Frauenbataillon

Heinz G. Konsalik

1981

Inhaltsverzeichnis

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Die Hauptpersonen:

Stella Antonowna Salnikowa Weberin Marianka Stepanowna Dudowskaja Bäckerin Schanna Iwanowna Babajewa Schafhirtin Lida Iljanowna Selenko Studentin der Zahnmedizin Darja Allanowna Klujewa Studentin der Architektur Soja Valentinowna Bajda Kapitän, Kommandant der Einheit Galina Ruslanowna Opalinskaja Ärztin der Einheit Victor Iwanowitsch Ugarow Leutnant Foma Igorewitsch Miranski pol. Kommissar Bairam Wadimowitsch Sibirzew Sergeant, Scharfschütze Iwan Rasulowitsch Kitajew General der Roten Armee Olga Petrowna Rabutina Oberst, Kommandant der Spezialschule Dr. Wiljam Matwejewitsch Semaschko Arzt in Nowo Kalga Peter Hesslich (Pjotr Herrmannowitsch Salnikow)Oberfeldwebel Uwe Dallmann Unteroffizier Lorenz v. Stattstetten Fähnrich Richard Molle (MM) Major einer Spezialeinheit Franz Bauer III Leutnant, 4. Kompanie Fritz Plötzerenke Stabsgefreiter Helge Ursbach Unterarzt u.a.

Der Roman spielt in Nowo Kalga, Charkow und von November 1942 bis August 1943 an der Südfront zwischen Orel — Charkow — Rostow.

Geliebter, komm an meine Seite!

Daß unsere Liebe fortbesteh,

heißt es für uns im heilgen Streite

nur — siegen oder untergehn!

Mög uns die Zärtlichkeit nie schwächen!

Der Kampf den ganzen Menschen braucht,

damit der Todfeind uns nicht schrecke

und niemals unser Zorn verraucht.

Andrej Upits

(aus dem Gedicht »Die Kommunardin«)

1

Er hatte ihn nicht kommen sehen, auch gehört hatte er ihn nicht. Leise, hinterhältig und heimtückisch, als steckten seine Tatzen in mit Gänsedaunen gefüllten Säcken, war das verfluchte Biest an ihn herangeschlichen. Erst als es sich hoch aufrichtete, den dicken, runden Kopf in den Nacken legte, ein dumpfes, grollendes Gebrüll ausstieß und der heiße Atem sein Genick streifte — erst da begriff er, daß er den stundenlangen Zweikampf verloren hatte.

Niemand hätte behaupten können, daß Pjotr Herrmannowitsch Salnikow jemals ein furchtsamer Mensch gewesen wäre. Als er im Jahre 1946 mit seiner jungen Frau Stella Antonowna in Nowo Kalga auftauchte, ein fröhlicher Bursche, der in die Hände spuckte und sagte: »Jetzt fängt das Leben erst richtig an!«, als er begann, ein Haus zu bauen und daranging, ein Stück Taiga zu roden, um selbst für sein täglich Brot sorgen zu können, da wußte man gleich in der kleinen Siedlung: Das ist ein Kerl, der nicht an unseren Wintern zerbricht, wie manche Bäume, die der Frost mit lautem Krachen auseinandersprengt.

Und so war es auch. Pjotr Herrmannowitsch, damals ein achtundzwanzigjähriger Mann mit wachen blauen Augen, kräftigen Muskeln und fröhlichem Gemüt, baute sich einen schönen Hof am Rande von Nowo Kalga, verdingte sich als staatlicher Jäger, durchstreifte die Taiga, schoß Schneehasen und Nerze, Zobel und Füchse, Wölfe und Bären und legte eine Biberzucht an und wurde sogar in den Kreissowjet gewählt. Dort gelang es ihm, dank seiner Beredsamkeit, für Nowo Kalga immer wieder Sonderzuteilungen an Textilien, Schuhen und Elektrogeräten herauszuholen, und an Staatsfeiertagen — zum Beispiel an Lenins Geburtstag oder am Tag der Oktoberrevolution — zeichnete er für Umzüge und Paraden der Werktätigen und Bauern und die Ausschmückung des Parteihauses verantwortlich.

Ein schönes, fleißiges Paar waren sie, Pjotr und Stella Antonowna. Das Frauchen begnügte sich beileibe nicht damit, den Garten zu bestellen, die erjagten Felle anzugerben und zwei Kinder — einen Jungen und ein Mädchen — zu gebären. Sie baute im Haus einen Raum aus und begann mit der Weberei. Zunächst arbeitete sie nur für die Nachbarn in Nowo Kalga, später dann lieferte sie sogar bis nach Sjuddjukar, dem nächsten größeren Ort am Flusse Wiljui, wo die einheimischen Jakuten die ihnen fremden altrussischen Muster bestaunten. Das Geschäft ging so gut, daß Stella Antonowna noch fünf Frauen einstellte, aus Jakutsk drei Webstühle kommen ließ und eine Art Fabrikation aufmachte. Das war schon ein riskantes Unterfangen. Allein der Transport der Webstühle von Jakutsk nach Nowo Kalga war ein Abenteuer für sich; schließlich kann man nicht einfach mit einem Lastwagen hinfahren und die Bestellung abliefern wie in Moskau oder Leningrad. Nowo Kalga liegt nördlich des Wiljui im fruchtbaren, waldreichen, oft sumpfigen Gebiet des ungebändigten Flusses Yayetta. Im Osten, Westen und Norden beginnt die große Einsamkeit, der unendliche Wald, der von der flachen Tundra und den Urfelsen des Wiljuisskij-Gebirges begrenzt wird. Wenn man die Leute von Nowo Kalga darauf anspricht, warum hier noch Menschen leben, erhält man erstaunliche Antworten. Begonnen hatte die Besiedlung bereits 1825, als in St. Petersburg der Dekabristen-Aufstand niedergeschlagen wurde und Zar Nikolaus I. nicht nur die Anführer der Revolte entweder hängen ließ oder nach Sibirien verbannte, sondern auch viele einfache Leute, vor allem Mittelständler, die der Revolte wohlwollend zugesehen hatten, in die Wildnis schickte. Die Geheimpolizei des Zaren räumte gründlich auf, und so kam auch Pantelej Maximowitsch Rubalki in das Gebiet von Yayetta, gründete eine Siedlung und nannte sie nach seinem Heimatort Kalga am Peipus-See Nowo Kalga. Mit Rubalki zogen noch sechs andere Familien in die grenzenlose Weite am Wiljui, freundeten sich mit den Jakuten an und erlebten eine absolute Freiheit, so als seien sie die einzigen Menschen auf dieser Erde.

Heute nun zählt Nowo Kalga genau 1.014 Köpfe, besitzt ein Sägewerk, die Weberei von Stella Antonowna, ein staatliches Magazin, eine Kolchose mit Namen »Fortschritt«, eine kleine Holzkirche, ein Parteihaus, eine geologische Forschungsstelle, zwei Schulen, ein Kulturhaus mit Theatersaal und ein kleines Krankenhaus unter der Leitung von Dr. Wiljam Matwejewitsch Semaschko.

Es war eine Pracht, diesem Ehepaar Salnikow zuzusehen, seinen Fleiß zu bewundern, zu bestaunen, wie Pjotr sein Feld ausrodete, wie er sich auf die Jagd verstand, wie der Garten gedieh und das Haus immer größer wurde. Und wie Pjotr von Jahr zu Jahr stärker wurde, stark wie eine Taigakiefer, deren Holz von Winter zu Winter härter wird, bis schließlich der Stahl der Axt wirkungslos an ihr abprallt.

Kein Schwächling, dieser Pjotr, o nein! Auch jetzt nicht, mit seinen vierundfünfzig Jahren! Haar und Bart waren etwas grau geworden, und Falten hatten sich in sein von Sonne, Wind und Frost gegerbtes Gesicht eingegraben; Schicksalskerben waren das, Narben eines harten Lebens, aber noch immer wirkte er so unbeugsam wie die Taiga selbst.

Nun stand er da, starr, bewegungslos, mit herabhängenden Armen und leeren Händen, und wußte genau, daß weder sein Mut noch ein Gebet ihn würden retten können.

Sechs Meter vor ihm qualmte das noch niedrige Lagerfeuer. An einem Gestell aus Weidengerten hingen der kleine Teekessel und ein Topf mit Kohlsuppe. Daneben lag auf einer Zeitung ein Stück Rentierfleisch und wartete darauf, an eine Weidengerte gespießt und im Feuer gebraten zu werden. Und gleich daneben im moosigen Gras sah er sein gutes, kurzläufiges Gewehr, eine Moisin-Nagant M-54 mit Zielfernrohr und vierfacher Vergrößerung, seinen alten, lieben Kameraden, der ihn bisher nie im Stich gelassen hatte. Mit geschlossenen Augen konnte er es auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Er hatte sich mit ihm so gut eingeschossen, daß er sein Ziel nur mit dem Blick anzuvisieren brauchte. Er traf immer. Mann und Gewehr bildeten eine Einheit.

Aber nun lagen sechs Meter zwischen ihm und der Moisin-Nagant, und das war weiter als der Weg zu den Sternen. Es waren nicht allein die drei großen Sprünge, derer es bedurfte, um das Gewehr zu erreichen, nein, es mußte ihm auch noch die Zeit bleiben, sich zu bücken, die Waffe hochzureißen, zu entsichern und genau ins Auge zu zielen. Der erste Treffer mußte tödlich sein. Er zweifelte nicht daran, daß ihm das gelingen würde … aber er kam an das Gewehr nicht heran. Die sechs Meter waren wie sechs Ewigkeiten.

Was ein Mensch in zwei Sekunden alles denken kann!

Pjotr Herrmannowitsch warf sich herum, stieß gleichzeitig die Fäuste vor und duckte sich.

War das ein Bär!

Es war der größte, breiteste, dickpelzigste, stärkste und schönste Bär seines Lebens. Atemberaubend … wie aus einer anderen Welt, ein Untier, wie aus Urzeiten überkommen. Sein Fell war dunkelbraun, fast schwarz, und mit vielen weißen Grannen durchsetzt. Die Brust wölbte sich vor wie eine Kesselpauke, der mächtige kugelrunde Kopf wurde nur von der spitz zulaufenden Schnauze und der feuchten Nasenkugel unterbrochen, über der wie schwarze, polierte Glasknöpfe die kalten und reglosen Augen im Pelz saßen. Der Bär hatte die Vorderpranken weit ausgebreitet, stand hoch aufgerichtet da und verwehrte Pjotr Herrmannowitsch Salnikow den Blick zum Himmel. Ergreifend schön war er, so gewaltig in seiner Kraft, so unbesiegbar in diesem Augenblick, daß Pjotr laut einatmete und dann die Luft anhielt.

Er hatte gewußt, daß es sich um ein besonders schönes Exemplar handeln mußte. Am frühen Morgen hatte er ihn aufgestöbert, unten am steinigen Wildbach … Der Bär hatte im Wasser gesessen und auf Fische gewartet, die durch die Stromschnellen springen würden. Mein Gott, hatte Pjotr gedacht und sich hinter einen Baum gestellt, das ist ein Tier! Niemand hat gewußt, daß solch ein Bär in diesen Wäldern lebt, auch ich bin ihm nie begegnet in all den Jahren. Und alt muß er sein — und ein Einzelgänger, ein Sonderling, denn was sich hier mit den Bärinnen so herumtreibt, das kenne ich. Oder ist er ein Tyrann? Einer der gewaltigen Herrscher, die sich nicht um Familie und Sippe kümmern, die, wenn sie sich paaren wollen, jeden anderen Bären in die Flucht treiben und die Weibchen nehmen, so wie früher die feinen Herrchen, die sich an den Mädchen der Leibeigenen vergnügten. Ja, so einer mußte das sein! Und als der Bär aus dem Fluß trottete, hatte Pjotr ihn versäumt zu schießen, hatte ihn nur voller Bewunderung angestarrt und sich an seiner Schönheit erfreut.

Das war ein Fehler, der nie wieder gutzumachen war und der Pjotr jetzt das Leben kosten würde. Kaum hatte der Bär den Fluß verlassen, nahm er die Witterung des Menschen auf, äugte zu Pjotr hinüber, warf sich herum und rannte in den Wald hinein. Der Zweikampf Mensch gegen Tier begann.

Pjotr folgte dem Bären, schlich ihn gegen den Wind an, umkreiste ihn, rannte durch Lärchenwälder und Kieferndickichte, lag hinter hohen Beerensträuchern auf der Lauer, robbte wie im Krieg, das Gewehr in den Armbeugen, durch Sümpfe und felsige Schluchten. Aber immer, wenn er glaubte, er habe ihn im Visier, wenn er das Gewehr hochriß und den schwarzbraunen Klotz im Fadenkreuz hatte, war der Bär schneller, warf sich zur Seite, verschwand zwischen den Steinen, tauchte unter im verfilzten Urwald.

Vor dreißig Jahren war es nicht anders gewesen. Auch damals war es darauf angekommen, selbst unsichtbar zu sein, dabei den Gegner im Fadenkreuz zu behalten und mit angehaltenem Atem abzudrücken. Und noch bevor er den Rückschlag des Gewehres abgefangen hatte, hatte er stets gewußt: Ich habe getroffen. Ein Strich im Abschußbuch. Jedesmal hatte es ihn innerliche Überwindung gekostet, einen solchen Strich einzutragen, auch wenn er sich stets sagte: Es ist Krieg! Der Gegner da drüben handelt nicht anders, und heute warst du eben schneller und listiger als er. Morgen kann er der Bessere sein, und dann liegst du selbst mit einem sauberen runden Loch in der Stirn auf dem granatenzerrissenen Boden. Der fade Geschmack, den er empfand, wenn er seinen Strich machte, blieb: Das war ein Mensen.

Hier war es ein Bär. Und dieser Bär war ein verdammt kluger Bursche. Neun Stunden dauerte der Zweikampf, neun Stunden umschlichen sie einander, belauerten sich, spielten Verstecken, bis Pjotr resignierte und den Kampf aufgab. Das hier ist deine Heimat, dachte er. Hier kennst du dich aus. Aber auch ich kenne dich jetzt, mein Bärlein! Auf die Dauer entkommst du mir nicht. Morgen bin ich wieder hier, und übermorgen, und in der nächsten Woche, und, wenn es sein muß, auch den ganzen nächsten Monat über. Ich werde so lange hier sein, bis ich dich besiegt habe. Es ist nicht wegen deines Felles, schöner Bär, nein, jetzt geht es an die Ehre, verstehst du? Noch keiner, den Pjotr Herrmannowitsch im Visier hatte, ist entkommen.

Aber das stimmte nicht. Es hatte sehr wohl einen Augenblick gegeben, da er seinen Gegner ganz klar und deutlich im Zielfernrohr gesehen hatte, da der Mittelpunkt der Schnittlinien des Fadenkreuzes genau auf der Stirn lag und er nur den Finger ein wenig hätte krümmen müssen, um das Abschußbuch um einen neuen Strich bereichern zu können. Aber er hatte nicht abgedrückt. Es war ihm, als sei ein Stein auf sein Herz gefallen — und er hatte das Gewehr gesenkt.

Damit hatte alles begonnen, was nun, dreißig Jahre später, zu Ende gehen würde. Damals, am 1. Juli 1943, südlich von Belgorod am nördlichen Donez. Er hatte gezögert. Und mit diesem Zögern hatte er sein altes Leben hingeworfen und ein neues Leben gewonnen.

Mit diesen Erinnerungen beschäftigte sich Pjotr, als er das Feuer entfachte, in die Flammen blies, den Teekessel und den Suppentopf aufhängte, die Weidengerte für das Fleisch schärfte und die Vorbereitungen für ein kräftiges Essen traf. Es war ein schöner Nachmittag im Frühsommer, und die Taiga leuchtete blau in der Sonne. Die Lärchennadeln schimmerten in sattem Blaugrün, als sei der Himmel in sie übergelaufen, die Erde duftete herb, Vogelscharen lärmten und flatterten in den Wipfeln, und in der Senke rauschte das Wasser des Wildbaches über die glattgeschliffenen Steine.

Die Natur singt, hatte Stella einmal gesagt. Da lagen sie im Wald und liebten sich zwischen Farnen, Beerensträuchern und Kiefernsprößlingen. Vor zwanzig Jahren war das gewesen. Das erste Kind war längst geboren, sie besaßen ein schönes Haus, einen riesigen gemauerten Ofen und ein breites Holzbett, aber wenn sie gemeinsam in der Taiga jagen gingen, überfiel es sie oft wie ein Rausch, und dann liebten sie sich unter dem weiten Himmel oder unter turmhohen Bäumen und waren glücklich wie nie zuvor. So zeugten sie auch Nani, ihr zweites Kind, ein Mädchen … an einem Wildbach wie diesem, elf Werst weiter im Süden. Der Morgen war so warm, daß hinter ihnen der Wald zu dampfen schien und Dunstnebel über sie hinwegzogen, als Stella in seine nackte Schulter biß und ihn empfing.

Pjotr erinnerte sich noch genau daran. Er entfernte sich von dem Feuerchen, ließ sein Gewehr im Gras liegen und ging ein paar Schritt weiter zu den niedrigen Walderdbeersträuchern, an denen er die ersten roten Beeren erspäht hatte. Es war durchaus nicht seine Art, diese von der Natur angebotene Vorspeise abzulehnen. Er bückte sich, pflückte eine Handvoll, probierte sie, fand die Beeren noch sehr sauer und hart, dachte bei alledem immerzu an Stella — und vergaß darüber den Bären.

Der Bär indes vergaß Pjotr nicht. Es gehört zu den Listen der Bären, vor dem Feind davonzulaufen, sich zu verstecken und dann in einem weiten Bogen wieder zurückzukehren, um endlich aus dem Hinterhalt hervorzubrechen. Pjotr dachte an diese alte Weisheit erst, als hinter ihm das dumpfe Brüllen ertönte, worauf er die gesammelten Beeren fallen ließ und sich herumwarf.

Nun sahen sie sich an. Der Bär überragte Pjotr um zwei Haupteslängen, seine Schultern waren doppelt so breit wie die seines Gegners, seine Beine glichen zwei überwucherten, dicken Baumstümpfen, und die schwarzen, gebogenen Krallen an seinen hochgestreckten Tatzen waren so lang wie die Steigeisen, mit denen die Elektriker an den Strommasten emporkletterten. Noch einmal brüllte der Bär. Sein Atem roch faulig, nach Verwesung, und der Wind wehte ihn Pjotr voll ins Gesicht. Die kleinen, kalten Augen des Tieres musterten den Menschen starr und gnadenlos.

Nicht rühren, dachte Pjotr. Bloß nicht weglaufen. Was immer du tust, in so einer Lage ist er immer schneller als du! Rede mit ihm, sprich ihn an, plaudere mit ihm wie mit einem guten Freund … er hat noch nie eine menschliche Stimme gehört, vielleicht verblüfft sie ihn. Mit meiner Stimme habe ich doch schon viel erreicht … wütende Hunde habe ich mit ihr beruhigt, einen ausgebrochenen Eber habe ich herbeigelockt, ja sogar einem Wolf habe ich gut zugeredet, worauf der so erstaunt war, daß ich schnell das Gewehr hochreißen und ihn erschießen konnte. Und heute? Nur sechs Meter sind es bis zum Gewehr, und dann noch drei Sekunden bis zum Schuß …

Pjotr, rede mit ihm …

»Das war sehr klug von dir, mein Bärchen«, sagte Salnikow mit belegter, heiserer Stimme. Ich habe ja Angst, durchfuhr es ihn. Wirklich, es ist die Angst, die meine Stimme zusammenpreßt. Die nackte Angst des Hilflosen. Reiß dich zusammen, Pjotr Herrmannowitsch! Diesem Gegner entgeht deine Angst nicht.

»Sehr klug«, sagte er noch einmal. »Kommst einfach von hinten angeschlichen und da stehst du nun. Ich weiß genau, was du tun wirst, wenn ich mich rühre. Ich sehe deine Krallen. Sie reißen mich von oben bis unten auf, als ob ich eine Puppe aus buntem Seidenpapier wäre. Das sind fünf Stahlhaken, die mich zerhacken. Ich gebe ehrlich zu, mein schöner Bär: Du hast gewonnen! Aber nun sollten wir eine Abmachung treffen, was meinst du? Du läßt mich jetzt Schritt für Schritt zurückgehen, und dafür verspreche ich dir, dich heute nicht zu töten. Ist das ein Wort, Bärchen?«

Pjotr starrte dem Bären in die kalten Augen. Sie sahen ihn reglos an, wirkten tatsächlich wie zwei aufgenähte Glasknöpfe. Dann atmete der Bär ein, seine Brust weitete sich noch einmal um ein Drittel aus, staunend hörte Pjotr, wie das Riesentier einen fast menschlichen Seufzer von sich gab, und dann beugte sich der Bärenkörper vor, und zwei Bärentatzen stützten sich auf Pjotrs Schultern.

Salnikows Knie wurden weich, seine Beine zitterten, das Gewicht drückte ihn nieder, von beiden Schultern lief Blut über Brust und Rücken, und erst dann spürte er den Schmerz, hörte das furchtbare Knirschen der Krallen an seinen Schulterblättern und stieß einen so schrecklichen Schrei aus, wie er ihn aus dem Mund eines Menschen selbst noch nie gehört hatte.

Der Bär stutzte erschrocken. Seine Tatzen lösten sich von seinem Opfer, er wich zurück, blickte Pjotr mit schiefgeneigtem Kopf nachdenklich an und hob schnüffelnd die Nase.

Salnikow brach in die Knie. Sein ganzer Körper zitterte, seine Nerven versagten. Er wollte nicht weinen, aber die Tränen brachen ungestüm aus seinen Augen hervor und flossen über das zuckende Gesicht. Die schwarzbraune, bepelzte Gestalt vor ihm schien unermeßlich in den Himmel zu wachsen, ergriff Besitz von Wald und Wolken, verlor alle Konturen und vermischte sich mit den Strahlen der Sonne … Pjotr fiel nach vorn ins Gras, biß in den warmen, weichen Boden und schluchzte.

Der Bär ließ sich auf seine Vorderbeine fallen, trottete zu ihm hin, stieß ihn mit der Nase viermal an, leckte ihm über den Nacken und entfernte sich dann mit tiefem, grollendem Brummen.

Pjotr hob den Kopf, spuckte ein Grasbüschel aus und sank dann wieder zurück.

»Ein gottverdammtes Luder bist du, du Bär …«, fluchte er mit röchelndem Atem. »Du tötest mich nicht … du läßt mich krepieren!«

Er streckte sich aus und wartete auf den Tod. Verbluten soll ein sanfter Tod sein, dachte er. Das Leben rinnt aus einem fort, man wird müde, und die große ewige Dunkelheit überkommt einen wie ein ersehnter Schlaf. Du wirst es sehen, Pjotr Herrmannowitsch — es wird nicht lange dauern.

Dann dachte er an Stella Antonowna, seine Frau, und bat sie um Verzeihung für ein dreißigjähriges, gemeinsames, schweres Leben, dessen schöne Stunden so rar gewesen waren wie Rosinen in einem Topfkuchen.

Als ihm die Lider schwer wurden, lächelte Pjotr traurig. Nichts schmerzte mehr, in seinem Rücken spürte er nurmehr ein leichtes Brennen. Die Schwerelosigkeit begann.

Verwundert stellte er fest, wie schön das Sterben war.

___________

In der Nacht fanden sie ihn, und er lebte noch.

Bis zur Dunkelheit hatte Stella Antonowna gewartet, dann war sie unruhig geworden, lief zum Fenster, blickte hinaus in die Taiga, trat ein paarmal vor die Tür und stellte sich an den Flechtzaun, als könne sie damit Pjotr aus dem Wald locken. Je tiefer die Dunkelheit sich über das Land senkte, desto mehr festigte sich ihre Befürchtung, daß draußen in der Wildnis etwas Entsetzliches geschehen sein mußte.

Es war eine jener schwarzen Neumondnächte, die die Taiga undurchdringlich erscheinen lassen. Stella Antonowna band sich ihr Kopftuch um und rannte zu Fedja Alexandrowitsch Stupka, dem Bürgermeister von Nowo Kalga und Vorsitzenden der Ortspartei.

Stupka war ein dicker, gemütlicher Mensch. Er lebte nach einer ganz bestimmten, sinnvollen Philosophie, die sich auf die simple Tatsache gründete: Hier ist Nowo Kalga, und Moskau ist weit weg! Zwar hören wir Moskau, aber Moskau sieht uns nicht. So war Nowo Kalga ein ruhiger Ort geworden, der seine Sollzahlen erfüllte und in dem sich die Kontrolleure aus der Kreisstadt mit selbstgebrannten Beerenschnäpsen blind soffen. Ohnehin am Rande der zivilisierten Welt gelegen, blieb Nowo Kalga somit von allen Erschütterungen der großen Politik verschont.

Fedja Alexandrowitsch saß vor seinem Radio und hörte aus Jakutsk ein Opernkonzert. Ein Chor sang gerade »Steuermann, laß die Wacht …« aus Wagners »Fliegendem Holländer«, als Stella an die Tür klopfte, sie im gleichen Augenblick aufriß, ins Zimmer stürzte und schrie:

»Pjotr ist im Wald geblieben! Fedja … er ist nicht zurückgekommen … und jetzt ist es stockfinster … Fedja, etwas Schreckliches ist geschehen, ich fühle es! Ich spüre es in meiner Seele! Es jagt durch meine Adern mit jedem Schlag meines Herzens … Noch nie ist er nachts allein im Wald geblieben, nie … Ihr müßt ihn suchen, alle müßt ihr ihn suchen …«

Sie lehnte sich an die Wand, faltete die Hände und suchte mit dem Blick die schöne Ecke, in der gemeinhin vor einer Heiligenfigur das Ewige Licht brennt. Bei Stupka gab es sie nicht mehr, als Parteivorsitzender von Nowo Kalga konnte er sich so etwas nicht mehr leisten. Statt Christus hing nun Lenin in der schönen Ecke. Seine Augen vermochten Stella nicht zu trösten.

Gerade begann der Seemannschor mit dem stampfenden Tanz, es war Stupkas Lieblingsstelle. Aber er schaltete das Radio aus, rieb sich die dicke, rote Knollennase und sah Stella betroffen an.

»Wieso ist Pjotr nicht da?« fragte er.

»Weil er im Wald ist, du Eisentopf!« schrie Stella. »Er ist im Wald verschollen.«

»So kann man das nicht nennen, solange nicht einwandfrei geklärt ist, daß Pjotr wirklich spurlos verschwunden ist. Und warum sollte er verschwinden? Wohin denn?«

»Man … man kann ihn getötet haben«, stammelte Stella und rang die Hände.

»Wer? Er hatte nur Freunde!«

»Jakutische Nomaden, die ihn nicht kennen …«

»Ausgeschlossen. In jedem jakutischen Aul kennt man Pjotr Herrmannowitsch. Und wer neu in das Gebiet kommt, dem wird sofort von Pjotr erzählt. Und wenn man ihn wirklich getötet hat, dann ist er nicht verschollen, sondern liegt irgendwo im Wald herum.«

Stella schloß die Augen und drückte den Kopf gegen die Wand. Ihr Körper zitterte von den Zehenspitzen bis zu den Zipfeln des Kopftuchs. Stupkas perfide Art, alle Dinge mit entwaffnender Gelassenheit zu betrachten, ließ sie fast verzweifeln. »Sucht ihn …«, sagte sie leise. »Bitte, sucht ihn … Ich weiß ungefähr, wo er sein könnte. Er hat mir gesagt, in welchem Gebiet er jagen will … Wir können ihn nicht verfehlen … wir … wir werden ihn finden …«

Ihre Stimme brach. Sie zog das Kopftuch tief über ihr Gesicht und schluchzte. Stupka starrte sie eine Weile schweigend an, nagte an seiner dicken Unterlippe und sah dabei wie ein dicker, glotziger Fisch aus. Dann zog er seine Jacke an und kratzte sich wieder an der Nase.

»Na, na«, sagte er begütigend. »Noch liegt er nicht im Kasten. Wird draußen an einem Feuer hocken, gesund wie ein Stier, und irgend etwas Besonderes vorhaben.«

»Er ist nie über Nacht weggeblieben, ohne es vorher gesagt zu haben«, weinte Stella. »Warum soll er am Feuer hocken?«

»Weiß ich es? Vielleicht hat er ein seltenes Tier entdeckt?«

»In der Nacht? Wer jagt denn mitten in der Nacht?!«

»Da ist was dran!« Stupka schnaufte laut. »Beruhige dich, Stellanka. Wir suchen ihn. Und wenn wir ihn quietschlebendig finden, gibt es ein Fest! Und das wird teuer werden, das sage ich dir!«

Eine Stunde später war alles auf den Beinen, was in Nowo Kalga laufen konnte. Nur die Kinder und die ganz Alten blieben zu Hause. Stupka arbeitete wie gewohnt sehr gründlich. Er ließ nicht nur die Feuersirene gellen, sondern auch die Kirchenglocken läuten. Der Feuerwehrwagen rückte aus, und auf sieben Lastwagen fuhr man hinaus in die Taiga, mit Fackeln, Karbidlampen, Batteriescheinwerfern, Taschenlampen und Baustellenlaternen mit Petroleumdochten.

Ein wahres Feuerwerk war es, was da durch den Wald zog, und immer wieder schallten Sprechchöre durch die Nacht — »Pjotr! Pjotr Herrmannowitsch!« Wenn Salnikow nicht plötzlich blind und taub geworden war, mußte er dieses Getöse weit hören und darauf antworten.

Aber Pjotr Herrmannowitsch Salnikow meldete sich nicht. Stella, die mit Stupka und Dr. Semaschko an der Spitze der Kolonnen durch den Wald lief, warf jedesmal verzweifelt die Arme hoch, wenn nach einem Ruf erwartungsvolle Stille herrschte und die erhoffte Antwort ausblieb. Nur aufgescheuchtes Wild floh vor der Feuerreihe und brach in wilder Panik durch das Unterholz.

Aber dann fanden sie ihn doch. Er war noch bis zu dem kleinen Feuer gekrochen, hatte seine Leinenjacke über die aufgerissenen Schultern gezogen und lag nun, das Gesicht nach links gewandt, auf dem Bauch. Er war besinnungslos und atmete ganz schwach. Seine Lippen zitterten, sie waren im Licht der Fackeln und Handscheinwerfer farblos, fast grau.

Starr hockte sich Stella neben Pjotr und legte beide Hände auf seinen Kopf. Dr. Semaschko hob die Leinenjacke hoch, ein entsetztes Raunen entfuhr den Mündern der Umstehenden, und irgend jemand sagte mit heiserer Stimme: »Brüder, laßt uns beten …« Stupka kniete neben Stella nieder.

»Er lebt noch — «, sagte Dr. Semaschko gepreßt. »Das ist ein wahrhaftiges Wunder. Und ein zweites wäre es, wenn er am Leben bliebe …«

Schon auf der Rückfahrt im Feuerwehrwagen bekam Salnikow eine Kochsalzinfusion. Stella umklammerte seinen Kopf, Semaschko paßte auf, daß die Infusionsnadel nicht bei dem Rütteln und Schütteln des Wagens aus der Vene rutschte, und Stupka beschimpfte vom Beifahrersitz aus den Feuerwehrmann am Steuer als Idioten, obwohl er genau wußte, daß es unmöglich war, diese Waldwege erschütterungsfrei zu passieren.

»Wird er am Leben bleiben?« fragte Stella, kurz nachdem sie die ausgebaute Straße nach Nowo Kalga erreicht hatten. »Sag mir die Wahrheit, Wiljam Matwejewitsch. Die volle Wahrheit. Kann man mit solchen Wunden überleben?«

»Die Wunden sind nicht das Problem.« Dr. Semaschko wechselte die Infusionsflasche. Er kontrollierte Herzschlag und Puls, beugte sich über Pjotrs Kopf und sah ihn lange an. Noch ein Wunder, mein Freund, dachte er, laß ein weiteres Wunder geschehen. Überlebe! Du hast ein starkes Herz, warst immer ein Kerl wie ein Baum. Nimm die Infusionen an, laß deine blutleere Pumpe wieder schlagen. Ich kann nichts anderes tun, als ständig neue Flüssigkeit in dich hineinträufeln.

»Der Blutverlust …«, sagte Stella Antonowna mit zusammenpreßten Lippen.

»Ja.«

»Aber er lebt doch noch.«

»Ebendies ist mir unbegreiflich. Er hat kein Blut mehr in den Adern und atmet trotzdem … Medizinisch kann ich das nicht erklären. Aber all meine Hoffnung klammert sich daran.«

»Wird Pjotr weiterleben?«

»Nur Gott kann das entscheiden.«

»Ich glaube nicht an Gott, Wiljam Matwejewitsch.« Sie starrte ihn mit weiten Augen an. In ihrem Blick lagen Betroffenheit, Staunen, Nichtbegreifen. »Was? Du glaubst an ihn?«

»Ein Arzt sieht Gott oft neben sich. Aber ich kann dir das nicht erklären. Du würdest es nie begreifen.«

»Vielleicht doch.« Sie streichelte Pjotrs Kopf und küßte ihn auf die geschlossenen Augen. »Jetzt eher als je zuvor. Ich möchte mit dir öfter darüber sprechen, Wiljam Matwejewitsch.«

Sie sah ihn an und lächelte schwach. Er ist ein alter Mann. Seine weißen Haare stehen ab wie Besenborsten. Er soll schon über siebzig sein; bei der Oktoberrevolution war er schon Student. Und später kämpfte er als Unterleutnant bei den Weißen, bei Denikin, in einem Kosakenregiment am Don und in Rostow. Die Roten nahmen ihn gefangen und verurteilten ihn zum Tode. Aber vorher operierte er noch den General Chamkassky an einem Leistenbruch. In Wiljams Papieren hatte man nämlich einen Bericht gefunden, demzufolge er der beste Chirurg seines Lehrgangs war. Die Operation verlief hervorragend, Chamkassky begnadigte Semaschko und ließ ihn nicht aufhängen, sondern nach Sibirien bringen, wo man ihn in Jakutsk praktisch aussetzte. Irgendwie war er dann nach Nowo Kalga gekommen und hatte entdeckt, daß hier der Mensch noch frei war unter dem weiten Himmel. Seitdem gehörte er zu der Gemeinde wie die Erde, auf der sie errichtet war. Er wurde älter, gewiß, aber in Nowo Kalga galt er als unsterblich. Es war unvorstellbar, seine wehenden weißen Haare eines Tages nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu hören, wie er seinen Patienten befahl: »Hose runter, auch wenn du dich nicht gewaschen hast. Die Spritze tut dir nichts, du bist gegen Dreck immun!«

Er glaubt an Gott, dachte Stella versonnen und streichelte weiter Pjotrs wachsbleichen, blutleeren Kopf. Sieh an, das hat er sich aus der vergangenen Zeit herübergerettet. Wer hätte das gedacht? In die Kirche ist er nie gegangen, das hätte sich herumgesprochen. Er muß eine andere Vorstellung von Gott haben als der Pope. Ich will mit ihm darüber sprechen … wenn Pjotr wieder gesund geworden ist …

Im kleinen Krankenhaus von Nowo Kalga tat Dr. Semaschko, was er konnte. Er injizierte intrakraniell ein starkes Herzmittel, gab Frischblut in die Vene, massierte den Brustkorb und wagte es dabei nicht, Stella Antonowna anzusehen. Sie stand auf der anderen Seite des Operationstisches, die Hände um Pjotrs Kopf gelegt und wartete darauf, daß sich sein Brustkorb zu einem richtigen Atemzug weitete.

Als das Frischblut angeschlossen war, sagte sie stockend: »Es läuft ihm ja alles am Rücken wieder heraus …«

»Das sehe ich!« Dr. Semaschko preßte die Lippen zusammen. Die dicken Unterlagen saugten sich voll Blut. Es war wie in dem alten dummen Witz, in dem ein Bauer Wasser in einen Eimer pumpt und sich darüber wundert, wieviel sein Eimer faßt und daß er nie voll wird, bis schließlich jemand kommt und sagt: »Du ungeschnitzter Holzkopf! Siehst du denn nicht, daß der Eimer keinen Boden hat!«

Sie drehten Pjotr um. Die schrecklichen Wunden lagen frei im hellen Scheinwerferlicht, das zerfetzte Fleisch hing klumpig an Haut und Sehnen. Was sollte man hier noch zusammenflicken und nähen? Es fehlten ganze Stücke. Erdbrocken und Grasbüschel, verdorrte Lärchennadeln und zerquetschte Walderdbeeren klebten im verkrusteten Blut.

»Bis auf die Knochen hat er ihn getroffen — «, sagte Wiljam Matwejewitsch erschüttert. »Es war ein Bär. Hier oben an der Schulter sieht man noch die Spuren der Krallen. Rätselhaft. Wirklich sehr rätselhaft. Wie konnte Pjotr sich von einem Bären überraschen lassen?«

Er holte den gröbsten Schmutz mit Pinzetten aus den Wunden und versuchte dann, die heftigsten Blutungen durch Klammern zu stillen. Plötzlich fuhr ein leichtes Zittern durch Salnikows Körper, die Muskeln erschlafften vollends, und sein Atem setzte aus.

Dr. Semaschko legte die Pinzette hin, drehte den kleinen Hahn der Bluttransfusion zu und stützte sich schwer auf den OP-Tisch. Ihm gegenüber hob Stella Antonowna den Kopf und sah ihn stumm aus leeren Augen an.

»Ja …«, sagte Wiljam Matwejewitsch leise. »Ja. Zwei Wunder hintereinander gibt es nicht. So ist das nun, Stella Antonowna. Man muß es hinnehmen … wir können nichts anderes tun.«

Sie nickte, beugte sich über Pjotr, drehte seinen Kopf zur Seite und küßte ihn auf die Wange. Ihre Hände beschmierten sich dabei mit Blut, sie hob sie hoch ins Licht und sah sie an.

»Ich möchte etwas von Pjotrs Blut mitnehmen«, sagte sie plötzlich.

Dr. Semaschko zuckte zusammen, als habe ihn jemand in den Unterleib getreten. Sein Mund klappte auf. »Was willst du?« stotterte er fassungslos.

»Blut von ihm mitnehmen … du hörst es doch.«

»Sein Blut?« Er schluckte krampfhaft. »Wozu denn?«

»Ich will es haben.«

»Wieviel denn?«

Sie senkte die blutverschmierten Hände und streichelte mit ihnen über Pjotrs aufgerissenen Rücken. »Eine kleine Flasche voll.«

»Es wird sofort gerinnen. Es wird klumpig …«

»Du hast doch Mittel, die es flüssig bleiben lassen.«

»Stellinka …«

»Bitte, Wiljam Matwejewitsch …«

»Es ist ja gar nicht mehr sein Blut!« Dr. Semaschko deckte ein Tuch über den zerrissenen Körper. Seine Hände zitterten, als stünde er nackt im Frost. »Es ist Infusionsblut …«

»Aber es kommt aus seinem Leib! Es ist durch ihn hindurchgeflossen, sein Herz hat es noch durch die Adern gepumpt. Damit ist es sein Blut! Ein kleines Fläschchen genügt, Wiljam Matwejewitsch.«

Noch einmal streichelte sie den zugedeckten Körper, und sie tat es mit so viel Zärtlichkeit, daß Dr. Semaschko mit den Zähnen knirschte. Dann verließ sie den Operationssaal — nicht wie eine gebrochene Witwe, sondern hocherhobenen Hauptes und kräftigen Schrittes. Es war, als habe sie eben von Pjotr Herrmannowitsch einen wichtigen Auftrag erhalten, den sie nun erfüllen mußte.

___________

Das Begräbnis artete zu einem Fest aus.

Erst jetzt erkannte man, wie beliebt Salnikow gewesen war und wie gut man ihn weit über Nowo Kalga hinaus kannte. Niemand sagte auch nur ein böses Wort über ihn. Stella hörte nur Lob und Bekundungen echter Trauer. Tränenlos nahm sie das Mitleid der anderen hin. Man umarmte sie, drückte sie an die Brust, küßte sie auf die Wangen oder die Stirn, die Frauen klagten laut, die Männer kondolierten mit kantigen Gesichtern. Hinter dem Haus hatte man ein Zelt aufgeschlagen. Zehn Nachbarinnen kochten und buken, die Holztische waren überladen mit Köstlichkeiten. Es gab sechs verschiedene Braten, gedünstete Kartoffeln, Gemüse, Pilzsalate und fettige, mit Hühnerfleisch gefüllte Piroggen. Zum Nachtisch standen Kuchen mit kandierten Multebeeren, Torten mit geschlagener Sahne und bunte Puddinge bereit. Zu trinken gab es Kwaß, Erdbeerwein, Birkenwein, Wodka und einen höllischen, von Stupka persönlich aus einer Mischung von Brombeeren, Moosbeeren und Kartoffelsprit gebrannten Schnaps.

Wie wichtig Pjotr sogar der Partei gewesen war, ging daraus hervor, daß aus der Stadt Mirny, dem Sitz der Bezirksverwaltung »Oberer Wiljui«, der Genosse Sekretär eigens mit einem rotlackierten Hubschrauber nach Nowo Kalga kam, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Er hielt auch die Totenrede und sagte:

»Er starb, wie es sich ein sibirischer Mann nur wünschen kann: draußen in der Taiga, im Kampf mit der Wildnis. Die meisten sterben im Bett, das kann jeder, das ist normal … aber im Kampf mit einem Bären ehrenvoll besiegt zu werden — ein solcher Abgang von dieser Welt ist eines Pjotr Herrmannowitsch würdig!«

Dann zogen sie alle zum geschmückten Grab. Voran wehte die rote Fahne, Stupka und der Parteisekretär aus Mirny trugen zusammen mit vier anderen Männern den offenen Sarg, die Blaskapelle von Nowo Kalga spielte den Trauermarsch. Noch nie hatte man so viele Menschen bei einem Begräbnis gesehen, die Kinder hatten schulfrei, und die Jungen Pioniere sangen, als sich der Zug dem Friedhof näherte.

Hinter dem offenen Sarg ging Stella Antonowna, untergefaßt von Dr. Semaschko. Sie brauchte keine Stütze, aber Wiljam Matwejewitsch hielt es für passend, daß bei diesem Gang ein Mann an ihrer Seite schritt.

Am Grab trat Stella Antonowna an den offenen Sarg heran, blickte Pjotr in das ernste, zerfurchte Gesicht und nickte ihm zu, so wie sie ihm fast dreißig Jahre lang zugenickt hatte, wenn er sie etwas fragte, oder wenn sie etwas, an dem ihr besonders lag, noch betonen wollte.

»Ich liebe dich …«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Wie glücklich waren wir, ein halbes Leben lang: Du und ich, eine Liebe wie die unsere wird es nie wieder geben auf dieser Welt.« Sie trat zurück, sah den verwunderten Stupka an, der diese Abschiedsworte nicht verstand, und hob die Hand. »Macht zu!« sagte sie laut. »Gebt ihm seine Ruhe …«

Sie senkten den Sarg in die Grube, warfen Erde darauf und gingen dann zurück in die Stadt zum Leichenschmaus. Nur Stella und Dr. Semaschko blieben am Grab zurück … man hielt das für ein letztes stilles Abschiednehmen und störte sie nicht. Nur Semaschko hätte es besser wissen können, aber in Wirklichkeit wußte er gar nichts.

»Warum gehen wir nicht?« flüsterte er, als die letzten Trauergäste den Friedhof verlassen hatten.

»Ich warte noch auf etwas.«

Dr. Semaschko schob die Finger ineinander und knackte mit den Gelenken. Das tat er immer, wenn er erregt war, sich keinen Rat wußte oder wenn ihm die Worte fehlten.

»Den Deckel hochheben und wieder herauskommen wird er bestimmt nicht«, knurrte er. »Worauf wartest du?«

»Auf ihn da …« Sie machte eine Kopfbewegung nach links. Vom anderen Ende des Friedhofes näherte sich im schwarzen Ornat der Pope von Nowo Kalga. Ein kleiner Junge ging ihm voraus und trug das Kreuz. Sie hatten, hinter Büschen versteckt, gewartet, bis das Parteibegräbnis vorüber und niemand mehr in der Nähe war. Dr. Semaschko fuhr sich mit beiden Händen durch seine abstehenden weißen Haare. Ungeheuerlich, dachte er. Das ist wirklich ungeheuerlich.

»Du hast ihn bestellt?!«

»Ja.« Stella faltete die Hände über der Brust und sah das Kreuz an, das langsam auf sie zuschwankte.

»Aber du glaubst doch nicht an Gott!« Dr. Semaschko hüstelte vor Erschütterung, als der Pope nun mit tiefer Stimme zu singen begann.

»Und Pjotr Herrmannowitsch war auch Atheist …«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Er hat es überall gesagt.«

»Sagen kann man viel.«

»Er war nie in der Kirche.«

»Nein, er war nie in der Kirche. Du, auch nicht. Und du glaubst an Gott.« Sie sah dem Popen zu, wie er an das Grab trat und segnend die Hände über den bereits von Erde bedeckten Sarg ausbreitete. »Weiß man, ob Pjotr nicht einen Popen wollte? Ich will nichts falsch machen. Wir haben immer gewußt, was der andere wollte. Nur ans Sterben haben wir nie gedacht. Merkwürdig, nicht wahr? Ich habe nie darüber nachgedacht, ob Pjotr vielleicht an Gott glaubte und nur meinetwegen gegen die Kirche war. Wir haben nie darüber gesprochen. Und plötzlich denke ich: Was hat er getan, als er merkte, daß er sterben würde?! An was hat er gedacht? Hat er etwas gesagt? Hat er etwas gerufen? Hat er geflucht oder gebetet? Niemand wird mir das je sagen können. Wenn er nun geschrien hat: Gott! Gott, hilf mir! Gott, laß mich weiterleben! — Das ist doch möglich, nicht wahr? Warum soll ein so starker Mann wie Pjotr nicht um Hilfe rufen, wenn das Leben aus seinem Rücken herausfließt? Und warum soll er nicht nach Gott rufen? Das wäre doch nicht Feigheit, Wiljam Matwejewitsch! Und wenn er nach Gott gerufen hat, dann wäre ich eine schlechte Frau, wenn ich ihn jetzt ohne Gott verscharren ließe … auch wenn ich nicht an diesen Gott glaube.«

Sie umklammerte den Arm von Dr. Semaschko, als der Pope mit tiefer, singender Stimme das Totengebet sprach und das Kreuz über dem Grab schwenkte.

»Ist das nicht wie im Theater?« flüsterte sie.

»Hat Stupka es vorhin mit der roten Fahne anders gemacht?«

Sie starrte ihn an. Als der Pope auch sie segnete, hob sie den Kopf statt ihn zu senken und wartete, bis sie wieder allein an der Grube standen.

»Was mach ich ohne dich, Pjotr?« sagte sie und weinte plötzlich bitterlich. Wiljam Matwejewitsch stützte sie von hinten und hielt sie fest, weil er fürchtete, sie könne sich ins Grab stürzen.

»Es gibt doch für mich nichts mehr ohne dich … Nichts mehr …«

Am Abend, als alle fraßen und soffen, tanzten und lärmten und das Zelt hinter dem Haus wackelte und schwankte, saß Stella Antonowna auf der hintersten Ecke der Ofenbank und blickte mit leeren Augen in die Weite.

Wiljam Matwejewitsch blieb in ihrer Nähe, aber er vermied es, daß sie ihn ständig vor Augen hatte. Woran denkt sie jetzt, dachte er. Gott, welch ein Leben sie gehabt hat! Mit nichts als ihrer eigenen Kraft kamen sie 1946 in Nowo Kalga an. Sie bauten das Haus, sie schufen sich ein kleines Reich, sie zeugten zwei Kinder, Gamsat, den Jungen, und Nani, das Mädchen. Mit zehn Jahren starb Gamsat an einer dummen Blutvergiftung, nachdem er sich einen rostigen Nagel in den Fuß getreten hatte. Und Nani wurde von einem wütenden Renhirsch aufgespießt, als sie ihn vor den Schlitten spannen wollte. Sie war neunzehn und wollte auf die Akademie nach Jakutsk, um Malerin zu werden. Und nun holt ein Bär Pjotr Herrmannowitsch. Welch ein Leben, Stella Antonowna!

Irgendwann in dieser Nacht, die Betrunkenen grölten im Zelt, sagte sie zu Dr. Semaschko: »Hast du das Fläschchen mit Pjotrs Blut nicht vergessen?«

»Es steht bei mir zu Hause. Glaubst du, ich schleppe es mit mir herum wie eine Wodkapulle?«

»Ist es klumpig?«

Dr. Semaschko knackte wieder mit den Fingergelenken. »Ich habe einen Zusatz hineingetan. Es ist flüssig. Genauso, wie du es haben wolltest.«

»Danke, Wiljam Matwejewitsch. Ich hole es morgen früh ab.«

Morgens um vier Uhr tanzte sie mit dem Parteisekretär aus Mirny einen Ländler, weil der Genosse, mit Wein und Wodka aufgeschwemmt, lauthals behauptete, eine Witwe in ihrem noch respektablen Alter müsse fröhlich sein, und ihr Leben dürfe sich nicht auf Blümchengießen am Grabe beschränken.

Alle klatschten und sangen mit, als Stella tanzte. Nur Wiljam Matwejewitsch beobachtete sie nachdenklich, versuchte, ihren Blick zu deuten und wunderte sich, daß außer ihm niemand merkte, wie weit entrückt sie war, obwohl sich ihre Beine im Takt bewegten und ihr Mund lachte …

___________

Am nächsten Morgen zog Stella Antonowna eine Hose und eine Jacke aus weichem Rentierleder und lange, bis zu den Knien gehende, handgenähte Stiefel an. Dann schob sie ihr ins Grau spielendes blondes Haar unter eine runde Ledermütze mit einem breiten Schirm. Auf einem Hocker neben der Tür stand prall gepackt ein Rucksack. Mit ruhigen Schritten ging sie zu einem Schrank, schloß ihn auf und nahm ein Gewehr aus der Halterung. Es war eine gut geölte und sichtbar gepflegte Waffe eines Modells, das heute kaum noch einer kennt, es sei denn, er besucht ein Museum über den Großen Vaterländischen Krieg. Dort hängen solche Gewehre in gläsernen Schaukästen, und ein Veteran erklärt der Jugend, wie die Helden damit gegen die Deutschen gekämpft und gesiegt haben.

Stella hob das Gewehr, so daß es von den durch das Fenster fallenden Strahlen der Morgensonne beleuchtet wurde, betätigte das Schloß, blickte durch das aufmontierte Zielfernrohr, griff in einen Kasten mit zu Fünferstreifen aufgezogenen Patronen und lud die Waffe. Zehn Streifen stopfte sie in einen Lederbeutel, den sie sich umgehängt hatte, verschloß den Schrank dann wieder und hängte das Gewehr am Riemen über die Schulter.

Vor dem Haus wartete eine der Weberinnen mit einem gesattelten Pferd, einer kräftigen, zehnjährigen Stute, kupferrot, mit glänzendem Fell, wachen Augen und breiten Nüstern. Stella ging um sie herum, kontrollierte die Sattelgurte, klopfte dem Tier den Hals und streichelte die weichen, geblähten Nüstern.

»Wir werden es schaffen, Almas«, sagte Stella mit entschlossener Stimme. »Wir brauchen nicht mehr die Stunden und die Tage zu zählen.«

Sie verschnürte den Rucksack hinter dem Sattel und nickte dem Mädchen, das die Zügel hielt, aufmunternd zu. Als sei sie auf einem Pferderücken aufgewachsen, schwang sie sich in den Sattel, ergriff die Zügel und ritt in leichtem Trab aus ihrem Garten hinaus auf die Straße.

Dr. Semaschko im Krankenhaus wußte schon Bescheid, als Stella an seine Tür klopfte. Die Witwe Salnikowa reitet durch die Stadt, hatte es geheißen, mit einem Gewehr auf dem Rücken. Ein Teufelsding, dieses Weib. Sitzt im Sattel wie ein Kosak. Und ledernes Zeug hat sie an. Sie will wohl in der Taiga ihren Schmerz austoben.

»Wie siehst denn du aus?« bellte Dr. Semaschko sie an, zeigte mit ausgestreckter Hand auf das alte Gewehr über ihrer Schulter und schüttelte den Kopf.

»Kümmere dich nicht darum«, sagte sie hart. »Wo ist die Flasche mit Pjotrs Blut?«

»Wo willst du hin?«

»Fragen. Immerzu Fragen! Kann man nichts mehr tun, ohne gefragt zu werden? Was kümmert’s dich, wo ich hin will?! Gib mir die Flasche.«

»Du willst zu dem Bären — «, sagte Wiljam Matwejewitsch dumpf und ahnungsvoll. »Du willst dich an ihm rächen. Ist es so?«

Sie schwieg, streckte die rechte Hand aus und schnippte mit den Fingern. Semaschko holte aus einem Kühlschrank das Fläschchen und legte es in Stellas Hand. Sie schloß die Finger um das kalte Glas. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Aber sie hatte sich schnell wieder in der Gewalt und steckte die Flasche zu der Munition in ihren Umhängebeutel.

»Du bist ein wirklicher Freund, Wiljam Matwejewitsch«, sagte sie gepreßt. Das Sprechen fiel ihr jetzt sichtlich schwer.

»Ich werde Stupka informieren«, sagte Dr. Semaschko. »Du gehst nicht allein zu dem Bären.«

»Vergiß, daß du es weißt, Wiljam …« Semaschko bemerkte ein seltsames Glühen in ihren Augen, wie er es an ihr noch nie gesehen hatte. »Oder du mußt vergessen, daß wir uns jemals gekannt haben.«

»Mit dem Bären allein! Du! Nie lasse ich das zu!« schrie Wiljam Matwejewitsch. »Genügt es nicht, daß er Pjotr umgebracht hat?! Willst du klüger sein als er? Überlistet hat ihn der Bär … er kam von hinten an ihn herangeschlichen, und Pjotr hat nichts gehört. Er ist eine Bestie! Aber du willst klüger sein …«

»Ich könnte dir viel erzählen …« Sie sah ihn lange an, erkannte in seinen Augen die brennende Sorge und lächelte traurig. Nun kennen wir uns sechsundzwanzig Jahre, dachte sie. Zuerst haben wir Väterchen zu dir gesagt, weil wir so jung waren und du schon weiße Haare hattest. Aber dann sagtest du: »Väterchen, das ist ein gutes Wort. Aber laßt mich euer Freund sein — das bedeutet hier in der Taiga mehr.« Aber eigentlich bist du immer unser Väterchen geblieben, Wiljam Matwejewitsch. Auch jetzt ist es die Sorge des Vaters, die dich bekümmert, aber ich kann dir nicht helfen. Ich muß hinaus in den Wald. Das habe ich Pjotr versprochen, während ich seinen Kopf hielt. Als er starb.

»Später«, sagte sie und rückte das Gewehr zurecht.

»Was ist später?«

»Es gibt viel zu erzählen, Wiljam Matwejewitsch.«

»Nichts wirst du mehr erzählen können, wenn dich der Bär erwischt hat!« schrie Semaschko voller Qual.

»Er wird mich nicht überlisten.« Sie schüttelte den Kopf. Die Selbstsicherheit in ihrer Stimme machte Wiljam fast wahnsinnig. Wie kann sie nur so sicher sein, schrie es in ihm. Hängt sich da ein Gewehr um und glaubt, das genüge schon! Hat sie jemals geschossen? Wer hat sie schon mal mit einem Gewehr hantieren sehen? Fast immer ist Pjotr allein zur Jagd gegangen, und wenn sie mitging, dann saß sie nur daneben und kümmerte sich um das Essen. Weiß sie überhaupt, was das ist, so ein Zielfernrohr? Wozu es aufmontiert ist? Sie wird vor Schreck umfallen, wenn sie hindurchblickt und der Bär glotzt sie an, als stünde er direkt vor ihr.

»Kannst du überhaupt schießen?« schrie er sie an. »Weißt du, wie man ein Gewehr hält?«

Sie sah ihn fast erschrocken an; so verblüfft war sie über diese Frage, dann nickte sie mehrmals und legte die Hand auf den Kolben des Gewehrs.

»Ich möchte allein sein«, sagte sie ernst. »Allein im Wald, verstehst du, Wiljam Matwejewitsch. Schick mir niemanden nach! Ich warne dich. Wer meinen Bären umbringt, ist mein Feind …«

»Verrückt bist du, Stellanka. Total verrückt! Pjotrs Tod hat dich überdreht! Du gehörst ins Bett und mit Lederriemen festgeschnallt!«

Dr. Semaschko blieb hilflos stehen, als Stella Antonowna sich umdrehte und zur Tür ging. Sie wirkte sehr kriegerisch in ihrer Lederkleidung, mit den hohen Stiefeln und dem langläufigen alten Gewehr auf dem Rücken.

»Schießt … schießt es überhaupt noch … dieses Urgroßmütterchen von einem Gewehr?« rief Wiljam Matwejewitsch verzweifelt, als Stella bereits an der Tür war. »Oder willst du dem Bären den Kopf mit dem Kolben zertrümmern? Die Hirnschale eines Bären ist eisenhart …«

»Das Großmütterchen …?« Stella drehte sich um und klemmte den linken Daumen unter den Gewehrriemen. Ihre Miene war sehr ernst, fast feierlich. »Ich werde dir von ihr erzählen, Väterchen — nach meiner Rückkehr.«

Sie riß die Tür auf und verließ schnellen Schritts das Krankenhaus. Semaschko sah vom Fenster aus, wie sie mit jugendlichem Schwung in den Sattel sprang und die Straße hinunterritt, und plötzlich durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß er sechsundzwanzig Jahre neben und mit Salnikows gelebt hatte, als Ersatzväterchen und Freund, und daß diese schöne Frau für ihn doch immer ein Rätsel geblieben war, ein Rätsel, das jetzt, nach Pjotrs Tod, unlösbarer erschien als je zuvor.

Sie ist ganz anders, durchfuhr es Wiljam Matwejewitsch. Ganz, ganz anders, als wir sie bisher gesehen haben. Natürlich kann sie schießen, natürlich weiß sie, wie man ein Gewehr hält, selbstverständlich kann sie mit einem Zielfernrohr anvisieren. Und natürlich wird sie den Bären auch treffen. Er wird sie nicht überlisten. Sie wird ihn kalt bis zur Seele, eisig wie der Januarfrost, herankommen lassen und dann den Finger krümmen. Und wenn er umfällt und im Todeskampf um sich schlägt, wird sie sagen: »Pjotr, mein Liebling, nun kannst du ruhig in die Ewigkeit ziehen …«

»Mein Gott — «, sagte Dr. Semaschko leise und faltete die Hände. »Wie blind kann man sein. Ich bin doch ein rechter Idiot …«

___________

Vier Tage und Nächte blieb Stella Antonowna im Wald allein. Sie entfernte sich kaum von der Stelle, wo Pjotr sein Feuerchen entfacht hatte, um das Fleisch zu braten. Wo der Bär ihn geschlagen hatte, war der Boden noch mit geronnenem Blut getränkt. Es hatte nur einmal geregnet in diesen Tagen, nicht genug, um das Blut aufzulösen und im Waldboden versickern zu lassen. Stella hatte sich vor diesem großen dunkelroten Fleck auf den Boden gesetzt und ihre Hände flach auf das verklebte Gras gelegt. Innerlich hielt sie Zwiesprache mit Pjotr. Sie wußte, daß er sie hörte. Er war um sie, war in ihrer Nähe, saß neben ihr, sie spürte es ganz deutlich und war glücklich, ja fröhlich, und glaubte plötzlich davon überzeugt, daß es gar keinen endgültigen Tod gibt, sondern nur eine Wandlung der Materie … vom greifbar Körperlichen zum spürbar Geistigen. Ewigkeit … Sie verstand jetzt diesen Begriff, als sie die Hände auf Pjotrs Blut legte und seine Nähe fühlte.

Der Bär würde zurückkommen, soviel war ihr klar. Jedes Tier hat sein Revier, in dem es von Markierung zu Markierung herumstreift. Das Revier des Bären ist weit; es erstreckt sich über viele Werst, aber begrenzt ist es trotzdem. Und so wird er eines Tages auch an diese Stelle hier zurückkommen, an der er einen Menschen zerrissen hat. Ob er sich daran erinnern kann? Hat ein Bär ein Gedächtnis? Wie dem auch sei … er wird kommen und Stella Antonowna sehen. Er wird sie beäugen, wie sie dort am Feuer sitzt, das alte, langläufige Gewehr mit dem Zielfernrohr über den Knien … die Witwe Salnikowa, die auf ihn wartet und Rache nehmen will.

Wird er das spüren? Wird er aus dem Dickicht hervorkommen und sich stellen? Oder wird er auch diesen Menschen belauern, ihn umschleichen, sich lautlos nähern, ihn überlisten?

Stella wartete geduldig. Sie machte sich nicht die Mühe, durch die Taiga zu streifen, die Fährte des Bären zu suchen und ihr zu folgen. Sie hatte sich an Pjotrs Sterbeplatz eingerichtet, viel Holz für das nächtliche Feuer gesammelt, aus Lärchenstämmchen und dicken Kiefernzweigen ein Schutzdach gebaut und lebte von den Konserven, die sie im Rucksack mitgebracht hatte. Sie widerstand der Versuchung, ein Kaninchen zu schießen, das ohne Scheu über die Lichtung hinunter zum Wildbach hoppelte und sich auf einem der glatten Steine in die Sonne setzte.

Nur Ruhe, vollkommene Ruhe, dachte sie. Jeder laute Ton kann den Bären erschrecken, wird ihn warnen und von hier vertreiben. Sie entfernte sich nur selten von ihrem Lager und ging nur hinunter zum gurgelnden Fluß, um sich dort im köstlichen, kalten Wasser zu waschen. Gegen Mittag, wenn die frühsommerliche Hitze sich unter den Bäumen staute, legte sie sich nackt in die perlende Strömung, blieb aber auch dann immer in Griffnähe des Gewehrs nahe am Ufer, so daß ein einziger Sprung genügte, um die stets entsicherte, stets schußbereite Waffe hochzureißen. Es war unmöglich, Stella Antonowna zu überraschen.

Ihr Pferdchen »Almas« ließ sie frei herumlaufen. Es war die beste Frühwarnung. Sollte der Bär sich unsichtbar nähern — das Pferd würde ihn wittern und mit zitternden Flanken zu seiner Herrin laufen.

Am fünften Tag erschien Dr. Semaschko. Er kam auf einem Motorrad, einem fürchterlich knatternden und fauchenden Ding, das Stella schon von weitem hörte und das sie zu völlig unfraulichen Flüchen hinriß. Semaschko brach wie ein Ungewitter in die Stille ein. Er trug einen alten Jagdanzug mit Schnürstiefeln, eine Tracht, in der man vielleicht vor fünfzig Jahren in die Taiga gezogen war. Sein weißes Haar bedeckte eine blaue Strickmütze, und als er aus dem Sattel jenes brüllenden, zweirädrigen Ungetüms stieg, schwenkte er einen neuen Militärkarabiner durch die Luft.

»Vier Tage umsonst!« sagte Stella böse, als Semaschko strahlend vor ihr stand. »Wiljam Matwejewitsch, du hast alles zerstört! Wenn er in der Nähe war, hat er sich jetzt aus dem Staub gemacht!«

»Es war die einzige Möglichkeit, Stupka und zehn seiner Leute davon abzuhalten, heimlich in den Wald zu kommen und einen Kreis um dich zu bilden. Wirklich, das hatten sie vor. Dann haben wir diskutiert, und Stupka sagte: ›Ist im Krankenhaus viel los?‹ — ›Nein‹, antwortete ich. ›Bloß zwei Betten sind belegt.‹ — ›Mit wem?‹ fragte Stupka. Ich sagte: ›Ein Gipsbein und eine Fehlgeburt.‹ Und Stupka brüllte: ›Nein, so was! Ein Gipsbein und eine Fehlgeburt bevölkern das Krankenhaus. Man soll es nicht für möglich halten! Diese dekadente, verweichlichte Zeit! Wirf sie hinaus, Wiljam Matwejewitsch, schließ die Tür und mach ein paar Tage Urlaub im Wald.‹ Ich wehrte mich: ›Wie kann ich das, Fedja Alexandrawitsch?‹ klagte ich. ›Ein Krankenhaus und Türen zu … das geht doch nicht! Wir haben sittliche, menschliche und medizinische Verpflichtungen … Wenn nun ein akuter Notfall eintritt …?‹ Und was antwortete Stupka? ›Es wird keinen akuten Fall in Nowo Kalga geben, solange du Urlaub im Wald hast, Wiljam Matwejewitsch. Dafür sorge ich schon!‹«

Dr. Semaschko seufzte, setzte sich unter das Schutzdach und nahm die Strickmütze von seinen weißen Haaren. »Nur so war es mir möglich, allein zu kommen, ohne Stupka mit seinen zehn Mann. Ich mußte ihm in die Hand versprechen, nicht eher zurückzukommen, als bis auch du wieder Frieden gefunden hast! Das ist nun ein Problem, Stellanka. Man kann das Krankenhaus nicht unbegrenzt geschlossen halten. Krankheiten lassen sich nicht mit Befehlen verbieten.«

»Und nun willst du also hierbleiben?« fragte Stella erregt. Ihre Wangen glühten vor Zorn. Sie ging um das niedrige Feuer herum, gab dem auf der Seite liegenden Motorrad einen kräftigen Tritt und bezwang sich mühevoll, nicht schon wieder so zu fluchen wie vorhin, als sie das Geknatter erstmals gehört hatte.

»Woher hast du den Karabiner?«

»Von Stupka. Das ist die neueste Militärwaffe. Eine SKS-Simonow. Visierbereich bis 1.000 Meter …« Dr. Semaschko hielt ihr das Gewehr hin. »Damit kann man besser schießen als mit deinem alten Prügel …«

»Mein Großmütterchen, wie du es nennst, hat einen Visierbereich von 2.000 Metern …«, sagte Stella leichthin. »Mit einer M 30-Patrone, Typ B-30, zerschlage ich jede Panzerung. Das Geschoß hat eine Anfangsgeschwindigkeit von 850 Metern in der Sekunde … Das bringt keine andere Patrone …«

Sprachlos riß Dr. Semaschko die Augen auf und kratzte sich den Kopf mit den weißen, im Winde flatternden Haaren. Dann knackte er mit den Fingergelenken und stützte sich auf den schönen, modernen Militärkarabiner wie auf einen Stock. »Mir fehlen die Worte«, sagte er endlich. »Hast du uns sechsundzwanzig Jahre lang was vorgespielt?«

»Du brauchst nicht auf mich aufzupassen wie ein Hofhund, nur weil ich jetzt Witwe bin!« fauchte sie grob. »Scher dich zurück zu deinen Krankenbetten. Ich bin nicht krank. Ich fühle mich gesund wie nie zuvor. Nicht auszudenken, das könnte so weitergehen! Die arme kleine Witwe … so allein … man muß sie aufheitern … man darf nicht zulassen, daß sie sich einsam fühlt … könnte ja stolpern, das Seelchen … sich überheben an einem Eimerchen … ist ja nicht mehr die Jüngste, die Gute … bildet ein Komitee, ihr lieben Nachbarn, besprecht euch und tauscht die Kalender aus: Wer ist morgen dran und übermorgen und am 17. August …? Die arme Stella Antonowna … wir müssen uns um sie kümmern …« Erneut gab sie dem Motorrad einen wütenden Tritt und baute sich vor Dr. Semaschko auf. Wie eine Marktfrau, der man die Tomaten zerdrückt hat, stemmte sie die Arme in die Seiten. »Mach dich davon, Wiljam Matwejewitsch!« schnaubte sie mit funkelnden Augen. »Wenn ich dich brauche, werde ich dich schon rufen!«

Dr. Semaschko war mit seinen über siebzig Jahren erfahren genug im Umgang mit Frauen. Er hatte nie geheiratet, aber im Laufe der Zeit einige Geliebte gehabt, die er jedesmal ohne großen Skandal verabschiedete, was durchaus für ein entsprechendes Fingerspitzengefühl sprach. Außerdem ist ein Arzt auch immer Beichtvater seiner Patienten, sammelt auf diese Weise ein wahres Gebirge an Erfahrungen und gewinnt vielfältige Einblicke in das tägliche Leben, so daß er nach einem halben Jahrhundert ohne Übertreibung sagen kann: Den Menschen, liebe Brüder, ja, den kenn ich!

Dr. Semaschko blinzelte der wütenden Stella zu, ging, gestützt auf das schöne Simonow-Gewehr, zum Feuer, setzte sich dort auf den Boden und streckte die Beine aus.

»Ich hätte Lust auf ein Becherchen Tee«, sagte er gemütlich.

»Der Teufel brühe ihn dir auf!« fauchte Stella.

»Es kann auch ein Teufelchen sein.« Wiljam Matwejewitsch lachte glucksend. »Zier dich nicht, Stellanka. Warum tobst du so? Könnte uns Pjotr jetzt sehen, er würde mich umarmen und sagen: Recht so, mein Freund! Laß mein Weibchen nicht allein.«

Es war eine hinterhältige Argumentation, auf die Stella keine Antwort einfiel. Wenn Pjotr uns sehen könnte … der Satz machte sie wehrlos. Denn sie spürte Pjotr an diesem Ort, hatte sie sich doch vier Tage und vier Nächte lang mit ihm unterhalten.

___________

Am frühen Morgen des siebten Tages kam der Bär.

Aus den Niederungen wehten Dunstschleier herauf, hingen wie zerfetzte Tücher unter den Baumkronen und krochen über die Lichtung. Es roch süßlich-herb nach Verwesung, nach schimmeligem Holz und nassem Moos. Almas, die kupferglänzende Stute, witterte ihn zuerst. Sie stieg hoch, warf die Vorderbeine hoch in die morgenfeuchte Luft, blieb dann mit bebenden Flanken und geblähten Nüstern neben dem Schutzdach stehen und glotzte mit ihren großen runden Augen zum Waldrand, dorthin, wo der sanfte Abstieg zum Wildbach begann.

Dr. Semaschko kniete hinter seinem Motorrad wie hinter einer Panzerplatte und hatte sein Gewehr auf den Sattel gelegt. Vor Angst versagte ihm die Stimme. Er hatte geschlafen, eingerollt in eine Decke und durch einen Plastiksack, in dem er bis zum Hals steckte, gegen die Feuchtigkeit geschützt. Lebjotkas heißes Schnaufen hatte ihn geweckt, und noch bevor er den Bären sah, wußte er, daß die große Stunde gekommen war. Er wühlte sich aus Sack und Decke, ergriff das Gewehr und wurde erst jetzt gewahr, daß Stella nicht unter dem Schutzdach lag.

O Himmel, dachte er. O Gott! Soll sich das Drama wiederholen? Aufgeregt sah er sich um und entdeckte Stella Antonowna unten am Fluß. Sie hatte sich gewaschen, zog gerade ihre baumwollene Bluse an und drückte die letzte Nässe aus ihrem Haar. Das Gewehr lag zu ihren Füßen, griffbereit wie immer. Das beruhigte Semaschko etwas, aber die Gefahr, in der sich Stella befand, war dadurch noch nicht gebannt.

Soll ich schreien? dachte Wiljam Matwejewitsch. Wenn ich jetzt losbrülle, ist der Bär weg, und Stella wird mich wie einen streunenden Hund davonjagen. Schreie ich nicht, wird der Bär sie hinterhältig umschleichen und das gleiche tödliche Spiel versuchen wie bei Pjotr Herrmannowitsch. Gott im Himmel, bei meiner Seele — was soll ich tun?

Er brachte seine schöne neue Simonow in Stellung und guckte durch das Zielfernrohr. Aber der Bär war ein raffinierter Halunke. Er blieb im Schatten der Stämme, trat nicht ins Freie, verschmolz mit dem Grün der Blätter, dem Braun der Zweige und den wallenden Dunstschwaden. Nur ab und an tauchte er noch schemenhaft auf, wenn er lautlos von Stamm zu Stamm trottete.

Ahnungslos, wie es schien, kam Stella, vom Bade erfrischt, den kleinen Hang hinauf, ihr Gewehr locker in der rechten Hand. Sie winkte Dr. Semaschko zu, gab Lebjotka, die ihr mit zitternden Beinen entgegenkam, einen Klaps auf die Kruppe und beugte sich zum Feuer, um es anzufachen. Dann hängte sie den Kessel an das Gestänge und goß aus einem Plastikeimer frisches Wasser hinein. Dr. Semaschko fühlte in den Kniekehlen eine geradezu unmännliche Schwäche.

»Der Bär ist da …«, rief er ihr halblaut zu.

»Halt den Mund!« antwortete sie ruhig. »Ich weiß es.«

»Jetzt kommt er heraus … Er blickt zu uns herüber.«

»Beachte ihn nicht, Wiljam Matwejewitsch.«

»Mein Gott, ist das ein Kerl. Noch nie habe ich einen solchen Bären gesehen. Nicht einmal auf Bildern!«

»Ein anderer hätte Pjotr auch nicht besiegt …«

Sie drehte sich um, stand ruhig neben dem Feuer und sah den Bären an.

Da bist du also, dachte sie. So also siehst du aus, du Mörder! Pjotr hast du getötet, aber nur, weil du von hinten kamst. Daß du listig bist, nehme ich dir nicht übel … man muß den Feind besiegen mit allen Mitteln, die man kennt. Das haben wir geübt, und es gab eine Zeit, wo oft eine winzige Sekunde entschied über Tod oder Weiterleben. Nie hätte ich geglaubt, daß ich das noch einmal brauche … diese Kälte bis zum Herz, die absolute Notwendigkeit, daß jeder Muskel meines Körpers in der nächsten Sekunde richtig reagiert, diese Klarheit im Gehirn, bei der sich alles Denken auf eine einzige Linie konzentriert hat: die Linie durch das aufgeschraubte Zielfernrohr, über das Korn hinweg zum Schnittpunkt des Fadenkreuzes, in dem der Kopf des Gegners schimmert, seine Stirn, seine Nasenwurzel, seine Augen … sein Tod.

Wie lange ist das her … aber man verlernt es nicht. Nur wollte ich mich dessen nie wieder bedienen. Nie wieder! Es sollte begraben sein unter den Jahren, als Erinnerung verscharrt. Aber du, Bär, Pjotrs Mörder, du machst mich Jahrzehnte vergessen. Ich bin so kalt wie damals, so ruhig, so konzentriert … und ich höre jetzt auf zu denken … nur die Linie bleibt noch, die Linie von den Augen durch das Fadenkreuz zu dir …

Der Bär witterte die Gefahr. Er blieb, umwallt von Nebelschwaden, am Waldrand stehen. Der Bär fühlte sich jetzt sicher, geschützt durch Stämme und Gebüsch. Lautlos tappte er auf seinen verhornten Tatzenballen in Richtung des Flusses. Das Wasser lockte ihn, er hatte Durst und dachte an einen saftigen Fisch.

Ganz langsam, jede hastige Bewegung vermeidend, hob Stella ihr Gewehr. Dr. Semaschko, der hinter seinem Motorrad lag, raufte sich die weißen Haare.

»Du siehst doch nichts …«, flüsterte er hitzig.

»Ich sehe genug.« Stella hob das Gewehr an ihre Schulter. Der Kolben stieß in die Achselbeuge, als raste er dort ein.

»Er ist doch viel zu weit entfernt!« raunte Semaschko. »Wie willst du denn da treffen?!«

Sein Kopf ist dreimal dicker als ein Stahlhelm mit einer bleichen Gesichtsscheibe darunter, dachte Stella. Wiljam Matwejewitsch, halt jetzt endlich den Mund. Du hast keine Ahnung. Er ist für mich so nahe, daß ich ihn streicheln könnte.

Ihr Finger lag auf dem Abzug, krümmte sich zum Druckpunkt. Im Fadenkreuz lag der Kopf des Bären, ein dicker, braunschwarzer Zottelpelz mit kleinen, sich nach allen Seiten drehenden Ohren. Dreh dich, Mörder, dachte Stella. Von der Seite ist es schlecht. Ich muß dir ins Auge sehen können … bei diesem Winkel jetzt schlägt dir das Geschoß in den Kopf, es wird dein Hirn zertrümmern, eine Patrone B-30 mit schwarzer Spitze ist es, ein sogenanntes »schweres« Geschoß, das auch eine Panzerung durchlöchert … es wird in deinen Kopf eindringen wie in einen Schwamm … aber noch stehst du nicht richtig! Ich habe immer nur geschossen, wenn ich die Augen sah … diesen letzten, ahnungslosen Blick im Fadenkreuz meiner Waffe.

Der Bär hob den Kopf, witterte zu Dr. Semaschko hin … für Wiljam Matwejewitsch war er nicht mehr als ein vager Fleck im Frühnebel.

Der Schuß war trocken, nicht sehr laut. Er blieb im feuchten Wald ohne Echo und rollte nicht durch die Bäume, sondern wurde wie von Watte aufgesaugt. Semaschko zuckte zusammen, sah Stella an und bemerkte, daß sie das Gewehr wieder gesenkt hatte. Dann starrte er durch sein Zielfernrohr, musterte erfolglos den Waldrand und kam hinter seinem Motorrad hervor.

»Nun ist er weg!« sagte er vorwurfsvoll.

»Ja, er ist weg.«

»Auf die Entfernung kann man nicht schießen! Aber überzeuge einer mal ein Weib! Vorbei ist die Jagd!«

»Ja. Vorbei.«

»Kehren wir nach Nowo Kalga zurück. Es hat keinen Sinn mehr. Der Bär kommt nicht wieder.«

»Nein — er kommt nicht wieder …«

Irgend etwas an Stellas Stimme irritierte Dr. Semaschko. Er blieb stehen, blickte dann hinüber zum Waldrand und raufte wieder mit beiden Händen seine Haare.

»Komm mit«, sagte sie.

Sie griff nach der Umhängetasche, ließ ihr Gewehr neben dem Feuer liegen und ging langsam hinüber zum Hang. Wiljam Matwejewitsch riß sein Gewehr an sich und lief ihr nach. Das ist nicht möglich, durchjagte es ihn. Völlig unmöglich ist das! Das grenzt an Zauberei. Auf diese Entfernung, bei diesem Nebel, ein Schatten nur war zu sehen … wer glaubt mir das, wenn ich es erzähle? Ich würde es selbst nicht glauben und jeden, der so etwas behauptet, einen Aufschneider nennen. Aber ich habe es ja selbst erlebt! Jetzt, vor fünf Minuten, in der Taiga nördlich von Nowo Kalga …

Der Bär lag auf der Seite, als schliefe er. Der Tod hatte ihn so blitzschnell überrascht, daß er nicht einmal mehr einen Schmerz verspürt haben konnte, als das B-30-Geschoß sein Hirn zerriß. Semaschko beugte sich ergriffen zu ihm nieder, ergriffen vor allem von der gewaltigen Größe und Stärke des Tieres, und starrte ihm in die Augen. Aber da war nur ein einziges böse funkelndes Auge … an Stelle des linken Auges klaffte ein kreisrundes Loch, aus dem nur ein schmaler roter Blutfaden sickerte.

Stella Antonowna beachtete Semaschko nicht, der fassungslos den Schuß und sein Opfer bestaunte. Sie setzte sich neben dem Bärenkopf ins Gras, öffnete die Tasche und holte die Flasche mit Pjotrs Blut heraus. Dann griff sie zur Schnauze des Bären, riß mit einer Kraft, die Semaschko ein weiteres Mal in Fassungslosigkeit stürzte, die Zähne auseinander, zerschlug die Flasche an den blanken Reißern und ließ Pjotrs Blut in den stinkenden Rachen laufen.

»Mein Gott«, stammelte Dr. Semaschko und rang die Hände. »Oh, mein Gott … Wie kannst du hassen, Stellinka.«

___________

Am Abend zogen sie in Nowo Kalga ein. Es war eine wahre Sensation. Vorweg fuhr Dr. Semaschko auf seinem brüllenden Motorrad, dann folgte Stella auf ihrer »Almas«. Sie war sehr ernst, reagierte nicht auf das freundliche Zuwinken der Menschen. Hinter der Stute schleifte an einem dicken Seil der Bär, den der starke Gaul so durch die Taiga gezerrt hatte. Jetzt polterte er über die Straße, die gewaltigen Pranken in die Luft gestreckt, mit blutverschmiertem Maul, um den dicken Hals einen Strick. Einst schleifte so Hektor den besiegten Patroklos mit seinem Kampfwagen um die Mauern von Troja, ein Sieger, der das Grauen wie Lorbeer trug.

»Er soll präpariert werden — «, sagte Stella später in ihrem Haus. »Präpariert und ausgestopft. Ich will ihn immer vor mir stehen haben. Ich will ihn anspucken, schlagen, verfluchen! Und das Auge soll man ihm nicht ersetzen … ich will das Loch sehen!«

»Ja, das Auge.« Dr. Semaschko saß neben Stella auf der Bank am Ofen und ließ seine Fingergelenke wieder knacken. Was ihn innerlich beschäftigte, war kaum in Worte zu fassen. Da half nur das Ringen der Finger und das Knacken. Er trank zwei Schluck Birkenwein und beobachtete Stella, die nun aufstand, zu einer Kommode ging, eine Schublade aufschloß und ein in Pappe gebundenes, dickes Schriftstück hervorholte. Sie legte es auf den Tisch und kam zur Bank zurück. »Du wolltest etwas sagen?« fragte der Doktor.

Sie nickte, nippte am Wein und lehnte den Kopf weit zurück an den gemauerten, kalten Ofen. In einem Rahmen, um den ein schwarzer Schleier gebunden war, hing an der Wand gegenüber ein Foto von Pjotr Herrmannowitsch. Er war noch jung auf diesem Bild, das vor fast zwanzig Jahren von dem Fotografen Schemelnik aufgenommen worden war, der inzwischen längst tot war. Damals lebte auch Gamsat noch, ihr Sohn. Er war ein schöner Mann gewesen, der junge Salnikow, so wie auch die junge Stella eine Schönheit gewesen war. Man sah es noch jetzt … sie hatte etwas von der goldenen Reife eines gesegneten Herbstes.

»Wie heiße ich?« fragte sie plötzlich. Dr. Semaschko blinzelte sie dümmlich an.

»Stella Antonowna Salnikowa. — Was soll das?«

»Salnikow. Ja … diesen Namen haben wir uns ausgedacht. Genau gesagt: Wir haben ihn gestohlen.«

»Gestohlen?!« Dr. Semaschkos Finger knackten bedrohlich. »Mach keine schlechten Witze, Stellanka.«

»Es war 1943 in Charkow. Pjotr hieß damals noch nicht Pjotr — brauchte Papiere … er war ein Namenloser, ein Nichts, es gab ihn eigentlich gar nicht, und auch mich gab es nicht — nicht mehr —, obwohl ganz Rußland mich kannte.« Sie sah Semaschko an und lächelte begütigend. »Du wirst es bald verstehen, Wiljam Matwejewitsch. Da lebten wir in Charkow, es war Krieg, und wir hausten schlimmer als die Ratten, und wir wurden auch gejagt wie eine Ratte. Beim Ausladen eines Verwundetentransportes, bei dem Pjotr half, starb ein Genosse in seinen Armen. Dieser Mann hieß Pjotr Herrmannowitsch Salnikow. Mein Pjotr nahm die Papiere an sich und hieß von nun an so. Der Tote wurde namenlos begraben. Wir haben geweint vor Freude. Wir waren wieder Menschen, hatten einen Namen, konnten aus dem Rattenkeller heraus in die Sonne, konnten leben …« Sie trank wieder einen Schluck Birkenwein, sah hinüber zu Pjotrs Foto und nickte ihm zu, als habe er zu ihr gesagt: Es ist gut so, Stellinka … sprich es aus. Wiljam Matwejewitsch ist ein guter Freund …

»Kennst du Korolenkaja?« fragte sie unvermittelt.

Dr. Semaschko, der mühsam damit beschäftigt war, das eben Gehörte zu verarbeiten, zuckte erneut zusammen.

»Ist das ein Ort?«

»Schäme dich, Wiljam Matwejewitsch! So etwas will ein Patriot sein?! Korolenkaja ist ein Name …«

»Den man kennen muß?«

»Er steht in Stein gehauen auf einem Ehrenmal in Moskau. Man kann ihn in den Schulbüchern lesen. Hunderttausende Mädchen und Jungen kennen die Geschichte … die Geschichte der Korolenkaja, ›Heldin der Sowjetunion‹.«

»Mir dämmert etwas«, sagte Dr. Semaschko gedehnt. »Du lieber Himmel, ist das lange her. Was wurden damals nicht alles für Namen genannt!«

»Es gab im Großen Vaterländischen Krieg nur 91 Frauen, die ›Held der Sowjetunion‹ wurden. Mädchen, die an den vordersten Fronten kämpften. Über die Hälfte der ›Helden‹ waren Scharfschützinnen … auch Korolenkaja. Sie fiel, wurde von den Deutschen erschossen und verscharrt. Es steht in allen Schulbüchern: Bei Kasatschja-Lopan, an der Bahnlinie von Charkow nach Kursk, gab die Korolenkaja ihr Leben für Rußland.«

»Du hast sie gekannt?« Dr. Semaschko umfaßte sein Weinglas und wußte nicht mehr, was er denken, glauben und sagen sollte. Der Schuß in das Bärenauge, dieser präzise Meisterschuß bei Nebel und weiter Entfernung … Gott im Himmel, worauf läuft das hinaus?

»Lies diese Papiere hier, die Pjotr beschrieben hat.« Sie zeigte auf den Tisch und das in Pappe gebundene dicke Schriftstück. »Wir haben etwas nachzuholen …« Sie lehnte sich wieder zurück an den kalten Ofen, blickte hinüber zu Pjotrs Bild an der Wand und lächelte ihm zu. »Weißt du noch, wie die Korolenkaja mit Vor- und Vatersnamen hieß?«

»Nicht eine Ahnung …«, sagte Dr. Semaschko dumpf. Es war ihm, als fiele er in einen tiefen, dunklen, weichen Abgrund.

»Stella Antonowna.«

Keiner von beiden sagte ein Wort. In der Nachbarschaft heulte kläglich ein Hund.

Wiljam Matwejewitsch erhob sich von der Ofenbank, schlurfte mit schweren Beinen zum Tisch, nahm die Papiere an sich und setzte sich ans Fenster in die rote Abendsonne.

Was wäre Rußland ohne Sibirien, dachte er fast ehrfürchtig. Es saugt Schicksale auf wie ein Schwamm Wasser.

2

[]

Aus dem Bericht des Bataillonskommandeurs Hauptmann Giovanni Langhesi an den Generalstab der italienischen 8. Armee im Raume Millerowo-Kantemirowka, im Verband der deutschen Heeresgruppe Don:

»… ist noch zu melden, daß es viermal zu rätselhaften Überläufen vorgeschobener Posten im Feindgebiet der sowjetischen 1. Garde-Armee gekommen ist. Alle Vorfälle spielten sich im Abschnitt Tschjertkowo ab.

Die vorgeschobenen Posten, jeweils zwei Mann, waren bei Eintreffen der Ablösung nicht mehr in ihrem Beobachtungsstand. Sie hatten nichts hinterlassen. Waffen und Munition waren mitgenommen worden. Im Gefechtsabschnitt waren keine besonderen Vorkommnisse, die Lage war ruhig, bis auf die seit Mitte Dezember 1942 spürbar verstärkte Tätigkeit von sowjetischen Einzelaktionen wie Scharfschützen, Spähtruppunternehmen und Lautsprecherpropaganda, die zum Überlaufen auffordert.

Bei den verschwundenen Posten handelt es sich — nach Berichten der Kompaniechefs — um einwandfreie Soldaten, zum Teil mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Auch ein Unteroffizier ist unter den vermißten Personen.

Aus den Stellungen heraus ist nichts bemerkt worden, was auf eine gegnerische Aktion gegen die Vorposten hinweist. Es muß daher angenommen werden, daß alle acht Posten zu den Sowjets übergelaufen sind.

Ich bitte um Weisung, welche Gegenmaßnahmen zu treffen sind. Die Moral der Truppe ist hervorragend. Um so erstaunlicher sind diese Vorfälle …«

Der Bericht brauchte sechs Tage, bis er über die Schreibtische von Regiment und Division, jeweils mit Unterschrift versehen und als »dringend« bezeichnet, beim Stab der italienischen 8. Armee eintraf. Mittlerweile waren wieder drei Posten verschwunden, was eine als »sehr dringend« nachgereichte Meldung von Hauptmann Langhesi beklagte, die mit dem völlig unmilitärischen Satz endete: »Ich stehe vor einem Rätsel!«

»Irgendwie ist der Wurm drin bei Langhesi!« sagte ein Oberst Bartollini im Generalstab und legte die Meldungen in eine rote Pappmappe. »Wie kann er von guter Moral seiner Truppe reden, wenn die Kerle reihenweise überlaufen! Diese sowjetische Lautsprecherpropaganda ist doch so lächerlich, daß kein Mensch darauf hereinfallen kann! Meine Herren, können Sie sich vorstellen, daß jemand diesen Mist glaubt? Ausgerechnet im Gebiet von Tschjertkowo und sonst nirgendwo?! Jeder von uns weiß, was er drüben als Kriegsgefangener zu erwarten hat. Der Russe macht keinen Unterschied zwischen gefangen und übergelaufen … das ist alles bloß Propaganda.«

»Sie haben sich jetzt was anderes ausgedacht, Herr Oberst«, sagte ein junger Major, der vor neun Tagen aus Mailand gekommen war und eine Gegenpropaganda aufbauen sollte. Vor zwei Tagen hatte er die vordersten Stellungen besichtigt.

»Und wenn schon. Lüge bleibt Lüge.«

»Ein besonders markanter Satz lautet: ›Werft die Waffen weg! Kommt zu uns! Der Krieg ist für euch vorbei. Ihr werdet weiterleben. Tausend rote Mädchenlippen warten in Moskau auf euch …‹«

»Das ist doch völlig idiotisch!« Der Oberst staubte mit den Händen die Vorderseite seines Uniformrockes ab, als habe ihn der Propagandaspruch verunreinigt. »Hirnverbrannt!«

»Ich weiß, daß man heimlich darüber diskutiert. Rote Mädchenlippen … und das für einen ausgehungerten Italiener …«

»Vinzenzo, das ist doch wohl ein dummer Witz!« Oberst Bartollini sah den jungen Major etwas verstört und ratlos an. »Die Truppe muß sich doch krummlachen über diesen sowjetischen Propagandaquatsch! In Moskau warten rote Mädchenlippen … deswegen läuft doch keiner über! Und wenn ihm beim Wort Mädchen die Hose platzt … Bringen Sie das rätselhafte Verschwinden der Posten wirklich damit in Zusammenhang, Vinzenzo?«

»Es ist nur ein Gedanke unter vielen, Herr Oberst.«

»Sollen wir etwa Puffs in die vordere Linie bringen? Jeder Kompanie seinen Rammelbunker! Das gibt ein neues Wort: Hauptkampfliniensonderhure — HKLSH! Nein! Bei Hauptmann Langhesi ist schlicht und einfach der Wurm drin! Ich würde das Bataillon für eine Woche nach hinten ziehen und ihnen die Ärsche kochen lassen, wenn ich die Lücke nur irgendwie auffüllen könnte. Kann ich aber nicht! Da hilft nur eins: Den Kerlen klarmachen, daß es nach dem Sieg in der Toskana schöner ist als in Sibirien! Kämpfen und siegen … oder überlaufen und in der Taiga verschimmeln! Das ist doch eine knallharte Alternative.«

So geschah es, daß gar nichts geschah — bis von der Heeresgruppe Don, aus dem Hauptquartier des Generalfeldmarschalls v. Manstein, eine Delegation von neun Offizieren die italienische 8. Armee besuchte, um anhand mitgebrachter Karten, gesammelter Berichte von sowjetischen Kriegsgefangenen und den Erkenntnissen der eigenen Aufklärung die Lage zu besprechen.

In diesen ersten Januartagen 1943 war es an der Front überall still. Doch die Ruhe war trügerisch. Die eisigen Winde, die über die Don-Steppe fegten, die vollkommene Erstarrung der Natur unter dem Frost, diese mörderische Kälte, an der man sich verbrennen konnte, hinderten die Russen nicht, auf einer Länge von 550 Kilometern eine noch nicht übersehbare Sturmfront aufzubauen. Man wußte nur, daß zehn bestens ausgerüsteten und ausgeruhten russischen Armeen sechs ausgemergelte deutsche Armeen gegenüberlagen. Und auch das stimmte nicht ganz … unter den sechs deutschen Armeen befanden sich drei Verbündete: die ungarische 2. Armee, die italienische 8. Armee und die rumänische 3. Armee. In den deutschen Generalstäben sah man diese morsche Front mit Sorge. In Stalingrad kämpfte die eingeschlossene 6. Armee verzweifelt um jeden Meter Boden, um jede Ruine, um jeden Steppenhügel. Noch konnte sie über die Flugplätze Pitomnik und Gumrak versorgt werden, noch hoffte man, irgendwie den sowjetischen Ring aufbrechen zu können, obgleich sich westlich des Don neue russische Armeegruppen aufbauten, als sei Stalingrad nur noch eine Seifenblase, die in Kürze zerplatzen würde. Die neuen Armeen sammelten sich vor den deutschen Stellungen, die man hatte ausbauen können, weil sich die 6. Armee in Stalingrad, indem sie sowjetische Elite-Armeen fesselte, dafür opferte. Die ganze rechte deutsche Flanke der Heeresgruppe Don sah unerfreulich aus … zwei verbündete Armeen gegen fünf russische, und ganz im Süden, bei Rostow, nur die deutsche 4. Panzer-Armee gegen die gesamte Südfront des Marschalls Jeremenko.

Die Lage war wie immer: Ein Verhältnis eins zu sieben. In den Stäben machte man sich keine Illusionen. Stalingrad war verloren, auch wenn es noch mit wahnsinnigem Heldenmut gehalten wurde. Spätestens ab Mitte Januar würde sich die sowjetische Winteroffensive aus der Steppe heraus gegen Orel, Kursk, Charkow, Stalino und Rostow richten, mit dem Ziel, den rechten deutschen Flügel aufzureißen und weiter im Süden den Transkaukasus zurückzuerobern.

Wie uninteressant sind in so einer Lage Meldungen über das Verschwinden von einigen Posten im Bereich von Tschjertkowo. Oberst Bartollini legte sie erst gar nicht den deutschen Kameraden vor … ihn beunruhigte viel mehr die Nachbarschaft der rumänischen 3. Armee. Von dort hatte er unwahrscheinliche Dinge gehört: Es hieß, rumänische Soldaten tauschten ihre Maschinenpistolen und andere Waffen bei heimlichen Treffen mit dem Feind im Niemandsland gegen Machorkazigaretten und Wodka ein. So etwas hatte man auch von der 4. rumänischen Armee vor Stalingrad erlebt, ehe sie von den Truppen des Generals Trufanow einfach überrannt wurde, worauf das Schicksal der 6. Armee seinen verhängnisvollen Lauf nahm.

Major Vinzenzo war es, der nach einem guten Abendessen und einer Kognakrunde die deutschen Gäste beiläufig auf die Überläufer des Hauptmanns Langhesi aufmerksam machte.

»Ich weiß, was Sie denken, meine Herren«, sagte er und lächelte schief. »Diese Itaker, wenn die was von Weibern hören! Da brauchen die Iwans nur mit einem Schlüpfer zu winken, und schon laufen sie über. Ich kenne die deutschen Witze über uns! Italienischer Wehrmachtsbericht: Einer Kompanie italienischer Sturmtruppen gelang es, einen gegnerischen Radfahrer zum Absteigen zu zwingen. Das Hinterrad wurde erobert, um die Lenkstange wird noch erbittert gekämpft …« Vinzenzo winkte ab, als die deutschen Offiziere halbherzig protestieren wollten. »Im Gegensatz zu Oberst Bartollini habe ich bei dem Verschwinden unserer Posten ein merkwürdiges Gefühl. Warum immer die vorgeschobenen Beobachtungen?«

»Sie haben den kürzesten Weg zur angeblichen Freiheit«, sagte einer der deutschen Offiziere nüchtern. »Ist doch klar … und außerdem sind sie in der Nacht allein. Keiner sieht sie, wenn sie zum Iwan kriechen. Es war doch immer nachts, nicht wahr?«

»Ja.«

»Da gibt’s doch keine Fragen.«

»Für mich doch.« Major Vinzenzo wartete, bis die Ordonnanz die Kognakgläser wieder gefüllt hatte. Sie saßen im Wohnsaal eines Gutshauses bei Starobelsk, vier eiserne Kanonenöfen bullerten vor Hitze, es roch nach feuchtem Holz und nassen, auslüftenden Pelzen. »Ich gehe morgen nach vorn und sehe mir den Abschnitt genau an.«

»Und was hoffen Sie, zu sehen?« Einer der deutschen Offiziere lächelte mokant. Warum müssen sie aus allem eine Oper machen, die Italiener, las man in seinem Blick. Da laufen ein paar kriegsmüde und feige Kerle über … na und? Spätestens, wenn die Iwans ihnen die Uhren vom Handgelenk reißen und sie von oben bis unten filzen, werden sie merken, was für Idioten sie sind … Wozu darüber noch viele Worte verlieren?

»Irgend etwas muß die Männer blöd machen!«

»Sie meinen, das geht bei diesem Hauptmann Langhesi immer so weiter?«

»Gestern ist der Feldwebel Pietro Lucca verschwunden. Lucca hat das EK I.«

»Es haben schon Ritterkreuzträger in die Hose geschissen!« Oberstleutnant v. Rahden, einer der deutschen Gäste, drückte seine Zigarette in dem gläsernen Aschenbecher neben sich auf dem Tisch aus. »Ich gebe zu, es ist merkwürdig, daß gerade in diesem Abschnitt sich die Überläufer häufen. In anderen Abschnitten nicht?«

»Nein! Kein einziger Fall von Desertation! Nur im Gebiet von Tschjertkowo.«

»Da stimmt doch wirklich was nicht!« v. Rahden sah seine beiden vor ihm sitzenden Kameraden betroffen an. Es waren die Majore im Generalstab Heinrich Schlimbach und Peter Halberbaum, erfahrene Truppenoffiziere mit EK, Nahkampfspange, Verwundetenabzeichen, »Gefrierfleischorden« und dem Deutschen Kreuz in Gold. »Wie ist das? Wollen wir unseren italienischen Kameraden morgen begleiten?«

Die Herren zögerten. Ihre Anweisung lautete, mit den Offizieren der italienischen 8. Armee ein taktisches Konzept gegen die russische Offensive durchzusprechen, aber nicht, aus purer Neugier in die Hauptkampflinie zu gehen, um dort kriegsmüde Italiener in Augenschein zu nehmen. Es wäre zudem außerhalb aller Ordnung gewesen. Ein Soldat kann sich nicht — auch im Kriege nicht — einfach an die Front begeben, wann er will. Jede militärische Handlung setzt einen Befehl voraus. Jede Aktion beschäftigt eine Reihe von zuständigen Dienststellen. Oberstleutnant v. Rahden wischte die Bedenken mit einer weitausholenden Handbewegung beiseite.

»Wenn das chronische Überlaufen so außergewöhnlich ist, dann interessiert es auch die Heeresgruppe. Immerhin ist es unsere rechte Flanke, die — ohne daß wir es wissen — vielleicht butterweich ist! Wenn diese Sehnsucht nach Sibirien um sich greift — na, dann heb auch du den Rock, Oma —, dann ist der Fall hochbrisant, und man wird uns dankbar sein, daß wir uns impulsiv darum gekümmert haben!« Er blickte Vinzenzo mit hellen Augen an. »Wann gehen Sie hinaus, Herr Major?«

»Morgen früh bis zum Regiment … beim Abenddämmern zur HKL. Die Stellung ist von den Sowjets einsehbar … Steppe, flach wie ein rasierter Bauch …«

»Das heißt, mit kleinen Wellen.«

»So ist es.«

»Eine Scheißstellung!«

»Es gibt nichts anderes. Das Gelände ist überall gleich. Wir trösten uns damit, daß wir auch den Iwan einsehen können. Der ganze Publikumsverkehr kann nur nachts stattfinden. Und da ist ganz schön was los! Die Sowjets bringen Verpflegung, Munition und Verstärkung mit Motorschlitten heran …«

»Und da hält keiner mit ein paar Batterien Artillerie dazwischen?«

»Befehl Nummer eins: Munition sparen! Wir werden bald jeden Schuß gebrauchen können. Die erfreuliche Botschaft haben Sie ja mitgebracht. Der große Wintersturm steht kurz bevor.«

»Wir begleiten Sie, Major Vinzenzo«, sagte v. Rahden tatendurstig. »Sind wir übermorgen wieder zurück?«

»In der Nacht darauf? Ja. Sie werden zurückgebracht werden. Ich bleibe draußen und will mich selbst in ein Postenloch legen.«

»Und dann kommt das unbekannte Gespenst und frißt Sie …«

»Vielleicht …«

Oberstleutnant v. Rahden lachte laut und streckte die Beine mit den blanken Stiefeln weit von sich. »Mein lieber Vinzenzo, ich begreife jetzt immer klarer, warum Italien das Land der großen theatralischen Dramatik ist! — Trinken wir noch einen Kognak!«

___________

Am frühen Morgen fuhren sie in einem Kübelwagen von Starobelsk zur Front. Sie hatten sich in dicke Lammfelldecken eingewickelt. Die Kälte war wie ein Messer — sie durchschnitt jeden Stoff, die Haut, die Muskeln, die Knochen und zerteilte die Körper in kleine Scheibchen. Die Lammfelldecken wärmten zwar ein wenig, aber der Atem hinterließ sofort einen Eisfilm, klebte an den Pelzlocken, verstopfte die Nasenlöcher, hing in winzigen Zapfen an den Augenbrauen.

Der Fahrer des Wagens, ein kleiner Obergefreiter aus Trapani auf Sizilien, hockte hinter dem Steuer wie ein vereister Klumpen. Der Auspuff des Kübels dampfte wie ein Nebelwerfer.

»Bei diesem Frost greifen auch die Iwans nicht an!« sagte v. Rahden zufrieden. »Denen frieren genau wie uns die Finger an den Gewehrschlössern an! Auch die Iwans machen beim Scheißen die Knie krumm …«

Beim Regiment wußte man bereits Bescheid. Vinzenzo hatte heimlich vorgesorgt. Die deutschen Kameraden vom Generalstab wurden mit Schnaps und Herzlichkeit begrüßt, die Küche hatte Nudeln mit Rindfleisch gekocht und einen riesigen Panettone, einen Topfkuchen, gebacken, der sogar Rosinen enthielt.

Zur Überraschung hatte man Hauptmann Langhesi zurückgeholt. Er begrüßte die Delegation sehr bedrückt und wortkarg und ahnte, was man von ihm dachte: Keinen Zug in der Truppe, die typische Spaghettimoral … in jeder Kompanie nur ein einziger deutscher Feldwebel, und die Itaker würden vor jedem Pissen erst salutieren.

»Wir haben jetzt vier Mann vorgeschoben«, sagte Langhesi bitter. »Vier laufen nicht so schnell über wie zwei. Da wird man sich nicht einig. Es ist eine Sauerei …«

»Und was sagen die Männer?« Vinzenzo rauchte nervös und hastig eine Zigarette. Langhesi hatte ihm berichtet, daß die Sowjets im Abschnitt Tschjertkowo ihre Truppen umschichteten. In den Nächten sah man flache, schnelle Schlitten über die verschneite Steppe flitzen und im sanft gewellten Gelände verschwinden. Selbst abgefeuerte Leuchtkugeln, die an Fallschirmen minutenlang die Gegend grell in ein bleiches Licht tauchten, störten sie nicht. Sie demonstrierten ihre Überlegenheit. Ein paarmal beschoß man die russischen Stellungen mit Minenwerfern, ohne Erwähnenswertes anzurichten. Es sollte nur heißen: Wir sind noch da, wir sehen alles. Kommt nur … Was hatte Hitler gesagt? Ein Deutscher ist so gut wie zwölf Russen!

Was ging sie dieser wahnsinnige Spruch an? Sie waren Italiener …

»Sie werden sie sehen und sprechen, Herr Major«, sagte Hauptmann Langhesi bedrückt. »Die Moral der Truppe ist gut … ich möchte das ausdrücklich betonen! Alle verfluchen die Überläufer.«

»Die große Verdammnis-Arie.« Oberstleutnant v. Rahden lachte etwas provozierend, als Vinzenzo ihm das übersetzte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Vinzenzo … aber irgendwie muß das doch mit der südländischen Mentalität zusammenhängen. Der mediterrane Charakter …«

In der Dämmerung fuhren sie zur HKL. Bis zum Bataillonsgefechtsstand benutzten sie die Motorschlitten, von dort aus ging es aber nur zu Fuß weiter. Vinzenzo und die drei deutschen Offiziere zogen die weiße Tarnkleidung über ihre Uniformen und schlossen sich einem Trupp an, der in Rucksäcken und umgeschnallten Blechkanistern Nachschub für die Kompanieküchen nach vorne trug.

Unbehelligt erreichten sie die vorderen Stellungen, ein Grabensystem mit Erdbunker-Schwerpunkten. Flache Kriechgräben führten rückwärts zu einer Senke, in der der Kompaniebunker lag. Ein junger Leutnant begrüßte die Gäste mit verkniffenem Gesicht. Im Bereich der 2. Kompanie waren allein vier Mann verschwunden.

»Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete er und sah die Deutschen nicht gerade freundlich an. »Man besichtigt uns wie eine römische Ruine. Ein trauriger Ruhm, die meisten Überläufer zu haben.«

»Wann gehen wir zu den Posten?« fragte v. Rahden forsch.

»Am besten nach Mitternacht.« Major Langhesi blickte auf seine Armbanduhr. »In drei Stunden. Dann können Sie sehen, wie die Sowjets ungeniert hin und her fahren. Das ist wie bei den Ameisen. Am Tag kann man schlafen, da ist da drüben alles tot und leer. Nur aus der Erde qualmt es überall — die Öfen in den Bunkern.«

»Na, dann wärmen wir uns erst einmal auf«, sagte Major Schlimbach und packte seine Leinentasche aus. »Ihr Regimentsfurier hat eine Flasche Grappa spendiert.«

Später lagen sie, innerlich gut temperiert, auf der Kuppe des flachen Hügels und blickten mit Nachtgläsem hinüber zu den sowjetischen Stellungen. Eine Reihe von Motorschlitten glitt über die weiße Steppe, zwei gepanzerte Wagen hoppelten über den zerrissenen Boden, ganz undeutlich tauchten drei T 34-Panzer auf, bewegten sich wie Schemen durch die Nacht und wurden dann von der Dunkelheit aufgesogen.

»Eine Frechheit ist das!« sagte Oberstleutnant v. Rahden heiser vor Erregung. »Wenn man da hinlangen dürfte!«

»Wenn man überhaupt an der ganzen Front hinlangen dürfte«, sagte Langhesi sarkastisch. »Dann stünden wir jetzt am Ural …«

»Irrtum! Dann hieße Rußland schon längst Ostland und wäre im nächsten Jahr unsere Kornkammer! Aber solche ›Wenns‹ bestimmen die Weltgeschichte. Wir müssen uns damit abfinden, daß wir hier liegen und dem Iwan zusehen und daß uns vor Wut die Arschbacken zittern.«

Kurz nach Mitternacht gingen sie ganz nach vorn, nahmen die Meldung eines Feldwebels entgegen, der angesichts des hohen Besuches zu stottern begann, und krochen dann den flachen Verbindungsgraben entlang zu den vorgeschobenen Posten. Da das Loch zu klein war, um alle aufzunehmen, hatte man die Posten eine halbe Stunde zuvor zurückgezogen. Major Halbermann betrachtete fast liebevoll die Leine vom Vorposten zum Graben. Die Strippe endete an einem Holzbalken mit leeren Konservendosen. Wenn die Dosen losrappelten, dann hieß das: Alarm, raus aus den Erdbunkern! Der Iwan greift an!

Einen Augenblick dachte Halbermann an seine Zeit als Kompaniechef vor Leningrad, bevor er zum Stabsoffizierlehrgang abkommandiert und dann Major i. G. wurde. Das Rasseln der Konservendosen — man hörte auf zu denken, war nur noch Waffe.

Sie lagen im Vorpostenloch und blickten hinüber zu den sowjetischen Stellungen. Ganz links hockte Langhesi und ärgerte sich, daß ein Erdhöcker ihm das Blickfeld teilweise versperrte, dann folgten, nebeneinander, Major Schlimbach, Oberstleutnant v. Rahden und Major Halbermann. Sie hatten ihre Nachtgläser auf den Erdrand gelegt und starrten in die Steppe.

»Entfernung?« fragte v. Rahden. »Schätzungsweise …?«

»Bis zu den kleinen Rauchsäulen der Bunker?« Halbermann wölbte die Unterlippe vor.

»Ja.«

»Vielleicht vierhundert Meter.«

»Auch fünfhundert?«

»Kaum. Das täuscht.«

»Die Kerle sind also vierhundert Meter weit durch flaches Steppenland gerobbt, um zu desertieren. Nicht anzunehmen, daß sie hochaufgerichtet, mit erhobenen Armen, losmarschiert sind … das hätte man vom Graben aus sehen müssen. Sie kriechen also und kommen ungehindert rüber. Was folgern Sie daraus?«

»Die Sowjets haben sie erwartet.«

»Genau! Auf einen ankriechenden Mann wird sofort geschossen! Die Iwans haben ja auch vorgeschobene Beobachter. Wer weiß, wo sie liegen? Vielleicht können wir uns zuwinken!«

»Und genau das haben die Überläufer getan, und dann sind sie losgerobbt!« sagte Major Schlimbach überzeugend. »Das erklärt die völlige Lautlosigkeit des Unternehmens.«

»Wir sollten es mal versuchen!« Major Halbermann lachte glucksend.

»Was?« v. Rahden schielte zur Seite.

»Ein weißes Taschentuch heben. Mal sehen, wie sie reagieren.«

»Abgelehnt! Bloß keine Provokationen, Halbermann! Ich möchte keinen Mörserbeschuß provozieren. Nach meiner Ansicht sind wir der Wahrheit etwas näher gekommen. Ist das eine Scheiße! Tausend rote Lippen warten auf dich in Moskau. Paß die damit auch nur ein einziges Apenninen-Lockenköpfchen herüberlocken können! Mein Gott, sind das Soldaten …«

Er schob sich etwas höher, betrachtete die Rauchfähnchen über den Erdbunkern und sah schattenhaft ein paar Gestalten hin und her huschen. Anscheinend kam die Verpflegung nach vorn. Zu Blöcken gefrorene Milch, Brot, das nach dem Auftauen matschig wurde. Kohlsuppe, die nach dem Erhitzen sauer stank. »Es sind alles arme Säue, die da drüben genauso wie wir …«

»Sehen Sie sich das an, Halbermann!« sagte v. Rahden erregt. »Das darf doch nicht wahr sein. Da beschlägt mir ja die Brille! Dort … einen Daumensprung von der rechten Rauchsäule vor uns nach links zur Mitte. Haben Sie’s?! Das ist ja nicht zu fassen …«

»Weiber!« Major Schlimbach reckte sich etwas höher im Postenloch. »Zwei Weiber! Eindeutig!«

»Man sieht es an den halblangen, lockigen Haaren! Die haben in der Stellung Damenbesuch!« v. Rahden schlug mit der Faust auf den Erdrand. »Nein, so was! Das läßt ja einen Neger weiß werden!«

Sie stemmten sich alle weiter aus dem Loch und hoben die Nachtgläser.

___________

Ihr weißes Tarnzeug ließ sie mit dem Schnee verschmelzen.

Sie trugen weiche, dicke Fellstiefel, eine enganliegende Wollmütze, die nur die Augenpartie und einen Atemschlitz über dem Mund freiließ, gefütterte Kapuzen und weiße, aus dicker Wolle gestrickte Handschuhe.

Sie lagen in einem Granattrichter, drei hingestreckte, flache Gestalten, atmeten gegen die Erde, um sich nicht durch ihren heißen Atem zu verraten, und starrten schweigend durch ihre Zielfernrohre. Sogar ihre langläufigen Gewehre waren mit weißer Farbe angestrichen.

Der Trichter war groß genug für drei. Sie lagen bequem, hatten Ellenbogenfreiheit nach allen Seiten und konnten es sich hinter dem Gewehr gemütlich machen. Es war eine mäßig dunkle Nacht, über dem Schnee lag ein fahler Schimmer. Im Zielfernrohr konzentrierte sich die schwache Helligkeit und umgab den anvisierten Gegenstand mit einer Art Hof. Der Tod trug einen Heiligenschein.

»Jeder nimmt den ihm gegenüber Liegenden«, flüsterte die mittlere Gestalt. »Ich zähle von zehn rückwärts. Bei null gemeinsamer Schuß.«

»Und der vierte?« fragte die linke Gestalt.

»Ich mache dreißig Schuß in der Minute …«, sagte die rechte Gestalt.

»Angeber! Du hast nur fünf im Magazin.«

»In Frunse habe ich mit sechs Gewehren hintereinander geschossen. Dreißig in der Minute. Steht in meinen Papieren.«

»Und wie viele Treffer?«

»Vierundzwanzig … Mitte …«

»Artist!« Die mittlere Gestalt legte den Zeigefinger in den weißen Strickhandschuhen um den Abzugsbügel des Gewehres. Die beiden anderen taten es ihr nach. Flach, wie eine niedergewalzte Erdscholle, lagen sie im Schnee, unsichtbar, selbst wenn man einen Meter vor ihnen gestanden hätte.

»Ich zähle … Zehn … neun … acht … sieben …«

In den Fadenkreuzen der Zielfernrohre schimmerten matt Gesichter mit vorgehaltenen Ferngläsern. Unter den Tarnkapuzen die Ränder der Stahlhelme. Dann ein freies Kinn, ein Hals, der Kragen des Uniformrocks. Es war kein gutes Ziel, die Ferngläser störten, schalteten die Augen als Einschlagstelle aus. Es blieb nur ein winziger Fleck über der Nasenwurzel, die Stelle zwischen Fernglas und Stahlhelmrand, oder allenfalls durch den Hals, aber das war eine unsichere Sache … einen Halsschuß hatten schon viele überlebt; da hätte man schon ein Explosivgeschoß nehmen müssen. Aber das verachteten sie … ihnen genügte die Patrone M-30 mit der gelben Geschoßspitze, die Patrone, die sie das »dicke Schwälbchen« nannten. Wenn die M-30 traf, konnte man einen Strich ins Schußbuch machen. Und man traf immer.

Sie sahen durch das Zielfernrohr … der kleine weiße Fleck über der Nasenwurzel lag in gerader Linie. Sie kannten ihre Gewehre wie ihre eigenen Körper, es gab kein Abweichen, sie waren auf den Millimeter genau mit ihnen eingeschossen … trafen sie nicht, so hatte nicht das Gewehr versagt, sondern der Schütze.

»… sechs … fünf … vier … drei …«

Der Zeigefinger krümmte sich zum Druckpunkt. Die im Schneewiderlicht schimmernden Gesichter im Fadenkreuz wuchsen ihnen fast entgegen. Sie vergrößerten sich, kamen höher aus der Erde heraus … die Läufe der Gewehre gingen mit, das Schußfeld wurde besser, von den Gesichtern verschwanden die Ferngläser, die Augen lagen frei, eine geradezu ideale Scheibe … Augen, die zu ihnen hinüberstarrten, ohne sie zu sehen.

»… zwei … eins … null.«

Es klang wie ein einziger Schuß. Zwei Sekunden später dann der vierte hinterher. Schneller konnte niemand schießen. Schloß zurück, Patrone eindrücken, Schloß zu, abdrücken … in zwei Sekunden.

»Zu spät!« Die mittlere Gestalt drehte den Kopf zur Seite. »Das war auch gar nicht möglich. Der Duckreflex ist schneller als dein Durchladen.«

Es klang nüchtern wie bei der Beurteilung auf dem Schießplatz. Sie blickten wieder durch die Zielfernrohre und sahen, wie der vierte Gegner halb kriechend, halb vorwärtsschnellend nach hinten hetzte zu den deutschen Stellungen. Er war kein Ziel mehr. Es wäre unter jeder Würde gewesen, ihm etwa in den Hintern zu schießen.

Die drei fast unsichtbaren Gestalten drehten sich auf die Seite und blickten sich an. Sie lächelten einander zu und zogen die Gewehre zu sich heran.

»Gratuliere — «, sagte die mittlere. »Gratuliere, Schanna.«

»Gratuliere, Lida.«

»Gratuliere, Darja.«

Sie warteten noch ein paar Minuten, aber auf der deutschen Seite blieb alles still. Dann krochen sie hintereinander bis zu einem Laufgraben, in den sie sich hineinfallen ließen. Dort umarmten sie sich, küßten sich auf die Wangen und liefen geduckt zu den gut getarnten, ausgebauten Stellungen. Erst im Erdbunker rissen sie die Mützen von den Köpfen.

Sie hatten braune, schwarze und kastanienrote Locken und hübsche, fast noch kindliche Mädchengesichter …

[]

Oberstleutnant v. Rahden hatte das Geheimnis der Überläufer entdeckt. Wenigstens glaubte er das. Verbissen starrte er auf die Frauengestalten neben dem sowjetischen Erdbunker.

»Noch Fragen?« Er blickte kurz zu Hauptmann Langhesi. »Tut mir leid, es zu sagen, aber das kann doch nur Italienern passieren. Sehen da drüben ein paar zackige Weiberärsche … und hopp, sind sie auf der anderen Seite. Eine Sauerei ist das! Wo ein Rock ist, klappen bei denen die Scharniere hoch. Wußten Sie, daß die Iwans Frauenbesuch empfangen?«

»Nein …«, sagte Hauptmann Langhesi heiser vor Zorn. »Und ich protestiere! Ich dulde es nicht, daß man meine Nation verunglimpft!«

»Herr Hauptmann …!« sagte Oberstleutnant v. Rahden scharf. Wo gab es denn das? Ein untergebener Offizier protestierte gegen die Wahrheit?! »Was ich sehe, sehe ich! Und ich kann logisch denken! Und zum dritten: Ich war ein halbes Jahr an der italienischen Front auf dem Balkan. Als Beobachter. Du lieber Jolly, was ich da erlebt habe! Da schwebte einem ja vor Entsetzen die Mütze auf den Haarspitzen!« v. Rahden wandte sich wieder den sowjetischen Linien zu und beobachtete die Frauen. Sie waren verschwunden. Die Steppe lag einsam und weit unter der diffusen Schneenacht. »Nun platzen Sie nicht gleich vor verletztem Nationalstolz. Es kann nicht jeder ein Preuße sein! Die Weiber sind weg! Meine Herren, die Frage der Überläufer ist für mich geklärt.«

Er setzte das Nachtglas ab und blinzelte in die Weite. Auch Major Schlimbach und Major Halbermann senkten die Gläser. In diesem Augenblick erklang ein Schuß. Hauptmann Langhesi warf sich instinktmäßig seitwärts in das Loch. Fast gleichzeitig fiel ein zweiter Schuß. Langhesi hörte die Kugel über seinen Kopf hinwegzirpen, duckte sich, zog die Schultern hoch und rollte sich wie ein Igel zusammen. Wenn jetzt Granatwerfer folgten, würde es kritischer werden.

»Weg!« zischte er zu den drei deutschen Offizieren hinauf. »Sie schießen sich ein!«

Aber die Offiziere rührten sich nicht. Sie lagen am Lochrand, hatten die Köpfe niedergedrückt und schienen zu warten. Seltsam war nur, daß sie mit den Köpfen auf dem Rand lagen.

Als alles still blieb, streckte Hauptmann Langhesi den Kopf vor, um eine Frage zu stellen. In diesem Moment fiel ihm die etwas verkrampfte Haltung von Major Halbermann auf. Er lag auf dem Rand, das linke Bein angezogen, und die Arme ausgebreitet, als wolle er sich zu einem Vogelflug abstoßen. Daneben lag Oberstleutnant v. Rahden, den Kopf zur Seite gedreht, als schlafe er. Major Schlimbach war am weitesten draußen … er lag mit dem Oberkörper über dem Rand und mit dem Gesicht im Schnee. Erst jetzt begriff Langhesi. Er schluckte mehrmals, kroch dann auf dem Bauch aus dem Loch in den flachen Laufgraben und hetzte zurück.

Major Vinzenzo hockte im Kompaniebunker am Feldtelefon und sprach mit dem Regiment. Sein Plan, mit den deutschen Offizieren zum Vorposten zu kriechen, war durch einen Anruf von Bartollini aufgehalten worden. Er wollte ihnen gleich folgen.

»Durch Zufall höre ich, wo Sie sind!« bellte Bartollini. »Sind Sie verrückt geworden, Vinzenzo?! Nicht genug, daß Sie sich wegen dieser Überläufergeschichte verrückt machen lassen, nein, nun reißen Sie auch noch drei deutsche Kameraden in den Blödsinn hinein! Wenn bei diesem sinnlosen Ausflug etwas passiert …«

»Was soll passieren, Herr Oberst?« antwortete Vinzenzo selbstbewußt. »Die deutschen Herren laufen bestimmt nicht über.«

»Ich mache Sie verantwortlich, Vinzenzo!«

»Dieser Frontabschnitt ist still wie ein Friedhof. Ich werde den Deutschen gleich nachgehen. Es besteht überhaupt keine Gefahr.«

»Sie haften mir für alles, Vinzenzo!« Oberst Bartollini blieb skeptisch. Diese jungen Stabsoffiziere! Kommt da aus Mailand, vollgestopft mit Akademiewissen und heiliger Theorie, war ein paar Monate in Griechenland an der Front und dann kurze Zeit in Nordafrika, aber von Rußland hat er keine Ahnung. Glaubt, der Krieg sei überall gleich. Wo geschossen wird, ducken und zurückschießen, und wenn man sieht, daß man der Schwächere ist, zusehen, daß man irgendwie aus der Klemme herauskommt. So einfach ist der Krieg … »Die deutsche Delegation ist zur Stabsbesprechung hier und nicht, um den Graben zu besichtigen.«

»Es war der freiwillige Entschluß der Herren, Herr Oberst.«

»Nachdem Sie ihnen die süße Waffel vor die Nase gehalten haben! Natürlich beißen die dann rein! Vinzenzo, die Verantwortung tragen Sie.«

Major Vinzenzo kam nicht dazu, den deutschen Kameraden zu folgen. Nach dem Regiment rief noch die Division an. Woanders hatte ein Stoßtrupp einige Gefangene gemacht. Ihre Verhöre ergaben ein erschreckendes Bild von der Frontlage. Da Stalingrad für die Sowjets keine großen Probleme mehr aufwarf und keine Truppen mehr band, marschierten in der Don-Steppe ausgeruhte, frische Armeen zum Sturm gegen die dünnen deutschen Linien auf. Es konnte sich nur um wenige Tage handeln, bis die Feuerwalze losgelassen wurde. Die Aussichten waren trostlos.

Vinzenzo blickte auf, als Hauptmann Langhesi in den Bunker stolperte und sich schwer atmend, mit pfeifenden Lungen, an die abgestützte Erdwand lehnte. Draußen hörte man rasche Schritte und laute Rufe. Vinzenzo schluckte krampfhaft.

»Danke — «, sagte er ins Telefon. »Ende.« Dann legte er den Hörer auf und holte tief Luft. »Was ist passiert, Langhesi? Mein Gott, sprechen Sie es nicht aus …«

»Scharfschützen.« Langhesi rutschte an der Wand hinunter auf einen Hocker. »Es klang wie ein Schuß.«

»Es klang …«

»Aber es waren drei.«

Vinzenzos Herz wurde kalt, als sei es zu Eis gefroren. Die Gestalt Hauptmann Langhesis verschwamm vor seinen Augen, zerfloß wie ein Bild im Wasser. »Wollen Sie damit sagen …«, flüsterte er.

»Ja. Kopfschüsse. Alle drei.«

»Und warum leben Sie noch? Woher nehmen Sie die Frechheit, hier zu sitzen?!«

Hauptmann Langhesi wischte sich über das Gesicht. Seine Hände bebten. Ihm war speiübel. »Vielleicht lag ich im falschen Winkel … ich weiß es nicht. Ich rollte mich sofort zur Seite … Der vierte Schuß ging knapp über mich hinweg … Es hing an einer Sekunde.«

»Sie hätten diese eine Sekunde warten müssen!« sagte Vinzenzo müde. »Mein Gott, was machen wir jetzt?«

»Ich lasse die Toten gerade holen. Melden … melden Sie den Vorfall weiter? Oder soll ich das übernehmen?«

»Ich spreche mit dem Generalkommando.« Vinzenzo erhob sich, ging an Langhesi vorbei und trat ins Freie. Ein paar Soldaten des Kompanietrupps, die gerade Holz hackten, fuhren hoch und standen stramm. Unter einem Holzdach qualmte die Feldküche. Es roch nach Bohnensuppe. Der Hauptfeldwebel der Kompanie diskutierte vor dem Schreibstubenbunker mit vier vermummten Soldaten die neue Lage: Drei deutsche Stabsoffiziere einfach weggeknipst! So ganz nebenbei, in einer völlig ruhigen Stellung. Madonna mia, das gibt noch ein Nachspiel! Der Kompaniechef war schon mit einem Trupp und drei flachen Ziehschlitten unterwegs, um die Toten zu holen.

Als er Major Vinzenzo bemerkte, schwieg der Hauptfeldwebel sofort und verdrückte sich in seinen Schreibstubenbunker.

Sie tragen die Verantwortung. Sie haften mir für alles!

Vinzenzo schloß die Augen und spürte die Kälte nicht, die seinen ungeschützten Kopf sofort mit winzigen Eiskristallen überzog. So ist das nun, Mama, dachte er mit Wehmut im Herzen. In Mailand, an dem Bahnsteig, hast du gesagt: »Mein kleiner Angelino, komm gesund wieder. Du bist doch jetzt im Generalstab, du brauchst doch nicht mehr an die Front. Halte dich immer in der Nähe von deinem General auf … die meisten Generäle überleben einen Krieg. Denk daran, du mußt Papas Geschäft übernehmen. Du willst doch nicht Soldat bleiben, oder? So ein großes Eisengeschäft gibt es in Mailand nicht wieder. Denk daran, Angelino … immer beim General bleiben, da bist du sicher!« Und dann hatte sie seine Hand festgehalten, war neben dem Abteilfenster hergelaufen, bis es ihre Beine nicht mehr schafften, hatte mit beiden Armen gewunken und geweint hatte sie, und er hatte dieses Bild mitgenommen nach Rußland — das Bild der kleinen tapferen Amelia Vinzenzo, die ihrem einzigen Sohn nachwinkte und so glücklich war, daß er nicht mehr im Graben liegen mußte, sondern immer neben dem General einhergehen konnte.

Du wirst ein wenig weinen, aber dann wird das Leben weitergehen, und du wirst einen anderen Mann lieben lernen, schöne Loretta. Wie schön war das, als wir bei Tante Rosa unter den Olivenbäumen lagen, müde von der Liebe, schweißbedeckt, und nur darauf warteten, daß wieder ein wenig Kraft in uns zurückkehrte, nur um erneut einander zu verzehren. »Ich möchte jetzt ein Kind von dir!« hast du gesagt. »Mir ist es gleich, was die Leute sagen. Wir werden ja später heiraten. Aber jetzt möchte ich ein Kind! Wer weiß, wie lange der Krieg noch dauert, da will ich etwas von dir haben. Nicht nur ein Foto, nicht nur das Medaillon, nicht bloß die Briefe … ich will ein Stück von dir selbst.« — Ich habe es nicht getan. Ich habe mich vorgesehen, und du warst richtig böse, Loretta. Siehst du, wie gut das war? Was hättest du jetzt davon, wenn du schwanger wärst? Eine unverheiratete Frau mit Kind — das ist in Italien immer ein Problem. So aber bist du ein freies, junges Mädchen. Vergiß Angelo Vinzenzo bald, Loretta, bitte vergiß ihn. Lebe weiter. Ich liebe dich …

Vinzenzo wandte sich ab, ging in den Kompaniebunker und sah noch immer Langhesi an der Wand sitzen. Sein Gesicht war zerfurcht. Er wirkte wie ein Greis.

»Ich bringe die deutschen Kameraden noch heute nacht zurück«, sagte Major Vinzenzo. »Das ist besser, als jetzt per Telefon eine Meldung durchzugeben. Ihren Bericht können Sie später nachreichen. Und vergessen Sie, was ich vorhin gesagt habe.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Major.«

»Ich fragte Sie, warum Sie nicht der vierte sind.« Vinzenzo wischte sich mit beiden Händen die in der Hitze des Bunkers schmelzenden Eiskristalle aus den Haaren und vom Gesicht. »Es hätte heißen müssen: Warum bin ich nicht der vierte?«

Eine Stunde später lagen Oberstleutnant v. Rahden, Major Schlimbach und Major Halbermann nebeneinander vor dem Kompaniebunker auf flachen Schlitten. Man hatte die Toten ohne Beschuß bergen können. Der Russe hatte keinen Laut von sich gegeben. Dabei war man sicher, daß aufmerksame Augen den Abtransport in allen Einzelheiten verfolgten.

Vinzenzo zog die Decken weg, die man über die Toten gezogen hatte. Wie alle anderen, die ihre Köpfe gesehen hatten, verspürte er einen stechenden Schock.

Sie waren alle drei auf die gleiche Art und Weise gestorben: Ein Schuß exakt ins linke Auge. Punktgenau, fast unbegreiflich. Anstelle des Augapfels war jetzt ein Loch im Schädel. Nicht zu weit zur Nase, nicht zu weit zur Schläfe, nein, die Augen waren präzise ausgestanzt, als wolle man neue einsetzen.

»Unglaublich«, sagte Hauptmann Langhesi heiser. »Das müssen Kerle aus Sibirien sein. Die meisten Scharfschützen kommen aus der Taiga.«

Vinzenzo deckte die Toten wieder zu. Gefallen für Führer und Vaterland, wird man ihren Vätern und Müttern schreiben, ihren Frauen und Kindern. Sie kämpften tapfer für den Endsieg, für die Erhaltung des Reiches. Und dabei waren sie nur neugierig und reckten die Köpfe ein wenig zu hoch, weil sie Frauen sahen. Auch so etwas nennt man Heldentod …

Im Morgengrauen erreichte die kleine Kolonne den vorgeschobenen Verbandsplatz beim Regiment. Dort wurden die drei deutschen Offiziere in einen LKW geladen und zum Armeestab gebracht. Vinzenzo hatte es abgelehnt, vorne im Fahrerhaus zu sitzen, und sich neben die Toten unter die Plane gehockt.

Es war eine holprige Fahrt über die vereiste Straße nach Starobelsk. Der Wagen hüpfte, der Motor brüllte gequält, die Räder drehten oftmals heulend durch. Bei diesem Lärm kann man vorn im Fahrerhaus keinen Schuß hören.

Oberst Bartollini kam selbst ins Freie, um das Ausladen der drei Leichen zu überwachen.

Es waren vier Tote.

Mit steinernem Gesicht legte Bartollini die Hand an die Mütze, als man als letzten Vinzenzo auf einer Trage abtransportierte.

In dem Brief, den er an Amelia Vinzenzo, die Mutter, schrieb, sagte er: »Angelo erfüllte seine Pflicht. Das ist das höchste, was man von einem Mann berichten kann. Sie können stolz auf ihn sein.«

Amelia Vinzenzo hat es nie begriffen, wie ihr Sohn neben einem General fallen konnte. Es blieb ein Rätsel für sie, das langsam ihren Geist verdunkelte.

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Jeder, der erfuhr, welches Kommando man Foma Igorewitsch Miranski übertragen hatte, schnalzte genußvoll mit der Zunge, blinzelte ihm spitzbübisch zu und beneidete ihn. »Ein Glückspilz!« sagte man. »Ausgerechnet ihn muß das treffen! Paßt auf, wie lange er das aushält! Der Kräftigste ist er nicht mehr, und dann so etwas! Wird in der ersten Zeit mit offenen Hosenknöpfen herumlaufen, das schmierige Ferkelchen, aber dann wird er Mühe haben, sein stolzes Schwert überhaupt noch zu finden! Wie kommt ein Mensch wie Foma Igorewitsch an ein solches Kommando?! Wahrhaftig, es trifft immer die Falschen.«

Eine Weile stolzierte Miranski wie ein prämierter Hahn herum, ließ sich bewundern, pflegte seinen Schnauzbart, dem er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Genossen Stalin verdankt, ließ sich die schon graumelierten Haare stutzen und verschaffte sich auf dem Schwarzen Markt hohe, weiche Stiefel, wie nicht einmal ein Marschall sie trug.

Sechs Wochen später kam er dann für drei Tage auf Urlaub und da sah er ganz anders aus. Stumm saß er da, als sie auf ihn einstürmten und ihn mit Fragen durchlöcherten. Mit trüben Augen musterte er die Freunde, die immer noch dämlich mit der Zunge schnalzten, aber erst als sein Nachbar Tichon Ignatjewitsch anzüglich rief: »Genossen, laßt ihn doch in Ruhe, den armen Menschen. Seht ihr denn nicht, daß sie ihm das ganze Knochenmark hinausgesogen haben …« — erst dann bequemte sich Foma zu einer Bemerkung.

»O ihr Leimtöpfe! Was wißt ihr schon, was zweihundertneununddreißig Weiber auf einem Haufen bedeuten?! Mir wäre die Hölle mit ebenso vielen Teufeln lieber! Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich zu den Haselmäusen ins tiefste Loch verkrochen …«

Er war also nicht gerade begeistert von seiner neuen Aufgabe. Es war schwer zu verstehen, was es da zu klagen gab. War ihm doch die ehrenvolle Berufung zuteil geworden, als politischer Kommissar eine Spezialtruppe, die nur aus Frauen bestand, geistig zu betreuen. Aus jungen Frauen wohlgemerkt, Mädchen von ausgesuchter Klasse, hübschen, mutigen, kriegsbegeisterten Genossinnen, die aus allen Himmelsrichtungen zusammengezogen worden waren. Eine wahre Elite-Einheit, und Foma Igorewitsch klagte Stein und Bein und wünschte sich sogar die Hölle herbei!

Es war ihm zu schwierig und zu langwierig, den Kameraden zu erklären, was man so alles inmitten 239 bestens ausgebildeter, stramm trainierter und furchtloser Frauen erlebte. Daß er neben einem Instruktionsleutnant, einem Unteroffizier für die Waffen und einem nur sporadisch auftauchenden Inspizienten der einzige Mann war, der ständig unter diesen Mädchen leben mußte, war nicht einmal das Schlimmste. Der Leutnant, Victor Iwanowitsch Ugarow, ein Bürschchen von 25 Jahren mit braunen Kulleraugen, hatte es sofort der Kommandeuse der Truppe angetan, dem Kapitän Soja Valentinowna Bajda. Obgleich sie sechs Jahre älter war als Victor und zwei Dienstränge höher, teilten sie sehr schnell die Matratze miteinander und ließen sich eine schöne, dicke Tür zimmern, die im Troßwagen stets mitgeführt wurde, wohin man sie auch kommandierte. Bezog man eine neue Stellung und den Unterstand, wurde die Tür in den Eingang eingepaßt, und fertig war der überraschungssichere Chefbunker. Hinter der dicken Tür hörte man dann ab und zu die feurige Soja Valentinowna seufzen und röcheln, aber man gönnte ihr das Vergnügen. Ihr Mann war schon 1941, gleich zu Beginn des Krieges, gefallen, und einer Witwe, die weiß, was ein Mann zur rechten Zeit wert ist, kann man ihr täglich Brot nicht verbieten.

Der Leutnant war also schnell versorgt. Der Waffen-Unteroffizier war ein älterer, griesgrämiger Mann, der neben seiner Pritsche das Foto einer dicken Frau mit sieben Kindern stehen hatte, immer und überall erzählte, daß er Sehnsucht nach Marusja habe und sogar einmal mit hochrotem Kopf flüchtete, als ihn eine Gruppe von Mädchen in die Banja gelockt hatte, wo ihn zehn nackte knackige Leiberchen umtanzten. Nur einmal wollte er sich mit der drallen Dusja einlassen, verkroch sich mit ihr in einem Heuschober, ließ tatsächlich seine Hose fallen, aber dann war die seelische Aufregung und Belastung so groß, daß er erschüttert die Hände über sein willenloses Zipfelchen legte. Dusja bog sich vor Lachen, schaukelte ihre Brüste vor seiner Nase und kreischte: »Da hat ja ein Floh einen härteren Stachel!« und ließ den armen Alten allein im Heu zurück. Foma Igorewitsch hatte alle Mühe, den Unteroffizier daran zu hindern, sich mit einem Messer eigenhändig zu kastrieren.

Der Inspizient war ein Feigling. Wie alle anderen Männer drückte er sich hinten in der Etappe herum und verwaltete die Mädchen wie Schuhkartons. Kam er doch einmal zur Truppe, war er hochnäsig und arrogant, mäkelte an allem herum, beklagte den nach seiner Ansicht zu hohen Verschleiß an Schlüpfern und Büstenhaltern und ließ sich peinlich genau vorrechnen, wie viele Monatsbinden die Truppe benötigte.

Verständlich, daß von solch einem Widerling keinerlei Ausstrahlung ausging. Foma Igorewitsch behauptete, der Grund für das abstoßende Benehmen dieses stocktrockenen Genossen sei die pure Angst. Von einer ähnlichen Elite-Einheit ging das Gerücht, daß dort ein Kommissar allen Freuden so aufgeschlossen war, daß man ihn in ein Krankenhaus bringen mußte, weil er sonst ganz einfach ausgetrocknet wäre.

Foma Igorewitsch erging es anders. Man achtete ihn als politischen Kommissar, hatte ihn offenbar als geschlechtslos eingestuft und benutzte ihn als Beichtvater, und das war das Fürchterlichste von allem!

Hinzu kam, daß die Einheit von Kapitän Bajda eine ganz besondere Einheit war — die Auswahl einer Auswahl, das Beste vom Besten, die Mutigen der Mutigsten: Scharfschützinnen, die eine Kopeke auf hundert Meter von einem Flaschenhals schießen konnten.

Als Foma Igorewitsch dieses Kunststück zum erstenmal sah, wünschte er sich, nie mit einem solchen Mädchen in Streit zu geraten. An Eifersucht wagte er gar nicht zu denken. Als einziger noch verfügbarer Mann hatte er das Gefühl, als seien ständig 239 Gewehrläufe auf ihn gerichtet.

Genossen, es sei zugegeben, da muß ein Mensch Nerven haben!

Wenn Foma Igorewitsch bei seinem Urlaub solche Dinge erzählte, herrschte allenthalben großes Staunen. Und um das Ganze noch zu dramatisieren, sagte er beiläufig: »Ach, liebe Brüder, ich muß ja schweigen. Alles ist ein großes Geheimnis. Wenn ihr wüßtet …« Er blinzelte dann mit den Äuglein und tat sehr verschlossen. »Es geschehen da Dinge, ich sage es euch, die ich tief in meinem Herzen vergraben muß. Vielleicht wird man nach dem Sieg mehr von uns hören … vielleicht aber auch nicht. Es ist schon eine besondere Aufgabe, die ich zu bewältigen habe.«

Seit drei Wochen war er nun wieder an der Front, hockte in einem nassen Erdbunker und wartete auf den Einsatz. Die Mädchen exerzierten, bastelten Puppen und Sterne und andere Figuren für das Weihnachtsfest oder den Tag von »Väterchen Frost«, aus Holz und Stroh, bunten Lappen und bemaltem Papier, langweilten sich oder hörten Radio. Bei jeder Siegesmeldung aus Stalingrad jubelten sie, verfolgten an einer großen Karte die Fortschritte der Roten Armee, und Foma Igorewitsch — als politischer Kommissar dafür zuständig — nahm die Gelegenheit wahr, hielt Vorträge über den Mut der Soldaten und den teuflischen Charakter der Deutschen und prophezeite, daß man die Aggressoren noch in diesem Winter wie die aufgescheuchten Hasen aus Rußland fortjagen würde.

Endlich dann kam die Erlösung vom Etappendienst. In der Nacht wurden sie mit Schlitten in die vorderste Linie gebracht, besetzten ein langes Grabenstück und mehrere Erdbunker und beobachteten die Deutschen, bis Leutnant Ugarow verkündete, das da drüben seien ja gar keine Njemtsi, sondern Italiener.

Das hob die Stimmung gewaltig. Zum erstenmal in ihrem Leben ergab sich hier für die Mädchen Gelegenheit, Italiener kennenzulernen! Wer kommt denn schon von Ust-Balaisk oder Karaganda, von Tschemlaki oder Tasskan nach Rom oder Venedig? Wer kann sich das leisten? Alle kannten sie Italien nur von Zeitschriftenfotos, ein prächtiges Land mußte es sein, in dem fröhliche Menschen und vor allem viele schöne Männer lebten.

Den Krieg vergaßen die Frauen über solchen Gedanken allerdings nicht. Schanna Iwanowna Babajewa war die erste, die in ihr Schußbuch einen neuen Strich eintragen konnte: Kaum fünf Stunden in der vordersten Linie, sah sie einen Feind, der damit beschäftigt war, ein Vorpostenloch zu vergrößern und sich dabei ziemlich unvorsichtig benahm. Es war in der Abenddämmerung, die Erdbrocken flogen durch die Luft, ab und zu tauchte der Spaten auf, dann der Kopf, mal die Schulter. Wie ein Maulwurf wühlte sich der Mann in den tiefgefrorenen Boden.

Schanna Iwanowna beobachtete den fleißigen Burschen, nahm seinen Hinterkopf ins Visier und zog den Zeigefinger durch. Er war der erste Scharfschützentote im Gebiet von Tschjertkowo.

Bei einem Becher heißem Tee wurde der Volltreffer in das Buch eingetragen. Schanna war stolz und glücklich. Sie war erst achtzehn, hatte kleine, schwarze Locken wie ein Karakulschaf, runde dunkle Kulleraugen und ein wahres Madonnengesicht. Aus Tompa, einem Flecken am Baikalsee, stammte sie, hatte dort eine Schafherde gehütet und wäre wohl ihr Leben lang auch Hirtin geblieben, wenn man in Nishnij Angarsk nicht von ihr gehört hätte. Dort, in der nächstgelegenen größeren Stadt, wurde von einer Schafhirtin berichtet, die Wölfe und Adler, Füchse und Schneehasen abschieße, so daß sie aussähen, als habe sie der Herzschlag getroffen. Kein Loch im Fell … jeder Schuß ins Auge oder mitten in die Stirn, dorthin also, wo ein Einschuß das Fell nicht beschädigt. Dabei besaß sie nur das uralte Gewehr, das sie von ihrem Großvater geerbt hatte, und das war ein Schießprügel, den jeder normale Mensch aus Angst, der Schuß fahre hinten statt vorne heraus, nicht einmal mehr angerührt hätte.

Man holte Schanna Iwanowna — sie war damals vierzehn Jahre alt und konnte weder schreiben noch lesen — nach Nishnij Angarsk, beobachtete sie, ließ sie auf eine Scheibe schießen und reichte sie weiter nach Irkutsk. Hier erkannte man ihre enorme Begabung, steckte sie in eine Internatsschule, machte innerhalb von drei Jahren einen äußerst klugen Menschen aus ihr und verlieh ihr das Ehrenzeichen der Komsomolzenschützen. Schanna Iwanowna traf eben einfach alles, worauf sie den Lauf ihres Gewehres richtete. Gerade siebzehn Jahre alt, schickte man sie schließlich nach Moskau auf die Zentralschule für weibliche Scharfschützen in Veschnjaki — eine höhere Ehre gab es kaum.

In Veschnjaki traf sie auch die anderen Mädchen — Marianka, Lida und Darja. Sie exerzierten auf dem Kasernenhof, schleppten auf knochenbrechenden Gewaltmärschen schwere Leinentornister durch Sonne und Schneetreiben, lernten, sich zu tarnen und einzugraben, sich in Büsche zu verwandeln, auf Bäume zu klettern und sich im Astwerk unsichtbar zu machen, lernten, in Sümpfen zu versinken und nur durch Schilfrohre zu atmen — es wurde ihnen nichts geschenkt. Wie den Männern in den Elite-Einheiten brachte man ihnen eiserne militärische Disziplin bei; sie wurden Nah- und Einzelkämpferinnen mit jenem eiskalten Mut, der alles Denken übersteigt, sie wurden Geschöpfe, die ihre Menschlichkeit vergaßen, sobald im Fadenkreuz ihres Zielfernrohrs ein Kopf auftauchte.

Als sie ihre Felduniformen erhielten und an die Front sollten, hielt die Kommandeuse der Zentralschule eine kurze Ansprache:

»Ihr seid als kleine dumme Mädchen hierhergekommen und seid inzwischen richtige Krieger!« rief Oberst Olga Petrowna Rabutina mit heller, trompetenhafter Stimme. »Disziplinierte, begeisterte, physisch und geistig gestählte Krieger! Ihr seid bereit, jedweden Befehl der Heimat auszuführen! Die Heimat hofft auf euch! Auf zum Sieg!«

Wirklich, sie waren alle sehr stolz. Man händigte ihnen die Schußbücher aus, harmlos aussehende Büchlein, die sich in die Tasche stecken ließen, mit lauter leeren Seiten, die den Ehrgeiz der Besitzerinnen herausforderten.

Ein Buch des registrierten Todes. Ein Taschenbuch der Erbarmungslosigkeit, des kalten Tötens; ein Buch, das der Kunst, ein Loch genau über die Nasenwurzel zu schießen, gewidmet war.

Ein Register von Blut und Tränen und sekundenschnellem Sterben.

Sie konnten alle aus jeder Lage und bei jedem Licht schießen, diese jungen, fröhlichen, hübschen Mädchen in den erdbraunen Uniformen, die jetzt an die Front gefahren wurden. Sie waren Freundinnen, und sie schworen sich, wenn möglich immer zusammenzubleiben und recht viele Deutsche zu töten. Die mit den besten Beurteilungen bildeten bald eine kleine Gruppe und meldeten sich bei Kapitän Soja Valentinowna Bajda und ihrem schmucken Leutnant Victor Iwanowitsch:

Marianka Stepanowna Dudowskaja, Schanna Iwanowna Babajewa, Darja Allanowna Klujewa, Lida Iljanowna Selenko.

Sie waren die Besten des Lehrgangs. Aber schon in Veschnjaki hatte es geheißen, daß es da noch ein wahres Schießgenie geben sollte, eine Weberin aus der Ukraine, zwanzig Jahre alt, ein richtiges Teufelchen, so sagte man. Als die Deutschen die Ukraine überrannten, hatte sie in Wäldern und Erdhöhlen gelegen, zusammen mit neun Männern die Straßen gesprengt, Lastwagen des deutschen Nachschubs überfallen, Minen gelegt, Versorgungslager angezündet, Spähtrupps, die nach Partisanen suchten, vernichtet und Benzinlager in riesige Fackeln verwandelt.

Sie war eine der wenigen, die ein Schußbuch besaß, als sie nach Moskau kam. Mit 24 beglaubigten Abschüssen. Die Tapferkeitsmedaille hatte sie auch schon. Aber das waren alles nur Gerüchte. Gesehen oder gesprochen hatte sie noch keiner, beim letzten Lehrgang in Veschnjaki war sie nicht dabei, und viele Mädchen nahmen die Geschichten nicht ernst und meinten, man habe diese Frau nur erfunden, um die Truppe anzuspornen. Auch als der Name bekannt wurde, blieb man skeptisch. Was ist schon ein Name?

Wie hieß die Genossin aus der Ukraine? Stella Antonowna Korolenkaja?

Wenn es sie wirklich gibt, wird man ja bald etwas von ihr hören müssen.

Der Name geriet schnell in Vergessenheit — der Alltag an der Front fesselte die Aufmerksamkeit der Mädchen. Kapitän Soja Valentinowna war auf eine Idee gekommen, über die man herzlich lachte, obgleich es sich um ein gefährliches Spiel mit dem Tode handelte. Aber während der öden Warterei auf die kommende große Offensive war es eine nervenkitzelnde Abwechslung.

»Hört einmal zu!« hatte eines Tages die sonst so strenge Bajda gesagt. »Das Herumsitzen bekommt euch nicht. Ihr starrt Löcher in den Himmel, denkt an … na, ich will’s nicht laut nennen — und höchstens mal zufällig seht ihr einen Feind und könnt beweisen, was ihr gelernt habt. Soll das so weitergehen? Nein, meine ich, wir sollten etwas unternehmen. Angreifen dürfen wir nicht, da haben wir ganz strenge Befehle, aber wir könnten für einige Unruhe sorgen.« Sie hatte sich im Kreise ihrer Mädchen umgeblickt und ein paarmal mit den Augen gezwinkert. Richtig fröhlich war sie geworden, die sonst so harte Soja Valentinowna. Ihre Idee schien sie zu begeistern. »Uns gegenüber, im Niemandsland, liegen, wie ihr wißt, neun feindliche Beobachter. Meistens sind es zwei Soldaten in einem Loch. Ich könnte mir denken, daß es ganz nett sein könnte, sie näher anzusehen …«

Die Mädchen lächelten verhalten. Was will die Bajda damit sagen? »Erklär es genauer, Genossin. Was heißt das: ›Näher ansehen‹? Sollen wir uns an die Posten heranschleichen und sie liquidieren?«

»Morgen kommt ein Lautsprechertrupp«, sagte Soja Valentinowna. »Genossen von der Propagandaabteilung. Und als ich daran dachte, kam mir plötzlich die Idee. Hört einmal zu …«

___________

In einem anderen Bunker hockten Leutnant Ugarow und Kommissar Foma Igorewitsch Miranski an einem aus Brettern gezimmerten Tisch und spielten Schach. Seit fast einer Stunde starrten sie auf die Figuren und kamen nicht weiter. Es war zum Verzweifeln.

»Mir gefällt das gar nicht«, sagte Ugarow plötzlich.

»Ganz meine Meinung. Brechen wir das Spiel ab«, pflichtete Miranski bei.

»Ich rede nicht von dem blöden Spiel.« Ugarow lehnte sich zurück an die Erdwand. »Ich denke an Sojas verrückten Plan.«

»Sie hat einen Plan?« fragte Miranski betroffen. »Was für einen Plan? Für Planungen bin ich zuständig!«

»Sie will Männer klauen …«, sagte Ugarow dumpf. Miranski vergaß, daß sein Knie unter dem Tisch war, zuckte hoch und warf das Schachspiel um.

»Höre ich richtig?« rief er erschrocken. »Victor Iwanowitsch, haben Sie vielleicht zuviel getrunken?!«

»Sie will Männer stehlen. So ganz einfach klauen …«

»Wo?« stotterte Miranski entgeistert. »Ist sie verrückt geworden?«

»Da draußen. Im Niemandsland.«

»Haben Sie Fieber, mein lieber Ugarow?« Miranski sah den Leutnant mitfühlend an. »Legen Sie sich hin, strecken Sie sich aus und trinken Sie eine Kanne Tee. Und schwitzen Sie kräftig. Nichts gegen die alten Hausmittel! Mein Großmütterchen wurde als Kind von der Diphtherie geheilt, indem man sie zwang, ihren eigenen Urin zu trinken.«

Ugarow sah Miranski mit zerquälter Miene an und schüttelte langsam den Kopf. »Begreifen Sie es doch, Foma Igorewitsch: Soja will die vorgeschobenen Posten des Gegners stehlen …«

»So einfach mitnehmen?« sagte Miranski, als spräche er mit einem gefährlichen Irren, der nur noch durch Sanftmut vom Amoklauf abgehalten werden kann. »Die Männlein in die Tasche stecken, was? Man nehme ein Säckchen mit und stopfe sie hinein. Ist doch ganz einfach, nicht wahr? Was erstaunt Sie dabei so, Victor Iwanowitsch?«

»Ich verstehe Ihren Spott, Foma Igorewitsch. Aber Soja meint es ernst. Sie will die Postenlöcher ausräumen. Lautlos und unblutig! Die Männer sollen bei der Ablösung einfach verschwunden sein.«

»Das ist doch blanke Idiotie!« rief Miranski aufgebracht, schlug mit den Fäusten auf seine Schenkel und hustete vor Erregung.

»Soja will die Männer herüberlocken.«

»Womit denn? Will sie ihnen Honig in die Hosen schmieren?«

»So ungefähr, Foma Igorewitsch. Seien Sie ehrlich: Bekämen nicht auch Sie einen Schock, wenn plötzlich zwei Mädchen vor Ihnen auftauchen, für einen kurzen informativen Blick die Bluse öffneten und zärtlich ›mio caro‹ flüsterten?«

»Was flüstern sie?« japste Miranski erschüttert.

»Vielleicht auch ›caro mio‹ — was weiß ich! Uns liegen die Italiener gegenüber. Soja meint, diese ›mio caro‹ samt Blick auf die Brust genüge, alle feindlichen Gedanken zu vertreiben. Ehe sie sich von ihrem Erstaunen erholt haben, bekommen sie — meint Soja — einen Schlag auf den Kopf und werden geklaut.«

»Wieso geklaut?« fragte Miranski. Seine Augen zuckten nervös.

»Die Überrumpelten werden mitgebracht.«

»Zu uns? Hierher?«

»So ist es.«

»So ist es nicht!« schrie Miranski außer sich. »Was sollen wir mit busenbetörten Italienern?!«

»Sie sind normale Kriegsgefangene, Foma Igorewitsch. Sie werden abtransportiert. Nach Sojas Ansicht wird die Aufregung auf der gegnerischen Seite ungeheuer sein. Kein Kampf, kein Schuß, keine Spuren … man wird sie für Überläufer halten! Das gibt böses Blut und ein großes Rätselraten. Die Moral wird angekratzt.«

Miranski schüttelte den Kopf. Ein verrücktes Luder, diese Soja, dachte er. Warum muß ich das erdulden, warum werde ich so hart bestraft? Was habe ich vor Gott verbrochen, daß er mir 239 Weiber anvertraut?

»Es gibt keine Gefangenen«, sagte Miranski und seufzte tief. »Es darf keine geben, Victor Iwanowitsch. Ich vertraue es Ihnen an, weil Sie mit Soja im Bett liegen und mir dadurch viel helfen können: Ich habe den Befehl, keine Gefangenen zu machen! Niemand, der unseren Genossinnen begegnet, darf am Leben bleiben! Der Ukas ist glasklar: Eine Scharfschützenabteilung hinterläßt keine Lebenden!«

Leutnant Ugarow sah Miranski ernst an. »Darf ich das Soja Valentinowna sagen?«

»Ich gebe Ihnen da keinen Rat. Das müssen Sie von sich aus wissen, Victor.«

»Unsere Aufgabe heißt also nur ›Töten‹?«

»Ich dachte, Sie wüßten das. Es ist Krieg, und wir haben zu erfüllen, was man von uns erwartet. Wir müssen den Gegner vernichten und die Heimat befreien. Jeder kann Gefangene machen, Ugarow … nur wir nicht!« Miranski bückte sich und baute das Schachspiel wieder auf. »Damit ist der Plan der Genossin Bajda abgelehnt.«

Fast zur gleichen Zeit sagte Soja Valentinowna im Nebenbunker zu den ausgewählten Mädchen: »Es gehen immer vier. Zwei im Tarnzeug und mit Waffe als Feuerschutz, zwei in Rock und Bluse. Ihr werdet frieren, meine Lieben — aber der Erfolg ist ein wenig Zittern wert.«

In dieser Nacht wurden die Gefreiten Luigi Tarnozzi und Salvatore Uganti »gestohlen«.

Miranski schlief tief und ahnungslos auf seiner Pritsche, nachdem er Soja Valentinowna einen ausführlichen Vortrag gehalten hatte. Sie hatte genickt und gesagt: »Das ist einleuchtend, Genosse Kommissar!«, und Miranski war beruhigt und zufrieden.

Leutnant Ugarow saß zerknirscht im Befehlsbunker, als die vier Mädchen hinaus ins Niemandsland schlichen, und mußte sich von seiner geliebten Soitschka einen Feigling, einen rostigen Topf, einen verkümmerten Hahn schimpfen lassen.

»Er wird dich zur Bestrafung melden!« klagte er. »Wir alle kennen doch Foma Igorewitsch! Er ist ein eitler Schwachkopf! Er wird dir das nie verzeihen …«

Gegen zwei Uhr morgens schleiften die vier Scharfschützinnen die beiden italienischen Gefangenen den Laufgraben entlang zum Befehlsbunker.

Es war so leicht gewesen, die beiden Jungen zu überwältigen. Als Darja ihre Bluse aufriß, waren sie in ihrem Loch geradezu erstarrt und hatten fassungslos geglotzt. Wie dumme Schlachtkälber ließen sie sich ins Genick schlagen.

[]

Was macht man mit zwei Gefangenen, die man nicht haben darf?

Foma Igorewitsch schlief den Schlaf des Zufriedenen, aber wehe, wenn er aufwachte und bei seinem allmorgendlichen Rundgang durch die Stellungen auf die beiden Italiener stieß! Er würde brüllen, natürlich, das war sein gutes Recht, aber was kam dann? Verantwortlich war natürlich Soja Valentinowna Bajda; für sie war dieses Postenklauen nicht bloß eine verrückte Idee, sondern auch eine Kraftprobe mit dem Kommissar. Zwischen ihnen bestand schon lange eine heimliche Rivalität, genau gesagt von der Stunde an, da Miranski die politische Aufsicht über die weibliche Sondereinheit übernommen, sich vor den neugierigen Frauen aufgebaut und mit lauter Stimme verkündet hatte:

»Das Büro für politische Schulung begrüßt euch! Es genügt nicht allein, Kimme und Korn zu finden, sondern jeder Schuß muß auch von der Liebe zur Heimat beseelt sein! Mut ohne kommunistische Begeisterung ist wie Limonade, der der Zucker fehlt! Und was ist das? Fades Wasser! Wollt ihr fades Wasser sein? Ich bin gekommen, um euch für den Kampf zu begeistern.«

»Oje!« sagte damals der Kapitän Bajda. »Was haben wir da an den Rock geklebt bekommen! Seht euch das Männchen an. Und der soll uns begeistern — so ein räudiger Mäuserich!«

Es ist ja schon gesagt worden: Miranski hätte diese Weiber liebend gern mit der gleichen Anzahl Teufel ausgetauscht und hätte sich dabei wohler gefühlt. Was immer geschah, wo immer sie sich gerade aufhielten, ob in der Etappe, ob an der Front, ob in Stalingrad oder jetzt in der Steppe am Don — immer kam es Miranski vor, als renne er gegen eine Gummiwand, wenn er mit Soja Valentinowna zu tun hatte. Und er hatte mit ihr zu tun, täglich, stündlich, immer … Wenn er nur den Mund aufmachte, sah Kapitän Bajda ihn an, als spucke er Sonnenblumenkerne gegen ihre Brust.

Heute nun hatte aber auch Soja schwere Bedenken. Die beiden Gefangenen wurden in den Bunker des II. Zuges getragen und dort auf den Boden gelegt. Man nahm ihnen die Helme ab und öffnete die Uniformen über der Brust. Sie waren noch besinnungslos und sahen aus, als schliefen sie — zwei junge Burschen mit schwarzen Locken und kindlichen Gesichtern.

»Morgen früh, wenn der Genosse Kommissar erwacht, müssen sie weg sein!« sagte Soja Valentinowna gepreßt. »Ihr wart tapfer, habt eure Aufgabe hervorragend erfüllt, habt bewiesen, daß nichts euch aufhalten kann! Damit ist die Prüfung beendet.«

Sie nickte kurz, warf noch einen Blick auf die beiden Ohnmächtigen und verließ dann den Bunker. Draußen stand Leutnant Ugarow in der schneidenden Kälte und rang die Hände.

»Sie müssen gleich nach hinten!« sagte er aufgeregt. »Sofort! Je schneller, desto besser. Bringt sie zum Troß — dann sind wir sie los.«

»Es kommen heute keine Schlitten mehr.« Soja wandte den Kopf und starrte in die weite Steppe. »Erst morgen wieder …«

»Das gibt eine Katastrophe! Wir können die beiden doch nicht einen Tag lang verstecken!«

»Nein. Das geht nicht.« Die Bajda schob die Unterlippe vor. Auf der Pelzmütze, die ihr Gesicht umrahmte, glitzerten winzige Kristalle. Der Frost hatte ihr Antlitz gerötet, die leicht schräg gestellten Augen sahen Ugarow an. In ihrem Blick lagen Zärtlichkeit und Kälte. Victor Iwanowitsch hätte sich für diese Frau zerreißen lassen.

»Was wird aus ihnen?« fragte Ugarow ziemlich hilflos.

»Weiß ich es?« Soja Valentinowna legte den Arm um ihn und nickte zu ihrem Bunker hin. »Gehen wir, mein Bärchen …«

Ugarow stemmte die Beine in den vereisten Schnee. Aus dem Unterstand der Gruppe II schallte helles Lachen, in das sich plötzlich die Töne der Bajan, einer kleinen Knopfharmonika, mischten. Es war ein flottes Lied, das Ugarow zufällig kannte. Man sang es in den langen, kalten Winternächten, wenn man am knisternden gemauerten Ofen oder am Tisch in der Zimmerecke saß, wo sich die heiße Luft staute. Ein Lied, das an den Frühling erinnerte, an die ersten Blumen, das frische Wasser der Wildbäche, die ersehnte Wärme der Sonne. »Mädchen, heb dein Röcklein hoch — tanz mit nackten Beinen — bist so lustig wie ein Falter — der die ersten Blüten küßt …«

»Was ist denn das?« stotterte Ugarow. »Sind sie jetzt völlig verrückt geworden?«

»Es ist Marianka«, sagte die Bajda und legte Ugarow die Hand auf die Schulter. »Komm endlich. Es ist kalt.«

»Spielen sie den Gefangenen ein Liedchen vor?«

»Was kümmert’s mich?«

»Morgen früh müssen sie weg sein!« schrie Ugarow und schüttelte Sojas Hand ab. »Miranski wird auch mich zur Meldung bringen!«

Diese Meldungen nach hinten zum Regiment und zur Division waren gefürchtet. Man wurde zum Rapport bestellt, große Diskussionen gab es nicht. Alle Verstöße gegen die Norm waren Anschläge auf die Kampfmoral und wurden in die Papiere eingetragen. Man konnte auch degradiert werden oder in Gebiete versetzt, die weniger ruhig waren. Oder man erhielt zur Bewährung den Auftrag, sich hinter den feindlichen Linien im Gebiet von Orscha-Mogilew-Gomel den Partisanen anzuschließen und den deutschen Nachschub zu sabotieren. All das behagte Ugarow wenig. Er hatte nicht den Ehrgeiz, ein großer Held zu werden. Ihm genügte es, an der Front zu liegen. Er betrachtete sich als Glückspilz, weil ausgerechnet die Italiener seine unmittelbaren Gegner waren und keine rein deutsche Division oder gar eine SS-Brigade. Und außerdem war die tägliche Abwechslung in Sojas weichen Armen eine Vergünstigung, die er an keiner anderen Front erwarten konnte. Das alles stand auf dem Spiel, wenn Miranski aufwachte und die beiden Gefangenen sah. Vor Wut würde sich Schaum vor seinem Mund bilden; man hatte das schon oft erlebt. Foma Igorewitsch konnte sich so aufregen, daß jeder meinte: Nun fällt er gleich um! Der Schlag wird ihn treffen. Aber Miranski war ein zäher Bursche, auch wenn er nicht so aussah.

»Morgen früh sind sie weg«, sagte die Bajda fast tröstend.

»Aber es kommt doch kein Schlitten mehr!«

»Wozu brauchen wir einen Schlitten? Komm endlich, die Kälte kriecht mir in die Knochen!«

Ugarow zögerte, lauschte und hörte noch immer die Bajantöne. Einen Augenblick lang hatte er die Idee, einen Blick in den Unterstand zu werfen, um sich vom Zustand der beiden Gefangenen zu überzeugen. Aber Soja Valentinowna drängte ihn zu sehr, küßte ihn auf die Augen und griff ihm an die Hose, und diesem Argument hatte er nichts mehr entgegenzusetzen. Er wandte sich ab und folgte ihr in den Befehlsbunker mit der dicken, schalldichten Holztür. Die Hitze, die der kleine, runde Eisenofen ausstrahlte, war wie eine Wand, die man durchbrechen mußte. Soja zog Pelzmütze und Mantel aus, rieb sich das vereiste Gesicht mit einem Handtuch ab und entledigte sich nun auch der restlichen Kleidung. Als sie völlig nackt war und ihr herrliches, weißes, wohlgerundetes Körperchen ihn lockte, stieg Ugarow das Blut in den Kopf — und nicht nur dahin, und er vergaß vorübergehend die beiden Italiener.

Es war das beste, was Ugarow passieren konnte, denn wenn er seinen Auftrag gewissenhaft hätte ausführen wollen, dann hätte er mit einer Peitsche dreinschlagen oder gar seine Pistole ziehen müssen. Was im Bunker des II. Zuges geschah, war nicht mehr duldbar, selbst bei weitherzigster Auslegung des Ermessensspielraums, den er als Kontrolloffizier der Frauensondereinheit besaß.

Luigi Tarnozzi und Salvatore Uganti waren Freunde von Kindesbeinen an. Sie waren im gleichen Dorf — Sorvanola in Kalabrien — geboren, wuchsen zusammen in elender Armut auf und lernten nach den ersten selbständigen Schritten, daß das Leben nur ein erbitterter Kampf ums Sattwerden war, und daß die Existenzberechtigung in einem immerwährenden Feldzug gegen die Besitzenden und Reichen, gegen Beamte und Polizei stets von neuem ertrotzt werden mußte. Als sie neun Jahre alt waren, wurden sie zum ersten Mal eingesperrt, weil sie englischen Touristen, die am Dorfrand von Sorvanola zelteten, das ganze Gepäck gestohlen hatten. Mit zwölf Jahren verachteten beide die Schule und zogen in die Berge. Später arbeiteten sie in einem Steinbruch, glaubten dann, in der Stadt Reggio liege der Schlüssel zum Glück, gründeten dort eine Diebesbande, verschwanden noch zweimal hinter Gittern, traten dann — wie immer gemeinsam — der faschistischen Partei bei und trugen stolz ihre schwarzen Hemden. Als der Krieg sie rief, hatten sie das große Glück, in die gleiche Kompanie zu kommen, und nun wollte es das Schicksal, daß sie auch gemeinsam aus ihrem Postenloch gestohlen wurden.

Sie wachten auf, weil das kalte Wasser, das man ihnen über die Köpfe schüttete, ihren Körpern einen Schock versetzte. Sie schnellten hoch, starrten verwirrt um sich und begriffen erst, als sie die sowjetischen Uniformen erkannten, wo sie sich befanden. Instinktiv rissen sie die Arme hoch, um sich zu ergeben.

Helles Lachen brach über sie herein. Ein paar Hände griffen zu, rissen ihnen die Uniformröcke weit auf, griffen in ihre Haare. Man zog ihre Köpfe nach hinten und ließ den Schein der Petroleumlampe voll auf ihre Gesichter fallen. Tarnozzi und Uganti blinzelten in das Licht. Mädchen! Verdammt ja, das sind ja Mädchen. Tauchten plötzlich vor dem Postenloch auf, öffneten die Bluse … mamma mia, auf alles war man in der vordersten Linie gefaßt, aber nicht darauf, von nackten Brüsten erstürmt zu werden. Wo war man jetzt? Von den Weibern gefangen? In einem russischen Unterstand? Madonna, was wird aus uns?

Mit angsterfüllten Augen starrten sie die Mädchen an, die einen Kreis um sie bildeten und aufgeregt schnatterten. Ein dralles Weibsstück kniete sich neben sie, riß ihnen die Hemden vom Körper und grinste sie aus ihrem breiten, asiatischen Gesicht an.

»Seht nur, wie schön sie sind!« rief Naila Tahirowna und streichelte Uganti das Gesicht. »Wie jung und kräftig! Soll man so etwas verkommen lassen? Man hat mir von Kindesbeinen an eingetrichtert: Keine Milch ist so sauer, daß man sie nicht doch trinken könnte! — Seht euch das an!« Mit behenden Fingern knöpfte sie Tarnozzi die Hose auf, zog sie etwas herunter und legte ihre breite, feste Hand auf seinen Unterleib. »Ha, da klopft es wie in einer Hammermühle!«

Tarnozzis Körper verkrampfte sich. Entsetzen stieg in ihm hoch und würgte ihn. Uganti erging es ähnlich; er faltete plötzlich die Hände vor der nackten Brust.

»Bitte …«, sagte er auf italienisch. »Bitte …« Und dann auf deutsch, weil er gehört hatte, daß viele Russen deutsch verstehen: »Bitte … wir armes Soldat … Nicht töten … Wir froh … Krieg kaputt … bitte …«

Schanna Iwanowna hockte sich vor ihn und sah ihn mit brennenden Augen an. Neben ihr kniete Lida. Sie war eine Studierte, hatte fünf Semester Zahnmedizin in Odessa studiert und konnte sehr gut Deutsch. Sie befand sich in der Ausbildung der »Osoaviachim«, der »Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung«, als die Deutschen Odessa eroberten. Lida, als gute Schützin bereits mit der Medaille »Woroschilow-Schütze« dekoriert, erschoß im Nahkampf neunzehn Deutsche und wurde, wie alle ihre Kameradinnen, in die Zentralschule nach Veschnjaki geholt. Es gab — vom Fallschirmspringen bis zur Panzerbekämpfung — nichts, was Lida nicht konnte.

»Seid tapfer«, sagte Lida Iljanowna langsam und deutlich. »Wir alle müssen sterben.«

Ugantis Mundwinkel begannen zu zucken. »Nicht sterben«, stammelte er. »Bitte — warum sterben?! Wir Gefangene … Krieg aus …«

»Der Krieg wird nie aus sein«, sagte Lida hart. »Nicht, solange auch nur ein einziger deutscher Soldat auf russischem Boden steht!«

»Wir sind Italiener!« schrie Tarnozzi. Er krümmte sich. Nailas dicke Hand knetete sein Geschlecht, als wolle sie es auswringen. »Italiener!«

»In deutscher Uniform …«

»Man hat uns gezwungen …«

»Das sagen sie alle!« Lida erhob sich. Ein anderes Mädchen beugte sich über Uganti, riß an seiner Hose, und dann wimmelte es plötzlich von Mädchenköpfen und zugreifenden Händen, die Stiefel wurden ihnen von den Füßen gezerrt, die Hosen weggerissen, die Unterwäsche zerfetzt — und eine Harmonika begann zu spielen. Gelächter umbrandete die beiden. Sie lagen flach auf dem Rücken, kalte, aber wieselschnelle Finger spielten an ihnen, und während das Entsetzen, vermischt mit irrwitziger Hoffnung, in ihnen blieb und sie lähmte, wuchs, von jedem Willen unabhängig, ihre Männlichkeit, begleitet von begeisterten Rufen und regelrechtem Beifallklatschen.

Die dicke Naila Tahirowna war die erste, die das Angebot nutzte. »Ist das nicht ein Stierchen?« jubelte sie und schwang sich über Tarnozzi. »Geträumt habe ich davon seit Wochen! Der Satan hole Foma Igorewitsch und seine Vorschriften! Ein kastrierter Esel ist er! Ha! Das geht mir in die tiefste Seele …«

Sie beugte sich über den starren Tarnozzi, hieb ihm ihre dicken Brüste ins Gesicht und erstickte ihn fast zwischen ihrem massigen Fleisch. Die Mädchen schrien »bravo«, klatschten rhythmisch in die Hände, Marianka Stepanowna spielte auf ihrer Bajan eine flotte Melodie. Es war ein Höllenlärm, der sich noch steigerte, als Naila in eine rasende Wildheit verfiel und Tarnozzi überall hinbiß, wo sie ihn erreichen konnte.

Uganti, an Beinen und Armen festgehalten, hatte keine Gelegenheit, sich über dieses infernalische Spiel zu wundern. Über ihn kam wie ein Wirbelwind die kleine Antonina, ein schmalhüftiges, spitzbrüstiges Teufelchen aus Ulan-Ude, nahm mit einem hellen Schrei von ihm Besitz, stieß dann bei jeder Bewegung einen schrillen Ton aus und zerkratzte ihm mit fiebernden Fingern das Gesicht. Uganti bäumte sich unter ihr auf; er spürte nicht das Blut, das aus den Kratzwunden über sein Gesicht floß, ja nicht einmal den Schmerz. Da war nur dieses verrückte, süße Gefühl in seinen Lenden, er sah das schmale, schöne, olivhäutige Gesicht des Mädchens, hörte es in völliger Verzückung schreien und im Hintergrund Musik und Gesang. Für Augenblicke vergaß er, wo er sich befand und was man mit ihm machte. Er spürte nur Antonina, ihren zuckenden schmalen Körper und ihren engen Leib, aber als er die Arme hochreißen und ihre Brüste umklammern wollte, merkte er, daß er auf dem Boden festgehalten wurde und nichts anderes war als ein Pfahl, an dem man sich rieb.

»Anfassen wirst du uns nicht!« sagte eine helle Stimme hinter seinem Kopf. Er verstand sie nicht und hätte auch nicht darauf geachtet, weil Antonina in diesem Moment vornüberkippte und das Gesicht an seiner Schulter barg. »Was glaubst du, was du bist? Uns berühren? Ein junger Hengst willst du sein? Das wird dir noch vergehen!«

Tarnozzi stöhnte leise auf, als Naila von ihm rutschte und ein anderes Weib sich seiner bemächtigte. Er hob etwas den Kopf, starrte mit flackernden Augen um sich und erkannte im trüben Schein der Petroleumlampe, daß noch viele nackte Mädchen im Raum waren und lachten und sangen. Einige hielten Uganti fest, auf dem sich ein Weib bewegte, als wolle es ihn in den Boden stampfen.

Ein heißer, stechender Schmerz durchglühte ihn. »Du Satan!« keuchte das Mädchen, dessen Schenkel ihn jetzt umklammerten. »Sieh mich an. Ich will dir zwischen die Augen spucken!« Und wirklich spuckte sie ihn an, der Speichel lief ihm über die Nase zum Mund, aber ihr Leib brannte auf ihm, und sie benahm sich, als wolle sie sich selbst mit seinem Dorn zerhacken.

O Gott, dachte Tarnozzi und schloß die Augen. Was hat man mit uns vor? Sie werden alle über uns kommen, der Reihe nach, ich weiß nicht, wie viele es sind, vielleicht werden es immer mehr, aus allen Bunkern kommen sie her, eine ganze Kompanie toller, geiler Weiber. Aber einmal ist das mit uns vorbei, da geht es dann nicht mehr, das ist ja ganz natürlich, das läßt sich nicht vermeiden. Was werden dann die anderen tun, die gewartet haben und sich nun betrogen fühlen? Ob man uns hier versteckt? Ob wir hier festgehalten werden als männliche Huren für ein Frauenbataillon? Salvatore, ist das eine Gefangenschaft! Wird das ein fröhlicher Krieg! Uganti und Tarnozzi, die Wetzsteine vom Don! Wenn wir dadurch überleben können … nur ran, ihr geilen Täubchen. Ihr sollt nicht enttäuscht werden. Nur ein bißchen Luft müßt ihr uns gönnen, ein Atemholen, die Natur funktioniert nicht einfach auf Befehl.

Die Nacht war fürchterlich. Ein paarmal Übergossen die Mädchen ihre schweißbedeckten Gefangenen mit Wasser, als diese ermattet zu nichts mehr fähig waren. Dann rieb man sie mit harten Tüchern ab, gab ihnen einen süßen Honiglikör zu trinken und bearbeitete ihre Körper mit so viel Zärtlichkeit und Ausdauer, daß — wundersam genug — immer noch einmal ein Strom von Kraft in ihre Lenden floß.

Beim Morgengrauen brach die Harmonikamusik ab. Die Mädchen trugen wieder ihre Uniformen, die schönen Körper verschwanden in plumpen Filzstiefeln und weiten, unförmigen Steppjacken. Uganti und Tarnozzi lagen röchelnd und mit geschlossenen Augen auf der Erde. Ihre Lider flatterten vor Erschöpfung. Ihre Leiber waren von Schlägen, Kratzern, Bissen und Kniffen entstellt. Mit halbgeöffneten Mündern lagen sie da, und allein der Gedanke an den Anblick der nackten Naila Tahirowna erzeugte ohnmächtige Angst in ihnen.

»Morgen …«, sagte Uganti mit schwerer Zunge. »Bitte … morgen …«

Naila Tahirowna schüttelte den Kopf. Mit erstaunlich leichten Schritten ging sie auf Uganti und Tarnozzi zu, gab jedem einen kräftigen Tritt in die Seite und schob dann die rechte Hand, die sie bisher auf dem Rücken gehalten hatte, vor. So schwach er war, hatte er doch noch genügend Kraft, um an die Bunkerwand zu kriechen und dort die Hände zu heben. Die Pistole, die Naila auf ihn gerichtet hatte, folgte ihm. Uganti kroch auf die andere Seite, schlug die Hände vor sein Gesicht und begann laut zu schluchzen.

»Aber warum denn?« stammelte Tarnozzi. »In zwei, drei Stunden können wir doch wieder. Ihr könnt uns doch nicht einfach erschießen, jetzt … wo das alles passiert ist … bitte …« Er hob flehend die Hände, Tränen rannen über sein Gesicht.

»Tischje!« sagte sie hart. »Es ist Krieg! Warum willst du noch eine Stunde leben? Miranski erschießt dich doch! Hast mir gut getan, mein Liebling, mein junges Stierchen … aber nun ist es vorbei.«

Tarnozzi wollte noch etwas sagen, als er das Mündungsfeuer sah. Eine Faust schlug gegen seine Stirn — mehr spürte er nicht. Mit offenem Mund schleifte er an der Wand entlang und fiel auf die Erde. Uganti schrie auf, hell und herzzerreißend. In sinnloser Gegenwehr schnellte er sich von der Wand ab, dem weißhäutigen, nackten Ungeheuer mit den großen Birnenbrüsten entgegen. Aber Naila Tahirowna war schneller, die Pistole in ihrer Hand hüpfte nur einmal kurz nach oben, und Salvatore Uganti wurde zurückgeschleudert, breitete die Arme weit aus und war schon tot, als er die Erde berührte.

Mit aller Ruhe zog sich Naila an, stülpte zum Schluß die Pelzmütze über ihr schwarzes Kraushaar und verließ den Bunker. Sie nickte ein paar Kameradinnen, die im Graben standen, zu und ging zum Befehlsunterstand, um Kapitän Bajda die Meldung zu bringen, daß alles getan worden sei.

Luigi Tarnozzi und Salvatore Uganti wurden zu einem bereits zuvor ausgewählten Granattrichter geschleift, hineingeworfen und mit ein paar Schaufeln Erde bedeckt. Nötig war das im Grunde nicht — im klirrenden Frost erstarrten die nackten Leichname sofort, in den Trichter blickte niemand hinein, und wenn der Frühling kam und die Sonne die beiden Toten wieder auftaute, war man längst an einer anderen Stelle der Front, jagte die Deutschen vor sich her gen Westen und konnte es den hinteren Aufräumkolonnen überlassen, die beiden nackten Körper zu begraben.

Froh gelaunt und ausgeschlafen machte am Morgen Kommissar Miranski seine Inspektionstour durch den Kompaniebereich. Er fand alles in bester Ordnung, die Mädchen nickten ihm freundlich zu, von einem geklauten deutschen Posten war nichts zu sehen.

»Meine Warnung hat doch gewirkt«, sagte er später beim Tee zu Leutnant Ugarow. »Die richtigen Worte muß man finden — das ist es! Sie haben den Blödsinn mit dem Postenklauen aufgegeben. Ha, ich hätte ihnen auch eingeheizt! Und wie! Den Genossen General Kitajew hätte ich alarmiert! Wie gut, daß sie klug geworden sind!«

»Was sollten sie auch mit den Posten?« erwiderte Ugarow scheinheilig. »Zwei Gefangene, was haben wir davon?«

Er dachte an die Dinge, die im Bunker II geschehen sein mochten. Die Haare konnten einem dabei zu Berge stehen. Er griff unter seine Pritsche und holte das Schachbrett hervor.

»Eine Partie, Foma Igorewitsch? Das lenkt ab …«

Miranski schlürfte seinen Tee und nickte.

»Haben Sie in der Nacht auch Musik gehört?« fragte er plötzlich. Ugarow war es, als rutsche ein Stück Eis seinen Rücken herunter.

»Musik? Nein! Wo denn? Hier?« Um Miranski nicht anschauen zu müssen, baute er mit übertriebener Gewissenhaftigkeit die Schachfiguren auf.

»Ich weiß nicht. Mir war es so. Konnte von drüben kommen! Diese Italiener — Musik ist für sie dasselbe wie für uns ein Schluck Wodka! Sollen sie ruhig fröhlich sein — in ein paar Tagen gibt es sie nicht mehr! Wir werden über sie hinwegrennen wie über Erdwürmer. Victor Iwanowitsch, Sie haben den ersten Zug!«

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Der gute Miranski wurde also mit weiblicher List übertölpelt. Noch dreimal stahl ein Kommando die vorgeschobenen italienischen Posten, aber am Morgen waren alle Spuren verwischt, die Gefangenen verschwunden. Nur Leutnant Ugarow lief mit zerfurchtem Gesicht herum, sah blaß und kränklich aus, klagte über Kopfschmerzen und flehte in jeder Nacht die Bajda fast auf den Knien an, diesen Irrsinn aufzugeben. Ugarow atmete geradezu auf und hätte sich beinahe zu einem Freudentänzchen hinreißen lassen, als Schanna, Lida und Darja den erfolgreichen Abschuß der drei deutschen Offiziere meldeten. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben, so etwas nahmen die Deutschen nicht so einfach hin — und das wiederum bedeutete, daß das Postenstehlen beendet war.

Miranski hielt eine Ansprache und beglaubigte dann den Erfolg im Trefferbuch.

Lida Iljanowna Selenko — 24 Treffer. Schanna Iwanowna Babajewa— 29 Treffer. Darja Allanowna Klujewa — 29 Treffer.

»Ihr werdet noch alle ›Heldinnen der Sowjetunion‹!« sagte Miranski stolz. »Wißt ihr, daß wir die beste Abteilung sind? Bald wird uns ganz Rußland kennen! Morgen oder übermorgen, genau weiß ich es nicht, kommt übrigens eine berühmte Genossin zu uns: Stella Antonowna Korolenkaja. Wenn das keine Ehre ist! Sie kommt direkt von der Brjansker Front! 41 Treffer soll sie haben, heißt es! In so kurzer Zeit. Sie ist ja gerade erst aus Moskau gekommen! Na, wir werden sehen. Fällt euch was auf, meine Lieben? Wenn Stella Antonowna zu uns kommt, müssen hier in Kürze große Dinge geschehen.«

»Ich kenne sie.« Schanna Iwanowna verzog das Gesicht, als habe man ihr Essig in den Teebecher getan. »Stolz soll sie sein! Wie eine Privilegierte benimmt sie sich. Ein Streichelkindchen der hohen Genossen! Wie war’s in Veschnjaki! Alle wußten, daß sie wie wir auf der Schule ist, aber keiner hat sie je gesehen. Nur haben wir jede Woche zu hören bekommen, daß sie schon wieder alle Treffer gehabt hat! Auf dem Schießstand haben sie geklatscht! Stella Antonowna kann einer Spinne die Spinndrüse wegschießen, so präzise trifft sie! Immer Stella Antonowna! Wenn das so weitergeht, wird man ihr bald ein Denkmal setzen! Und einmal habe ich sie auch gesehen, ganz zufällig. Komme ins Krankenrevier, um mir ein paar Tabletten gegen das Sodbrennen zu holen. Da steht eine rum, kleiner als ich, mit blonden Locken, hellblauen Augen — ein Püppchen, denke ich, sieh an, so eine hält sich der Kapitänarzt für seine Nächte, ein richtiges Spielzeug, mehr nicht. Und wie sie dasteht, die Hände auf dem Rücken, die runden Brüste vorgestreckt, denke ich bei mir, mehr kannst du wohl nicht, du dumme Gans, als mit den Äuglein rollen und die Brüste durchs Hemd pressen, das gefällt den Kerlen. Und wie ich da warte auf meine Tabletten, kommt ein Feldscher und sagt: ›Du kannst jetzt reinkommen, Genossin Stella Antonowna. Die Röntgenbilder sind gut. Nichts gebrochen. Gratuliere!‹ — Da war ich wie vor den Kopf geschlagen, und sie geht an mir vorbei, lächelt mich an und bumm, ist die Tür zu. Das war also Stella! Ich frage später die Genossin Ärztin: ›Ist sie krank?‹, und sie antwortet: ›Die Genossin Korolenkaja ist gestern mit einem Fallschirm abgesprungen, der sich erst kurz über der Erde öffnete. Bei dem Aufprall sind alle Knochen zersplittert, denken wir, Gott befohlen, Stella Antonowna, du gehst nicht mehr herum. Aber was macht sie? Hat sich beim Aufprall abgerollt wie eine Katze, die vom Dach fällt, steht auf, streift die Gurte ab, rafft den Fallschirm zusammen, kommt auf uns zu und winkt fröhlich.‹ Später haben wir gehört, daß ihr ganzer Körper mit Blutergüssen übersät war. Aber sie geht herum und lächelt wie ein Osterlämmchen.« Schanna Iwanowna stellte ihren Becher ab und blickte in die Runde. Alle hatten ihr gespannt zugehört. »So eine ist das! Mit der werden wir noch allerhand erleben!«

In der übernächsten Nacht traf Stella bei ihrer neuen Truppe ein. Offenbar aus Rache für die Erschießung der drei deutschen Offiziere belegte die italienische Artillerie die sowjetischen Stellungen mit einem Granathagel. Es waren zwar nur leichte 7,5-cm-Geschütze, aber das Streufeuer genügte, um in den Gräben alles in Deckung zu halten. Die Schlitten, die sonst jede Nacht Verpflegung und Nachschub brachten, blieben hinten beim Bataillon hängen. Man mußte wieder Essenholer einsetzen. Das war oft ein Todeskommando — behängt mit Kochgeschirren oder einem auf den Rücken geschnallten Zinkkanister hetzten die Betreffenden, bei denen es sich meist um Freiwillige handelte, durch die Laufgräben oder über freies Feld zurück zu den Feldküchen, um für sich und ihre Kameraden die Verpflegung zu holen. Zweimal durch die Hölle … von Trichter zu Trichter springend … hinlegen … das tiefe Orgeln der Granaten abwarten … der Einschlag … dann weiter, weiter … bis das Rauschen über einem von neuem dunkler und dunkler wurde und wieder nur der Sprung in einen Trichter letzte Rettung bot. Man hatte inzwischen ein Ohr dafür und warf sich eingedenk der alten Frontweisheit, daß in das gleiche Loch keine zweite Granate schlägt, in die frischen, noch warmen Löcher.

Essenholen, das war ein Wettlauf mit dem Tod. Und oft genug wurde dieser Wettlauf verloren.

Vier Mädchen, die gegen drei Uhr morgens mit ihren Verpflegungskanistern auf dem Rücken wieder nach vorn zu den Bunkern robbten, brachten Stella Antonowna mit. Fast eine Stunde lagen sie in der Steppe fest, weil die gegnerische Artillerie sich auf dieses Gebiet konzentriert hatte. Immer und immer wieder hieben die Granaten in die Erde, spritzten die Erdfontänen hoch, surrten die glühend heißen Splitter durch die Nacht, blitzten sekundenlang grell die Einschläge auf.

Es war ein idiotisches Schießen, reine Munitionsvergeudung — außer einer Reihe Löcher im Boden brachte der Feuerüberfall nichts ein. Zwar wurde ein Grabenstück zerstört, aber es war unbesetzt. Die Mädchen hockten in den Erdbunkern, starrten auf die Stützbalken und die Bohlendecke und lauschten auf das dumpfe Orgeln der Granaten.

»Verrückt!« sagte Soja Valentinowna Bajda im Befehlsbunker. »Was haben sie davon? Wollen uns zeigen, wie stark sie sind? Lächerlich!«

Als das Artilleriefeuer nachließ, rannten die Mädchen aus den Bunkern und besetzten die Gräben. Nicht anders als die Männer lagen sie hinter ihren Maschinengewehren, die Handgranaten wurfbereit neben sich, die Scharfschützengewehre mit den Zielfernrohren durch die Deckung geschoben. Kommen sie jetzt? Greifen sie an? Idioten … ihre Artillerie hat viel zu weit geschossen.

Nach den donnernden Explosionen war es plötzlich still. So still, daß man den eigenen Atem hörte und jedes Klappern im Graben, jedes Stiefelknirschen und jeden Zuruf wie eine neue kleine Detonation empfand. Miranski lief durch den Graben und rief immerzu: »Alles in Ordnung? Keine Verluste? Glück gehabt, ihr Lieben! Tapfer! Tapfer!«

Die Mädchen beachteten ihn kaum. Sie brauchten keine aufmunternden Worte. Wenn sie den Schaft des Gewehrs in der Achsel spürten, wenn sie durch das Zielfernrohr starrten, wenn ihr Zeigefinger leicht gekrümmt am Abzugsbügel lag, gab es in ihnen keine Regung mehr. »Du bist das Gewehr, und das Gewehr bist du!« hatte Oberst Olga Petrowna Rabutina in Veschnjaki gesagt. »Das Gewehr ist euer ganzes Leben! Ihr habt kein Herz, und ihr habt kein Blut — ihr seid nur ein einziger Gedanke: Tod dem Feind! — Wenn unsere Heimat befreit ist, könnt ihr wieder Frauen sein, dann müßt ihr Frauen sein, denn das ist eure zweite Aufgabe! Aber bis dahin: Schlaft mit eurem Gewehr! Liebt es mit eurer ganzen Kraft!«

Was sollten da die dummen Sprüche von Miranski?

Leutnant Ugarow stand in einer Ausbuchtung des Grabens hinter einem schweren MG und rauchte nervös in die hohle Hand. Neben ihm hockte Darja Allanowna vor dem offenen Munitionskasten. Sie hatte die Patronengurte bereitgelegt. Neben ihr stapelten sich noch drei weitere Holzkästen mit Gurten. Auf sowjetischer Seite gab es keinen Munitionsmangel. Man hatte von allem genug: Genug Waffen und genug Menschen. Vor allem Menschen — und die unfaßbare Weite des Landes. Wer konnte Rußland besiegen? War es überhaupt besiegbar? Selbst wenn man den Ural überschritten hat, muß man in die Knie sinken und beten: Vor einem liegt Sibirien, da fängt die Unbegreiflichkeit dieses Landes erst an. Wer will die Unendlichkeit erobern?

Obwohl Darja Allanowna dem schweren Maschinengewehr DS 1939 zugeteilt war, lehnte ihr Scharfschützengewehr, das M 91/30 mit dem aufmontierten großen Zielfernrohr PE, griffbereit an der Grabenwand. Es gehörte zu ihr. Wo sie war, war auch ihr Gewehr.

»Die Essenholer sind noch nicht da!« sagte Miranski.

»Sie werden in der Steppe liegen.«

»Hoffentlich lebendig.«

»Man sollte nachsehen!« sagte Ugarow klug.

»Eben das wollte ich vorschlagen.« Miranski kaute an der Unterlippe, blickte hinüber zu der feindlichen Stellung und kratzte sich an der Nase. »Glauben Sie, daß die Italiener angreifen?«

»Nein! Dann wären sie schon da! Die Taktik ist doch immer die gleiche. Die Feuerwalze wandert weiter, die Artillerie hält alles nieder, und im Schutze des Granatenvorhangs stürmt die Infanterie.« Ugarow deutete nach drüben. »Aber nichts rührt sich.«

»Dann glauben Sie nicht, Victor Iwanowitsch, daß Sie heute noch mit dem MG schießen werden?« fragte Miranski vorsichtig. Er war ein listiger Mensch, einer, der zur Verblüffung aller immer hintenherum zum Ziel kam. Auch Ugarow lief ahnungslos in die offene Falle.

»Das ist ausgeschlossen, Foma Igorewitsch. Wenn sie jetzt erst aus den Gräbern kämen, wäre es Selbstmord.«

»Ich habe hier keine Befehle zu erteilen«, sagte Miranski, »es sei denn, es handelt sich um die Grundprinzipien des Kommunismus. Und um die Disziplin! Und bei diesem Gedanken, mein lieber Ugarow, kam mir die Idee, daß Sie der besorgten Genossin Bajda helfen könnten, indem Sie mal nachsehen.«

»Das hätten Sie auch einfacher ausdrücken können, Miranski.« Ugarow schob seinen weißgestrichenen Stahlhelm in den Nacken. »Gut! Ich kümmere mich um die Essenholer.«

Zehn Minuten später hatte Leutnant Ugarow in der Steppe den Trupp gefunden. Es waren vier Mädchen der Einheit Bajda, behängt mit Kochgeschirren und Blechkanistern auf dem Rücken. Sie hockten in einem großen Granattrichter und waren gerade dabei, eine verwundete Kameradin zu verbinden. Ein Splitter hatte ihre Schulter gestreift und war in den Kanister geschlagen. Nun saß das Mädchen mit aufgeschnittenem Uniformrock und einer dicken Lage Mull auf der Wunde da, aber mehr als die Verletzung ärgerte es sich darüber, daß das Essen ausgelaufen war.

Ugarow plumpste in den Trichter, rutschte die Wand herunter und landete neben dem Mädchen, das nicht zur Einheit gehörte. Obwohl die Frau eine dicke Steppjacke trug, sah man, daß sie groß und schlank war. Sie hatte die Pelzmütze abgenommen und wickelte gerade einen dicken Verband aus seiner Schutzhülle. Am Ansatz ihres schwarzen Haares begann der Schweiß zu kleinen Kristallen zu gefrieren. Große, dunkle Augen sahen Ugarow mißbilligend an.

»Sie Nilpferd!« sagte das schöne Mädchen. »Was spritzen Sie hier soviel Dreck herum! Sehen Sie nicht, daß jemand verletzt ist?!«

Ugarow war zu keiner Antwort fähig. Er starrte das Mädchen an und verzieh dem herrlichen Mund sogleich jedes Schimpfwort. Ihm wurde heiß unter dem Blick dieser schwarzglühenden Augen. Wortlos wandte er sich ab, sah sich um und entdeckte ein zweites unbekanntes Gesicht. Es war schmutzgrau, die Mütze war nach hinten gerutscht, eine Strähne hellblonder Haare fiel in die Stirn.

Das ist sie, durchfuhr es Ugarow. Das ist Stella Antonowna! Sie ist kleiner, als wir alle gedacht haben. Gerade mittelgroß. Wer sie so sieht, denkt sich: Na ja, ein unscheinbares Menschlein. Nicht jeder kann ein stolzer Schwan sein.

Ugarow trat auf sie zu, legte die Hand an den Helm und sagte mit jener vibrierenden Stimme, deren erotisierender Wirkung auf Mädchen er sich sicher war — selbst bei Soja Valentinowna, der erfahrenen Frau, hatte sie nicht versagt: »Stella Antonowna? Sie sind es, nicht wahr? Sofort habe ich Sie erkannt! Welch eine Unverschämtheit, daß der Feind Sie auf so unfreundliche Weise begrüßt.«

»Um ihm das abzugewöhnen, sind wir ja hier, Genosse Leutnant!« Ihre Stimme war hell und klar. Sie klingt, als habe man an eine Silberschale geschlagen, dachte Ugarow verzückt. Als jetzt eine andere dunklere und wärmere Stimme in seinem Nacken zu sprechen begann, zuckte er zusammen.

»Es ist schwer, den Krieg mit Männern zu gewinnen, denen das Gehirn ausgelaufen ist! Welche Funktion haben Sie, Genosse Leutnant?«

Ugarow drehte sich um. Das schöne schwarzhaarige Mädchen, dessen Anblick den Atem stocken ließ, putzte gerade an einem Mullknäuel ihre blutigen Hände ab. Auch ihr weißes Tarnzeug zeigte Blutflecken. Das verwundete Mädchen hockte am Trichterrand und trank in kleinen Zügen einen Becher Tee, in dem ein schmerzbetäubendes Mittel aufgelöst war.

»Ich bin der Verbindungsoffizier zwischen Frauensondereinheit und Regiment«, sagte Ugarow. Seine Stimme war belegt, als habe er zuviel Eiswasser getrunken.

»Sie haben uns also nichts zu befehlen?«

»Vor allem … zu beraten …«, stotterte Ugarow und wußte, daß sie ihn heillos in die Enge getrieben hatte.

»Dann wären Sie gut beraten, Genosse Leutnant, wenn Sie die verwundete Kameradin wegbrächten.« Sie hob den Kopf und hielt sogar, wie Ugarow beobachtete, den Atem an, als sie lauschte. »Der Artillerieüberfall ist vorbei. Wir bringen die Verwundete zurück zum Bataillonsverbandsplatz! Wenn wir uns beeilen, können wir beim Morgengrauen wieder in der Stellung sein!« Sie sah Ugarow mit feurigen Augen an. »Essen Sie gerne Fisch, Genosse?«

»Leidenschaftlich …«

»Dachte ich’s mir doch! Sie haben den gleichen stupiden Ausdruck wie ein Dorsch!«

Die Mädchen kicherten, Ugarow bekam einen hellroten Kopf, schluckte alles herunter, was ihm in der Kehle brannte, ging zu der Verletzten und stützte sie beim Aufstehen. Sie gab einen piepsenden Laut von sich, aber dann lächelte sie tapfer.

So lernte Victor Iwanowitsch Ugarow die der Sondereinheit zugeteilte Ärztin Galina Ruslanowna Opalinskaja kennen. Und konnte natürlich nicht ahnen, daß mit der Opalinskaja eine Menge heißer Probleme auf die Mädchen zukam.

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Die Begrüßung von Stella Antonowna durch Kapitän Bajda war kurz und — an dieser weiblichen Eigenheit änderte auch die Uniform nichts — voller skeptischer Neugier. Selbst erste Kritik fehlte nicht. Man gab sich die Hand, stellte einander vor, und Stella überreichte ihre Papiere, die Soja Valentinowna sogleich auf einen aus Knüppeln gezimmerten Tisch ablegte, ohne sie zu lesen. Sie wußte, was darin stand. Über das Feldtelefon hatte das Regiment die wesentlichen Informationen durchgegeben. Allerdings hatte man nicht erwähnt, wann Stella Antonowna in der HKL eintreffen würde. Allein schon diese Ausnahme verbitterte Soja. Wieso hatte sie Sonderrechte? Welcher mächtige Genosse in Moskau steht hinter ihr? Und warum hätschelt man sie so? Nur, weil sie über vierzig Deutsche abgeschossen hat? Weil sie bei jedem Schuß ins Schwarze trifft? Woher kam sie denn? Weberin hatte sie gelernt, bei ihrem Vater, der einen kleinen Betrieb in Fastow bei Kiew hatte. Die Ukraine war noch in deutscher Hand, aber Stella hatte trotzdem über den Nachrichtendienst der Partisanen erfahren, was inzwischen in ihrem Heimatort geschehen war: Das Haus mit der Weberei war verbrannt, der Vater war verschwunden; anscheinend hatten ihn die Deutschen erschossen und verscharrt. Die Mutter war in die Wälder geflüchtet und dort verschollen. Nur von Stellas Bruder Konstantin wußte man Genaueres: ihn hatte man auf dem Marktplatz von Fastow an einem eilends zusammengezimmerten Galgen aufgehängt, weil er in ohnmächtiger Auflehnung den Unteroffizier, der die Weberei des Vaters anzündete, mit Steinen beworfen hatte.

Zu ihrem Glück hatte sich Stella während des Überfalls der deutschen Truppen auf ihre Heimat gerade in Kiew auf einem Webereilehrgang befunden. Sie flüchtete weiter nach Gomel und trat dort einer Frauenwehrgruppe bei. Dort fiel sie rasch auf, weil ihre Augen die Fähigkeit eines Adlers entwickelten, sobald sie durch ein Zielfernrohr blickten. Schon bei ihrem ersten Einsatz gegen die scheinbar unaufhaltsam vordringenden deutschen Divisionen, die in der Anfangsphase des Krieges in großen Zangenbewegungen die Rote Armee an allen Fronten zerschlugen, erschoß Stella Antonowna mit ihrem Gewehr M 91/30 neunzehn Deutsche mit blitzsauberen Kopfschüssen. In den Sümpfen bei Ogorodnje lag sie sechs Wochen mit drei anderen Mädchen ganz allein einem deutschen Bataillon gegenüber, das man extra zur Säuberung des Gebietes zurückgelassen hatte. Die deutschen Divisionen eroberten Roslawl und Kiew, Brjansk und Orel. Ihre Panzer stießen in Richtung Moskau vor; es war ein Siegeszug ohnegleichen. Und inmitten dieser Schlachten, oft parallel zu den Straßen und den Rollbahnen, auf denen der deutsche Nachschub und die deutschen Divisionen vorrückten, wanderten Stella Antonowna und ihre drei Kameradinnen gen Osten, zurück zu jenen Teilen der Roten Armee, die immer wieder versuchten, sich in die Heimaterde festzukrallen, obwohl sie immer wieder von den Deutschen überrannt wurden.

Sie wanderten vier Monate durch besetzte Gebiete, schliefen in den Wäldern, in Höhlen, in ausgebrannten Häusern und in Granattrichtern, wo sie sich mit Erde bedeckten und über die Köpfe ein Zelttuch legten, auf das sie ebenfalls Erde schoben. Wenn wirklich jemand in diesen Trichter blicken sollte, waren sie unsichtbar — aber hinter der Front interessierte sich ohnehin niemand für ein Granatloch.

Viermal wurden sie von deutschen Streifen überrascht, und viermal löste Stella Antonowna kaltblütig das Problem. Ehe die Deutschen wußten, was sie da zwischen den umgestürzten Bäumen aufgestöbert hatten — es waren junge, hübsche Mädchen, soviel begriffen sie noch, wurden sie schon von den tödlichen Kugeln getroffen. Die Taktik der Mädchen war dabei immer die gleiche: Zwei von ihnen kamen langsam, mit hoch erhobenen Armen, auf die deutschen Soldaten zu. Es war heiß, sie hatten die Blusen bis zum Rockbund aufgeknöpft, und ihr Anblick mußte das Herz jeden Landsers erfreuen, auch wenn es Russinnen waren, denen man, vor allem in den Wäldern, mit Vorsicht gegenübertreten mußte. Die Ablenkung dauerte ein paar Augenblicke lang, aber sie genügten, um Stella und dem anderen Mädchen hinter den Bäumen ein gutes Ziel zu bieten.

Gewissenhaft trug Stella Antonowna ihre Abschüsse in das Trefferbuch ein. Die deutschen Soldaten blieben für ihre Truppe verschollen. Um keine Spuren zu hinterlassen, vor allem, um durch die sauberen Kopfschüsse den Deutschen nicht zu verraten, daß Scharfschützen in ihrem Rücken operierten — was unweigerlich einen großen Alarm ausgelöst hätte —, begruben die Mädchen die Toten sofort und schleiften zur Tarnung Äste über die frischen Gräber.

Als dann der Winter plötzlich hereinbrach und den Vormarsch der Deutschen erstarren ließ, als der Frost mehr Opfer forderte als die Waffen, als Schneestürme und 30 Grad Kälte die auf einen solchen Winter nicht vorbereiteten deutschen Divisionen geradezu lähmten und die sowjetische Führung an ein neues Wunder zu glauben begann, da durchbrachen Stella und eine Kameradin die deutsche Stellung und schlugen sich zu ihren eigenen Truppen durch. Zwei Mädchen blieben zurück. Sie gerieten in ein Streufeuer der sowjetischen Artillerie. Von den Splittern eigener Granaten zerrissen, wurden sie von Stella und dem anderen Mädchen noch verbunden und in eine verlassene Scheune geschleppt. Sie mitzunehmen, war unmöglich.

Stella saß zwischen den beiden Schwerverwundeten und starrte gegen die rissige Scheunenwand. Durch die breiten Ritzen der krummen, an die Pfosten genagelten Bretter trieb der Sturm eisige Kälte.

Sie werden zweifach sterben, dachte Stella, durch ihre Wunden und durch den Frost. Niemand kann ihnen mehr helfen. Wir aber müssen weiter, wir müssen zurück zu unseren Brüdern. Wir haben einen Auftrag übernommen, und den führen wir aus bis zum letzten Zittern unserer Hände: Tod den Deutschen!

Was soll mit euch werden, Schwestern!

Sie blickte hinunter zu der links neben ihr liegenden Verwundeten. Das Mädchen hatte die Augen geöffnet. Nur der Kopf ragte aus dem Stroh hervor, mit dem sie die Körper zugedeckt hatten und das nur einen sehr dürftigen Kälteschutz bot.

»Du mußt weiter, Stella …«, sagte sie stockend. Bei jedem Wort röchelte sie hohl. Auch die Lunge mußte verletzt sein.

»Ja. Wir müssen sofort weiter.«

Das Mädchen schloß die Augen und drehte den Kopf zur Seite. »Tu es«, sagte es leise.

»Was?«

»Du weißt es! Tu es, bitte … Um der Gnadenmutter willen, ich flehe dich an, tu es!«

»Du glaubst an Gott?« fragte Stella dumpf. »Du glaubst jetzt noch an Gott?«

»Ja. Gerade jetzt …«

»Wo ist dein Gott? Er läßt zu, daß man Rußland verwüstet, daß es verbrennt, daß Blut über Straßen, Wege, Felder und Wälder fließt! Da soll es einen Gott geben — noch dazu einen, von dem es heißt, er sei gerecht? Was haben wir getan, daß dein Gott uns so straft?! Katjuscha, sag, glaubst du auch an ein Weiterleben?«

»Ich glaube daran«, flüsterte die Verwundete. »Du tötest nur den zerrissenen Leib, nicht mich. Wir sehen uns wieder, Stellanka. Sei nicht so kindisch. Was ist schon das Sterben? Du rechnest ja selbst jede Minute damit. Und hast du Angst davor? Sei ehrlich …«

»Ich habe Angst.« Stella Antonowna ballte die klammen Finger verbissen zur Faust. Wir müssen weiter, dachte sie. Nur noch ein paar Werst. Die Front ist schon zu hören. Das ständige Donnergrollen der Kanonen. Wie nah wir sind, haben wir ja erlebt. Unsere eigene Artillerie hat uns getroffen! Und wir sitzen hier und reden über Gott. Ein vollkommen sinnloses Gespräch. Aber es scheint Katjuscha zu beruhigen.

»Ich habe keine Angst mehr«, sagte Katja kaum hörbar. Stella mußte sich zu ihr niederbeugen, um sie zu verstehen. Blutschaum trat auf die Lippen der Verwundeten und blähte sich bei jedem Wort. »Bin ich nicht schon tot? Gib mir die Hand, Stellinka.«

Stella wühlte im Stroh, bis sie Katjas eisige Hand gefunden hatte, und hielt sie fest. Von draußen herein kam das andere Mädchen, Tamara Fjodorewna. Ihre Kleidung war von Eiskristallen überzogen, vor ihrem Mund hing eine dicke, weiße Wolke. Sie lehnte sich an die Tür und drückte beide Hände gegen die Brust. Sie war gelaufen, als sei der Teufel hinter ihr her.

»Panzer …«, rief sie, unterbrochen von heißem Keuchen. »Die Straße ist voll von deutschen Panzern! Wir müssen weg! Sofort weg!«

»Du lebst wirklich weiter?« fragte Stella. Sie beugte sich über Katja, wischte ihr den Schaum vom Mund und streichelte ihr Gesicht. Die Verwundete verzog die Lippen; es sollte ein Lächeln sein.

»Ja, Stellinka.«

»Du schwörst es?«

»Ich schwöre es … Wir … wir sehen uns wieder … bestimmt … Ich … ich warte auf dich …«

In andächtigem Schweigen erhob sich Stella. Sie deckte Katja wieder mit dem Stroh zu, streichelte ihr noch einmal mit unsäglicher Zärtlichkeit über das Gesicht, küßte ihr die geschlossenen Augen und die Stirn und entsicherte dann mit dem Daumen das Gewehr. Tamara Fjodorewna an der Tür faltete die Hände und wandte den Kopf der vereisten Bretterwand zu.

Zwei Schüsse dröhnten. Dann stieß Stella die schluchzende Tamara an und riß die Tür auf. Der Eiswind schlug ihr ins Gesicht; sie duckte sich, zog den Kopf zwischen die Schultern und stürzte hinaus. Tamara folgte ihr auf dem Fuß, holte sie ein und riß sie am Oberarm herum.

»Warum hast du das getan?!« schrie sie gegen den heulenden Wind.

»Olga war schon tot — es war nur zur Sicherheit!« schrie Stella zurück. Ihr Gesicht schien zu zerfließen.

»Und Katja?!«

»Sie wird weiterleben. Sie hat ihren Gott! Das hat sie mir versprochen.« Sie riß Tamara an sich heran und schrie ihr ins Gesicht. »Soll ich sie krepieren lassen wie einen streunenden Hund?! Was sollte ich denn tun? Sag es mir, was sollte ich tun?«

Tamara gab keine Antwort. Von der Straße her hörten sie das Klirren und Klappern der anrollenden deutschen Panzer. Sie duckten sich und liefen im Schutz des Waldes weiter.

Vier Tage später fielen sie auf die Knie und weinten vor Freude, als sie in einem hügeligen Gelände plötzlich russische Laute hörten. Ein Spähtrupp der 2. Garde-Schützenkompanie durchkämmte das Gebiet.

Es war das erstemal, daß der Name Stella Antonowna Korolenkaja in einem Bericht des sowjetischen Generalstabs erwähnt wurde.

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Mehr als die Ankunft Stellas an der Front beschäftigte Soja Valentinowna die ungewöhnliche Hilfsbereitschaft, die Leutnant Ugarow an die Seite der neuen Ärztin trieb.

Zunächst hatte sie die Essenträgerinnen ungläubig angestarrt, als sie von Ugarows Suchaktion erfuhr. Sie hatte Victor Iwanowitsch zuletzt am schweren MG gesehen, und dort wähnte sie ihn auch noch, als der kleine Trupp sich vom Verpflegungsempfang zurückmeldete. Erst nachdem sie Stella Antonowna begrüßt und den anderen Scharfschützinnen des II. Zugs, in den Stella aufgenommen wurde, vorgestellt hatte, erfuhr sie von dem Alleingang ihres Geliebten. Sie errötete vor Sorge und Zorn bis an die Haarwurzeln, ließ die verdatterten Mädchen stehen und lief durch den Graben zum Bunker von Kommissar Miranski. Foma Igorewitsch war gerade dabei, seine Füße in heißer Seifenlauge zu baden. Seit Jahren litt er darunter, daß es in seinen Füßen kribbelte und krabbelte, als bevölkere seine Adern ein Heer von Ameisen. Dagegen half nur das Bad in heißer Seifenlauge, das hatte Miranski entdeckt, nachdem alle ärztlichen Ratschläge und Therapien wirkungslos geblieben waren. »Man soll bloß nicht die alten Hausmittel vergessen!« sagte er dann immer, wenn andere geplagte Menschen ihm ihre Leiden erklärten. »Der ganze Mist der modernen Medizin ist nichts gegen ein gut gekochtes Kräutlein!«

»Wo ist Victor?« rief Soja Valentinowna, als sie in den Unterstand platzte. Miranski plätscherte mit den Beinen in dem Zinkeimer und legte ein Handtuch über seine Schenkel, da er nur eine Unterhose trug, die in der Mitte auseinanderklaffte. Verwundert blickte er die Bajda an.

»Da fragen Sie mich?« sagte er gedehnt. »Auch der beste Hahn braucht eine Ecke zum Ausruhen!«

»Was macht Victor da draußen in der Steppe?«

»Ich habe ihm klargemacht, daß er nach den überfälligen Essenholern sehen muß.«

»Die Essenholer sind zurückgekommen.«

»Welch ein Glück!« Miranski starrte auf seine Beine. Wie jetzt abtrocknen, dachte er. Wenn ich das Handtuch nehme, sieht Bajda in meine offene Unterhose. Solche Vertraulichkeiten wollen wir gar nicht erst aufkommen lassen. »Was haben sie mitgebracht? Soja Valentinowna, tragen Sie mir das Menü vor!«

»Victor ist nicht mit zurückgekommen!«

»Du lieber Himmel!« Miranski zog die Beine aus der Seifenlauge. »Ist etwas passiert?!«

»Wer kann das wissen?! Victor ist mit einer Verwundeten zum Bataillonsverbandsplatz gegangen. Eine Ärztin hat ihn dazu gezwungen.«

»Gezwungen?« Foma Igorewitsch glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er bohrte die Zeigefinger in die Ohrlöcher und schüttelte sich. »Jemand hat Victor gezwungen?«

»Sie soll sehr schön sein, sagen die Mädchen. Groß und herrisch! Sie hat Victor sogar einen Idioten geheißen!«

»Sicherlich eine Psychologin!« sagte Miranski und grinste wie ein zufriedener Affe. »Was beunruhigt Sie so, Genossin Kapitän?«

»Er ist widerspruchslos mitgegangen.«

»Das gibt wirklich zu denken.« Miranski, dieser Satan, schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen wie ein Eber beim Sprung. »Ein wahres Prachtweib muß die Genossin Ärztin sein, wenn Victor Iwanowitsch aus Ihren Armen springt, Soitschka …«

Die Bajda funkelte Miranski wild an, schürzte die vollen Lippen, gab der Bunkertür einen kräftigen Tritt und verließ den Unterstand. Miranski konnte endlich seine Füße abtrocknen. Er bestreute sie mit einem gelblichen Puder, das nach Schwefel stank, und zog seine dicken Wollsocken wieder an.

Eine neue Ärztin kommt zu uns, dachte er versonnen. Und wie man hört, eine verteufelt hübsche dazu. Wann hatten wir die letzte eigene Ärztin in der Abteilung? Das war doch in der Don-Steppe, als sich der Ring um Stalingrad schloß und die 6. Armee der Deutschen abgeschnitten wurde. Damals zog die Ärztin Marfa Wadimowna mit uns herum, ein wahres Luderchen, bei Gott, mit strengem Gesicht, einem wahren Kuheuter von Busen und einem Hintern, auf dem man hätte Holz hacken können. Und sie fürchtete sich vor nichts, operierte auf freiem Feld, unter Panzerbeschuß, mitten auf der Steppe, neben sich an einer Holzstange eine eroberte deutsche Rot-Kreuz-Fahne. Jeder, der diese Fahne auch nur von weitem sah, verzichtete darauf, diesen Fleck Erde unter Beschuß zu nehmen. Und da hockte dann dieses Teufelsweib und schnitt Kugeln raus und verband, nähte Fleischfetzen zusammen und schleppte mit drei Feldscherinnen die Verwundeten in Sicherheit. Am 27. September 1942 starb sie an der Bahnlinie Olchowka — Kamuschin, im Norden Stalingrads, als sie, die Rot-Kreuz-Fahne über ihrem Kopf schwenkend, in der Steppe Verwundete suchte. Die Bombe eines deutschen Stuka, der die Bahnlinie angriff, traf sie voll. Von ihr und fünf Sanitäterinnen blieb nichts übrig.

Kurz darauf wurde die Abteilung zurückgezogen und in einem weiten Bogen über die Wolga hinweg zum mittleren Don an die Südwestfront des Generals Watutin verlegt. Dort half sie mit bei der Zerschlagung der deutschen Versuche, Stalingrad zu retten. Eine eigene Ärztin hatten sie nicht mehr. Erst jetzt kommt eine neue Ärztin an die Front, und das konnte nur bedeuten, daß die erwartete Offensive kurz bevorstand.

Miranski fuhr in seine Fellstiefel, schlüpfte in den dicken Pelzmantel und begab sich in den Bunker II. Die Mädchen hockten auf ihren Pritschen, aßen das gerade ausgegebene Essen und nagten an hartem Brot. Es roch widerlich sauer nach Kohl. Miranski rümpfte die Nase. Denen fällt in der Küche auch gar nichts mehr ein, dachte er verbittert. Besteht Rußland denn nur noch aus Sauerkohl? Gut, den Magen wärmt es, man hat das Gefühl, satt zu sein, die Därme blähen sich wie nach einer Völlerei, und es gehen wahrhaftig krachende Fürze ab, die an die gute Zeit erinnern, in der man schöne, blaßrote, dicke, saftige rohe Zwiebeln und würzige Gurken aß — aber, bei allen Satanen, es muß doch noch etwas anderes geben als nur Kohl, auch nach zwei Jahren Krieg. Wer frißt denn die Millionen Rinder, die Schafe, die ungezählten Schweine, die Hühner, Enten und Gänse? Und dann die Pferde? Genossen, Rußland erstickt in Fleisch, wenn man sich das so nüchtern überlegt, aber wo — der Teufel hole die Verwaltung —, wo bleibt es nur? Hierher an die Front, in die erste Linie, kommt es jedenfalls nicht, oder, um ehrlich und gerecht zu sein, nur höchst selten. Ein paar Bröckchen, die einsam in der Suppe herumschwimmen und sich schämen, weil sie so armselig sind. Wer also frißt das ganze Fleisch? Wer vertilgt da ganze Berge an saftigen Braten?

Miranski seufzte und zuckte erschrocken zusammen, als sich ein Mädchen vor ihm aufbaute und mit heller Stimme militärisch knapp meldete: »Genossin Stella Antonowna Korolenkaja zur Stelle!«

»Das freut mich!« antwortete Miranski etwas verwirrt und ganz und gar nicht wie ein Vorgesetzter. Er gab Stella die Hand und fand sie sehr nett, aber längst nicht so überragend, wie man sie ihm avisiert hatte. Dann setzte er sich zu den Mädchen auf eine Pritsche. In der Tiefe seines Herzens war er beleidigt, daß keine vorgesetzte Stelle ihm die Zuteilung einer neuen Ärztin mitgeteilt hatte. Sie war einfach da, raunzte Leutnant Ugarow an, versetzte die Bajda in einen Eifersuchtstaumel und maßte sich an, Ugarow zum Abtransport einer Verwundeten nach hinten zu schicken.

Einen solchen Zustand konnte Miranski nicht einfach so hinnehmen.

»Wie war das mit Leutnant Ugarow?« fragte er. »Ich will es genau hören.«

»Wir hatten eine Verwundete«, sagte Stella Antonowna. »Gerade, als sie von der Genossin Opalinskaja verbunden wurde, fiel der Leutnant in unseren Granattrichter. Er suchte uns.«

»Weiter«, drängte Miranski. »Das ist mir alles längst bekannt.«

»Weiter nichts. Galina Ruslanowna und Leutnant Ugarow brachten die Verwundete nach hinten. Wir gingen nach vorn.«

»Warum ist nicht eine von euch zurückgegangen?«

»Hätte der Leutnant den Kessel und die Kochgeschirre tragen sollen?« fragte Stella und blickte Miranski tadelnd an.

Das ist eine gute Erklärung, dachte Miranski, ja, das ist ein unwiderlegbares, logisches Argument. Damit kann man sogar Soja Valentinowna trösten. Er sah Stella dankbar an, klopfte ihr auf die schmalen Schultern und ging wieder hinaus in die eisige Kälte.

Es zeigte sich, daß Soja Valentinowna weder getröstet werden konnte noch wollte, bei Frauen ist es ja ohnehin fast unmöglich, solche Feinheiten zu unterscheiden. Sie sah Miranski nur mit böse blitzenden Augen an, als der ihr erklärte, es sei unter der Würde eines Verbindungsoffiziers, mit einem Essenkessel auf dem Rücken über die Steppe zu rennen.

»Es wird sich alles finden, Foma Igorewitsch!« sagte die Bajda finster. »Bind dir die Hosen zu, wenn die Angst dir das Spundloch weitet! Ich habe gute Augen. Mir wird sofort klar sein, wie es Victor ergangen ist.«

»Eine Frage sei erlaubt!« schrie Miranski in einer plötzlichen Aufwallung von Verzweiflung. »Ist das hier ein Puff oder eine Abteilung des Frauenbataillons?!«

»Beides, du schweißfüßiger Bock, beides, damit du’s weißt!« schrie sie zurück. »Wir tragen eine Uniform, wir können leiden, bluten und sterben. Wir kämpfen für unsere Heimat wie die Männer, und keine von uns hat sich jemals beklagt, keine hatte schlappgemacht. Aber was ist unter dem Rock, he? Sind wir zugenäht, nur weil wir eine Uniform tragen? Das Gewehr zwischen die Beine geklemmt … ist das ein Ersatz?! Und da fragt er noch, ob wir ein Puff sind! Du lieber Himmel, einen Tag lang möchten wir nichts anderes sein als das!«

Miranski sah ein, daß es unmöglich war, die Bajda jetzt noch zu bremsen. Er bedauerte Leutnant Ugarow zutiefst, versicherte ihn insgeheim seines Mitgefühls und hielt es für das beste, sich so schnell wie möglich zu entfernen.

Soja Valentinowna spuckte ihm nach, aber das sah er schon nicht mehr.

Beim Morgengrauen, gerade noch rechtzeitig im Schutze der Dunkelheit, kamen Ugarow und die Ärztin Opalinskaja zurück. Müde stolperten sie durch den Laufgraben und prallten auf die Bajda, die, fast zum Eiszapfen erfroren, im Hauptgraben auf sie wartete.

»Willkommen!« zischte sie giftig und blickte Ugarow an, als wolle sie ihn mit ihren Augen zerschneiden. »Ich bin Kapitän Bajda.«

»Ich weiß, meine Liebe«, antwortete die Opalinskaja mit einer verteufelten Vertrautheit, die nichts anderes ausdrückte als die Tatsache, daß sie sich für gleichwertig hielt. Ein Arzt läßt sich keine Befehle erteilen. »Victor Iwanowitsch hat von Ihnen erzählt.«

»Hat er das?« Soja Valentinownas Stimme klang fast wie ein Heulen. »Der gute Victor. Ein guter Unterhalter ist er, nicht wahr?«

»Wir verstehen uns gut!« sagte die Opalinskaja schlicht. »Wo kann ich meine Sanitätsstation einrichten? Haben Sie einen freien Bunker?«

»Wir haben keine Verluste!«

»Noch nicht.« Galina Ruslanowna blickte hinüber zu den deutschen Stellungen. »Das wird sich in Kürze ändern. Hinten in der Steppe warten siebentausend Panzer, zehntausend Geschütze und über eine Million Soldaten. Sie haben keinen freien Bunker? Dann ziehe ich bei Ihnen ein, meine liebe Soja Valentinowna …«

Ugarow erlebte zum ersten Mal, daß die Bajda um eine Antwort verlegen war.

Um so heftiger ging es her, als sie miteinander allein waren. Da Galina Ruslanowna tatsächlich vom Befehlsbunker Besitz ergriff und dies damit bekundete, daß sie ihren Sanitätskoffer auspackte und Spritzenbehälter, Injektionsschachteln, einen Sterilkocher mit Spiritusflamme, das chirurgische Besteck in einer Segeltuchrolltasche und einen Haufen Mullbinden auf dem Tisch ausbreitete, scheute sich Soja Valentinowna nicht, den Bunker Miranskis zum Schauplatz eines großen Auftritts zu machen.

»Du Hurenbock!« schrie sie und ballte die Fäuste. »Du Teufelsdreck, du! Oh, wie ich dich hasse, du neunschwänziger Satan! Kommt da eine hergelaufen mit langen Beinen, rollenden Augen und spitzen Brüsten, und schon springen dir die Knöpfe von der Hose ab! Glaubst du, ich sehe da ruhig zu! Soll mich verkriechen in ein Mauseloch und zuhören, wie ihr in den Himmel stöhnt?! Was hast du dir denn gedacht, du Satansschwanz?! Ha, da kennst du mich schlecht, du schiefmäuliger Zwerg! Soll ich dir die paar Zentimeter abschneiden, die dich so selbstherrlich machen? Was bist du dann? Haltet mich fest … ich tue es! Ich schneide es ihm ab! Er ist es nicht wert, so etwas zu haben!«

Miranski saß still auf seiner Pritsche und ließ sie toben. Ein Vollblutweib, das ist sie, dachte er, während ihm ein fast heiliger Schauer über die Schultern lief. Der gute Ugarow wird das nie überleben. Er kann höchstens darauf hoffen, daß die verdammten Deutschen dieses Furiending abschießen. Solange sie lebt, wird Ugarow nur ihr Fußabtreter sein.

Soja Valentinowna tobte fast eine Stunde. Die ganze Zeit über sagte Ugarow klugerweise keinen Ton, nur als ihr einmal der Atem versagte und sie sich keuchend gegen die abgestützte Erdwand lehnte, wandte er sich an Miranski und fragte ihn:

»Sie sind mein Freund, Foma Igorewitsch, nicht wahr?«

»Das wissen Sie doch, Victor Iwanowitsch. Welche Frage!«

»Können Sie für eine Stunde Ihren Bunker räumen? Es wäre, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Liebesdienst …«

Miranski starrte Ugarow entgeistert an, begriff, warf sich seinen Pelzmantel über und verließ den Unterstand. Sitten sind das, durchfuhr es ihn. Oh, wo sind wir hingekommen?! Da drüben lauert der Tod, und ich muß im Frost Spazierengehen, weil ein guter Freund das Bett braucht. Hoffentlich wird das nicht allgemein bekannt!

Ugarow wartete, bis Miranski den Bunker verlassen hatte. Wortlos ließ er danach seine Hose fallen und winkte mit dem Daumen zur Pritsche.

»Komm!« sagte er schlicht. »Nun komm schon …«

Mit einem dumpfen Laut warf sich Soja Valentinowna in seine Arme und biß ihn in die Halsbeuge.

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In der nächsten Nacht geschah etwas Unangenehmes: Die vier Mädchen des I. Zuges, die zum erneuten Postenklau ins Niemandsland schlichen, stießen auf nicht einkalkulierten Widerstand. Als sie vor dem Beobachterstand erschienen und ihre Blusen öffneten, erwartete sie keine maßlose Verblüffung — aus drei Gewehren zuckte ihnen Feuer entgegen.

Es war die große Stunde von Leutnant Giovanni Lambordi, aber es war auch seine letzte.

Der Tod der drei hohen deutschen Offiziere hatte beim Oberkommando der italienischen 8. Armee peinliche Betroffenheit ausgelöst. Oberst v. Stareken, einer der Verbindungsoffiziere zur Heeresgruppe Don, verfaßte für Generalfeldmarschall v. Manstein einen eingehenden Bericht, der zusammen mit den drei Leichen zwei Tage später eintraf. Was man schamhaft verschweigen wollte, wurde nun offenkundig: Im Gebiet von Tschjertkowo verschwanden vorgeschobene Posten — »ohne Fremdeinwirkung«, wie es im guten Amtsdeutsch hieß — und auf sowjetischer Seite wurden Scharfschützen eingesetzt. Die exakten Einschüsse in die linken Augen der drei toten Offiziere, die auf den beiliegenden Fotos gut erkennbar waren, bekamen somit fast dokumentarischen Wert.

Zwischen der Heeresgruppe Don und dem Büro Oberst v. Starekens bei den »Alpinis«, wie man die Italiener nannte, liefen die Telefondrähte heiß. Es war weniger der Tod der Offiziere, der den Stab erschütterte, daß er sich zu einer Sondersitzung zusammenfand. Es war auch peinlich genug, daß unangebrachte Neugier zu einer solchen Tragödie geführt hatte. Nein, es waren vielmehr die Begleitumstände, die zur Besorgnis Anlaß gaben.

Wieso verschwinden spurlos vorgeschobene Posten? Warum hält die italienische Armee es nicht für nötig, über diese Vorfälle zu berichten? Zeigt sich hier eine Demoralisierung der Italiener, die bei der zu erwartenden russischen Offensive ein ähnliches Desaster nach sich ziehen kann wie im vergangenen Jahr der Durchbruch der Sowjets bei der 3. rumänischen Armee im Don-Bogen zwischen Jelanskaja und Kletskaja? Damit hatte die Tragödie Stalingrad begonnen. Den Russen gelang die Einkesselung der 6. Armee, und 60 sowjetische Divisionen stießen ihre Keile zwischen die Paulus-Armee und die anderen, weit abgeschlagenen deutschen Armeen im Steppenland.

Sollte sich so etwas hier zwischen Don und Donez wiederholen?

Mit dem Verharmlosen von Überläufern fing es an — mit einem Aufreißen der Front auf 100 km Breite konnte es zu Ende gehen.

Die Kompaniechefs wurden zum Regiment befohlen. Dort stand ein wütender Oberstleutnant, brüllte herum, beschwor die Ehre Italiens und erinnerte an das Heldentum der Römer, deren Kampfkraft und Moral dereinst beispielhaft gewesen seien, die danach die Welt erobert und den Germanen beigebracht hätten, was eine Wasserleitung war, ein heißes Bad und eine Fußbodenheizung — eben diesen Germanen, die jetzt mit mokantem Lächeln die militärische Ethik ihrer Verbündeten bezweifelten.

»Von jetzt an geht mindestens ein Feldwebel mit hinaus auf Posten!« brüllte der Regimentskommandeur. »Ich will von keinem Abgang mehr hören! Ab sofort wird jeder Offizier für jeden Überläufer verantwortlich gemacht! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Einen solchen Anschiß wollte Leutnant Giovanni Lambordi nicht auf sich sitzen lassen. Drei Nächte hintereinander ging er mit seinem vordersten Posten hinaus, lag in dem gut ausgebauten Loch und starrte hinüber zu den Sowjets, und während die Posten abgelöst wurden, wich Lambordi nicht von der Stelle, ehe der Morgen graute und der Beobachtungsstand geräumt wurde.

In der vierten Nacht kamen sie dann. Vier Schatten huschten über das zerrissene verschneite Land und kamen auf sie zu. Lambordi atmete tief ein. Irgendwie war er glücklich. Wir sind also doch keine Feiglinge, dachte er. Niemand ist übergelaufen. Sie sind jedesmal so gekommen wie jetzt, lautlos, wendig wie Schlangen, in ihren weißen Tarnanzügen fast unsichtbar. Man muß schon verdammt gute Augen haben, um sie rechtzeitig zu erkennen. Rechtzeitig — hier liegt die Lösung aller Rätsel. Keiner von den armen Kerlen hat die Sowjets rechtzeitig gesehen, und als sie den Feind erkannten, waren sie bereits überrumpelt. Nur so kann es gewesen sein, ihr deutschen Kameraden! Wir haben unsere Männer im ehrlichen Kampf verloren. Jetzt können wir es beweisen.

»Herankommen lassen«, flüsterte er den beiden Posten zu. »Ganz ruhig bleiben, amici. Laßt sie so nahe wie möglich herankommen. Und dann auf Kommando Feuer frei. Die Toten nehmen wir mit — sie sind unser Beweis!«

Sie lagen in ihrem Loch, die Gewehre schußbereit, geduckt hinter der aufgeworfenen Deckung, und warteten mit klopfenden Herzen.

Die weißen Schatten bewegten sich auf sie zu, verschwanden plötzlich wie weggezaubert, um dann an anderen Stellen, wo man sie nicht vermutet hatte, wieder aufzutauchen. Quälend langsam kamen sie näher, in völliger Lautlosigkeit.

Man sollte eine Leuchtkugel abschießen, überlegte Lambordi. Dann ist das Schußfeld taghell und sie liegen vor uns wie auf dem Schießstand. Aber wir auch, und uns gegenüber warten die Scharfschützen nur darauf, daß sich bei uns etwas regt.

Er verzichtete auf die Leuchtkugel, winkte den beiden Posten beruhigend zu und schüttelte den Kopf. Noch nicht, laßt sie noch näher kommen. Sie glauben, sie können uns überraschen, aber heute sind wir es, die sie überraschen.

Noch zehn Meter … vielleicht sieben Meter … Leutnant Lambordi drückte den Kolben seines Gewehrs härter in die Schulter. Die linke Hand, neben seinem Kopf an der Deckung, war bereit, das Zeichen zu geben.

In diesem Augenblick erhoben sich vor ihm zwei der weißen Gestalten zu voller Höhe, eine helle Mädchenstimme rief ihnen etwas zu, ganz deutlich sah Lambordi, wie sie die Uniform auseinanderzogen. Im fahlen Nachtlicht schimmerten blanke Brüste.

»Madonna mia …«, stotterte einer der Posten.

Lambordi schluckte. Ihm war es, als habe man ihn in ein Feuer geworfen und die Flammen zerfräßen ihn. So also ist das, dachte er. Darum ist nie ein Schuß gefallen. Wer bringt es übers Herz, auf diese Brüste zu schießen?

»Feuer!« sagte er mit krächzender Stimme. »Feuer!«

Er schoß zuerst, die beiden anderen Posten folgten. Aber sie schossen schlecht … Ihre Hände zitterten. Mit einem weiten Satz verschwanden die beiden Mädchen im Schneefeld, rollten sich seitwärts ab und lagen flach in Deckung. Gleichzeitig rissen sie ihre Gewehre nach vorn und waren schußbereit, als sie den Boden berührten. Das war geübt, das war gekonnte, perfekte Präzision, man hatte es ihnen in Veschnjaki beigebracht, und bisher hatte es ihnen noch immer das Leben gerettet. Sie konnten fallen und rollen wie die Katzen und sich unsichtbar machen wie die Weißfüchse im Schnee.

Leutnant Lambordi kam gerade noch dazu, eine neue Patrone in die Kammer zu schieben. Zu mehr ließ ihm sein Schicksal keine Zeit. Rechts von ihm zuckte ein Schuß auf. Die Kugel traf ihn genau in die Schläfe, dort, wo der Stahlhelm in der Hast etwas nach links gerutscht war. Eine Sekunde später blitzte es von links auf. Der Gefreite Paolo, der seinen Leutnant auf den Rücken drehen wollte, wurde von dem Einschlag in seinen Kopf nach hinten geschleudert. Er riß den Mund auf, ein Blutschwall stürzte aus seiner Kehle, ein weiterer Schuß traf seinen Hals. Aber den spürte er schon nicht mehr. Er starb so schnell, daß er noch nicht einmal mehr denken konnte: Du bist getroffen.

Der Unteroffizier Fernando Bruzzi, der dritte Mann im Loch, stellte sich tot, in der wahnsinnigen Hoffnung, er könne auf diese Weise davonkommen. Vorher aber zerrte er noch an der Reißleine, die zum Graben führte.

An den Holzgestellen begannen die leeren Konservendosen zu scheppern. Ein durchdringender, alles aufschreckender Lärm. Jeder Landser kannte dieses Klappern.

Alarm! Alarm!

Die Männer sprangen aus den Erdbunkern, hetzten zu ihren Plätzen, rissen die Planen von den MGs, hieben die Verschlüsse der Munitionskästen auf, klappten die Rohre der Granatwerfer hoch, packten die Handgranaten neben sich auf den Grabenrand. Im Kompaniebunker kurbelte der Oberfeldwebel, der in Abwesenheit von Leutnant Lambordi die Kompanie führte, am Feldtelefon und rief das Bataillon und den etwas rückwärts in Reserve liegenden Kompanie-Haupttrupp an.

Alarm vom vorgeschobenen Posten. Noch ist nichts zu sehen. Sie müssen sich anschleichen.

Im Bereich des Regiments klingelten die Alarmglocken. Die Artilleriestellungen wurden besetzt, die im Erdeinsatz stehende Flak, das beste Mittel gegen die sowjetischen T 34-Panzer, war in Minutenschnelle schußbereit. In der zweiten Linie wurden die schweren Minenwerfer geladen. Weiter hinten, zwischen Regiment und Brigadestab, warteten fünf Tiger-Panzer, um notfalls einen Durchbruch abzuriegeln.

Der Unteroffizier Fernando Bruzzi hatte unglaubliches Glück. Wie tot lag er neben seinem gefallenen Leutnant, als sich ein Mädchenkopf über den Rand des Postenloches schob. Wirkungsvoll hatte er das Kinn heruntergeklappt, seinen Körper bizarr verdreht.

Die Mädchenaugen musterten ihn kalt und schienen überzeugt zu sein, obgleich man den Einschuß nicht sehen konnte, weil der Stahlhelm über die Augen gerutscht war. Der Kopf verschwand wieder. Dann glitt der weiße Schatten den anderen nach und wurde eins mit der verschneiten Steppe, noch bevor aus dem feindlichen Graben die Leuchtkugeln in den Nachthimmel zischten.

Fernando Bruzzi kroch mit zitterndem Körper zurück. Er plumpste zwei Kameraden in die Arme, verlor plötzlich die Beherrschung, begann grell zu schreien, schlug um sich, trat, spuckte und kratzte und gab erst Ruhe, als man ihm zweimal gegen das Kinn schlug. Dann saß er stumpf im Bunker, starrte mit leeren Augen um sich und lallte:

»Weiber! Wei — Weiber … Wa — wa — wackeln mit den Brüs — brü — brüsten … Wei — wei — Weiber — «

Mit einem Transportschlitten brachte man ihn zum Hauptverbandsplatz.

»Schock«, sagte der Stabsarzt, der ihn untersuchte. »Der hat einen gewaltigen Schock weg! Kann sein, daß er für immer ‘ne Macke behält!« Er gab Bruzzi eine Morphiuminjektion — was anderes hatte er nicht — und hoffte, daß der Betäubungsschlaf den Schock beheben würde. »Ist bei euch da vorn der Notstand so gewaltig? Was will der bloß immer mit seinen wackelnden Titten?!«

»Uns liegen Frauen gegenüber, Herr Stabsarzt«, sagte der Feldwebel, der Bruzzi zum Hauptverbandsplatz gebracht hatte. »Scharfschützinnen! Und sie klauen uns die Posten. Wer hätte schon an so etwas gedacht? Das darf doch gar nicht wahr sein …«

Am nächsten Morgen schon lag die Meldung bei der Heeresgruppe Don. Der Ib übergab sie Generalfeldmarschall v. Manstein persönlich. Mit unbewegter Miene, wie es seine Art war, las Manstein den Bericht. Auch als er damit fertig war, zeigte sein scharf geschnittenes Gesicht mit der Adlernase keinerlei Regung. Er ließ das Blatt Papier auf den mit Karten bedeckten Schreibtisch fallen und blickte seinen Ib kühl an.

»Das kann doch nur ein Witz sein, mein Lieber!«

»In Verbindung mit dem Heldentod von Oberst v. Rahden, Major Schlimbach und Major Halbermann gewinnt die Meldung an Wahrhaftigkeit. Auch sie wurden anscheinend von den Frauen überrascht. Es steht außer Zweifel, daß der Gegner in diesem Frontabschnitt ein Frauenbataillon eingesetzt hat. Zumindest eine Spezialeinheit.«

»Geben Sie das als Kuriosum weiter an das OKH!« sagte v. Manstein abweisend. Er hatte ganz andere Sorgen, als daß ein paar Frauen, die angeblich mit entblößtem Oberkörper italienische Vorposten klauten, ihn hätten aus der Fassung bringen können. Die Nachrichten, die bei ihm zusammenliefen, setzten sich zu einem erschreckenden Bild zusammen. Die Rote Armee hatte ihren Offensivaufmarsch beendet. Allein in seinem Frontabschnitt, der Heeresgruppe Don, lagen seinen dezimierten, zum Teil nur auf dem Papier existierenden Truppen fünf sowjetische Armeen gegenüber. Seine Anfragen beim Führerhauptquartier in Rastenburg wurden hinhaltend und mit Versprechungen beantwortet. Alle Blicke waren auf Stalingrad gerichtet. Dort starb die 6. Armee einen grausamen Tod. 360.000 deutsche Soldaten gingen elend zugrunde. Aber sie fesselten mit ihrem Todeseinsatz 60 russische Divisionen und ließen den anderen deutschen Armeen Zeit, sich in neuen Stellungen festzukrallen.

Aber auch die anderen deutschen Fronten wankten. Mit 500 Schiffen war General Eisenhower in Marokko und Algerien gelandet und rollte nun von hinten gegen das Deutsche Afrikakorps. Rommel war in einen Zweifrontenkrieg geraten, hatte die El-Alamein-Stellung in Ägypten der britischen 8. Armee überlassen müssen und zog sich vor den Truppen des Generals Montgomery über die Cyrenaika nach Libyen zurück. Überall bröckelten die deutschen Linien. Der Siegeszug von 1941 und 1942 war längst Geschichte geworden und würde sich nie wiederholen. Deutschland verblutete an der Wunde Stalingrad.

Und da sollte man sich noch über ein paar Weiber aufregen, die mit blankem Busen ein paar Männer zur Desertion veranlaßten?

Der Ib der Heeresgruppe Don nahm die Meldung wieder an sich und verließ seinen Chef. Wie vom Feldmarschall empfohlen, gab er sie an das OKH nach Berlin weiter. Als Kuriosum.

Das OKH indessen nahm die Sache ernst. Nicht den Postenklau, sondern das Auftauchen weiblicher Scharfschützenabteilungen. Nicht nur vom Don liefen solche Meldungen ein — auch von der 17. Armee im Kaukasus, der 1. Panzer-Armee am Terek, der 2. Armee bei Woronesch und vor allem im Gebiet der 18. Armee an der Wolchow-Front. Außerdem hatten gefangene Partisanen, ehe sie erschossen oder aufgehängt wurden, ausgesagt, daß im Gebiet der Pripjet-Sümpfe und rund um Bobruisk, in den Wäldern am Dnjepr und bis hinaus nach Borissow, also tief im Rücken der deutschen Heeresgruppe Mitte, über 26.000 Partisanen operierten, darunter schätzungsweise 1.200 Frauen. Blendend ausgebildet, todesmutig, im Einsatz kalt wie Eis. Die Sondereinheiten der SS und des SD, die im Partisanenkampf eingesetzt waren, hatten es oft genug erlebt: Die Mädchen stellten sich mit erhobener Faust unter den Galgen oder an die Wand, grüßten Stalin und ihr Sowjetrußland und starben mit unbegreiflichem Stolz.

Im Oberkommando des Heeres in Berlin sammelte Oberst v. Hötzendorf die Berichte. Sie wurden ergänzt durch Agentenmeldungen der Abteilung »Fremde Heere Ost« und die Abwehr des Admirals Canaris: Es gab kaum noch Zweifel daran, daß die Sowjets Frauenbataillone im Frontdienst einsetzten.

»Das ist bis jetzt der Gipfelpunkt!« sagte Oberst v. Hötzendorf denn auch, als er die Meldung der Heeresgruppe Don auf den Tisch bekam. »Mit blanker Brust auf Stoßtrupp! Das muß da unten eine besondere Spezies von Weibern sein! Wenn das an allen Fronten Schule macht, wird die Truppe mehr Soda im Essen als Munition gebrauchen. Hoffentlich haben wir wenigstens genug Soda …«

Ein bitterer Witz, hinter dem eine noch bitterere Hilflosigkeit stand.

Denn jeder Schuß, den diese Mädchen abgaben, bedeutete einen deutschen Soldaten weniger. Sie schossen nur selten daneben — nur sehr selten.

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Peter Hesslich, mit »e« und zwei »s«, wie er oft betonte, war, dem Klang seines Namens zum Trotz, durchaus kein häßlicher Mensch.

Ein kräftiger Kerl war er, nicht besonders groß, vielleicht einsfünfundsiebzig, aber seine Schultern waren breit und durchtrainiert, und in den schmalen Hüften war er beweglich wie ein Tänzer. Es verstand sich fast von selbst, daß in einer Zeit, wo ein deutscher Junge »flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl« zu sein hatte, auch Peter Hesslich von allen Seiten bedrängt wurde, Sportler zu werden. Er hätte es sich aussuchen können … ob Hammer- oder Diskuswerfer, Sprinter oder Hochspringer, Geräteturner, Zehnkämpfer oder Schwimmer — bei seinen Anlagen war er für alles geeignet. Aber zu nichts hatte er Lust.

»Das einzige, wozu man mich überreden könnte, wäre Brustkrauler … aber bei den Mädchen!« lachte er, wenn wieder die Rede darauf kam, daß es doch eine Schande sei und für das Großdeutsche Reich und seinen Sport ein echter Verlust, wenn eine solche athletische Begabung nicht genutzt werde. 1936, als die Jugend der Welt, wie es die NS-Propaganda ausdrückte, sich in Berlin zu den Olympischen Spielen traf und vor den entsetzten Augen des Führers ein Neger, Jesse Owens, drei Goldmedaillen gewann, bekam Hesslich sogar Besuch vom stellvertretenden Gauleiter.

»Weckt Sie das noch immer nicht auf, Peter?« sagte der in gelbbraunes Tuch gekleidete und mit Goldlitzen verzierte Parteimensch erschüttert. »Ein Schwarzer degradiert die weiße Rasse! Welch ein Triumph der Minderwertigkeit! Und Sie sitzen hier herum, obwohl Sie das Zeug haben, alle diese Untermenschen zu schlagen und zu beweisen, was Germanenrasse ist! Grinsen Sie nicht, Peter! Wir wissen, wie hervorragend Sie laufen können und wie weit Sie springen. Wir wissen, daß Sie im Sport eine Kanone sein könnten, ein Rammbock, der diese ganzen Weichlinge aus Amerika in die Ecke fegt! Peter — zerreißt es nicht Ihr deutsches Herz, daß ein Neger drei kleine Eichen mitnimmt, die der Führer gestiftet hat?! Drei deutsche Eichen in einem Negerslum! Haben Sie die Wochenschau gesehen? Der Führer war wie versteinert. Der Reichssportführer war dem Weinen nahe. Göring saß wie erstarrt. Der Jubel der Amerikaner und ihrer Freunde muß dem Führer wie eine Verhöhnung der weißen Rasse geklungen haben! Und was tun Sie, Peter Hesslich? Sie tun gar nichts — und damit verraten Sie Ihr Vaterland! Rührt sich da bei Ihnen kein Gewissen?«

Hesslich verspürte keinerlei Gewissensbisse. Niemand kann mich dazu zwingen, zu laufen, zu springen, am Reck zu schwingen, am Barren zu grätschen oder eine Kugel zu stoßen. Weder der Gauleiter noch der Führer persönlich. Man kann Muskeln nicht befehlen. Man kann nicht Ergebnisse auf Zehntelsekunden genau vorplanen. Immer ist da ein Mensch beteiligt, ein anfälliger Körper, ein unkontrollierbarer Unsicherheitsfaktor.

Peter Hesslich stand damals gerade im Abitur. Sein Vater war Studienrat für Erdkunde und Französisch und bei seinen Schülern am Wuppertaler Schlageter-Gymnasium sehr beliebt. Im Französisch-Unterricht erzählte er manchmal von seinen Studienjahren in Paris und Grenoble, von den Skiabfahrten in den verschneiten Hochalpen und einem abenteuerlichen Urlaub in Algerien, dem Atlas-Gebirge und den riesigen Sanddünen des großen Erg. Damit stand dann das Thema für die nächste Erdkundestunde fest. Ohne Zweifel war Friedrich-Wilhelm Hesslich ein guter Pädagoge, der seine Schüler zu fesseln verstand. Aber gerade das machte ihn bei der NS-Lehrerschaft und beim Provinzialschulkollegium in Düsseldorf verdächtig und unbeliebt. Die Erweckung von Fernweh lag nicht im Interesse der völkischen Erziehung. Die Jungvolk- und Hitlerjugend-Abende am Samstag und der Sonntag, der als Staatsjugendtag dem HJ-Dienst vorbehalten war, waren entschieden höhere Ziele als die schmierigen Lehmhütten der Berber. Und überhaupt — mußte ein Lehrer für Französisch unbedingt so frankophil sein, daß er von den Savoyer Alpen schwärmte? Ist denn Versailles schon vergessen? Der Schmachfriede 1918? Die Demütigung Deutschlands im Spiegelsaal? Die Reparationen? Die Rheinlandbesetzung durch die Franzosen? Und Schlageter, nach dem das Gymnasium benannt wurde, dieser aufrechte deutsche Patriot, der den Nachschub der Besatzungstruppen in die Luft sprengte und dafür von den Franzosen am 26. Mai 1923 auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf standrechtlich erschossen wurde? Ja, um alles in der Welt, konnte sich ein deutscher Studienrat über so etwas einfach hinwegsetzen?

Man beobachtete Friedrich-Wilhelm Hesslich sehr genau und kreidete es ihm im geheimen auch an, daß sein Sohn Peter, der für den Sport geradezu geboren schien, so gar nichts für den Ruhm Großdeutschlands leisten wollte. Es war eine Atmosphäre allgemeinen Mißtrauens, in der Peter aufwuchs und die ihn nie wieder losließ. Sie klebte an ihm wie ein Muttermal.

Nach dem Abitur wurde er nicht, wie sein Vater gehofft hatte, auch Lehrer, sondern kümmerte sich mehr um die Natur, um Pflanzen, Bäume und Tiere. Er wollte Förster werden. Irgendwie paßte das zu ihm: Wer in seine weichen Augen blickte, verstand plötzlich, daß Peter Hesslich stundenlang auf einem Hochsitz oder hinter einem Busch sitzen konnte, um Tiere zu beobachten. Für den nationalsozialistischen Sport war er damit endgültig verloren. Während andere im Schweiße ihres Angesichts trainierten, stapfte er durch die Wälder, hörte dem Eichelhäher zu, erfreute sich am Klopfen der Spechte, belauschte die Balz der Auerhähne und lernte auf einer Waldlichtung, auf warmem, duftendem Moos, von einer reifen Frau die Finessen der Liebe. Bisher hatte Peter Hesslich immer nur gleichaltrige Mädchen gekannt, die seufzend auf dem Rücken lagen. Nun fiel er in die erfahrenen Hände der Frau des Forstamtmanns — und seine Liebe zur Natur potenzierte sich noch.

Er war nun Forsteleve in der Vorbereitung für die Forstakademie und wurde von Freunden bestürmt, doch der SA beizutreten, der Wehrsportgruppe oder dem NSKK, dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps. Selbst sein Forstrat meinte, wenn Hesslich einmal Karriere machen wolle, sei es für ihn unerläßlich, daß er irgendein Parteiabzeichen trage. Ohne diese Blechmarke sei man als Staatsbeamter immer der Letzte auf der Beförderungsliste, sichtbares Nationalgefühl sei nun einmal jetzt der beste Ausweis, hundertmal besser als alle Zeugnisse oder Leistungen. Da starb plötzlich Friedrich-Wilhelm Hesslich, der Studienrat. Genauer gesagt, er erstickte an einer in der Luftröhre festgeklemmten Goldbarschgräte. Ehe ein Arzt eingreifen konnte, war Hesslich tiefblau im Gesicht und atmete nicht mehr.

Durch diesen sinnlosen Tod ihres Mannes verfiel Wilhelmine Hesslich, Peters Mutter, in Trübsinn, aus dem sie nicht mehr erwachte. Sie dämmerte dahin, mußte schließlich in ein Heim gebracht werden und erkannte ihren eigenen Sohn nicht mehr.

Nur wenige Wochen nach der häuslichen Tragödie folgte eine berufliche. Seit Monaten wurde in Peter Hesslichs Revier gewildert, wahllos wurden Böcke und tragende Rehe geschossen, verwundete Kitze verendeten elend — es war wirklich eine Riesensauerei. Tag und Nacht waren jetzt Streifen unterwegs, einen Verdächtigen gab es nicht, und es gab auch keine Spuren, bis auf die Schweißstellen und die verendeten, angeschossenen Tiere.

In einer hellen Mondnacht stand Peter Hesslich dann plötzlich dem unbekannten Wilderer gegenüber. In einem Hohlweg, genau am Wildwechsel, trat der Unbekannte aus dem Wald — ein großer, schwerer Mann in dunkelblauem Trainingsanzug und Gummistiefeln.

Peter Hesslich rief ihn pflichtgemäß an. »Halt! Bleiben Sie stehen!«, aber der Mann dachte gar nicht daran. Er drehte sich blitzschnell herum, riß seine Büchse hoch und legte auf den deckungslosen Hesslich an.

Später wußte Hesslich nicht, wie er es erklären sollte: Er war schneller. Sein Schuß kam einen Wimpernschlag eher als der Schuß seines Gegners. Während die Kugel des Wilderers irgendwo im Nachthimmel davonschwirrte, schlug Peters Kugel ein. Mit ungläubigem Staunen sah Hesslich, wie der Mann umkippte, das Gewehr aus seinen Händen glitt und sich der Körper streckte. Entsetzt rannte er zu ihm hin, fiel neben ihm auf die Knie und hob den Kopf des Getroffenen. Es war fürchterlich. Er hatte einen Menschen erschossen. Gewiß, es war Notwehr — aber er hatte ihn getötet!

Im Forsthaus betrank er sich. Den Toten hatte man bis zum Eintreffen von Polizei und Leichenwagen im angrenzenden Schweinestall in eine leere Box gelegt.

»Ich habe einen Menschen getötet«, sagte Peter Hesslich immer wieder mit monotoner Stimme. »Ihr könnt mir zureden, soviel ihr wollt — ich habe ihn getötet. Das hat noch keiner von euch getan! Ihr habt ja keine Ahnung, wie einem da zumute ist.«

Alle Vorgesetzten bis hin zum Forstrat erschienen am Tatort, besichtigten den Toten im Schweinestall und bewunderten den Einschuß.

»Mitten in die Stirn«, sagte der Förster, Peters unmittelbarer Chef. »Man stelle sich das vor — aus einer blitzschnellen Reaktion heraus so ein Schuß! Toll, was?«

»Eine Naturbegabung.« Der Forstrat nickte mehrmals anerkennend. »Hat denn bei den Schießübungen keiner etwas von diesem Talent bemerkt?«

»Die Ergebnisse waren normal, das heißt: immer die besten! Aber wer denkt denn daran, daß …«

»Die Blindheit gegenüber dem Naheliegenden ist es, die dem völkischen Aufbau immer wieder schadet«, sagte der Forstrat weise. »Du lieber Himmel, wenn man bedenkt, wieviel ungenutzte Talente in diesem Hesslich schlummern! Er ist ein guter Mann, aber im Grunde ein ganz fauler Hund. Was könnte aus dem noch alles werden! Warum hat der Bursche bloß keinen Ehrgeiz? Da muß doch was zu machen sein …«

Man »machte« tatsächlich etwas: Das Staatsforstamt verzichtete zum nächstfälligen Termin, für den Forsteleven Peter Hesslich erneut einen Antrag auf Zurückstellung vom Wehrdienst wegen Unabkömmlichkeit zu stellen, sondern gab ihn für das Militär frei. Vertraulich schrieb der Forstrat an den Kommandeur des Wehrkreiskommandos: »Peter Hesslich ist hochbegabt in allen Sportarten und ein hervorragender Schütze. Unserer Behörde liegt viel daran, daß seine Talente auch beim Militär gefördert werden. Peter Hesslich berechtigt zu den größten Hoffnungen im Sinne des Führergedankens, daß eine Auslese unter den besten deutschen Männern die Zukunft des Reiches sichert.«

Ein infamer Brief, der sich aber gleichzeitig als eine Art Schutzpaß für Peter Hesslich erweisen sollte. Das Wehrkreiskommando in Münster nahm sich den Brief zu Herzen. Der General höchstpersönlich ließ sich Hesslich vorführen, fand aber bis auf die rehbraunen, romantischen Augen nichts Besonderes an ihm.

Erstaunlich, dachte er, diese sanften Augen können also unfehlbar ins Schwarze zielen. Na denn, wollen wir mal sehen, wie eine ordentliche militärische Erziehung bei ihm anschlägt!

Nach einem Jahr Dienst bei der Infanteriekompanie in Wesel, immer wieder unterbrochen durch sportliche Lehrgänge, erreichte er den Dienstrang eines Obergefreiten, was seine Vorgesetzten als pure Schande ansahen. Er bekam einen Anschiß von seinem Kompaniechef, sein Leutnant schliff ihn, »damit Ihnen im Arsch das Wasser kocht und endlich Ihr Hirn frei wird«; aus dem Gelände kam er stets als der Dreckigste heraus, beim Manöver in Munsterlager und in der Lüneburger Heide war er Meldegänger und wurde herumgehetzt, bis er wie ein Hund hechelte. Aber als ihn dann sein Hauptmann fragte: »Na, Hesslich, wie fühlen Sie sich? Als Fähnrich und später als Offizier brauchen Sie das alles nicht mehr — da lassen Sie die anderen springen«, antwortete er zackig:

»Ich fühle mich nicht zum Offizier berufen, Herr Hauptmann. Ich bin Förster.«

Das änderte sich alles, als am Freitag, dem 1. September 1939, Hitler vor dem Reichstag, den er zum erstenmal in einem feldgrauen Uniformrock betreten hatte, mit dröhnender Stimme ausrief: »Ich habe mich nun entschlossen, mit Polen in der gleichen Sprache zu reden, die Polen uns gegenüber seit Monaten anwendet … Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen …« Die Rede endete mit der unmißverständlichen Verkündigung dessen, was von diesem Tage an das Schicksal aller Deutschen sein würde:

»So wie ich selber bereit bin, jederzeit mein Leben einzusetzen — jeder kann es mir nehmen — für mein Volk und für Deutschland, so verlange ich dasselbe auch von jedem anderen. Wer aber glaubt, sich diesem nationalen Gebot, sei es direkt oder indirekt, widersetzen zu können, der fällt! Verräter haben nichts zu erwarten als den Tod! Wir alle bekennen uns damit nur zu unserem alten Grundsatz: Es ist gänzlich unwichtig, ob wir leben, aber notwendig ist es, daß unser Volk lebt, daß Deutschland lebt!«

Peter Hesslich befand sich, als er diese Rede im kleinen Bakelit-Volksempfänger hörte, bereits in der Angriffsausgangsstellung bei Neusalz an der Oder. Er gehörte zum Kompanietrupp, lag also mit Feldküche, Schreibstube und Troß hinter der ersten Linie und ertrug mit der himmlischen Geduld eines Oberschnäpsers die Kommentare des Hauptfeldwebels seiner Kompanie, die in dem Satz gipfelten:

»Du mußt mit dem Führer ‘ne gemeinsame Großmutter haben, sonst wärste nicht hier, sondern beim ersten Stoßtrupp!«

Im Januar 1943, nach Frankreich-Feldzug und Rußland-Vormarsch im Mittelabschnitt bei der 9. Armee, war Peter Hesslich immer noch nicht weiter als bis zum Unteroffizier gekommen. In seiner Wehrstammrolle fand sich die Beurteilung: »Er ist ohne Ehrgeiz, versieht seinen Dienst nach Vorschrift, fällt in keiner Weise auf, ist oft lässig in seiner Art. Ein guter Kamerad in jeder Frontlage, als Gruppenführer etwas lasch, aber der beste Schütze der Division. Gewann alle Preisschießen mit der höchstmöglichen Punktzahl.«

Eine miese Beurteilung, bis auf den letzten Teil. Sie wurde Hesslich zum Schicksal.

Das ganze Jahr 1942 reiste er mit einem Sonderkommando an der Front herum. Wo er auftauchte, wurde er mit Staunen oder mit scheelen Blicken empfangen. Wo immer auf sowjetischer Seite sibirische Scharfschützen den Stellungskrieg zu einem tödlichen Duell werden ließen, erschien Peter Hesslich mit seiner Spezialeinheit. So war es bei Demjansk, vor Leningrad, am Peipussee, bei Smolensk, bei Woronesch und im Partisanengebiet in den Pripjet-Sümpfen und an der Rollbahn um Orscha herum.

»Die kochen auch nur mit Wasser!« sagten die Scharfschützen der deutschen Bataillone, wenn Hesslich auftauchte, sich in den Löchern im Niemandsland einrichtete und dann mit einer geradezu unheimlichen Ruhe die Duelle mit den sowjetischen Gegnern gewann. »Abknipsen« nannten sie es. Es war ein unerbittlicher Einsatz, dem Peter Hesslich nicht mehr auswich. Nachdem er ein paarmal erlebt hatte, wie präzise die Sibirier Essenholer, Melder, Horchposten und sogar Sanitäter mit der Rot-Kreuz-Binde abschossen, wie eiskalt Burschen aus Taiga und Tundra herumschlichen und immer ihr Ziel fanden, verschob sich sein ethisches Weltbild. Das schreckliche Gefühl, einen Menschen bewußt getötet zu haben, wich dem einfachen Grundsatz: Du oder ich!

1942 bekam Peter Hesslich das EK I, die goldene Nahkampfspange und einen Händedruck von Generalfeldmarschall v. Kluge, dem Oberkommandierenden der Heeresgruppe Mitte. Dann wurde er aus der Front herausgezogen und nach Posen versetzt. Dort saß er nun in einem warmen Zimmer, mit Gardinen vor den Fenstern, viel Freizeit und Langeweile, lag sechs Stunden am Tag in einem Schießstand und »knipste« bewegliche Ziele ab, robbte durch das Gelände, aus dem plötzlich ein Pappkamerad aufzuckte, den er sofort abschoß, hechtete durch Wälder, wo in Baumkronen versteckte Ziele auf ihn warteten, schoß im Laufen und Fallen, beim Wegrollen und bis zum Hals im Wasser stehend, kroch, als Busch getarnt, über flache Ebenen und wartete in hohlen Baumstämmen auf die ihm zugeteilten hölzernen und bemalten Gegner.

Das alles gehörte zu einer Spezialausbildung, der man eine kleine Gruppe unterworfen hatte. Sie lebte am Stadtrand von Posen in einem alten Fabrikgebäude, wurde von einem Major befehligt und war anonym. Am Eingang der Fabrik stand kein taktisches Zeichen, kein Hinweis auf die Einheit. Nur ein Schild war angebracht: Betreten streng verboten. Seuchengefahr!

»Was Besseres kann uns gar nicht passieren«, sagte der kleine, wieselflinke Unteroffizier Uwe Dallmann zufrieden, als er zusammen mit Hesslich in Posen eintraf und vor dem Fabriktor stand. Hesslich kam aus Woronesch, Dallmann aus Rostow — auf dem Weg zum Quartier trafen sie sich und fanden einander sofort sympathisch. Dallmann war ein fröhlicher, blonder Junge von 22 Jahren, mit hellen blauen Augen und zierlichen Händen. »Hier kontrolliert uns keiner. Wenn wir hier Weiber reinschmuggeln, sind wir sicher. Platz zum Verstecken haben wir genug.«

Major Molle schienen solche Erwägungen nicht fremd zu sein. Als Hesslich und Dallmann sich bei ihm meldeten, sagte er fast väterlich:

»Wir sind hier eine kleine Gruppe, die auf Tod und Verderben miteinander verbunden ist. Wir haben vom OKH einen Sonderstatus, bekommen die besten und neuesten Waffen und die perfekteste Ausrüstung, um die uns jede SS-Einheit beneiden kann. Ihr werdet verpflegt werden wie die Preisbullen, aber das heißt nicht, daß ihr jetzt jeden Rock bespringen sollt! Der Dienst, der euch erwartet, wird euch in die Knochen kriechen und euch bis zum Mark zerfressen. Ihr werdet gar kein Verlangen nach Weibern mehr haben, aber dafür die besten Schützen der Wehrmacht sein! Besser als die Sibirier, das verspreche ich euch, sonst leckt ihr mir den Fabrikhof sauber! Es handelt sich hier um eine geheime Kommandosache, verstanden? Wenn irgend etwas draußen bekannt wird, wenn ich auch nur ein einziges Weibsstück hier erwische, dann gibt es ein Kriegsgerichtsverfahren mit allem Pipapo! Ihr wißt, was ich mit Pipapo meine?!«

»Jawoll, Herr Major!« hatten Hesslich und Dallmann gebrüllt.

»Einer hat es versucht. Er ist jetzt bei 999!«

999 — das war ein Strafbataillon der Wehrmacht, von dem oft die Rede war, obwohl man kaum etwas Genaues wußte. Nur eines war klar: Wer zu 999 kam, hatte gewissermaßen seinen Totenschein schon blanko in der Tasche.

Hatte Hesslich bisher geglaubt, ein guter Schütze zu sein, so bewies ihm Major Molle jetzt in Posen, daß er gegenüber seinen Schießkünsten ein Bettnässer, ein Pißartist war. Erst als Hesslich im unübersichtlichen Gelände einen Pappkameraden in sowjetischer Uniform mit dem Gesicht eines jungen, hübschen Mädchens durch einen fabelhaften Kopfschuß auslöschte, war Major Molle zufrieden.

An diesem Mädchen aus Pappe waren alle anderen Kursteilnehmer gescheitert. Als sie das schöne Gesicht mit den schwarzen Locken sahen, das plötzlich seitlich von ihnen aus dem Kusselgelände auftauchte, hatten sie eine Sekunde oder länger verblüfft gezögert. Bevor sie dann schossen, brüllte Major Molles Stimme schon aus dem Lautsprecher. Er hatte die Situation voll im Scherenfernrohr.

»Sie sind tot, Dallmann!« dröhnte es. »Im Ernstfall hätten Sie jetzt ein Loch im Schädel! Warum haben Sie so dämlich geglotzt? Weil es ein Weib ist? Dallmann, der Tod hat tausend Kostüme! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?!«

So erging es allen, nur Hesslich »knipste« ohne Verzögerung. Zur Belohnung durfte er die Fabrik verlassen. Stadturlaub bis zum Wecken.

Wohin geht ein Soldat nach neun Wochen Isolierung bei guter Verpflegung?

»Jetzt braucht der Puff von Posen eimerweise essigsaure Tonerde zum Kühlen«, sagte Dallmann neidvoll. »Jungs, der muß erzählen, wenn er nach Hause kommt! Wer von euch weiß denn noch, wie eine Brustwarze aussieht?!«

Aber mit Hesslich war eben alles anders. Er hetzte nicht ins Puff, sondern besuchte das Stadttheater Posen und sah sich »Ein Bruderzwist in Habsburg« von Franz Grillparzer an.

»Total bekloppt!« stöhnte Uwe Dallmann erschüttert, als Hesslich davon berichtete. »So etwas bekommt einen Urlaubsschein bis zum Wecken! Grillparzer …«

Am 10. Januar 1943 ließ Major Molle Hesslich und Dallmann zu sich rufen.

»Sie werden übermorgen an die Heeresgruppe Don abgestellt und melden sich bei der 8, italienischen Armee.«

»Oje!« sagte Dallmann vorlaut. Molle sah ihn erstaunt an.

»Was soll das heißen, Unteroffizier?«

»Zu den Itakern! Sollen wir denen zeigen, wie man ein Gewehr lädt?«

»Ihr Vorurteil gegenüber unseren Verbündeten wird Ihnen schon noch vergehen, Dallmann. Die Italiener haben Beachtliches geleistet. Als die erste Garde-Armee der Sowjets massiv die Front am Don angriff, hat die geschwächte, von der mörderischen Kälte fast erstarrte 8. italienische Armee ein Rückzugsgefecht geliefert, das sich sehen lassen konnte. Die an Sonne gewöhnten Italiener haben in diesem Frost vor Verzweiflung geweint, aber es gelang ihnen, die Einkesselung aufzubrechen. Sie schlugen sich nach hinten durch, setzten sich schließlich an der Bahnlinie Millerowo — Rossosch fest und bildeten so einen Keil zwischen der sowjetischen 6. Armee und 1. Garde-Armee. General Badanow von der 1. Garde behauptete zwar: ›Die Italiener sind weggeblasen!‹, aber das stimmt nicht. Sie halten ihre Stellung! Und Sie beide reisen übermorgen genau dorthin. Die Italiener haben im Gebiet von Tschjertkowo Kummer.«

»Also doch!« sagte Uwe Dallmann.

Major Molle blickte Hesslich und Dallmann ernst an und klappte dann eine Mappe auf. »Der Befehl kommt vom OKH selbst. Berichte von Abwehr und Fremde-Heere-Ost bestätigen folgende Beobachtungen der Italiener: Bei Tschjertkowo liegt ihnen ein Frauenbataillon gegenüber. Scharfschützinnen. Die Verluste sind alarmierend. Jungs« — Molle gab sich erstaunlich leutselig und vertraut — »ich erwarte von euch, daß ihr am Don nicht vergeßt, was ihr in Posen gelernt habt. Ob rote Lippen oder stramme Titten — euch liegt der Tod gegenüber. Sonst nichts! Denkt immer daran: Der Tod hat tausend Kostüme!«

An diesem Abend wurde noch einmal kräftig gesoffen. Uwe Dallmann geriet gegen Morgen in eine weinerliche Stimmung und greinte immerzu: »O Scheiße! O diese Scheiße! Gegen Weiber müssen wir kämpfen … ich muß sie umlegen, ohne mich draufzulegen … dieser Scheißkrieg!« Er lag auf dem Rücken, starrte gegen die Zimmerdecke, und sein Gesicht zuckte wie unter Krämpfen.

Aber zwei Tage später, am 12. Januar, fuhren sie dann doch nicht ab.

Am 12. Januar brüllte am Don, vom großen südlichen Bogen bis 500 km hinauf nach Norden bei Nowosil, östlich von Orel, die Front unter dem Donnern von 16.000 Geschützen auf.

Die sowjetische Winteroffensive hatte begonnen.

Die Brjansker Front unter General Reiter, die Woronesch-Front unter General Golikow, die Südwest-Front unter General Watutin und die Süd-Front unter Generaloberst Jeremenko fluteten nach Westen. Sie fluteten im wahrsten Sinne des Wortes: 13 sowjetische Armeen mit 7.100 Panzern und 2,4 Millionen Soldaten rannten gegen 6 deutsche und verbündete Armeen an, gegen deutsche Divisionen, die oft nur noch Brigadestärken hatten, gegen deutsche Kompanien, die aus 40 oder 50 vom klirrenden Frost entnervten und ausgemergelten Männern bestanden, die längst alle Hoffnung aufgegeben hatten.

Ein rotes Meer überschwemmte die Steppe am Don. Mit voller Wucht traf die sowjetische 1. Garde-Armee auf die italienische 8. Armee und durchstieß die Stellungen in einem Sturmlauf von Infanterie und Panzern, nachdem zuvor die Artillerie stundenlang die Menschen in die Erde gehämmert hatte.

Die gesamte deutsche Front wich unter diesem Anprall zurück. Bei heulenden Eisstürmen begann der Rückzug, durchschlug man die sich überall abzeichnenden sowjetischen Kessel, rettete in Gewaltmärschen, was noch mitzuschleppen war, flüchtete vor den Massen ausgeruhter russischer Soldaten und ihrer materiellen Überlegenheit, gegen die es keine Mittel gab.

Einen Tag vor dem großen Artillerieschlag, mit der die Offensive eingeleitet wurde, zog sich die Frauensondereinheit des Kapitäns Soja Valentinowna Bajda aus der Hauptkampflinie zurück und entfernte sich zunächst mit Schlitten, später dann mit Lastwagen aus dem unmittelbaren Frontbereich. Erst in Bokowskaja am Tschir, noch hinter den festen Stellungen der schweren Artillerie, machte sie halt und bekam in einem Verwaltungsgebäude der Sowchose »Ewiger Don« Quartier.

Miranski atmete auf. Hier war der Krieg weit genug weg, so daß er mit Überzeugung sagen konnte: Das ist noch einmal gutgegangen. Er hatte befürchtet, daß auch seine Abteilung würde stürmen müssen, wie es — z.B. in Leningrad und Stalingrad — andere Frauenkompanien getan hatten. Aber General Watutin hatte anders entschieden. Einen Tag vor der Offensive hatte er Besuch von General Iwan Rasulowitsch Kitajew erhalten, einem Genossen aus der Befehlszentrale in Moskau. Kitajew hatte zu verstehen gegeben, daß gerade diese Frauenabteilung zu wertvoll sei, um einem Sturmangriff ausgesetzt zu werden. Sie war auf den Grabenkrieg spezialisiert. Ein Mädchen wie Stella Antonowna war ein unsichtbarer Einzelkämpfer, kein in der Masse mitlaufendes Glied, das im Angesicht des Feindes ein nervenerschütterndes »Urräää« brüllte.

Während Peter Hesslich weiterhin in Posen saß, die Wehrmachtsberichte hörte und in einem Schulatlas verfolgte, was man unter taktischer Frontverkürzung verstand, wurde Stella Antonowna von General Watutin, dem Kommandeur der Südwestfront, empfangen. Im Trubel des siegreichen Vormarsches, im Gewirr von Menschen, Wagen, Panzern, Pferden und Kanonen, fand Watutin ein paar Minuten Zeit für sie. Er drückte ihr die Hand, studierte ihr Trefferbuch und umarmte sie herzlich.

»Neunundvierzig Deutsche! Wir sind stolz auf dich, Genossin Korolenkaja!«

Sie erhielt ihre zweite Tapferkeitsmedaille. Es gab in der Roten Armee nur noch eine einzige Scharfschützin, die Stella Antonowna übertraf — die sagenhafte Ludmilla Pawlitschenko aus der 25. Infanteriedivision. Sie hatte bisher 105 Treffer.

»Du wirst sie noch einholen, Stellanka«, sagte Miranski, als sie nach dem Besuch bei General Watutin zurück nach Bokowskaja kam. »Ludmilla ist länger im Einsatz als du. Warte ab, bis wir wieder nach vorn kommen. Oder hinter die deutschen Linien mit dem Fallschirm. Zeig einmal deine neue Medaille. Ha, wie sie in der Sonne blinkt! Ist sie aus Gold? Nein, sicherlich nur vergoldet, aber was macht’s? Es ist eine große Ehre — jeder kann sehen, wie tapfer du bist!«

Unaufhaltsam stießen die sowjetischen Armeen auf Rostow und Charkow vor. Die deutsche Heeresgruppe B unter Generaloberst v. Weichs gab es praktisch nicht mehr.

In Posen sagte Uwe Dallmann gemütlich: »Mit diesem Scheiß am Don dürfte unser Weibereinsatz am Arsch sein! Gott sei Dank, davor hatte ich einen Horror!«

Uwe Dallmann irrte sich gewaltig.

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Im April hatte sich die Welt verändert. Besser sah sie nicht aus — wie sollte sie auch? —, aber immerhin zeichnete sich die Zukunft klarer ab. Das hatte nichts mit dem Frühling zu tun, nichts mit der Schneeschmelze und dem krachenden Eis auf den Flüssen, nichts mit grundtief verschlammten Straßen und den ersten warmen Strahlen der Sonne, die über Nacht das Gras ergrünen ließen, Krokusse aus der Erde zauberten, die Weidenbäume gelb überhauchten und die Pappeln in einem Silberglanz erscheinen ließen. Mochte sich auch die Natur an den gottgegebenen Jahresrhythmus halten, obwohl Panzerketten und Granaten wüteten und Brand weite Gebiete schwärzte — worauf es ankam, war, daß die vier sowjetischen Armeegruppen die gesamte deutsche Südfront eingedrückt hatten, daß der Don nun wieder ein russischer Fluß war, in dem man nach dem donnernden Eisbruch wieder mit Angel und kleinen Netzen fischen konnte und in dessen Ebene auf den Feldern und in den Dorfgärten wieder die Hacke den Boden aufwühlte, Pflanzen gesetzt und Samenkörner gestreut wurden. Woronesch war zurückerobert worden. Kursk lag im Mittelpunkt eines sowjetischen Frontkeils, der sich zwischen Orel und Charkow tief in die deutschen Linien gegraben hatte. Rostow feierte die zurückgekehrten russischen Brüder und begann sofort mit dem Wiederaufbau, obgleich die deutschen Stellungen bei Taganrog fast greifbar nahe verliefen, was jedoch niemanden störte … Man wußte genau, daß es den Deutschen nie mehr gelingen würde, noch einmal bis zum Don zu kommen.

Im tiefen Süden hatte die Heeresgruppe A unter dem Oberbefehl von Generaloberst von Kleist den gesamten Kaukasus räumen müssen und war aufgelöst. Die 1. Panzer-Armee hatte sich in Gewaltmärschen an den Donez durchschlagen können, die 17. Armee zog sich auf die Taman-Halbinsel zurück, welche sich zwischen das Asowsche Meer und das Schwarze Meer schiebt, und wurde hier eingekesselt. Ein Schicksal, wie es die 6. Armee in Stalingrad getroffen hatte, zeichnete sich jetzt auch bei der 17. Armee ab: Hitler befahl unbedingtes Durchhalten. Der dringende Appell v. Mansteins, diese Armee auf die Krim zu evakuieren, weil fünf sowjetische Armeen gegen die ausgelaugten, müden deutschen Truppen anrannten, wurde im Führerhauptquartier vom Tisch gefegt.

Der Siegeszug der russischen Divisionen endete erst am 26. März. Sie hatten das große Ziel Charkow erobert, aber durch eine schnelle Gegenoffensive v. Mansteins wieder verloren. Mit unvorstellbarem, aus der Verzweiflung gespeisten Einsatz schlugen die 1. Panzer-Armee, die gerade aus dem Kaukasus völlig übermüdet eingetroffen, das XXX. Korps, Teile der 4. Panzer-Armee und die Armeeabteilung Kempf den sowjetischen Einbruch, der bis kurz vor Dnjepropetrowsk und Krasnograd vorgedrungen war, zurück und nahmen dann, unterstützt von dem Korps Kraus und dem II. SS-Panzer-Korps, die vordringende sowjetische 3. Panzer-Armee und die 40. Armee in die Zange.

Charkow, das Symbol dieser Winteroffensive, wurde erneut von den Deutschen besetzt. Die Front stabilisierte sich am Donez und Mius — der neue Grabenkrieg begann.

In diesem Frühling 1943 holte der Tod noch einmal Luft, ruhte sich gleichsam für ein paar Wochen aus und wetzte in Wirklichkeit doch nur die Sense, mit der er ganze Völker auszulöschen pflegt.

Auf deutscher und auf russischer Seite wurden die Stellungen ausgebaut. Hinter dem Donez in der Steppe bis zum Oskol und nördlich von Kursk im großen Bogen, den die Sowjets gewonnen hatten, bauten Hunderttausende an den wohl stärksten und besten Grabensystemen, die es jemals an einer Front gegeben hat: sieben befestigte Linien hintereinander, Bunker und Artilleriestellungen, Panzergruppen und Eingreifreserven, Versorgungsmagazine und Luftwaffenbasen. Die Zentralfront unter General Rokossowskij und die Woronesch-Front unter General Watutin, dieser Keil zwischen der deutschen Heeresgruppe Mitte und der Heeresgruppe Süd, wurde zu einer beispiellosen Erdfestung. Im Süden, um Charkow herum, gruben sich zwei neue sowjetische Armeegruppen ein: Die Steppenfront unter General Konjew und die Südwestfront unter Generaloberst Malinowskij.

Die Erholung war dringend notwendig. Die Winterschlacht 1942/43 hatte die Deutschen ausgeblutet — über 100.000 Gefallene, 5.000 vernichtete Flugzeuge, 9.000 zerstörte oder eroberte Panzer, Tausende von anderen Fahrzeugen, über 20.000 Gewehre und andere Waffen — wie konnte das völlig isolierte Deutschland so etwas verkraften?

Die sowjetischen Verluste waren noch höher — aber dort rechnete man anders. »Menschenmaterial« gab es genug. Totes Material, wie Lastwagen, Panzer, Waffen, Geschütze, Munition, Stahl und Benzin, Mais und anderes Getreide strömten von Amerika herüber in die ostsibirischen Häfen und konnten unangefochten zur Front gebracht werden. Die unüberschaubare Weite Sibiriens, ein eigener Erdteil, der unbesiegbar war, wurde zu einem einzigen Arsenal. Während die deutschen Waffenschmieden unter dem Bombenhagel der alliierten Luftgeschwader zusammenbrachen, rauchten 12.000 km weiter im Gebiet von Chabarowsk und Wladiwostok unerreichbar und sicher die sowjetischen Stahlwerke.

Ja, die Welt hatte sich in diesem Frühjahr 1943 verändert. Der Glorienschein der deutschen Armeen war verblichen. Sie zerbrachen an der Weite des Landes, am mörderischen Frost, am Schlamm, in dem aller Nachschub versank, an den immer neuen Menschenmassen, die aus dem Hinterland heranstürmten, an den unerschöpflichen Panzerkeilen, dem feuerspeienden Wald der Geschützrohre, den nun fast 50.000 unsichtbaren Kämpfern im Rücken der deutschen Divisionen, die Brücken und Gleise sprengten, Kolonnen überfielen und Lager in Feuersäulen verwandelten.

An einem Sonntag im späten April 1943 richtete sich die Abteilung Bajda nördlich von Bjelgorod jenseits des Donez im vordersten Graben häuslich ein.

In Melechowo an der Rosumnaja bezog der Stab zwei aufgebaute Bauernhäuser. Hier richtete man auch den vorgeschobenen Verbandsplatz ein, das Verpflegungslager, die Werkstätten, den Bataillonstroß, die Schreibstuben und die Funkstation. Auch ein Spezialwagen tauchte in Melechowo auf — ein Fahrzeug mit einer riesigen wippenden Antenne und einem aufspannbaren Schirm voller Drähte.

»Ein Wunderding ist das!« berichtete Kommissar Miranski stolz, als er in den vorderen Graben zurückkehrte. Er war in Melechowo gewesen, um mit einem Mitglied des Büros für politische Schulung um seine Stellung zu kämpfen. Der Erlaß Stalins, daß die politischen Kommissare aus den Truppenteilen zurückzuziehen und ihre Positionen von Offizieren zu besetzen seien, hatte bei Foma Igorewitsch blankes Entsetzen ausgelöst. Wie ein gerupfter, seiner männlichen Federpracht beraubter Hahn rannte er herum und beklagte den wirklichkeitsfremden Ukas aus Moskau oder saß trübsinnig auf einem Hocker und brütete über Gedanken und Argumenten für eine lange Eingabe an die Zentrale.

Mit einem Hoffnungsschimmer kehrte er nun zu »seinen Mädchen«, wie er die Scharfschützinnen nannte, zurück. Der Genosse aus Moskau hatte ihm versprochen, ein gutes Wort dafür einzulegen, daß man Miranski als Offizier im Range eines Majors übernahm. Dann konnte er bei seiner Einheit bleiben.

»Es wird gelingen«, ermutigte der Inspekteur den innerlich bebenden Miranski. »Der Ruf Ihrer Truppe ist hervorragend. Gratuliere, Foma Igorewitsch. Sie haben die besten Scharfschützinnen der Roten Armee um sich versammelt. Das weiß man in Moskau natürlich. Und man weiß auch, daß die beispielhafte innere Moral der Genossinnen Ihr Werk ist! Seien Sie voll Hoffnung, Genosse!«

Wenn jemand in Gegenwart Miranskis von Moral sprach, konnte es passieren, daß dieser nervös an seiner Unterlippe kaute. Im Grunde hatte sich Foma Igorewitsch am 3. März verändert. Die 3. Panzer-Armee hatte Charkow erobert und war auf stürmischem Vormarsch nach Poltowa, als die Gruppe Bajda in die befreite Stadt verlegt wurde. Sie bezog ein schönes Haus in der Nähe des Theaters und wartete darauf, eingesetzt zu werden.

Es war eine langweilige Zeit. Man stickte oder musizierte, bastelte Puppen oder schrieb. Ein paar Mädchen holten sich junge Burschen in den Keller des Hauses, wo sie Matratzen ausgelegt hatten, und tobten dort ihre aufgestauten Leidenschaften aus. Man ging auch ins Theater, das sofort nach der Eroberung wieder spielbereit gemacht wurde, und Miranski fuhr ab und zu an den Fluß Uda, um zu angeln. Erst in einem Eisloch, wo er vier Schnüre auslegte und auf einem dicken Fuchsfell sitzend geduldig wartete, bis die Leinen zuckten, und später im freien Wasser, wo er in einem alten Kahn hockte, den er mit einem dicken Tau am Ufer festgebunden hatte.

Eigentlich war dieser Kahn daran schuld, daß Miranski mit dieser Moral in Konflikt kam. Eines Tages hatte er Darja Allanowna Klujewa zum Angeln mitgenommen. Sie selbst hatte den Wunsch geäußert und versprochen, ganz still und ohne einen Ton von sich zu geben im Boot sitzen zu bleiben, die Fische nicht zu verschrecken und überhaupt alles zu tun, was Foma Igorewitsch befehlen würde. Sie habe sich schon immer fürs Angeln interessiert, sagte sie, und Fisch sei ihre Lieblingsspeise. Und Miranski war so gutmütig, darauf einzugehen, und so nahm er sie mit an die Uda.

Man muß Darja Allanowna kennen, um zu begreifen, worauf Miranski sich da einließ. Sie hatte rotblonde Haare, die in der Sonne wie gewachstes Kupfer schimmerten und überall, wo man es bei einem schlanken zwanzigjährigen Mädchen erwarten durfte, war ihr Körperchen mit zarten Rundungen gesegnet. Ihre graugrünen Augen blitzten, und wenn sie lachte, gruben sich an beiden Wangen sternförmige Grübchen in die Haut. Allein sie anzusehen war eine wahre Lust, und wenn sie aufgeregt erzählte, klang es wie Schwalbenzwitschern. Oft hatte Miranski ihr nachgeblickt, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, hatte ihren federnden Gang und das sanfte Sichwiegen ihrer schmalen Hüften bewundert. In ihrem Trefferbuch waren bisher 32 Abschüsse verzeichnet — ganz abgesehen von dem dreimaligen Postenklau. Nach Schanna, der Schafhirtin vom Baikalsee, war sie die Jüngste in der Abteilung. Und außerdem war sie die fröhlichste.

Darja saß also an diesem ungewöhnlich sonnigen Tag im Kahn neben Miranski, der seine Angel ausgeworfen hatte und auf den Schwimmer aus Kork starrte. Für einen 3. März war es eigentlich viel zu warm. Auf der Uda trieb noch in dicken, großen Schollen das Eis, doch war die Stelle, die Miranski sich ausgesucht hatte, eisfrei. Sie lag in einer kleinen Bucht, in der die Fische gern Zuflucht suchten.

Sei es nun, daß es bei Darja Sauerstoffmangel war, sei es, daß die Sonne und die Frühlingsahnung in der Luft ihr Blut in Wallung brachten — jedenfalls schob sie, zur maßlosen Verblüffung Miranskis, der sie aus den Augenwinkeln beobachtete, zuerst ihren Rock bis zu den Schenkeln hoch, knöpfte sich dann die Bluse auf, dehnte und reckte sich, was ihren jungen Brüsten sehr gut stand, und streckte die schlanken Beine.

Unter Foma Igorewitschs angegrauten Haaren begann es zu jucken. Die pralle, weißschimmernde Haut ihrer Schenkel, die aussahen, als seien sie aus Perlmutt geschnitten, ließ seinen Hals trocken werden, und wenn sein Blick auf Darjas Brüste fiel, verengte sich seine Luftröhre wie unter Krämpfen.

»Erkälten wirst du dich!« sagte er mit heiserer Stimme, als Darja die Bluse von den Schultern abstreifte. »Noch haben wir keinen Frühling!«

»Ich spüre ihn aber!« Sie lachte glucksend und stupste Miranski mit den Fußspitzen in die Seite. »Oder meinst du, es stört die Fische, wenn ich mich so zeige?«

»Die Fische sind gefühllos …«, brummte Miranski.

»Das Eis auch?«

»Natürlich das Eis auch!«

»Und der Ufersand. Und auch die Weiden, die Haselbüsche, das Gras, die Kieselsteine, die Flechten, der Kahn und das Wasser … der Wind, die Sonne, der Himmel, die Wolken — alle haben kein Gefühl! Wen also stört es?«

»Mich!« sagte Miranski dunkel. Er wandte sich ihr zu, starrte sie mit umflorten Augen an und es kam ihm vor, als würde er beim Anblick ihrer zarten, weißen straffen Haut von Tausenden kleinen Stichen in der Brust gepeinigt. Er schob die Unterlippe vor, als wolle er Darja anspucken, und nestelte unruhig an seiner Jacke herum.

»Wieso kann dich das stören?« fragte sie und sah ihn dabei verschmitzt an. »Foma Igorewitsch, behaupten Sie bloß nicht, Sie hätten Gefühle!«

»Ich bin ein Mann!« sagte Miranski hart.

»Wenn es in Ihren Papieren steht, dann wird das wohl stimmen. Ach ja, und einmal habe ich durch Zufall gesehen, wie Sie an der Scheunenwand standen und Ihr Wasser abschlugen mit einem schönen Strahl. Eine Frau kann so etwas nicht …«

Der Spott fraß sich wie konzentrierte Schwefelsäure tief in Miranskis Seele ein. Er atmete tief durch die Nase, trommelte mit den Fingern gegen seine Brust und glotzte auf die Stelle, wo Darjas Schenkel zusammentrafen. So hoch war der Rock inzwischen gerutscht.

»Auch ein blinder Hengst wittert die Stute«, sagte Miranski dumpf.

»Wenn er noch ein Hengst ist.« Wieder lachte Darja glucksend, begann sich erneut zu recken, worauf der Kahn zu schaukeln und zu schwingen anfing. »Sie sind doch verheiratet, Foma Igorewitsch! Wie lange? — Ach, was frage ich. Erinnern Sie sich noch, wie sie aussieht? Hat sie einen runden Hintern? Dicke Brüste? Wann haben Sie es zum letzten Mal mit ihr getrieben? Ja, natürlich — vor über fünf Monaten, als Sie Urlaub hatten. Zwar nur eine Woche lang — aber, ach ihr Heiligen, was kann man in einer Woche nicht alles anstellen! Wie heißt es denn, das Weibchen in den Spinnweben? Praskowja Iwanowna — stimmt’s? Womit hat Foma Igorewitsch ein so gutmütiges Frauchen wie Praskowja verdient?«

»Halt’s Maul, du Hurenmensch!« brüllte Miranski. »Paß auf, was gleich mit dir geschieht! Prügeln werde ich dich, und keiner wird später sagen können, das sei ungerecht gewesen. Du heiße Katze! Zieh dich an, sage ich! Das ist ein Befehl! Wir sind im Krieg, noch dazu an der Front! Du bist im Dienst, du rossiges Luder … Willst du dich wohl zudecken!«

Er sprang auf, um ihr den Rock wieder über die Schenkel zu ziehen. Aber dabei machte er eine so heftige Bewegung, daß der alte Kahn gefährlich ins Schwanken geriet. Der Kommissar suchte Halt, sah sich schon ins eiskalte Wasser stürzen, griff um sich, bekam Darjas harte Brüste zu fassen und hielt sich an ihnen fest. Das Schicksal wollte es, daß er gleichzeitig auf dem schmierigen Holzboden ausrutschte, mit vollem Gewicht nach vorn schlug und daß Darja niederfiel. Sofort schlang sie die Arme um ihn, klemmte ihn mit ihren Beinen ein und lachte ihm kreischend ins purpurrote, verzerrte Gesicht.

Wie gesagt, von jenem 3. März an scheute Miranski das Wort Moral. Er hatte dafür auch kaum eine Verwendung, denn Darja Allanowna schlich jede Nacht zu ihm ins Zimmer und huschte erst gegen Morgen wieder hinauf in die Wohnung, die von der Gruppe Bajdas als Quartier benutzt wurde. Miranski mußte, allen bisherigen Mutmaßungen zum Trotz, ein vorzüglicher Liebhaber sein. Wenn man Darja fragte, gab sie keine Antwort. Nur ihre graugrünen Katzenaugen leuchteten auf. Leutnant Ugarow, der im Schlafzimmer der vollblütigen Soja Valentinowna einen harten Dienst absolvierte, nahm Miranski bei einer Partie Schach ins Verhör.

»Man munkelt«, sagte er mit einem tadelnden Unterton, »Sie und Darja Allanowna …«

»Ich gönne Ihnen ja auch die Bajda!« fuhr Miranski dazwischen.

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Das ist mein Problem.«

»Wie ist sie?« Ugarow beugte sich vor. Seine Stimme klang verschwörerisch. »Freundschaftliche Anteilnahme, Foma Igorewitsch. So ein junges Rößlein …«

»Was soll man sagen?« Miranski grinste stolz. »Sie ist Studentin der Architektur. Nun ja, und da hat sie immer neue Ideen, wenn es gilt, etwas aufzubauen!«

Es war schon eine fröhliche, fast sorgenfreie Zeit in Charkow. Dann aber eroberten die Deutschen die Stadt zurück, und die Einheit Bajda wurde wieder abgezogen und nach Kupjansk am Oskol verlegt. Dort warteten die Mädchen, bis am 25. März die Fronten erstarrten und allen klar war: Jetzt kommt das große Atemholen, das Kräftesammeln, der Stellungskrieg.

Die große Zeit der Scharfschützen.

Die Zeit des Lauerns und Heranschleichens an Menschen, die schon tot waren, wenn sie im Fadenkreuz des Zielfernrohres auftauchten. Die paar Sekunden Leben, die ihnen dann noch verblieben, werden nicht gerechnet …

Nun also war Miranski von Melechowo zurückgekommen und brachte die Nachricht mit, daß er als Major weiterhin die Fraueneinheit betreuen würde. Kapitän Bajda umarmte ihn, Ugarow klopfte ihm auf die Schulter, Darja Allanowna wartete ungeduldig auf die Dunkelheit, um sich an ihn zu schmiegen.

Es war eine wahre Luxusstellung, die man hier errichtet hatte. Die 7. Garde-Armee, die diesen Abschnitt besetzt hatte, gehörte zu der neuen Steppenfront des Generals Konjew, frische, kräftige Männer aus der Reserve, Regimenter, die vor Materialüberschuß beinahe aus den Nähten platzten. Das siebenfach gestaffelte Grabensystem, das sie aushoben, war eine bauliche Meisterleistung. Da gab es abgestützte Gräben und Unterstände mit dicken Bohlendecken, Erdbunker mit dreifachen Balkenlagen, Laufgräben, durch die man nicht geduckt rennen mußte, mit ebenso tiefen Gräben verbundene Vorposten, in denen man gut geschützt gegen Splitter, unsichtbar gegen Luftbeobachtung und völlig sicher gegen direkten Beschuß in überdeckten Löchern saß. Und weiter hinten wurden von Soldaten und der überlebenden Zivilbevölkerung beim Bau uneinnehmbarer Auffangstellungen Millionen Kubikmeter Erde bewegt. Dort würden — möglich ist ja alles in einem Krieg — die sowjetischen Divisionen Zuflucht nehmen können, wenn die Deutschen tatsächlich noch einmal mit einer Offensive Erfolg haben und die siebenfache Linie durchbrechen sollten.

Die Scharfschützinnen der Gruppe Bajda bezogen einen Grabenabschnitt mit geräumigen Erdbunkern und direkten Laufgräben zum Bataillon. Nicht weit hinter ihnen, zwischen niedrigen Hügeln und in Waldstücken, lagen die vordersten Artillerie-Batterien, schwere Granatwerfer, Paks und Flaks. Bei Melechowo standen bereits die Panzer und die Abteilung, die Miranski als Wunderding bezeichnet hatte, in Stellung: ein Lauschwagen. Ein Spezialfahrzeug mit einem Antennenwald. Es fing im Umkreis der Division alle Funksprüche der deutschen Seite auf. Code-Spezialisten entzifferten die verschlüsselten Meldungen.

Stella Antonowna hatte die neue Stellung genau untersucht. Vor ihnen lag der Nördliche Donez, jener träge, sandige Fluß mit den gewellten Ufern, den vielen kleinen Buchten und den von der Strömung und vom Eisgang ausgesägten Halbinseln. Jetzt lag er im Niemandsland und bildete eine Grenze, die von jeder Seite überwunden werden mußte, sobald es zum neuen Angriff kam. Drüben lagen die Deutschen in einem Grabensystem, dessen Zickzacklinien sich vor allem vor Bjelgorod hinzogen. Bjelgorod war ein Schicksalsname wie Charkow, viermal erobert und viermal verloren und jetzt Drehpunkt zwischen der deutschen 4. Panzer-Armee und der Armee-Abteilung Kempf. Von Bjelgorod hatte Adolf Hitler zu träumen begonnen, als er in seinem Hauptquartier »Wolfsschanze« bei Rastenburg den am 26. März 1943 stabilisierten Frontverlauf auf der Karte verfolgte. Bjelgorod, ein Dolch in der weichen Südflanke von Watutins Woronesch-Front. Bjelgorod — hier, so träumte der »Führer«, würde sich das Schicksal wenden, von hier aus würde ein Siegeszug beginnen und die totale Vernichtung des sowjetischen Heeres eingeleitet werden. Das deutsche Volk und die Welt sollten Stalingrad, das blutige Menetekel dieses Krieges, ein für allemal vergessen.

Auf sowjetischer Seite war man bestens im Bilde. Ein Spionagering mit dem Decknamen »Luzy«, der von der neutralen Schweiz aus operierte, lieferte hervorragende Informationen. Seine Verzweigungen reichten wie ein Pilzgeflecht bis in die deutschen Stäbe und Rüstungsplanungsbehörden. Kaum eine Einzelheit blieb ihm verborgen. Der langsame, aber präzise Aufbau einer deutschen Offensive, die Bereitstellung der besten Waffen und Materialien, das Heranrollen von Tiger-Panzern und dem neuen Kampfpanzer »Panther« mit seiner konkurrenzlosen 7,5-cm-Langrohrkanone, das Auftauchen des geheimnisvollen, ferngelenkten Kleinpanzers »Goliath«, einer rollenden Supergranate — über all dies wurde Moskau nüchtern und zuverlässig von der Schweiz aus Bericht erstattet.

»Dora an Direktor …«

»Direktor an Dora …« — so begann jeder Funkspruch. Die Nachrichtenzentrale der Roten Armee hatte ein Ohr in der bestgehüteten Festung der Welt, dem Führerhauptquartier. Das Geheimnis der kommenden deutschen Offensive lasen die sowjetischen Generäle wie eine normale Morgenmeldung.

Stella Antonowna brauchte zwei Tage, um zu wissen, was ihre Aufgabe war. Stundenlang lag sie im hohen Gras des Donezufers und blickte über den Fluß zu den deutschen Stellungen. Nur mit den besten Ferngläsern waren die deutschen Befestigungen andeutungsweise zu erkennen. Zwischen Donez und den feindlichen Bataillonen lagen einige hundert Meter Steppe und Kusselgelände, zerzauste Waldstücke und verlassene Bauernhäuser.

Stella war sich sicher, daß dort drüben, im weiten Niemandsland, deutsche Erkundungstrupps — oder auch bloß Spaziergänger — bis an den Fluß kamen. Auf sowjetischer Seite wurde ja auch nachts in den Buchten des Donez gebadet. Ein Tummelplatz im Schutze trügerischer Ruhe und Lethargie — ein Streifen freies Land, ein in der Sonne silbrig glitzernder Fluß, grünende Wiesen und sandige Ufer. Wie schön es war, auf der warmen Erde zu liegen, in den blauen Himmel zu blicken, die Wolken zu zählen, dem Schwirren der Bienen zu lauschen, dem Gesang der Rohrdommeln und dem Gezirpe der Grillen. Die Welt ist voller Paradiese — und es bleibt unbegreiflich, warum der Mensch mit abgrundtiefer Verbissenheit ihre Zerstörung betreibt.

»Morgen nacht fangen wir an«, sagte Stella Antonowna zu Kapitän Bajda. »Es gibt zahlreiche Möglichkeiten. Ich nehme Marianka, Schanna, Lida und Darja mit.«

Soja Valentinowna nickte. Sie war in den Wochen der Ruhe noch fülliger geworden. Ihre Brüste wölbten sich breit über den Gürtel der Uniformbluse. Wenn Ugarow ihr beim Entkleiden zusah, seufzte er innerlich und bekam Angst vor dieser schwellenden Fülle.

Die Front war gewissermaßen in Schlaf versunken, aber die Einzelaktionen hörten nicht auf. Sie waren wie Nadelstiche in einen um Ruhe bemühten Körper — eine ständige Erinnerung: Tod den Aggressoren! Tod den Faschisten! Solange ein deutscher Fuß auf russischer Erde steht, kämpfen wir.

In der Nacht setzten Stella und ihre Kameradinnen zum ersten Mal über. Sie benutzten ein kleines, gelbgraues Schlauchboot, paddelten fast lautlos durch die Strömung, luden am anderen Ufer ihre Gewehre aus und krochen den Uferhang hinauf. Dort gaben sie sich liegend die Hand und trennten sich.

Neunzehn Soldaten, sieben Unteroffiziere und Feldwebel, ein Fähnrich und ein Leutnant wurden getötet. Ein Trupp von fünf Pionieren, die im Donez fischen wollten, kehrte nicht zurück und blieb vermißt. Zwei Gefreite der Nachrichtenkompanie, die in einem Stall im Niemandsland zwei Ferkel pflegten und gerade zwölf Hühner angeschafft hatten, wurden neben den umgekippten Futtereimern gefunden. Weitere vier Mann — der eines Trupps, der nachts den Donez überqueren wollte, um sich im sowjetischen Vorfeld umzusehen, lagen nebeneinander, aufgereiht wie geschlachtete Tiere, im Ufersand.

Neununddreißig Tote — und alle starben an Kopfschüssen. Es gab keine Kampfspuren, keine anderen Verletzungen. Sie starben alle völlig ahnungslos den Sekundentod. Neununddreißig Tote im Einzelkampf innerhalb von nur zehn Tagen.

Miranski strahlte vor Stolz, die Bajda ließ vom Troß Krimwein kommen, den der Genosse Verwalter des Verpflegungslagers heimlich gehortet hatte, und Ugarow erwartete, genau wie alle anderen Mitglieder der Abteilung, einen neuen Ordenssegen und ein Lob von General Konjew.

___________

Ende April 1943. Ein Frühling wie Samt und Seide lag über dem Donezbecken. In Charkow sonnte man sich in den zerstörten Parks, badete in den Flüssen, bejubelte die Freilichtaufführungen der Fronttheater. Die deutschen Landser machten Jagd auf die Dewotschki und was sonst noch einen Rock trug. Währenddessen zogen die Sonderkommandos von SS und SD durch die Dörfer und liquidierten Partisanen, Verräter, Spione und alles, was sie dafür hielten. In der Charkower Oper spielte ein Opernensemble »Zar und Zimmermann«.

Am 13. April hatte man bei Katyn die Massengräber von über 4.000 erschossenen polnischen Offizieren entdeckt. Die deutsche Propaganda tönte die These vom asiatischen Untermenschen in alle Welt. Eine internationale Kommission von Ärzten und Schußexperten stellte fest, daß diese Offiziere einwandfrei vor dem deutschen Einmarsch, das heißt also von den Sowjets, erschossen worden waren. Die Empörung war groß, aber von den deutschen KZs und der Ausrottung der Juden in den von den Deutschen besetzten Ostgebieten konnte sie nicht ablenken.

In Posen ließ Major Molle seine beiden Lieblinge Peter Hesslich und Uwe Dallmann kommen. Ohne Worte schob er ihnen zwei mit Stempeln versehene Papiere über den Tisch. Es waren Marschbefehle.

»Ich wußte«, sagte Dallmann säuerlich, »daß wir hier keine Lebensstellung haben. Wo brennt’s denn? Es ist doch alles still! Die Kameraden liegen in der Sonne und lassen ihre Suppenbäuche brodeln.«

»Zum Donez!« Major Molle sah Hesslich und Dallmann nachdenklich an. Die Meldungen, die er bekommen hatte, waren bei aller Nüchternheit erschreckend. »Nordöstlich von Bjelgorod gab es im Niemandsland neununddreißig Verluste durch Kopfschuß. Nach dem zwölften Kopfschuß hat ein Ärzteteam im Reservelazarett Bjelgorod die anderen Toten obduziert. Ballistiker haben festgestellt, daß von den untersuchten siebenundzwanzig Opfern mindestens vierzehn von ein und demselben Scharfschützen erschossen worden sind. Die Laufspuren an den Kugeln waren alle gleich. Das heißt: Wir haben es dort am Donez mit einem Meister seines Fachs zu tun oder mit einer Meisterin.«

»Spuken die Weiber noch immer herum?« Uwe Dallmann faltete seinen Marschbefehl zusammen.

»Sie haben das monatelang geübt, Dallmann.«

»Es ist etwas anderes, Herr Major, ob ich auf einen Pappkameraden schieße oder auf ein lebendiges Mädchen.«

»Dieses Mädchen hat mehrere Dutzend Ihrer Kameraden auf dem Gewissen, Dallmann! Und es knallt auch Sie ab, wenn Sie nicht schneller sind! — Wie heißt der Spruch, Unteroffizier?«

»Der Tod hat tausend Kostüme!« Dallmann schlug die Hacken zusammen. »Ich bitte Herrn Major um Urlaub bis zum Wecken.«

»Morgen früh geht Ihr Zug, Dallmann.«

»Trotzdem.« Dallmann zog das Kinn an den Kragen. »Ich möchte noch einmal ein richtiges Mädchen anfassen, bevor ich auf andere Mädchen schieße.«

»Genehmigt!« Major Molle nickte. »Ich rufe die Schreibstube an. Sie auch, Hesslich?«

»Bitte ja, Herr Major. Im Stadttheater spielen sie den ›Vetter aus Dingsda‹.«

»Du Spinner!« sagte draußen auf dem Flur Uwe Dallmann und tippte an seine Stirn, »’ne Operette statt ‘nem zackigen Arsch! Selbst die Gladiatoren im alten Rom hatten ihr Bordell und machten noch einen drauf, ehe sie zum Sterben in die Arena marschierten, so wie wir jetzt! Komm mit, Peter!«

»Laß mich ins Theater gehen!« Hesslich lächelte schwach. »Kann sein, daß ich nachkomme. Ich weiß ja, wo du bist.«

»Das soll ein Wort sein!« Dallmann winkte ihm fröhlich zu. »Ich heize dir eine vor und halte sie bereit. Du brauchst dann nur noch draufspringen …«

Fünf Tage später meldeten sie sich zuerst bei der Division, dann beim Regiment, beim Bataillon und schließlich vorne beim Kompaniechef der 4. Kompanie, Leutnant Franz Bauer III.

»Aha, da sind ja die Wunderknaben!« sagte Leutnant Bauer III sarkastisch und klopfte gegen die umgehängten Gewehre mit dem Zielfernrohr. »Damit wollt ihr also den Krieg gewinnen? Dann man zu!« Er zeigte hinaus auf das weite Niemandsland. Im Rotglanz der untergehenden Sonne sah man den Donez, die verstreuten Bauernhäuser, die Wäldchen, die Steppe. »Da irgendwo schleichen sie herum! Wir wissen seit gestern auch, mit wem wir es zu tun haben! Zwei Pioniere haben sie in der Nacht mit einem Schlauchboot zurückpaddeln sehen. Es sind Scharfschützinnen.«

»Da haben wir die Scheiße!« sagte Dallmann bitter. »Bei Molle war’s noch eine Vermutung, jetzt wissen wir’s! Verdammt, wenn ich bloß den ersten Abschuß schon hinter mir hätte! Ist wie bei ‘ner Jungfrau: Beim ersten Mal, da tut’s noch weh!«

Bereits in dieser Nacht schlich Peter Hesslich ins Niemandsland und legte sich zwischen den Bauernhäusern und dem Fluß auf die Lauer. Einen Kilometer weiter nördlich kroch Uwe Dallmann durch die Steppe und wartete in einem Kusselgelände.

Die Stelle, an der Stella Antonowna an Land ging, lag genau zwischen ihnen. Drei Nächte lang hatte sie beobachtet, daß an einer kleinen Landzunge die Deutschen im Schutze der Dunkelheit und zweier Maschinengewehre badeten. Ihre Kaltschnäuzigkeit verwunderte sie. Aber einen deutschen Landser, der den Rückzug von der Wolga bis zum Donez überlebt hatte, konnte nichts mehr erschüttern — auch ein sowjetischer Scharfschütze nicht. Schließlich hatte man zwei MGs mitgebracht — da sollte der Iwan ruhig kommen!

Am Morgen meldeten Stella Antonowna und Schanna Iwanowna zwei Treffer.

Zwei deutsche MG-Schützen.

Soja Valentinowna Bajda umarmte und küßte sie. Miranski gab grusinischen Kognak aus, den er vom Freund im Verpflegungslager, dem dicken Genossen Lagerleiter, in Melechowo bekommen hatte. Miranski hatte ihm dafür versprochen, ihm bei nächster Gelegenheit die dralle Nani hinüberzuschicken, die ununterbrochen klagte, sie brauche einen Mann, sonst explodiere sie wie eine Tretmine.

Mit zusammengekniffenen Augen stand Peter Hesslich im Schutz eines Bauernhauses und blickte hinüber zum Donez und den fernen sowjetischen Gräben. Uwe Dallmann saß an der Wand und kaute an einem Kanten Kommißbrot.

»Schön beschissen steh’n wir da!« sagte er schmatzend. »Vor unserer Nase … zwei saubere Kopfschüsse!«

»Ich bekomme sie!« Peter Hesslich hieb die Fäuste zusammen und atmete tief durch. »Das ist jetzt meine Lebensaufgabe: Dieses Aas erwische ich …«

Es war wie ein Schwur.

[]

Wenn der Krieg schläft, und sei es nur für ein paar Stunden, wenn Grausamkeit und Vernichtung Atem holen für das neue Sterben, dann erwacht in erschütternder Friedenssehnsucht die Menschlichkeit.

Eine Kampfpause bei der Belagerung von Leningrad. Aus den Erdlöchern, aus den Ruinen der Vorstädte, aus Kellern und Gräben kriechen Sanitäter, richten sich auf, winken einander zu und treffen sich. Auf sowjetischer Seite rennen Mädchen in erdbraunen Uniformen heran, zwischen sich die Segeltuchtragen — Sanitäterinnen, Feldscherinnen, Ärztinnen, die seit Wochen unter berstenden Granaten, dem heulenden Tod der Stukas und im Hämmern der deutschen Maschinengewehre ausgehalten haben, in den Kellern die Verwundeten verbanden, auf ausgehängten Türen oder wackeligen Tischen operierten und amputierten, Splitter aus zerfetzten Körpern holten und nachts, unter direktem Beschuß, die Überlebenden nach hinten in die Stadt brachten — auf Karren oder Schlitten, oft auch in Zeltplanen, Meter um Meter fort von der Feuerlinie bis zur halbwegs sicheren Sammelstelle der Verwundeten. Dort bekamen sie einen heißen Tee, schöpften Atem und rannten dann zurück in die vorderste Front.

Von allen Seiten kamen sie nun und sammelten zwischen den Stellungen die Verwundeten auf — die deutschen Sanitäter mit rotem Kreuz auf weißer Fahne, auf Armbinden oder sogar auf Binden um den Stahlhelm, die Russen ohne Zeichen, nur mit umgehängten Sanitätstaschen, ohne Helm, mit Käppis oder Pelzmützen.

Da sind die beiden jungen Ärzte, die sich im Niemandsland treffen, ein Russe und ein Deutscher. Der Russe kniet in einem Trümmerhaufen neben einem Verwundeten und hält dessen Kopf. Der Verwundete röchelt laut und zittert am ganzen Körper; seine Finger graben sich in den Boden, krallen sich um Steine und Staub. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er in den Himmel; sein Blick ist schon jenseits aller Gegenwart.

»Kann ich dir helfen?« fragt der deutsche Unterarzt, steigt über ein zerborstenes Mauerstück und geht auf den Russen zu.

»Danke. Es hat keinen Sinn mehr.« Der sowjetische Arzt antwortet in einwandfreiem Deutsch. »Aber vielleicht hast du etwas gegen die Schmerzen? Wir haben nichts mehr in der Stadt. Wir können nur noch die Zähne zusammenbeißen.«

Der deutsche Arzt kniet neben dem verwundeten Russen, öffnet die blutdurchtränkte Uniformbluse und zieht sie wieder zu. Ein Granatsplitter hat die Brust zerfetzt; aus der Wunde quillt Lungengewebe. Wortlos öffnet er seine Tasche, holt eine Spritze heraus, kappt eine Ampulle und injiziert dem sterbenden Russen Morphin. Gemeinsam warten die beiden Ärzte, bis der verkrampfte Körper sich streckt. Dann bettet der Russe den Kopf des Verwundeten vorsichtig auf einen großen Ziegelstein und erhebt sich.

»Wir holen ihn nachher ab«, sagt er und blickt sich um. Überall trägt man Tote und Verwundete weg. Auf Bahren oder in Zeltplanen, auf dem Rücken, allein oder zu zweit, auf flachen Schlitten, vor die sich jeweils zwei Mann spannen — oder zwei Mädchen bei den Sowjets.

»Wir wollen auch die Toten mitnehmen.«

»Wir auch.«

»Sie sollen in ihrer Heimaterde ruhen.«

»Da habt ihr es besser als wir.«

»Wir sind hier zu Hause — und ihr seid gekommen, um uns zu töten.« Der sowjetische Arzt wischt sich über das Gesicht. »Wenn wir einmal nach Deutschland kommen, sind eure Toten auch zu Hause! Wie heißt du?«

»Felix Baumann.«

»Ich bin Sergeij Iwanowitsch Losskowskij. Wie alt bist du?«

»Dreiundzwanzig.«

»Ich auch. Ich wohne in Rybinsk an der Wolga.«

»Ich komme aus Detmold.«

»Ob wir uns wiedersehen?«

»Wenn wir den Krieg überleben … Ich merke es mir: Sergeij Losskowskij aus Rybinsk.«

»Felix Baumann aus Detmold. Was willst du nach dem Krieg werden?«

»Chirurg.«

»Ich Neurologe.« Losskowskij lächelt bitter. »Das hier ist keine gute Ausbildung dafür. Hast du eine Zigarette, Felix?«

»Aber ja.« Baumann greift in seinen Uniformrock und holt eine Schachtel hervor. Zerdrückt ist sie, verknittert und schmutzig. Sergeij holt mit den Fingerspitzen eine Zigarette heraus.

»Eine R6«, sagt er und lächelt wieder. »In der Stadt rauchen wir getrocknete Blätter.«

»Die Zigaretten hat mir meine Mutter geschickt.«

»Eine gute Mutter.« Losskowskij macht ein paar tiefe Züge und blickt über das Kampffeld. Auf dem Rest eines Hauses weht die Rot-Kreuz-Fahne. »Grüß sie von mir, wenn du wieder nach Hause kommst. Ich muß jetzt weiter, Felix. In einer Stunde läuft die Waffenruhe ab. Da hinten winken sie.« Noch einmal inhaliert er tief und wirft dann die Zigarette auf den Boden. »Auf Wiedersehen, Felix.«

»Auf Wiedersehen, Sergeij.«

Sie haben sich nie wiedergesehen.

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Stalingrad. Ein sowjetischer Parlamentär, der, eine weiße Fahne schwenkend, über die Ruinen zum Bataillonsgefechtsstand der Deutschen geklettert ist, hat im Namen seines Kommandeurs um zwei Stunden Feuerpause gebeten. Nun tragen die Russen und die Deutschen ihre Toten fort, suchen in den Trümmern und Kellern, Granatlöchern und Hausruinen nach Gefallenen und Verwundeten.

Der Sanitätsunteroffizier Pawel Ignatjewitsch Taganjew hockt auf dem Rand eines aufgesprengten Kellers und wartet auf einen Trupp von Trägern. Auf der Suche hat er dieses Haus entdeckt und in ihm neun sowjetische Kameraden, die ein deutscher Minenvolltreffer im Keller zerfetzt hat. Das Gewirr von Gliedmaßen und Leibern, Köpfen und Stoffetzen bietet einen grauenhaften Anblick. Nur aufgrund der Köpfe, die er gezählt hat, weiß Taganjew, daß dort im Keller neun Rotarmisten liegen.

Pawel Ignatjewitsch ist es übel geworden. Er raucht jetzt eine Papirossa, lehnt sich gegen die zerborstene Hauswand und blickt nur kurz zur Seite, als zwei Meter neben ihm eine graue Gestalt in die Trümmer plumpst. Er hebt die Hand mit der Papirossa und grüßt stumm.

Der Sanitätsfeldwebel Hermann Brosser nickt Pawel Ignatjewitsch zu, setzt sich neben ihn auf den Mauerrest, wirft einen Blick in den Keller und sagt heiser:

»Ist das eine Scheiße, was? ‘n ganzer Keller voll! Und diese Saukälte. Wie willste die denn abtransportieren? Die sind doch zu ‘nem Klumpen zusammengefroren! Sag bloß, die willste auch noch auseinanderhacken! Am besten: Zuschütten!« Er schlägt die Arme um seinen Oberkörper, bläst in die Handflächen und sieht Pawel bedauernd an. »Kannst ja kein Deutsch! Woher denn auch? Schafhüter aus der Steppe, was? Da sitzte nun vor ‘nem Haufen Toter und hältst Wache und weißt nicht, wohin damit. Das kommt davon, daß ihr mit soviel Mann anrückt. So was kann uns nicht passieren — unser Bataillon besteht noch aus 68 Mann! Wir hatten in drei Tagen nur vier Mann Verluste …«

»Bald alle tott!« sagt Pawel Ignatjewitsch hart.

»Du meine Fresse! Du quatscht deutsch?« Hermann Brosser schiebt den Helm in den Nacken. »Woher denn?«

»Schule …«

»In der Steppe?«

»In Blagoweschtsch.«

»Wois’n das?«

»Am Amur …«

»Wo liegt denn der?«

»Asien … Grenze China … Sibirien … grosses Fluß … ganz weitt wägg …«

»Da kommen wir nie hin, was?«

»Nie!«

»Und da sind überall Russen?«

»Villl weittär noch …«

»Und da wollen wir den Krieg gewinnen?«

»Mußt du wissän …«

»Ich weiß es! Aber ob unser Führer das weiß? Ist alles Scheiße, Iwan!«

»Wirklisch Scheißä!« Taganjew greift in die Tasche seines zerfetzten Mantels, zeigt Hermann Brosser ein Stück Zeitungspapier und ein paar Krümel Machorka und reibt die Fingerspitzen aneinander. »Papirossa?«

»Aber ja! Bist ein prima Kumpel, Iwan! Dreh mir eine … aber lecken will ich!«

Sie drehen gemeinsam die Zigarette. Pawel rollt den Tabak in das Zeitungspapier, Hermann beleckt den ausgefransten Rand. Pawel hat sogar ein Pappstreichholz. Brosser raucht vier Züge, dann gibt er die Papirossa an Pawel weiter.

»Verheiratet?« fragt er.

»Njet …«

»Aber ich!« Brosser holt aus der Tasche ein Foto. Eine pausbäckige blonde Frau und ein Säugling. Sie lächelt in die Kamera; das Kind gähnt. »Erna heißt sie. Erna-Maria. Und das Kleine ist Magda. Wollte Erna so. Verehrt die Magda Goebbels so. Kennste die Magda Goebbels? Nee? — Ist ja egal! Nur weil die Magda Goebbels so blond ist wie sie — oder umgekehrt, die Erna so blond wie die … pfeif was drauf, also, unsere Tochter mußte Magda heißen! Das Bild ist fünf Monate alt! Beim letzten Urlaub fotografiert. Da hab ich hingelangt. Kann sein, daß jetzt ein Hermann unterwegs ist. Den bewundert die Erna nämlich auch, den Dicken, mit dem Klempnerladen auf der Brust. Weißte, was ‘n Klempnerladen ist? Nee! Macht nichts …«

»Schönes Frau!« sagt Pawel anerkennend und betrachtet das Foto.

»Und ob sie schön ist, Iwan! Da läg ich jetzt lieber, als neben dir zu hocken.« Er nimmt Pawel das Foto wieder ab und steckt es ein. »Du hast kein Foto?«

»Nur Mamitschka …«

»Zeig her.«

Pawel holt ein Bild aus dem Rock. Eine kleine, dickliche, breitgesichtige Frau in Filzstiefeln, lehmverschmierten Hosen und Steppjacke. Um das Haar ein farbloses Kopftuch. Am angewinkelten Arm hängt ein Flechtkorb voll dicker Zwiebeln.

»In Garrtän …«, sagt Pawel mit zitternder Stimme.

»Junge sind das Zwiebeln! Wie Kindsköppe! Du siehst deiner Mutter ähnlich …«

Nach einer Stunde umarmen sie sich, küssen sich auf die Wangen und laufen durch die Ruinen zurück zu ihren Stellungen. Die Kampfpause ist vorbei. Ein deutscher Stoßtrupp wird von sowjetischer Pak beschossen. Sie haben Munition genug — mit Panzerabwehrkanonen schießen sie auf einzelne deutsche Soldaten.

Ja, das gab es: Wenn der Krieg ein Nickerchen hielt, kroch die Menschlichkeit aus den Trümmern. Es passierte tausendmal an allen Fronten — man gab sich die Hand, zeigte einander Fotos, rauchte gemeinsam eine Zigarette, erzählte von den Familien — und rannte dann zurück in die Stellungen und — mordete weiter.

Wer wird die Menschen je verstehen können?

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Peter Hesslich hatte neun Tage lang auf der Lauer gelegen.

Was er als Junge und später als Forsteleve nie gekonnt hätte — einem Tier im Hinterhalt auflauern und es abschießen — das betrachtete er jetzt bei Menschen als eine unausweichliche Aufgabe. Ihm gegenüber lag ein Gegner, der nichts anderes kannte als töten — töten mit aller List und allem Können, eine perfekte Vernichtungsmaschine aus Gewehr, Zielfernrohr, Auge und Gehirn, die nur von einem einzigen Gedanken beherrscht war: Tod … Tod … Tod … Bei jedem Krümmen des Zeigefingers: Tod!

Aber die Front schlief.

Über den Donez setzten nachts keine Schlauchboote mit Scharfschützinnen mehr, die ab und zu als Störfeuer eingesetzte sowjetische Artillerie schwieg. Das weite Land lag in trügerischem Frieden unter einem frühlingsblauen Himmel; die bleiche Sonne wurde von Tag zu Tag goldener, und wenn man über das Land blickte, hätte einen der Anblick von Bauern und Frauen, die auf die Felder gingen, die Herden hinaustrieben oder auf den Bänken vor den Häusern saßen und nach langer Winterruhe das Werkzeug reinigten, die Gärten bestellten oder im Fluß fischten, kaum überrascht. Selbst wenn irgendwo eine Kirchenglocke geläutet hätte und die Menschen über die Feldwege zum Sonntagsgebet geströmt wären, hätte man es hingenommen. So still war es am Donez, so friedvoll lag der Frühling über Steppe und Fluß.

Fritz Plötzerenke genoß den sonnendurchfluteten Frieden: Er badete am hellen Tag nackt im Fluß. Die sowjetischen Stellungen waren ungefähr achthundert Meter vom anderen Donezufer entfernt. Dazwischen lagen ein paar zerstörte Gehöfte mit verwilderten Gärten und blühenden Kirschbäumen. Auch die kleinen Weiden und Pappeln am Ufer leuchteten in blühender Pracht.

Fritz Plötzerenke badete ausgiebig, schwamm weit in den Fluß hinaus, tauchte, spielte toter Mann, kletterte dann ans Ufer zurück und rannte ein paarmal mit angewinkelten Armen wie auf einem Sportplatz hin und her.

Nichts geschah. Plötzerenke ließ sich in der Sonne trocknen und erschien stolz wieder bei seiner Kompanie. Dort wartete schon Leutnant Bauer III auf ihn. Empfangen wurde er jedoch zunächst vom Spieß der 4. Kompanie, Hauptfeldwebel Richard Pflaume.

Wenn jemand Pflaume heißt, ist das schon tragisch genug. Beim Militär, vor allem bei einem Vorgesetzten, bedeutet solch ein Name einen nie endenden Kampf gegen Gegrinse und blöde Witze. Vor allem entfällt der bei Unterführern so beliebte Ausruf: »Sie traurige Pflaume!«, was die Ausdrucksmöglichkeiten beträchtlich einengt. Hauptfeldwebel Pflaume achtete denn auch peinlich darauf, ob sich auf den Mienen des aus dem Stammlager kommenden Ersatzes — vor allem bei jungen Bürschchen mit gerade sechswöchiger Grundausbildung — ein dummes Grinsen oder stille Freude zeigte, wenn er sich höflich vorstellte.

»Das dämliche Grinsen wird euch schon vergehen!« brüllte er dann jedesmal. »Hinlegen! Mutter Erde küssen! Euch wird das Loch noch dampfen!«

Das hinderte die 4. Kompanie freilich nicht daran, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Richard Pflaume zur Weißglut zu treiben. Angefangen von einem anonymen Plakat an der Wand der Feldküche: »Rezept für Pflaumenkuchen! Man nehme: Eine besonders große, reife Pflaume, bevor sie vor Faulheit stinkt …«, bis zu jenem Vorfall, als die ganze Kompanie in Ruhestellung bei dem Kommando: »Ein Lied!« statt »O du schöner Westerwald …«

»O, du schöner Pflau-au-au-menbaum …« zu singen begann — es verging kaum ein Tag, an dem Richard Pflaume nicht an seinem Namen litt.

Heute wartete der Hauptfeldwebel im vorderen Graben. Bei der allgemeinen Ruhe an der Front kam auch der Kompanietrupp, der sonst weiter rückwärts lag, nach vorn — die beiden Schreiber, der Unteroffizier für Waffen und Geräte, der Furier, der Feldwebel vom Troß, die beiden Kradmelder. Sie lagen in der Sonne, spielten Skat, schrieben Briefe, lasen Reclamhefte oder rote Ullstein-Bücher, dösten oder schimpften auf den Krieg. Richard Pflaume hatte gerade mit Leutnant Bauer III die Urlaubsanträge durchgesprochen. Noch wußte man nicht, daß bis auf weiteres alle Urlaube vom Armee-Oberkommando gesperrt worden waren und daß Feldmarschall v. Manstein und sein Kollege Feldmarschall v. Kluge, der Chef der Heeresgruppe Mitte, mehrmals bei Hitler vorstellig geworden waren, um eine Verstärkung ihrer Divisionen oder die Heranführung neuer Divisionen zu erwirken.

Bei der 4. Kompanie lagen neunzehn Anträge auf Heimaturlaub vor, darunter auch einer von Fritz Plötzerenke. Begründung: Ich war neun Monate nicht zu Hause. Mein Vater ist 74 Jahre, meine Mutter leidet an Rheuma und meine Frau wünscht sich für Großdeutschland einen strammen Jungen …

»Beim Chef melden in voller Uniform!« sagte Richard Pflaume genüßlich, als Plötzerenke vom Donez zurückkam. »Der Urlaub ist im Eimer! Du hast wohl ‘ne Macke, am hellichten Tag zu baden!«

»Es ist ein so schöner Tag, Herr Hauptfeldwebel!« Plötzerenke blinzelte in den wolkenlosen, blaßblauen Himmel. »In den Gärten da drüben blühen sogar die Pflaumenbäume …« Er stockte, starrte Pflaume an, sah, wie dieser tief Luft holte, und fügte schnell hinzu: »Und die Kirschen auch …«

»Feldmarschmäßig antreten!« brüllte Pflaume. »In zehn Minuten Meldung beim Chef! Und dann sprechen wir uns noch, Plötzerenke!«

Leutnant Bauer III saß an einem wackeligen Tisch und trank Kaffee, als sich Plötzerenke meldete. Er polterte in den Unterstand, knallte die Hacken zusammen und zog den Riemen des Gewehres straff. Die Gasmaskenbüchse schepperte gegen den umgeschnallten Spaten.

Bauer III setzte den Emaillebecher ab, betrachtete Plötzerenke wie einen armen Irren und schüttelte dann langsam den Kopf. Es hat keinen Sinn, einen Stabsgefreiten anzubrüllen. Das ist eine alte Kommißweisheit. Wer sie ignoriert, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Einen Stabsgefreiten zu erschüttern, ist schwerer, als einem Elefanten die Fußsohlen zu kitzeln.

»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als lebende Zielscheibe im Donez zu schwimmen«, fragte Leutnant Bauer III milde.

Plötzerenke blickte an seinem Chef vorbei gegen die Wand des Unterstandes. Oje! Der Alte macht auf zart. Dann wird’s gefährlich. Er sagte immer: Der Alte, obwohl er selbst mit seinen 26 Jahren zwei Jahre älter war als Bauer III.

»Nichts, Herr Leutnant.«

»Das habe ich geahnt! Wissen Sie überhaupt, was denken ist?«

»Ich bin mir nicht sicher …«

»Denken ist das, was aufhört, wenn man ein kleines rundes Loch in die Stirn geknallt bekommt! Ist Ihnen das klar?«

»Es war alles ruhig bei den Iwans!«

»Zum Teufel, da drüben liegen Weiber. Ein Frauenbataillon. Scharfschützinnen! Aber das geht Sie einfach nichts an, was? Da springen Sie nackt herum.«

»Vielleicht hat mein männlicher Anblick die Weiber abgehalten, auf mich zu zielen.«

»Plötzerenke …«, sagte Bauer III mahnend.

»Lisbeth, meine Frau, sagt immer: Fritz, wenn du die Hose ausziehst … direkt Angst kann man bekommen!«

»Raus!« Bauer III zeigte auf den Ausgang. »Drei Nächte Wache!«

»Jawoll, Herr Leutnant!« Plötzerenke stand wie eine Eins. »Ich habe noch eine Meldung abzugeben …«

»Was denn? Hat man Sie fotografiert?«

»Im Dorf zwischen dem Donez und den sowjetischen Stellungen müssen die Iwans in aller Ruhe die Gärten besorgen. Es laufen sogar Schweine herum. Schweine, Herr Leutnant …« Plötzerenkes Gesicht verklärte sich. »Und zwei Ferkelchen …«

»Stabsgefreiter …«, sagte Bauer III in warnendem Tonfall.

»Herr Leutnant …«

»Wenn es in den nächsten Tagen bei uns Schweinebraten gibt, mache ich gegen Sie einen Tatbericht, ist das klar?«

»Es kann sich um einen Überläufer handeln, Herr Leutnant.«

»Über den Donez?«

»Schweine können schwimmen.«

»Raus!« Bauer III zeigte wieder auf den Ausgang. Plötzerenke machte eine krachende Kehrtwendung und verließ den Unterstand.

Draußen wartete wie ein Habicht auf eine Maus Hauptfeldwebel Pflaume. Er lächelte, und das war gefährlich.

»Sie haben mir nichts zu sagen?« blies er Plötzerenke an, als dieser an ihm vorbeimarschieren wollte.

»Drei Nächte Wache, Herr Hauptfeld!« Plötzerenke blieb stehen und grinste breit.

»Und weiter?«

»Ich soll den Küchenbullen fragen, ob er Schinken und Speck räuchern und ob er für den Herrn Leutnant molotschnij porosjonok machen kann …«

»Was ist’n das?« Pflaume riß die Augen auf.

»Eine russische Spezialität: Gebratenes Spanferkel mit Trockenpflaumen …«

Hauptfeldwebel Pflaume dachte an den alten Spruch, daß Vergeltung erst mit der Zeit reift, und verzichtete auf sinnloses Losbrüllen. »Wenn Sie den Heldentod sterben«, sagte er bloß, »halte ich die Grabrede. Das laß ich mir nicht nehmen! Und dann besauf ich mich. Hauen Sie ab, Plötzerenke!«

Bei Hesslich und Dallmann liefen alle Beobachtungen zusammen. Als »Kommandierte« lebten sie im Bunker des Kompaniechefs oder strichen allein oder gemeinsam im Niemandsland umher. Manchmal meldeten sie sich ab und blieben zwei Tage und Nächte draußen, hausten dann in den zerstörten Bauernhäusern und Scheunen oder lagen am Ufer des Donez und warteten auf ein neuerliches Übersetzen der Scharfschützinnen.

Manchmal sahen sie durch ihre starken Ferngläser im gegenüberliegenden Dorf ein paar erdbraune Gestalten, die in aller Ruhe in den Gärten arbeiteten. Die Katen waren ausgebrannt und verfallen; oft standen nur noch ein paar Wände, aus denen schwarzverkohlte Balken ragten. Aber zwischen den Ruinen wuchs und blühte es, als sei nie eine Feuerwalze über diesen Boden hinweggestürmt. Das ewige Leben, das in der Erde ruhte, brach mit ungebrochener Kraft durch und ließ die Pflanzen sprießen. Was Menschenhand zerstört hatte, nahm die Natur nun wieder in Besitz und überzog es mit einem Zauber aus Grün und bunten Blüten.

»Sie haben sogar Sonnenblumen gepflanzt!« sagte Dallmann fassungslos. »Begreifst du das?«

»Was wäre Rußland ohne Sonnenblumen?«

»Die werden doch nie und nimmer! Beim nächsten Artilleriefeuer wichsen wir sie zusammen!«

»Ich weiß nicht.« Hesslich blickte hinüber zu den Russen. Deutlich erkannte er fünf Mädchen, die in einem Garten arbeiteten. Sie trugen die Haare offen im warmen Wind und hatten die Blusen aufgeknöpft. Vom Gürtel abwärts trugen sie Militärhosen und plumpe Stiefel. »Es sieht so aus, als hielten sie es für unmöglich, daß wir jemals wieder über den Donez kommen. Sie bauen vor unseren Augen auf — so sicher fühlen sie sich. Darüber sollten wir nachdenken, Uwe. Die da drüben halten uns für ungefährlich, für besiegt. Die wissen mehr als wir.«

»Oder sie wollen uns nur reizen. Das ist blanke Provokation …«

»Ich glaube nicht.« Hesslich beobachtete weiter die Mädchen in den Gärten. Das sind sie, dachte er. Jetzt pflegen sie Blumen — und später krümmen sie den Finger und töten. Eiskalt, präzise. Kopfschuß. Wie ist es möglich, daß Mädchen so gefühllos sein können? Daß sie im Hinterhalt liegen können, ein Gesicht groß im Fadenkreuz erkennen und dann abdrücken, ohne daß ihr Herz zuckt und sich ihr Magen zusammenkrampft?! Was hat man aus diesen Mädchen gemacht? Wie hat man ihre Seelen getötet? Wie ihr Gefühl zerstört?

Sie lagen, durch ein Weidengebüsch geschützt, in der Sonne, und hatten sich bis auf die Hosen ausgezogen. Dallmann hatte seine Hose aufgeknöpft und bis zu den Hüften heruntergezogen. »Alles sehnt sich nach Frühlingsluft!« hatte er gegrinst. »Warum soll ich ihn einsperren?« Dann hatte er die Arme ausgebreitet und sich ganz der Wärme hingegeben. Hesslich legte das Fernglas weg, ließ sich ins Gras sinken und schloß die Augen. Es war nicht damit zu rechnen, daß von sowjetischer Seite jetzt jemand über den Fluß setzte. Weit weg von ihnen, im Gebiet der 1. Kompanie, kreiste ein russisches Aufklärungsflugzeug über dem Donez, eine jener langsamen, knatternden Maschinen, die gemächlich über den deutschen Stellungen kurvten, sich von MGs und Gewehren beschießen ließen und dank ihrer dicken Panzerung unbehelligt wieder heimkehrten. Sie wußten genau, wo Flak stationiert war — und dort tauchten sie nicht auf. Deutsche Jagdflugzeuge brauchten sie nicht zu fürchten; die deutsche Luftwaffe war froh, wenn man sie nicht über Gebühr einsetzte. Es mangelte an Maschinen und vor allem an Treibstoff. Nur ganz wichtige Einsätze wurden geflogen, und die Bekämpfung der »Kaffeemühlen«, wie man die sowjetischen Störenfriede nannte, galt nicht als wichtiger Einsatz. Es war sowieso nichts Besonderes, was die russischen Aufklärer fotografierten — das neue deutsche Grabensystem, das täglich besser ausgebaut wurde, ab und zu ein paar getarnte Panzer und Artilleriestellungen, Nachschubkolonnen und Transportzüge. Viel präziser waren die Meldungen aus der Schweiz, wo genaue Zahlen zusammenliefen und per Funk nach Moskau übermittelt wurden: Der geheimnisvolle »Luzy«-Spionagering wußte alles! Besprechungen über Angriffstermine im Führerhauptquartier — Moskau erfuhr davon zwei Tage später! Die Pläne v. Mansteins und v. Kluges — »Luzy« berichtete präzise. Der Vortrag von Generaloberst Model bei Hitler über die Lage seiner 9. Armee am Kursker Bogen, der Ausbau der vieldiskutierten Hagen-Linie im Gebiet der Heeresgruppe Mitte, wohin sich bei einer Frontverkürzung die deutschen Armeen wie in eine Festung zurückziehen konnten — »Luzy« in der Schweiz wußte alles.

Hesslich sah hinüber zu der einsamen »Kaffeemühle«, die trotz knatterndem Beschuß ruhig ihre Kreise zog, und schloß dann wieder die Augen. Die Sonne blendete, das Wasser des Donez flimmerte blau.

»Angenommen, es setzt ein Mädchen von da drüben über«, sagte er. »Was dann?«

»Was heißt: Was dann?« fragte Dallmann zurück.

»Würdest du schießen?«

»Das kommt darauf an.«

»Worauf kommt es an?«

»Wie es aussieht! Wenn es hübsch ist, so mit langen Beinen und strammen Titten — ich würde warten, bis es an Land ist. Dann kommt das Mäuschen näher — ich warte noch immer —, es kommt ganz nah, da sage ich lieb, aber mit Nachdruck: ›Nun wirf alles ab, Marusja, leg dich brav hin … ich hab die Hose schon aus!‹« Dallmann seufzte tief. »Verdammt! Du Sadist! So’n Thema, wo mir die Sonne drauf brennt …«

»An was anderes denkst du wohl nicht, was?«

»Im Augenblick … nee!«

»Das Mädchen hat ein Trefferbuch. Und jeder Treffer ist ein deutscher Kamerad!«

»Und für jeden Treffer muß sie’s zehnmal machen!« erwiderte Dallmann gemütlich. »Das wird ein Nahkampf …«

»Du würdest also nicht sofort schießen?«

»Nicht mit ‘nem Gewehr!« Dallmann grinste breit. Dann wurde er plötzlich ernst, drehte sich auf den Bauch und sah Hesslich fragend an. »Du ballerst sofort los, nicht wahr? Hast die Süße im Fadenkreuz — und Finger durch! Peter, du bist ein eiskalter Hund, nicht wahr?«

»Als ich meinen ersten Menschen erschoß, habe ich geheult.«

»Ich habe gekotzt, bis mir der Magen im Gaumen hing …« Dallmann drückte sein Gesicht in das warme hohe Gras. »Es war ein miserabler Schuß. Dem hat’s das Kinn weggerissen.«

»Aber da warst du schon Scharfschütze …«

»Ja.« Dallmann drehte sich wieder auf den Rücken. »Wenn sie alle schießen, ist das was anderes. Bei einem Angriff, beim Gegensturm, beim Stoßtrupp — da mußte man schießen, um zu überleben. Und dabei bin ich aufgefallen. Dann kam der erste Lehrgang. Aber ‘ne Scheibe ist ja kein lebendiger Mensch. Und dann liegt man da und wartet und weiß genau: Wenn jetzt ein Iwan kommt, machst du dich noch kleiner, noch flacher, noch unsichtbarer, und aus dem Unsichtbaren heraus knipst du ihn ab! Eigentlich ist das doch Mord …«

»Der Krieg ist ein einziges Morden …«

»Und wennste das laut sagst, hängen se dich auf! Was soll man also machen? Mitmorden oder sich aufhängen lassen? Überleben oder am Ast baumeln? Peter«, Dallmann hob kurz den Kopf und sah Hesslich an, »du willst doch leben, was? Wieder zu Hause sein, ‘nen Beruf haben, Geld verdienen, ein Haus bauen mit ‘nem Garten drumherum, eine Frau und Kinder, an die See fahren im Urlaub und mal faul im Sand liegen, oder auch ins Gebirge … Mensch, das Leben hat so viele schöne Seiten! Daran denke ich, weißt du, wenn ich jetzt einen Kopf im Visier habe und gleich den Finger krumm mache. Ich denke an das Leben, wenn ich töte. Verrückt, was? Ich denke: Uwe, du mußt hier raus. Du mußt Rußland überleben! Und du kannst es nur überleben, wenn du’n Finger krumm machst — so wie die da drüben auch nur überleben, wenn sie den Finger krumm machen. Es kommt nur darauf an, wer zuerst — das ist diese beschissene Kriegspielerei! Aber du bist da anders, was? Du könntest jetzt, wenn so’n Mädchen drüben am Ufer erscheint, ruhig anlegen, zielen und abdrücken. Du könntest das, oder?!«

Peter Hesslich winkelte das rechte Knie an und hielt die Augen geschlossen. »Ich weiß es nicht«, sagte er langsam. »Vielleicht würde ich warten, bis sie das Gewehr hochreißt. Dann ist es Notwehr. Aber da kann es schon zu spät sein. Bei einem sibirischen Scharfschützen würde ich nicht warten. Aber das ist ja die Hundsgemeinheit. Die setzen Mädchen dazu ein, weil sie genau wissen, daß eine Sekunde Zögern den Tod bedeutet …«

Am gegenüberliegenden Ufer, hinter einer Sanddüne und einem Weidengebüsch, lagen Stella Antonowna, Marianka Stepanowna und Lida Iljanowna. Während drei Gruppen der Kompanie in den Gärten arbeiteten, sicherten sie den Fluß ab. Auch Miranski hatte sich ein Gärtchen zugelegt und beackerte ihn gemeinsam mit seiner Geliebten Darja Allanowna. Der frühere Stall war sogar noch leidlich bewohnbar und nur am Dach beschädigt. Ein großer Strohhaufen lag in der Ecke vor den leeren Boxen, in denen einmal die Schweine gegrunzt hatten, und wenn es Darja von der Gartenarbeit zu heiß wurde, zog sie sich manchmal aus, sprang nackt im Stall herum und benahm sich wie ein rothaariger Kobold, der dem alten Erdgeist noch einmal auf die Sprünge helfen will.

Foma Igorewitsch fackelte dann nicht lange und drückte das glatthäutige Luderchen ins Stroh. Noch geht’s, dachte er jedesmal zufrieden mit sich selbst. Wer weiß, wie lange noch! Wer kann ahnen, wann Darjas Glut erloschen ist? Ist mir sowieso ein Rätsel, daß sie es mit mir macht. Ich bin nicht groß und kräftig, mit meinen dreiundvierzig Jahren könnte ich ihr Väterchen sein, im ehelichen Bett bin ich nie zu Höchstleistungen angespornt worden, und jetzt schufte ich wie ein Marathonläufer. Was also ist an mir dran? Man nutze also die Stunde.

Nicht denken, Foma Igorewitsch!

Eines Tages, ganz plötzlich, wird der Krieg wieder aufwachen. Dann wird man all den verpaßten Gelegenheiten nachtrauern.

»Es sind zwei«, sagte Stella am Donezufer und kaute an einem grünen Weidenzweig. »Sie liegen ungünstig …«

»Der eine hat schöne breite Schultern und dunkle Haare auf der Brust!« Marianka lachte leise und streichelte ihr Gewehr. »So einen sollte man gefangennehmen und bei uns verstecken! Richtig füttern sollte man ihn, wie einen Eber … ihn mästen, bis die Muskeln die Haut sprengen! Mit Eiern, Fleisch, Sahne …« Sie schnalzte mit der Zunge und blickte neugierig durch das Zielfernrohr hinüber aufs andere Ufer. »Jede von uns wäre bereit, einen Teil der Verpflegung abzugeben. Ein Leben wäre das!«

»Jetzt zieht er die Beine an!« sagte Lida.

»Willst du ihm die Kniescheibe wegschießen?« Stella Antonowna visierte Hesslichs Beine an. Sie blieben nur einen Moment im Fadenkreuz, dann sanken sie wieder ins Gras. Dafür hob sich ein Kopf, ein Kopf mit braunen Haaren, die der Wind zerzauste. Stella biß die Zähne auf die Unterlippe.

»Nicht schießen!« flüsterte Marianka, als könne man sie dort drüben hören. »Noch nicht. Sieht er nicht gut aus?«

»Ein Deutscher!« Stellas Stimme war hart. »Gibt es für uns einen Deutschen, der gut aussieht?!«

»Er entgeht uns nicht. Morgen ist er wieder da, bestimmt. Da sieh — der andere kommt auch hoch. O wie blond sind seine Haare! Blond wie gebleichtes Stroh! Habt ihr solche blonden Haare schon gesehen? Ich nicht! Wie jung er ist! Ein Kerlchen zum Drücken und Streicheln! Nanu, was sehe ich da?! Stellinka, stimmt es? Die Hose hat er offen … du lieber Himmel, er hat’s offen liegen … ich seh’s genau!«

»Schieß es ihm weg!« sagte Stella Antonowna rauh. »Mit dem zeugt er neue Deutsche, die uns eines Tages wieder überfallen werden. Sie hören nie auf. Sie werden immer wieder nach Osten marschieren. Sie sind wie die Ameisen: Man vergiftet ihre Wege, und über die Leichen der Toten krabbeln sie weiter, auf der gleichen Straße.«

Aber sie schossen nicht, sondern beobachteten die beiden Deutschen lediglich durch ihre Zielfernrohre. Erst als noch andere deutsche Soldaten hinzukamen, die von den Trümmern der letzten Bauernhäuser über die Uferebene krochen, ergriffen die Mädchen ihre normalen Ferngläser. Sie erkannten Fritz Plötzerenke wieder, der vor ihren Augen nackt im Donez geschwommen war und den sie nur deshalb nicht abgeschossen hatten, weil Schanna begeistert ausrief:

»Den möchte ich haben! Bitte überlaßt ihn mir! Ist das nicht ein richtiger Bulle?! Schenkt ihn mir.«

Sie erfüllten ihr lachend diese Bitte, und so überlebte Plötzerenke, weil Schanna ihr Gewehr nicht mitgenommen hatte, sondern nur eine Hacke für den Garten.

»Das ist’n Anblick, was?!« sagte Plötzerenke jetzt, warf sich neben Hesslich ins Gras und schob die Hände unter seinen Nacken. »Da sind Püppchen drunter! Mensch, da platzt dir die Hose!«

»Oder das Gehirn, wenn die Kugel genau über deiner Nasenwurzel in deinen dämlichen Schädel einschlägt …«

»So eine möchte ich mal gefangennehmen!« Plötzerenke hob den Kopf, ohne zu ahnen, daß Stella Antonowna ihn jetzt voll im Fadenkreuz hatte. »Jungs, gäbe das ein Verhör! Da würde der Bunker wackeln …«

»Von den Mädchen da drüben werden wir nie eine fangen«, sagte Hesslich ernst. »Die wissen doch genau: Wenn wir ihr Trefferbuch sehen, stehen sie sofort an der nächsten Mauer.«

»Genau wie ihr, was?« Plötzerenke blickte Hesslich und Dallmann nachdenklich an. »Wenn die euch drüben erwischen — ihr seid schon ganz besondere Typen. Fühlt ihr euch eigentlich wohl in eurer Haut?«

»Nee!« Dallmann zog die Hose hoch und knöpfte sie wieder zu. »Aber einer muß ja diese Drecksarbeit machen. Und wenn das Mädchen können …«

Er schwieg abrupt und blinzelte in die Sonne. Von ganz fern trug der Wind grollenden Kanonendonner an ihre Ohren. Weiter südlich war es an einem Frontabschnitt unruhig geworden. Vielleicht wieder die Propagandatrupps, dachte Dallmann, diese verrückten Einsätze, bei denen sich jeder Landser an die Stirn tippt. Da kommen so ein paar Propagandaheinis, bauen im vordersten Graben riesige Lautsprecher mit Verstärker auf und brüllen in perfektem Russisch Parolen und Nachrichten zu den sowjetischen Linien hinüber. Sie heißen Stalin einen Verbrecher und Massenmörder, erinnern an die schönen Zeiten Rußlands vor dem Bolschewismus — als ob Rußland jemals schöne Zeiten gehabt hätte, unter den Zaren oder unter Lenin, immer war es das Volk, das von der jeweils herrschenden Klasse getreten wurde —, fordern zum Überlaufen auf und behaupten sogar, daß es in Deutschland für Rotarmisten, die ihre Waffen wegwerfen, genügend Arbeit und Brot gäbe. Sogar Russinnen, vor allem Ukrainerinnen, kommen mit den Lautsprechertrupps nach vorn und erzählen was von den Friedenswünschen Tausender von Frauen, die aber nur in Erfüllung gehen könnten, wenn jetzt und hier der Sowjetsoldat mit erhobenen Armen und weißen Fahnen herüberkäme.

Die Antwort war immer die gleiche: Artilleriefeuer, Minenwerfer, Flakbeschuß, Gewehrgranaten; die herrliche Frühsommerstille war zerrissen, es gab wieder Verwundete und sogar ein paar Tote, und die Ärzte schimpften über die Idioten an den »Flüstertüten«.

___________

Auch im Gebiet der 4. Kompanie war ein Propagandatrupp aufgetaucht. Er verbreitete aus großen Lautsprechern flotte russische Volksmusik, von Kalinka bis zur Kosakenpatrouille, dann sprach eine Frau und erzählte, was man alles in Berlin zum Beispiel frei in den Läden kaufen konnte. Ein wahres Paradies mußte das sein. Plötzerenke, der neben einem Sonderführer der Propagandatruppe lag, stieß ihn in die Seite.

»Das sollen die alles glauben?«

»Warum nicht?«

»Die ganze Gegend stinkt doch vor diesen Lügen!«

»Weißt du’s besser, du Klugscheißer!?«

»Ich bin Berliner. Ich war in Urlaub …«

»Aber die nicht …«

»Haltet ihr den Iwan für so doof?«

»Ja.« Die Frau hatte ihre Durchsage beendet, und der Propagandamann spielte wieder eine Einlage wehmütiger Steppenlieder. »Die Rassenforschung hat nachgewiesen, daß ein normales slawisches Hirn nur die halbe Denkkapazität eines germanischen Hirns besitzt.«

»Ihr Arschlöcher!«

»Halt’s Maul.« Die Lautsprecher plärrten die Musik über den Donez. Dann wieder schöne Worte, die Verlesung sowjetischer Verluste, die Aufzählung deutscher Erfolge. Leutnant Bauer III hatte vorsorglich Alarmbereitschaft angeordnet. Es konnte nicht mehr lange dauern, und die sowjetische Artillerie ballerte los. Alles verkroch sich in die Bunker mit den dicken Balken- und Erddecken.

»Kann man das nicht abstellen?« Bauer III rief beim Bataillon an.

»Nein.« Der Bataillonskommandeur, Major Schelling, war selbst am Apparat. »Leider nicht. Das gehört zur psychologischen Kriegführung.«

»Blödsinn!«

»Bauer, kritisieren Sie nicht eine Anordnung des OKH!«

»Es kommt doch nichts dabei heraus!«

»Wem sagen Sie das? Aber was können wir dagegen unternehmen? Nichts! Die Antwort der Propagandaleitstelle kenne ich: Die Sowjets machen das auch! Eine unumstößliche Begründung, nicht wahr? Bauer, erklären Sie mir nicht, daß die Iwans gleich mit Granaten antworten und daß es Verluste geben kann! Kriege haben es so an sich, daß es kracht und daß Menschen zerfetzt werden!«

»Aber hier ist es nicht nötig, Herr Major!«

»Oh, Himmel, Bauer! Reden Sie doch nicht von der Notwendigkeit! Wir wollen doch nicht von Bunker zu Bunker ein philosophisches Gespräch führen! Gehen Sie in Deckung, wenn’s kracht — und nun viel Glück!«

Aber es gab keine Artillerieantwort. Auf sowjetischer Seite blieb alles still. Die Mädchen der Gruppe Bajda standen allesamt im Graben, hörten auf die Musik und lachten, wenn die Ukrainerin von Berlin erzählte oder der Genosse Stalin als Massenmörder bezeichnet wurde. Nur Miranski regte sich gewaltig auf, raufte sich die Haare und lief im Graben hin und her wie ein eingesperrter Wolf.

»Ungeheuerlich ist das!« schrie er in die schöne Musik hinein und starrte zum deutschen Ufer hinüber. Neben ihm standen Leutnant Ugarow und Soja Valentinowna Bajda. »Eine bodenlose Frechheit! Welch ein Bubenstück! Laufen weg wie die Hasen, verlieren den Krieg und spucken dem Genossen Stalin auf die Augen! Ha, meine Wut zerreißt mich noch! Hört euch das an! Wir sollen am Ende des Jahres vernichtet sein? Den Atem nimmt es mir, meine Freunde! Klopft mir auf den Rücken, damit ich nicht ersticke!«

Nach einer Stunde war der Wortüberfall zu Ende. Der deutsche Lautsprechertrupp baute seine Geräte ab und verließ die vorgeschobenen Beobachtungsstände. Der Sonderführer der Einheit blieb ein paarmal stehen und blickte zurück. Die ungewohnte Stille irritierte ihn.

»Seid ihr sicher, daß da drüben überhaupt Russen liegen?« fragte er Plötzerenke.

»Wennste den Heldentod sterben willst, komm mit. Ich verschaffe ihn dir …«

»Die reagieren ja gar nicht …«

»Das hängt vielleicht mit der halbierten Auffassungsgabe des slawischen Gehirns zusammen, was?« Plötzerenke grinste anzüglich. »Außerdem liegen da Weiber …«

»Was?« Der Sonderführer blieb ruckartig stehen und zog den Kopf ein.

»So was Ähnliches wie’n Frauenbataillon.«

»Scharfschützinnen?«

»Und was für welche. Die knipsen dir die Kuppe von der Brustwarze weg …«

»Verdammt, das sagt ihr erst jetzt?!« Der Sonderführer lief geduckt nach hinten. »Diese Weiber kenne ich! Vor Charkow hatten wir vier Verluste … Kopfschüsse.«

»Das sind unsere Mäuschen!« Plötzerenke lachte gemütlich. Er klopfte dem Sonderführer auf die Schulter und winkte dann zum Flußufer. »Nur keine Panik! Bis hierher reichen sie nicht. Da mußte schon am Ufer stehen — oder ihnen ins Visier laufen, wenn sie nachts drüben in den Dorfruinen lauern. Kannst die Rübe ruhig hochnehmen, Kumpel!«

Der Sonderführer verzichtete auf eine Antwort und atmete erst auf, als er bei Leutnant Bauer III im Erdbunker saß und einen höllisch brennenden Schnaps trank. Noch immer schwieg die sowjetische Seite. Kein Artilleriefeuer. Sommerliche Stille.

»Muß ein verdammt komisches Gefühl sein, Weibern gegenüberzuliegen«, sagte der Propagandamann, während ein junger Soldat, der in der ruhigen Zeit als »Chefordonnanz« diente, das Abendessen, ein knusprig gebackenes Hühnchen, servierte.

»Man gewöhnt sich dran.« Bauer III hob die Schultern.

»Euch muß doch kotzübel sein vor Haß auf diese Flintenweiber!«

»Warum? Es sind Soldaten wie wir. Sie tragen eine Uniform.«

»Sie knallen euch aus dem Hinterhalt ab!«

»Was heißt Hinterhalt?« Bauer III machte eine weitausholende Armbewegung. »Überall ist Krieg. Es gibt kein Vorn oder Hinten, Oben oder Unten. Wo und wie man aufeinandertrifft — spielt das eine Rolle? Man muß eben schneller sein, den anderen vorher sehen, besser schießen — oder einfach nur Glück haben! Wir haben jetzt auch zwei sogenannte Spezialisten hier. Mal sehen, was die erreichen. Das sind knallharte Einzelkämpfer, die genau wissen, daß sie immer auf der Himmelsleiter stehen.«

»Interessant.« Der Propagandasonderführer kaute genußvoll an seinem Hühnchen. »Die möchte ich sehen. Das gibt einen schönen Bericht. Wo kann ich sie sprechen?«

»Irgendwo.« Bauer III zeigte hinüber zum Fluß, den in der Abendsonne gelbrot leuchtenden Donez. »Vielleicht am Fluß? Ich weiß es nicht. Manchmal sind sie tagelang draußen. Sie können sie ja suchen. Ich kann Sie davon nicht abhalten … nur warnen kann ich Sie. Am Fluß sind Sie in Reichweite der Mädchen.«

Am Abend zog die Propagandakolonne mit ihren Lautsprechern und Plattenspielern wieder ab und fuhr zurück zum Regiment. Die Ukrainerin, ein schlankes, flachsblondes Mädchen mit blauen Kulleraugen, trennte sich nur schwer von der 4. Kompanie, denn sie hatte inzwischen den neu eingetroffenen Fähnrich Lorenz v. Stattstetten kennengelernt. Auch er war schlank, blond, blauäugig, trug ein sonniges Lächeln zur Schau und auf dem Kopf, verwegen schief, eine zerknautschte Feldmütze. Als er die Mütze bekam, hatte er zunächst einmal den Versteifungsdraht aus dem Rand herausgezogen und die Mütze eingedrückt.

»Den sollte man als Spezialist bei den Weibern dort drüben einsetzen«, hatte Plötzerenke gesagt, als v. Stattstetten sich bei der 4. Kompanie meldete. »Der stellt sich ans Ufer- und hopp-hopp werfen die Süßen die Gewehre weg und heben die Röckchen! Jungs, der kommt hier ran, als wollte er gleich ‘ne kesse Sohle aufs Parkett legen!«

Aber das täuschte. Der blonde Sonnenschein der Kompanie kam bereits mit Nahkampfspange und beiden EKs zu seiner neuen Truppe. Nun begleitete er die Ukrainerin der Propagandaabteilung noch ein Stück nach rückwärts, und als der Abschied unvermeidlich war, küßte er sie.

»Wir sehen uns nie wieder«, sagte sie leise und hielt seine Hand fest auf ihrer Brust.

»Ich weiß es nicht. Wenn du nicht wiederkommst …«

»Ich heiße Olga Fedorowna Nasarowa. Ich gebe dir meine Adresse. Du kannst mir schreiben.«

»Das werde ich.« v. Stattstetten notierte sich ihre Feldpostnummer und ihre Heimatanschrift. Sie kam aus Krementschug am Dnjepr und hatte einmal Lehrerin für deutsche Sprache werden wollen.

»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht. Sie kannten sich erst drei Stunden, aber für Olga Fedorowna waren seine Augen bereits unvergeßlich geworden. Sie würde von jetzt an von ihm träumen, von seinen Lippen, von seinen schlanken, weichen Händen und von seinem jungenhaften Lachen, das sich in ihrem Herzen festsetzte. O ja, man kann in drei Stunden spüren, wie sich ein Leben verändert. Man kann einen Menschen in kurzer Zeit so vollkommen in sich aufnehmen, daß man sich untrennbar mit ihm verwachsen fühlt.

»Wenn der Krieg zu Ende ist …«

»Wer weiß, wo wir dann sind.«

»Wir werden uns finden … wir müssen uns nur suchen, wirklich suchen … ich werde dich suchen …«

Sie küßten sich noch einmal, dann blieb v. Stattstetten zurück und winkte Olga Fedorowna nach, bis der Kübelwagen, der sie zum Regiment brachte, im Kusselgelände der Steppe verschwand.

In der Nacht noch schrieb v. Stattstetten seinen ersten Brief an Olga.

Wenn ich die Augen schließe, stehst Du vor mir, und wenn ich die Hände an die Ohren presse und alle anderen Geräusche bleiben fern von mir, dann höre ich Deine Stimme … Wie schön bist Du, Olitschka …

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In dieser Nacht setzte Peter Hesslich über den Donez. Er bediente sich dazu eines alten Holzkahns, den er in einer Scheune gefunden und zusammen mit Dallmann geflickt hatte. Zwei Löcher waren auszubessern und ein Ruderblatt zu ersetzen. Bei Einbruch der Dunkelheit schleiften sie den Kahn zum Fluß und ließen ihn zu Wasser. Er schwamm, die Lecks waren dicht.

»Laß mich mitkommen!« sagte Dallmann zum wiederholten Male. »Vier Augen sehen mehr als zwei, Peter!«

»Aber allein bin ich beweglicher. Das weißt du doch!«

»Was willst du eigentlich da drüben?« Dallmann reichte dem bereits im Kahn sitzenden Hesslich die Ruder. »Ich sage dir, du machst einen verdammten Fehler! Wenn die nun die Ufer vermint haben! Da gehste hoch, für nichts und wieder nichts. Heldentod aus Blödheit! Peter, laß die Mädchen auf unsere Seite kommen — da kriegen wir sie doch auch! Und sicherer. Hier kennen wir jetzt jedes Loch, jeden Erdhöcker. Aber ich weiß, was du willst! Du willst ihnen zeigen: Paßt auf! Was ihr könnt, können wir auch! Hier ist jemand, der auch mitten in die Stirn treffen kann.«

»Genau.« Hesslich senkte die Ruder lautlos ins Wasser. »Ich will ihre Sicherheit ankratzen. Sie sollen spüren, daß auch sie Nerven haben …«

Er winkte Dallmann zu, lachte lautlos und stieß sich dann vom Ufer ab. Mit leisem Plätschern glitt der Kahn in den Fluß. Das Rauschen der Wellen und der warme Nachtwind verschluckten das Geräusch.

Dallmann lag im Ufergras und starrte Hesslich nach. Er trieb etwas ab, ruderte dann kräftig gegen den Strom und erreichte, nur mehr schattenhaft erkennbar, das sowjetische Ufer unterhalb einer Weidengruppe.

»Hals- und Beinbruch!« sagte Dallmann leise und ging zurück zu den Ruinen des Bauernhauses, in denen sie seit vier Tagen wohnten. Er holte ein leichtes MG aus einer Holzkiste, packte einen Kasten mit gegürteter Munition und kehrte zum Donez zurück. Wenn es Schwierigkeiten gab und Peter sich zurückziehen mußte, wollte er ihm Feuerschutz geben.

Dallmann baute das MG am Ufer auf, legte sich daneben und wartete. Es war eine laute Nacht, in den flachen Ufertümpeln quakten die Frösche. Nachtvögel, deren Namen Dallmann nicht kannte, schrien durch die Dunkelheit.

Welch ein Krieg, dachte er einmal. Das Land wird zerstört, die Menschen verbluten — aber trotzdem gibt es noch Frösche, die quaken, und es flattern Vögel durch die Luft, die sonst den Granaten gehört.

Ohne es zu merken, schlief er neben seinem MG ein. In seinem Gehirn verwandelte sich das Quaken der Frösche in herrliche Musik. Uwe Dallmann träumte, er säße in einem Sinfoniekonzert, und zum erstenmal langweilte er sich nicht. So schön war die Musik.

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Peter Hesslich hatte den ersten Stall und den ersten Garten erreicht, ohne auf eine Mine zu treten oder einem sowjetischen Posten begegnet zu sein.

Nach der Ankunft auf dem sowjetischen Ufer hatte er sich zunächst einmal ein paar Minuten reglos ins Gras gelegt und in die Nacht gelauscht. Den Kahn hatte er mit einem Hanfstrick an einer alten Wurzel, die aus der Uferböschung ragte, festgebunden. Sollte ihn jemand beobachtet haben, so mußte jetzt der Angriff erfolgen. Die uralte Taktik, den Gegner in Sicherheit zu wiegen, um dann unverhofft zuzuschlagen, betrachtete er als lächerlich. Ihn überraschte nichts und niemand. Wenn Hesslich mit seinem Scharfschützengewehr unterwegs war, schärften sich seine Sinne. Er witterte wie ein Tier, das alles hört und alles riecht und alles sieht, was sich in seiner Umgebung aufhält.

Er preßte sich flach auf den sandigen Boden, das Gewehr neben sich, den Lauf geschützt in der Armbeuge. Er hatte nur das Gewehr, zwei Taschen voll Munitionsrahmen und ein Taschenmesser mit herausspringender Klinge mitgenommen. Sonst nichts. Alles, was klappern konnte — das Seitengewehr, die Gasmaske, die Feldflasche, der Spaten — alles, was ihn beim Anschleichen behinderte, war zurückgeblieben. Auch auf den Stahlhelm hatte er verzichtet. Seine Haare bedeckte eine selbstgestrickte dunkelgraue Mütze.

Um diese Mütze hatte es schon einige sehr heftige Auseinandersetzungen gegeben. Als Hesslich zum erstenmal damit zu einem Einsatz ausrückte, lief er prompt einem Major in die Arme.

»Kommen Sie mal her, Feldwebel!« hatte der Major forsch gebrüllt. »Sie haben wohl ‘ne Meise?! Was ist denn das, was Sie da auf dem Kopf tragen?! Eine Schlafmütze?! Geht’s ins Himmelbettchen? Mann! Das komische Ding runter! Ich mache einen Tatbericht wegen Verächtlichmachung der Uniform! Sind wohl Komiker, was?! Runter mit dem Ding!«

»Die Mütze gehört zu meiner Ausrüstung, Herr Major!« hatte Hesslich höflich zu erklären versucht. »Tante Erna hat sie gestrickt. In Wuppertal-Elberfeld.«

»Wollen Sie mich verarschen?« brüllte der Major, hochrot im Gesicht. Er starrte wild auf die runde graue Strickmütze und holte tief Atem. »Name …«

»Frau Erna Villrath, Wuppertal-Elberfeld …«

»Ihr Name, Sie Clown! Aber das treibe ich Ihnen aus! Truppenteil …«

»Sonderkommando E/I. Scharfschützeneinsatz …«

»Was sind Sie?«

»Scharfschütze, Herr Major.« Peter Hesslich hatte sich bemüht, nicht zu grinsen. Sobald das Wort Scharfschütze fiel, das hatte er immer wieder erlebt, änderten sich seine Gesprächspartner, egal, ob es sich um einfache Landser oder Generäle handelte. Es war, als umgäbe ihn plötzlich Leichengeruch, als spüre der andere plötzlich Kälte, Todeskälte. Scharfschütze — das bedeutete ein Loch im Kopf. Vor einem stand eine Maschine mit einem menschlichen Körper.

Eine Tötungsmaschine.

»Die Mütze gehört zu meiner Ausrüstung.«

»Wieso?« Das klang schon milder. Man geruhte, zuzuhören.

»Die Mütze ist so etwas wie eine Tarnkappe. Sie ist leicht, klappert nicht wie ein Stahlhelm, glänzt nicht im Mondenschein, bedeckt die Stirn, wenn ich sie bis zu den Augen herunterziehe. Diese Mütze ist eine Art Lebensversicherung, Herr Major.«

»Aber sie ist doch nicht amtlich?!«

»Ich verstehe nicht, Herr Major.«

»Mann, gehört die Mütze zur Uniform der Wehrmacht?«

»Nein. Sie ist von Tante Erna. Im Einsatz dürfen wir zur Tarnung tragen, was wir wollen. Ich bevorzuge Tante Ernas Mütze …«

»Wegtreten!« hatte der Major säuerlich gesagt. Dann blickte er kopfschüttelnd dem Feldwebel nach, der scheinbar völlig außerhalb aller militärischer Ordnung umgeschnallt und mit Gewehr davonlatschte, eine Strickmütze auf dem Kopf.

Seit dieser Begegnung streifte Hesslich seine »Tarnkappe« jeweils erst kurz vor dem Einsatz über. Auch da gab es Rückfragen der jeweiligen Kompaniechefs, wenn auch nicht im Ton des Stabsmajors. Nur Leutnant Bauer III kümmerte sich nicht darum. Als Hesslich zum erstenmal mit seiner Tante-Erna-Mütze erschien, streifte Bauer III sie nur mit einem kurzen Blick.

Später, als Hesslich ihn fragte, warum er nicht erstaunt gewesen sei, erwiderte Bauer III: »Ich habe es mir abgewöhnt, Fragen zu stellen. Bei Typen wie Sie, Hesslich, sowieso. Von mir aus können Sie einen Tirolerhut mit riesigem Gamsbart tragen — das ist Ihr Bier! Es ist doch völlig wurscht, wie wir krepieren.«

Für einen Vierundzwanzigjährigen eine erstaunlich einfache Philosophie.

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Hesslich kroch erst weiter, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß niemand seine Kahnfahrt über den Donez beobachtet hatte. Lautlos robbte er auf jenen Häuserkomplex zu, den sie immer durch ihre Ferngläser beobachtet hatten. Es war das zerstörte Bauerndorf mit den neuangelegten Gärten. Ob sich dort auch in der Nacht Mädchen aufhielten, wußte er nicht. Eine halbe Stunde brauchte er bis zur ersten ausgebrannten Scheune. Er kroch an die kreuz und quer herumliegenden, verkohlten Balken heran und fühlte sich nun, da er dem flachen, offenen Land entronnen war, wieder etwas geborgener.

Der ganze Uferstreifen war nicht vermint — soviel wußte er nun. Sie sind sich ihrer Sache allzu sicher, daß sie nicht einmal diese einfache Sperre einbauen. Sie rechnen nicht mehr damit, daß wir jemals wieder über den Donez kommen. Sie glauben nur an den Erfolg der Roten Armee. Und sie bauen vor unseren Augen das Land wieder auf, in Reichweite unserer Waffen, unter der Feuerglocke, mit der unsere Artillerie sie überziehen könnte.

Könnte … wenn wir genug Munition hätten! Wenn wir nicht jede Granate zählen müßten!

Sie müssen das wissen. Wie könnten sie sich sonst so sicher sein?

Hesslich beschloß, in dieser Nacht nicht zurückzufahren, sondern den Tag auf der russischen Flußseite zu verbringen. Er ging vorsichtig in dem zerstörten Dorf herum und sah mit Staunen, was man alles angelegt hatte. Die Gärten waren gepflegt; in vier Ställen grunzten Ferkel; in einer großen, halbwegs erhaltenen Scheune drängten sich zehn Schafe. Am Tag weideten sie in einer Senke, die man von der deutschen Seite nicht einsehen konnte. Drahtzäune verhinderten ein Ausbrechen der Schafe.

Wenn das Plötzerenke wüßte, dachte Hesslich und lächelte. Niemand würde ihn davon abhalten können, ein Schaf zu »organisieren«. Die Lebensgefahr zählte nicht. Junge, da läuft die Verpflegung vor der Tür herum — Ehrensache, daß man da nicht still zusieht.

Hesslich entdeckte in der großen Scheune ein perfektes Versteck unter dem noch halb vorhandenen Dach. Die Sparren bildeten dort mit abgestelltem, rostendem Gerümpel ein unübersichtliches Gewirr, das niemand beobachten würde. Er kletterte einen Stützpfeiler hinauf, balancierte über einen freischwebenden Balken und erreichte die Gerümpelecke. Dort baute er, immer wieder nach draußen lauschend, sein Versteck aus, schob eine teils verrostete, teils faulende Deichsel nach vorn, baute aus Stroh, Säcken, zerschlissenen Spankörben, der verbeulten Motorhaube eines Treckers und einem schimmelnden Gummirad einen perfekten Sichtschutz und setzte sich dann dahinter in den engen Raum zwischen Fußboden und Dach.

Unter ihm rumorten und trampelten die Schafe. Sie spürten die Nähe des Fremden und beruhigten sich nur langsam. Hesslich streckte sich aus. »Dumm wie ein Schaf«, das ist völlig falsch, dachte er. Die Tiere sind klüger als man glaubt. Wenn ich jetzt in die Scheune käme, ginge ich sofort in Deckung. Die Schafe würden mir verraten: Hier stimmt was nicht!

Nachtstunden dauern unendlich lange, wenn man sie abwarten muß. Ab und zu blickte Hesslich auf seine Armbanduhr. Ehe eine Stunde vorüber war, hatte er Verdacht, die Uhr sei stehengeblieben. Ein paarmal hielt Hesslich sie an sein Ohr, sie tickte wirklich, die Sekunden tropften dahin, die Zeiger schlichen über das Zifferblatt. Es kam ihm tatsächlich so vor, als wolle diese Nacht nie zu Ende gehen.

Beim Morgengrauen scheuerte Hesslich mit beiden Händen sein Gesicht und fühlte sich danach frisch. Die dadurch gesteigerte Durchblutung machte ihn hellwach. Er legte sich auf den Bauch, schob sich nach vorn und hatte fast die ganze Scheune unter sich im Blickfeld. Die Schafe standen dicht zusammengedrängt wie ein einziger grauweißer, wolliger Kloß.

Gegen sieben Uhr früh kam Schanna Iwanowna. Sie trug Rock und Bluse und hatte wie eine Bäuerin das schwarze Haar unter einem Kopftuch verborgen. Nur zwei Dinge erinnerten daran, daß sie Soldat war: Die Militärstiefel und das Gewehr mit dem Zielfernrohr, das sie in der linken Hand trug. Schanna hatte heute Herdendienst. Die anderen Mitglieder der Gruppe Bajda hatten sich — bis auf drei Wachen — im weiter hinten liegenden dritten Graben beim Bataillonsstab versammelt und saßen in der ehemaligen Stolowaja, dem Gemeindesaal des Dorfes Burjenkowa, auf rohen Holzbänken.

Politische Schulung. Ein Genosse aus Moskau war gekommen, um mit Hilfe von großen aufgespannten Karten zu erzählen, wie die Jahre 1943 und 1944 verlaufen würden. Foma Igorewitsch Miranski, der inzwischen die Nachricht erhalten hatte, daß man ihn tatsächlich als vollgültigen Offizier übernehmen würde, hatte den lieben Freund von der Zentrale herzlich begrüßt, schmatzend abgeküßt und dann eine flammende Rede gehalten. Nachher war er außer Atem, saß keuchend auf seinem Banksitz und genoß den Applaus.

So ein Schulungstag hat etwas Gutes, meine Lieben. Nicht, daß man nachher klüger ist und mehr weiß über das, was alles kommen soll — nein, man bekommt auch Verpflegung aus der Bataillonsküche! Bei der Gruppe Bajda allerdings kam dies fast einer Bestrafung gleich, lebte sie doch vorne besser als hinten das Bataillon. Aber darüber sprach man nicht. Wen ging es schon etwas an, daß Miranski und Ugarow, unterstützt von der imponierenden Soja Valentinowna, innerhalb von zwei Monaten eine ganze Schafherde zusammengebracht und am Donez eine winzige Kolchose hatten entstehen lassen. Inspektionen, die ab und zu die Frauenabteilung besuchten, wurden nie in die Dorfruinen geführt, sondern nur bis zum Grabenrand. »Dort drüben sehen die Deutschen ein!« hieß es immer wieder. »Genossen, fordert das Schicksal nicht heraus! Bleibt in Deckung.«

Diesem Rat wurde nur allzu gern Folge geleistet.

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Schanna schob den Riegel der Scheunentür zurück und trat ein. Oben unter dem Dach legte langsam und lautlos Peter Hesslich den Sicherungsflügel seines Gewehres mit dem Daumen um. Zum ersten Mal sah er eines dieser sagenhaften Mädchen aus der Nähe. Greifbar nahe war sie … Er konnte die Blumen auf dem Kopftuch zählen, Sommerblumen und Rispen … Die Druckfarben waren sehr ausgebleicht. Das Tuch hatte Flecken.

Da ist sie nun, dachte Hesslich. Ein Mädchen, zum Töten erzogen. Ein wirklich hübsches Mädchen, das seinen Herzschlag vergißt, wenn es den Gegner im Fadenkreuz hat. Er atmete flach und verhalten und sah, wie Schanna Iwanowna zwischen die Schafe trat und ihnen die Wolle kraulte.

»Gleich geht es auf die Weide. Nur Geduld, ihr Lieben!« sagte sie. Ihre Stimme war hell und kindlich. Fast tänzelnd bewegte sie sich. Aus einer Ecke holte sie jetzt zwei Eimer und ein hölzernes Joch, an das sie die Eimer hängen wollte.

Aha, dachte Hesslich, zuerst holt sie Wasser und tränkt die Schafe. Wo sie weiden, ist keine Tränke. Er wartete, bis Schanna die Scheune wieder verlassen hatte, anscheinend um aus einem nahegelegenen Brunnen Wasser zu schöpfen. Ein verrückter Gedanke hatte sich seiner bemächtigt: Ich nehme sie mit. Ich überwältige sie und bringe sie als Gefangene nach drüben.

Die erste Gefangene des geheimnisvollen Frauenbataillons!

Die Sekunde der Überraschung mußte genügen. Dieser Blitzschock, der sie treffen würde, wenn er sie anrief. Nur wie er sie bis zum Kahn am Donez bringen konnte, war ihm noch nicht klar. Und vor allem: War sie allein? Oder arbeiteten ringsherum in den Gärten die anderen Mädchen?

Hesslich schwang sich aus seinem Versteck, trat an das Tor und spähte hinaus. Die noch bleiche Morgensonne lag über Stille und Einsamkeit. Er sah das Mädchen mit den gefüllten Wassereimern am Joch zurückkommen. Es war allein. Nichts regte sich in dem zerschossenen Dorf.

Hesslich sprang lautlos zurück, ging hinter einem niedergebrochenen Balken in Deckung und wartete, bis Schanna in die Scheune kam. Er bewunderte ihren trotz der derben Militärstiefel leichten Gang und sah zum erstenmal voll ihr Gesicht. Große, schwarze, herrliche Augen, ein schmaler Mund, starke Backenknochen. Unter dem Kopftuch lugten schwarze Haarsträhnen hervor und hingen über ihre Stirn. Die Schafhirtin Schanna Iwanowna vom Baikalsee, das Mädchen mit dem zweitbesten Trefferbuch der Abteilung Bajda. Sie war vorgeschlagen zur Verleihung des Suworow-Ordens in Bronze, einer der höchsten sowjetischen Tapferkeitsauszeichnungen.

Hesslich holte tief Atem. Schanna hatte die Eimer abgestellt, das Joch ins Heu geworfen und band jetzt ihr Kopftuch los.

Jetzt, dachte Hesslich. Nur jetzt … in dieser Sekunde denkt sie an alles andere, nur nicht, daß ein Deutscher hinter ihr stehen könnte. Ihr ist heiß. Sie wird die Haare schütteln, vielleicht sogar die Bluse aufknöpfen … Mein Mädchen, in einer Sekunde verändert sich dein Leben!

Er hob das Gewehr in Brusthöhe, holte tief Atem und brüllte dann laut in die Stille. »Stoj!«

Der Blitz, der durch Schanna fahren und sie lähmen sollte, blieb aus. Sie war weder gelähmt noch willenlos. Sie reagierte auf den Anruf ohne zu denken, nur aus einem Reflex heraus, und dies mit der Geschmeidigkeit eines wilden Tieres. Ihr schlanker Körper schnellte hoch, wirbelte herum, stürzte neben den Schafen in einen Haufen Gerümpel. Es war Hesslich, der von dieser Reaktion einen Augenblick lang wie gelähmt war, da er einfach nicht begriff, wie ein Mensch derartig schnell das Gegenteil von dem tat, was eigentlich von ihm erwartet wurde. Kaum hatte er diesen Schock überwunden, da hörte er auch schon den ersten Schuß und schnellte sich nun seinerseits zur Seite, rutschte in eine Ecke und wartete.

Schanna Iwanowna biß sich in die Unterlippe. Erst als sie das warme Blut spürte, das ihr übers Kinn tropfte, löste sie den Biß. Daneben! Zum erstenmal danebengeschossen! Tränen der Wut rannen aus ihren Augen, ihre Lippen zitterten und die Hände verkrampften sich um das Gewehr. Es hatte alles geklappt — keine Schrecksekunde, im Sprung noch das Gewehr an sich reißen, im Niederfallen sich drehen und beim Aufkommen auf dem Boden zielen und schießen. Aber sie hatte nicht getroffen. Das war für sie ungeheuerlich, ihre Enttäuschung war grenzenlos. Sie schluckte leise und war plötzlich nur noch ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, das nichts anderes tun will als laut weinen.

In dieser winzigen Zeitspanne lag Hesslichs Chance. Er wußte nicht, wo genau das Mädchen lag, sondern sah nur den Gerümpelhaufen neben den Schafen, die jetzt laut blökten und sich aneinanderdrängten. Und in diesen Haufen schoß er hinein, wahllos und wütend, weil man ihn hatte leerlaufen lassen.

Du Aas, dachte er. Du bist ein Profi, das hast du jetzt bewiesen. Du bist eine von denen, die meine Kameraden mit eiskalter Präzision abgeknallt haben. Wie viele hast du schon in deinem Schußbuch stehen, he? Zehn oder zwanzig oder noch mehr? Aber jetzt bin ich da, und du kannst dein Trefferbuch wegwerfen, du brauchst es nicht mehr! Einem Peter Hesslich entkommst du nicht.

Er wartete. Von draußen kam keine Reaktion. Die Scheunenwände und die lärmenden Schafe dämpften die Schüsse so sehr, daß schon in den Gärten kaum noch etwas zu hören war. Oder war er wirklich allein mit diesem Mädchen? Arbeitete heute sonst niemand im Dorf?

Noch einmal schoß er in den Gerümpelhaufen.

Hinter einer Kiste zuckte Schanna Iwanowna zusammen und fiel nach hinten. Ein Eimer polterte um und verriet ihr Versteck. Ihre linke Schulter brannte und zuckte wie unter elektrischen Schlägen. Sie spürte die Wärme des auslaufenden Blutes und wußte, daß sie getroffen war. Verzweifelt versuchte sie sich aufzurichten, das Gewehr, das ihr entfallen war, wieder aufzuheben, um sich selbst zu erschießen. Aber sie hatte plötzlich keine Kraft mehr, sich zu bewegen.

Nie in Gefangenschaft, dachte sie. Nie! Was haben wir bei Oberst Olga Petrowna Rabutina gelernt: Es läßt sich immer verhindern, lebend in die Hand der Deutschen zu fallen. Die letzte Möglichkeit besteht darin, den Feind in die Hoden zu treten. Dann wird er dich erschlagen. Aber noch besser ist es, ihn gar nicht erst mehr zu sehen. Ihr müßt sterben, bevor ihr im Verhör schwach werdet! In Gefangenschaft geht ihr nie! Ihr nicht!

Sie erreichte ihr Gewehr nicht mehr. Der Deutsche stand bereits vor ihr und beugte sich über sie.

Schanna Iwanowna wollte Hesslich in die Hoden treten, aber auch die Beine versagten den Dienst. Sie zitterte. Der Schuß mußte einen Nerv getroffen haben, der den ganzen Körper in Aufruhr versetzte. Sie schloß die Augen, um das verhaßte Gesicht des Deutschen nicht zu sehen. »Schieß!« sagte sie. »Schieß doch endlich, du Hund!«

Hesslich verstand sie nicht. Er sah das Blut, das an der linken Schulter durch den Stoff drang und riß ihr die Bluse vom Körper. Sie trug nichts darunter. Ihre kleinen, festen Brüste kamen seinen Händen entgegen, als er ihren Oberkörper festhielt. Sie wehrte sich gegen seine Berührung und bäumte sich auf. Als er sie auf den Boden drückte, spuckte sie ihm sogar ins Gesicht.

»Nun paß mal auf, du Katze!« sagte Hesslich schwer atmend. Auf einmal war der Mensch unter ihm kein Feind mehr, kein Kameradenmörder, kein Wesen, das man töten mußte, um das Leben anderer zu retten, sondern ein kleines, blutendes Mädchen, das versuchte, um sich zu schlagen und dem man doch helfen mußte. »Du verstehst mich nicht und ich verstehe dich nicht. So verwundet wie du bist, kann ich dich nicht mitnehmen. Aber ich kann dich auch nicht einfach liegen und krepieren lassen. Dazu bist du zu jung und zu hübsch — und überhaupt, ich kann das nicht. Als Förster habe ich gelernt, was ein Fangschuß ist. Wenn du ein Tier wärst, würde ich ihn dir geben. Aber du bist ein Mensch. Ich könnte dich auch erschießen, nur weil ihr es auch so macht. Keine Gefangenen! Aber auch das geht nicht, mein Kind! Ich kann doch kein wehrloses Mädchen umlegen! Dämliche Lage, was? Schade, daß du mich nicht verstehst. Wenn ich nur wüßte, was draußen los ist …«

»Hund!« sagte Schanna Iwanowna und knirschte laut mit den Zähnen. »Du Hurendreck von einem Deutschen! Bring mich um!«

Hesslich hob die Schultern. »Wenn ich das verstehen könnte. Nach ‘ner Liebeserklärung hört es sich jedenfalls nicht an. Was machen wir nun? Zuerst verbinden, was? Nein, zuerst Sicherheit!«

Er ließ Schanna los, nahm ihr Gewehr und hieb es gegen einen alten Balken. Beim dritten Schlag flog der Kolben weg, beim fünften zersprang das Schloß und knickte der Lauf. Mit von Entsetzen geweiteten Augen sah Schanna ihm zu.

Mein Gewehr, dachte sie, mein geliebtes Gewehr! O dieses Schwein. Wenn er mich getötet hätte, wäre das eine Erlösung gewesen. Aber er tötet mein Gewehr … es zerspringt … ich höre es schreien … mein Gewehr schreit … so fürchterlich schreit es, mein Gewehr …

Erneut versuchte sie sich aufzubäumen, aber sie kam kaum vom Boden hoch. Als sie zurückfiel, schoß wieder Blut aus der Schulterwunde, und das Zittern begann von neuem. Sie sah den Deutschen zurückkommen; er hatte blutige Hände. Aber sie dachte nicht: Das ist mein Blut, sondern sie war von dem Gedanken besessen: Mein Gewehr hat geblutet — es hat geblutet und geschrien …

»Jetzt werden wir dich verbinden«, sagte Hesslich und kniete sich neben Schanna in das Gerümpel. »Und wenn du mich noch einmal anspuckst, Mädchen, dann klebe ich dir eine! Das hältst du schon noch aus, trotz deiner zerschossenen Schulter. Sei vernünftig, Kleine …«

Er holte aus seinen Taschen das Verbandszeug, wickelte es aus und zeigte es Schanna Iwanowna.

Sie starrte ihn entgeistert an, als könne sie nicht begreifen, daß er sie nicht tötete, sondern sie im Gegenteil sogar rettete.

Und sie begriff es tatsächlich nicht. »Ein Feind muß getötet werden« — diesen Satz hatte sie begriffen. Der Satz »Man kann einem Feind auch das Leben retten«, das lag jenseits ihres Fassungsvermögens.

Sie machte sich steif, als Hesslich ihren Oberkörper aufrichtete und mit dem Verbinden begann. Sein Kopf war ihr jetzt ganz nahe. Ich könnte ihm das Ohr abbeißen, dachte sie und stöhnte, als er den Verband auf die Wunde drückte. Ich könnte ihm mit den Zähnen ein Stück aus der Backe reißen — ob er mich wohl dann erschießt?! Wenn ich seinen Hals treffe, kann ich ihm sogar die Schlagader zerfetzen.

Aber sie tat es nicht, schnellte nicht schlagartig vor, nur um zuzubeißen, sondern lag auf seinem stützenden Arm, ließ sich verbinden und sagte, als er den Verband angelegt hatte, mit kleiner kläglicher Stimme:

»Danke … du Höllenhund!«

Wenige Minuten später wurde sie besinnungslos. Der Blutverlust hatte sie zu sehr geschwächt.

Hesslich bettete Schanna in das alte Stroh, setzte sich neben sie und legte sein Gewehr über die Knie. Er wußte, daß er erst in der Dunkelheit wieder zurück konnte. Ein ganzer Tag lag vor ihm.

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Schanna wurde nicht vermißt — sie war ja bei den Schafen.

Die politische Schulung der Gruppe Bajda ging mit fröhlichen Gesängen zu Ende. Während in der Stolowaja die Mädchen musizierten, begab sich Miranski auf einen Inspektionsrundgang, der beim Bataillonsmagazin endete. Aus wohlweislichen Gründen hatte er Gulnara Petrowna mitgenommen. Gulnara stammte aus Georgien, hatte feurige Augen, und wenn sie tief Atem holte, erwartete man stets mit Spannung, daß ihre Brüste die Knöpfe der Bluse wegsprengten. Die Art und Weise, in der sie Männer anzublicken pflegte, war geradezu verteufelt. Ihre Wimpern senkten sich halb über die Augen, und durch diesen Vorhang trafen Blitze die wehrlos ausgelieferten Männer. Selbst höhere Offiziere, denen man absolute Beherrschung zugetraut hätte, wandten nach einem solchen Blick von Gulnara Petrowna alle Tricks an, um das feurige Pferdchen aus dem Stall zu locken. Ein besonders kluger Bursche, der Major Schelsky vom Moskauer Stab, setzte sogar eine außerplanmäßige Nachtübung an, die lediglich den Zweck hatte, Gulnara bei der simulierten Schlacht als verwundet zu erklären und ihr den Brustschuß eigenhändig zu verbinden.

Miranski hatte sofort die Möglichkeiten erkannt, die durch Gulnaras sexuelle Ausstrahlung und ihre Willigkeit eröffnet wurden. Wenn es irgendwo Probleme mit besonders sturen Genossen gab, die sich hinter ihren Vorschriften verschanzten, dann erschien Miranski in Begleitung von Gulnara, ließ sie ihren Schleierblick abfeuern und brachte erst danach sein Anliegen vor. Selbst die verschlossensten Genossen waren so in kürzester Zeit seinen Wünschen gegenüber offen wie Scheunentore.

Miranski erschien also beim Magazin des Bataillons und legte dem Verwalter, einem mürrischen, knorrigen Mann mit Hängeschnauzer und traurigen Dackelaugen, eine Liste seiner Wünsche vor. Obenan stand das Wort Wodka.

»Das ist Gulnara Petrowna«, sagte Miranski mit gekonnter Arglosigkeit und klopfte seiner Begleiterin auf den prallen Hintern. Gulnara lachte dunkel, schoß ihren ersten vernichtenden Blick ab und spannte, indem sie kräftig einatmete, die Bluse. Die Bartspitzen des Verwalters begannen zu zittern. »Sie wird dir, lieber Genosse und Bruder, erklären, was wir da draußen im Graben alles brauchen. Nicht wahr, Gulinka, mein Täubchen — du erzählst es ihm?! So und jetzt lasse ich euch allein und sorge dafür, daß euch niemand stört.«

Eine Stunde später belud Miranski einen Handwagen randvoll mit Köstlichkeiten. Der Magazinverwalter und Gulnara küßten sich innig, umarmten sich noch einmal und winkten einander, bis Miranski mit seiner Beute um die nächste Ecke gebogen war.

All diese Ereignisse trugen dazu bei, daß die Gruppe Bajda erst am Abend wieder in ihre Stellung zurückkehrte — fröhlich schnatternd wie eine Herde Gänse und bepackt mit den Köstlichkeiten, die Miranski organisiert und Gulnara in einer Art Tauschgeschäft bezahlt hatte.

»War das ein schöner Tag!« sagte Leutnant Ugarow und begrüßte Galina Ruslanowna. Die Ärztin war im Graben geblieben und hatte gemalt. Es war ihre Lieblingsbeschäftigung, vor einem Stück Leinwand zu sitzen und es mit Blumen oder Traumlandschaften oder einfach nur einem Rausch von Farben, in dem alle Formen durch einen inneren Rhythmus abgelöst wurden, zu bemalen.

Die aufkeimende Liebe zwischen ihr und Ugarow war abgekühlt. Soja Valentinowna war Siegerin geblieben. »Du hast die Wahl«, hatte sie zu der Opalinskaja gesagt, als Ugarow, was niemandem verborgen bleiben konnte, der Ärztin wie ein Hündchen nachzulaufen begann. »Entweder, du läßt dich zu einer anderen Einheit versetzen, oder man wird dir und Victor Iwanowitsch den Schädel einschlagen! Er gehört mir, ich gebe ihn nicht mehr her, und wer ihn mir wegnehmen will, kann sich jetzt schon sein Grab aussuchen. Und teilen will ich ihn auch nicht, ganz abgesehen davon, daß er es ohnehin nicht aushalten würde! Was er hat, reicht gerade für mich. Muß ich noch deutlicher werden?«

Die Opalinskaja schlich zwei Wochen herum wie ein Mörder, der an sein Opfer nicht herankommt. Aber dann siegte die Vernunft über die Sehnsucht. Sie fuhr eine Woche in Urlaub, und als sie zurückkam, hatte sie eine Reisestaffelei, Fettstifte, Aquarellfarben und Öltuben, Pinsel in allen Breiten und Längen und eine große Handpalette sowie Kreiden und Temperafarben dabei — kurzum: Aus ihrem Unterstand wurde ein Maleratelier. Und die erste, die Galina Ruslanowna Modell saß für ein schönes Porträt, war ausgerechnet Soja Valentinowna.

Die Affäre Ugarow war somit für die Opalinskaja beendet. Victor Iwanowitsch blieb ein guter Freund, der sich von ihr sogar Heilsalbe holte, wenn die Bajda ihm wieder einmal in flammender Ekstase den ganzen Körper zerbissen hatte. Dann kühlte die Opalinskaja die vielen kleinen Blutergüsse, meldete sich darauf bei der Bajda im Befehlsbunker und sagte: »Schwesterchen, so geht das nicht. Du kannst Victor nicht auffressen, und wenn er noch so gut schmeckt. Die Rote Armee braucht diesen Leutnant noch.« Worauf beide in schallendes Gelächter ausbrachen. Es herrschte tatsächlich gute Eintracht zwischen ihnen.

Heute nun, bei der Rückkehr von der Schulung, brachte Ugarow der Ärztin ein Geschenk mit: Eine große Flasche Terpentin zum Anrühren und Verdünnen der Farben und zur Pflege der Pinsel.

»Wenn es nach dem Genossen Samsonow aus Moskau geht, haben wir den Krieg bereits gewonnen. Das hat er uns an der Karte bewiesen. Ein interessanter Vortrag, das muß man ihm lassen. Alles sehr logisch — man weiß bloß nicht, ob die Deutschen dieser Logik auch folgen werden.« Er blickte hinüber zum Donez. Das Abendrot leuchtete über das Land wie die Farben auf Galinas romantischen Gemälden.

»Alles ruhig da drüben?«

»Wie immer, man gewöhnt sich geradezu an diese trügerische Stille. Wie hört sich eine Kanone an? Wie klingt es, wenn eine Granate heranheult? Wir werden alle sehr erschrecken, wenn es plötzlich wieder knallt!«

»Ist jemand im Dorf?«

»Nur Schanna. Bei den Schafen.«

»Noch nicht zurück?«

»Sie ist den ganzen Tag draußen geblieben. Es war recht heiß. Sie wird in der Sonne gelegen haben, wie immer, nackt im Gras …«

Ugarow nickte und vergaß Schanna Iwanowna im gleichen Augenblick. Sie wird bald zurückkommen, er hatte daran nicht den geringsten Zweifel.

Aber Schanna kam nicht zurück. Nachdem ein feuriger Himmel den Tag verschluckt und die Nacht sich über die Steppe gelegt hatte, meldete sich Stella Antonowna bei Soja Valentinowna. Die Bajda saß mit Miranski und Ugarow vor einem Batterieradio und hörte aus Moskau die Oper »Fürst Igor«. Miranski legte den Finger auf die Lippen, zeigte dann neben sich auf die Pritsche und nickte Stella zu. Diese jedoch schüttelte den Kopf und blieb an der Tür stehen. »Schanna fehlt noch!« sagte sie laut, mitten in ein Duett hinein. Die Bajda hob den Kopf.

»Wieso fehlt sie?«

»Sie ist draußen bei den Schafen.«

»Den ganzen Tag und nun auch die Nacht über …?«

»Sie wird im Stroh schlafen!« Soja Valentinowna blickte Stella fragend an. »Es kann nichts passiert sein. Es war ein ganz ruhiger Tag! Sie wird gewiß schon schlafen! Geht hin und weckt sie.«

Kaum eine Viertelstunde später kamen sie zurück. Die kräftige Marianka Stepanowna schleppte Schanna auf ihrem Rücken. Lida Iljanowna lief voraus und schrie schon von weitem: »Galina! Schnell, schnell. Sie stirbt! Galina … man hat sie erschossen! Gaaaalina …«

Im Graben herrschte Aufruhr wie in einem zerstörten Ameisenbau. Alles lief durcheinander. Man kam der ächzenden Marianka entgegen, nahm ihr Schanna ab und trug sie im Laufschritt zur Stellung. Miranski und Ugarow stürzten aus ihrem Bunker, die Bajda brüllte Befehle, im Unterstand der Opalinskaja flogen Staffelei und Malkästen in die Ecke und der zusammenklappbare schmale OP-Tisch wurde aufgebaut. Die Metallkiste mit den Instrumenten und Medikamenten wurde herangeschleift, und Galina Ruslanowna riß sich den Malerkittel vom Körper.

Vorsichtig wurde Schanna auf den Tisch gelegt. Sie war bei Bewußtsein, hatte die großen schwarzen Augen weit geöffnet und starrte in die grelle Deckenlampe, die Galina jetzt näher heranzog. Die Bajda stand am Kopfende, hielt Schannas Hände fest und streichelte sie. Nun betrat Stella Antonowna, in den Händen eine zusammengeraffte Zeltplane, den Unterstand, wortlos ließ sie die Zipfel der Plane los. Schannas zertrümmertes Gewehr polterte auf den Boden.

Soja Valentinowna erstarrte, als sei sie urplötzlich vereist. »Alle hinaus!« sagte sie mit gepreßter Stimme. »Alle! Du nicht, Stella! Aber alle anderen raus!«

Sie wartete, bis sie mit Miranski, Ugarow, Stella und der Ärztin allein war, ließ dann Schannas Hände los, bückte sich zu den Gewehrtrümmern und hob einige von ihnen ins Licht. Galina hatte unterdessen den durchgebluteten Verband abgewickelt und die Wunde freigelegt. Es war ein glatter Durchschuß, der Knochen war unverletzt. Die Kugel war hinten wieder herausgetreten und hatte dort ein größeres, rundes Loch hinterlassen. Die Wunde war nicht lebensbedrohend.