.«

»Sie haben sie mit Caporal van Fleet den Platz tauschen lassen. War es Ihnen gleichgültig, daß sie hinter Ihrem Rücken mit den beiden anderen im Dunkeln saß?«

»Ja, Euer Ehren.«

Plötzlich beinerkte der Coroner, ohne daß man es hätte voraussehen können:

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Er erhob sich und ging in den Nebenraum, auf dessen Glastür das Wort »Privat« stand. Hesekiel zog eine riesengroße Pfeife aus der Tasche, zündete sie an und warf Maigret einen merkwürdigen Blick zu.

Alle verließen den Saal: die Geschworenen, die Soldaten, die Frauen, die wenigen Neugierigen.

Man befand sich im Erdgeschoß eines weiträumigen, in spanischem Stil errichteten Gebäudes mit Säulengängen um einen Innenhof, dessen einer Flügel das Gefängnis beherbergte, während der andere den verschiedenen Verwaltungsstellen der County diente.

Die fünf Flieger der Air Force setzten sich an den Rand der Kolonnade, und Maigret fiel auf, daß sie nicht miteinander sprachen. Es war glühend heiß. In einer Ecke der Galerie stand ein roter Automat, in den die Leute fünf Cents steckten und dafür eine Flasche Coca-Cola erhielten.

Fast alle begaben sich dorthin, einschließlich des Herrn mit den grauen Haaren, der vermutlich der Attorney des Distrikts war. Jeder trank ungeniert aus der Flasche und stellte sie dann in einen bereitstehenden Kasten.

Maigret kam sich ein wenig wie ein Knabe in seiner ersten Pause in einer neuen Schule vor, aber es verlangte ihn nicht mehr danach, daß ihn Harry Cole umgehend abholte.

Bisher war es ihm nie passiert, daß er ohne Jacke einen Gerichtssaal betreten hatte, und diese Frage der Kleidung war für ihnzu einem Problem geworden. Kaum hatte er eine bestimmte Linie in Virginia überschritten, da wurde ihm klar, daß er nicht länger seine Tage im Jackett und mit steifem Kragen verbringen könnte.

Aber sein Leben lang hatte er Hosenträger getragen. Seine in Frankreich geschneiderte Hose reichte ihm bis zur halben Höhe der Brust.

Er wußte nicht mehr, in welcher Stadt ein Kollege ihn kurzerhand in ein Konfektionsgeschäft geführt und ihn bewogen hatte, eine dieser leichten Hosen zu kaufen, die hier alle Männer trugen, mit einem Ledergürtel, dessen breite silberne Schnalle einen Ochsenkopf zeigte.

Andere, die aus dem Osten kamen, waren weniger bescheiden als er und stürzten in die Kaufhäuser, aus denen sie, von Kopf bis Fuß als Cowboy gekleidet, wieder heraustraten.

Er bemerkte, daß zwei der Geschworenen, die dennoch sehr gesetzt erschienen, unter ihren Hosen Stiefel mit hohen Absätzen und bunten Verzierungen anhatten.

Die Trommelrevolver, die den Gürtel der Sheriffs schmückten, faszinierten ihn, denn sie entsprachen haargenau denen, die er seit seiner Jugend in den Westernfilmen gesehen hatte.

»Hello, Geschworene!« rief Hesekiel ungeniert wie ein Schulmeister, der seine Zöglinge um sich schart.

Er klatschte in die Hände, klopfte seine Pfeife am Schuhabsatz aus und blickte dabei verstohlen auf Maigrets Tabakswolken.

Der Kommissar fühlte sich nicht mehr so neu. Er nahm seinen Platz wieder ein; allerdings hatten sich jetzt Harold Mitchell, der Bruder mit dem Furunkel unter dem Ohr, und Erna Bolton, die er unabsichtlich voneinander getrennt hatte, nebeneinander gesetzt und unterhielten sich leise.

Letzlich wußte er immer noch nicht, ob es in dieser Geschichte von Bier, Whisky und wöchentlichem Sexualverkehr einen Toten gab. Was ihm mehr oder weniger vertraut war, weil er es in England miterlebt hatte, war der Ablauf einer Untersuchung durch den Coroner.

Artig, fast schüchtern, setzte Sergeant Ward sich wieder auf seinen Stuhl. Hesekiel war erneut mit der Einstellung des Ventilators beschäftigt, und der Coroner fuhr mit gleichgültiger Miene fort:

»Sie haben den Wagen ungefähr acht Meilen von der Stadt entfernt angehalten, kurz hinter dem städtischen Flugplatz. Warum?«

Maigret begriff nicht sofort. Zum Glück sprach Ward so leise, daß er seine Antwort wiederholen mußte, und das Erröten des langen Burschen half dem Kommissar, den Sinn zu erraten.

»Drang zu den Latrinen, Euer Ehren.«

Vielleicht fand er kein dezenteres Wort, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie mal austreten mußten.

»Sind alle ausgestiegen?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe mich etwa zehn Meter entfernt.«

»Allein?«

»Nein, Euer Ehren. Mit ihm!«

Er deutete abermals auf Mullins, auf den er wütend zu sein schien.

»Sie wissen nicht, wohin Bessy während dieser Zeit gegangen ist?«

»Ich vermute, daß sie sich auch entfernt hat.«

Es war schwer, nicht an die zwanzig Gläser Bier zu denken, die jeder hinuntergekippt hatte.

»Wie spät war es da?«

»Zwischen drei und halb vier, nehme ich an. Ich weiß es nicht genau.«

»Haben Sie Bessy gesehen, als Sie zum Auto zurückkamen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Und Mullins?«

»Er kehrte wenige Augenblicke später zurück.«

»Woher?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was haben Sie zu Ihren Kameraden gesagt?«

»Ich habe gesagt: ›Zum Teufel mit diesem Mädchen! Das wird ihr eine Lehre sein!‹«

»Warum?«

»Weil das schon mal vorgekommen ist.«

»Was ist schon mal vorgekommen?«

»Daß sie mich verlassen hat, ohne vorher etwas zu sagen.«

»Und Sie sind umgekehrt?«

»Ja. Ich bin ungefähr hundert Meter in Richtung Tucson gefahren und dann ausgestiegen.«

»Warum?«

»Ich habe vermutet, daß sie versuchen würde, den Wagen zu erreichen, und ich wollte ihr eine Chance geben.«

»War sie betrunken?«

»Ja, Euer Ehren: Aber das war auch nicht das erste Mal. Sie wußte noch, was sie tat.«

»Wohin sind Sie gegangen, als Sie das Auto ver— ließen?«

»Ich bin zur Bahnstrecke gelaufen, die in etwa fünfzig Meter parallel zur Straße durch die Wüste führt.«

»Sind Sie auf den Bahndamm geklettert?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe ungefähr hundert Meter abgeschritten; bis zu der Stelle, wo Bessy uns verlassen hatte. Ich habe ihren Namen gerufen.«

»Sehr laut?«

»Ja. Ich habe sie nicht gesehen. Sie hat nicht geantwortet. Ich habe gedacht, sie wollte mich ärgern.«

»Und dann sind Sie zu Ihrem Wagen zurückgekehrt. Haben Ihre Kameraden nichts gesagt, als Sie den Motor anließen, um nach Tucson zurückzufahren, ohne sich weiter um Bessy zu kümmern?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Meinen Sie, daß Sie sich wie ein Gentleman verhalten haben, als Sie eine Frau mitten in der Nacht in der Wüste alleinließen?«

Ward antwortete nicht. Er hatte eine niedrige Stirn, und Maigret hatte allmählich den Eindruck, daß die dichten Brauen ihm einen leicht beschränkten Ausdruck verliehen.

»Sind Sie direkt zu Ihrem Stützpunkt zurückgefahren?«

Dieser Flugplatz, Davis-Montain, einer der wichtigsten für die B 29, liegt etwa zehn Kilometer von Tucson entfernt, aber in einer ganz anderen Richtung.

»Nein, Euer Ehren. Ich habe drei meiner Kameraden in der Stadt abgesetzt, beim Autobusbahnhof.«

»Einer von ihnen ist bei Ihnen geblieben. Wer?«

»Sergeant Mullins.«

»Warum?«

»Ich wollte Bessy suchen.«

»Sind Sie auf die Straße nach Nogales zurückgekehrt?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe ungefähr an der Stelle angehalten, wo wir zuvor eine Pause gemacht hatten.«

»Sind Sie wieder auf den Bahndamm gegangen?«

Ein recht langes Schweigen.

»Nein. Ich glaube nicht. Ich erinnere mich nicht, den Wagen verlassen zu haben.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin am Steuer aufgewacht, das Auto stand in Richtung Tucson, und vor mir ragte ein Telegrafenmast auf. Ich erinnere mich an diese Stange und an einen Kaktus daneben.«

»Mullins war immer noch bei Ihnen?«

»Er schlief an meiner Seite, das Kinn auf der Brust.«

»Wenn ich recht verstehe, haben Sie also keinerlei Erinnerung an das, was sich zugetragen hat, bevor Sie vor dem Telegrafenmast erwacht sind?«

An einem Zittern der Lippen Wards konnte Maigret erkennen, daß der Sergeant nun etwas Wichtiges aussagen würde.

»Nein, Euer Ehren. Ich stand unter Rauschgifteinfluß.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht betrunken waren?«

»Es ist oft vorgekommen, daß ich soviel oder noch mehr getrunken hatte. Ich habe nie das Bewußtsein verloren. Niemals hat mich jemand bewußtlos gemacht. Ich kenne meine Grenzen. In jener Nacht hat man mir eine Droge verabreicht.«

»Soll das heißen, daß man Ihnen etwas in Ihr Glas getan hat?«

»Oder in eine Zigarette. Als ich wach wurde, habe ich automatisch nach meinen Zigaretten in meiner Tasche gesucht. Ich fand Camel. Aber ich rauche nur Chesterfield. Ich steckte mir eine aus diesem Päckchen an und verlor zum zweitenmal das Bewußtsein.«

»In Mullins Gegenwart?«

»Ja.«

»Verdächtigen Sie Mullins, präparierte Zigaretten in Ihre Tasche gesteckt zu haben?«

»Vielleicht.«

»Haben Sie ihm das beim Erwachen gesagt?«

»Nein.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Nein. Ich habe den Wagen nach Hause gefahren. Ich wohne in der Stadt mit meiner Frau und meinen Kindern. Mullins ist mit in die Wohnung hinaufgekommen. Ich habe ihm ein Kopfkissen zugeworfen, damit er sich auf die Couch legen konnte. Ich habe geschlafen.«

»Wie lange?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Stunde? Um sechs Uhr bin ich mit ihm zum Flugplatz gefahren, um meinen Dienst aufzunehmen, und ich habe meine Maschine startklar gemacht.«

»Worin besteht Ihre Arbeit?«

»Ich bin Mechaniker. Ich überprüfe die technischen Einrichtungen und bleibe am Boden.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Gegen elf habe ich den Flughafen verlassen.«

»Allein?«

»Mit Dan Mullins.«

»Wann haben Sie von Bessys Tod erfahren?«

»Um drei Uhr nachmittags.«

»Wo waren Sie da?«

»In einer Bar in der Fünften Avenue. Ich trank mit Mullins ein Glas Bier.«

»Hatten Sie seit dem Morgen schon viel getrunken?«

»Zehn oder zwölf. Ein Sheriff ist hereingekommen und hat mich gefragt, ob ich Sergeant Ward sei. Ich habe es bejaht, und er hat mich gebeten, ihm zu folgen.«

»Sie wußten noch nicht, daß Bessy tot war?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Es war Ihnen auch nicht bekannt, daß Ihre drei Kameraden, die Sie am Autobusbahnhof abgesetzt hatten, gleich nachdem Sie sich von Ihnen getrennt hatten, mit einem Taxi die Straße nach Nogales zurückgefahren waren?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sie haben das Taxi auf der Landstraße nicht bemerkt? Sie haben den von Nogales kommenden Zug weder gesehen noch gehört?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Auf dem Flughafen haben Sie an jenem Morgen keinen dieser drei Freunde angetroffen?«

»Ich bin dem Sergeant O’Neil begegnet.«

»Hat er Ihnen nichts gesagt?«

»Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Worte. Es war so etwas wie: ›Mit Bessy ist alles o.k.‹«

»Was haben Sie daraus geschlossen?«

»Daß sie wahrscheinlich per Anhalter nach Hause zurückgekehrt ist.«

»Sie haben sie an jenem Tag nicht in ihrer Wohnung aufgesucht?«

»Doch. Als ich den Flugplatz verließ, um elf. Erna teilte mir mit, daß Bessy nicht heimgekommen war.«

»Das war, nachdem Sergeant O’Neil Ihnen gesagt hatte, es sei alles o.k.?«

»Ja.«

»Bedeutete das keinen Widerspruch für Sie?«

»Ich habe gedacht, sie sei woanders hingegangen.«

»Sie haben vorhin gesagt, daß es Ihre Absicht gewesen sei, sich scheiden zu lassen, um Bessy zu heiraten.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie behaupten, sie nicht wiedergesehen zu haben, seit Sie sich mit Sergeant Mullins von Ihrem Auto entfernt haben.«

»Lebend nicht, nein.«

»Haben Sie sie tot wiedergesehen?«

»In der Leichenhalle, zu der mich der Sheriff geführt hatte.«

»Sergeant Mullins saß nicht im Wagen, als Sie nach dem ersten Halt wieder am Steuer Platz nahmen; er kam wenige Augenblicke später zurück?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Keine Fragen, Attorney?«

Der Vertreter der Anklage mit den grauen Haaren schüttelte verneinend den Kopf.

»Noch Fragen, meine Herren Geschworenen?«

Das gleiche Zeichen der fünf Männer und der dicken Frau, die bereits ahnte, was der Coroner jetzt äußern würde, und ihren Strickstrumpf hervorholte.

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Hesekiel zündete seine Pfeife an. Maigret tat es ihm gleich. Alles stürzte zum Säulengang, und man suchte nach Fünf-Cents-Stücken für den roten Coca-Cola-Automaten.

Einige jedoch, vermutlich Eingeweihte, verschwanden durch eine geheimnisvolle Tür, und Maigret bemerkte, daß sie bei ihrer Rückkehr Alkoholgeruch ausströmten.

Im Grunde war er sich der Wirklichkeit dessen, was ihn hier umgab, immer noch nicht ganz sicher. Der alte Neger unter den Geschworenen, der das Haar kurzgeschoren und eine Stahlbrille trug, sah ihn lächelnd an, als seien sie bereits Kumpane, und Maigret lächelte zurück.

Der Klassenbeste

Es kommt vor, daß man in seinem Stammcafé, insbesondere in der Provinz, jemanden sieht, der sich dorthin verirrt hat, weil er auf einen Zug oder eine Verabredung wartet; er sitzt gelangweilt und dösend auf der Wandbank und verfolgt mit gleichgültigem Blick das Kartenspiel am Nebentisch.

Offensichtlich kennt er das Spiel nicht, aber bald versucht er, neugierig geworden, es zu begreifen. Allmählich beugt er sich etwas hinüber, um die Karten der Teilnehmer erkennen zu können. Je nach den Stichen nickt er nun zustimmend oder zeigt Zeichen der Ungeduld, und dann kommt der Augenblick, da er sich mühsam beherrschen muß, um sich nicht einzumischen.

Ein wenig so wie der Eindringling in jenem Provinzcafé kam sich Maigret an diesem Nachmittag selbst vor, und er genierte sich deswegen ein bißchen. Doch er hatte ungewollt angebissen. Er spielte mit.

Schon während des Verhörs von Sergeant Ward war er auf seiner Bank zuweilen hin und her gerutscht. Es gab Fragen, die selbst der unerfahrenste seiner Inspektoren unbedingt gestellt hätte und an die der kleine, in seiner Kleidung und seinen Gesten so pedantische Richter nicht zu denken schien.

Sicher, die Untersuchung des Coroners war noch nicht der Prozeß. Die Geschworenen hatten letzten Endes zu entscheiden, ob Bessy Mitchell eines natürlichen Todes gestorben, ob sie einem Unfall erlegen oder ob ihr Tod einer Fahrlässigkeit oder einem Verbrechen zuzuschreiben war.

Das übrige, falls die beiden letzten Hypothesen zutrafen, würde später und vor einem anderen Gericht zu verhandeln sein.

___________

»Erzählen Sie uns, was sich am Abend des 17. Juli nach halb acht zugetragen hat.«

War es nicht bereits recht naiv, die vier jungen Männer die Aussage ihres Kameraden anhören zu lassen?

Sergeant O’Neil war kleiner, stämmiger als die anderen. Sein helles, gewelltes Haar hatte einen rötlichen Schimmer. Mit seinen gedrungenen Zügen ähnelte er in etwa einem nordfranzösischen Bauern, einem ordentlich herausgeputzten und grundsauberen Bauern.

Sauber waren sie übrigens alle, das ließ sich generell von den Anwesenden im Saal sagen. Die Leute hier sahen so gesund und reinlich aus, wie man es bei einer Ansammlung von Europäern selten fand.

»Wir sind in die Penguin Bar gegangen und haben getrunken.«

Dies sagte der gute Schüler, nicht unbedingt der intelligenteste, aber der Streber. Bevor er antwortete, hob er die Augen zur Decke, wie in der Schule, nahm sich zum Nachdenken Zeit und sprach dann langsam, mit gleichbleibender, neutraler Stimme, wobei er sich den Geschworenen zuwandte, wie man es von ihm verlangte.

Im Grunde waren es Jungens, riesige Kerle von zwanzig Jahren und mehr, muskulös, kräftig gebaut, aber trotzdem Jungens, die nur versehentlich für Erwachsene gehalten wurden.

»Wie viele Gläser haben Sie getrunken?«

»Ungefähr zwanzig.«

»Wer hat die Runden bezahlt?«

Er konnte sich daran erinnern. Mit der Zeit — denn zum Antworten nahm er sich die nötige Zeit — erfuhr man, daß Sergeant Ward zwei Runden bezahlt hatte, Dan Mullins fast den ganzen Rest, während er, O’Neil, lediglich eine Runde geschmissen hatte.

Diesen jungen Mann hätte Maigret gerne unter vier Augen in seinem Büro am Quai des Orfévres in die Zange genommen, um ihn einem hübschen kleinen Verhör zu unterziehen, allein um zu sehen, was in ihm steckte. Eine Frage, die er ihm unter anderen gestellt hätte, denn außer Ward waren sie alle Junggesellen, wäre gewesen:

»Haben Sie eine Geliebte?«

Er war nämlich Sanguiniker und hatte sicher starke sexuelle Bedürfnisse. In jener Nacht kamen fünf Männer auf ein Mädchen, und bis auf den Chinesen waren alle ziemlich betrunken. Hatten sich in der Dunkelheit des Autos nicht ein paar Hände verirrt?

Der Coroner dachte an diese Dinge nicht, oder wenn er daran dachte, spielte er nicht darauf an.

»Wer hat bestimmt, den Rest der Nacht in Nogales zu verbringen?«

»Daran erinnere ich mich nicht genau. Ich glaube, es war Ward.«

»Haben Sie nicht gehört, daß Bessy den Vorschlag gemacht hat?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wo saßen Sie im Wagen?«

Man hätte meinen können, er habe die Erklärung seines Kameraden nicht vernommen, so angestrengt überlegte er.

»Nach einer Weile hat er Bessy auf den Rücksitz gewiesen.«

»Warum?«

»Ich nehme an, daß er auf Mullins eifersüchtig war.«

»Hatte er einen Grund, auf Mullins eifersüchtiger zu sein als auf die anderen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist geschehen, nachdem der Wagen den Flugplatz hinter sich gelassen hatte?«

»Wir haben angehalten.«

»Weshalb?«

Er schaute noch, länger zur Decke empor, zauderte und äußerte schließlich mit einem kurzen Blick auf Ward, der die Augen auf ihn gerichtet hatte:

»Weil Bessy sich geweigert hat, weiter mitzufahren.«

Es klang, als wolle er sagen:

»Es tut mir schrecklich leid, aber das ist die Wahrheit, und ich habe geschworen, die volle Wahrheit zu sagen.«

»Bessy hat nicht nach Nogales gewollt?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Aus welchem Grund?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist passiert, als Sie gehalten haben?«

Wieder hörte man das Wort, daß bei der Armee üblich zu sein schien: Drang zu den Latrinen.

»Hat sich Bessy auch entfernt?«

Er ließ noch länger als vorher mit der Antwort auf sich warten, und sein Blick blieb an die Decke geheftet.

»Ich entsinne mich nur, daß sie am Ende mit Ward zurückkam.«

»Bessy ist zurückgekommen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie ist wieder ins Auto gestiegen?«

»Ja. Der Wagen hat gewendet und ist in Richtung Tucson zurückgefahren.«

»Wann hat Bessy ihn verlassen?«

»Beim zweiten Halt. Gleich nachdem wir kehrtgemacht hatten, hat Bessy Ward erklärt, sie wolle mit ihm sprechen.«

»Sie saß hinten, neben Ihnen?«

»Ja. Sergeant Ward hat angehalten. Sie sind beide ausgestiegen.«

»Welche Richtung haben sie eingeschlagen?«

»Auf den Eisenbahndamm zu.«

»Sind sie lange fortgeblieben?«

»Sergeant Ward ist nach zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten zurückgekommen.«

»Haben Sie auf die Uhr geschaut?«

»Ich hatte keine Uhr.«

»Ist er allein zurückgekehrt?«

»Ja. Er hat gesagt: ›Zum Teufel mit diesem Mädchen! Das wird ihr eine Lehre sein!‹«

»Worauf spielte er damit an?«

»Ich weiß es nicht, Euer Ehren.«

»Haben Sie es für selbstverständlich gehalten, in die Stadt zurückzufahren und eine Frau allein in der Wüste zu lassen?«

Er antwortete nicht.

»Worüber haben Sie sich unterwegs unterhalten?«

»Wir haben nicht miteinander gesprochen.«

»Hatten Sie etwas zu trinken mitgenommen? Befand sich eine Flasche im Auto?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Hat Ward, als er Sie in der Stadt vor dem Autobusbahnhof absetzte, davon geredet, daß er umkehren und Bessy suchen wollte?«

»Nein. Er hat nichts gesagt.«

»Hat es Sie nicht gewundert, daß er Sie nicht zum Flugplatz gebracht hat?«

»Ich habe nicht darüber nachgedacht.«

»Was haben Sie da gemacht, Caporal van Fleet, Wo Lee und Sie?«

»Wir haben uns ein Taxi genommen.«

»Worüber haben Sie sich unterhalten?«

»Über nichts.«

»Wer hat beschlossen, ein Taxi zu nehmen?«

»Ich weiß es nicht, Euer Ehren.«

»Wieviel Zeit ist zwischen dem Augenblick verstrichen, da Ward und Mullins sich von Ihnen getrennt haben, und dem, als Sie sich das Taxi nahmen?«

»Kaum drei Minuten. Eher zwei.«

Richtige dickköpfige Jungens, die offensichtlich etwas zu verbergen hatten, aus denen jedoch nichts herauszuholen war. Aber warum packte man die Dinge von dieser Seite an? Maigret rutschte auf seiner Bank hin und her. Um ein Haar hätte er die Hand gehoben, als wäre auch er in der Schule, um eine Frage zu stellen.

Plötzlich bemerkte er seinen Kollegen Harry Cole im Türrahmen und errötete. Wie lange wurde er schon mit diesem zufriedenen Lächeln auf den Lippen beobachtet? Von weitem gab ihm Cole durch sein Mienenspiel zu verstehen:

»Ich nehme an, Sie bleiben lieber hier.«

Und nach einer Weile entfernte er sich auf den Zehenspitzen wieder und überließ Maigret seiner neuen Leidenschaft.

»Wo hat das Taxi Sie abgesetzt?«

»An der Stelle, wo wir zum zweitenmal gehalten hatten.«

»Genau an dem Ort?« ‘

»Wegen der Dunkelheit kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir haben versucht, uns genau an die Stelle zu erihnern.«

»Worüber haben Sie unterwegs gesprochen?«

»Wir haben nicht miteinander geredet.«

»Und Sie haben das Taxi zurückgeschickt? Wie wollten Sie in die Stadt zurückkommen und den Flugplatz erreichen?«

»Per Anhalter.«

»Wie spät war es da?«

»Ungefähr halb vier.«

»Sie sind nicht Wards Wagen begegnet? Sie haben weder ihn noch Dan Mullins gesehen?«

»Nein, Euer Ehren.«

Ward stame ihn an, und O’Neil vermied es, ihn anzuschauen, und wenn es geschah, schien er sich zu entschuldigen, wie ein Mann, der seine Pflicht erfüllen muß.

»Was haben Sie drei gemacht, als Sie auf der Straße standen?«

»Wir sind in Richtung Nogales weitergegangen und dann an der Eisenbahnstrecke nach Tucson zurückmarschiert.«

»Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, auf der anderen Seite der Straße zu suchen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sind Sie lange gelaufen?«

»Vielleicht eine Stunde.«

»Ohne jemanden zu sehen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Ohne miteinander zu sprechen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Was hat sich dann zugetragen?«

»Wir haben ein vorbeikommendes Auto angehalten, das uns zum Flughafen zurückgebracht hat.«

»Haben Sie das Kennzeichen des Wagens behalten?«

»Nein, Euer Ehren, aber ich glaube, es war ein Chevrolet, Baujahr 1946.«

»Haben Sie mit dem Fahrer gesprochen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Was haben Sie getan, als Sie Ihren Stützpunkt erreicht hatten?«

»Wir sind schlafen gegangen. Um sechs Uhr haben wir uns um die Flugzeuge gekümmert.«

Maigret kochte. Er hatte Lust, den kleinen Richter zu schütteln, ihm zu sagen:

»Haben Sie denn nie einen Zeugen richtig in die Zange genommen? Oder vermeiden Sie es absichtlich, die wesentlichen Fragen zu stellen?«

»Wann haben Sie erfahren, daß Bessy Mitchell tot ist?«

»Als ihr Bruder es mir sagte, nachmittags gegen fünf Uhr.«

»Wie hat er sich genau ausgedrückt?«

»Daß man Bessy tot auf dem Bahndamm gefunden habe und daß es eine Untersuchung geben werde.«

»Wer war bei diesem Gespräch dabei?«

»Wo Lee war mit mir auf dem Zimmer. Er hat erklärt: ›Ich weiß, was passiert ist.‹ Mitchell hat angefangen, Fragen an ihn zu richten. Und Wo Lee hat sich auf die Antwort beschränkt: ›Ich sage nur vor dem Sheriff aus.‹«

Es war kurz nach fünf, und mit der gleichen Unvermitteltheit wie vorher hob der Coroner die Sitzung auf, indem er mit zerstreuter Miene verkündete, während er mit einer Hand die auf seinem Pult umherliegenden Papiere einsammelte:

»Morgen um halb zehn. Nicht hier, sondern in der Zweiten Kammer, einen Stock höher.«

Alles verließ den Saal. Die fünf Soldaten, die noch immer kein Wort miteinander redeten, versammelten sich in der Kolonnade, und ein Offizier führte sie durch den Innenhof hinaus. Draußen wartete Harry Cole in Gabardinehose und weißem Hemd mit der Miene eines gutgelaunten jungen Sportsmanns.

»Hat Sie das interessiert, Julius? Wie wär’s mit einem Glas Bier?«

Ohne Übergang sah man sich wieder der Hitze ausgesetzt, dem grellen Licht, wo selbst die Laute gedämpft wurden. Am Himmel hoben sich die vier oder fünf Hochhäuser der Stadt ab. Die Leute fuhren in ihren Autos davon, und selbst der Indianer —- Maigret entdeckte, daß er ein Holzbein hatte — öffnete den Schlag eines alten Wagens, dessen Verdeck mit Bindfäden festgebunden war.

»Ich wette, Sie wollen mich um etwas bitten, Julius.«

Sie betraten eine angenehm klimatisierte Bar, in der man weitere Gabardinehosen, weitere weiße Hemden und Bierflaschen längs der ganzen Theke sah. Es gab hier auch richtige Cowboys in groben blauen Leinenhosen, die eng an den Schenkeln anlagen, in ihren Stiefeln mit hohen Absätzen und ihren breitkrempigen Hüten.

»Das stimmt. Wenn wir den Besuch von Nogales auf einen anderen Tag verschieben könnten, würde ich morgen gern weiter der Verhandlung beiwohnen.«

»Zum Wohl! Keine Fragen?«

»Zahllose. Ich werde sie Ihnen stellen, wie sie mir einfallen. Gibt es hier Prostituierte?«

»Nicht in dem Sinne, in dem Sie das Wort verstehen. In einigen Staaten Amerikas, ja. In Arizona ist das verboten.«

»Bessy Mitchell?«

»Ersatz dafür.«

»Erna Bolton auch?«

»Mehr oder weniger.«

»Wie viele Soldaten sind auf dem Flugplatz stationiert?«

»Fünf- bis sechstausend.«

»Die meisten sind Junggesellen?«

»Drei Viertel.«

»Wie machen sie es?«

»Wie sie es eben können. Sehr einfach ist das nicht.«

Sein Lächeln, das ihn selten verließ, war nicht ironisch. Er empfand sicherlich viel Achtung, vielleicht sogar Bewunderung für Maigret, dessen Ruf ihm bekannt war. Dennoch amüsierte es ihn, einen Franzosen mit Problemen beschäftigt zu sehen, die ihm selbst völlig fremd waren.

»Ich komme aus dem Osten«, erklärte er nicht ganz ohne Stolz. »Ich stamme aus Neuengland. Sehen Sie, hier herrscht noch ein wenig das Grenzerleben. Ich könnte Sie mit ein paar alten Pionieren bekanntmachen, die zu Anfang des Jahrhunderts auf die Apachen geschossen haben und von denen einige sich zusammensetzten und Gericht hielten, um einen Pferde- oder Rinderdieb zu hängen.«

Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als jeder schon drei Flaschen Bier getrunken hatte und Harry Cole erklärte:

»Es ist jetzt Zeit für den Whisky!«

Danach fuhren sie in Richtung Nogales, und während sie Tucson durchquerten, fühlte sich Maigret angesichts der Stadt ebenso verwirrt wie vor dem Gericht. Es war keine Kleinstadt, sie zählte über hunderttausend Einwohner. Außerhalb des Zentrums und des Geschäftsviertels jedoch, wo die fünf oder sechs zwanzigstöckigen Hochhäuser wie Türme in den Himmel ragten, ähnelte Tucson einer Siedlung oder vielmehr einer Reihe aneinandergrenzender Siedlungen, die einen reicher, die anderen ärmer, alle aber gleich neu, elegant und mit eingeschossigen Bauten.

Weiter draußen waren die Straßen nicht mehr gepflastert. Dort gab es große Ödflächen, auf denen nur Sand und einige Kakteen sichtbar waren. Sie fuhren über den Flugplatz hinaus, und ohne Übergang befanden sie sich in der Wüste, hinter der sich in der Ferne die violetten Berge erhoben.

»Hier ist ungefähr die Stelle, wo es passiert ist. Wollen Sie aussteigen? Nehmen Sie sich vor den Klapperschlangen in acht.«

»Gibt es die in diesen Gebieten?«

»Manchmal findet man sogar in der Stadt welche.«

Die Eisenbahnstrecke, die etwa fünfzig Meter von der Straße entfernt verlief, war eingleisig.

»Ich glaube, innerhalb von vierundzwanzig Stunden fahren hier vier oder fünf Züge durch. Wollen Sie wirklich nicht, daß wir in Mexiko einen Schluck trinken? Nogales liegt ganz in der Nähe.«

Hundert Kilometer! Man konnte sie allerdings in weniger als sechzig Minuten zurücklegen.

Eine kleine Stadt, in der ein Drahtzaun die beiden Hauptstraßen durchschnitt. Männer in Uniform. Harry Cole sprach mit ihnen, und einen Augenblick später verschwand er mit Julius in einem unerwarteten Gewimmel in engen, schlecht unterhaltenen Gassen, in denen der helle Sonnenglanz nichts zu suchen hatte.

»Wir wollen mit den Kellern anfangen, obgleich es noch ein bißchen früh ist.«

Halbnackte Burschen bedrängten sie, ihnen die Schuhe putzen zu dürfen, und auf den Schwellen ihrer Lädchen, in denen Andenken verkauft wurden, hielten sie die Erwachsenen beim Vorübergehen an.

»Wie Sie sehen, ist dies ein Jahrmarkt. Wenn sich die Leute aus Tucson oder selbst aus Phoenix oder noch ferneren Gegenden amüsieren wollen, kommen sie hierher.«

Tatsächlich trafen sie in einer riesigen Bar nur Amerikaner.

»Glauben Sie, daß Bessy Mitchell ermordet worden ist?«

»Ich weiß lediglich, daß sie tot ist.«

»Unfall?«

»Ich muß Ihnen gestehen, daß mich das nichts angeht. Es ist kein Verbrechen auf Bundesebene, und allein damit befasse ich mich. Das übrige ist Sache der Distriktpolizei.«

Mit anderen Worten: Angelegenheit des Sheriffs und seiner Deputy-Sheriffs. Und das verblüffte den Kommissar am meisten, mehr noch als dieser überschwellende Jahrmarkt voller Gerüche, in den er sich hineingetaucht sah.

Der Sheriff als oberste Polizeibehörde der County war keineswegs ein Beamter, der nach einer Prüfung oder Beförderung ernannt wurde, sondern ein Bürger, der wie ein Stadtrat von Paris gewählt wurde.

Sein früherer Beruf war nicht weiter wichtig. Er kandidierte bei den Wahlen und machte seine Wahlkampagne.

Wenn er einmal gewählt war, suchte er sich nach freiem Ermessen seine Deputy-Sheriffs aus, das heißt seine Inspektoren, also jene Männer, die Maigret mit ihren schweren Revolvern und den vielen Patronen im Gürtel gesehen hatte.

»Damit aber nicht genug!« fügte Harry Cole mit einem Schuß Ironie hinzu. »Neben den besoldeten Deputy-Sheriffs gibt es die vielen anderen.«

»Wie mich?« scherzte Maigret und dachte an die Silberplakette, die man ihm ausgehändigt hatte.

»Ich spreche von den Freunden des Sheriffs, den einflußreichen Wählern, denen man die gleiche Plakette gibt. All die Ranchers zum Beispiel, oder fast alle, sind Deputy-Sheriffs. Glauben Sie nicht, daß sie das auf die leichte Schulter nehmen. Vor ein paar Wochen fuhr ein Wagen, der von einem gefährlichen, aus dem Zuchthaus entflohenen Kriminellen gestohlen worden war, von Tucson nach Nogales. Der Sheriff von Tucson hat einen Rancher alarmiert, der ungefähr auf halbem Wege wohnt. Der hat zwei oder drei Nachbarn angerufen, Viehzüchter wie er selbst. Sie waren alle Deputy-Sheriffs. Mit ihren Autos haben sie eine Straßensperre gebildet, und als der gestohlene Wagen sie zu durchbrechen versuchte, haben sie erst in die Reifen geschossen und dann das Feuer auf den Kerl gerichtet, den sie schließlich mit dem Lasso gefangen haben. Was sagen Sie dazu?«

Maigret hatte noch nicht so viele Gläser getrunken wie die Jungens, die vor Gericht standen, aber es summierte sich allmählich, und mit einem komischen Brummton antwortete er: »In Frankreich hätten eher die ortsansässigen Leute versucht, die Polizei aufzuhalten.«

Er wußte nicht genau, wann sie wieder in Tucson eingetroffen waren.

___________

Immer noch unter Coles Führung hatte er gegen Mitternacht, er erinnerte sich nur vage an den Zeitpunkt, die Penguin Bar betreten. Die lange Theke war aus dunklem gewachstem Holz, und in den Regalen standen verschiedenfarbige Flaschen. Wie in all diesen Lokalen herrschte ein gedämpftes Licht, von dem sich das Weiß der Hemden abhob.

Im Hintergrund thronte gewichtig ein bauchiger verchromter Musikautomat neben einem Apparat, in den ein Mann reiferen Alters eine Stunde lang fortwährend Cents warf, in der Hoffnung, bei seinen Versuchen, Nickelkugeln in bestimmte Löcher zu lenken, ein Freispiel zu gewinnen.

Auf diesem Gerät sah man naiv gezeichnete Frauen im Badeanzug aufleuchten. Auf einem Kalender der Bar war eine ganz nackt im Stil der Vie Parisienne dargestellt.

Wirkliche Frauen jedoch aus Fleisch und Blut gab es hier kaum. Nur zwei oder drei saßen an Tischen, die durch anderthalb Meter hohe Wände voneinander getrennt waren. Sie waren in Begleitung. Die Pärchen hockten unbeweglich, Hand in Hand, vor ihren Bier- oder Whiskygläsem und lauschten mit einem vagen Lächeln der Musik, die unentwegt aus dem Automaten erklang.

»Ganz lustig, was?« bemerkte Maigret mit einem grimmigen Lachen.

Cole ging ihm auf die Nerven, er hätte nicht sagen können, weshalb. Vielleicht lag es an dessen unerschütterlichem Selbstvertrauen, das ihn aufbrachte.

Er war ein einfacher Beamter des FBI, und er fuhr einen schweren Wagen, den er mit einer Hand steuerte und dessen Lenkrad er selbst bei über hundert Stundenkilometerh losließ, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er kannte alle Welt. Und alle Welt kannte ihn. Ob in Mexiko oder hier, überall klopfte er den Leuten auf die Schulter, und sie sagten in übertrieben herzlichem Ton zu ihm:

»Hello, Harry!«

Cole stellte Maigret vor, und man schüttelte dem Kommissar die Hand wie einem alten Bekannten, ohne durch seine Gegenwart beunruhigt zu sein.

»Have a drink!«

Trinken Sie etwas! Unwichtig, ob es gut oder schlecht war, Hauptsache, es war trinkbar.

Hier saßen die Männer auf hohen Schemeln wie angeschraubt an der Bar, rührten sich nicht, es sei denn, um von Zeit zu Zeit den Finger zu heben, eine Geste, die der Barkeeper sofort verstand. Einige Unteroffiziere der Luftwaffe tranken ebenso wie die anderen. Vielleicht waren auch einfache Soldaten zugegen, doch Maigret hatte noch keinen gesehen.

»Wenn ich recht begreife, kehren sie zum Flugplatz zurück, wann sie wollen?«

Die Frage überraschte Cole.

»Natürlich!«

»Um vier Uhr morgens, wenn es ihnen gefällt?«

»Solange sie nicht im Dienst sind, brauchen sie überhaupt nicht zurückzukehren.«

»Und wenn sie betrunken sind?«

»Das ist ihre Sache. Es kommt nur darauf an, daß sie machen, was sie zu tun haben.«

Warum versetzte ihn das in Wut? Weil er sich an die eigene Militärzeit erinnerte, an den Appell um zehn Uhr, an die Wochen, die man warten mußte, um einmal bis Mitternacht Ausgang zu haben?

»Vergessen Sie nicht, daß es Freiwillige sind.«

»Ich weiß. Wo werden sie rekrutiert?«

»Wo es geht. Auf der Straße. Haben Sie die Lastwagen noch nicht gesehen, die manchmal an einer Kreuzung halten und Musik machen? Im Inneren sind Fotos von exotischen Ländern ausgestellt, und ein Sergeant schildert die Vorzüge des Soldatenberufs.«

Cole erweckte immer den Eindruck, mit dem Leben zu spielen, als sei es wirklich sehr vergnüglich.

»Man kann da so ziemlich alles antreffen, wie in allen Armeen. Ich nehme an, daß sich bei Ihnen auch nicht nur brave kleine Jungs dafür begeistern. Hello, Bill! Mein Freund Julius. Have a drink!«

Zum zehnten oder zwanzigsten Mal hörte Maigret einem Unbekannten zu, der seine Pariser Erlebnisse erzählte. Denn all diese Burschen waren in Paris gewesen. Alle setzten die gleiche schlüpfrige Miene auf, wenn sie davon sprachen.

»Have a drink!«

Würde ihn der Coroner am nächsten Morgen verhören, so könnte er ebenfalls antworten:

»Ich weiß nicht mehr, wie viele Gläser. Vielleicht zwanzig?«

Je mehr er trank, desto schweigsamer wurde er, so daß er den eigensinnig stumpfen Ausdruck des Sergeants O’Neil annahm. Er hatte beschlossen, das alles zu verstehen, und er würde es verstehen. Bitte! Er hatte bereits herausgefunden, warum Harry Cole ihm auf die Nerven ging. Der Mann vom FBI war im Grunde davon überzeugt, daß Maigret in seinem eigenen Lande ein großartiger Kerl war, aber hier, in den Vereinigten Staaten, zu gar nichts taugte.

Je länger Cole ihn nachdenken sah, desto mehr amüsierte es ihn. Maigret hingegen kam zu der Einsicht, daß die Menschen und ihre Leidenschaften überall die gleichen sind.

Er mußte es fertigbringen, diese Unterschiede nicht weiter wahrzunehmen, sich zum Beispiel nicht über die Höhe der Wolkenkratzer zu wundern, über die Wüste, die Kakteen, die Stiefel und Hüte der Cowboys, die Apparate, bei denen man Kugeln in Löcher stoßen mußte, und die Musikautomaten.

Es waren fünf Soldaten mit einem Mädchen, schön. Und alle hatten getrunken. Sie hatten getrunken, wie Maigret es jetzt tat, mechanisch, wie alle Männer tranken, die an diesem Abend hier waren.

»Hello, Harry!«

»Hello, Jim!«

Man hätte meinen können, niemand habe einen Familiennamen. Und man hätte auch den Eindruck gewinnen können, sie seien alle die besten Freunde von der Welt. Jedesmal, wenn Cole ihm jemanden vorstellte, fügte er im Ton der Überzeugung hinzu:

»Ein prima Kerl!«

Oder:

»Ein prächtiger Typ!«

Kein einziges Mal hatte er gesagt:

»Ein Schurke!«

Wo waren hier die Schufte? Sollte das bedeuten, daß es keine gab?

Oder daß man hierzulande nachsichtiger war?

»Glauben Sie; daß die fünf Soldaten heute abend ausgehen dürfen?«

»Warum sollten sie es nicht dürfen?«

Was hätte er ihnen in Paris verpaßt! Und vor allem, was hätte ihnen geblüht, wenn sie in ihr Quartier zurückgekehrt wären!

»Man hat ihnen bisher nichts nachweisen können, nicht wahr?«

»Noch nicht«, brummte Maigret.

»Solange ein Mann nicht für schuldig befunden wird …«

»Ich weiß! … Ich weiß! …«

Er leerte verdrießlich sein Glas. Dann betrachtete er eines der Pärchen. Gut fünf Minuten klebten die Lippen der beiden schon aneinander, und die Hände des Mannes sah man nicht.

»Sagen Sie: die sind wohl nicht verheiratet?«

»Nein.«

»Sie dürfen demnach in kein Hotel gehen?«

»Dort müßten sie sich als Ehepaar eintragen, was ein Delikt ist, das beträchtliche Folgen nach sich ziehen kann, insbesondere, wenn sie aus einem anderen Staat kommen.«

»Wo schlafen sie miteinander?«

»Vorerst ist nicht erwiesen, daß sie nachher noch das Bedürfnis danach haben.«

Maigret zuckte wütend die Achseln.

»Und dann gibt es das Auto.«

»Und wenn sie keins haben?«

»Das ist unwahrscheinlich. Die meisten Leute haben einen Wagen. Haben sie keinen, müssen sie sich anders zu helfen wissen. Das ist ihre Sache, nicht wahr?«

»Und wenn sie dabei auf der Straße erwischt werden?«

»Das käme sie teuer zu stehen.«

»Und wenn das Mädchen siebzehneinhalb ist statt achtzehn?«

»Das kann dem Partner bis zu zehn Jahren Zuchthaus einbringen.«

»Bessy Mitchell war noch nicht achtzehn.«

»Aber sie war verheiratet und bereits geschieden.«

»Maggie Wallach, die die Geliebte des Musikers zu sein scheint …«

»Wieso?«

»Das ist offensichtlich.«

»Haben Sie es gesehen?«

Maigret knirschte mit den Zähnen.

»Bedenken Sie, daß auch sie verheiratet ist. Und geschieden.«

»Und Erna Bolton, die mit dem Bruder geht?«

»Sie ist zwanzig.«

»Kennen Sie die Akte?«

»Ich? Das geht mich nichts an. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß der Bund nicht betroffen ist. Wenn sie sich zum Beispiel der Post bedient hätten, um eine Straftat zu begehen, dann würde das in meinen Zuständigkeitsbereich gehören. Oder wenn sie eine einzige Marihuana-Zigarette geraucht hätten. Have a drink, Julius!«

Etwa zwanzig Männer saßen oder standen jetzt am Tresen, tranken und starrten auf die vor ihnen aufgereihten Flaschen und auf den Kalender, der eine nackte Frau darstellte. Nackte oder halbnackte Frauen gab es nahezu überall, auf Werbeplakaten, auf Reklamekalendern; Fotos von hübschen Mädchen in Badekostümen auf allen Seiten der Zeitungen und auf jeder Kinoleinwand.

»Aber zum Teufel, wenn diese Kerle Verlangen nach einer Frau haben?«

Harry Cole, der den Whisky eher gewohnt war, schaute ihm in die Augen und lachte laut auf.

»Dann heiraten sie!«

In Wirklichkeit hatte der Coroner also absichtlich die Fragen nicht gestellt, die am nächsten zu liegen schienen. Hoffte er trotzdem, die Wahrheit herauszufinden? Oder war ihm das völlig gleichgültig?

Vielleicht war die Untersuchung am Ende nur eine Art Formalität, und niemand wollte im Grunde wissen, was sich in jener Nacht tatsächlich zugetragen hatte.

Einer der beiden Männer, die bisher verhört worden waren, hatte gelogen, das stand fest. Entweder Sergeant Ward oder Sergeant O’Neil. Niemanden schien das jedoch zu verwundern. Man vemahm den einen wie den anderen mit der gleichen Höflichkeit oder vielmehr mit der gleichen Uninteressiertheit.

»Glauben Sie, daß man den Barkeeper vorladen wird?«

»Wozu denn?«

Der hatte sie an dem Abend bedient, und er hatte einen Kopf wie ein Boxer.

»Man wird uns vor die Tür setzen«, kündigte Cole nach einem Blick auf seine Uhr an. »Wollen Sie noch etwas mitnehmen?«

Und da sich Maigret erstaunt zeigte, deutete er auf zwei der Gäste.

»Sehen Sie nur!«

An einer anderen Theke in der Nähe der Tür, wo Alkohol in Flaschen verkauft wurde, erstanden sie flache Fläschchen, die sie in ihre Tasche gleiten ließen.

»Sie haben vielleicht einen langen Weg vor sich, nicht wahr? Oder sie haben Schwierigkeiten beim Einschlafen.«

Der Mann vom FBI machte sich über ihn lustig, und Maigret richtete kein Wort mehr an ihn, bis ihn das Auto vor dem »Pioneer Hotel« absetzte.

»Wenn ich richtig verstehe, verbringen Sie den morgigen Tag im Gericht?«

Maigret brummte eine unbestimmte Antwort vor sich hin.

»Ich werde Sie zum Mittagessen abholen. Sie haben Glück: die Sitzung findet in der Zweiten Kammer im Obergeschoß statt, und dort ist eine Klimaanlage. Gute Nacht, Julius!«

Er fügte ohne Bosheit hinzu, als handele es sich nicht um eine Tote:

»Träumen Sie nicht von Bessy!«

Der kleine Chinese, der nicht getrunken hat

Es waren mindestens drei Personen, die ihm einen guten Morgen wünschten, und das freute ihn. Die erste Etage des County House war wie das Erdgeschoß von einem Säulengang umgeben. Die Sonne brannte bereits, und Gruppen von Männern, die auf die Aufforderung Hesekiels warteten, rauchten im Schatten ihre Zigaretten.

Besonders Hesekiel mit seiner großen Pfeife im Mund winkte ihm freundlich zu, und auch der Geschworene mit dem Holzbein.

Er hatte sich auf dem Weg vom Hotel gefragt, ob das veränderte Verhalten des Publikums gegenüber Sergeant Ward deutlich zu merken sein würde.

Am Vortage, als O’Neil vom zweiten Anhalten des Wagens berichtet und erklärt hatte, daß Ward und Bessy sich zusammen in Richtung des Bahndamms entfernt hätten, hatte es im Saal zwar kein Gemurmel, aber so etwas wie einen kleinen kollektiven Schock gegeben. Jeder der Anwesenden mußte das gleiche Zwicken in der Brust gespürt haben.

Würde man Ward jetzt so ansehen, wie die Leute unwillkürlich jene Mitbürger ansehen, die getötet haben?

Die fünf Soldaten standen in der Nähe des Offiziers, der sie hergeführt hatte. Sie rauchten ihre Zigaretten wie die anderen und warteten darauf, in den Saal gerufen zu werden. Wie Schüler, die sich böse sind, wahnen sie untereinander eine gewisse Distanz.

Maigret kam es so vor, als halte sich Ward mit den blauen Augen unter den dichten schwarzen Brauen weiter abseits als die anderen und als werfe man ihm von ferne verstohlene Blicke zu.

Hatte er zu Hause übernachtet? Wie verhielt er sich zur Zeit seiner Frau gegenüber? Und welche Haltung nahm sie ein? Hatte er sie um Verzeihung gebeten? Waren sie endgültig miteinander verkracht?

Der Chinese mit den großen Mandelaugen war zart und hübsch wie ein junges Mädchen.

Er war klein und wirkte viel jünger als seine Kameraden. Auch in den Schulen gibt es immer einen Schüler, den man hänselt und als Mädchen bezeichnet.

Weitere Neugierige waren hinzugekommen. Die Zeitung hatte über die erste Sitzung unter der fettgedruckten Überschrift berichtet:

Sergeant Ward behauptet, mit Drogen betäubt worden zu sein. O’Neil widerspricht seiner Aussage in mehreren Punkten.

Dieser sah nach wie vor wie ein guter, gewissenhafter, ja, zu gewissenhafter Schüler aus. Hatten sie, Ward und er, seit gestern miteinander gesprochen?

Maigret war schlechtgelaunt erwacht, mit starken Kopfschmerzen, einem Kater, um es genau zu sagen, doch das hatte sich gegeben. Es hatte ihn hingegen geärgert, auf ihre Methode zurückgreifen zu müssen. Schon in den ersten Tagen in New York hatte es ihn gewundert, am frühen Morgen Menschen frisch und tatkräftig anzutreffen, die er in der Nacht zuvor in einem Zustand fortgeschrittener Trunkenheit verlassen hatte. Man hatte ihm den Trick verraten. Seither hatte er in allen Drugstores, in den Cafés und Bars diese Flasche von einem besonderen Blau gesehen, die mit dem Hals nach unten und einem vernickelten Knauf zum Abmessen der Flüssigkeit an der Wand hing.

Man pumpte sie in ein Glas Wasser, das zu schäumen und zu knistern anfing. Man servierte einem das ebenso selbstverständlich wie einen Milchkaffee oder eine Coca-Cola, und wenige Minuten später waren die Nachwirkungen des Alkohols verschwunden.

Warum auch nicht? Neben dem Apparat zum Saufen der Apparat zum Nüchternwerden. Immerhin waren sie logisch.

»Gesehworene!«

Man betrat den Schulraum, und dieser war weiträumiger als der gestrige. Diesmal sah er wie ein richtiger Gerichtssaal aus, mit einer Balustrade wie vom Kirchenchor zwischen dem Gerichtshof und dem Publikum, einer Kanzel für den Coroner und einem Pult mit einem Mikrofon für die Zeugen. Die Geschworenen, die auf einer wirklichen Geschworenenbank Platz genommen hatten, wirkten dadurch feierlicher.

So konnte Maigret die Leute besser wahrnehmen, die er gestern nur schlecht hatte sehen können, unter anderem einen kräftigen Rotschopf, der sich stets in der Nähe des Attorney aufhielt, Notizen machte und manchmal halblaut mit ihm sprach. Er hatte ihn zuerst für einen Sekretär oder einen Joumalisten gehalten.

»Wer ist das?« fragte er seinen Nachbarn.

»Mike!«

Das wußte er, denn er hatte gehört, daß die anderen ihn so nannten.

»Was macht er?«

»Mike O’Rourke? Der ist Chief Deputy-Sheriff, er leitet die Ermittlung.«

Der Maigret dieser County also. Sie waren beide gleich korpulent, hatten den gleichen Wulst oberhalb des Hosengürtels, den gleichen gedrungenen Nacken und hatten wohl auch das gleiche Alter.

War es im Grunde hier soviel anders als in Paris? O’Rourke trug keine Sheriffplakette und hatte keinen Revolver am Gürtel. Er sah wie ein friedfertiger Mann aus, mit dem hellen Teint der Rothaarigen und veilchenblauen Augen.

Kam der Gedanke von ihm und hatte er ihn dem Attorney zugeflüstert, zu dem er sich so oft hinüberbeugte? Jedenfalls erhob sich der Attorney gleich zu Beginn der Sitzung und bat, dem letzten Zeugen vom gestrigen Tag eine Frage stellen zu dürfen, so daß O’Neil auf dem Podium Platz nahm vor dem Mikrofon, das man in die passende Höhe brachte.

»Haben Sie den Zustand des Wagens bemerkt, der Sie nach Tucson zurückgebracht hat? War er nicht beschädigt?«

Der brave Schüler runzelte die Brauen und schaute fragend zur Decke empor.

»Ich weiß es nicht.«

»War es ein zwei- oder viertüriges Auto? Sind Sie rechts oder links eingestiegen?«

»Ich glaube, es hatte vier Türen. Ich bin auf der anderen Seite vom Fahrer eingestiegen.«

»Also rechts. Und Sie haben keine Schäden an der Karosserie bemerkt, die auf einen Unfall schließen ließen?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Waren Sie zu dem Zeitpunkt sehr betrunken?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Noch mehr als in dem Augenblick, da Bessy die Party verließ?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.«

»Sie hatten jedoch nichts getrunken, nachdem Sie das Haus des Musikers verlassen hatten?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Das ist alles.«

O’Neil erhob sich.

»Pardon! Noch eine Frage. Wo haben Sie in dem letzten Wagen gesessen?«

»Ich saß vorne, neben dem Fahrer.«

Der Attorney bedeutete mit einer Handbewegung, daß sein Verhör beendet war, und nun kam Sergeant van Fleet an die Reihe, ein Blender mit ziegelsteinfarbenem Gesicht und geweiltem Haar, den Maigret im Geiste den Flamen nannte. Seine Kameraden nannten ihn Pinky.

Er war der erste, der nervös wirkte, als er auf dem Zeugenstuhl Platz nahm. Er zwang sich sichtlich, ruhig zu erscheinen, aber er wußte nicht, wo er hinblicken sollte, und es geschah mehrmals, daß er an den Fingernägeln kaute.

»Sind Sie verheiratet? Ledig?«

»Ledig, Euer Ehren.«

Er mußte sich räuspern, um eine klare Stimme zu haben, und der Coroner stellte das Mikrofon etwas lauter ein. Er verfügte über einen erstaunlichen Sessel, der Coroner. Er konnte ihn in verschiedene Lagen bringen und verbrachte seine Zeit damit, die Rückenlehne weiter nach hinten zu kippen, dann etwas nach vorne, dann wieder nach hinten.

»Erzählen Sie uns, was sich am Abend des 27. Juli nach halb acht zugetragen hat.«

Die junge Negerin hinter Maigret, die ein Baby auf dem Arm trug und die er gestern schon bemerkt hatte, war heute von ihrem Bruder und ihrer Schwester begleitet. Zwei schwangere Frauen waren im Saal. Dank der Klimaanlage war es kühl hier, viel kühler als unten, dennoch hantierte Hesekiel von Zeit zu Zeit mit bedeutungsvoller Miene an dem Apparat herum.

Der Flame sprach langsam, mit langen Pausen, in denen er nach Worten suchte. Die vier anderen Soldaten, die gemeinsam auf einer Gerichtsbank saßen, wendeten den Zuschauern den Rücken zu, und zu ihnen schaute Pinky verstohlen hin, als wolle er sie bitten, ihm »vorzusagen«.

Die Penguin Bar, die Wohnung des Musikers, die Abflahrt nach Nogales …

»Wo saßen Sie in Wards Auto?«

»Zuerst hinten mit Sergeant O’Neil und Caporal Wo Lee, aber dann mußte ich mich nach vorne setzen, als Ward zu Bessy gesagt hat, sie solle mit mir den Platz wechseln. Da habe ich mich rechts von Mullins hingesetzt.«

»Was ist dann geschehen?«

»Hinter dem Flugplatz hat der Wagen rechts am Straßenrand gehalten, und wir sind alle ausgestiegen.«

»Hatte man schon beschlossen, nicht nach Nogales weiterzufahren?«

»Nein.«

»Wann war davon die Rede?«

»Als alle wieder im Auto saßen.«

»Einschließlich Bessy?«

Er zögerte, und Maigret hatte den Eindruck, daß er zu O’Neil hinüberblickte.

»Ja. Ward hatte erklärt, wir führen in die Stadt zurück.«

»Hat das nicht Bessy gesagt?«

»Ich habe es Ward sagen hören.«

»Hat der Wagen ein zweites Mal gehalten?«

»Ja. Bessy hatte zu Ward gesagt, daß sie mit ihm sprechen wollte.«

»War sie sehr betrunken? Wußte sie noch, was sie tat?«

»Ich glaube schon. Sie haben sich beide entfernt.«

»Wie lange blieben sie fort?«

»Nach fünf oder sechs Minuten ist Ward allein zurückgekommen.«

»Sie sagen, nach fünf oder sechs Minuten. Haben Sie auf die Uhr geschaut?«

»Nein. Aber ich glaube nicht, daß er länger weggeblieben ist.«

»Was hat er darauf gesagt?«

»Er hat nichts gesagt.«

»Hat niemand ihn gefragt, was aus Bessy geworden ist?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Hat es Sie nicht gewundert, daß man ohne sie weiterfuhr?«

»Vielleicht ein bißchen.«

»Während der ganzen Fahrt hat Ward nicht davon gesprochen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wer hat den Vorschlag gemacht, ein Taxi zu nehmen, um zu der Stelle zurückzufahren?«

Er deutete auf O’Neil.

»Haben Sie nicht miteinander die Frage diskutiert, ob Sie Wo Lee mitnehmen sollten?«

Maigret, der zu dösen schien, zuckte zusammen. Das war wieder eine belanglose Frage, die dennoch darauf hinwies, daß der Coroner mehr wissen mußte, als er sich den Anschein gab. O’Rourke beugte sich übrigens gerade zum Ohr des Attorney hinüber, der sich irgend etwas notierte.

»Nein, Euer Ehren.«

»Worüber haben Sie sich während der Fahrt unterhalten?«

»Wir haben nicht miteinander gesprochen.«

»Gab es keine Auseinandersetzung zwischen Ihnen und O’Neil, als das Taxi hielt?«

»Ich erinnere mich nicht. Nein, Euer Ehren.«

O’Rourke mußte etwas von seinem Handwerk verstehen. Er hatte den Fahrer ausfindig gemacht, was nicht schwer gewesen sein konnte, und sicher würde man dessen Aussage hören.

Von den drei bislang vernommenen Soldaten fühlte Pinky sich offenbar am wenigsten wohl.

»Schlafen Sie nicht in demselben Zimmer wie O’Neil? Seit wann?«

»Seit ungefähr sechs Monaten.«

»Sind Sie eng befreundet?«

»Wir gehen immer zusammen aus.«

Als man sich bei dem Attorney erkundigte, ob er Fragen an den Zeugen zu stellen habe, beschränkte er sich auf eine:

»War das Auto, das Sie zum Flugplatz zurückbrachte, in einwandfreiem Zustand?«

Pinky wußte es auch nicht. Er hatte sich den Wagentyp nicht gemerkt. Er erinnerte sich nur, daß die Karosserie weiß oder hell war.

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Es war merkwürdig: ohne ersichtlichen Grund schien Sergeant Ward schon weniger als Mörder dazustehen. Jetzt musterten die Leute O’Neil beim Vorübergehen. Vielleicht war er vollkommen unschuldig. Sie waren womöglich alle unschuldig. Und sie fühlten, wie der Verdacht vom einen auf den anderen überging, wahrscheinlich Verdächtigten sie sich sogar gegenseitig?

Was mochten sie denken, während sie auf der Terrasse ihre Zigaretten rauchten und Coca-Cola tranken?

Maigret hätte sich Mike O’Rourke vorstellen können, der ihm sicher auf die Schulter geklopft und ihn vermutlich in das Geheimnis der Götter eingeweiht hätte. Es bereitete ihm jedoch mehr Spaß, das Hin und Her seines Kollegen zu beobachten, der die Sitzungspause nutzte, um in seinem verglasten Büro ein paar Telefongespräche zu führen.

Als die Verhandlung wieder beginnen sollte, bemerkte man, daß der Attorney fehlte, und man mußte im ganzen Gebäude nach ihm suchen. Vielleicht hatte auch er telefoniert?

»Caporal Wo Lee!«

Der junge Mann huschte auf den Zeugenstuhl, und man mußte das Mikrofon auf seine Mundhöhe hinunterschrauben. Er sprach so leise, daß man ihn trotz des Verstärkers kaum verstehen konnte.

Schon die drei anderen hatten sich zwischen jedem Satz Zeit gelassen. Wo Lee hingegen machte solange Pausen, daß man den Eindruck hatte, er käme nicht weiter oder dächte plötzlich an etwas anderes.

Sollten sie sich wie eine Schülerbande, die etwas ausgefressen hat, gegenseitig der »Petzerei« beschuldigen?

Maigret mußte sich vorbeugen und scharf aufpassen, denn es war schwierig, dem Chinesen zu folgen.

»Erzählen Sie uns, was sich am …«

Es ging alles so langsam, daß der Coroner, noch ehe man auf die Abfahrt nach Nogales zu sprechen kam, die Sitzung erneut unterbrach. In der Pause führte man ihm drei Häftlinge in blauer Uniform vor, Leute, die am Vortag von der Polizei festgenommen worden waren und mit der Sache nichts zu tun hatten.

Ein Mexikaner mit stark indianischem Einschlag wurde der Trunkenheit und nächtlicher Ruhestörung auf der Straße beschuldigt.

»Bekennen Sie sich schuldig?«

»Ja.«

»Fünf Dollar oder fünf Tage Gefängnis. Der nächste!«

Ein ungedeckter Scheck.

»Bekennen Sie sich schuldig? Wir setzen die Verhandlung auf den 7. August fest. Sie können gegen eine Kaution von fünfhundert Dollar freigelassen werden.«

Maigret ging hinunter, um eine Coca-Cola zu trinken, und zwei Geschworene lächelten ihm zu, als er an ihnen vorbeikam. Er mußte ein Stück durch die Sonne und spürte ein kräftiges Brennen auf der Haut.

Als er zurückkehrte, saß der Chinese bereits auf seinem Platz. Er beantwortete eine Frage, die man gerade an ihn gerichtet hatte. Vor der offenen Tür standen jetzt Leute, doch niemand hatte sich auf Maigrets Stuhl gesetzt, worüber er sich freute.

»Als wir die Bar verließen, haben wir zwei Flaschen Whisky gekauft«, sagte Wo Lee langsam.

»Was ist bei dem Musiker vorgefallen?«

»Bessy und Sergeant Mullins sind in die Küche gegangen. Etwas später ist Ward ihnen gefolgt, und es hat eine Diskussion gegeben.«

»Zwischen den beiden Männern oder zwischen Ward und Bessy?«

»Ich weiß es nicht. Ward ist mit einer Flasche in der Hand zurückgekommen.«

»Sind beide Flaschen geleert worden?«

»Nein. Eine hatten wir im Auto gelassen.«

»Auf der vorderen oder auf der hinteren Bank?«

»Auf der hinteren Bank.«

»Auf welcher Seite?«

»Auf der linken Seite.«

»Wer hat links gesessen?«

»Sergeant O’Neil.«

»Haben Sie gesehen, ob er unterwegs getrunken hat?«

»Es war zu dunkel, ich konnte es nicht sehen.«

»Hat Harold Mitchell an jenem Abend den Eindruck gemacht, auf seine Schwester wütend zu sein?«

»Nein, Euer Ehren.«

Bessys Bruder war heute übrigens in Uniform. Am Vortage hatte er in Zivil mit seinem häßlichen lila Hemd einem jener schweren Jungs gegliehen, wie man sie in Filmen sieht.

Jetzt wirkte er in seinem sauberen und tadellos gebügelten Drillich sehr viel offener. Während der Chinese aussagte, holte der Musiker, der sich draußen aufgehalten hatte, Mitchell in einem bestimmten Augenblick hinaus auf die Terrasse und teilte ihm leise etwas mit. Als er wieder hereinkam, begab er sich zu Mike O’Rourke‘ der wiederum mit dem Attorney sprach; und der Attorney erhob sich:

»Sergeant Mitchell bittet darum, daß ein Zeuge möglichst bald angehört wird.«

Bessys Bruder saß wie am Tage zuvor neben Maigret. Er stand auf, als sich der Coroner ihm zuwandte, und sagte mit leicht zittemder Stimme:

»Angeblich haben einige Männer aus dem Zug ein Stück Schnur am Handgelenk meiner Schwester gesehen. Ich möchte, daß man sie verhört.«

Man gab ihm ein Zeichen, sich wieder zu setzen; der Coroner redete mit dem Gerichtsdiener, dann setzte er seine Vernehmung fort.

»Was ist geschehen, als der Wagen etwa eine Meile hinter dem Flugplatz hielt?«

Abermals hörte man, allerdings mit einem anderen Akzent, die Worte »Drang zu den Latrinen«, die automatisch ein Lächeln hervorriefen, als seien sie zu einem Gag geworden.

»Haben Sie gesehen, daß Bessy sich vom Auto entfernt hat?«

»Ja. Sie ist mit Sergeant Mullins weggegangen.«

Man blickte auf seinen Rücken, und Ward erschien immer weniger als der Mörder.

»Sind sie lange fortgeblieben? Wo war Ward während dieser Zeit?«

»Er ist als einer der ersten zum Wagen zurückgekehrt. Dann ist Bessy eingestiegen, und wir haben einige Minuten auf Mullins warten müssen.«

»Wie lange sind Bessy und Mullins zusammengeblieben?«

»Vielleicht zehn Minuten.«

»Stand da bereits fest, die Fahrt nach Nogales nicht fortzusetzen?«

»Nein. Erst als wir weiterfahren wollten, hat Bessy gesagt, sie habe genug und wolle nach Hause.«

»Hat Ward ohne Widerrede kehrtgemacht?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Berichten Sie uns, was sich dann zugetragen hat. Sie hatten an dem Abend doch nichts getrunken, nicht wahr?«

»Nur Coca-Cola. Nach etwa hundert Metern hat Bessy gebeten, wieder anzuhalten.«

»Weiter hat sie nichts gesagt?«

»Nein.«

»Wer ist mit ihr ausgestiegen?«

»Zuerst niemand. Sie hat sich allein entfernt. Dann ist auch Dan Mullins ausgestiegen.«

»Sind Sie sicher, daß es Mullins war?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Ist er lange weggeblieben?«

»Mindestens zehn Minuten. Vielleicht länger.«

»Hat er sich zum Bahndamm begeben?«

»Ja. Darauf ist Sergeant Ward auf der linken Seite ausgestiegen und um das Auto herumgegangen. Er ist aber gleich wieder eingestiegen, denn man hörte Mullins’ Schritte.«

»Haben die beiden Männer sich gestritten?«

»Nein. Der Wagen ist weitergefahren. Vor dem Autobusbahnhof haben wir uns absetzen lassen, Sergeant O’Neil, van Fleet und ich.«

»Wer hat den Vorschlag gemacht, auf die Straße zurückzukehren?«

»Sergeant O’Neil.«

»Hat er Sie gebeten, nicht mitzukommen?«

»Nicht ausdrücklich. Er hat mich nur gefragt, ob ich nicht zu müde sei und lieber zum Flugplatz zurückwolle.«

»Was ist im Taxi gesprochen worden?«

»O’Neil und van Fleet haben sich leise unterhalten. Ich saß vorne neben dem Fahrer und habe nicht zugehört.«

»Wer hat dem Chauffeur die Stelle angegeben, wo er halten sollte?«

»O’Neil.«

»War es der erste Haltepunkt oder der zweite?«

»Das kann ich nicht sagen. Es war noch dunkel.«

»Hat es in diesem Augenblick keinen Streit gegeben?«

»Nein, Euer Ehren.«

»War nicht die Rede davon, das Taxi warten zu lassen?«

»Davon ist nicht die Rede gewesen. Sie brachen auf, um das Mädchen in der Wüste zu suchen, und sie behielten den Wagen nicht, um sie zurückzubringen.«

»Kamen Ihnen auf der Straße keine Autos entgegen oder überholten Sie?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Was haben Sie getan, als das Taxi abgefahren war?«

»Wir sind in Richtung Nogales marschiert und dann, nach etwa einer Meile, umgekehrt.«

»Zusammen?«

»Auf dem Hinweg, ja. Zurück bin ich am Straßenrand gegangen. Sergeant O’Neil und Pinky waren weiter weg, in der Wüste.«

»Auf der Seite der Eisenbahnstrecke?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wie lange haben Sie für den Hin- und Rückweg gebraucht?«

»Ungefähr eine Stunde.«

»Und während der ganzen Stunde haben Sie niemanden gesehen? Keinen Zug gehört? Welche Farbe hatte das Auto, das Sie zurückgebracht hat?«

»Hellgelb.«

Wieder erhob sich der Attorney, um seine berühmte Frage zu stellen, der er eine unerklärliche Bedeutung beimaß.

»Haben Sie bemerkt, ob die Karosserie Spuren eines Unfalls zeigte?«

»Nein. Ich bin an der rechten Seite eingestiegen.«

»Und O’Neil?«

»Ebenfalls. Es war ein Sedan. Er hat sich vorne hingesetzt, ich saß hinten. Pinky ist um den Wagen herumgegangen.«

»Die Flasche Whisky hatten Sie nicht mehr bei sich?«

»Nein.«

»Und im Taxi?«

»Ich bin nicht sicher. Ich glaube nicht.«

»Als Harold Mitchell Ihnen am nächsten Tag mitgeteilt hat, daß seine Schwester getötet worden ist, haben Sie ihm erklärt, Sie wüßten, was sich zugetragen hat, wollten jedoch nur vor dem Sheriff aussagen.«

Maigret sah, wie Mitchells Hand sich auf dem Knie zusammenkrallte.

»Nein, Euer Ehren.«

»Sie haben nicht mit ihm gesprochen?«

»Ich habe zu ihm gesagt: ›Der Sheriff wird uns vernehmen, und ich werde ihm sagen, was ich weiß.‹«

Das war natürlich nicht dasselbe, und Mitchell machte neben Maigret eine nervöse, unwillige und Verärgerte Geste.

Log der Chinese? Wer von den vieren, die bisher verhört worden waren, sagte die Unwahrheit?

»Die Sitzung ist unterbrochen! Die Verhandlung wird unten im Saal des Friedensgerichts um halb zwei fortgeführt.«

Harry Cole war nicht da, wie er es versprochen hatte, und Maigret sah ihn etwas später vor dem County House aus seinem Auto steigen. Er war ebenso frisch und munter wie am Tag zuvor und hatte die gleiche gute Laune, die ihm angeboren schien. Es war die überlegene Heiterkeit eines Mannes, der keine Alpträume kennt und mit sich und den anderen in Frieden lebt.

Fast alle waren so, und gerade das war es, was Maigret in Wut versetzte.

Es erinnerte ihn an ein Kleidungsstück, das zu sauber, zu gut gewaschen, zu ordentlich gebügelt war. Es glich ihren Häusern, die so einwandfrei wie Kliniken waren und wo man keinen Grund entdeckte, sich lieber in die eine als in die andere Ecke zu setzen.

Er hatte sie letzten Endes in Verdacht, die Ängste aller menschlichen Wesen zu kennen und nur aus Scham diese Heiterkeit zur Schau zu tragen.

Selbst die fünf Männer von der Luftwaffe erschienen ihm nicht besorgt genug. Jeder blieb in sich selbst verschlossen, ohne daß man ihm die Ängstlichkeit jener Leute anmerkte, die zu Recht oder Unrecht eines Verbrechens verdächtigt werden.

Die Zuhörer erschauerten nicht. Niemand schien an das Mädchen zu denken, das auf dem Bahndamm getötet worden war. Es glich eher einer Art Spiel, und lediglich der Reporter des Star fügte ihm sensationelle Überschriften hinzu.

»Gut geschlafen, Julius?«

Wenn sie nur aufhören würden, ihn so zu nennen!

Am schlimmsten war, daß sie es nicht absichtlich taten, daß sie es nicht ironisch meinten.

»Haben Sie das Problem gelöst? Handelt es sich um ein Verbrechen, einen Selbstmord oder einen Unfall?«

Maigret betrat die Bar an der Straßenecke, als sei er dort zu Hause, und er sah mehrere Gesichter aus dem Verhandlungssaal, darunter zwei Geschworene.

»Have a drink! Sie hatten in Frankreich einen ähnlichen Fall, nicht wahr? Man hatte einen Richter auf einem Bahndamm tot aufgefunden. Wie hieß er noch?«

»Prince!« brummte Maigret schlecht gelaunt.

Und dabei fiel ihm ein, daß auch im Fall Prince von einer Schnur an den Handgelenken die Rede war.

»Wie hat die Sache geendet?«

»Sie hat nie geendet.«

»Und haben Sie eine Idee?«

Er hatte eine, aber er zog es vor, sie nicht preiszugeben; denn seine Meinung zu dieser Affäre hatte ihm genug Ärger und Angriffe von einem Teil der Presse eingebracht.

»Haben Sie mit Mike geplaudert? Sie kennen ihn doch, nicht wahr? Er ist der Chief Deputy-Sheriff und nimmt sich persönlich der wichtigsten Fälle an. Soll ich Sie mit ihm bekannt machen?«

»Noch nicht.«

»Dann wollen wir ein Steak mit Zwiebeln essen, und später setze ich Sie am County House ab.«

»Verfolgen Sie die Geschichte überhaupt nicht?«

»Sie geht mich nichts an, wie ich Ihnen gesagt habe.«

»Und sie interessiert Sie auch nicht?«

»Man kann sich nicht für alles interessieren, nicht wahr? Wenn ich die Arbeit von Mike O’Rourke mache, wer macht dann meine? Vielleicht werde ich morgen oder übermorgen Rauschmittel im Wert von zwanzigtausend Dollar beschlagnahmen, die seit einer Woche in dieser Gegend sind.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von unseren Agenten in Mexiko. Ich weiß sogar, wer sie verkauft hat, zu welchem Preis und an welchem Tag. Ich weiß, wann sie in Nogales über die Grenze gekommen sind. Und ich glaube auch zu wissen, in welchem Lastwagen sie nach Tucson transportiert worden sind. Aber dann schwimme ich.«

Die Kellnerin der Cafeteria war appetitlich und hübsch. Sie war eine recht üppige Blondine von etwa zwanzig Jahren. Cole rief ihr zu:

»Hello, Doll!«

Und zu Maigret sagte er:

»Sie studiert an der Universität. Sie hofft, ein Stipendium zu erhalten, um ihr Studium in Paris abschließen zu können.«

Warum hatte der Kommissar das Bedürfnis, ordinär zu werden? Welche Laune hatte ihn befallen, seit er sich Harry Cole gegenübersah?

»Und wenn man sie in den Hintern kneifen würde?« fragte er und dachte an die Kellnerinnen in den kleinen französischen Bistros.

Sein Kollege schien überrascht, sah ihn lange an, als würde sich die Frage ernsthaft stellen.

»Ich weiß es nicht«, gab er schließlich zu. »Vielleicht könnten Sie es versuchen? Doll!«

Erwartete er wirklich, daß Maigret die Hand ausstrecke, während sich das junge Mädchen in seinem weißen Kittel, der sich stramm um den Körper spannte, zu ihnen herabbeugte?

___________

»Sergeant Mullins!«

Wieder ein Junggeselle. Lediglich Ward war ja verheiratet und Familienvater.

War es jetzt nicht Dan Mullins, der wie ein gemeiner Kerl dastand?

»Erzählen Sie uns, was sich am Abend…«

Maigret zog den kleinen Saal im Erdgeschoß dem oberen vor, obwohl es hier heißer war. Es war intimer. Und Hesekiel, der sich wie zu Hause fühlte, wirkte weitaus pittoresker.

Er war der Hausmeister der Schule. Der Coroner war der Lehrer und der Attorney der Schulrat bei einem Routinebesuch.

Vielleicht würden sie sich endlich entschließen, die wesentlichen Fragen zu stellen? Sergeant Ward hatte gestanden, daß er auf seinen Freund Mullins eifersüchtig war. In dessen Gegenwart hatte er Bessy in der Küche des Musikers überrascht. Doch wieder war davon nicht die Rede.

Fünf Männer und ein Mädchen hatten einen großen Teil der Nacht gemeinsam verbracht. Alle, bis auf den Chinesen, waren durch Alkoholgenuß aufgereizt. Vier von ihnen waren unverheiratet, und Maigret wußte nun, wie wenig Gelegenheit sie hatten, sich zu befriedigen. Und Ward, der von seinem Charakter her zur Eifersucht neigte, schien sich in Bessy vernarrt zu haben.

Kein Wort davon. Immer die gleichen Fragen. Der Coroner mußte ihnen selbst so wenig Bedeutung beimessen, daß er woanders hinschaute, meist an die Decke, während er sie stellte. Vernahm er überhaupt die Antworten?

Allein Mike O’Rourke, der Maigret dieser County, machte sich Notizen und erweckte den Eindruck, an dem Fall interessiert zu sein. Die Negerin hinter dem Kommissar stillte ihr Baby, und ihr Gefolge hatte sich um ein kleines Mädchen und ein dickes Weib ihrer Rasse vermehrt. Wenn die Verhandlung noch lange dauerte, würde sicher ihr ganzer Stamm den Gerichtssaal füllen.

»Waren Sie Bessy vorher schon begegnet?«

»Einmal, Euer Ehren.«

»Allein?«

»Ich war mit Ward zusammen, als er sie im Drive-in kennenlernte. Ich habe mich verabschiedet, als sie gegen drei Uhr morgens mit dem Auto fortgefahren sind.«

»Wußten Sie, daß Sergeant Ward die Absicht hatte, sich scheiden zu lassen, um sie zu heiraten?«

»Nein, Euer Ehren.«

Damit war dieses Thema abgehandelt.

»Was ist geschehen, als der Wagen kurz hinter dem Flugplatz angehalten hat?«

»Wir sind alle ausgestiegen. Ich habe mich auf meiner Seite entfernt wegen dem Drang…«

Zu den Latrinen, das wußte man allmählich! Es wurde zu einer Zwangsvorstellung: fünf Männer und die Frau um das Auto verstreut und damit beschäftigt, sich der Flüssigkeit zu entledigen, die sie am Abend in sich hineingeschüttet hatten!

»Sind Sie allein gegangen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie haben Sergeant Ward gesehen?«

»Ich habe ihn mit Bessy in der Dunkelheit verschwinden sehen.«

»Sind sie zusammen zurückgekommen?«

»Ward ist zurückgekehrt und hat sich ans Steuer gesetzt. Dann hat er ungeduldig gesagt: ›Zum Teufel mit diesem Mädchen! Das wird ihr eine Lehre sein!‹«

»Verzeihung. Hat Ward diesen Satz beim ersten Halt ausgesprochen?«

»Ja, Euer Ehren. Vor Tucson haben wir nicht wieder gehalten.«

»Hat Bessy nicht unter dem Vorwand, mit ihm reden zu wollen, Ward gebeten, ihr zu folgen?«

»Vorher, ja.«

»Wann vorher?«

»Als der Wagen hielt. Sie hatte ihm erklärt, daß sie nicht weiterfahren wolle, und Ward hat das Gas weggenommen. Dann hat sie hinzugefügt: ›Ich möchte dich sprechen. Komm!‹«

»Beim ersten Halt?«

»Wir haben kein zweites Mal angehalten.«

Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Die Rücken der vier anderen Soldaten bewegten sich nicht. Der Coroner seufzte:

»Und weiter?«

»Wir sind in die Stadt zurückgekehrt und haben die drei anderen abgesetzt.«

»Warum sind Sie bei Ward geblieben?«

»Weil er mich darum gebeten hatte.«

»Wann?«

»Daran erinnere ich mich nicht mehr.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß er die Absicht hatte, Bessy zu suchen?«

»Nein, aber das war mir klar.«

»Haben Sie ihm Zigaretten gegeben?«

»Nein. Unterwegs hat er mich gebeten, die Packung aus seiner Tasche zu ziehen. Ich habe eine Zigarette herausgenommen und sie ihm angezündet.«

»War das eine Chesterfield?«

»Nein, Euer Ehren. Eine Camel. Es waren noch drei oder vier in dem Päckchen.«

»Haben Sie auch davon geraucht?«

»Ich glaube nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin eingeschlafen.«

»Bevor das Auto hielt?«

»Ich glaube, oder kurz darauf. Als Ward mich geweckt hat, sah ich einen Telegrafenmast und einen Kaktus neben dem Wagen.«

»Ist keiner von Ihnen ausgestiegen?«

»Ich weiß nicht, ob Ward den Wagen verlassen hat. Ich schlief. Er hat mich in seine Wohnung mitgenommen und mir ein Kopfkissen zugeworfen, damit ich mich auf die Couch legen konnte.«

»Haben Sie seine Frau gesehen?«

»Da noch nicht. Ich habe sie miteinander sprechen hören.«

»Kurz und gut, Sie sind auf die Straße zurückgekehrt, um Bessy zu suchen, und Sie sind nicht ausgestiegen.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sind Sie anderen Autos begegnet? Haben Sie den Zug gehört?«

»Nein, Euer Ehren.«

Alle diese großen und kräftigen Kerle waren zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Jahren alt. Bessy, die erst siebzehn zählte, war schon verheiratet, geschieden und jetzt tot.

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Als er an dem verglasten Büro vorbeikam, hörte Maigret, wie der Attorney ins Telefon sprach:

»Ja, Doktor. In wenigen Minuten. Ich danke Ihnen. Wir werden warten …«

Offensichtlich handelte es sich um den Arzt, der die Autopsie vorgenommen hatte und nun der nächste Zeuge sein sollte. Er mußte sehr beschäftigt sein, denn die Pause dauerte über eine halbe Stunde, und der Coroner hatte inzwischen Zeit, fünf oder sechs gewöhnliche Delinquenten abzufertigen.

In einer Ecke des Ganges führten der Attorney und Mike O’Rourke eine lebhafte Diskussion, und sie riefen den Offizier herbei, der die fünf Männer begleitete, um seine Meinung zu hören. Bald darauf schlossen sie sich in dem Büro mit der Aufschrift »Privat« ein, wo der Coroner sich zu ihnen gesellte.

Der Mann, der die Uhren aufzog

Einer der Onkel Maigrets, der Bruder seiner Mutter, hatte einen Tick. Sobald er sich in einem Raum aufhielt, in dem sich eine Uhr befand, irgendeine Uhr, groß oder klein, eine alte Wanduhr mit Perpendikel in ihrem Glasgehäuse oder ein Wecker auf dem Kamin, konnte er der Unterhaltung nicht mehr folgen, bis er sich ihr genähert und sie aufgezogen hatte.

Er machte das überall, selbst wenn er bei Leuten zu Besuch war, die er kaum kannte. Er tat es sogar in einem Geschäft, das er betreten hatte, um einen Bleistift oder Nägel zu kaufen.

Er war jedoch kein Uhrmacher, sondern Finanzbeamter. Hatte Maigret etwas von seinem Onkel? Cole hatte ihm bei der Hotelrezeption einen Zettel mit einem flachen Schlüssel im Umschlag hinterlassen.

Lieber Julius,

muß mit dem Flugzeug einen Sprung nach Mexiko machen. Werde wahrscheinlich morgen früh zurück sein. Sie finden meinen Wagen auf dem Parkplatz des Hotels. Anbei der Schlüssel. Wie immer Ihr

Was hätte er von ihm gedacht, was hätte er von der französischen Polizei gehalten, wenn er gewußt hätte, daß Maigret nie gelernt hatte, ein Auto zu steuern?

Hier flogen Männer in seinem Alter ihre eigenen Flugzeuge. Die Rancher, die im Grunde nur reiche Bauern sind, hatten beinahe alle ihre Privatmaschine, derer sie sich sonntags bedienten, um zum Angeln zu fliegen. Außerdem benutzten viele einen Hubschrauber, um ihre Pflanzungen mit Chemikalien zu bestäuben.

Er hatte keine Lust gehabt, allein im Speisesaal des Hotels zu essen, und so war er zu Fuß aufgebrochen. Schon lange wollte er einmal durch die Straßen bummeln, doch man hatte ihm nie die Gelegenheit dazu gegeben. Um zwei Blocks weiterzukommen, wie sie sagten, das heißt zwei Häuserblocks, schwangen sie sich hinters Steuer.

Er kam an einem schönen Gebäude im Kolonialstil vorüber, dessen weiße Säulen sich inmitten eines gepflegten Rasens erhoben. Am Abend zuvor hatte er das Schild im Neonlicht leuchten sehen: »Caroon. Mortuary.« Es war das Beerdigungsinstitut.

»Die beste Bestattung zum günstigsten Preis«, lautete die Anzeige in den Zeitungen.

Und jeden Abend sendete die Firma eine halbe Stunde sanfte Musik im Rundfunk. Der Inhaber selbst balsamierte die Leute ein. Man hatte Maigret mit schlecht verhehltem Abscheu angeblickt, als er erklärt hatte, daß man in Frankreich die Toten beerdigt, ohne sie vorher wie Fische oder Hühner auszunehmen.

Der kleine, vertrocknete und nervöse Arzt, der es sehr eilig zu haben schien, hatte bei der Vernehmung durch den Coroner nicht viel ausgesagt. Er hatte von dem »völlig skalpierten« Kopf gesprochen, von den beiden abgetrennten Armen und den »Fleischklumpen, die man ihm einzeln gebracht hatte«.

»Können Sie die Todesursache angeben?«

»Der Tod ist sicherlich durch den Zusammenprall mit der Lokomotive eingetreten. Der Schädel ist wie der Deckel von einer Dose abgerissen werden, und man hat Teile des Gehirns in mehreren Metern Entfernung aufgefunden.«

»Können Sie bestätigen, daß Bessy noch gelebt hat, als sich der Aufprall ereignete?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Kann sie nicht bewußtlos gewesen sein, entweder infolge von Schlägen oder aufgrund einer Vergiftung?«

»Das ist unmöglich.«

»Haben Sie Spuren von Schlägen festgestellt, die ihr vor dem Tode versetzt worden sind?«

»Bei dem Zustand der Leiche ist eine derartige Feststellung unmöglich.«

Das war alles. Keinerlei Anklänge an Untersuchungen intimerer Art, die man hätte machen können.

Maigret war in der Innenstadt nahezu der einzige, der auf den Bürgersteigen ging, und so war es in allen amerikanischen Städten gewesen, wo er sich aufgehalten hatte. Niemand wohnt im Zentrum. Sobald die Büros und Kaufhäuser geschlossen sind, strömt die Menge in die Wohnviertel zurück und läßt die Straßen einsam hinter sich, in denen die Schaufenster jedoch die Nacht hindurch erleuchtet bleiben.

Er kam zu einem Drive-in und verspürte Lust, einen Hot dog zu essen. Ein halbes Dutzend Autos Parkte fächerförmig vor der Tür, und zwei junge Mädchen bedienten die Insassen. Innen gab es wohl auch eine Art Theke mit Schemeln, die am Boden befestigt waren. Doch es erschien ihm zu schäbig, zu Fuß zu kommen und sich dort hinzusetzen.

Diesen Eindruck der Armseligkeit hatte er mehrmals am Tage. Die Leute hier hatten einfach alles. In jeder kleinen Stadt waren die Autos ebenso zahlreich und luxuriös wie auf den Champs-Elysées. Jeder trug neue Kleider und Schuhe. Schuster waren anscheinend unbekannt. Die Menschen waren sauber gewaschen und sahen blühend aus.

Auch die Häuser waren neu und verfügten über alle technischen Einrichtungen.

Sie hatten alles, das war das richtige Wort.

Und trotzdem wurden fünf zwanzigjährige Burschen vor den Coroner zitiert, weil sie die Nacht damit verbracht hatten, mit einem Mädchen zu trinken, das dann von einem Zug zerfetzt worden war.

Was ging ihn das an? Er war nicht hier, um sich darum zu kümmern. Studienreisen wie diese, die man ihm nach so vielen Jahren angeboten hatte, waren eher Vergnügungsfahrten. Er brauchte sich nur von Stadt zu Stadt spazierenführen und gut bewirten zu lassen, Whiskys, Cocktails und Deputy-Sheriff-Plaketten entgegenzunehmen und den Geschichten zuzuhören, die man ihm erzählte.

Es war stärker als er. Er befand sich in dem gleichen fiebrigen Zustand wie in Frankreich, wenn er sich in einen komplizierten Fall stürzte, den er um jeden Preis aufklären mußte.

Sie hatten alles, schön. Dennoch waren die Zeitungen voll von Berichten über Verbrechen verschiedenster Art. Gerade hatte man in Phoenix eine Gangsterbande festgenommen, deren ältestes Mitglied fünfzehn und das jüngste zwölf Jahre alt war. In Texas hatte am Tage zuvor ein achtzehnjähriger, bereits verheirateter Student die Schwester seiner Frau getötet.

Ein dreizehnjähriges, ebenfalls verheiratetes Mädchen hatte Zwillinge geboren, während ihr Mann wegen Diebstahls im Gefängnis saß.

Unwillkürlich begab er sich zur Penguin Bar. Als er die Strecke im Auto zurückgelegt hatte, war ihm der Weg nicht weiter als ein paar Schritte vorgekommen. Jetzt wurde ihm erst die Weiträumigkeit der Stadt bewußt, und er begann zu bedauern, daß er kein Taxi genommen hatte, denn er war durchgeschwitzt.

Sie hatten alles. Warum blickten dann die Leute gestern abend in der Penguin Bar so finster?

Hatte Maigret etwas von seinem Onkel, der die Uhren aufzog, einschließlich jener, die ihm nicht gehörten? Zum erstenmal dachte er auf diese Weise an seinen Onkel, und vielleicht entdeckte er den wahren Grund für diese Manie des guten Mannes. Er mußte eine Phobie vor stillstehenden Uhren haben. Eine Uhr jedoch, die geht, kann jeden Augenblick stehenbleiben. Die Leute sind nachlässig und vergessen, sie aufzuziehen.

Es geschah instinktiv: er tat es an ihrer Stelle.

Auch Maigret fühlte sich nicht wohl, wenn er den Eindruck hatte, daß etwas nicht klappte. Dann versuchte er, es zu begreifen, steckte seine Nase in alles hinein, schnüffelte.

Was klappte nicht in diesem Lande, wo sie alles hatten?

Die Männer waren groß und stark, gesund, sauber und im allgemeinen fröhlich. Die Frauen waren fast ausnahmslos hübsch. Die Kaufhäuser quollen vor Waren über, und die Wohnungen waren die komfortabelsten der Welt, an jeder Straßenecke gab es ein Kino, man sah nie einen Bettler, und das Elend schien hier unbekannt.

Der Einbalsamierer finanzierte ein Musikprogramm im Rundfunk, und die Friedhöfe waren herrliche Parkanlagen, bei denen man nicht das Bedürfnis hatte, sie mit Mauern und Gittern zu umhegen, als ob man Angst um seine Toten hätte.

Auch die Wohnhäuser waren von Rasenflächeh umgeben, und zu dieser Stunde sprengten die Männer in Hemdsärmeln oder mit nacktem Oberkörper das Gras und die Blumen. Es gab keine Bretterzäume und keine Hecken, um die Gärten voneinander abzutrennen.

Sie hatten alles, verflixt nochmal! Sie organisierten sich wissenschaftlich, um das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, und sobald der Wecker klingelte, wünschte einem der Rundfunk im Namen irgendeiner Porridge-Firma in herzlichem Ton einen fröhlichen Tag und gratulierte einem sogar zum Geburtstag, wenn es soweit war.

Warum also?

Wegen dieser Frage interessierte er sich offenbar so sehr für diese fünf Männer, die er ebensowenig wie Adam oder Eva kannte, und für diese Bessy, die nun tot war und von der er nicht einmal ein Bild gesehen hatte, und für die anderen Personen, die bei der Verhandlung an ihm vorüberzogen.

Viele Dinge sind in jedem Land anders. Manches ist überall gleich.

Aber vielleicht ist es das Elend, das jenseits der Grenzen seine Farbe am stärksten wechselt.

Das Elend der Armenviertel von Paris, der kleinen Bistros an der Porte d’Italie oder der Forte de Saint-Ouen, das schmutzige Elend am Stadtrand und das verschämte Elend von Montmartre oder vom Pére Lachaise waren ihm vertraut. Auch das endgültige Elend an den Quais, an der Place Maubert oder bei der Heilsarmee.

Es war ein Elend, das man verstand, dessen Ursprung man ermitteln und dessen Fortschreiten man verfolgen konnte.

Hier vermutete er das Vorhandensein eines Elends, das sauber gewaschen war und nicht in Lumpen ging, eines Elends mit Bad, das noch härter, unerbittlicher und verzweifelter erschien.

Endlich stieß er die Tür zur Penguin Bar auf und hievte sich auf einen der Hocker. Der Barkeeper, der ihn wiedererkannte, erinnerte sich an das, was er in der vergangenen Nacht getrunken hatte, und schlug freundschaftlich vor:

»Manhattan?«

Er sagte ja. Es war ihm gleichgültig. Es war erst acht Uhr. Noch war es nicht dunkel, trotzdem saßen schon zwanzig Männer an der Theke, um einen zu heben, während in den Boxen einzelne Tische bereits besetzt waren.

Ein Mädchen, das eine lange Hose und ein weißes Hemd trug, bediente im Lokal. Er hatte sie am Vorabend nicht bemerkt. Er folgte ihr mit den Augen. Ihre Hose aus schwarzem feinen Gabardine zeichnete bei jedem Schritt ihre Hüften und Schenkel ab. Sie erweckte den Eindruck, als sei sie einer Wandreklame, einem Kalender oder einer Filmzeitschrift entsprungen.

Nachdem sie alle bedient hatte, steckte sie fünf Cents in den Musikautomaten und wählte eine sentimentale Melodie. Dann stützte sie sich mit einem Ellbogen auf die Theke und träumte vor sich hin.

Es gab hier keine Terrassen, auf denen man den Aperitif trank, im Schein der untergehenden Sonne die Passanten betrachtete und den Duft der Kastanienbäume einatmete.

Es wurde getrunken, aber dazu mußte man sich in Bars einschließen, in die niemand hineinblicken konnte, als befriedige man ein beschämendes Bedürfnis.

War dies der Grund, warum man mehr trank?

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Der Lokomotivführer war als letzter verhört werden. Er war ein Mann in mittlerem Alter, gut gekleidet, so daß Maigret ihn zunächst für einen Beamten gehalten hatte.

»Als ich den Körper bemerkte, war es zu spät, um den Zug zum Stillstand zu bringen, denn ich hatte achtundsechzig beladene Waggons hinter mir.«

Obst und Gemüse, die in Kühlwagen aus Mexiko kamen. Aus der ganzen Welt trafen solche Lieferungen ein. Hunderte von Schiffen warfen täglich in den Häfen Anker.

Sie hatten alles.

»War es schon hell?« hatte der Attorney gefragt.

»Es dämmerte gerade. Sie lag zwischen den Schienen.«

Man hatte ihm eine Wandtafel gebracht. Er hatte mit Kreide zwei Linien gezeichnet, die die Schienenstränge darstellen sollten, und dazwischen hatte er eine Art Puppe gemalt.

»Das ist der Kopf.«

Weder der Kopf noch andere Körperteile berührten die Schienen.

»Sie lag auf dem Rücken, mit angezogenen Knien, so wie hier. Hier ist ein Arm, dort der andere, der abgerissen wurde.«

Maigret betrachtete die Schultern der fünf Soldaten, insbesondere die Schultern Wards, der Bessy vielleicht geliebt hatte. War er es oder einer von seinen Kameraden, der mit ihr in jener Nacht geschlafen hatte?

»Der Körper wurde ungefähr dreißig Meter mitgeschleift.«

»Haben Sie vor dem Aufprall sehen können, ob sie noch lebte?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Euer Ehren.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß sie an den Handgelenken gefesselt war?«

»Nein, Euer Ehren. Wie Sie auf dieser Skizze sehen können, waren ihre Hände auf dem Bauch gefaltet.«

Skizze des Lokomotivführers

Und mit leiserer Stimme fügte er schnell hinzu:

»Ich habe die einzelnen Stücke am Bahndamm aufgelesen.«

»Ist es richtig, daß Sie eine Schnur gefunden haben?«

»Ja, Euer Ehren. Es war nur ein Stück, etwa fünfzehn Zentimeter lang. Man findet ja so allerlei auf den Gleisen.«

»Lag die Schnur in der Nähe der Leiche?«

»Vielleicht einen Meter weiter.«

»Sonst haben Sie nichts gefunden?«

»Doch, Euer Ehren.«

Er begann in seinen Taschen zu kramen und zog einen kleinen weißen Knopf hervor.

»Es ist ein Hemdenknopf. Ich habe ihn automatisch eingesteckt.«

Er reichte ihn dem Coroner, der ihn an den Attorney weitergab, und O’Rourke zeigte ihn den Geschworenen und legte ihn dann vor sich auf den Tisch.

»Was hatte Bessy an?«

»Sie trug ein beigefarbenes Kleid.«

»Mit weißen Knöpfen?«

»Nein, Euer Ehren. Die Knöpfe waren ebenfalls beige.«

»Wie viele Männer waren im Zug?«

»Insgesamt fünf.«

Harold Mitchell, der Bruder, hatte sich wieder erhoben. Man erteilte ihm das Wort.

»Ich bitte darum, auch die vier anderen anzuhören.«

Nach seinen Worten war es der Heizer, der gesehen hatte oder behauptete, gesehen zu haben, daß vor dem Zusammenprall Bessys Handgelenke mit einer Schnur umwunden waren.

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Es hatte sich jedoch etwas ereignet, das Maigret nicht richtig verstanden hatte. In einem bestimmten Augenblick war der Attorney aufgestanden, hatte mit dem Coroner gesprochen, aber der Kommissar hatte nur einen Teil von dem gehört, was er sagte. Der Coroner wiederum hatte etwas notiert.

Als nun alle Anwesenden den Gerichtssaal verließen, folgten die fünf Soldaten nicht wie am Vortag ihrem Offizier, um zum Flugplatz zurückzukehren, sondern sie wurden von dem Deputy-Sheriff mit dem dicken Revolver zum Ende des Ganges geführt.

Maigret war neugierig genug, hinterherzugehen. Es befand sich dort eine schwere Eisentür, ein Gitter, und hinter diesem Gitter waren andere Gitter, und zwar die der Gefängniszellen.

Im Säulengang hatte er sich an einen der Geschworenen gewendet:

»Sind sie verhaftet worden?«

Wegen seines Akzents verstand ihn der Mann nicht gleich.

»Ja, wegen Anstiftung zu Jugendkriminalität.«

»Auch der Chinese?«

»Er hat eine der Flaschen bezahlt.«

So saßen sie im Gefängnis, weil sie Bessy zum Trinken verleitet hatten, die mit siebzehn Jahren verheiratet und wieder geschieden war und sich mehr oder weniger der Prostitution hingab.

Maigret war sich klar darüber, daß ein Reisender immer ein bißchen lächerlich wirkt, weil er möchte, daß alles so vor sich geht wie bei ihm zu Hause.

Vielleicht hatten sie ihren Plan. Möglicherweise war die Untersuchung des Coroners lediglich eine Formsache, und die eigentliche Ermittlung hatte woanders stattgefunden.

Den Beweis dafür erhielt er an jenem Abend. Als einer der Bargäste ziemlich schweren Schrittes das Lokal verließ, nachdem er der Runde lautstark einen guten Abend gewünscht hatte, bemerkte Maigret O’Rourke, den der Trinker bis dahin verdeckt hatte.

Er saß in einer der abgeteilten Nischen vor einer Flasche Bier. Die Kellnerin war zu ihm gegangen und hatte sich neben ihn gesetzt. Sie schienen gute Freunde zu sein. Der Chief Deputy-Sheriff sprach mit dem Mädchen, streichelte ihren Arm und hatte ihr ein Glas spendiert.

Kannte er Maigret vom Sehen? Hatte Harry Cole ihn ihm unter den Zuschauern gezeigt?

Es freute den Kommissar, seinen amerikanischen Kollegen in der Bar anzutreffen. Pflegte er es nicht ebenso zu machen? Sicher war es nicht O’Rourkes erster Besuch im Penguin.

Er spielte nicht den Polizisten. Er saß behäbig in seiner Ecke. Er rauchte keine Pfeife, sondern Zigaretten. Er tat sogar etwas Überraschendes. Er zündete sich eine Zigarette an und reichte sie, nachdem er ein paar Züge gemacht hatte, wie selbstverständlich an das Mädchen weiter, das sie zwischen die Lippen klemmte.

War sie in der Nacht, als Bessy starb, hier gewesen? Wahrscheinlich. Sie mußte jeden Abend in der Bar sein. Sie hatte sie bedient.

O’Rourke scherzte, und sie lachte. Sie hatte ein Pärchen bedient, das eben hereingekommen war, und sich dann wieder zu ihm gesetzt.

Er schien ihr den Hof zu machen. Er war rotblond, hatte einen Bürstenhaarschnitt und das Gesicht eines Sanguinikers. Warum setzte Maigret sich nicht zu ihnen? Er brauchte sich nur vorzustellen.

Statt dessen bestellte er:

»Einen Halben!«

Doch gleich verbesserte er sich:

»Ein Bier!«

Das Bier war stark, wie in England. Viele verschmähten es, ihr Glas zu benutzen, und tranken aus der Flasche. Neben Maigret stand ein Zigarettenautomat ähnlich den Schokoladenautomaten in der Pariser Métro.

Was klappte hier nicht?

Als Harry Cole von der Rekrutierung der Armee erzählte, hatte er hinzugefügt:

»Es sind unter anderem viele auf Ehrenwort dabei.«

Und da Maigret ihn nicht verstand, hatte er erklärt:

»Wenn hier ein Mann zu zwei, fünf oder mehr jahren Gefängnis verurteilt wird, so bedeutet das nicht, daß er die ganze Zeit in der Strafanstalt verbringen muß. Wenn er sich gut führt, wird er manchmal schon nach einigen Monaten, jedenfalls nach einem gewissen Zeitraum, auf Ehrenwort entlassen. Er ist dann frei, muß sich aber zu Anfang jeden Tag, später jede Woche und schließlich jeden Monat bei einer Polizeidienststélle melden und über seinen Lebenswandel berichten.«

»Werden sie oft rückfällig?«

»Ich habe keine Statistiken zur Hand. Das FBI beklagt sich darüber, daß die Leute zu leicht auf Ehrenwort entlassen werden. Es gibt einige, die wenige Stunden, nachdem sie auf freien Fuß gesetzt wurden, einen Diebstahl oder einen Mord begehen. Andere wiederum treten gleich in die Armee ein, wodurch sie automatisch der polizeilichen Aufsicht entzogen sind.«

»Ist das bei Ward der Fall?«

»Ich glaube nicht. Mullins hingegen ist wegen geringerer Delikte mehrfach vorbestraft werden. Vor allem Schlägereien und Körperverletzungen. Er stammt aus Michigan. Das sind hangesottene Kerle.«

Wieder so eine Sache, die Maigret verwirrte. Die Leute kamen fast nie aus der Gegend, in der sie lebten. Hier in Tucson stammte der Coroner, der gleichzeitig Friedensrichter war, aus Maryland, hatte jedoch in Kalifornien studiert. Der Lokomotivführer von vorhin war in Tennessee geboren. Und der Barkeeper mußte auf direktem Wege aus Brooklyn gekommen sein.

Oben, in den Großstädten des Nordens, gab es die Slums, die Armenviertel mit ihren kasemenartigen Häusern, wo die Männer hart und rauh waren und die Straßenkinder schon Banden bildeten.

Im Süden hausten die.Menschen rings um die Städte in Holzbaracken inmitten von Müllhalden.

Doch damit war nicht alles erklärt, Maigret spürte es. Da war noch etwas anderes, und er trank sein Bier und starrte dabei mit trotzigem Blick zu seinem Amtsbruder und der Kellnerin hinüber.

Einen Moment fragte er sich, ob O’Rourke in Wirklichkeit nicht hier war, um ihn zu beschatten. Undenkbar war das nicht. Harry Cole konnte — trotz seiner Art, mit dem Leben und den Menschen zu spielen — durchaus erraten haben, daß Maigret heute abend in die Penguin Bar kommen würde. Vielleicht paßte es ihnen nicht, daß er seine Nase in diese Affäre steckte. Es war nicht richtig, soviel zu trinken. Aber was sollte er machen? Er konnte nicht wie auf einer Terrasse eine Stunde lang vor seinem Glas sitzen. Er konnte auch nicht allein und zu Fuß durch die endlosen Straßen irren. Er hatte keine Lust, ins Kino zu gehen oder sich in sein Hotelzimmer zurückzuziehen.

Er machte es wie die anderen. Wenn sein Glas leer war, gab er dem Barmann ein Zeichen, der es wieder füllte, und er sagte sich, daß er am nächsten Morgen nur die blaue Flasche im Drugstore in Anspruch zu nehmen brauchte, um sein Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Er hatte sich die Adresse von dem Haus notiert, in dem Bessy mit Erna Bolton gewohnt hatte. Schließlich ließ er sich von seinem Hocker heruntergleiten und schlenderte durch das Viertel, wobei er die Namen oder vielmehr die Nummern der einzelnen Straßen zu entziffem suchte.

Sobald man die Geschäftsstraße mit ihren erleuchteten Schaufenstem verließ, kam man in dunkle Gegenden, in denen die Häuser durch Rasenflächen voneinander getrennt waren.

Schlossen die Leute absichtlich weder Fensterläden noch Vorhänge?

Vor allen Wohnhäusern befand sich eine Veranda, und nahezu überall sah man Familien in Schaukelstühlen sitzen. In den erhellten Zimmern erblickte man oft ein intimeres Leben: Ehepaare beim Essen, Frauen, die sich kämmten, Männer, die die Zeitung lasen, und aus allen Wohnungen drangen Radioklänge.

Das Haus von Bessy und Erna Bolton stand an einer Straßenecke. Es war eingeschossig. Es brannte Licht. Es war recht hübsch, fast luxuriös. Harold Mitchell und der Musiker saßen auf einer Couch und rauchten ihre Zigarette, während ihnen Erna im Morgenrock Eis brachte.

Maggie Wallach war nicht zugegen. Vielleicht arbeitete sie im Drive-in und servierte den Autofahrern Hot dogs und Spaghetti.

Hier gab es keine Geheimnisse. Alle Welt schien im vollen Licht zu leben. Es strichen keine beunruhigenden Gestalten um die Häuser, es wurden keine Gardinen vor die Fenster gezogen. Nur diese Autos sah man, die Gott weiß wohin fuhren, ohne jemals zu hupen, an den Kreuzungen scharf bremsten, sobald die Ampel von Grün auf Rot wechselte, und dann geradeaus weiterrollten.

Er aß diesmal nicht zu Abend. Als er in die Innenstadt zurückkehrte, waren die Drugstores, in denen er ein Sandwich essen wollte, bereits geschlossen. Alles war zu bis auf die drei Kinos und die Bars.

Deshalb ging er, ein wenig verschämt, in eines dieser Lokale, später in ein anderes. Er grüßte den Barman vertraulich, wie er es immer wieder gesehen hatte, und schwang sich auf einen Hocker.

Überall ertönte die gleiche gedämpfte Musik. An der ganzen Theke entlang schluckten vernickelte Apparate, die an den Plattenspieler angeschlossen waren, die Fünf-Cents-Stücke. Man stellte einen Pfeil auf den Titel ein, den man zu hören wünschte.

War das vielleicht die Erklärung?

Er war ganz allein und tat, was ein Mann tun kann, wenn er allein ist.

Als er sein Hotel wieder betrat, fühlte er sich schrecklich bleiern und hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Er begab sich zum Aufzug, kehrte um und legte den Schlüssel zu Coles Wagen in das Fach an der Rezeption. Vielleicht würde sein Kollege das Auto am nächsten Tag in aller Frühe brauchen.

»Good night, Sir!«

»Good night!«

Auf seinem Nachttisch lag eine Bibel. In Hunderttausenden von Hotelzimmern wartete die gleiche Bibel mit schwarzem Deckel auf den Reisenden.

Kurzum, die Bar oder die Bibel!

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Wieder fand der Unterricht in der ersten Etage statt, und bevor Hesekiel das Zeichen gab, wandelte man auf der Galerie in der schon warmen Morgensonne.

Jeder hatte ein frisches Hemd an, und die Dusche hatte die Nebelschwaden der Nacht fortgespült.

So begann man lächelnd jeden Morgen des Lebens von neuem.

Es war eine kleine Überraschung, als man den Saal betrat und die fünf Burschen nicht mehr in ihrer Fliegeruniform erblickte, sondern in blauen Leinenanzügen, die viel zu weit waren, an Pyjamas erinnerten und den Hals völlig frei ließen.

Schlagartig sahen sie nicht mehr wie brave Jungens aus. Man bemerkte jetzt die Unregelmäßigkeit der Gesichtszüge, gewisse Asymmetrien, die beunruhigend wirkten.

Die Wandtafel war heraufgebracht worden, und man sah immer noch das Hampelmännchen zwischen zwei Kreidelinien, die die Schienen darstellten; die Tafel wurde erneut benötigt.

»Elias Hansen von der Southern Pacific.«

Er gehörte nicht zu den vier Eisenbahnern, deren Vernehmung Mitchell verlangt hatte. Ruhig und mit lauter, gleichmäßiger Stimme erklärte er, worin sein Beruf bestand. Er führte für die Eisenbahngesellschaft die Untersuchungen, wenn in den Zügen ein Diebstahl, ein Unfall oder ein Mord vorkam. Er stammte offenbar aus Skandinavien. Man spürte, daß er bei der Sache war. Er war an Ermittlungen durch den Coroner gewöhnt und wandte sich von selbst mit den Gebärden eines Schulmeisters, der eine schwierige Aufgabe zu erklären hat, den Geschworenen zu.

»Ich wohne in Nogales. Ich bin morgens kurz vor sechs telefonisch benachrichtigt worden. Ich bin mit meinem Wagen um sechs Uhr achtundzwanzig an der Unfallstelle eingetroffen.«

»Haben Sie dort andere Autos vorgefunden?«

»Ich sah den Krankenwagen und vier oder fünf weitere Fahrzeuge, einige von der Polizei, andere von Neugierigen. Ein Deputy-Sheriff hielt die Leute davon ab, den Bahndamm zu betreten.«

»Stand der Zug immer noch da?«

»Nein. Ich bin Sheriff Atwater begegnet, der vor mir angekommen war.«

Er deutete amc einen Mann, der unter den Zuschauern saß und den Maigret bereits bemerkt hatte, ohne ihn für einen Kollegen zu halten.

»Was haben Sie gemacht?«

Elias Hansen erhob sich, schritt leichtfüßig auf die Wandtafel zu, griff nach einem Stück Kreide.

»Gestatten Sie, daß ich das lösche?«

Er zeichnete nun die Straße, das Eisenbahngleis, skizzierte die vier Himmelsrichtungen sowie die Lage von Tucson und Nogales.

»Zunächst hat Atwater mich an dieser Stelle auf Reifenspuren aufmerksam gemacht, die darauf hinwiesen, daß hier ein Auto stark gebremst hatte, bevor es an den Straßenrand fuhr. Wie Sie wissen, ist der Seitenstreifen sandig. Sehr deutliche Fußspuren führten vom Wagen weg, und wir sind ihnen gefolgt.«

»Spuren von wieviel Personen?«

»Von einem Mann und einer Frau.‘«

»Können Sie auf der Tafel ungefähr angeben, wie sie verliefen?«

Er tat es mit punktierten Linien.

»Der Mann und die Frau schienen nebeneinander, aber nicht in gerader Richtung gegangen zu sein. Sie haben mehrere Umwege gemacht, ehe sie den Bahndamm erreichten, und sind mindestens zweimal stehen geblieben. Dann haben sie die Böschung an dieser mit einem Kreuz bezeichneten Stelle überquert. Auf der anderen Seite verliert sich nach einer gewissen Entfernung die Spur, weil der Boden dort hart und steinig ist. Wir haben sie umgekehrt in der Nähe der Stelle wieder aufgenommen, wo die Frau vom Zug erfaßt worden ist. Auf dem Damm selbst, der aus Schotter besteht, waren keine Fußabdrücke zu erkennen, doch wenige Meter weiter fanden wir die der Frau.«

»Nicht die des Mannes?«

»Die des Mannes auch, aber sie verliefen nicht mehr parallel. An diesem Punkt hat jemand sein Wasser gelassen, das war deutlich im Sand zu sehen.«

»Haben Sie bemerkt, ob sich die Spuren stellenweise überlagerten?«

»Ja, Euer Ehren. Hier, dann hier, zweimal überlagert der männliche Fußabdruck den weiblichen, als sei der Mann hinter seiner Begleiterin geschritten.«

»Haben Sie die Spuren des Mannes auf dem Rückweg wiedergefunden, also in Richtung auf die Straße?«

»Nicht genau und ohne Unterbrechung. Von dieser Stelle an werden die Spuren zahlreicher und undeutlicher, wahrscheinlich weil das Zugpersonal, die Ambulanz und die Polizei dort entlanggegangen sind.«

Skizze von Hansen

»Haben Sie die Schnur, von der der Lokomotivführer gesprochen hat?«

Er zog sie lässig aus der Tasche. Es war ein beliebiges Stück Strick, dem er sichtlich nicht viel Bedeutung beimaß.

»Bitte sehr. Ein zweites Stück habe ich fünfzig Meter weiter gefunden.«

»Keine Frage, Attorney?«

»Wie viele Menschen waren dort, als Sie eintrafen?«

»Vielleicht ein Dutzend.«

»Hatten andere Personen bereits mit der Untersuchung begonnen?«

»Deputy-Sheriff Atwater, und ich glaube, auch Mister O’Rourke.«

»Haben Sie nichts entdeckt?«

»Vier oder fünf Meter von den Gleisen entfernt habe ich eine Handtasche aus weißem Leder gefunden.«

»In der Nähe der Fußspuren?«

»Auf der entgegengesetzten Seite. Sie war teilweise in den weichen Boden hineingedrückt, als sei sie im Augenblick des Zusammenpralls dort hingeschleudert worden. Wir kennen das. Es ist die Folge der Zentrifugalkraft.«

»Haben Sie die Tasche geöffnet?«

»Ich habe sie Sheriff O’Rourke übergeben.«

»Hat sich Ihre Untersuchung darauf beschränkt?«

»Nein, Euer Ehren. Ich habe die Straße in Richtung Tucson und in Richtung Nogales auf einer Strecke von je einer halben Meile überprüft. Hundertfünfzig Meter weiter in Richtung Nogales habe ich deutliche Reifenspuren entdeckt, die darauf hindeuten, daß ein Auto auf dem rechten Seitenstreifen gehalten hat. Es gab zahlreiche Fußäbdrücke und Anzeichen auf der Straße, daß der Wagen an dieser Stelle gewendet hat.«

»Sind die Spuren identisch mit denen des ersten Wagens, von dem Sie gesprochen haben?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wie können Sie dessen so sicher sein?«

Hansen zog einen Zettel aus der Tasche und zählte die Reifenmarken des Autos auf, das gewendet hatte. Die vier abgefahrenen Pneus stammten tatsächlich von verschiedenen Firmen.

»Wissen Sie, zu welchem Wagen sie gehören?«

»Ich habe es später nachgeprüft. Es sind die Reifen des Chevrolets von Ward.«

»Und wie ist es mit denen des Autos, von dem die Schritte einer Frau und eines Mannes ausgehen?«

»Ich glaube, dem Sheriff wird es nicht schwerfallen, den Wagen ausfindig zu machen. Es handelt sich dabei nämlich um eine Reifenmarke, die nur auf Kredit in monatlichen Raten verkauft wird.«

»Haben Sie das Taxi untersucht, mit dem die Korporale van Fleet und Wo Lee sowie der Sergeant O’Neil zu der Stelle gefahren sind?«

»Ja, Euer Ehren. Um dieses Auto handelt es sich nicht. Das Taxi hat Goodrich-Reifen.«

»Keine Fragen, meine Herren Geschworenen?«

Pause. Maigret steckte bereits seine Pfeife an, und Hesekiel, der das gleiche tat, zwinkerte ihm komplizenhaft zu. Der Deputy-Sheriff mit dem dicken Revolver und dem Gürtel voller Patronen führte die fünf Männer in Sträflingskleidung zur Galerie, und sie gingen nacheinander zur Toilette, wo sich der Kommissar gleichzeitig mit Ward und Mitchell einfand.

Täuschte er sich? Als er die Tür aufstieß, hatte er den Eindruck, daß Sergeant Ward und der Bruder von Bessy plötzlich verstummten.

Die Aussage des Chauffeurs

Während der Pause stand Maigret mit Mitchell im Erdgeschoß in einer Ecke des Säulengangs nicht weit von dem großen roten Coca-Cola-Automaten.

Der Kommissar fühlte sich ebenso ungeschickt und unbehaglich wie ein Provinzler, der in Paris eine hübsche Frau auf der Straße anspricht. Er blickte ihn zunächst von der Seite an, räusperte sich und setzte eine möglichst ungezwungene Miene auf.

»Sie haben nicht zufällig ein Foto von Ihrer Schwester bei sich?«

Darauf geschah in wenigen Sekunden etwas, das Maigret bereits oft erlebt hatte. Mitchell machte schon an sich keinen angenehmen Eindruck. Und nun ähnelte er unvermittelt all den anderen schweren Jungs und erinnerte an die üblen Burschen von Paris oder an die Gangster der amerikanischen Filme. Es war eine animalische Abwehr, die diese Leute beibehalten haben und die man bei Raubtieren beobachten kann, wenn sie Gefahr wittern und plötzlich unbeweglich verharren, angespannt, mit sich sträubendem Fell.

Ein schwerer, starrer Blick richtete sich auf den massigen Maigret, der sich Mühe gab, natürlich zu bleiben. Ausweichend, als wolle er seinen Gesprächspartner für sich einnehmen, fügte er hinzu:

»Es gibt einen Haufen Fragen, die die Ihnen anscheinend nicht stellen wollen.«

Der andere war noch mißtrauisch und versuchte, die Situation zu begreifen.

»Man könnte meinen, sie wollen einen Unfall daraus konstruieren.«

»Das wollen sie.«

»Ich bin vom Fach. Ich gehöre zur französischen Polizei. Diese Geschichte interessiert mich rein privat. Ich hätte gerne ein Foto von Ihrer Schwester gesehen.«

Die üblen Burschen sind überall die gleichen. Mit dem Unterschied allerdings, daß sie hier nicht höhnisch, sondern verbittert waren.

»Sie glauben also nicht wie diese Hundesöhne, daß sie sich absichtlich auf die Schienen gelegt hat, um von dem Zug überfahren zu werden?«

Man spürte seinen tiefen Groll. Er stellte schließlich die Coca-Cola-Flasche am Boden ab und zog eine dicke, abgenutzte Brieftasche aus seiner Jacke.

»Hier. So hat sie vor drei Jahren ausgesehen.«

Es war ein schlechtes Bild, das auf dem Jahrmarkt vor einer bemalten Leinwand aufgenommen werden war. Die drei Personen waren bleich. Es war bestimmt nicht im Südwesten gewesen, denn sie trugen warme Winterkleidung, und Bessy hatte einen billigen Pelz am Mantelkragen und eine komische kleine Kappe auf dem Kopf.

Sie sah wie fünfzehn aus, doch der Kommissar wußte, daß sie damals noch nicht so alt gewesen war. Ihr unregelmäßiges kleines Gesicht, das keinen sehr gesunden Eindruck machte, war nicht ohne Reiz. Man merkte, daß sie die Frau herauskehrte, die Frau, die sehr stolz war, mit zwei Männern auszugehen.

Sie mußten an jenem Abend in guter Stimmung gewesen sein. Die Welt gehörte ihnen. Der kaum zum Jüngling herangereifte Mitchell hatte den Hut tief in die Stirn gezogen, eine Zigarette im Mundwinkel und verzog herausfordernd das Gesicht.

Der zweite Begleiter war etwas älter, ungefähr achtzehn oder neunzehn Jahre, recht dick und weichlich.

»Wer ist das?«

»Steve. Er hat sie wenige Wochen später geheiratet.«

»Was war er von Beruf?«

»Damals arbeitete er in einer Reparaturwerkstatt.«

»Und wo war das?«

»In Kansas.«

»Warum hat er sich scheiden lassen?«

»Er ist zuerst einfach davongelaufen, ohne daß wir wußten, weshalb. In den ersten Monaten hat er ein bißchen Geld geschickt, die Überweisungen kamen aus Saint-Louis, dann aus Los Angeles. Eines Tages hat er schließlich geschrieben, es wäre besser, wenn sie sich scheiden ließen, und er hat die nötigen Papiere beigelegt.«

»Hat er einen Grund angegeben?«

»Ich nehme an, daß er meine Schwester nicht in die Geschichte hineinziehen wollte. Ein halbes Jahr später ist er mit einer Bande geschnappt worden, die Autos gestohlen hat. Er ist jetzt in Saint-Quentin.«

»Sind Sie auch im Gefängnis gewesen?«

»Nur in einer Besserungsanstalt.«

In Frankreich war es leichter. Da kannte Maigret diese Burschen, und er hatte die Mauer immer schnell überwunden, die sie voneinander trennte.

Hier, auf fremdem Boden, tastete er sich nur zögernd voran, ängstlich bemüht, sein Gegenüber nicht kopfscheu zu machen.

»Sind Sie aus Kansas?«

»Ja.«

»War Ihre Familie arm?«

»Ja, wir haben gehungert. Wir waren fünf Geschwister, die mit kaum einem Jahr Abstand geboren wurden. Mein Vater ist mit dem Lastwagen tödlich verunglückt, als ich fünf war.«

»War er Lastwagenfahrer? Hat die Versicherung nicht bezahlt?«

»Er arbeitete auf eigene Rechnung. Er besaß einen alten LKW und holte Gemüse vom Land, um es in den Städten zu verkaufen. Er war jede Nacht unterwegs. Der Wagen war noch nicht ganz abbezahlt, und natürlich war er nicht versichert.«

»Was hat Ihre Mutter gemacht?«

Er schwieg, zuckte die Achseln und sagte tonlos:

»Was sie konnte. Mit sechs Jahren habe ich Zeitungen verkauft und auf den Straßen Schuhe geputzt.«

»Glauben Sie, daß Sergeant Ward Ihre Schwester getötet hat?«

»Bestimmt nicht.«

»Liebte er sie?«

Wieder ein kaum merkliches Schulterzucken.

»Es war nicht Ward. Der ist viel zu ängstlich dazu.«

»Hatte er wirklich die Absicht, sich scheiden zu lassen?«

»Jedenfalls hätte er sie nicht umgebracht.«

»Mullins?«

»Mullins und Ward haben sich sozusagen nicht getrennt.«

Er hatte das Foto wieder an sich genommen und eingesteckt. Er schaute Maigret in die Augen und fragte:

»Angenommen, Sie würden entdecken, wer meine Schwester getötet hat, was würden Sie tun?«

»Ich würde es dem FBI sagen.«

»Die haben damit nichts zu schaffen.«

»Ich würde mit dem Sheriff sprechen, mit dem Attorney.«

»Es wäre besser, Sie würden mit mir darüber reden.«

Und immer noch mit etwas abweisender, ein wenig verächtlicher Miene entfernte er sich, denn oben hörte man Hesekiel rufen:

»Geschworene!«

Wieder ein geheimes Gespräch zwischen dem Coroner und dem Attorney, der zu ihm sagte:

»Ich möchte, daß man gleich den Taxifahrer ver— hört, der seit heute morgen wartet und nur seine Zeit verliert.«

Es war stets eine Überraschung, die Zeugen aus dem Zuschauerraum treten zu sehen, denn meistens glichen sie nicht dem Bild, das man sich von ihnen gemacht hatte. Der Chauffeur zum Beispiel war klein und mager, hatte eine dicke Intellektuellenbrille und trug wie jedermann eine helle Hose und ein weißes Hemd.

Der Anfang der Vernehmung erbrachte, daß er erst seit einem Jahr Taxifahrer war, vorher hatte er an einem College im Mittelwesten Botanik gelehrt.

»In der Nacht vom 27. zum 28. Juli sind Sie gegenüber vom Autobusbahnhof von drei Soldaten der Luftwaffe herbeigewinkt werden.«

»Ich habe das erst aus den Zeitungen erfahren, denn sie waren nicht in Uniform.«

»Würden Sie sie wiedererkennen und uns zeigen können?«

Ohne zu zögern, deutete er mit dem Finger auf O’Neil, van Fleet und Wo Lee.

»Haben Sie darauf geachtet, wie sie gekleidet waren?«

»Der dort und der andere trugen Blue Jeans und weiße oder jedenfalls helle Hemden. Der Chinese hatte ein violettes Hemd an. Die Farbe seiner Hose habe ich nicht bemerkt.«

»Waren sie stark betrunken?«

»Nicht mehr als alle, die man morgens um drei aufliest.«

»Wissen Sie genau, wie spät es war?«

»Wir sind verpflichtet, alle Fahrten einzutragen und die Zeit zu notieren. Es war drei Uhr zweiundzwanzig.«

»Welches Ziel haben sie Ihnen eingegeben?«

»Sie haben mich gebeten, die Straße nach Nogales hinauszufahren, und hinzugefügt, sie würden mir sagen, wo ich halten soll.«

»Wie lange haben Sie gebraucht, um die Stelle zu erreichen, wo Sie angehalten haben?«

»Neunzehn Minuten.«

»Haben Sie gehört, worüber sie sich während der Fahrt unterhielten?«

»Ja.«

»Wer hat gesprochen?«

»Die beiden da.«

Er zeigte auf van Fleet und Sergeant O’Neil.

»Was haben sie gesagt?«

»Daß es unsinnig ist, daß ihr Kamerad bei ihnen bleibe und daß er das Taxi besser behalte, um zum Flugplatz zurückzufahren.«

»Haben sie erwähnt, warum?«

»Nein.«

»Wer hat Sie zum Halten veranlaßt?«

»Das war O’Neil.«

»Sind sie gleich weitergegangen? War nicht die Rede davon, daß Sie warten wollten?«

»Nein. Sie haben noch einen Augenblick diskutiert. Sie versuchten, ihren Kameraden zu bewegen, mit mir in die Stadt zurückzukehren.«

»Wurde es schon hell?«

»Noch nicht.«

»Was hat ihr Kamerad geantwortet?«

»Nichts. Er ist ausgestiegen.«

»Wer hat die Fahrt bezahlt?«

»Die beiden. O’Neil hatte nicht genug Geld, und da hat der andere den Rest dazugegeben.«

»Ist es Ihnen nicht merkwürdig vorgekommen, daß sie sich mitten in die Wüste fahren ließen?«

»Ein bißchen.«

»Ist Ihnen weder auf der Hin- noch auf der Rückfahrt ein Auto begegnet?«

»Nein.«

»Keine Frage, Attorney?«

»Nein, danke. Ich möchte Caporal Wo Lee etwas fragen.«

Der setzte sich erneut auf den Zeugenstuhl, und wieder wurde das Mikrofon heruntergeschraubt.

»Haben Sie gehört, was der Chauffeur eben gesagt hat? Wissen Sie, warum Ihre Kameraden so darauf gedrängt haben, daß Sie zum Flughafen zurückkehren?«

»Nein.«

»Aus welchem Grund haben Sie das gestern nicht erwähnt?«

»Ich erinnerte mich nicht daran.«

Auch er log. Er war der einzige,der nicht getrunken hatte, der einzige, dessen Aussage schlüssig erschienen war. Und nun hatte er wissentlich verschwiegen, daß man versucht hatte, sich seiner zu entledigen.

»Gibt es noch andere Details, die Sie den Geschworenen vorenthalten haben?«

»Ich glaube nicht.«

»Gestern haben Sie erklärt, daß Sie sich getrennt hatten, als Sie sich in der Hoffnung auf den Weg machten, Bessy zu finden. Sie hielten sich in einiger Entfernung und liefen parallel zueinander. Wo gingen Sie?«

»Am Straßenrand.«

»Haben Sie keine Autos vorbeikommen sehen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wer war Ihnen am nächsten?«

»Caporal van Fleet.«

»So daß Sergeant O’Neil etwa am Bahndamm entlangmarschierte?«

»Ich glaube, er ging auf der anderen Seite.«

»Ich danke Ihnen!«

Der nächste Zeuge war ein Offizier der Verkehrspolizei, ein großer starker Mann, der in seiner Unifom prächtig aussah. Der Attorney hatte ihn vorgeladen und vernahm ihn selbst.

»Sagen Sie uns, was Sie am 28. Juli zwischen drei und vier Uhr morgens gemacht haben?«

»Ich habe um drei Uhr meinen Dienst in Nogales aufgenommen. Ich bin langsam in Richtung Tucson gefahren. Bevor ich das Dorf Tumacacori erreichte, bin ich einem Lastwagen mit einem Kennzeichen X-3233 begegnet, der leer aus Kalifornien zurückkam und einer Firma in Nogales gehört. Ich habe ein paar Minuten auf einem Seitenweg geparkt, um die Straße zu überwachen, wie es vorgeschrieben ist.«

»Wo waren Sie um vier Uhr früh?«

»Da befand ich mich in Höhe des Flugplatzes von Tucson.«

»Sind Ihnen andere Fahrzeuge entgegengekommen?«

»Nein. Wenn wir nachts anderen Wagen begegnen, pflegen wir uns die Kennzeichen zu merken. Wir müssen sie nämlich mit den Kennzeichen der gestohlenen Autos vergleichen, die uns mitgeteilt werden. Das machen wir automatisch im Kopf.«

»Haben Sie Fußgänger am Straßenrand gesehen?«

»Nein. Wenn ich zu dieser Stunde jemanden erblickt hätte, würde ich angehalten und ihn sicher gefragt haben, ob er irgend etwas benötige.«

»Haben Sie einen Zug auf dem Bahndamm gesehen oder gehört?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Ich danke Ihnen.«

Also hatte trotz der Behauptungen Wards sein Chevrolet um diese Zeit nicht mit den beiden schlafenden Männern an der Landstraße gestanden.

»Caporal van Fleet, bitte!«

Der Attorney wurde wach, schien plötzlich die Leitung der Verhandlung zu übernehmen, während O’Rourke sich weiterhin zu ihm hinübemeigte und leise mit ihm sprach.

Vielleicht hatte Maigret sich geirrt, und sie hatten doch die Absicht, die Ermittlung gründlich durchzuführen, allerdings nach einer bestimmten Methode.

»Sie bleiben dabei, daß Sergeant Ward und Bessy sich zusammen vom Auto entfernt hatten, als der Wagen Ihres Kameraden zum erstenmal hielt?«

»Ja, Euer Ehren.«

Pinky war noch unbehaglicher zumute als am Vortage. Dennoch erweckte er den Eindruck, sich Mühe zu geben, seinem Eid treu zu bleiben und die Wahrheit zu sagen, wobei er seine Gewohnheit beibehielt, nach jeder Frage eine Weile nachzudenken.

»Was ist dann geschehen?«

»Das Auto hat gewendet, und Bessy hat erklärt, daß sie mit Ward unter vier Augen sprechen wolle.«

»So daß Sie ein zweites Mal gehalten haben. Schauen Sie sich die Wandtafel an. Ist es annähernd die Stelle, die mit einem Kreuz markiert ist, wo der zweite Halt stattgefunden hat?«

»Ungefähr. Ich glaube schon.«

»Sie haben den Wagen nicht verlassen, ebensowenig wie Ihre Kameraden, mit Ausnahme von Ward und Bessy?«

»Das stimmt.«

»Und Ward ist allein zurückgekommen. Nach wie langer Zeit etwa?«

»Ungefähr zehn Minuten.«

»Und da hat er gesagt: ›Zum Teufel mit ihr! Das wird ihr eine Lehre sein!‹«

»Ja, Euer Ehren.«

»Warum haben Sie und O’Neil nachher versucht, Wo Lee loszuwerden?«

»Wir haben nicht versucht, ihn loszuwerden.«

»War nicht die Rede davon, ihn mit dem Taxi in die Stadt zurückzuschicken?«

»Er hatte nicht getrunken.«

»Das verstehe ich nicht. Versuchen Sie, sich klar auszudrücken. Weil er keinen Alkohol getrunken hatte, wollten Sie, daß er zum Flugplatz zurückkehrte?«

»Er trinkt nicht, raucht nicht. Er ist jung.«

»Fahren Sie fort!«

»Er sollte keine Unannehmlichkeiten haben.«.

»Was wollen Sie damit sagen? Sahen Sie in diesem Augenblick bereits voraus, daß es Unannehmlichkeiten geben würde?«

»Ich weiß es nicht.«

»Als Sie auf der Suche nach Bessy waren, haben Sie da ihren Namen gerufen?«

»Ich glaube nicht.«

»Geschah das, weil Sie dachten, sie würde Sie in ihrem Zustand doch nicht hören können?«

Diesmal wurde der Flame knallrot, rührte sich nicht und starrte wortlos vor sich hin.

»Haben Sie die ganze Zeit Ihren Kameraden O’Neil gesehen?«

»Er ging am Bahndamm entlang.«

»Ich frage Sie, ob Sie ihn die ganze Zeit gesehen haben.«

»Nicht immer.«

»Haben Sie ihn länger aus den Augen verloren?«

»Manchmal schon. Das hing vom Gelände ab.«

»Hätten Sie ihn hören können?«

»Wenn er geschrien hätte, ja.«

»Seine Schritte hörten Sie aber nicht? Sie wissen nicht, ob er stehengeblieben ist oder nicht? Sind Sie streckenweise näher an den Schienen gewesen?«

»Ich glaube. Man konnte nicht unbedingt geradeaus laufen. Man mußte den Büschen und Kakteen ausweichen.«

»Hat sich Caporal Wo Lee auch dem Gleis genähert?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Wer von Ihnen hat beschlossen, umzukehren, als Sie drei in Richtung Nogales marschierten?«

»O’Neil hat gemeint, Bessy sei bestimmt nicht weiter gegangen. Wir haben Wo Lee gesagt, er soll am Straßenrand entlanggehen.«

»Und Sie haben sich von O’Neil getrennt?«

»Ja, etwas tiefer in der Wüste.«

»Haben Sie von Bessy gesprochen, nachdem Sie Wo Lee verlassen hatten und mit O’Neil noch zusammen waren?«

»Nein, wir haben nicht miteinander geredet.«

»Waren Sie noch betrunken?«

»Wahrscheinlich weniger.«

»Können Sie auf der Tafel zeigen, wo Sie das Auto angehalten haben?«

»Ich weiß es nicht genau. Ungefähr hier.«

»Ich danke Ihnen. Sergeant O’Neil, bitte!«

Zwei- oder dreimal hatte Maigret das Gefühl, belauert zu werden. Es war Mitchell, der ihn beobachtete, um seine Reaktionen zu verfolgen.

»Sie bleiben bei Ihrer gestrigen Aussage?«

»Ja, Euer Ehren.«

War auch dieser junge Mann im Elend groß geworden? Er machte nicht den Eindruck. Er schien seine Kindheit auf irgendeinem Hof im Innern des Landes mit arbeitsamen und puritanischen Eltern verbracht zu haben. In der Schule war er sicher der Klassenbeste.

»Aus welchem Grund haben Sie versucht, Wo Lee loszuwerden?«

»Ich habe nicht versucht, ihn loszuwerden. Ich dachte, er sei müde und er würde besser zum Flughafen zurückkehren. Seine Gesundheit ist nicht die beste.«

»Waren Sie es, der ihn aufgefordert hat, an der Straße entlangzugehen?«

»Ich kann mich nicht entsinnen.«

»Als Sie auf der Suche nach Bessy dem Gleis folgten, haben Sie da ihren Namen gerufen?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Sind Sie stehengeblieben, um ein Bedürfnis zu verrichten?«

»Ich glaube, ja.«

»Auf dem Bahndamm?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Ich danke Ihnen. Mr. Coroner, es wäre vielleicht zweckmäßig, Erna Bolton und Maggie Wallach, die schon seit heute morgen hier sind, zu vernehmen, damit sie wieder gehen können.«

Mitchells Freundin war weder hübsch noch häßlich, etwas untersetzt und hatte rundliche Gesichtszüge. Zur Feier des Tages hatte sie ein dunkles Seidenkleid angezogen, und sie trug Strümpfe und billigen Schmuck. Man merkte, daß sie einen guten Eindruck machen wollte, daß sie sich nach bestem Können herausgeputzt hatte.

Als sie nach ihrem Beruf gefragt wurde, antwortete sie ganz leise:

»Ich arbeite augenblicklich nicht.«

Und sie gab sich Mühe, O’Rourke nicht anzublicken, der sie wohl zu kennen schien. Vermutlich hatte er einmal mit ihr etwas gehabt.

»Sie haben Ihre Wohnung mit Bessy Mitchell geteilt?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sergeant Ward hat sie mehrmals besucht. Waren Sie dabei?«

»Nicht jedesmal.«

»Haben Sie erlebt, daß die beiden sich stritten?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Was war der Anlaß?«

Jetzt, da sich der Attorney eingeschaltet hatte, spielte der Coroner mit seinem Schaukelstuhl oder heftete den Blick auf die Decke, wobei er an seinem Bleistift lutschte. Trotz der Klimaanlage war es sehr heiß. Hesekiel war aufgestanden, um die Rollos herunterzulassen, die das Sonnenlicht in schmale Streifen schnitten. Maigret, der vor der Negerin mit dem Baby saß, die immer noch einen ganzen Stamm um sich hatte, atmete ihren würzigen Geruch ein.

Die Pupillen Mitchells, die auf seine Freundin im Zeugenstuhl gerichtet waren, bewegten sich nicht mehr als die eines Adlers.

»Ward warf Bessy vor, sich den Hof machen zu lassen.«

»Von wem?«

»Von allen.«

»Von Sergeant Mullins zum Beispiel?«

»Ich weiß es nicht. Er ist nie zu uns gekommen. Ich habe ihn zum erstenmal am 27. Juli in der Penguin Bar gesehen.«

»Hatte es nicht am 24. oder 25. einen heftigeren Streit gegeben als sonst?«

»Am 24. Ich wollte gerade ausgehen. Ich habe gehört…«

»Wiederholen Sie genau, was Sie gehört haben.«

»Der Sergeant hat gebrüllt: ›Eines Tages werde ich dich umbringen, und das wird für alle das beste sein!‹«

»War er betrunken?«

»Er hatte etwas getrunken, aber ich glaube nicht, daß er betrunken war.«

»Haben Sie nicht selbst am Abend des 27. Juli mit Bessy gesprochen?«

»Ja, Euer Ehren. Im gegebenen Augenblick habe ich sie beiseite genommen, um ihr zu sagen: ›Du solltest dich vor dem in acht nehmen!‹«

»Um wen handelte es sich?«

»Um Mullins. Ich habe hinzugefügt: ›Bill ist wütend … Wenn du so weitermachst, wird er dich noch schlagen…‹«

»Was hat sie geantwortet?«

»Sie hat nicht geantwortet. Sie hat so weitergemacht.«

»Was hat sie weitergemacht?«

»Auf Mullins eingeredet.«

Vielleicht war das Wort »eingeredet« ein bißchen schwach?

»Wer hat vorgeschlagen, die Party bei dem Musiker fortzusetzen?«

»Toni selbst, der Musiker. Er hat gesagt, wir könnten zu ihm in seine Wohnung kommen. Ich glaube, Bessy hatte ihn darum gebeten.«

»War sie betrunken?«

»Nicht sehr. Wie gewöhnlich.«

»Keine weiteren Fragen?«

Nun war Maggie Wallach an der Reihe, die wie eine dicke Sprechpuppe aussah, mit einem runden Babygesicht und blauen Kulleraugen. Sie hatte eine sehr weiße Haut und schien nicht allzu gesund zu sein.

War sie die Geliebte des Musikers? Das ließ sich ebensowenig mit Bestimmtheit sagen wie bei Erna Bolton und Mitchell.

»Wo haben Sie Bessy Mitchell kennengelernt?«

»Wir arbeiteten im selben Drive-in, an der Ecke der Fünften Avenue.«

»Seit wann?«

»Seit ungefähr zwei Monaten.«

Sie kam aus den Slums einer Großstadt, und als kleines Mädchen hatte sie sicher mit nacktem Hintern, umringt von einer lärmenden und unbarmherzigen Kinderschar, auf den Türschwellen gesessen.

»Waren Sie dabei, als Bessy Sergeant Ward begegnete?«

»Ja, Euer Ehren. Es war kurz nach Mittemacht, er ist im Auto vorgefahren und hat Hot dogs bestellt.«

»Mit wem war er zusammen?«

»Ich glaube, es war Sergeant Mullins, der ihn begleitete. Sie haben lange miteinander geplaudert. Bessy ist dann zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich mich nachher mit ihnen treffen wolle, und ich habe ihr geantwortet, daß ich nicht frei sei. Als sie wegfuhren, wollte sie von mir wissen, wie ich Sergeant Ward finde, und sie hat erklärt, daß er allein zurückkehren werde, um sie abzuholen.«

»Ist er zurückgekommen?«

»Ja. Knapp vor Ladenschluß. Sie sind zusammen weggefahren.«

»Haben Sie in der Nacht des 27. Juli gesehen, daß Ward in die Küche des Musikers eingedrungen ist und Bessy geschlagen hat?«

»Nein, Euer Ehren. Er hat sie nicht geschlagen. Ich stand hinter ihm, als er die Küche betrat. Bessy trank, und er hat ihr die Flasche aus der Hand gerissen und wollte sie auf den Boden werfen, hat sich dann aber besonnen und sie auf den Tisch gestellt.«

»War er wütend?«

»Er war ärgerlich. Er mochte es nicht, wenn sie trank.«

»Trotzdem hat er sie in die Penguin Bar geführt?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Warum?«

»Sicher, weil er nicht anders konnte.«

»Hat sich Sergeant Ward in diesem Augenblick mit Mullins gestritten? Ich spreche immer noch von der Szene in der Küche.«

»Ich verstehe. Er hat nichts zu ihm gesagt. Er hat ihn scharf angesehen, aber er hat nichts gesagt.«

Der nächste! Man schien an diesem Tag fertig werden zu wollen, und der Coroner geizte jetzt mehr mit den Pausen.

Tony Lacour, der Musiker, war schmächtig und unauffällig. Sein Gesichtsausdruck legte die Annahme nahe, er habe soeben geweint oder wäre stets im Begriff zu weinen.

»Was wissen Sie von der Nacht des 27. Juli?«

»Ich habe mit ihnen den Abend in der Penguin Bar verbracht.«

»Sie arbeiten nicht?«

»Im Augenblick nicht. Mein Engagement im Puerto-Rico-Club ist vor zehn Tagen abgelaufen.«

In dem Moment, da Maigret sich fragte, welches Instrument er spielen mochte, wurde die Frage von dem Attorney gestellt, der ebenso neugierig sein mußte. Es war das Akkordeon. Der Kommissar hätte darauf wetten mögen.

»Als im Penguin zwischen Ward und Mitchell ein Streit ausgebrochen ist, sind Sie da mit ihnen hinausgegangen? Kannten Sie den Grund der Auseinandersetzung?«

»Ich weiß, daß es um Geld ging.«

»Hat Mitchell Sergeant Ward nicht vorgeworfen, Beziehungen zu seiner Schwester zu unterhalten, obwohl er verheiratet ist?«

»Nicht in meiner Gegenwart, Euer Ehren. Später, in meiner Wohnung, nach dem Zwischenfall mit der Flasche, hat er ihm gesagt, daß Bessy die Neigung zum Trinken habe, daß es ein Unglück sei, zumal sie erst siebzehn sei, und daß sie sich in den Bars für dreiundzwanzig ausgebe, weil sie sonst keinen Alkohol bekäme.«

»Waren Sie es, der dieser Gruppe vorschlug, zu Ihnen zu gehen?«

»Bessy hat mir gestanden, daß sie keine Lust hatte, schon nach Hause zu fahren, und sofort war davon die Rede, Flaschen mitzunehmen.«

»Haben Sie Sergeant Ward Zigaretten gegeben?«

»Ich glaube nicht.«

»Haben Sie gesehen, daß ihm jemand eine Schachtel in die Tasche gesteckt hat?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Rauchte Ihres Wissens jemand Marihuana?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wie spät war es, als sie bei Ihnen aufbrachen?«

»Etwa halb drei.«

»Was haben Harold Mitchell und Erna Bolton gemacht?«

»Die sind geblieben.«

»Bis zum Morgen?«

»Nein. Vielleicht noch eine Stunde oder anderthalb.«

»Kam die Sprache auf Sergeant Ward und Bessy?«

»Nur auf Bessy. Harold hat erklärt, daß seine Schwester sich das Trinken angewöhnt habe und daß das schrecklich für sie sei, weil sie eine schlechte Lunge habe. Er hat hinzugefügt, daß sie als Kind in einem Sanatorium gewesen sei.«

»Sind Mitchell und Erna mit dem Wagen weggefahren?«

»Nein, Euer Ehren. Sie haben kein Auto. Sie sind zu Fuß gegangen.«

»Es mußte inzwischen vier Uhr morgens sein.«

»Mindestens. Es dämmerte schon.«

Pause! Maigret sah wieder den Blick des Bruders auf sich gerichtet, und dieser Blick rührte ihn am Ende ein klein wenig.

Die erste Reaktion Mitchells ihm gegenüber war ein eisiges Mißtrauen gewesen, und vielleicht hatte er mehr aus Trotz, in den sich Verachtung mischte, als in einer gewissen Hoffnung auf seine Fragen geantwertet.

Er hatte ihn während der ganzen Verhandlung beobachtet und schien sich jetzt zu sagen:

»Wer weiß? Möglicherweise ist er nicht wie die anderen. Er ist Ausländer. Er versucht, das alles zu begreifen.«

Seine Haltung war gewiß noch nicht freundschaftlich, aber zwischen ihnen erhob sich nicht mehr diese unüberwindliche Barriere.

»Sie hatten mir nicht gesagt, daß sie lungenkrank war«, murmelte Maigret, als sie hintereinander dem Ausgang zuschritten.

Harold zuckte nur die Achseln. Vielleicht war er auch von Tuberkulose befallen. Nein, denn dann hätte man ihn nicht in die Armee aufgenommen. Erna Bolton wartete im Säulengang auf ihn. Sie hakte sich nicht bei ihm ein. Sie sprachen nicht miteinander. Sie folgte ihm lediglich, bescheiden und gehorsam, und ihr Hängepopo schaukelte wie der Hintern einer Legehenne.

O’Rourke begab sich mit wachem Blick hinter dem Attorney in dessen Arbeitszimmer, während die fünf Männer in Gefängniskleidung des Deputy-Sheriffs harrten, der sie in ihre Zelle zurückführen sollte.

Würde die Nachmittagssitzung oben oder unten stattfinden? Maigret hatte das letzte Wort des Coroners nicht verstanden. Die Frau unter den Geschworenen aß in der Nähe des Coca-Cola-Automaten ein Sandwich; wahrscheinlich würde sie auf einer Bank in der Grünanlage stricken, bis die Verhandlung fortgesetzt wurde.

»Unten«, erwiderte sie auf seine Frage.

Harry Cole erwartete ihn am Steuer seines Wagens. Hinter ihm saß jemand in dem unvermeidlichen weißen Hemd. Der Mann rauchte eine Zigarre.

»Hello, Julius! Noch nicht zu Ende? Setzen Sie sich neben mich. Lassen Sie uns zusammen einen Imbiß nehmen.«

Erst als die Wagentür geschlossen war, fügte er hinzu, als würde er seinen Kompagnon vorstellen:

»Ernesto Esperanza! Er muß mit uns essen, denn ich habe niemanden, der ihn vor dem Abend nach Phoenix fahren kann, und ich möchte ihn nicht gerne den Sheriffs der County anvertrauen. Hast du Hunger, Ernesto?«

»Ja, mächtig, Chef!«

»Such die Gelegenheit zu nutzen. Es ist die letzte Mahlzeit in einem Restaurant, die das Glück dir in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren bietet.«

Und zu Maigret sagte er einfach:

»Ich habe ihn endlich gefaßt, es war nicht ganz leicht. Er hat versucht, mich mit einem zweiundvierziger Kaliber abzuknallen. Öffnen Sie mal das Handschuhfach. Da finden Sie das Spielzeug.«

Es war ein großer automatischer Revolver, der nach Pulver roch. Maigret nahm mechanisch das Magazin heraus, in dem zwei Kugeln fehlten.

»Beinahe hätte es mich erwischt. Nicht wahr, Ernesto?«

»Ja, Chef.« ‘!

»Wenn ich mich nicht rechtzeitig geduckt und ihm ein Bein gestellt hätte, wäre es soweit gewesen. Seit sechs Monaten versuche ich, ihn zu schnappen, und er tat natürlich alles, um mich abzuschütteln. Wie geht’s, Ernesto? Tun dir deine Rippen noch weh?«

»Ein bißchen…«

Für die Gäste der Cafeteria, in der sie Hammelkoteletts und Apfeltorte aßen, waren sie drei Besucher wie alle anderen. Erst am nächsten Tag würde das Foto des Mexikaners in den Zeitungen erscheinen, und zwar unter der fetten Überschrift, daß einer der größten Rauschgifthändler nun hinter Schloß und Riegel sitze.

»Was wird aus Ihren fünf kleinen Luftwaffensoldaten?« fragte Harry Cole und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Haben Sie den Bösewicht herausgefunden, der die arme Bessy auf die Schienen gelegt hat?«

Maigret ärgerte sich nicht. Er hatte an diesem Vormittag keine schlechte Laune.

Das Defilee der Kollegen

Es wurde heimelig. Morgens und vor allem nach dem Mittagsmahl, das einige im Hof oder in der benachbarten Grünanlage einnahmen, freute man sich, wieder zusammen zu sein. Kurze Grüße wurden ausgetauscht. Man wußte, auf welchen Platz sich die Stammgäste setzen würden, und selbst die fünf Soldaten betrachteten einen nicht mehr wie Eindringlinge.

Die vertraute Atmosphäre wurde unten noch spürbarer, wo die Geschworenen auf einer der Publikumsbänke neben den Zuschauern saßen und wo je nach Bedarf Stühle angestellt wurden. Regelmäßig runzelte der Coroner die Brauen, wenn er den großen lärmenden Ventilator betrachtete. Der Getränkeautomat mit eisgekühltem Wasser und seinen Pappbechern befand sich in der Nähe von Maigret, so daß im gegebenen Augenblick die Leute zu ihm hindrängten.

Seit er im Vorbeigehen das Baby der Negerin gestreichelt hatte, hielt sie ihm seinen Platz frei und lächelte ihn breit an.

Und was Hesekiel betraf, so wartete er den Beginn der Verhandlung ab, um einem Neuankömmling den Streich mit der Zigarette oder der Zigarre zu spielen. Er war nur scheinbar mürrisch und hatte die Seele eines jungen Spaßvogels.

Er richtete sich plötzlich auf, so daß der Schnurrbart erzitterte, und rief mit ausgestrecktem Arm und ohne Rücksicht auf die Richter, die er unterbrach:

»He! Sie!«

Der ganze Saal lachte. Man drehte sich um, um zu sehen, wer erwischt worden war.

»Machen Sie Ihre Zigarette aus!«

Und zufrieden warf er einen zwinkernden Blick in die Runde. Einen noch größeren Erfolg hatte er, als er den Attorney selbst ertappt hatte, der nach einer Pause ganz vergessen zu haben schien, daß er rauchte.

»He! Attorney …«

Maigret konnte nicht glauben, daß man an diesem Tag fertig würde und daß die fünf Männer und die Frau auf der Geschworenenbank in wenigen Stunden soweit sein könnten, zu entscheiden, ob Bessy durch einen Unfall den Tod gefunden hatte oder nicht.

Würde ihre Entscheidung positiv ausfallen, dann wäre die Ermittlung tatsächlich ein für allemal abgeschlossen. Wenn sie hingegen zu dem Ergebnis kommen sollten, daß der Tod durch verbrecherisches Handeln von einer oder mehreren Personen verursacht worden sei, so würden Mike O’Rourke und seine Leute Zeit genug für die Vorbereitung des endgültigen Prozesses haben.

Es war merkwürdig. Beim Mittagessen hatte Maigret eine kleine Entdeckung gemacht, die ihn amüsierte und die ihn vor allem deshalb freute, weil sie so etwas wie eine Rache an Harry Cole war. Der Kollege war nicht ganz der gleiche gewesen wie an den anderen Tagen. Er hatte sich aufgeführt, als wäre eine hübsche Frau bei ihnen, und der Kommissar hatte bald begriffen, daß er sich Ernestos, des Rauschgifthändlers, wegen so benahm.

Im Grunde empfand Cole für ihn die unwillkürliche Achtung, ja, fast die Bewunderung, die man hier jedem zollt, der Erfolg hat, ob es sich nun um einen Milliardär, einen Filmstar oder einen berühmten Mörder handelt.

Der Mexikaner hatte auf einen Schlag Drogen im Wert von zwanzigtausend Dollar herübergeschmuggelt, und vorher waren weitere Sendungen erfolgt; er besaß jenseits der Grenze, in den Bergen, die nur mit dem Flugzeug zugänglich sind, seine eigenen Marihuana-Plantagen.

Wenn man bei der laufenden Verhandlung den fünf Soldaten der Air Force kein größeres Interesse entgegenbrachte, dann wohl deshalb, weil keiner von ihnen, selbst wenn er Bessy ermordet haben sollte, ein Verbrecher von Format war.

Hätte der Täter mit der Maschinenpistole in der Faust der Polizei Widerstand geleistet, so daß alle Wachen hätten mobilisiert und Gaswaffen eingesetzt werden müssen, um ihn kampfunfähig zu machen, hätte er zehn Banken überfallen und mehrere Familien reicher Ranch niedergemetzelt dann ären Menschenmengen in die Flure geströmt und hätten bis auf die Straße gestanden!

Ließen sich die Dinge damit erklären? Man mußte in seinem Bereich Erfolg haben, gleichgültig, in welchem.

Da Mitchell ein harter Bursche war, wurde er sicher in dem kleinen Kreis, in dem er sich bewegte, von allen respektiert, während van Fleet mit seinem Gesicht eines Jesusknaben und seinen gewellten Haaren ein Nichts war. Der Beweis dafür war, daß man ihm den Spitznamen Pinky gegeben hatte. In Frankreich hätte man »Rotfuchs« gesagt oder »Schmalzlocke«.

Ein Deputy-Sheriff nahm auf dem Zeugenstuhl Platz, es war Phil Atwater, der als erster am Ort des Geschehens eingetroffen war und den der Inspektor der Southern Pacific beim Aussteigen aus seinem Wagen vorgefunden hatte.

Er trug keine Plakette an seinem Hemd. Er war nichtssagend, mittleren Alters und zeigte die verdrießliche Miene derer, die eine schlechte Verdauung haben und bei denen zu Hause immer jemand krank ist.

»Ich befand mich im Büro des Sheriffs, als wir morgens kurz vor fünf telefonisch alarmiert wurden. Ich nahm einen unserer Wagen und war um fünf Uhr sieben an der Unfallstelle.«

Dieses Wort machte Maigret stutzig, und in der Folge erwies sich, daß er sich nicht getäuscht hatte. Obwohl Atwater Polizist war, gehörte er zu jenen Leuten, die alles verabscheuen, was nicht alltäglich ist.

»Der Krankenwagen ist ungefähr zur gleichen Zeit eingetroffen wie ich. Am Straßemand standen nur die Zugbegleiter und ein Auto, das wenige Minuten zuvor angehalten hatte. Ich habe einen der Männer, die ich mitgebracht hatte, als Wache aufgestellt, damit eventuelle Neugierige den Bahndamm nicht betreten konnten. Ich habe sofort die Spuren eines Wagens gesichert, der an dieser Stelle geparkt hatte. Ich habe sie mit Kreidestrichen markiert und am sandigen Seitenstreifen mit Holzstäbchen abgesteckt.«

Er war der Typ des gewissenhaften Beamten und schien die ganze Welt herauszufordern, ihn bei einem Fehler zu ertappen.

»Sie haben sich nicht um die Leiche gekümmert?«

»Verzeihung! Das habe ich auch getan. Ich habe sogar mehrere Körperteile aufgelesen und ein Stück Arm mit der ganzen Hand daran.«

Er sagte das in herablassendem Ton, als ginge es um eine gewöhnliche Routinearbeit. Dann wühlte er in seiner Tasche und zog ein Papierstückchen heraus.

»Hier sind ein paar Haare. Wir hatten noch keine Zeit, sie analysieren zu lassen, aber auf den ersten Blick ähneln sie Bessys Haaren.«

»Wo haben Sie sie aufgesammelt?«

»Ungefähr dort, wo der Zusammenprall stattgefunden hat. Der Körper war etwa fünfundzwanzig Meter weit mitgeschleift oder gerollt worden.«

»Haben Sie Fußspuren entdeckt?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe sie mit Holzstöckchen abgesteckt, um sie zu sichern.«

»Sagen Sie uns, was für Fußspuren Sie gesichert haben.«

»Abdrücke einer Frau. Ich habe sie mit einem Schuh von Bessy verglichen, und sie stimmten überein.«

»Waren keine männlichen Fußabdrücke daneben?«

»Nein, Euer Ehren. Jedenfalls nicht zwischen der Straße und den Schienen.«

»Dennoch haben Sie ein wenig später den Inspektor von der Eisenbahngesellschaft, Mr. Hansen, begleitet, und der behauptet, die Spuren eines Mannes gesehen zu haben.«

»Wahrscheinlich meine.«

Er liebte keine Widersprüche und schien den Vertreter der Southern Pacific nicht in sein Herz geschlossen zu haben.

»Würden Sie uns bitte auf der Tafel zeigen, wie die Spuren ungefähr verliefen?«

Er betrachtete die Zeichnung, die vorher angefertigt worden war, griff nach dem Lappen und wischte alles weg. Dann skizzierte er die Schienen und die Straße neu, machte ein Kreuz an der Stelle, wo die Leiche gefunden werden war, und ein zweites dort, wo der Zug auf Bessy geprallt war.

Er irrte sich jedoch, indem er Norden und Süden gerwechselte. Seine Strichzeichnung stimmte mit der von Hansen nicht überein. Nach seiner Darstellung hatte Bessy viel weniger Umwege gemacht und würde nur ein einziges Mal stehen geblieben sein, um eine andere Richtung einzuschlagen.

Wie dachten die Geschworenen über diese Widersprüche? Sie hörten zu, sahen mit gespannter Aufmerksamkeit hin, und man spürte, daß sie gewillt waren, zu verstehen und ihre Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen.

»Ist das alles, was Sie auf dieser Seite entdeckt haben, ich meine, nördlich von der Stelle, wo Bessy den Tod gefunden hat? Haben Sie auch im Süden nach Spuren gesucht, das heißt in Richtung Nogales?«

Skizze von Atwater

Atwater betrachtete schweigend seine Skizze, und da Norden und Süden vertauscht waren, begriff er eine Weile gar nicht, was man von ihm wollte.

»Nein, Euer Ehren«, erklärte er schließlich. »Ich hielt es nicht für notwendig, in Richtung Nogales zu suchen.«

Man entließ ihn. Er mußte im Büro zu tun haben, denn er verließ sofort den Saal voller Würde und Selbstvertrauen.

»Gerald Conley!«

Das war ein anderer Deputy-Sheriff, der mit den vielen Patronen im Gürtel und dem schönen Revolver mit dem geschnitzten Hornknauf. Er war dick und rund und hatte ein rotes Gesicht. Man erriet, daß er in Tucson eine volkstümliche Erscheinung war und daß die Popularität ihm nicht mißfiel.

»Wann sind Sie am Ort des Geschehens eingetroffen?«

»Ich war zu Hause und wurde erst um fünf Uhr zehn benachrichtigt. Ich traf da unten kurz nach halb sechs ein, ohne Zeit gehabt zu haben, eine Tasse Kaffee zu trinken.«

»Wen haben Sie dort angetroffen?«

»Phil Atwater war zugegen, in Begleitung des Inspektors der Eisenbahngesellschaft. Ein anderer Deputy-Sheriff hatte den Ordnungsdienst übernommen, denn inzwischen hatten mehrere Autos angehalten. Ich habe gesehen, daß die Fährte mit Holzstöckchen abgesteckt war, und bin ihr von einem Ende zum anderen nachgegangen.«

»Wurden an bestimmten Stellen die weiblichen Fußspuren von männlichen überlagert?«

»Ja, Euer Ehren.«

»In welcher Entfernung von der Straße etwa?«

»Ungefähr fünfzehn Meter. Die Spuren zeigten an dieser Stelle deutlich, daß zwei Personen längere Zeit stehengeblieben waren, als hätte es eine Auseinandersetzung gegeben.«

»Gingen die Spuren dann auseinander?«

»Ich habe den Eindruck, daß die Frau ihren Weg allein fortgesetzt hat. Sie marschierte in Zickzacklinie. Die männlichen Abdrücke, die man etwas weiter fand, sind nicht die gleichen wie die ersten.«

Maigret wurde wieder ungeduldig. Abermals hatte er das Bedürfnis, aufzustehen und den Mund aufzumachen, um präzise Fragen zu stellen.

Daß sich die fünf Burschen von der Luftwaffe widersprachen, verstand sich irgendwie von selbst. Sie waren wie fünf Schüler, die sich in eine schlimme Situation gebracht hatten und nun versuchten, auf eigene Faust da herauszukommen.

Überdies hatten sie abends um halb acht angefangen zu trinken und waren alle betrunken gewesen, außer dem Chinesen.

Aber die Polizei?

Man hatte den Eindruck, daß die Deputy-Sheriffs dabei waren, persönliche Rechnungen unter sich zu begleichen, und trotzdem beunruhigte das O’Rourke nicht. Er saß immer noch neben dem Attorney, zu dem er sich von Zeit zu Zeit hinüberbeugte, um etwas zu kommentieren, oder er lächelte selig.

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe mich in südliche Richtung begeben.«

Man merkte, daß er sich freute, diese Gerade seinem Kollegen zu versetzen, der soeben hinausgegangen war.

»Jemand hat am Bahndamm seine Blase erleichtert.«

Maigret hätte fragen mögen:

»Ein Mann oder eine Frau?«

Denn schließlich, so trivial es auch klingen mag, ein stehender Mann und eine hockende Frau hinterlassen beim Urinieren nicht die gleichen Spuren, insbesondere auf sandigem Gelände.

Hier steckte des Pudels Kern, und niemand schien es. zu bemerken. Auch hatte niemand den Arzt gefragt, ob Bessy an jenem Abend mit jemandem Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Keiner hatte die Unterwäsche der fünf Burschen untersucht, und man gab sich damit zufrieden, sie nach der Farbe ihrer Hemden zu fragen, die sie getragen hatten

Durch die Spuren, die vom Auto wegführten, war Ward am ehesten verdächtig, unter der Voraussetzung allerdings, daß sich die Fußabdrücke zumindest an einer Stelle überlagerten. Und unter der Bedingung, daß diese Spuren, wie der Mann von der Southern Pacific ausgesagt hatte, bis zum Bahndamm weiterführten.

Die Aussage Atwaters machte es nahezu unmöglich, in Ward den Schuldigen zu erblicken — vorausgesetzt, das Verbrechen war nicht bei der zweiten Autofahrt begangen worden.

Mit Conley, dem Sheriff mit dem dicken Revolver, wendete sich das Blatt erneut. Ward wäre demnach Bessy nur etwa fünfzehn Meter weiter gefolgt. Aber warum behauptete der Sergeant dann, er sei ihr überhaupt nicht gefolgt?!

Conley fuhr fort:

»Es ist unmöglich, auf dem Bahndamm selbst Spuren festzustellen, da er aus Schotter besteht, und ebensowenig in der unmittelbaren Umgebung, wo der Boden härter ist als in der Wüste. Aber wenn man nach Süden geht und nach rechts abbiegt…«

»Also zur Straße hin?«

»Ja, Euer Ehren. Als ich abbog, habe ich weitere Spuren entdeckt.«

»Aus welcher Richtung kamen sie?«

»Von der Straße, weiter südlich.«

»Diagonal?«

»Fast senkrecht.«

»Fußabdrücke eines Mannes?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe Meßstäbe angelegt. Die Länge der Abdrücke deutet darauf hin, daß es sich um einen mittelgroßen Mann handelt.«

»Wohin hat diese Fährte Sie geführt?«

»Etwa fünfzig Meter von der Stelle weg, wo der Wagen zum erstenmal gehalten hat.«

Nun sprach nichts mehr dagegen, daß Ward die Wahrheit gesagt und Bessy sich in Begleitung von Mullins entfernt hatte und nicht zurückgekommen war.

Der Attorney mußte den gleichen Schluß gezogen haben, denn er fragte:

»Sie haben auf dieser Seite keine Fußabdrücke einer Frau entdeckt?«

»Nein, Euer Ehren.«

Das paßte wieder nicht zusammen.

»Die Spur verliert sich, wenn sie die Schienen erreicht?«

»Ja, Euer Ehren. Man muß auf dem Bahndamm weitergegangen sein, wo die Schritte, wie ich schon sagte, keine Abdrücke hinterlassen.«

Pause.

Zweimal ging O’Rourke in der Galerie nahe an Maigret vorbei, und beide Male sah er ihn mit einem merkwürdigen Lächeln an. In dem Büro, das er in jeder Sitzungspause betrat, mußte es etwas zu trinken geben, denn hinterher strömte sein Atem Alkoholgeruch aus.

Hatte Cole ihm erzählt, wer dieser dicke leidenschaftliche Zuhörer war? Amüsierte es ihn, seinen Kollegen im dunkeln tappen zu sehen?

Der Geschworene mit dem Holzbein bat den Kommissar um Feuer.

»Verwickelte Geschichte, nicht wahr?« brummte Maigret.

Gebrauchte er ein falsches Wort, das der andere nicht verstand? Oder hielt sich der Mann buchstabengetreu an die Vorschrift, sich vor dem Urteilsspruch nicht über den Fall zu unterhalten? Jedenfalls lächelte er nur und pflanzte sich dann vor dem Rasen auf, den rotierende Wassersprenger erfrischten.

Maigret bereute es, sich keine Notizen gemacht zu haben. Ihn interessierten weniger die Widersprüche der Polizisten als die der fünf Soldaten, die sich mit jeder Sitzungsfolge fremder zu werden schienen.

»Hans Schmider!«

Man wußte nicht gleich, wen man als Zeugen vor sich hatte, und so war es ein Spiel, seinen Beruf zu erraten. Dieser hier war dick, genauer gesagt: er hatte einen dicken Bauch, der das Hemd oberhalb des zu engen Gürtels zu einem Beutel aufbauschte. Seine stramm sitzende Hose reichte nicht einmal bis zum Nabel, so daß er den Eindruck erweckte, zu kurze Beine und einen übermäßig langen Oberkörper zu haben. Sein halblanges Haar stand nach allen Seiten ab. Sein Hemd war von zweifelhafter Sauberkeit. Er war an den Armen und auf der Brust behaart.

»Sie gehören zum Büro des Sheriffs?«

»Ja, Euer Ehren.«

An seiner lautstarken Stimme und seinem ungezwungenen, nahezu routinierten Auftreten erkannte man, daß er an derlei Sitzungen gewöhnt war.

»Wann sind Sie informiert worden?«

»Gegen sechs Uhr morgens. Ich schlief noch.«

»Haben Sie sich gleich an den Ort des Geschehens begeben?«

»Ich bin nur schnell im Büro gewesen, um mein Arbeitsmaterial zu holen.«

Er fühlte sich derart behaglich, wie er mit vorgestrecktem Bauch in seinen Sessel zurückgelehnt dasaß, daß er mechanisch seine Zigaretten aus der Tasche zog und Hesekiel gerade noch Zeit zum Aufspringen fand.

»Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben.«

Schmider stand auf, trat, die Hände in den Hosentaschen, an die Tafel, musterte mit kritischem Blick die Zeichnung und wischte sie weg. Er mußte sich bücken, um das am Boden liegende Stück Kreide aufzuheben, wobei sich seine Hose dermaßen spannte, daß man damit rechnete, sie platzen zu sehen.

Er markierte zunächst Norden, Süden, Osten, Westen, skizzierte die Schienen, die Straße und zeichnete dann eine punktierte Linie, die von den Schienen zur Straße führte.

Zum Schluß am Straßenrand zwei Rechtecke.

Skizze von Schmider

»Hier bei Punkt A habe ich die Spuren des Wagens festgestellt, den wir den Wagen Nummer eins nennen wollen.«

Er stieg vom Podium herunter, um ein recht umfangreiches Paket vom Tisch zu holen, dem er ein Stück Gips entnahm.

»Dies ist der Abdruck des linken Vorderreifens, eines ziemlich abgefahrenen Dunlop.«

Unaufgefordert hielt er das Beweisstück den Geschworenen wie ein Kuchenteilchen unter die Nase und machte es dann mit den drei anderen Abgüssen ebenso.

»Haben Sie diese Profile mit den Reifen von Wards Auto verglichen?«

»Ja, Euer Ehren. Sie sind identisch. In diesem Punkt gibt es keinen Zweifel. Und hier sind nun die Abdrücke von zwei Reifen des Wagens Nummer zwei. Sie sind fast neu und auf Kredit gekauft. Wir haben die Geschäfte, die diese Marke vertreiben, besucht, aber ich glaube nicht, daß wir schon zu einem Ergebnis gekommen sind.«

Im Mitarbeiterstab des Sheriffs war Schmider der Techniker, der Mann des Labors, und er hatte dessen Ruhe und Sicherheit; der Gedanke eines möglichen Widerspruchs kam ihm gar nicht erst.

»Haben Sie weitere Spuren auf der Straße entdeckt?«

»Als ich eintraf, waren außer der Ambulanz und den Wagen der Polizei viele Autos da. Ich habe nur von den Spuren Abdrücke gemacht, auf die ich hingewiesen wurde und die besonders deutlich waren.«

»Wer hat Sie darauf hingewiesen?«

Er wandte sich dem Tisch des Attorney zu und zeigte mit dem Finger auf O’Rourke.

»Haben Sie noch mehr Abgüsse angefertigt?«

Er ging wieder zu seinem Pappkarton, der wie ein Danaidenfaß war, und alles wartete voller Ungeduld und zugleich zuversichtlich, denn alle hatten den Eindruck, daß die Wahrheit aus dieser Schachtel hervortreten mußte.

Als man sah, wie Schmider den Abdruck einer Schuhsohle herauszog, blickten die fünf Soldaten gleichzeitig auf ihre Füße.

»Dies ist ein Abdruck, der etwa fünfzehn Meter von der Straße entfernt gemacht wurde. Es handelt sich um den Fuß eines Mannes. Die Sohle ist ziemlich abgetragen, der Absatz aus Gummi. Und hier nun der Abguß von einer weiblichen Fußspur, die sich ganz in der Nähe davon fand. Er entspricht genau den Schuhen von Bessy Mitchell, wie Sie sich selbst überzeugen können.«

In der anderen Hand schwang er einen dunklen, rötlichen, einfachen und durchschnittlichen Sportmokassin mit flachem Absatz, der viel getragen worden war. Er führte die beiden Beweisstücke an den Augen der Geschworenen vorüber. Beinahe hätte er sie auch beim Publikum herumgereicht.

»Haben Sie Nachforschungen in bezug auf die Schuhe des Mannes angestellt?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe den Abdruck mit den Sohlen der Sheriffs verglichen, die an jenem Ort waren.«

»Er entspricht keiner?«

»Nein, Euer Ehren. Und wie ich mich überzeugen konnte, trug Sergeant Ward Cowboystiefel mit hohen Absätzen. Die Füße von O’Neil, van Fleet und Wo Lee sind kleiner.«

Man war gespannt. Er wußte es und kostete sein Vergnügen aus.

»Die Schuhgröße entspricht etwa derjenigen von Sergeant Mullins, aber die Schuhe, die er mir gezeigt hat, haben keine Gummiabsätze.«

Man hörte einen Seufzer, einen Seufzer der Erleichterung, in der Reihe der Soldaten, doch Maigret wußte nicht, wer von ihnen ihn ausgestoßen hatte.

Schmider, der seine Gipsstücke sorgfältig nebeneinander auf den Tisch gelegt hatte, tauchte erneut mit der Hand in den Karton und zog diesmal eine weiße Lederhandtasche heraus.

»Das ist die Tasche, die wenige Schritte vom Bahndamm entfernt, zum Teil in den Sand gedrückt, gefunden worden ist.«

»Hat jemand diese Tasche identifiziert?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sergeant Mitchell!«

Bessys Bruder trat vor. Man reichte ihm das Beweisstück. Er öffnete die Handtasche und nahm eine Art Börse aus roter Seide heraus, die ein paar Münzen enthielt.

»Ist dies die Handtasche Ihrer Schwester?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich erkenne diese Börse wieder, die Erna ihr geschenkt hat.«

Erna Bolton mischte sich aus den Zuschauerreihen ein und bestätigte:

»Das ist ihre Tasche. Wir haben sie zusammen vor einem Monat beim Ausverkauf gekauft.«

Hier und da erklang Gelächter. Je weiter die Untersuchung fortschritt, desto mehr fühlten sich die Leute wie zu Hause, und es fehlte nicht viel, so hätte es Zurufe wie im Zirkus gegeben.

»Ein Taschentuch, zwei Schlüssel, ein Lippenstift, eine Puderdose.«

»Ist außer den Münzen kein Geld drin?«

»Nein, Euer Ehren.«

Und wieder griff Erna ein, ohne gefragt werden zu sein:

»Ich erinnere mich, daß sie ihre Brieftasche vergessen hatte.«

Keinerlei Papiere. Kein Ausweis. Dabei fiel Maigret eine Frage ein, die er sich schon gestellt hatte.

Man hatte auf den Schienen die stark verstümmelte Leiche einer Frau gefunden. Und wenige Stunden später, bevor die Zeitungen die Nachricht meldeten, hatten die Leute des Sheriffs Harold Mitchell mitgeteilt, daß seine Schwester tot war.

Wer hatte sie identifiziert? Und wie?

Mürrisch sah er zu O’Rourke hinüber. Es war das erste Mal, daß er als einfacher Privatmann einer Untersuchung beiwohnte, ohne Einblick in die Karten zu haben, und ihn ärgerte das Gefühl, daß eine Menge Dinge ihm verborgen blieben.

Machte er es in Paris nicht manchmal ebenso? Wie oft hatte er, um freiere Hand zu haben oder eine vorzeitige Einmischung zu vermeiden, selbst dem Untersuchungsrichter verheimlicht, was er von einem Fall wußte!

Würde O’Rourke wenigstens seine Vorteile zu nutzen wissen? Hatte er wirklich Lust, die Wahrheit zu entdecken, und vor allem, sie bekanntzugeben?

Es gab Augenblicke, in denen Maigret daran zweifelte, und andere, in denen er dachte, daß sein Amtsbruder, der sein Handwerk beherrschte, zu gegebener Zeit das Nötige tun werde.

Ein letztes Beweisstück war in dem Karton geblieben, und Schmider holte es endlich heraus. Es war wieder ein Gipsabguß, der Abdruck einer Sohle.

»Dieser Abdruck ist südlich von der Stelle gemacht worden, an der Bessy Mitchell den Tod gefunden hat.«

Mit anderen Worten, es war die Fährte, von der allein Gerald Conley gesprochen hatte.

»Es ist Schuhgröße 41, also mittelgroß, fast klein. Caporal Wo Lee hat Größe 39. Sergeant O’Neil und Caporal van Fleet haben Größe 41 oder 42. Die Schuhe, die sie mir gezeigt haben, waren überdies nicht so abgenutzt.«

Wieder einmal wäre Maigret beinahe aufgestanden und hätte ums Wort gebeten, ohne daran zu denken, daß er nicht in Frankreich war.

Die Uhr über der Tür, in deren Rahmen sich die Neugierigen drängten, zeigte halb fünf. An den beiden vorhergehenden Tagen waren die Sitzungen gegen fünf Uhr aufgehoben werden.

Zweimal hatte man dem Coroner bereits Schriftstücke zur Unterzeichnung vorgelegt, der sich dieser Tätigkeit unterzog, ohne die Vernehmung zu unterbrechen.

»Keine Fragen, meine Herren Geschworenen?«

Es war der Neger, der fragte:

»Hat der Zeuge einen Abdruck von den Spuren des Taxis gemacht?«

»Sie sind mir nicht gezeigt worden.«

»Weiß er nichts von dem dritten Wagen, der die drei Soldaten zum Flugplatz zurückgebracht hat?«

»Als ich am Ort des Geschehens eintraf, waren bereits mehrere Autos da, und während ich arbeitete, sind weitere hinzugekommen.«

Der Coroner schaute auf die Uhr.

»Meine Herren, wir brauchen nur noch den Chief Deputy-Sheriff zu vernehmen, bevor Sie in die Beratung eintreten. Ich frage mich, ob wir das nicht lieber gleich tun.«

O’Rourke hob die Hand.

»Gestatten Sie, daß ich ganz kurz dazu etwas bemerke? Meine Aussage wird nicht unbedingt lange dauern, aber es ist möglich, daß sich, wenn wir bis… morgen früh warten, ein neuer Zeuge einfindet, den zu hören interessant wäre.«

Maigret atmete auf. Er atmete so vernehmlich und so erleichtert auf, daß zwei seiner Nachbarn zu ihm hinsahen. Er hatte befürchtet, daß man die Geschworenen mit einem so unzusammenhängenden und widersprüchlichen Untersuchungsergebnis in die Beratung schicken würde.

Es erschien ihm vor allem unwahrscheinlich, daß man mit diesem Fall abschloß, ohne sich eingehender mit dem dritten Auto zu befassen, auf das der Neger eben angespielt hatte, jenem Wagen also, der die drei Soldaten zurückgebracht hatte und den man nicht ausfindig gemacht zu haben schien.

War es der mit den auf Kredit gekauften Reifen? Warum hatte der Attorney zumindest zweimal die Zeugen gefragt, ob die Karosserie in einwandfreiem Zustand gewesen sei oder ob sie nicht Spuren eines Unfalls bemerkt hätten?

Der Coroner wandte sich mit fragender Miene an die Geschworenen, die mit Ausnahme der Frau nachdrücklich nickten.

Damit würden sie einen weiteren Tag etwas anderes sein als einfache Staatsbürger. Und gleichsam als Höhepunkt ihrer Wünsche kniete sich ein Fotograf vor ihnen hin, und ein Blitz zuckte durch den Raum.

»Morgen um halb zehn in der Zweiten Kammer!«

Maigret mußte mit auf dem Bild sein, denn es trennten ihn nur zwei Personen von dem ersten Geschworenen.

Seit ungefähr einer Stunde verlangte ihn danach, mit Papier und Bleistift zu arbeiten, was bei ihm recht selten vorkam. Er hatte das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen, und ihm schien, daß es ihm in Kürze gelingen mußte, die meisten Hypothesen auszuschalten.

»Sie haben die anderen Männer vom Zugpersonal nicht verhört«, sagte eine Stimme neben ihm.

Es war Mitchell, der schlechte Laune hatte.

»Der Lokführer, der auf der linken Seite der Maschine stand, konnte auch nur die linke Hälfte des Gleiskörpers sehen, wo die Beine meiner Schwester lagen. Der Heizer rechts sah den Oberkörper. Ich habe noch einmal gebeten, ihn vorzuladen.«

»Was haben sie geantwortet?«

»Daß man es tun würde, wenn man es für notwendig erachten sollte.«

»Wie haben sie Ihre Schwester erkannt?«

Diesmal blickte Mitchell ihn verwundert an, und Maigret mußte durch diese einfache Frage in seinen Augen viel von seinem Ansehen verloren haben, denn er zuckte lediglich mit den Achseln, und dann trennte die Menge sie voneinander.

Der Kommissar hatte verstanden. War es nicht klar, daß ein Mädchen wie Bessy Mitchell bereits mit der Polizei zu tun gehabt hatte? In der Stadt mußte es ein paar Dutzend von der Sorte geben, vielleicht weniger, und wahrscheinlich überwachte man sie.

Das erinnerte ihn plötzlich an die Männer, die abendelang in den Bars saßen und mit finsterem Blick auf die mehr oder weniger erotischen Kalender starrten. Und es gemahnte ihn an die im Dunkeln stehenden Autos, die er bemerkt hatte und in denen man Pärchen vermuten konnte, die ihren Atem anhielten.

Harry Cole hatte sich nicht mit ihm verabredet, doch Maigret war sicher, daß er ihn jeden Augenblick abholen würde. Das war eine Art Bluff, als wolle er sagen:

»Ich lasse Sie gehen, wohin Sie wollen, aber Sie sehen ja, daß ich Sie immer zu finden weiß.«

Aus Widerspruchsgeist betrat Maigret eine Bar, anstatt ins Hotel zurückzukehren, und die ersten Worte, die er vernahm, lauteten:

»Hello, Julius!«

Es war Cole, und neben ihm saß Mike O’Rourke vor einem Glas Bier.

»Kennen Sie sich? Noch nicht? Kommissar Maigret, ein berühmter Kriminalist in seinem Land. Mike O’Rourke, der gewiefteste aller Deputy-Sheriffs von Arizona.«

Warum erweckten diese Leute immer den Eindruck, sich über ihn lustig zu machen?

»Ein Bier, Julius? Mike hat mir erzählt, daß Sie der Verhandlung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt sind und daß Sie sicher Ihre eigenen Vorstellungen haben. Ich habe ihn eingeladen, mit uns zu Abend zu essen. Ich nehme an, daß Sie einverstanden sind.«

»Es freut mich außerordentlich!«

Das war jedoch nicht wahr. Morgen hätte er es zu schätzen gewußt, nachdem er Zeit gehabt hatte, Bilanz zu ziehen. Jetzt kam er sich um so mehr wie ein Trottel vor, als die beiden anderen sehr guter Laune zu sein schienen. Vielleicht hatten sie einen Hintergedanken?

»Ich bin sicher«, sagte O’Rourke und wischte sich die Lippen ab, »daß Kommissar Maigret unsere Untersuchungsmethoden für recht primitiv und sehr naiv hält.«

Anstelle eines Gegenangriffs konterte Maigret:

»Hat Ihnen die Kellnerin der Penguin Bar interessante Informationen geliefert?«

»Sie ist ein hübsches Mädchen, nicht wahr? Sie hat irisches Blut in den Adern, wie ich, und wissen Sie, die Iren verstehen sich immer vortrefflich.«

»War sie am Abend des 27. Juli im Penguin?«

»Da hatte sie ihren freien Tag. Sie kennt Bessy, Erna Bolton und mehrere Jungens sehr gut.«

»Einschließlich Mullins?«

»Ich glaube nicht. Von ihm hat sie nicht gesprochen.«

»Wo Lee?«

»Auch nicht.«

Übrig blieben Caporal van Fleet und Sergeant O’Neil. Der war ebenfalls Ire, wie der Chief Deputy-Sheriff.

»Haben Sie den dritten Wagen ausfindig gemacht?«

»Noch nicht. Aber ich hege die Hoffnung, daß wir ihn bis zum Morgen entdecken.«

»Es gibt etliche Dinge, die ich nicht begreife.«

»Wahrscheinlich gäbe es noch mehr, die ich nicht verstehen würde, wenn ich einer Vernehmung in Paris beiwohnen sollte.«

»Bei uns werden die eigentlichen Ermittlungen nicht öffentlich geführt.«

O’Rourke warf ihm einen amüsierten Blick zu.

»Hier auch nicht.«

»Das habe ich mir gedacht. Nichtsdestotrotz hat jeder Ihrer Mitarbeiter erklärt, was er für richtig hielt.«

»Das ist eine andere Geschichte. Vergessen Sie bitte nicht, daß alle unter Eid aussagen und daß in den Vereinigten Staaten der Schwur eine sehr ernstzunehmende Sache ist. Vielleicht haben Sie jedoch bemerkt, daß alle nur auf die Fragen antworten, die ihnen gestellt werden.«

»Mir ist vor allem aufgefallen, daß es Fragen gibt, die man ihnen nicht stellt.«

Mike O’Rourke klopfte ihm auf die Schulter.

»O.K.! Sie haben begriffen! Wenn wir gegessen haben, können Sie alle Fragen an mich richten, die Ihnen auf der Zunge liegen.«

»Und Sie werden sie beantworten?«

»Wahrscheinlich. Solange es nicht unter Eid geschieht …«

Die Fragen des Kommissars

Nicht Harry Cole, sondern O’Rourke schien der Gastgeber zu sein. Anstatt seine Gäste in ein Restaurant zu führen, hatte er sie in einen privaten Klub in der Innenstadt mitgenommen.

Die Räumlichkeiten waren neu, sehr freundlich und überraschend modern. Die Bar fand wohl am meisten Zuspruch von allen, die er bisher gesehen hatte, und während sie einen Aperitif tranken, konnte er allein zweiundvierzig Whiskymarken zählen, außerdem sieben oder acht Sorten französischen Cognac sowie echten Pernod, wie man ihn in Paris seit 1914 nicht mehr findet.

Gegenüber der Bar standen in Marschordnung die blitzblanken Spielautomaten mit ihren vertrauten Serien von Birnen, Kirschen und Aprikosen aufgereiht. Als der Kommissar, der unwillkürlich ein Fünf-Cents-Stück hineinstecken wollte, genauer hinsah, stellte er fest, daß der Einsatz bei einigen einen Silberdollar betrug, bei anderen fünf Cents und bei den übrigen fünfundzwanzig Cents.

»Ich dachte, diese Apparate seien verboten«, bemerkte er. »Gerade am Tag meiner Ankunft habe ich in der Zeitung von Tucson gelesen, daß der Sheriff eine Reihe dieser Automaten beschlagnahmt hatte.«

»An öffentlichen Orten.«

»Und hier?«

»Wir sind in einem privaten Klub.«

Die Augen O’Rourkes lachten. Er schien sich zu freuen, seinen Kollegen aus Übersee hier einführen zu können.

»Sehen Sie, es gibt viele private Klubs. Es bestehen sozusagen für alle sozialen Schichten welche. Dieser ist weder der eleganteste noch der exklusivste. Vier oder fünf stehen darüber. Und eine ganze Menge darunter.«

Maigret erblickte den weiträumigen Speisesaal, in dem sie zu Abend essen würden, und er begann zu begreifen, warum es so wenig Restaurants gab.

»Jeder, der es sich einigermaßen leisten kann, gehört einem Klub an, und ein sozialer Aufstieg wird durch die Mitgliedschaft im jeweils höheren Zirkel gekennzeichnet.«

»So daß auch jeder mit den Automaten spielen kann.«

»Annähernd.«

Und der Sheriff steckte mit einem verschmitzten Blick ein dickes, ganz neues Dollarstück in den Schlitz eines der Apparate und sammelte mit einer nachlässigen Geste die vier gleichen Münzen ein, die herausgerollt kamen.

»Unten gibt es ein Würfelspiel, das bei uns mit dem zu vergleichen ist, was Sie Roulette nennen. Es wird auch gepokert. Haben Sie in Frankreich keine Klubs?«

»Wenige, und die sind auf bestimmte soziale Schichten beschränkt.«

»Wir haben hier sogar den Klub der Eisenbahnarbeiter und den der Postbeamten.«

»Wollen Sie mir dann sagen«, wunderte sich Maigret, »wozu die vielen Bars dienen?«

Harry Cole trank seinen doppelten Whisky, wie man eine heilige Handlung vollzieht.

»Zunächst einmal sind sie neutraler Boden. Man hat nicht immer Lust, Leuten seiner eigenen Kategorie zu begegnen.«

»Einen Augenblick! Unterbrechen Sie mich, wenn ich mich täusche. Wollen Sie nicht eher zum Ausdruck bringen, daß man nicht dauernd Lust hat, sich so zu verhalten, wie man sich in seinen Kreisen verhalten muß? Ich nehme zum Beispiel an, daß es hier nicht gern gesehen wird, wenn man unter den Tisch purzelt.«

»Richtig. Da ist es besser, in die Penguin Bar oder sonstwohin zu gehen.«

»Ich verstehe.«

»Es gibt auch Leute, die keiner Klasse angehören, das heißt, keinem Klub.«

»Die armen Schlucker.«

»Nicht nur diejenigen, die kein Geld haben, sondern jene, die sich den Gepflogenheiten einer bestimmten Gesellschaftsschicht nicht fügen wollen. Sehen Sie, in Tucson, das an einer Hauptverkehrsstraße liegt, vereint ein Klub die ursprünglichen Mexikaner, die seit mehreren Generationen in den Vereinigten Staaten ansässig sind. Man hat es nicht gern, wenn Spanisch gesprochen wird. Wer es noch spricht oder Englisch nicht ohne Akzent kann, geht in einen anderen Klub, in dem sich die Neuankömmlinge versammeln. Have a drink, Kommissar!«

Der Rahmen und die Bedienung waren die eines Pariser Luxusrestaurants, und der Sheriff nahm hier fast täglich seine Mahlzeiten ein.

»Sagen Sie, haben die Soldaten vom Flughafen auch ihren Klub?«

»Sie haben mehrere.«

»Sind sie ebenfalls gezwungen, wenn sie einmal über die Stränge schlagen wollen, in die Bars zu gehen?«

»Allerdings.«

»Unser Freund Julius fängt an zu begreifen«, sagte Cole, der mit gesundem Appetit aß.

»Vieles ist mir immer noch rätselhaft.«

Es stand Wein auf dem Tisch, französischer Wein, den O’Rourke aufmerksamerweise bestellt hatte, ohne ein Wort davon zu sagen. Dieser dicke, äußerlich so ungeschlachte Mann war nicht ohne Feingefühl, im Gegenteil; und je weiter der Abend verrückte, um so sympathischer wurde er Maigret.

»Langweilt es Sie nicht, wenn ich von der Untersuchung spreche?«

»Dazu bin ich hier.«

Das war verabredet. Vielleicht hatte O’Rourke Harry Cole gebeten, ihn dem Kollegen vorzustellen.

»Wenn ich recht verstehe, haben Sie hier die gleiche Stellung, die ich in Paris vertrete. Der Sheriff, Ihr Vorgesetzter, entspricht mehr oder weniger dem Leiter der Kriminalpolizei.«

»Mit dem Unterschied, daß er gewählt wird.«

»Der Attorney wiederum ist der Vertreter der Anklage. Und die Deputy-Sheriffs, die Ihnen unterstellt sind, entsprechen meinen Brigaden und Inspektoren.«

»Ich glaube, so verhält es sich ungefähr.«

»Ich habe bemerkt, daß Sie dem Attorney die meisten Fragen vorsagten. Und Sie haben vermutlich auch verhindert, daß den Zeugen andere Fragen gestellt wurden.«

»Richtig.«

»Hatten Sie diese Zeugen vorher verhört?«

»Die meisten.«

»Und ihnen haben Sie alle Fragen gestellt?«

»Ich habe mein möglichstes getan.«

»Aus welchen Verhältnissen kommt der Caporal van Fleet?«

»Pinky? Seine Eltern sind reiche Farmer im Mittelwesten.«

»Warum ist er in die Armee eingetreten?«

»Sein Vater hat von ihm verlangt, mit auf dem Hof zu arbeiten. Der Junge hat es widerwillig getan, und vor zwei Jahren ist er eines schönen Tages abgehauen und hat sich beim Militär gemeldet.«

»O’Neil?«

»Sein Vater ist Lehrer und seine Mutter Lehrerin. Sie sind sehr ehrbare Leute. Sie wollten durchaus aus ihm einen Intellektuellen machen, und es war entehrend für sie, wenn er nicht der Klassenbeste war. Auch er hat es dann satt bekommen. Während van Fleet vom Land in die Stadt zog, ging O’Neil von der Kleinstadt aufs Land. Fast ein ganzes Jahr hat er im Süden als Baumwollpflücker gearbeitet.«

»Mullins?«

»Er hat schon als Junge Unannehmlichkeiten mit der Polizei gehabt, und man hat ihn in eine Besserungsanstalt gesteckt. Seine Eltern sind gestorben, als er zehn oder zwölf Jahre alt war. Die Tante, die sich seiner angenommen hat, ist ein herrschsüchtiges und unausstehliches Wesen.«

»War der Bericht des Arztes vollständig?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Fünf Männer haben einen großen Teil der Nacht damit verbracht, zusammen mit einer jungen Frau zu trinken. Diese Frau ist tot auf dem Bahndamm aufgefunden worden. Während der Untersuchung ist jedoch keinen Augenblick davon die Rede gewesen, was sich zwischen der Frau und einem oder mehreren der Männer zugetragen haben könnte.«

»Davon ist nie die Rede.«

»In Ihrem Büro auch nicht?«

»In meinem Büro ist das anders. Ich kann Ihnen versichern, daß die Autopsie so vollständig war, wie man es nur wünschen kann.«

»Ein Ergebnis?«

»Ja.«

»Wer?«

Bisher war es so gewesen, als habe Maigret von dem Fall nur eine bemalte Leinwand gesehen, gleich dem Hintergrund beim Fotografen. Den führte man dem Publikum vor, das sich damit zufriedengab.

Jetzt traten die wirklichen Personen mit ihren authentischen Taten und Gesten allmählich an die Stelle des künstlichen Bildes.

»Es ist nicht in der Wüste geschehen.«

»Bei dem Musiker?«

Dieser Besuch bei Tony Lacour war Maigret von Anfang an nicht geheuer erschienen.

»Zunächst hat der Arzt entdeckt, daß Bessy im Verlauf der Nacht mit einem Mann verkehrt hat, seiner Meinung nach jedoch relativ lange vor ihrem Tod. Sie wissen, daß man einen Test, ähnlich dem Bluttest, machen und manchmal feststellen kann, mit welchem Mann dieser Verkehr stattgefunden hat. Mit Ward habe ich zuerst darüber gesprochen, und er ist knallrot geworden. Aber nicht aus Angst, sondern aus Eifersucht, vor Wut. Er ist aufgesprungen und hat geschrien: ›Das habe ich geahnt!‹«

»Mullins?«

»Ja. Er hat es sofort zugegeben.«

»In der Küche?«

»Es war geplant. Er hatte Erna Bolton anvertraut, daß er Bessy heftig begehre. Aus irgendeinem Grund mag Erna den Sergeanten Ward nicht sonderlich. Sie hat Mullins versprochen: ›Vielleicht nachher, bei dem Musiker…‹

Sie hat gestanden, daß sie vor der Küche Wache gehalten hat. Und sie hat das Paar gewarnt, als Ward sich näherte. Und um die Situation zu retten, hat Bessy geistesgegenwärtig zu dem Whisky gegriffen und aus der Flasche getrunken.«

Maigret verstand jetzt das Verhalten der Zeugen besser, die reiflich überlegten, bevor sie auf die Fragen antworteten, und jedes Wort auf die Goldwaage legten.

»Meinen Sie nicht, daß diese Einzelheiten die Geschworenen interessieren?«

»Es kommt auf das Ergebnis an, nicht wahr?«

»Und Sie werden das gleiche Resultat erzielen?«

»Ich gebe mir Mühe.«

»Haben Sie aus Schamgefühl alles umgangen, was sich auf die Sexualität bezieht?«

In dem Moment, da er diese Frage stellte, erinnerte sich Maigret an die Spielautomaten in der Bar und glaubte zu begreifen.

»Ich nehme an, Sie wollen vermeiden, schlechte Beispiele zu geben.«

»So ist es ungefähr. In Frankreich machen Sie es gerade umgekehrt, wenn es zutrifft, was man mir erzählt hat. Sie berichten in den Zeitungen über die Seitensprünge der Minister und aller bedeutenden Persönlichkeiten. Und wenn dann ein kleiner Mann von der Straße das Pech hat, es ihnen nachzumachen, sperren sie ihn ein. Haben Sie weitere Fragen, Kommissar?«

»Hätte ich etwas Zeit gehabt, hätte ich sie schriftlich vorbereitet. Behauptet Erna, daß ihre Freundin Bessy in Mullins verliebt gewesen sei?«

»Nein. Sie glaubt wie ich, daß Bessy in Sergeant Ward verliebt war.«

»Aber sie begehrte Mullins?«

»Wenn sie einiges getrunken hatte, begehrte sie alle Männer.«

»Kam das öfter bei ihr vor?«

»Mehrmals in der Woche. Mit Ward, das war eine Romanze. Wenn er sie nicht besuchte, schrieb er ihr jeden Tag oder telefonierte eine halbe Stunde lang mit ihr.«

»Hoffte sie, ihn heiraten zu können?«

»Ja.«

»Und er?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich bin überzeugt, daß er mir aufrichtig geantwortet hat. Im Grunde ist er kein schlechter Kerl. Wie viele Leute hier hat er sich innerhalb weniger Tage verheiratet. Man begegnet einem Mädchen. Man hält sich für verliebt, weil man sie begehrt, und man bestellt das Aufgebot.«

»Mir ist aufgefallen, daß man vermieden hat, seine Frau vorzuladen.«

»Wozu? Sie ist nicht bei bester Gesundheit. Sie hat Mühe, ihre zwei Kinder großzuziehen. Sie erwartet ein drittes, und das hat Ward zurückgehalten. Er hätte Bessy gern geheiratet, aber gleichzeitig hatte er Angst, seiner Frau Kummer zu bereiten.«

Maigret hatte sich nicht getäuscht, als er diese großen Burschen mit Schülern verglichen hatte. Sie spielten die schweren Jungs. Sie hielten sich auch dafür. Einer der üblen Typen von der Bastille oder der Place Pigalle hätte verächtlich erklärt, daß sie nur Chorknaben seien.

»Waren Sie es, Chief, der die Leiche identifiziert hat?«

»Meine Leute hatten es vor mir getan. Bessy ist fünf- oder sechsmal in meinem Büro gewesen.«

»Weil sie der Prostitution nachging?«

»Sie verwenden immer zu genaue Begriffe, und deshalb ist es nicht leicht, Ihnen eine Antwort zu geben. Als Bessy zum Beispiel im Drive-in arbeitete, hat sie wöchentlich rund dreißig Dollar verdient. Die Wohnung hingegen, die sie mit Erna geteilt hat, kostete sie sechzig Dollar im Monat.«

»Sie hat sich etwas hinzuverdient?«

»Nicht unbedingt Geld. Man hat sie zum Essen und Trinken eingeladen. Ein Cocktail kostet fünfzig Cents! Ein Whisky auch.«

»Gibt es viele in der Stadt wie sie?«

»Auf unterschiedlichen Ebenen. Einigen spendiert man im Drive-in Spaghetti, und andere lädt man zu einem Abendessen mit Brathähnchen in einem guten Restaurant ein.«

»Erna Bolton?«

»Sie wird von Mitchell streng überwacht. Ihn zu betrügen, würde sie teuer zu stehen kommen, und ich bin überzeugt, daß er sie eines Tages heiraten wird. Sie sind keine Heiligen, aber sie sind auch nicht schlecht.«

»Hat Sergeant Mitchell gewußt, daß seine Schwester und Mullins in der Küche miteinander verkehrt hatten?«

»Erna hat ihn beiseite genommen, um es ihm zu sagen!«

»Wie hat er darauf reagiert?«

O’Rourke begann zu lachen.

»Ich war nicht dabei, Kommissar. Ich weiß nur das, was er mir freiwillig mitgeteilt hat. Wissen Sie, daß er der Vormund seiner Schwester war und diese Aufgabe ernst genommen hat?«

»Indem er sie mit allen Männern schlafen ließ, die ihr gefielen?«

»Was sollte er denn machen? Er konnte nicht von morgens bis abends und von abends bis morgens um sie sein. Sie mußte ihren Lebensunterhalt verdienen, und sie war nicht gebildet genug, um in einem Büro zu arbeiten. Er hat versucht, sie in einem Warenhaus als Verkäuferin unterzubringen, aber sie hat nicht länger als einen Tag bleiben können, da sie sich mit den Kunden unterhielt und sich beim Kassieren verrechnete. Für Mitchell war Ward eine Notlösung, und vielleicht hätte er sie geheiratet. Mullins wäre eher geeignet gewesen, weil er ledig war.«

Nun mußte Maigret lachen. Je mehr O’Rourke ihm enthüllte, desto mehr veränderte sich in seinen Augen die Physiognomie der Personen.

Man hatte Cognac serviert, den der Chief Deputy-Sheriff voller Stolz seinem Gast anbot, denn es war ein alter Jahrgang. O’Rourke, der davon gehört hatte, daß dieser Weinbrand erst sein Bukett entfalten muß, bevor man ihn trinkt, hielt sein Glas andächtig in seiner großen Hand…

»Auf Ihr Wohl!«

Die Nachsicht von Männern wie diesem Kollegen oder von Harry Cole, der seinen Gefangenen zum Mittagessen in ein gutes Restaurant mitnahm, überraschte Maigret nicht weiter.

Diese Nachsicht war auch am Quai des Orfèvres üblich. Es gab in Paris eine Reihe schwerer Burschen, die der Kommissar in- und auswendig kannte, die er manchmal traf und denen er bisweilen sagte:

»Du bist wieder einmal zu weit gegangen, mein Kleiner, ich bin gezwungen, dich festzunehmen. Es wird dir gut tun, ein paar Monate im Dunkeln über alles nachzudenken.«

Was ihn erstaunte, war das Verhalten der Geschworenen und des Publikums. Als zum Beispiel die Zeugen die Sauferei in der Nacht geschildert und die Zahl der Runden genannt hatten, hatte niemand mit der Wimper gezuckt.

Diese Leute schienen zu begreifen, daß es in der Welt die verschiedensten Typen geben muß und daß zu jeder Gesellschaft zwangsläufig ein gewisser Prozentsatz an Abschaum gehört.

Ganz oben standen die großen Gangster, die nahezu unentbehrlich waren, denn mit ihrer Hilfe konnte man sich verschaffen, was das Gesetz verbietet.

Die Gangster brauchen Killer, um unter sich selbst abzurechnen.

Nicht jeder kann dem Klub einer bestimmten sozialen Schicht angehören. Nicht alle können aufsteigen.

Es gibt auch welche, die absteigen. Es gibt jene, die ganz unten geboren wurden. Es gibt die Schwachen, die unter einem schlechten Stern Angetretenen und jene, die aus Angeberei zu schweren Jungs werden, weil sie sich trotz allem zu etwas fähig glauben.

Und dies alles schienen diese Leute, die aus der Menge herausgegriffen worden waren, verstehen zu können.

»Hatte van Fleet eine Geliebte?«

»Sie meinen, ob er mehr oder weniger regelmäßig mit einer Frau schläft?«

»Wenn Sie wollen.«

»Nein. Das ist komplizierter, als Sie denken. Abgesehen von einer Bessy oder einer Erna Bolton bringt es eine Frau in solchem Fall fast immer fertig, am Ende geheiratet zu werden. Bessy hatte es beinahe erreicht. Erna wird es gelingen.«

»So daß er nur mit Gelegenheiten rechnen konnte?«

»Mit seltenen Gelegenheiten, ja.«

»Und O’Neil?«

»Auch O’Neil. Ich mache Sie außerdem darauf aufmerksam, daß O’Neil trotz seines Auftretens der schüchternste von allen ist. Er fühlt sich fehl am Platze. Er fühlt sich in seiner Haut nicht wohl. Er ist sehr streng erzogen werden. Ich frage mich, ob er nicht manchmal Sehnsucht hat nach seinem Elternhaus und dem biederen Milieu, von dem er ausgeschlossen ist.«

»Schreiben ihm seine Eltern nicht?«

»Sie wollen nichts mehr von ihm wissen.«

»Wo Lee?«

»Wenn Sie in einer Stadt gewohnt haben, in der ein paar hundert Chinesen leben, dann werden Sie wissen, daß es besser ist, sie nicht begreifen zu wollen. Ich glaube, daß Wo Lee ein braver Junge ist und daß er den Ehrgeiz hat, etwas zu leisten. Er ist stolz auf seine Uniform. Er wird im nächsten Krieg tapfer in den Tod gehen.«

Harry Cole, der sich kaum einmischte, schaute beide mit einem undefinierbaren Lächeln an.

»Ich kenne die Chinesen ein bißchen«, sagte er jedoch.

»Was halten Sie von ihnen?«

Die meisten Gäste waren mit dem Essen fertig, und dementsprechend viele saßen an der Bar, von der Stimmengewirr und Gläserklirren herüberklang. In einem Nebenraum spielte man Karten.

»Noch Fragen?«

»Ja. Ich weiß nicht genau, wie ich sie formulieren soll. Ich komme immer wieder darauf zurück, daß es fünf Männer und eine Frau waren und daß sie getrunken hatten. Mullins hat, wie Sie mir sagten, der Versuchung nicht widerstehen können. Er hat erreicht, was er wollte. Glauben Sie nicht, daß ein Sanguiniker wie van Fleet oder ein junger kräftiger Mann wie O’Neil Bessy auch begehrt haben könnten?«

»Das ist durchaus möglich.«

»Meinen Sie nicht, daß sie mit ihnen genau das gleiche Spiel getrieben hat wie mit Mullins?«

»Wahrscheinlich. Sie wird sie erregt haben, wenn es das ist, was Sie sagen wollen.«

»Haben die Chinesen, wie die Neger, eine gewisse Vorliebe für weiße Frauen?«

»Antworten Sie, Harry.«

»Ich glaube nicht, daß sie nach ihrem Geschmack sind. Aus Geschmacksgründen würden sie eher ihre Rassengenossinnen vorziehen. Aber bei ihnen ist es eine Frage des Stolzes.«

»Es waren also«, fing Maigret wieder an, der sich von seinem Gedanken nicht abbringen ließ, »fünf Männer und eine Frau in dem Auto. Hinten im Dunkeln saßen, wenn ich mich nicht irre, O’Neil, Bessy und Wo Lee dicht aneinandergedrängt. Warten Sie! Ich habe von der verkehrten Seite angefangen. Sie haben gesagt, daß Ward eifersüchtig war. Er kannte Bessys Temperament und ihr Verhalten, wenn sie getrunken hatte. Und nun hatte er den Abend mit seinen Kameraden arrangiert.«

»Begreifen Sie nicht?«

»Ich glaube, es zu verstehen, aber ich möchte gerne wissen, ob meine Überlegung auch für die Amerikaner zutrifft.«

»Ward, ein verheirateter Mann, war recht stolz, das zu haben, was Sie eine Geliebte nennen. Stellen Sie sich vor, welche Überlegenheit das gegenüber seinen Kameraden bedeutete!«

»Er nahm das Risiko auf sich?«

»Er dachte nicht an das Risiko, sondern nur daran, sich aufzuspielen. Vergessen Sie nicht, daß er von einem bestimmten Moment an unruhig geworden ist und versucht hat, Bessy am Trinken zu hindern.«

»Er scheint allein auf Mullins eifersüchtig gewesen zu sein.«

»So unrecht hatte er nicht. In seinen Augen ist Mullins der hübsche Junge, der Frauen gefällt. Er sorgte sich nicht weiter um die beiden anderen, die einen Kopf kleiner sind als er, und noch weniger um den Chinesen, der lediglich ein Kind ist.«

»So daß es eine Art Exhibitionismus war?«

»Ich habe gehört, daß in Paris wie auch anderswo die angesehensten Persönlichkeiten in der Oper oder an anderen Orten ihre Frau oder ihre Geliebte mit tiefem Dekolleté gleichsam stolz zur Schau stellen.«

»Glauben Sie, daß sich im Auto etwas zugetragen hat, was Bessy bewegen haben könnte, nicht nach Nogales zu fahren?«

»Es bietet sich eine Erklärung an, ich weiß jedoch nicht, ob sie zutrifft. Seit Ward in die Küche eingedrungen war, hatte er schlechte Laune und war nervös. Er hatte Bessy gezwungen, den Platz zu wechseln und sich hinten hinzusetzen, um sie von Mullins zu trennen. Gleichzeitig trennte er sie aber von sich selbst. Es war eine Art Schmollen. Als Antwort kann sie ihm durchaus ebenfalls geschmollt haben.«

»Und wenn sie etwas geängstigt hatte?«

»Ein Versuch O’Neils oder des Chinesen in einem Wagen, in dem sie zu sechst saßen? Vergessen Sie nicht, Kommissar, daß diese Leute bis auf Wo Lee ziemlich betrunken waren.«

»Stimmen deshalb ihre Aussagen nicht überein?«

»Auch aus dem Grunde nicht, wie ich zugebe, weil sich jeder mehr oder weniger verdächtigt fühlt. Außerdem spielen freundschaftliche Beziehungen mit hinein. O’Neil und van Fleet sind fast unzertrennlich, und Sie werden bemerkt haben, daß ihre Aussagen nahezu identisch sind. Wo Lee versucht, auf alle Rücksicht zu nehmen, da es ihm widerstrebt, die Rolle des Petzers zu spielen.«

»Warum hat Ward erklärt, daß Bessy nicht wieder eingestiegen sei, nachdem der Wagen zum erstenmal gehalten hatte?«

»Weil er Angst hat. Bedenken Sie, daß ihn diese Geschichte bis zum Hals in Schwierigkeiten bringt. Er hat Frau und Kinder. Seine Frau wird sich womöglich scheiden lassen.«

»Er hat behauptet, daß Bessy sich mit Sergeant Mullins entfernt habe.«

»Was beweist uns das Gegenteil?«

»Auch Ihre Deputy-Sheriffs widersprechen sich.«

»Jeder sagt unter Eid aus, was er für die Wahrheit hält.«

»Der Inspektor der Southern Pacific scheint mir sein Handwerk zu verstehen.«

»Er ist ein tüchtiger Mann.«

»Conley?«

»Ein braver Kerl.«

»Atwater?«

»Ein wichtigtuerischer Trottel.«

Es machte ihm nichts, derart über seine Untergebenen zu urteilen.

»Und Schmider?«

»Ein hervorragender Experte.«

»Hoffen Sie wirklich, den Wagen ausfindig zu machen, der die drei Männer zurückgebracht hat?«

»Es sollte mich wundern, wenn er morgen früh nicht vor meinem Büro steht, denn heute nachmittag haben wir die Adresse der Tankstelle erfahren, die die vier Reifen verkauft hat.«

»Ist das der Grund, warum die Untersuchung auf morgen vertagt worden ist?«

»Auch deshalb, weil die Geschworenen dann frischer sind.«

»Und Sie glauben, daß sie etwas begriffen haben?«

»Sie sind sehr aufmerksam gewesen. Zur Zeit schwimmen sie wahrscheinlich etwas. Es wird genügen, ihnen einige Beweise vorzulegen, wenn es welche gibt.«

»Und wenn es keine gibt?«

»Sie werden nach ihrem Gewissen urteilen.«

»Bleiben bei diesem System nicht viele Schuldige in Freiheit?«

»Besser, als einen Unschuldigen einzusperren, oder nicht?«

»Warum sind Sie gestern in die Penguin Bar gegangen?«

»Ich will es Ihnen sagen. Bessy, die nicht weit von ihr wohnte, ging fast jeden Abend dorthin. Ich habe eine Liste der Männer aufstellen wollen, die sie gewöhnlich traf.«

»Hat Ihnen die Kellnerin interessante Hinweise gegeben?«

»Ich habe von ihr erfahren, daß van Fleet und O’Neil öfter dort gewesen sind.«

»In Begleitung Wards?«

»Nein.«

»Sind sie manchmal mit Bessy ausgegangen?«

»Nein. Bessy mochte sie nicht.«

»Schließt das die Möglichkeit aus, daß Bessy sich mit ihnen verabredet haben könnte? O’Neil hätte im Auto mit ihr reden und sie bitten können, die anderen abzuschütteln.«

»Ich habe daran gedacht.«

»Sie bringt ihre Absicht zum Ausdruck, nicht bis Nogales weiterfahren zu wollen, streitet sich absichtlich mit Ward, weigert sich, wieder einzusteigen und erwartet die beiden anderen in der Wüste. Die wiederum trennen sich gleich bei ihrer Ankunft in Tucson von ihren Kameraden, ohne zu ahnen, daß Ward und Mullins vorhaben, zu der Stelle zurückzukehren. Sie versuchen, Wo Lee loszuwerden, der nicht beteiligt ist, und nehmen ein Taxi.«

»Und sie bringen sie um?«

»Ich glaube, ich hätte die Wäsche untersuchen lassen, die die beiden Männer trugen.«

»Das ist geschehen. Bei van Fleet war die Untersuchung negativ, wenn es sich um das handelt, was ich zu verstehen meine. Bei O’Neil war es zu spät, er hatte seine Unterwäsche bereits in die Wäscherei gegeben, als wir sie von ihm haben wollten.«

»Glauben Sie, daß Bessy ermordet worden ist?«

»Sehen Sie, Kommissar, hier hält man nie jemanden für schuldig, ehe es nicht erwiesen ist. Jeder Mensch wird als unschuldig angesehen.«

Maigret entgegnete halb im Spaß, halb im Ernst:

»Jeder Franzose wird als schuldig angesehen. Immerhin waren Sie es, soweit ich das beurteilen kann, der fünf Männer mit der Beschuldigung einsperren ließ, daß sie eine Minderjährige zu ausschweifendem Verhalten verleitet haben.«

»Haben sie sie zum Trinken angeregt oder nicht? Haben sie es zugegeben?«

»Ja, aber …«

»Sie haben also gegen das Gesetz verstoßen, und das kommt mir entgegen, denn es erleichtert meine Arbeit, wenn sie im Gefängnis sitzen. Mir stehen nicht allzu viele Leute zur Verfügung. Ich hätte sie alle fünf beschatten lassen müssen. Ich glaube, Sie wissen jetzt ungefähr genausoviel wie ich. Sollten Sie weitere Fragen haben, so stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

»Hat Mitchell, als er vom Tode seiner Schwester erfuhr, sofort den Verdacht geäußert, sie sei ermordet worden?«

»Das ist seine erste Reaktion gewesen. Vergessen Sie nicht, daß er wußte, daß sie mit Mullins in der Küche Verkehr hatte und. daß Ward sie beinahe erwischt hätte.«

»Nein!«

»Was wollen Sie sagen?«

»Mitchell hat Ward nie verdächtigt. Jedenfalls verdächtigt er ihn im Augenblick nicht.«

»Hat er Ihnen das gesagt?«

»Er hat es mir zu verstehen gegeben.«

»Sie wissen doch mehr als ich, und es wäre vielleicht gut, wenn ich mich einmal mit ihm unterhalten würde. Leider muß ich jetzt in mein Büro. Bleiben Sie bei dem Kommissar, Harry?«

Maigret stand wieder mit Cole auf der Straße, dessen Wagen wie gewohnt in der Nähe geparkt war.

»Wo möchten Sie gern hin, Julius?«

»Schlafen gehen.«

»Meinen Sie nicht, daß es der geeignete Moment wäre, um ein letztes Glas zu trinken?«

So war es eben: Sie kamen aus einem Klub, in dem ihnen in angenehmer Atmosphäre alle Getränke der Erde zur Verfügung standen. Cole kannte dort jeden. Sie konnten nach Belieben plaudern oder trinken.

Aber kaum war er draußen, da verspiirte er Lust, sich auf eine anonyme Theke zu stützen.

War das nicht ein wenig der Reiz der Sünde?

Maigret hätte am liebsten seinen Begleiter verlassen, um ins Hotel zurückzukehren, denn er war wirklich müde. Nur aus einer Art Feigheit folgte er ihm, und Cole hielt kurz darauf wie selbstverständlich vor der Penguin Bar.

Sie war an diesem Abend fast leer. Sie lag im gewohnten Halbdunkel, und aus dem blitzenden Automaten erklang Musik. Daneben saßen zwei Pärchen an einem Tisch: Harold Mitchell mit Erna Bolton und der Musiker mit Maggie Wallach.

Mitchell runzelte die Brauen, als er den Kommissar in Begleitung des FBI-Beamten eintreten sah, und senkte die Stimme gegenüber seinen Gefährten.

»Sind Sie verheiratet?« fragte Maigret Harry Cole.

»Und Vater von drei Kindern. Sie sind in Neuengland, denn ich bin ja nur ein paar Monate hier.«

Aus seinem Blick sprach ein leichtes Heimweh, und er leerte sein Glas mit einem Zug.

»Was halten Sie von dem Klub?« fragte er darauf.

»Ich hätte nicht gedacht, daß es da so luxuriös zugeht.«

»Es gibt bessere. Der Country Club zum Beispiel hat einen Golfplatz, mehrere Tennisplätze und ein wundervolles Schwimmbad.«

Cole, der ein Zeichen gegeben hatte, sein Glas wieder zu füllen, fuhr fort:

»Man ißt viel besser und billiger als in den Restaurants. Alles ist von vorzüglicher Qualität. Nur müssen Sie zugeben, daß es … Im Englischen haben wir kein Wort dafür. Ich glaube, in Frankreich sagen Sie: c’est emmerdant, nicht wahr?«

Ein komisches Volk! Sie erlegen sich selbst ihre strengen Regeln auf. Und sie bemühen sich gewissenhaft, diese Regeln soundsoviele Stunden am Tag oder soundsoviele Tage pro Woche oder soundsoviele Wochen im Jahr einzuhalten.

Verspürten sie alle in einem bestimmten Augenblick das Verlangen, sich davon zu befreien?

Erst viel später, kurz bevor die Bar geschlossen wurde, vertraute Cole, der viel getrunken hatte und an diesem Abend nur sich selbst gegenüber aggressiv war, Maigret sein Geheimnis an.

»Sehen Sie, Julius, damit sich die Welt weiterdreht, ist es unerläßlich, daß die Leute auf eine bestimmte Weise leben. Man hat komfortable Wohnungen, elektrische Geräte, einen luxuriösen Wagen, eine gutgekleidete Frau, die einem schöne Kinder schenkt und sie sauberhält. Man gehört seiner Gemeinde an und seinem Klub. Man verdient Geld und arbeitet, um jedes Jahr mehr zu verdienen. Ist es nicht in der ganzen Welt so?«

»Vielleicht ist es bei Ihnen vollkommener.«

»Weil wir reicher sind. Bei uns gibt es Arme, die ihr eigenes Auto haben. Die Neger, die die Baumwolle pflücken, besitzen fast alle einen alten Wagen. Wir haben den Ausschuß auf ein Minimum reduziert. Wir sind ein großes Volk, Julius.«

Und nicht nur aus Höflichkeit antwortete Maigret:

»Davon bin ich überzeugt.«

»Trotzdem gibt es Augenblicke, in denen die komfortable Wohnung, die lächelnde Frau, die sauber gewaschenen Kinder, das Auto, der Klub, das Büro, das Bankkonto nicht genügen. Kommt das bei Ihnen auch vor?«

»Ich glaube, es geht allen Menschen so.«

»Dann, Julius, will ich Ihnen mein Rezept geben, das bei uns mehrere Millionen kennen und anwenden. Man betritt eine Bar wie diese hier, irgendeine, denn sie gleichen sich alle. Der Barkeeper redet Sie mit Ihrem Vornamen an oder mit einem anderen Vornamen, wenn er Sie nicht kennt, darauf kommt es nicht an. Er schiebt Ihnen ein Glas hin und füllt es, sowie er sieht, daß es leer ist.

Irgendwann klopft Ihnen einer, der Ihnen unbekannt ist, auf die Schulter und erzählt Ihnen seine Geschichte. Meistens zeigt er Ihnen das Foto seiner Frau und seiner Blagen und gibt am Ende zu, daß er ein altes Schwein ist.

Hin und wieder blickt Sie ein Typ, den der Whisky melancholisch macht, schief an und haut Ihnen ohne ersichtlichen Grund eins in die Fresse.

Das macht nichts. Schließlich setzt man Sie sowieso morgens um eins vor die Tür, weil das Gesetz es so will und das Gesetz Gesetz bleibt.

Man versucht, nach Hause zu kommen, ohne einen Laternenpfahl umzureißen, denn man riskiert eine Gefängnisstrafe, wenn man unter Alkoholeinfluß Auto fährt.

Und am nächsten Morgen greift man zu der kleinen blauen Flasche, die Sie kennen. Man macht ein paar kräftige Rülpser, die nach Whisky riechen. Ein heißes Bad, danach eine kalte Dusche, und schon ist die Welt wieder sauber und neu, man ist glücklich, das Haus in Ordnung zu finden, die Straßen gereinigt zu sehen, man freut sich über das lautlos rollende Auto und das Büro mit seiner Klimaanlage. Und das Leben ist schön, Julius!«

Maigret schaute hinüber in die Ecke neben dem Musikautomaten, wo die beiden Pärchen saßen und ihn anblickten.

Im Grunde war Bessy gestorben, damit das Leben schön war!

Das Einschreiten des Negers

Da standen sie alle fünf in ihrer blauen Sträflingskleidung auf der Terrasse des ersten Stocks. Vom vielen Waschen hatte das Leinen der Anzüge das gleiche Blau angenommen wie die Sardinennetze, wie das Blau des Himmels, der jeden Morgen in seiner Reinheit erstrahlte.

Im Schatten, in der Ecke hielt sich noch ein wenig von der Frische der Nacht und der Dämmerung; und sobald man ins Licht trat, spürte man brennende Schauer auf der Haut.

Bald, wenn die Sonne den Zenit erreichte, würde vielleicht einer der fünf Männer des Mordes oder des Totschlags angeklagt sein.

Dachten sie daran? Und diejenigen unter ihnen, die sich unschuldig wußten, fragten sie sich, wer von ihnen getötet hatte? Oder wußten sie es und hatten nur aus Kameradschaft oder aus Korpsgeist geschwiegen?

Was hier überraschte, war ihre Isolation.

Sie gehörten auf diesem Flugplatz alle derselben Einheit an. Sie waren zusammen ausgegangen, hatten getrunken, hatten sich gemeinsam amüsiert und nannten sich beim Vornamen.

Aber seit ihrem ersten Erscheinen vor dem Coroner hatten sich unsichtbare Wände zwischen ihnen erhoben, und sie hatten getan, als würden sie sich nicht kennen.

Meistens vermieden sie es, einander anzusehen, und wenn es zufällig geschah, war ihr Blick ernst und lastend, voller Argwohn und Groll.

Manchmal streiften sie einander, saßen Seite an Seite, ohne daß sich ein Kontakt zwischen ihnen herstellte.

Dennoch bestanden zwischen diesen Männern Beziehungen, die Maigret vom ersten Tag an erraten hatte und die er nun besser zu verstehen begann.

So teilten sie sich zum Beispiel in zwei verschiedene Gruppen, nicht nur wenn sie ausgingen, sondern auch in der Kaserne. Die eine Gruppe bildeten Ward und Dan Mullins. Sie waren die älteren, man war versucht zu sagen: die großen; und neben ihnen wirkten die drei anderen wie Rekruten, verkörperten die untere Klasse.

Wie die Schulanfänger bewahrten die drei etwas Tolpatschiges, Unentschlossenes, und aus ihren Augen konnte man eine mit Neid vermischte Bewunderung für die älteren ablesen.

Doch zwischen Ward und Mullins war die Mauer am dicksten und unüberwindlichsten. Konnte Ward vergessen, daß Mullins Bessy in der Küche des Musikers nahezu vor seinen Augen besessen hatte und daß es Wahrscheinlich die letzte Umarmung gewesen war, die sie erfahren hatte?

Damit sie ihm gehörte, hatte er einen hohen Preis bezahlt. Er hatte versprochen, sich scheiden zu lassen, und das bedeutete, daß er sich von seinen Kindern trennen mußte. Er hatte alles eingesetzt, während sein Kamerad sie nur mit seinen geckenhaften Blicken zu umschmeicheln brauchte.

Hatte er nicht gegenüber Dan einen noch schwereren Verdacht? Mußte man nicht glauben, daß er es ehrlich meinte, als er von einem Betäubungsmittel sprach, daß ihm ohne sein Wissen verabreicht worden sei?

Er war unversehens eingeschlafen, und sein Trinkerstolz verbot ihm, zuzugeben, daß es die Wirkung des Alkohols gewesen war. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. In diesem Zusammenhang war Maigret etwas Amüsantes aufgefallen. Jedesmal, wenn der Coroner oder der Attorney eine genaue Zeitangabe verlangten, hatten die Männer schließlich geantwortet:

»Ich hatte keine Uhr bei mir.«

Das hatte ihn an seinen eigenen Militärdienst erinnert, an die Zeit, in der die Soldaten einen Sou pro Tag erhielten und bereits nach wenigen Wochen alle Uhren des Regiments im Leihhaus waren.

Was bewies Ward, daß Mullins neben ihm im Wagen geblieben war?

Maigret hatte Cole gefragt, der sich da auskannte, weil es sein Fachgebiet war:

»Könnte der Musiker zu Hause nicht Marihuana-Zigaretten gehabt haben?«

»Erstens bin ich fast sicher, daß er keine hatte. Und selbst wenn er welche gehabt hätte, wäre Ward nicht in einen so tiefen Schlaf verfallen, wie er es geschildert hat. Er hätte sich vielmehr ungewöhnlich wach gefühlt.«

Hatte Mullins hingegen Ward nicht in Verdacht, seinen Schlaf ausgenutzt zu haben, um zum Bahndamm zu gelangen?

Trotzdem erhaschte man nie einen haßerfüllten oder vorwurfsvollen Blick zwischen ihnen. Man hatte den Eindruck, jeder versuche, verbissen, dickköpfig und mit gerunzelter Stirn die Lösung des Problems selbst zu finden.

In der unteren Klasse war van Fleet am meisten nervös. Er hatte an jenem Morgen die Augen eines Menschen, der nachts nicht geschlafen oder lange geweint hat.

Sein Blick war starr und ängstlich. Er schien ein drohendes Unglück zu ahnen, und seine Nägel waren bis auf die Fingerkuppen abgekaut. Auch jetzt knabberte er unbewußt daran und hielt erst inne, als er es merkte und Haltung zu bewahren versuchte.

O’Neil, eigensinnig und mit finsterem Gesicht, ähnelte immer noch dem guten Schüler, der zu Unrecht bestraft werden ist, und er war der einzige von den fünf, der in der für ihn zu großen Sträflingskleidung linkisch wirkte.

Der Chinese hatte in seinem Blick, in seinen kaum hervortretenden Gesichtszügen, in seiner Haltung etwas so Reines, daß man ihn am liebsten wie ein Kind behandelt hätte.

»Der letzte Tag!« rief eine fröhliche Stimme Maigret so unvermutet ins Ohr, daß er zusammenzuckte.

Es war einer der Geschworenen, der älteste, der wie eine Radierung aussah. Seine Augen, um die sich tausend kleine Falten zogen, sprühten vor Schalkhaftigkeit und Wohlwollen. Er hatte gesehen, wie eifrig und aufmerksam Maigret gewesen war, er hatte gespürt, wie leidenschaftlich er Anteil nahm, daß er annehmen mußte, der Kommissar sei enttäuscht, daß die Verhandlung bereits ihrem Ende zuging.

»Ja, der letzte Tag.«

Hatte der Greis, der nicht verwirrt erschien, schon seine eigenen Vorstellungen von dem Fall? Caporal van Fleet, der in ihrer Nähe stand und die Worte gehört hatte, kaute wieder an seinen Nägeln, während Sergeant Ward seinen finsteren Blick auf diesen massigen Mann mit dem ausländischen Akzent richtete, der sich Gott weiß warum mit ihm beschäftigte.

Sie waren alle frisch rasiert. Ward hatte sich sogar die Haare schneiden lassen, und man hatte sie am Nacken und über den Ohren kürzer als gewöhnlich geschoren, so daß die sehr weiße Haut an diesen Stellen von der sonst sonnengebräunten abstach.

Es ging etwas Ungewöhnliches vor. Es war zwanzig vor zehn, und Hesekiel hatte die Geschworenen noch nicht zur Sitzung gerufen.

Er stand nicht im Säulengang, sondern unten im Schatten, in der Nähe des Rasens, und rauchte vor einer geschlossenen Tür seine Pfeife.

Man hatte weder den Coroner noch den Attorney noch O’Rourke gesehen, die sonst in den Gängen auf und ab gingen.

Die Stammgäste hatten schon um halb zehn im Saal Platz genommen und waren dann nacheinander wieder hinausgetreten, nachdem sie einen Hut oder einen anderen Gegenstand auf ihren Stuhl gelegt hatten. Sie schauten von oben auf Hesekiel hinab. Einige stiegen die Treppen hinunter, um eine Coca-Cola zu trinken. Die Negerin mit dem Baby richtete das Wort an Maigret, doch der verstand nicht, was sie sagte, und beschränkte sich darauf, zu lächeln und das Kind mit einem Finger unter dem Kinn zu kraulen.

Auch er ging hinunter, sah, daß im Büro des Coroners eine Besprechung stattfand, und erkannte O’Rourke, der gerade telefonierte.

Er steckte fünf Cents in den Schlitz des roten Automaten und trank an diesem Vormittag zum erstenmal Coca-Cola aus der Flasche. Von unten beobachtete er weiterhin die fünf Männer, die sich in der ersten Etage auf die Balustrade stützten.

Dann nahm er ein Stück Papier aus seiner Brieftasche und kritzelte ein paar Worte darauf. Im Säulengang stand ein Händler, der Zeitungen und Postkarten verkaufte. Er bot auch Umschläge feil, und Maigret kaufte einen, schob seinen Zettel hinein, klebte ihn zu und schrieb den Namen O’Rourke darauf.

Allmählich spürte man, wie eine wachsende Ungeduld und gleichzeitig eine gewisse Unruhe aufkamen. Schließlich hatten alle die Tür entdeckt, hinter der die Beamten verschwunden waren, und hin und wieder sah man einen der Deputy-Sheriffs geschäftig herauskommen, um zu einem anderen Büro zu eilen.

Endlich hielt ein heller Wagen vor der Kolonnade, und ein kleiner, gedrungener Mann überquerte den Innenhof und begab sich zu dem Amtszimmer des Sheriffs. Man mußte ihn beobachtet haben, denn O’Rourke lief ihm entgegen, nahm ihn mit und zog die Tür hinter ihnen zu.

Um fünf vor zehn tat Hesekiel dann einen letzten Zug aus seiner Pfeife und rief sein gewohntes:

»Geschworene!«

Jeder setzte sich auf seinen Platz. Der Coroner probierte verschiedene Lagen seines Sessels aus und stellte die Mikrofone ein. Hesekiel fummelte ein wenig an den Knöpfen der Klimaanlage herum und schloß die Rollos.

»Angelino Pozzi!«

O’Rourke suchte Maigret mit den Augen und zwinkerte ihm zu. Harold Mitchell, der etwas weiter weg saß, bemerkte dieses Zeichen und wurde noch mürrischer.

»Sie sind Lebensmittelhändler und Lieferant des Flugplatzes?«

»Ich beliefere das Kasino der Offiziere und das der Unteroffiziere.«

Er war italienischer Herkunft und hatte seinen Akzent beibehalten. Er schwitzte. Er hatte sich beeilt, wischte sich dauernd über die Stirn und schaute neugierig um sich.

»Sie wissen nichts vom Tode Bessy Mitchells und haben von dieser Untersuchung nichts gehört?«

»Nein, Euer Ehren. Ich bin vor einer Stunde aus Los Angeles eingetroffen, wo ich mit einem meiner Lastwagen Waren abgeholt habe. Meine Frau hat mir gesagt, daß mehrmals in der Nacht angerufen worden ist und man gefragt hat, ob ich schon zurück sei. Und vorhin, als ich mich geduscht hatte und schlafen gehen wollte, ist ein Mann vom Sheriff gekommen.«

»Was haben Sie seit dem Morgen des 28. Juli getan?«

»Als ich den Flughafen verließ, wo ich Bestellungen entgegenzunehmen hatte…«

»Einen Augenblick! Wo haben Sie die Nacht vom! 27. auf den 28. verbracht?«

»In Nogales, auf der mexikanischen Seite. Ich hatte zwei Lastwagen Warzenmelonen und einen LKW Gemüse gekauft. Meine Lieferanten und ich haben einen Teil der Nacht zusammengesessen, wie wir das oft tun.«

»Haben Sie viel getrunken?«

»Nicht viel. Wir haben gepokert.«

»Ist Ihnen nichts weiter geschehen?«

»Wir sind in das Vergnügungsviertel hinaufgefahren, um noch einen zu trinken, und während ich mein Auto geparkt hatte, muß es von einem anderen gerammt worden sein, denn ich fand einen Kotflügel beschädigt.«

»Beschreiben Sie uns Ihren Wagen.«

»Es ist ein beigefarbener Pontiac, den ich acht Tage zuvor gebraucht gekauft habe.«

»Wußten Sie, daß die Reifen auf Kredit gekauft worden waren?«

»Das war mir nicht bekannt. Es kommt oft vor, daß ich Autos kaufe und wieder verkaufe. Nicht so sehr wegen des Gewinns, sondern um gefällig zu sein.«

»Wann sind Sie nach Tucson zurückgefahren?«

»Es muß ungefähr drei Uhr morgens gewesen sein, als ich die Grenze passierte. Ich habe einen Augenblick mit dem Beamten der Einwanderungsbehörde gesprochen, der mich sehr gut kennt.«

Er hatte die europäische Gewohnheit beibehalten, beim Reden zu gestikulieren, und er sah der Reihe nach die Menschen an, die ihn umgeben, als begreife er immer noch nicht, was man von ihm wollte.

»Waren Sie allein im Wagen?«

»Ja, Euer Ehren. Als ich mich dem Flugplatz von Tucson näherte, habe ich jemanden bemerkt, der mir ein Zeichen gab, anzuhalten. Ich schloß daraus, daß der Mann mitgenommen werden wollte, und bedauerte, daß er mir nicht schon eher begegnet war, denn dann hätte ich Gesellschaft gehabt.«

»Wie spät war es da?«

»Ich bin nicht schnell gefahren. Es dürfte kurz nach vier gewesen sein.«

»Wurde es bereits hell?«

»Noch nicht. Aber es war nicht mehr ganz dunkel.«

»Drehen Sie sich um und sagen Sie uns, wer von diesen Männern Sie auf diese Art angehalten hat.«

Pozzi zögerte nicht.

»Es war der Chinese.«

»Stand er allein am Straßenrand?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wie war er gekleidet?«

»Ich glaube, er trug ein malvenfarbenes oder lila Hemd.«

»Sie haben unterwegs keine anderen Autos gesehen?«

»Doch, Euer Ehren, etwa zwei Meilen weiter.«

»In Richtung Nogales?«

»Ja. Ein Chevrolet hielt am Straßenrand vor einer Telegrafenstange. Die Scheinwerfer waren nicht an, und einen Moment habe ich an einen Unfall geglaubt, denn der Kühler berührte fast den Mast.«

»Im Inneren haben Sie niemanden bemerkt?«

»Es war zu dunkel.«

»Was hat Caporal Wo Lee zu Ihnen gesagt?«

»Er hat mich gefragt, ob ich einen Augenblick auf seine beiden Kameraden warten könne, die gleich kommen müßten. Er hat hinzugefügt, daß sie alle drei auf dem Flugplatz stationiert seien, und ich habe geantwortet, daß ich gerade da hinwollte. Ich habe gedacht, die beiden anderen hätten sich einen Moment entfernt, um ihr Bedürfnis zu verrichten.«

»Haben Sie lange gewartet?«

»Es kam mir lange vor, ja.«

»Wieviel Minuten etwa?«

»Vielleicht drei oder vier. Der Caporal hat die Hände wie einen Trichter an den Mund gehalten und Namen zum Bahndamm hinauf gerufen.«

»Konnten Sie die Schienen sehen?«

»Nein, aber ich fahre diese Strecke oft und weiß, wo sie verlaufen.«

»Wo Lee hat sich nicht entfernt?«

»Nein. Ich merkte, daß er entschlossen war, ohne seine Kameraden mitzukommen, wenn sie nicht sofort zur Stelle sein würden.«

»Saß er schon im Wagen?«

»Er ist draußen stehen geblieben und hat sich an den Kotflügel gelehnt.«

»War es der vordere Kotflügel, der in Nogales beschädigt werden war?«

»Ja, Euer Ehren.«

Maigret begriff. Die Polizisten mußten auf der Straße abgeblätterte Farbe gefunden haben, und deshalb hatte man die drei Männer gefragt, ob das Auto, das sie zum Flughafen zurückgebracht hatte, Spuren eines Unfalls aufwies.

»Was ist dann geschehen?«

»Nichts. Die beiden anderen sind gekommen. Erst hatte man nur ihre Schritte gehört.«

»Kamen sie aus der Richtung des Bahndamms?«

»Ja.«

»Was haben die Männer gesagt?«

»Nichts. Sie sind gleich eingestiegen.«

»Haben sie hinten Platz genommen?«

»Einer hat sich mit dem Chinesen hinten hingesetzt. Der andere ist zu mir nach vorn gekommen.«

Er zeigte unaufgefordert auf O’Neil.

»Der saß vorn.«

»Hat er sich mit Ihnen unterhalten?«

»Nein. Er war sehr rot und atmete keuchend. Ich habe gedacht, er sei betrunken und habe sich vielleicht erbrochen.«

»Sie haben auch nicht untereinander geredet?«

»Nein. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe Selbstgespräche geführt.«

»Bis zum Flugplatz?«

»Ja. Ich habe sie im ersten Hof abgesetzt, unmittelbar hinter dem Stacheldraht. Ich glaube, der Chinese ist der einzige gewesen, der sich bedankt hat.«

»Später haben Sie in Ihrem Wagen nichts gefunden?«

»Nein, Euer Ehren. Ich habe erledigt, was ich zu tun hatte, und bin nach Hause zurückgekehrt. Es kommt bei mir öfter vor, daß an Schlaf nicht zu denken ist. Der Fahrer hat mich mit einem der Lastwagen abgeholt, und wir haben uns auf den Weg nach Los Angeles gemacht. Gestern mittag sind wir dort wieder abgefahren. Ich habe keine Zeitung gelesen, denn ich hatte zuviel zu tun.«

»Keine Fragen, meine Herren Geschworenen?«

Sie schüttelten den Kopf, und Pozzi hob seinen Strohhut auf, den er auf den Boden gelegt hatte, und ging zur Tür.

»Einen Augenblick! Würden Sie bitte so freundlich sein, dem Gericht noch einen Moment zur Verfügung zu stehen?«

Es war kein Sitzplatz mehr frei, und so blieb er im Türrahmen stehen, zündete sich eine Zigarette an und zog damit ein Donnerwetter Hesekiels auf sich.

Als O’Rourke endlich aufstand, hob der Neger unter den Geschworenen wie in der Schule die Hand, um etwas zu sagen.

»Ich möchte, daß man jeden der fünf Männer unter Eid aussagen läßt, wann er Bessy Mitchell, lebend oder tot, zum letztenmal gesehen hat.«

Maigret fuhr zusammen und sah den Geschworenen mit Erstaunen und Bewunderung an. O’Rourke setzte sich wieder, wandte sich ihm zu und zwinkerte mit den Augen, als wolle er sagen:

»Gar nicht so dumm, der Alte!«

Nur der Coroner schien gelangweilt.

»Sergeant Ward!« rief er.

Und als der Sergeant vor dem Mikrofon aus verchromtem Metall saß, fügte er hinzu:

»Sie haben die Frage des Geschworenen gehört. Ich erinnere Sie daran, daß Sie unter Eid aussagen. Wann haben Sie Bessy, lebend oder tot, zum letztenmal gesehen?«

»Am Nachmittag des 28. Juli. Mister O’Rourke hat mich zur Identifizierung der Toten in die Leichenhalle geführt.«

»Wann haben Sie sie davor zum letztenmal gesehen?«

»Als sie in Begleitung von Sergeant Mullins das Auto verließ.«

»Anläßlich des ersten Halts an der rechten Straßenseite?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Als Sie anschließend ausgestiegen sind, um sie zu suchen, haben Sie sie nicht mehr gesehen?«

»Nein, Euer Ehren.«

Der Neger gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß ihm das genügte.

»Sergeant Mullins! Ich stelle Ihnen dieselbe Frage und mache Sie ebenfalls darauf aufmerksam, daß Sie unter Eid stehen. Wann haben Sie Bessy zum letztenmal gesehen?«

»Als sie mit Ward aus dem Auto ausgestiegen ist und sie sich in der Dunkelheit entfernt haben.«

»Beim ersten Halt?«

»Nein, Euer Ehren. Beim zweiten.«

»Das heißt, als der Wagen schon in Richtung Tucson gewendet hatte?«

»Ja, Euer Ehren. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen.«

»Caporal van Fleet!«

Der war offensichtlich mürbe. Seine Nerven begannen aus irgendeinem Grunde zu versagen, und es bedurfte nur eines winzigen Anstoßes, damit er zusammenbrach. Sein Blick war verstört, und seine Finger bewegten sich ständig; er wußte nicht, wo er hinschauen sollte.

»Haben Sie die Frage gehört?«

O’Rourke hatte sich zu dem Attorney hinübergeneigt, der nun eingriff:

»Ich betone nochmals, daß Sie unter Eid aussagen, und ich erinnere Sie daran, daß Meineid ein Staatsverbrechen ist, das mit Gefängnis bis zu zehn Jahren bestraft wird.«

Er bot einen so kläglichen Anblick wie eine verletzte Katze, auf die sich eine wilde Horde von Jungen stürzt. Zum erstenmal spürte man wirklich das Drama. Genau in diesem Augenblick begann das Baby der Negerin zu schreien. Der Coroner runzelte ungeduldig die Brauen. Die Mutter versuchte vergeblich, das Kind zu beruhigen. Zweimal setzte van Fleet zum Sprechen an, und beide Male schrie das Baby noch lauter, so daß sich die Negerin schließlich mit Bedauern entschloß, den Saal zu verlassen.

Darauf machte Pinky noch einmal den Mund auf, - der jedoch geöffnet blieb, ohne daß ein Laut aus ihm hervordrang. Das Schweigen erschien allen ebenso lang wie Pozzi die drei Minuten Wartezeit auf der Landstraße. Man hätte dem Caporal helfen, ihm eine Antwort vorsagen, den Coroner bitten mögen, ihn nicht länger zu quälen.

Abermals beugte sich O’Rourke zum Attorney hinüber, und der stand auf undging auf die Zeugenbank zu, wobei er wie ein Schulmeister mit seinem Drehbleistift herumfuhrwerkte.

»Haben Sie die Aussage Pozzis vernommen? Als er am Straßenrand hielt, war Ihr Kamerad Wo Lee allein. Wo waren Sie?«

»In der Wüste.«

»Am Bahndamm?«

»Ja.«

»Auf dem Gleis?«

Er schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, Euer Ehren. Ich schwöre, daß ich die Schienen nicht betreten habe.«

»Aber von der Stelle, an der Sie standen, konnten Sie das Gleis sehen?«

Keine Antwort. Er sah überall und nirgends hin. Maigret hatte den Eindruck, daß es ihn große Anstrengungen kostete, sich nicht zu O’Neil umzudrehen.

Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, und wieder begann er an seinen Nägeln zu kauen.

»Was haben Sie auf dem Bahndamm erblickt?«

Starr vor Angst, antwortete er nicht.

»Dann beantworten Sie die erste Frage: Wann haben Sie Bessy, lebend oder tot, zum letztenmal gesehen?«

Die Angst des Flamen zerrte derart an den Nerven, daß einige sicher hätten ausrufen mögen:

»Genug!«

»Ich habe gesagt: lebend oder tot. Haben Sie verstanden? Antworten Sie!«

Da sprang van Fleet auf, brach in Schluchzen aus und schüttelte krampfhaft den Kopf.

»Ich war es nicht! Ich war es nicht!« schrie er keuchend. »Ich schwöre es! Ich war es nicht! …«

Er zitterte am ganzen Körper, schien einem Nervenzusammenbruch nahe, klapperte mit den Zähnen, und sein Blick irrte durch den Saal, ohne etwas wahrzunehmen.

O’Rourke trat schnell zu ihm hin und packte ihn fest am Arm, denn er mußte stark zudrücken, um den Burschen daran zu hindern, sich zu Boden zu werfen. Er führte ihn so zur Tür und übergab ihn Gerald Conley, dem Deputy-Sheriff mit dem schön geschnitzten Revolver.

Er redete leise mit ihm und besprach sich dann mit dem Coroner.

Man spürte das Schwanken, die Unentschlossenheit. Der Attorney begab sich nun zum Coroner, und sie berieten sich eine Weile miteinander. Darauf schien man jemanden zu suchen. Man holte Hans Schmider, den Mann mit den Gipsabdrücken, von den Wandelgängen herein, der wieder ein Paket in der Hand hatte.

Zu dem Neger unter den Geschworenen gewandt, murmelte der Coroner:

»Wenn Sie gestatten, werden wir diesen Zeugen vernehmen, bevor wir die Frage an die beiden letzten Männer richten. Treten Sie näher, Mr. Schmider! Sagen Sie uns, was Sie heute nacht entdeckt haben.«

»Ich bin mit zwei Mitarbeitern zum Flugplatz gefahren, und wir haben die Abfälle untersucht, die verbrannt werden sollten. Sie häufen sich auf einem freien Gelände unweit der Baracken. Wir haben Taschenlampen benutzen müssen. Und schließlich haben wir dies hier gefunden.«

Er entnahm dem Pappkarton ein Paar abgetragene Halbschuhe, zeigte die Sohlen und deutete auf die Gummiabsätze.

»Ich habe sie mit den Abdrücken verglichen. Es sind tatsächlich die Schuhe, die die Spuren Nummer zwei hinterlassen haben.«

»Erklären Sie das genauer.«

»Als die Spuren Nummer eins bezeichne ich diejenigen, die etwa vom Auto zum Bahndamm führen und dabei mehr oder weniger der Fährte von Bessy Mitchell folgen. Die Spuren Nummer zwei beginnen weiter hinten in Richtung Nogales und münden an der gleichen Stelle am Gleiskörper, nicht weit von dem Ort, wo die Leiche gefunden werden ist.«

»Haben Sie feststellen können, wem die Schuhe gehören?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Haben Sie das Personal des Flughafens befragt?«

»Nein, Euer Ehren. Es sind annähernd viertausend Mann.«

»Ich danke Ihnen.«

Bevor er den Saal verließ, stellte Schmider die Schuhe auf den Tisch des Attorney.

»Caporal Wo Lee!«

Der Chinese begab sich zum Zeugenstuhl, und erneut mußte man das Mikrofon niedriger stellen.

»Vergessen Sie nicht, daß Sie unter Eid aussagen. Ich richte an Sie die gleiche Frage wie an Ihre Kameraden. Wann haben Sie Bessy Mitchell zum letztenmal gesehen?«

Er zögerte nicht mit der Antwort. Er brauchte jedoch wie immer seine Zeit, als müsse er sich die Frage erst in seine Muttersprache übersetzen.

»Als sie das zweite Mal aus dem Auto gestiegen ist.«

»Darauf haben Sie sie nicht wiedergesehen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sie haben sie auch nicht gehört?« erkundigte sich der Attorney, mit dem O’Rourke leise gesprochen hatte.

Diesmal überlegte er länger, starrte einen Augenblick auf den Fußboden und schlug seine langen, mädchenhaften Wimpern auf, die seine klaren Augen bedeckten.

»Ich bin mir nicht sicher, Euer Ehren.«

Gleich darauf blickte er zu O’Neil hinüber, als ob er sich entschuldigen wollte.

»Was meinen Sie damit genau?«

»Ich habe Geräusche gehört, als stritten sich Leute miteinander und raschelten im Gebüsch.«

»Wann war das?«

»Vielleicht zehn Minuten, bevor der Wagen kam.«

»Sie sprechen von Pozzis Auto?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie befanden sich auf der Straße?«

»Ich hatte sie nicht verlassen.«

»War es lange her, seit Sie das Taxi zurückgeschickt hatten?«

»Vielleicht eine halbe Stunde.«

»Wo waren Ihre Kameraden?«

»Nachdem wir aus dem Taxi gestiegen waren, sind wir zunächst gemeinsam in Richtung Nogales marschiert, wie ich Ihnen schon sagte. Ich glaube, wir hatten die Stelle verfehlt und hatten zu nahe am Flugplatz gehalten. Nach einer Weile sind wir umgekehrt und haben uns getrennt. Ich blieb auf der Straße. Ich hörte van Fleet etwa zwanzig Meter weiter in der Wüste, und O’Neil war noch ferner.«

»Am Bahndamm?«

»Ungefähr. Und auf einmal habe ich Geräusche gehört.«

»Haben Sie eine Frauenstimme erkannt?«

»Ich weiß nicht.«.

»Hat das lange gedauert?«

»Nein, Euer Ehren, nur ganz kurz.«

»Haben Sie weder die Stimme van Fleets noch die von O’Neil vernommen?«

»Ich glaube, doch.«

»Welche von beiden?«

»Die von O’Neil.«

»Was sagte er?«

»Es war verschwommen. Ich glaube, er rief van Fleet.«

»Hat er diesen Namen ausgesprochen?«

»Nein, Euer Ehren. Er nannte ihn Pinky, wie gewöhnlich. Es begann jemand zu laufen. Ich hatte den Eindruck, daß weiterhin leise gesprochen wurde. Da wurde ich auf das Auto aufmerksam, das aus Nogales kam, und bin auf die Fahrbahn getreten, um es anzuhalten.«

»Wußten Sie, daß Ihre Kameraden zu Ihnen zurückkommen würden?«

»Ich dachte, wenn sie hören, daß der Wagen hält, dann würden sie kommen.«

»Keine Fragen, Attorney?«

Der Vertreter der Anklage schüttelte den Kopf.

»Meine Herren Geschworenen?«

Auch sie vemeinten.

»Die Sitzung ist unterbrochen!«

Die flache Flasche des Sergeants

Vergeblich versuchte Maigret, O’Rourke im Vorbeigehen aufzuhalten. Er eilte geschäftig vorüber und schloß sich im Erdgeschoß in ein Büro ein, das ihm gehören mußte. Wegen der Hitze stand das Fenster offen, und während der ganzen Pause konnte man ununterbrochen Menschen vorbeiziehen sehen.

Pinky saß da auf einem Stuhl neben grünen Aktenschränken; man hatte ihm Whisky gegeben, um ihn wieder auf die Beine zu bringen.

O’Rourke und einer seiner Mitarbeiter sprachen freundlich zu ihm wie unter Kameraden, und zwei- oder dreimal zeigte der Caporal ein blasses Lächeln.

Die Negerin wandelte immer noch mit ihrem Baby auf dem Arm und gefolgt von ihren Brüdern und Schwestern in den Gängen, und als die Geschworenen gerufen wurden, war sie die erste, die wieder Platz nahm.

Letzten Endes ging es hier ungefähr so wie in Frankreich zu, allerdings mit dem Unterschied, daß die Verhöre dort in einem der Amtszimmer der Kriminalpolizei hinter verschlossenen Türen und nicht in der Öffentlichkeit stattgefunden hätten.

Die Geschworenen erschienen noch ernster, als fühlten sie die Stunde ihrer Verantwortung nahen.

Hätte die Untersuchung ohne die Frage des Negers die gleiche Wendung genommen? Hätte O’Rourke in das Verfahren eingegriffen? -

»Sergeant van Fleet!«

Er sah jetzt aus wie ein Boxer, der im Verlauf der vorhergehenden Runden hart angeschlagen worden war und sich nun in Erwartung seines sicheren K.O. dem Gegner näherte, so daß man seinen Schritten mit einem gewissen Mitleid folgte.

Man wußte, daß er die Wahrheit kannte, und alle anderen wollten sie endlich auch erfahren. Gleichzeitig schämte man sich ein wenig, ihm derart zusetzen zu müssen.

Der Coroner überließ es dem Attorney, ihn fertigzumachen, der sich abermals erhob und mit seinem Drehbleistift in der Hand auf den Zeugen zuschritt.

»Etwa zehn Minuten vor der Ankunft des Wagens, der Sie alle drei zum Flugplatz zurückgebracht hat, ereignete sich auf dem Bahndamm ein Zwischenfall, dessen Geräusch auf der Straße vernehmbar war. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Was ist genau vorgefallen?«

Man merkte, daß er entschlossen war, alles zu sagen. Er suchte nach Worten; es fehlte wenig, und er hätte um Hilfe gebeten.

»Schon eine ganze Weile lag Jimmy bei Bessy…«

Es war merkwürdig, ihn gerade in diesem Moment O’Neil mit Vornamen nennen zu hören.

»Ich nehme an, daß ich unbeabsichtigt Geräusche verursacht habe.«

»Wie weit waren Sie von dem Pärchen entfernt?«

»Fünf bis sechs Meter.«

»Wußte O’Neil, daß Sie in der Nähe waren?«

»Ja.«

»War das zwischen Ihnen vereinbart worden?«

»Ja.«

»Wer hat die flache Flasche Whisky gekauft? Und wann?«

»Kurz bevor die Penguin Bar schloß.«

»Zusammen mit den anderen Flaschen?«

»Nein.«

»Wer hat daran gedacht?«

»Wir beide.«

»Sie meinen, O’Neil und Sie?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Mit welcher Absicht haben Sie eine Flasche gekauft, die man in die Tasche stecken kann, obwohl Sie den ganzen Abend getrunken hatten und bei dem Musiker weitertrinken sollten?«

»Wir wollten Bessy betrunken machen, und Sergeant Ward ließ sie nicht soviel trinken, wie sie wollte.«

»Sie hatten zu diesem Zeitpunkt also schon bestimmte Absichten?«

»Vielleicht nicht so bestimmte.«

»Sie wußten, daß man vorschlagen würde, den Rest der Nacht in Nogales zu verbringen?«

»Dort oder anderswo, das endet immer auf die gleiche Weise.«

»Das heißt, bevor Sie die Penguin Bar verließen, also vor ein Uhr morgens, wußten Sie bereits, was Sie wollten?«

»Wir sagten uns, wir würden vielleicht eine Gelegenheit finden.«

»War Bessy davon unterrichtet?«

»Sie wußte, daß Jimmy öfter in die Penguin Bar gegangen war, um sie zu treffen.«

»Hatten Sie Wo Lee in das Geheimnis eingeweiht?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wer hatte die Flasche in der Tasche?«

»O’Neil.«

»Wer hat sie bezahlt?«

»Wir beide. Ich habe ihm zwei Dollarscheine gegeben. Er hat den Rest dazugelegt.«

»Es war doch schon eine weitere Flasche im Auto.«

»Wir wußten nicht im voraus, daß man sie liegenlassen würde. Und dann war sie auch zu dick, man hätte sie nicht verstecken können.«

»Als Sie auf dem Weg nach Nogales waren und O’Neil mit Bessy hinten saß, hat er da versucht, die Lage auszunutzen?«

»Ich nehme an.«

»Hat er ihr zu trinken gegeben?«

»Das ist möglich. Ich habe ihn nicht gefragt.«

»Wenn ich richtig verstehe, kam es Ihnen gelegen, daß man Bessy in der Wüste allein ließ.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Haben Sie miteinander darüber gesprochen?«

»Wir brauchten nicht darüber zu reden, wir haben uns gleich verstanden.«

»Waren Sie zu diesem Zeitpunkt bereits entschlossen, Wo Lee abzuschütteln?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie hatten nicht damit gerechnet, daß Ward und Mullins in die Wüste zurückkehren würden?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Nahmen Sie an, daß Bessy einwilligen würde?«

»Sie hatte schon viel getrunken.«

»Und Sie hatten die Absicht, ihr noch mehr zu trinken zu geben?«

»Ja, Euer Ehren.«

Er hatte jetzt den Punkt erreicht, daß er die peinlichsten Fragen beantworten würde.

»Wie kam es, daß Sie etwa eine halbe Stunde gebraucht haben, um Bessy Mitchell zu finden?«

»Wir müssen das Taxi zu früh angehalten haben. Wir hatten auch getrunken. Es ist nicht leicht, in der Nacht eine bestimmte Stelle auf der Straße wiederzuerkennen.«

»Sie haben nochmals versucht, Wo Lee zurückzuschicken. Als Sie umgekehrt sind, gingen Sie beide durch die Wüste.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Waren Sie zusammen?«

»O’Neil bewegte sich etwa zwanzig Meter rechts von mir. Ich konnte seine Schritte hören. Ab und zu pfiff er leise, damit ich wußte, wo er war.«

»Er hat Bessy auf dem Bahndamm gefunden?«

»Nein, Euer Ehren. Dicht daneben.«

»Sie schlief?«

»Ich weiß es nicht. Ich nehme es an.«

»Was hat sich genau zugetragen?«

»Ich habe gehört, daß er leise auf sie einredete, und mir war klar, daß er sich neben sie gelegt hat. Sie hat zuerst geglaubt, es wäre Sergeant Ward. Dann hat sie laut aufgelacht.«

»Er hat ihr zu trinken gegeben?«

»Sicher, denn ich habe die leere Flasche auf den Schotter fallen hören, wahrscheinlich auf die Schienen.«

»Was haben Sie während dieser Zeit gemacht?«

»Ich habe mich lautlos nähergeschlichen.«

»Wußte O’Neil das?«

»Er mußte es wissen.«

»War das zwischen Ihnen vereinbart?«

»Mehr oder weniger.«

»Und dann hat sich etwas Unvorhergesehenes ereignet?«

»Ja, Euer Ehren. Ich muß an einem Strauch hängengeblieben sein, und das hat ein Geräusch verursacht. Da hat Bessy um sich geschlagen und ist wütend geworden. Sie hat geschrien, sie wisse jetzt, daß wir Schweine seien, daß wir sie für eine Hure hielten, daß wir uns aber getäuscht hätten. O’Neil hat versucht, sie zum Schweigen zu bringen, weil er fürchtete, Caporal Wo Lee könnte sie hören.«

»Sind Sie noch näher herangegangen?«

»Nein, Euer Ehren. Ich habe mich nicht vom Fleck gerührt. Aber sie muß meine Umrisse gesehen haben. Sie hat uns mit Beleidigungen überschüttet und gedroht, es Ward zu sagen, der uns die Fresse polieren würde.«

Er sprach mit monotoner Stimme in die absolute Stille hinein.

»Hielt O’Neil sie umschlungen?«

»Sie befahl ihm, sie loszulassen, und schlug um sich. Schließlich hat sie sich losgerissen und ist davongerannt.«

»Auf dem Bahngleis?«

»Ja, Euer Ehren. O’Neil ist hinter ihr hergelaufen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und torkelte. Sie ist mehrfach gegen die Schwellen gestolpert. Sie ist hingefallen.«

»Und dann?«

»O’Neil hat gerufen:

›Bist du da, Pinky?‹

Ich bin zu ihm gegangen und habe gehört, wie er brummte:

›So ein Biest!‹

Er hat mich gebeten, nachzuschauen, ob sie sich verletzt habe. Ich habe ihm gesagt, er solle selbst hingehen, weil ich nicht den Mut dazu hatte. Ich fühlte mich krank. Ich hörte auf der Straße ein Auto näherkommen. Wo Lee rief nach uns.«

»Hat niemand nachgesehen, in welchem Zustand Bessy sich befand?«

»O’Neil ist schließlich hingegangen. Er hat sich nur über sie gebeugt. Er hat die Hand nach ihr ausgestreckt, aber er hat sie nicht berührt.«

»Was hat er gesagt, als er zurückkam?«

»Er hat gesagt:

›Ein böser Streich. Sie rührt sich nicht.‹«

»Haben Sie daraus geschlossen, daß sie tot war?«

»Ich weiß es nicht. Ich konnte ihm keine Fragen mehr stellen. Das Auto wartete auf uns. Man sah seine Scheinwerfer. Man hörte die Stimme des Chauffeurs.«

»Haben Sie nicht an den Zug gedacht?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Hat O’Neil ihn nicht erwähnt?«

»Wir haben überhaupt nicht miteinander gesprochen.«

»Auch nicht, als Sie wieder auf dem Flugplatz waren?«

»Nein, wir haben uns wortlos schlafen gelegt.«

»Keine Fragen, meine Herren Geschworenen?«

Sie reagierten nicht.

»Sergeant O’Neil!«

Zwei Männer begegneten sich in der Nähe des Zeugenstuhls und vermieden es, sich anzublicken.

»Wann haben Sie Bessy Mitchell zum letztenmal gesehen?«

»Als sie auf die Schienen stürzte.«

»Sie haben sich über sie gebeugt?«

»Ja, Euer Ehren.«

»War sie verletzt?«

»Ich glaubte, Blut an ihrer Schläfe bemerkt zu haben.«

»Haben Sie daraus geschlossen, daß sie tot war?«

»Ich weiß es nicht, Euer Ehren.«

»Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, sie woanders hinzubringen?«

»Ich hatte nicht die Zeit dazu, Euer Ehren. Das Auto wartete.«

»Sie haben nicht an den Zug gedacht?«

Er zögerte eine Sekunde.

»Eigentlich nicht.«

»War sie eingeschlafen, als Sie sie am Bahndamm fanden?«

»Ja, Euer Ehren. Aber sie ist sofort aufgewacht.«

»Was haben Sie da getan?«

»Ich habe ihr zu trinken gegeben.«

»Haben Sie geschlechtlich mit ihr verkehrt?«

»Ich hatte damit angefangen, Euer Ehren.«

»Wer hat Sie unterbrochen?«

»Sie hat Geräusche gehört. Als sie die Gestalt von Caporal van Fleet erblickte, hat sie begriffen, um sich geschlagen und mich laut beschimpft. Ich hatte Angst, daß Wo Lee sie hören könnte. Ich habe versucht, sie zum Schweigen zu bringen.«

»Haben Sie sie geschlagen?«

»Ich glaube nicht. Sie war betrunken. Sie kratzte mich, ich versuchte, sie zu bewegen, Vernunft anzunehmen.«

»Hatten Sie die Absicht, sie zu töten, damit sie still wurde?«

»Nein, Euer Ehren. Sie hat sich losgerissen und ist davongelaufen.«

»Erkennen Sie diese Schuhe wieder? Gehören sie Ihnen?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe am nächsten Tag gedacht, daß man Spuren im Sand finden könnte, und sie weggeworfen.«

»Noch Fragen?«

Nachdem O’Neil den Zeugenstuhl verlassen hatte, rief der Coroner:

»Mister O’Rourke!«

Der Sheriff beschränkte sich darauf, sich zu erheben, ohne seinen Platz zu verlassen.

»Ich habe dem nichts hinzuzufügen«, sagte er. »Es sei denn, man möchte mir Fragen stellen.«

Er tat bescheiden, fast verwundert, als sei er in keiner Weise an dem beteiligt, was sich da zugetragen hatte, und Maigret brummelte zwischen den Zähnen:

»Ach, geh, du gerissener Hund!«

Der Verhandlung müde, verlas der Coroner einen Text, der Hesekiel ermächtigte, die Geschworenen zu überwachen und dafür zu sorgen, daß sie für die Dauer der Beratung mit niemandem in Verbindung traten. Dann gab er den fünf Männern und der Frau einige Erklärungen, worauf man sie in einem Raum verschwinden sah, dessen Eichentür sich hinter ihnen schloß.

Draußen im Säulengang erblickte man wieder die weißen Hemden, die Zigarren und Zigaretten, die Coca-Cola-Flaschen.

»Ich glaube, Sie haben Zeit genug, essen zu gehen«, sagte O’Rourke zu Maigret. »Wenn ich mich nicht allzusehr täusche, werden sie eine oder zwei Stunden brauchen.«

»Haben Sie meinen Zettel gelesen?«

»O verzeihen Sie, das hatte ich vergessen.«

Er zog den Umschlag aus seiner Tasche, riß ihn auf und las ein einziges Wort: »O’Neil!«

Einen Augenblick betrachtete er seinen Kollegen ohne sein stets etwas spöttisches Lächeln.

»War Ihnen auch klar, daß er es nicht absichtlich getan hat?«

Anstatt zu antworten, fragte Maigret zurück:

»Was wird nun aus ihm?«

»Ich überlege, ob man ihn wegen Vergewaltigung anklagen kann, denn zumindest am Anfang war das Mädchen willig. Er hat sie nicht geschlagen. Aber auf jeden Fall hat er eine falsche Zeugenaussage gemacht.«

»Und das bringt ihm bis zu zehn Jahren ein?«

»Richtig. Es sind dumme Jungs, schlimme dumme Jungs, nicht wahr?«

Vermutlich dachten sie beide an Pinky und seinen Schwächeanfall. Die fünf Burschen standen nicht weit von ihnen. Sergeant Ward und Mullins sahen sich verstohlen an, als seien sie sich böse, weil sie sich gegenseitig verdächtigt hatten.

Würden sie sich versöhnen, wieder Freunde werden wie vorher? Würden sie über die Geschichte in der Küche hinwegsehen?

Ward nahm nach einigem Zögern die Zigarette an, die der andere ihm anbot, aber er sprach nicht gleich mit ihm.

Wo Lee hatte getan, was er konnte, um die Fragen ehrlich zu beantworten, ohne seine Kameraden zu belasten. Er lehnte allein an einer Säule und trank eine Coca-Cola, die man ihm gebracht hatte.

Van Fleet sprach halblaut mit dem Deputy-Sheriff Conley, als habe er immer noch das Bedürfnis, sich zu erklären, während O’Neil einsam, mit verschlossenem Gesicht, stur auf den Innenhof blickte, wo die Wassersprenger den Rasen benetzten.

»Schlimme dumme Jungs!« hatte O’Rourke gesagt, der bereit war, frohgemut eine neue Untersuchung in Angriff zu nehmen.

Als wüßte er nicht, wie er sich rausziehen sollte, schlug er Maigret vor:

»Wollen wir drüben einen Schluck trinken?«

Was hinderte sie beide daran, die Herzlichkeit und die gute Laune vom. Vortage wiederzugewinnen? Sie gingen in die Bar an der Straßenecke und trafen dort mehrere von denen, die die letzten beiden Tage im Gerichtssaal verbracht hatten. Niemand diskutierte den Fall. Jeder trank sein Glas still für sich.

Auf den Regalen spielte die Sonne auf den aneinandergereihten bunten Flaschen. Jemand hatte fünf Cents in den Musikautomaten gesteckt. Ein Ventilator surrte über der Theke, und draußen huschten die komfortablen blitzenden Autos vorbei.

»Manchmal«, begann Maigret zögernd, »fühlt man sich in einem Konfektionsanzug nicht wohl, weil die Ärmelausschnitte zu eng sind. Es kommt sogar vor, daß dieses Gefühl unerträglich wird und man ihn sich am liebsten vom Leibe reißen möchte.«

Er trank sein Glas in einem Zug leer und bestellte ein zweites. Er erinnerte sich an das, was Harry Cole ihm anvertraut hatte, und sah Tausende, Hunderttausende von Männern in Tausenden von Bars vor sich, die zur gleichen Stunde mit Bedacht die gleiche Sehnsucht ertränkten, das gleiche Verlangen nach dem Unmöglichen, und die am nächsten Morgen mit Hilfe einer Dusche und einer Flasche zur Magenreinigung wieder zu braven Leuten ohne Hirngespinste wurden.

»Es gibt leider auch Unfälle«, seufzte O’Rourke und schnitt sorgfältig die Spitze einer Zigarre ab.

Wenn Bessy kein Geräusch gehört hätte …Wenn sie sich in ihrem Rausch nicht eingebildet hätte, daß man sie wie ein leichtes Mädchen behandelte …

Fünf Männer und eine Frau — Greise, ein Neger, ein Indianer mit einem Holzbein — waren unter der Aufsicht Hesekiels versammelt und bemühten sich im Namen der selbstbewußten und gut organisierten Gesellschaft, ein gerechtes Urteil zu fällen.

»Ich suche Sie schon seit einer halben Stunde. Wie lange brauchen Sie, um zu packen, Julius?«

»Ich weiß nicht. Warum?«

»Mein Kollege in Los Angeles wartet ungeduldig auf Sie. Einer der berühmtesten Gangster des Westens ist vor ein paar Stunden erschossen werden, als er ein Nachtlokal in Hollywood verließ. Mein Kollege ist überzeugt, daß Sie der Fall interessieren wird. Sie haben in einer Stunde eine direkte Flugverbindung.«

___________

Maigret sah weder Cole noch O’Rourke noch die fünf Männer der Air Force je wieder. Er erfuhr auch nie den Urteilsspruch. Er hatte nicht einmal Zeit, sich Ansichtskarten zu kaufen, auf denen blühende Kakteen in der Wüste abgebildet waren und die er seiner Frau hatte schicken wollen. Im Flugzeug schrieb er auf einen Schreibblock, den er auf seinen Knien hielt:

Meine liebe Madame Maigret,

ich mache eine ausgezeichnete Reise, und meine hiesigen Kollegen sind sehr nett zu mir. Ich glaube, die Amerikaner sind zu allen Leuten nett. Dir das Land zu schildern, ist ziemlich schwierig, aber stell Dir vor, daß ich seit zehn Tagen keine Jacke trage und daß ich einen Cowboy-Gürtel um den Bauch habe. Ich bin nur froh, daß ich mir nicht alles gefallen ließ, sonst hätte ich jetzt Reitstiefel an und einen Hut mit breiter Krempe auf wie in den Wildwestfilmen.

Tatsächlich bin ich im Wilden Westen und fliege im Augenblick über Berge, in denen man noch Indianern mit Federn auf dem Kopf begegnet.

Was mir unwirklich zu erscheinen beginnt, ist unsere Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir und das kleine Café an der Ecke, wo es nach Calvados duflet.

In zwei Stunden werde ich im Land der Filmstars landen und

Als er erwachte, war der Block von seinen Knien geglitten; eine Stewardeß, so hübsch wie auf dem Titelblatt einer Illustrierten, schnallte höflich den Sicherheitsgürtel um seinen Bauch.

»Los Angeles!« kündigte sie an.

Schräg unten, denn das Flugzeug zog eben eine Schleife, erblickte er eine riesige Fläche mit weißen Häusern zwischen grünen Hügeln am Ufer des Meeres.

Was sollte er eigentlich dort?

30 Juli 1949

1Deutsch von Ingrid Altrichter (1981)