Der Mann der lächelte

Henning Mankell

1994

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Inhaltsverzeichnis

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≫Was wir zu fürchten haben, ist nicht die Unmoral der großen Männer, sondern die Tatsache, daß Unmoral oft zu Größe führt.≪

De Tocqueville

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Nebel.

Er schleicht lautlos heran wie ein Raubtier, dachte er. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dachte er, obwohl ich mein ganzes Leben in Schonen verbracht habe, wo der Nebel die Menschen ständig in Unsichtbarkeit versinken läßt.

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Es war am 11. Oktober 1993, neun Uhr abends.

Der Nebel zog rasch vom Meer her auf. Er war im Auto auf dem Heimweg nach Ystad und hatte Brösarps Backar passiert, als sein Wagen direkt in den weißen Dunst hineinfuhr.

Sofort wurde er von Panik erfaßt.

Ich fürchte mich vor Nebel, dachte er. Dabei sollte ich eher den Mann fürchten, den ich eben auf Schloß Farnholm besucht habe. Diesen freundlichen Mann, dessen Mitarbeiter sich stets diskret im Hintergrund halten, damit ihre Gesichter im Schatten bleiben. Irgendwie bedrohlich. An ihn sollte ich denken, denn ich weiß nun, was sich hinter seinem freundlichen Lächeln verbirgt, hinter dieser Maske des unbescholtenen, über jeden Verdacht erhabenen Bürgers. Vor ihm sollte ich mich fürchten, nicht vor dem Nebel, der aus der Bucht von Hanö herantreibt. Jetzt, da ich weiß, daß er nicht zögert, Menschen zu töten, die ihm im Wege stehen.

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Er ließ die Scheibenwischer laufen, denn in der Feuchtigkeit beschlug die Frontscheibe ständig. Er fuhr nicht gern im Dunkeln. Die Fahrbahn reflektierte das Scheinwerferlicht, so daß er kaum die Hasen erkennen konnte, die vor ihm über die Straße wirbelten.

Ein einziges Mal, vor über dreißig Jahren, hatte er einen Hasen überfahren. Es war auf dem Weg nach Tomelilla, an einem Frühlingsabend. Er erinnerte sich daran, wie sein Fuß zu spät auf die Bremse getreten hatte. Es folgte der sanfte Stoß gegen die Karosserie. Er hatte angehalten, war ausgestiegen und zu dem Hasen gelaufen, der ihn ununterbrochen anstarrte. Der Körper schien bereits gelähmt, nur die Hinterläufe zappelten noch. Er hatte sich gezwungen, nach einem Stein zu suchen, und die Augen geschlossen, als er den Hasenschädel zertrümmerte. Dann war er zum Wagen zurückgegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Augen des Hasen und die wild strampelnden Läufe hatte er nicht vergessen können. Er war das Bild einfach nicht losgeworden. Er sah es immer wieder vor sich, ganz unvermutet.

Er versuchte, das Unbehagen abzuschütteln.

Ein Hase, der seit dreißig Jahren tot ist, kann einen Menschen verfolgen, ohne damit Schaden anzurichten, dachte er. Ich habe mit den Lebenden mehr als genug zu tun.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er ungewöhnlich oft in den Rückspiegel schaute.

Wieder dachte er: Ich habe Angst. Jetzt erst wird mir klar, daß ich auf der Flucht bin. Ich fliehe vor dem, was sich hinter den Mauern von Schloß Farnholm verbirgt. Und ich weiß, daß sie wissen, daß ich weiß. Aber wieviel? Genug, um sie zu beunruhigen: Ich könnte den Eid brechen, den ich einst als junger Anwalt nach dem Examen abgelegt habe, zu einer Zeit, als der Eid noch eine heilige Verpflichtung beinhaltete. Fürchten sie das Gewissen eines alten Anwalts?

Es blieb dunkel im Rückspiegel. Er war allein im Nebel. In einer knappen Stunde würde er wieder in Ystad sein.

Der Gedanke erleichterte ihn für einen Augenblick. Sie waren ihm also nicht gefolgt. Morgen würde er entscheiden, was zu tun war. Er würde mit seinem Sohn sprechen, der als sein Teilhaber ebenfalls in der Kanzlei tätig war. Es gab immer eine Lösung, das hatte ihn das Leben gelehrt. Also mußte auch diesmal eine zu finden sein.

Er tastete im Dunkeln, um das Radio anzustellen. Eine Männerstimme erklang und berichtete über neue gentechnische Erkenntnisse. Die Worte strömten durch sein Bewußtsein, ohne sich festzusetzen. Er schaute auf die Uhr; es war gleich halb zehn. Im Rückspiegel war es immer noch schwarz. Der Nebel schien dichter zu werden. Dennoch erhöhte er vorsichtig den Druck aufs Gaspedal. Mit jedem Kilometer, den er zwischen sich und Schloß Farnholm brachte, fühlte er sich ruhiger. Vielleicht war seine Furcht trotz allem unbegründet?

Er versuchte, sich zu klarem Denken zu zwingen.

Wie hatte es angefangen? Ein Routinegespräch am Telefon, ein Zettel auf seinem Schreibtisch: Ein geschäftlicher Vertrag mußte dringend durchgesehen werden. Der Name des Mannes war ihm unbekannt. Aber er hatte zurückgerufen; ein kleineres Anwaltsbüro in einer unbedeutenden schwedischen Stadt konnte es sich nicht leisten, Kunden leichthin abzuweisen. Er erinnerte sich gut an die Stimme am Telefon: erfahren, mittelschwedischer Dialekt, präzise wie die eines Mannes, dessen Zeit kostbar ist. Es ging um eine komplizierte Transaktion, um eine auf Korsika registrierte Reederei und um Zementtransporte nach Saudi-Arabien, wo eine seiner Firmen als Agentin für Skanska tätig war. Vagen Andeutungen zufolge sollte eine Moschee in Khamis Mushayt erbaut werden. Oder auch eine Universität in Jeddah.

Einige Tage später hatten sie sich im Hotel Continental in Ystad getroffen. Er war zeitig gekommen und hatte an einem Ecktisch Platz genommen. Das Restaurant war eigentlich noch geschlossen, der jugoslawische Kellner schaute mürrisch durch die hohen Fenster. Es war Mitte Januar. Ein stürmischer Wind blies von der Ostsee her; bald würde es schneien. Der sonnengebräunte Mann im dunkelblauen Anzug, der auf ihn zukam, schien höchstens fünfzig Jahre alt zu sein. Irgendwie paßte er weder zum Januarwetter noch nach Ystad. Er war ein Fremdling, mit einem Lächeln, das nicht richtig zu dem braungebrannten Gesicht gehörte.

Das war die erste Erinnerung an den Mann von Schloß Farnholm. An einen Mann ohne Eigenschaften im blauen Maßanzug, ein ganz eigenes Universum, in dessen Zentrum das Lächeln stand. Die drohenden Schatten waren wie unauffällige Satelliten gewesen, die ihn wachsam umkreisten.

Die Schatten waren also bereits damals dagewesen. Er konnte sich nicht erinnern, ob sie sich einander überhaupt vorgestellt hatten. Sie saßen an einem Tisch im Hintergrund und waren nach Beendigung des Treffens schweigend aufgestanden.

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Die goldene Zeit, dachte er bitter. Ich war dumm genug zu glauben, daß es so etwas gibt. Die Vorstellungswelt eines Anwalts darf nicht von Illusionen über ein zu erwartendes Paradies getrübt werden, zumindest nicht hier und jetzt. Nach einem halben Jahr verdankte die Kanzlei dem sonnengebräunten Mann die Hälfte ihrer Einkünfte, nach einem Jahr hatten sich die Gesamteinnahmen verdoppelt. Die Überweisungen kamen pünktlich, nie mußte eine Mahnung geschickt werden. Sie konnten sogar das Haus renovieren, in dem sich das Büro befand, und alle Transaktionen schienen legal zu sein, wenn auch kompliziert und vielschichtig. Der Mann von Schloß Farnholm schien seine Geschäfte von allen Kontinenten aus zu dirigieren, die Orte wirkten willkürlich ausgewählt. Oft kamen Faxmitteilungen und Anrufe, manchmal auch Funksprüche, aus seltsamen Städten, die er auf dem Globus kaum finden konnte, der neben dem Ledersofa im Besucherzimmer stand. Aber es schien eben alles legal zu sein, wenn auch schwer nachzuvollziehen.

Die neue Zeit, hatte er gedacht. So sieht sie aus. Und als Anwalt muß ich unendlich dankbar sein, daß der Mann von Schloß Farnholm im Telefonbuch gerade auf meinen Namen gestoßen ist.

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Für einen kurzen Augenblick glaubte er an Einbildung. Dann nahm er die beiden Scheinwerfer im Rückspiegel wahr. Der Wagen hatte sich herangeschlichen und war bereits sehr nahe.

Sofort kehrte die Furcht zurück. Sie waren ihm also gefolgt. Sie argwöhnten, er könnte seinen Eid brechen und anfangen zu reden.

Sein erster Impuls war, Gas zu geben und durch den weißen Nebel zu entfliehen. Schon rann ihm der Schweiß am Körper herunter. Die Lichter waren jetzt dicht hinter seinem Auto.

Die Schatten, die töten, dachte er. Ich entkomme ihnen nicht, genausowenig wie ein anderer.

Dann wurde er überholt. In dem vorbeifahrenden Wagen erkannte er undeutlich das graue Gesicht eines alten Mannes. Schnell verschwanden die roten Rücklichter im Nebel.

Er zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und trocknete sich Stirn und Nacken.

Bald bin ich zu Hause, dachte er. Nichts wird geschehen. Frau Dunér hat eigenhändig im Kalender vermerkt, daß ich heute Farnholm besuche. Niemand, nicht einmal er, schickt seine Schatten aus, um einen älteren Anwalt auf dem Heimweg zu töten. Das wäre zu riskant.

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Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis er allmählich einsah, daß da etwas nicht stimmte. Es war eine belanglose Sache, die Durchsicht einer Reihe von Verträgen, bei denen die Exportaufsichtsbehörde als Bürge für einen großen Kredit fungierte. Turbinenersatzteile für Polen, Mähdrescher in die Tschechoslowakei. Es war ein unbedeutendes Detail, einige Zahlen, die plötzlich nicht stimmten. Er dachte zunächst an einen Schreibfehler, an vertauschte Ziffern. Dann ging er der Angelegenheit auf den Grund und mußte erkennen, daß nichts zufällig, sondern alles absichtsvoll geplant war. Nichts fehlte, alles war rechtens — und das Ergebnis erschreckend. Es war spätabends; er hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt und verstanden, daß er einem Verbrechen auf die Spur gekommen war. Zuerst wollte er es nicht glauben. Aber schließlich gab es keine andere Erklärung. Erst im Morgengrauen machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Irgendwo in der Nähe des Stortorg war er stehengeblieben. Der Gedanke, daß der Mann von Schloß Farnholm ein Verbrechen begangen hatte, ließ sich nicht abschütteln. Es gab keine andere Erklärung. Grobe Täuschung der Exportaufsichtsbehörde, ein gigantischer Steuerbetrug, eine Kette von Urkundenfälschungen.

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Danach hatte er nach dunklen Löchern in allen Dokumenten gesucht, die aus Farnholm auf seinen Tisch kamen. Und es gab sie, fast immer. Langsam wurden ihm die kriminellen Dimensionen bewußt. Er wollte seinen Augen nicht trauen, bis sich die Wahrheit nicht mehr leugnen ließ.

Dennoch hatte er nicht reagiert, hatte nicht einmal mit seinem Sohn über die Entdeckung gesprochen.

Warum? Weil er in seinem Innersten noch nicht glauben wollte, was doch Realität war? Hatte denn sonst niemand etwas gemerkt, die Steuerbehörden zum Beispiel?

War er einem Geheimnis auf die Spur gekommen, das es nicht gab?

Oder war es schon von Anfang an zu spät gewesen? Schon damals, als der Mann von Schloß Farnholm Hauptklient der Anwaltskanzlei wurde?

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Der Nebel schien immer dichter zu werden. Vielleicht würde er sich kurz vor Ystad lichten.

Gleichzeitig war ihm bewußt, daß es nicht mehr so weiterging. Jetzt, da er wußte, daß der Mann auf Farnholm Blut an den Händen hatte.

Er mußte mit seinem Sohn sprechen. Trotz allem war Schweden noch ein Rechtsstaat, wenn dieser auch immer schneller ausgehöhlt und geschwächt wurde. Auch sein Schweigen war Teil dieses Prozesses. Daß er so lange die Augen verschlossen hatte, würde ein fortgesetztes Schweigen nicht entschuldigen.

Er könnte sich nie das Leben nehmen.

Plötzlich bremste er scharf.

Im Licht der Scheinwerfer war etwas aufgetaucht. Zuerst glaubte er, es sei ein Hase. Dann sah er, daß sich etwas unbeweglich im Nebel auf der Fahrbahn befand.

Er hielt und schaltete das Fernlicht aus.

Mitten auf der Straße stand ein Stuhl. Ein einfacher Holzstuhl, auf dem eine Puppe in menschlicher Größe saß. Das Gesicht war weiß.

Es konnte auch ein Mensch sein, der wie eine Puppe aussah.

Er spürte, wie das Herz in der Brust krampfhaft schlug.

Nebel waberte durch die Lichtkegel.

Der Stuhl und die Puppe waren keine Sinnestäuschung. Genausowenig wie die eigene lähmende Angst. Er schaute wieder in den Rückspiegel. Nichts als Dunkelheit. Vorsichtig fuhr er bis auf zehn Meter an Stuhl und Puppe heran.

Die Puppe glich einem Menschen; es war keinesfalls eine beliebig zusammengesetzte Vogelscheuche.

Das gilt mir, dachte er.

Mit zitternder Hand stellte er das Radio ab und lauschte in den Nebel hinaus. Alles war sehr still. Er war durch und durch unentschlossen.

Es lag nicht an dem Stuhl vor ihm im Nebel oder an der geisterhaften Puppe, daß er zögerte. Es war etwas anderes, etwas dahinter, was er nicht sehen konnte. Etwas, was vermutlich nur in ihm selbst existierte.

Ich habe Angst, dachte er wieder. Die Furcht nimmt mir die Fähigkeit, klar zu denken.

Schließlich löste er doch den Sicherheitsgurt und öffnete die Fahrertür. Er war überrascht, wie kühl und feucht die Luft war.

Er stieg aus, den Blick fest auf den Stuhl und auf die Puppe geheftet, die von den Scheinwerfern angestrahlt wurden. Sein letzter Gedanke war, daß dies wie eine Theateraufführung war. Bald würden die Schauspieler die Bühne betreten.

Dann hörte er hinter sich ein Geräusch.

Er kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen.

Der Schlag traf ihn am Hinterkopf.

Als er auf den nassen Asphalt sackte, war er bereits tot.

Der Nebel war jetzt sehr dicht.

Es war sieben Minuten vor zehn.

2

Der Wind war böig und kam genau von Norden.

Der Mann, der weit draußen am vereisten Ufer entlanglief, duckte sich gegen den Sturm. Dann und wann blieb er mit dem Rücken zum Wind stehen, zog den Kopf zwischen die Schultern und vergrub die Hände tief in den Taschen. Schließlich nahm er seinen scheinbar ziellosen Lauf wieder auf, bis er vom grauen Licht verschluckt wurde.

Eine Frau, die täglich am Strand ihren Hund ausführte, beobachtete den Mann seit einiger Zeit mit wachsender Unruhe. Er schien sich vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit draußen herumzutreiben. Vor ein paar Wochen war er eines Morgens einfach dagewesen, wie ein vom Meer angespültes Stück menschliches Treibgut. Normalerweise nickten ihr die Menschen, denen sie am Strand begegnete, einen Gruß zu. Es waren ohnehin nur wenige, denn es war bereits Spätherbst, bald November. Aber der Mann im schwarzen Mantel grüßte nicht. Anfangs glaubte sie, er sei vielleicht schüchtern, dann hielt sie ihn für unverschämt; möglicherweise ein Ausländer. Später hatte sie den Eindruck, er trage schwer an einer seelischen Last, als wäre er ein Pilger, der sich auf seinen Wanderungen von einem unbekannten Schmerz befreien will. Er bewegte sich unstet; manchmal ging er langsam, fast schleppend, dann wieder rannte er beinahe. Vielleicht waren es nicht die Beine, die ihn voranbrachten, sondern seine unruhigen Gedanken. Sie stellte sich auch vor, daß seine Fäuste in den Taschen geballt waren. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie war sich ganz sicher.

Nach einer Woche hatte sie sich ihr Bild gemacht. Der einsame Mann am Strand, von dem man nicht wußte, woher er kam, war dabei, eine tiefe persönliche Krise zu bewältigen; wie ein Kapitän, der sein Schiff mit unvollständigen Karten durch trügerisches Fahrwasser manövriert. Daher seine Verschlossenheit, seine Ruhelosigkeit. Sie hatte den Fall abends mit ihrem rheumakranken, vorzeitig pensionierten Mann diskutiert. Einmal hatte er sie sogar auf ihrem Spaziergang mit dem Hund begleitet, obwohl er gerade schwer von seiner Krankheit geplagt wurde und am liebsten im Haus blieb. Er gab ihr recht. Das Verhalten des Mannes schien ihm jedoch so ungewöhnlich, daß er einen guten Freund bei der Polizei von Skagen anrief und ihm von den Beobachtungen seiner Frau berichtete. Vielleicht handelte es sich um einen Mann, der geflohen war und gesucht wurde, um einen Insassen einer der wenigen noch existierenden Nervenheilanstalten des Landes. Der Polizist aber, der schon viele seltsame Gestalten zu Jütlands äußerster Spitze hatte pilgern sehen, mahnte zu Besonnenheit. Sie sollten ihn einfach in Frieden lassen. Der Strand zwischen den Dünen und den beiden Meeren, die hier aufeinandertrafen, war ein ständig sich veränderndes Niemandsland, das dem gehörte, der es brauchte.

Die Frau mit dem Hund und der Mann im schwarzen Mantel begegneten einander auch in der folgenden Woche wie zwei Schiffe auf hoher See. Aber eines Tages, es war der 24. Oktober 1993, geschah etwas, was sie später mit dem plötzlichen Verschwinden des Mannes in Verbindung brachte.

Es war einer der seltenen windstillen Tage. Nebel lag reglos über Strand und Meer. Nebelhörner blökten aus der Ferne wie verlassene Kreaturen. Die eigenartige Landschaft hielt den Atem an. Plötzlich entdeckte sie den Mann im schwarzen Mantel und blieb stehen.

Er war nicht allein. Ein nicht sehr großer Mann in heller Windjacke und Sportmütze war bei ihm. Sie hatte die beiden beobachtet. Der Neuankömmling redete auf den anderen Mann ein und wollte ihn offenbar von etwas überzeugen. Ab und zu nahm er die Hände aus den Taschen und unterstrich seine Worte mit heftigen Gesten. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden sagten, aber der Besucher schien sehr aufgeregt zu sein.

Nach ein paar Minuten liefen sie weiter, bis der Nebel sie verschluckte.

Am Tag darauf war der Mann wieder allein am Strand; fünf Tage später war er verschwunden. Bis weit in den November hinein ging sie jeden Morgen mit dem Hund hinaus und erwartete, dem schwarzgekleideten Mann wieder zu begegnen. Aber er kam nicht mehr. Sie sah ihn nie wieder.

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Über ein Jahr lang war Kurt Wallander, Kriminalkommissar bei der Polizei von Ystad, krank geschrieben und unfähig, seinen Dienst zu versehen. Während dieser Zeit hatte eine zunehmende Ohnmacht sein Leben erfüllt und seine Handlungen bestimmt. Wenn er es in Ystad nicht mehr aushielt und über genügend Geld verfügte, unternahm er immer wieder planlose kleine Reisen, in der trügerischen Hoffnung, daß es ihm anderswo bessergehen könnte, daß er vielleicht sogar seinen Lebensmut wiedergewinnen würde. Er hatte sogar eine Charterreise auf die Karibischen Inseln gebucht. Bereits auf der Fahrt zum Flughafen hatte er sich betrunken, und auch während der vierzehn Tage auf Barbados war er nie ganz nüchtern gewesen. Sein Allgemeinbefinden in jener Zeit konnte nur als wachsender Panikzustand beschrieben werden, als ein alles überlagerndes Gefühl, nirgendwo zu Hause zu sein. Er hatte sich im Schatten der Palmen versteckt und an gewissen Tagen nicht einmal das Hotel verlassen; unfähig, eine primitive Scheu vor der Anwesenheit anderer Menschen zu unterdrücken. Ein einziges Mal hatte er gebadet, allerdings unfreiwillig, denn er war alkoholisiert über einen Steg gewankt und ins Wasser gefallen. Eines späten Abends, als er trotz allem unter Leute gegangen war, um seinen Schnapsvorrat aufzufüllen, hatte ihn eine Prostituierte angesprochen. Nach dem Versuch, sie abzuweisen und gleichzeitig festzuhalten, hatten Verzweiflung und Selbstverachtung die Oberhand gewonnen. Drei Tage, an die er sich später nur unvollständig erinnern konnte, verbrachte er mit dem Mädchen in einem Schuppen, wo es nach Vitriol stank, auf einem schmutzigen, verschimmelten Lager. Kakerlaken krochen ihm über das schweißnasse Gesicht. Den Namen der Frau hatte er vergessen; er war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt je genannt hatte. Er war über sie hergefallen wie in einem wahnsinnigen Lustrausch. Als sie ihm das letzte Geld abgenommen hatte, tauchten ihre beiden Brüder auf und warfen ihn hinaus. Er schwankte ins Hotel zurück, lebte von dem im Preis einbegriffenen Frühstück und war, als er wieder in Sturup landete, in einem noch schlimmeren Zustand als vor der Reise. Der Arzt, bei dem er sich regelmäßig vorstellen mußte, warnte ihn nachdrücklich davor, noch einmal einen solchen Ausflug zu machen. Er könnte sich totsaufen. Zwei Monate später jedoch, Anfang Dezember, war er wieder auf Tour gegangen, nachdem er sich von seinem Vater unter dem Vorwand Geld geliehen hatte, zur Verbesserung seines Lebensgefühls neue Möbel anschaffen zu wollen. In dieser Zeit hatte er es nach Möglichkeit vermieden, seinen Vater zu besuchen, der obendrein frisch verheiratet war, mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau, seiner ehemaligen Haushaltshilfe. Mit dem Geld in der Tasche war er auf dem kürzesten Weg ins Reisebüro von Ystad marschiert und hatte einen dreiwöchigen Urlaub in Thailand gebucht. Es lief ab wie in der Karibik, mit dem einzigen Unterschied, daß er vor der totalen Katastrophe mit knapper Not bewahrt blieb. Ein pensionierter Apotheker, der im Flugzeug neben ihm gesessen hatte und ihn sympathisch fand, wohnte im selben Hotel und griff ein, als Wallander bereits zum Frühstück Alkohol trank und sich allgemein sonderbar benahm. So wurde Wallander eine Woche früher nach Hause geschickt. Auch diesmal hatte er seiner Selbstverachtung nachgegeben und sich mehrmals in die Arme von Prostituierten geworfen, eine immer jünger als die andere. Darauf folgte ein alptraumhafter Winter mit der anhaltenden Angst, sich die schreckliche Krankheit zugezogen zu haben. Ende April stand fest, daß er sich nicht angesteckt hatte. Aber er reagierte kaum auf den Bescheid, und ungefähr zu dieser Zeit begann sein Arzt ernstlich zu überlegen, ob Kurt Wallander noch für den Polizeidienst geeignet, ja, ob er überhaupt noch arbeitsfähig wäre. Vielleicht sollte man an eine vorzeitige Pensionierung denken.

Damals fuhr er — floh er, wäre vermutlich eine bessere Beschreibung — zum ersten Mal nach Skagen. Er hatte es geschafft, mit dem Trinken aufzuhören, nicht zuletzt durch seine Tochter Linda, die aus Italien zurückgekehrt war und bemerkt hatte, in welchem beklagenswerten Zustand sich sowohl seine Seele als auch seine Wohnung befanden. Sie hatte genau richtig reagiert, alle über die Zimmer verteilten Flaschen ausgegossen und ihn dann kräftig ausgeschimpft. Während der beiden Wochen, die sie bei ihm in der Mariagata wohnte, hatte er endlich jemanden zum Reden. Zusammen glätteten sie die schlimmsten Beulen an seiner Seele, und als Linda abreiste, schien sie seinem Versprechen, sich vom Alkohol fernzuhalten, zu vertrauen. Nachdem er wieder allein war und den Gedanken nicht mehr ertrug, weiterhin in der leeren Wohnung herumzusitzen, hatte er in der Zeitung die Annonce einer einfachen Pension in Skagen entdeckt.

Vor vielen Jahren, kurz nach Lindas Geburt, hatte er dort einige Sommerwochen mit seiner Frau Mona verbracht, und diese Wochen gehörten zu den glücklichsten seines Lebens. Sie hatten wenig Geld und lebten in einem kleinen Zelt, waren aber überzeugt, sich im Mittelpunkt des Lebens und der Welt zu befinden. Er rief noch am selben Tag an und bestellte ein Zimmer. Anfang Mai zog er in die Pension. Die Inhaberin, eine aus Polen stammende Witwe, beachtete ihn nicht weiter, lieh ihm aber ein Fahrrad, so daß er jeden Morgen nach Grenen zum endlosen Strand hinausradeln konnte. Auf dem Gepäckträger hatte er eine Plastiktüte mit belegten Broten, so daß er erst spät am Abend zurückzukommen brauchte. Die anderen Gäste waren ältere Paare oder Alleinstehende, und in der Pension war es still wie im Lesesaal einer Bibliothek. Zum ersten Mal seit über einem Jahr konnte er wieder richtig schlafen, und er merkte, daß die Sümpfe in seinem Inneren langsam austrockneten.

Während dieses ersten Aufenthalts in Skagen schrieb er drei Briefe. Der erste ging an seine Schwester Kristina. Sie hatte sich im vergangenen Jahr oft nach seinem Befinden erkundigt. Obwohl er gerührt war, daß sie sich um ihn sorgte, hatte er sich selten dazu durchringen können, ihr zu antworten oder sie anzurufen. Komplizierter wurde die Sache auch dadurch, daß er sich schwach erinnern konnte, ihr eine verworren formulierte Ansichtskarte aus der Karibik geschickt zu haben — als er schwer betrunken war. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren, und er hatte nie danach gefragt. So hoffte er, vielleicht so betrunken gewesen zu sein, daß er nicht die richtige Adresse geschrieben oder die Briefmarke vergessen hatte. In jenen Tagen in Skagen schrieb er ihr also, im Bett liegend, kurz vor dem Einschlafen, seine Aktentasche als Unterlage benutzend. Er versuchte, das Gefühl von Leere, Scham und Schuld zu schildern, das ihn verfolgte, seit er im Jahr zuvor einen Menschen getötet hatte. Auch wenn es eindeutig Notwehr war und sich nicht einmal die meist polizeifeindliche und sensationshungrige Presse auf ihn gestürzt hatte — er merkte, daß er die Last der Schuld nicht abwerfen konnte. Vielleicht würde er es eines Tages lernen, damit zu leben.

≫Ich stelle mir vor, daß ein Teil meiner Seele durch eine Prothese ersetzt worden ist, mit der ich noch nicht umgehen kann≪, schrieb er. ≫Manchmal, in düsteren Stunden, zweifle ich daran, ob ich es jemals lerne. Aber noch habe ich nicht ganz aufgegeben.≪

Den zweiten Brief richtete er an die Kollegen bei der Polizei von Ystad. Als er ihn schließlich in den roten Kasten vor der Skagener Post warf, war ihm klar, daß viele Unwahrheiten darin standen. Dennoch hatte er ihn abschicken müssen. Er bedankte sich für die Stereoanlage, die die Kollegen ihm im Sommer zuvor geschenkt hatten, von gesammeltem Geld. Er entschuldigte sich, daß er sich erst jetzt meldete, und bis zu diesem Punkt war alles ehrlich gemeint. Doch der Schluß des Briefes war eher eine Beschwörung: Er sei auf dem Weg der Besserung; er hoffe, bald wieder im Dienst zu sein. Genau das Gegenteil war der Fall.

Der dritte Brief war für Baiba in Riga bestimmt. In den vergangenen Jahren hatte er ihr ungefähr jeden zweiten Monat geschrieben. Er betrachtete sie allmählich als seine private Schutzheilige, und aus Angst, sie zu beunruhigen, verschwieg er, was er fühlte — beziehungsweise zu fühlen glaubte. Er war in der Richtung verunsichert; die andauernde Ohnmacht hatte sein Denken deformiert. In kurzen, klaren Momenten, meistens dann, wenn er sich am Strand aufhielt, ahnte er, daß er und Baiba keine gemeinsame Zukunft hatten. Er war mit Baiba ein paar Tage in Riga zusammengewesen. Sie hatte ihren ermordeten Mann geliebt, den Polizeihauptmann Karlis. Warum, in Herrgotts Namen, sollte sie plötzlich .einen schwedischen Kommissar mögen, der nur seine Pflicht getan hatte, wenn auch auf unkonventionelle Art und Weise? Aber es bereitete ihm keine größeren Probleme, diese Augenblicke der Klarheit zu verdrängen. Er wollte einfach nicht verlieren, was er, wie er im Innersten wußte, nie besessen hatte. Baiba, der Traum von Baiba, war seine letzte Reserve; die letzte Chance, die er verteidigen mußte, auch wenn es sich nur um eine Illusion handelte.

Er blieb zehn Tage in der Pension. Auf dem Heimweg nach Ystad beschloß er, sobald wie möglich zurückzukommen. Schon Mitte Juli war er wieder da, und die Witwe gab ihm sein vertrautes Zimmer. Wieder lieh er sich das Fahrrad und verbrachte seine Tage am Meer. Nun wimmelte es am Strand allerdings von Urlaubern, und er kam sich zwischen all diesen lachenden, spielenden und planschenden Menschen wie ein Störenfried vor. Es war, als hätte er sich ein ganz persönliches, ein allen anderen unbekanntes Revier eingerichtet, draußen auf Grenen, wo sich die beiden Meere begegnen. Dort versah er seinen einsamen Streifendienst, über sich selbst wachend, einen Ausweg aus seinem Elend suchend. Nach der ersten Skagen-Reise hatte sein Arzt eine gewisse Besserung festgestellt, aber die Signale waren zu schwach, um von einer Veränderung zum Guten sprechen zu können. Wallander hätte gern die Medikamente abgesetzt, die er seit einem Jahr einnahm. Sie machten ihn müde und träge. Aber der Arzt hatte abgeraten und weiterhin zu Geduld gemahnt.

Jeden Morgen beim Aufwachen fragte er sich, ob er es auch an diesem Tag schaffen würde, aus dem Bett zu kommen. Aber es fiel ihm jedenfalls hier in der Pension in Skagen nicht so schwer. Augenblicke von Schwerelosigkeit, von Erleichterung darüber, die Last der Ereignisse des Vorjahres abwerfen zu können, ließen ihn für Momente ahnen, daß es trotz allem noch eine Zukunft gab.

Am Strand, während der stundenlangen Spaziergänge, begann er sich allmählich nach all dem zu sehnen, was hinter ihm lag. Er suchte nach einer Möglichkeit, mit dem seelischen Druck fertig zu werden, vielleicht eine Kraft zu finden, die ihn wieder zum Polizisten machen könnte, zum Polizisten und Menschen.

In dieser Zeit hörte er auch auf, Opern zu hören. Wenn er am Strand entlangspazierte, hatte er oft seinen Walkman dabei. Eines Tages jedoch hatte er einfach genug von dieser Musik. Als er abends in die Pension zurückkehrte, legte er all seine Opernkassetten in die Reisetasche und stellte sie in den Schrank. Am nächsten Tag radelte er nach Skagen und kaufte Aufnahmen von Popmusikern, die er nur dem Namen nach kannte. Ihn wunderte nur, daß er die Opernmusik, die ihn so viele Jahre begleitet hatte, keinen Augenblick vermißte.

Es geht nichts mehr hinein, dachte er. Etwas in mir ist bis zum Rand gefüllt, bald werden die Wände nachgeben.

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Mitte Oktober kam er wieder nach Skagen; mit dem festen Vorsatz, diesmal Klarheit darüber zu gewinnen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Sein Arzt, der nun deutliche Zeichen einer Besserung erkannte, hatte ihm zu einem erneuten Aufenthalt in der Pension in Dänemark geraten, da ihm das Leben dort so gut bekam und seine Depressionen abklingen ließ. Ohne seinen Eid zu brechen, hatte er auch Polizeichef Björk vertraulich zu verstehen gegeben, daß Wallander eventuell wieder in den Dienst zurückkehren könnte.

Er kam also wieder nach Skagen und begab sich von neuem auf seine Wanderungen. Jetzt, im Herbst, lag der Strand wieder verlassen da. Er traf nur wenige Menschen. Oft waren es ältere Leute, hin und wieder ein paar verschwitzte Jogger und ab und zu eine neugierige Frau, die ihren Hund ausführte. Er nahm seine einsamen Patrouillengänge wieder auf, richtete sich sein Revier ein und marschierte mit immer energischeren Schritten an der sich ständig verändernden Grenze zwischen Land und Meer entlang.

Er dachte daran, daß er längst ein Mann mittleren Alters war, bald würde er fünfzig sein. In den vergangenen Monaten hatte er abgenommen, so daß ihm plötzlich Sachen wieder paßten, die er zuletzt vor sieben oder acht Jahren getragen hatte. Er merkte, daß er nun, nachdem er ganz mit dem Trinken aufgehört hatte, physisch in besserer Form war als seit langem. Darin schien ihm auch der Ausgangspunkt für eine mögliche Zukunft zu liegen. Wenn nichts Unvorhergesehenes eintraf, konnte er noch gut und gern zwanzig Jahre leben. Vor allem quälte ihn die Frage, ob er in den Polizeidienst zurückgehen konnte oder etwas ganz anderes versuchen mußte. An eine vorzeitige Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen auch nur zu denken, weigerte er sich. Das war eine Variante, die er nicht aushaken könnte. Er verbrachte seine Zeit draußen am Strand meist in Nebelschwaden gehüllt, aber es gab auch einzelne Tage mit hohem Himmel und klarer Luft. Dann glitzerte das Meer, und die Möwen ließen sich im Wind treiben. Bisweilen fühlte er sich wie ein Aufziehmännchen, das den Schlüssel im Rücken verloren hat und damit die Möglichkeit, neue Energie aufzunehmen. Er überlegte, welche Chancen er hatte, wenn er die Polizeilaufbahn verließ. Eventuell konnte er irgendwo bei einer Wach- und Sicherheitsgesellschaft anfangen. Ihm war allerdings nicht ganz klar, wozu die Erfahrungen eines Polizisten nützlich sein konnten, außer zur Fahndung nach Kriminellen. Es gab wenige Alternativen, falls er sich nicht zu einer radikalen Veränderung entschließen konnte. Aber wer wollte einen fast fünfzigjährigen ehemaligen Polizisten haben, der sich mit nichts anderem auskannte als mit mehr oder weniger unklaren Verbrechensszenarien?

Wenn er hungrig wurde, verließ er den Strand und suchte sich ein geschütztes Plätzchen hinter den Dünen. Er holte die belegten Brote und die Thermosflasche hervor und setzte sich auf die Plastiktüte, um den kalten Sand nicht so zu spüren. Während er aß, versuchte er, nicht an seine Zukunft zu denken, was ihm allerdings selten gelang. Das Bemühen um realistische Gedankengänge wurde immer wieder durch Wunschträume gestört.

Wie andere Polizisten auch, ließ er sich manchmal zu der Vorstellung hinreißen, die Seiten zu wechseln und Verbrechen zu begehen. Es hatte ihn oft gewundert, daß Polizisten, die straffällig geworden waren, ihr Fachwissen über die elementarsten Ermittlungsmethoden so schlecht nutzten und kaum je einer Verhaftung entgingen. Ab und zu also spielte er in Gedanken verschiedene illegale Möglichkeiten durch, reich und unabhängig zu werden. Aber es dauerte meist nicht lange, bis er solche Träume angeekelt zerschlug. Keinesfalls wollte er seinem Kollegen Hansson nacheifern, der einen großen Teil seiner Energie daran verschwendete, wie besessen auf Pferde zu setzen, die fast nie gewannen. Das empfand er als Armutszeugnis, das er sich nicht ausstellen wollte.

Dann nahm er seine Strandwanderung wieder auf. Seine Gedanken schienen sich im Dreieck zu bewegen. Er landete immer wieder in der Ecke mit der Frage, ob es nicht doch am besten wäre, seine Arbeit als Polizist wiederaufzunehmen. Zurückzukehren, den Erinnerungsbildern die Stirn zu bieten und vielleicht eines Tages zu lernen, damit zu leben. Die einzige realistische Wahl war, wie früher weiterzumachen. Darin hatte er ja auch einen gewissen Sinn gesehen: Die schlimmsten Verbrecher von der Straße zu holen, damit Menschen in etwas größerer Sicherheit lebten. Das aufzugeben würde nicht nur bedeuten, eine Arbeit zu verlieren, die er einigermaßen beherrschte. Er würde auch etwas beschädigen, was tiefer in ihm ruhte: das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, was dem Dasein Sinn gab.

Aber schließlich, als er eine Woche in Skagen verbracht hatte und der Herbst sich dem Winter zuneigte, sah er ein, daß er es nicht aushaken würde. Seine Zeit als Polizist war vorbei, die Verletzungen hatten ihn unwiderruflich verändert.

An einem Nachmittag, an dem der Nebel dicht über Grenen lag, fühlte er, daß die Argumente für oder wider erschöpft waren. Er würde mit seinem Arzt und mit Björk sprechen und nicht mehr in den Polizeidienst zurückkehren.

Irgendwo in seinem Innersten spürte er eine gewisse Erleichterung. Soviel stand erst einmal fest. Der Mann, den er auf dem Feld mit den unsichtbaren Schafen getötet hatte, würde seine Rache bekommen.

An diesem Abend radelte er nach Skagen hinein und betrank sich in einer kleinen, verrauchten Kneipe mit wenigen Gästen und lauter Musik. Er wußte, daß es sich diesmal nur um eine Art Ritual handelte, daß er am nächsten Tag nicht weitersaufen müßte. Es galt, die schicksalhafte Erkenntnis zu bekräftigen: Seine Zeit als Kommissar war abgelaufen. Nachts auf dem Heimweg stürzte er vom Fahrrad und schürfte sich das Gesicht auf. Die Pensionswirtin hatte sich wegen seines Ausbleibens Sorgen gemacht und auf ihn gewartet. Trotz seiner lahmen Proteste reinigte sie die Wunde und versprach, seine verschmutzten Kleider zu waschen.

Dann half sie ihm, die Tür zu seinem Zimmer aufzuschließen. ≫Heute abend war ein Mann hier und hat nach Herrn Wallander gefragt≪, sagte sie, als sie ihm den Schlüssel gab.

Wallander starrte sie verständnislos an. ≫Niemand fragt nach mir. Weiß ja gar keiner, daß ich hier bin.≪

≫Dieser Herr aber doch. Er wollte Sie gern treffen.≪

≫Hat er seinen Namen genannt?≪

≫Nein. Aber es war ein Schwede.≪

Wallander schüttelte den Kopf und verscheuchte den Gedanken. Keiner wollte ihn treffen, und auch er wollte niemanden sehen, da war er ganz sicher.

Am Tag darauf, als er sich müde und voller Reue wieder an den Strand begab, hatte er die nächtlichen Worte der Wirtin völlig vergessen. Der Nebel war dicht. Zum ersten Mal fragte er sich, was er hier draußen eigentlich verloren hatte. Schon nach einem Kilometer war er sich nicht mehr sicher, ob er weiter durchhalten würde. Deshalb setzte er sich auf das kieloben liegende Wrack eines großen Ruderboots, das halb im Sand begraben war.

Da bemerkte er den Mann, der aus dem Nebel auf ihn zukam.

Es war, als hätte jemand ohne anzuklopfen sein Büro betreten, draußen an dem unendlichen Strand.

Zuerst war der Mann ein Fremdling, der eine Windjacke und eine Sportmütze trug, die für seinen Kopf eine Nummer zu klein zu sein schien. Dann stieg die leise Ahnung in ihm auf, daß er den Mann kannte. Aber erst als er sich von dem umgestürzten Boot erhoben hatte und der Mann dicht herangekommen war, sah er, mit wem er es zu tun hatte. Sie begrüßten sich, Wallander mit verwundertem Gesicht. Wie war sein Aufenthaltsort bekanntgeworden? Schnell versuchte er sich zu erinnern, wann er Sten Torstensson zuletzt getroffen hatte. Es mußte während einer Verhandlung in jenem schicksalhaften Frühling gewesen sein.

≫Ich habe dich gestern schon in der Pension gesucht≪, sagte Sten Torstensson. ≫Ich will dich natürlich nicht stören. Aber ich muß mit dir reden.≪

Früher war ich Polizist und er Anwalt, dachte Wallander, sonst nichts. Wir hatten, jeder auf seine Weise, mit den Verdächtigen zu tun; ab und zu, aber äußerst selten, stritten wir uns, ob eine Verhaftung gerechtfertigt war oder nicht. Nähergekommen sind wir uns in der schweren Zeit, als er mich bei der Scheidung von Mona vertrat. Eines Tages merkten wir, daß etwas vorging, was wie der Beginn einer Freundschaft aussah. Freundschaft entsteht ja oft ganz unerwartet, wie ein Wunder. Und Freundschaft ist ein Wunder, das habe ich im Leben gelernt. Er hat mich eingeladen, am Wochenende mit ihm zum Segeln zu gehen. Es stürmte fürchterlich, seitdem mag ich nicht einmal mehr daran denken, an Bord eines Segelboots zu kommen. Danach haben wir uns in gewissen Abständen getroffen, nicht allzu oft. Und nun hat er mich aufgespürt und will mit mir reden.

≫Ich habe gehört, daß jemand nach mir gefragt hat≪, sagte Wallander. ≫Wie, zum Teufel, hast du mich hier aufgetrieben?≪

Er merkte, daß er den Unmut schlecht verbergen konnte, in seinem durch Meer und Sanddünen gesicherten Refugium entdeckt worden zu sein.

≫Du kennst mich≪, sagte Sten Torstensson. ≫Ich bin keiner, der gern stört. Meine Sekretärin behauptet, ich hätte ab und zu sogar Angst, mich selbst zu belästigen, was immer sie damit meint. Aber ich habe deine Schwester in Stockholm angerufen. Besser gesagt, ich habe Kontakt zu deinem Vater aufgenommen, der mir ihre Nummer gab. Sie kannte den Namen und die Lage der Pension. Ich fuhr her. Heute nacht habe ich in dem Hotel oben am Kunstmuseum geschlafen.≪

Sie begannen am Strand entlangzulaufen. Die Frau, die ständig ihren Hund ausführte, war stehengeblieben und schaute zu ihnen hinüber. Wallander vermutete, daß sie sich über seinen Besucher wunderte. Sie gingen schweigend, Wallander wartete. Es war ein ungewohntes Gefühl, jemanden neben sich zu haben.

≫Ich brauche deine Hilfe≪, begann Sten Torstensson schließlich, ≫als Freund und als Polizist.≪

≫Als Freund≪, entgegnete Wallander. ≫Wenn ich kann. Was ich bezweifle. Aber nicht als Polizist.≪

≫Ich weiß, daß du immer noch krank geschrieben bist.≪

≫Mehr als das. Du bist der erste, der erfährt, daß ich den Dienst quittieren werde.≪

Sten Torstensson blieb stehen.

≫Es ist, wie es ist≪, sagte Wallander. ≫Aber erzähl mir lieber, weshalb du gekommen bist.≪

≫Mein Vater ist tot.≪

Wallander kannte den Mann; auch er war Anwalt, war jedoch nur selten als Verteidiger in Strafsachen aufgetreten. Soweit sich Wallander erinnern konnte, hatte er sich mit Wirtschaftsberatung befaßt. Er überlegte, wie alt er gewesen sein mochte. Wahrscheinlich um die Siebzig; da waren viele andere längst tot.

≫Er ist vor einigen Wochen bei einem Autounfall ums Leben gekommen≪, sagte Sten Torstensson. ≫Südlich von Brösarps Backar.≪

≫Das tut mir sehr leid. Wie ist es passiert?≪

≫Das ist ja die Frage. Deshalb bin ich hier.≪

Wallander sah ihn verwundert an.

≫Es ist kalt≪, meinte Sten Torstensson. ≫Im Kunstmuseum kann man Kaffee trinken. Ich habe den Wagen hier.≪

Wallander nickte. Das Fahrrad ragte aus dem Kofferraum, als sie zwischen den Dünen hindurchfuhren. Im Café des Kunstmuseums saßen so früh am Morgen nur wenige Leute. Das Mädchen am Serviertisch summte eine Melodie, die Wallander zu seiner Verwunderung von einer der gerade gekauften Kassetten kannte.

≫Es war ein Abend≪, fuhr Sten Torstensson fort, ≫der des 11. Oktober, um genau zu sein. Papa hatte einen unserer wichtigsten Klienten besucht. Dem Polizeibericht zufolge war er zu schnell gefahren und hatte die Kontrolle verloren. Der Wagen überschlug sich, und er starb.≪

≫Das passiert schnell≪, sagte Wallander. ≫Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit kann katastrophale Folgen haben.≪

≫Es war neblig an jenem Abend≪, erklärte Sten Torstensson. ≫Mein Papa fuhr nie schnell. Warum sollte er es ausgerechnet bei Nebel tun? Er hatte panische Angst davor, Hasen zu überfahren.≪

Wallander musterte ihn nachdenklich. ≫Worauf willst du hinaus?≪

≫Martinsson leitete die Ermittlungen≪, sagte Sten Torstensson.

≫Er ist tüchtig≪, entgegnete Wallander. ≫Wenn er meint, daß es so und so gelaufen ist, gibt es keinen Grund, es zu bezweifeln.≪

Sten Torstensson sah ihn ernst an. ≫Ich bezweifle nicht, daß Martinsson ein tüchtiger Polizist ist. Ich bezweifle ebensowenig, daß man meinen Vater tot im Auto gefunden hat, das umgestürzt und total eingedrückt auf einem Acker lag. Aber da ist zu viel, was einfach nicht stimmt. Irgend etwas muß geschehen sein.≪

≫Was denn?≪

≫Etwas Ungewöhnliches.≪

≫Zum Beispiel?≪

≫Ich weiß nicht.≪

Wallander stand auf und holte sich eine weitere Tasse Kaffee.

Warum sagt er nicht, wie es ist, dachte er. Daß Martinsson phantasievoll und energisch ist, aber manchmal auch nachlässig.

≫Ich habe den Polizeibericht gelesen≪, sagte Sten Torstensson, als Wallander wieder Platz genommen hatte. ≫Ich bin damit zu der Stelle gegangen, wo mein Papa ums Leben gekommen ist. Ich habe das Obduktionsprotokoll gelesen und mit Martinsson gesprochen, ich habe nachgedacht und noch mal nachgefragt. Und jetzt bin ich hier.≪

≫Was kann ich tun?≪ fragte Wallander. ≫Du als Anwalt weißt doch, daß es in jedem Rechtsfall beziehungsweise in jeder Ermittlung Lücken gibt, die wir nie ganz durch Erkenntnisse schließen können. Dein Vater war allein im Auto, als es geschah. Wenn ich dich recht verstehe, gibt es keine Zeugen. Der einzige, der uns hätte erklären können, was passiert ist, war dein Vater.≪

≫Irgend etwas muß geschehen sein≪, wiederholte Sten Torstensson. ≫Da stimmt etwas nicht. Ich will wissen, was es war.≪

≫Ich kann dir nicht helfen≪, sagte Wallander. ≫Selbst wenn ich wollte.≪

Es war, als hätte Sten Torstensson ihn nicht gehört. ≫Die Schlüssel beispielsweise≪, murmelte er. ≫Sie steckten nicht im Zündschloß. Sie lagen auf dem Boden.≪

≫Sie können herausgefallen sein≪, sagte Wallander. ≫Wenn sich ein Wagen überschlägt, ist alles möglich.≪

≫Das Zündschloß war völlig unversehrt. Keiner der Schlüssel war auch nur zerkratzt.≪

≫Dennoch kann es eine Erklärung geben.≪

≫Ich könnte dir weitere Beispiele nennen≪, fuhr Sten Torstensson fort. ≫Ich weiß, daß irgend etwas geschehen ist.

Mein Papa starb bei einem Autounfall, der eigentlich keiner war.≪

Wallander dachte nach, bevor er antwortete. ≫Könnte es Selbstmord gewesen sein?≪

≫Ich habe diese Möglichkeit in Betracht gezogen≪, sagte Sten Torstensson. ≫Aber ich halte es für ausgeschlossen. Ich kannte meinen Papa.≪

≫Die meisten Selbstmorde geschehen unerwartet. Aber du weißt natürlich selbst am besten, was du davon halten mußt.≪

≫Es gibt noch einen Grund, warum ich den Autounfall nicht akzeptieren kann.≪

Wallander sah ihn aufmerksam an.

≫Mein Papa war ein heiterer und kontaktfreudiger Mensch. Wenn ich ihn nicht so gut gekannt hätte, wäre mir vielleicht die kaum merkliche Veränderung im letzten halben Jahr entgangen.≪

≫Kannst du sie näher beschreiben?≪

Sten Torstensson schüttelte den Kopf. ≫Eigentlich nicht≪, antwortete er. ≫Es war eher ein Gefühl, daß ihn etwas beschäftigte. Etwas, was er vor mir unbedingt geheimhalten wollte.≪

≫Hast du ihn nie darauf angesprochen?≪

≫Nie.≪

Wallander schob die leere Kaffeetasse von sich. ≫Wie gern ich es auch täte, ich kann dir nicht helfen. Als dein Freund kann ich dir zuhören. Aber als Polizisten gibt es mich einfach nicht mehr. Ich fühle mich nicht einmal geschmeichelt, daß du hergefahren bist, um mit mir zu reden. Ich fühle mich nur noch träge und müde und deprimiert.≪

Sten Torstensson wollte noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders.

Sie standen auf und verließen das Café.

≫Das muß ich natürlich respektieren≪, sagte Sten Torstensson schließlich, als sie vor dem Kunstmuseum standen.

Wallander begleitete ihn zum Auto und holte sein Fahrrad.

≫Wir werden den Tod nie akzeptieren können.≪ Wallander unternahm einen unbeholfenen Versuch, Verständnis auszudrücken.

≫Das will ich auch nicht. Ich will nur wissen, was geschehen ist. Das war kein gewöhnlicher Unfall.≪

≫Sprich noch einmal mit Martinsson. Es ist aber besser, wenn du ihm nicht sagst, daß der Vorschlag von mir stammt.≪

Sie verabschiedeten sich, und Wallander schaute dem Wagen nach, der zwischen den Dünen verschwand.

Plötzlich hatte er es eilig. Nun konnte er es nicht länger hinausschieben. Am selben Nachmittag rief er seinen Arzt und Björk an und teilte ihnen seinen Entschluß mit, den Dienst bei der Polizei zu quittieren.

Er blieb noch fünf Tage in Skagen. Das Gefühl, innerlich ausgebrannt zu sein, ließ nicht nach. Aber er fühlte doch eine gewisse Erleichterung, einen Entschluß gefaßt zu haben.

Am Sonntag, dem 31. Oktober, kehrte er nach Ystad zurück, um die Dokumente zu unterzeichnen und damit seinen Dienst bei der Polizei formell zu beenden.

_________

Am frühen Montagmorgen, am 1. November, saß er schon auf dem Sofa, als kurz nach sechs der Wecker klingelte. Er fühlte sich zerschlagen, als hätte er die ganze Nacht wach gelegen. Mehrmals war er aufgestanden, hatte sich ans Fenster gestellt, auf die Mariagata hinausgesehen und gegrübelt, ob sein Entschluß richtig war. Vielleicht gab es für ihn in diesem Leben keinen richtigen Weg mehr. Ohne eine zufriedenstellende Antwort hatte er sich schließlich auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt und dem nächtlichen Radioprogramm gelauscht. Schließlich, kurz vor dem Klingeln des Weckers, hatte er akzeptiert, daß ihm keine Wahl blieb. Es war ein Augenblick der Resignation, das sah er ganz klar. Aber früher oder später gibt jeder auf. Am Ende sind unsichtbare Kräfte stärker als wir. Dem kann keiner entgehen.

Er holte Ystads Allehanda aus dem Briefkasten, setzte Kaffeewasser auf und duschte. Für einen Tag ins Büro zurückzukehren war ein seltsames Gefühl. Während er sich abtrocknete, versuchte er, sich seinen letzten Arbeitstag ins Gedächtnis zu rufen. Es war Sommer gewesen. Er hatte in seinem Büro Ordnung gemacht und war dann in ein Café am Hafen gegangen. Dort hatte er einen düsteren Brief an Baiba geschrieben. War das nun lange her oder gerade erst geschehen?

Er setzte sich an den Küchentisch und rührte mit dem Löffel im Kaffee.

Damals war sein letzter Arbeitstag gewesen.

Dies war nun sein allerletzter.

Fast fünfundzwanzig Jahre lang war er Polizist gewesen. Was die Zukunft auch bringen mochte, diese fünfundzwanzig Jahre würden immer das Rückgrat seines Lebens bleiben. Daran war nichts zu ändern. Niemand konnte darum bitten, sein Leben für ungültig zu erklären und fordern, daß die Karten noch einmal neu gemischt würden. Es gab keinen Schritt zurück. Die Frage war, ob andererseits ein Schritt voran überhaupt noch möglich war.

Er versuchte sich klarzumachen, welches Gefühl ihn an diesem Herbstmorgen eigentlich beherrschte. Aber es war, als wären die Nebel bis in sein Bewußtsein gedrungen.

Er seufzte und blätterte zerstreut in der Zeitung. Sein Blick wanderte über die Seiten, und es schien ihm, als hätte er die Texte und Fotografien schon viele Male vor sich gehabt.

Er wollte das Blatt gerade zur Seite legen, als eine Todesanzeige seine Aufmerksamkeit erregte.

Zuerst begriff er nicht, was er da las. Dann krampfte sich sein Magen zusammen.

Anwalt Sten Torstensson, geboren am 3. März 1947, gestorben am 26. Oktober 1993.

Wie vor den Kopf geschlagen starrte Wallander auf die schwarz eingerahmte Annonce.

Es war wohl der Vater, Gustaf Torstensson, der tot war? Mit Sten hatte er doch noch vor weniger als einer Woche am Strand von Grenen gesprochen?

Er versuchte zu verstehen. Es mußte sich um einen anderen Mann handeln, eine zufällige Namensgleichheit. Er las die Anzeige noch einmal. Ein Irrtum war nicht möglich. Sten Torstensson, der Freund, der ihn vor fünf Tagen in Skagen besucht hatte, war tot.

Er saß völlig reglos.

Dann stand er auf, suchte sein Telefonverzeichnis und wählte eine Nummer. Der, den er sprechen wollte, war Frühaufsteher.

≫Martinsson!≪

Wallander bezwang den Impuls, den Hörer wieder aufzulegen.

≫Hier ist Kurt≪, sagte er. ≫Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.≪

Es dauerte eine Weile, bis Martinsson antwortete. ≫Du bist es? Das ist ja eine Überraschung.≪

≫Ich weiß. Aber ich muß dich etwas fragen.≪

≫Das kann nicht wahr sein, daß du den Dienst quittieren willst≪, sagte Martinsson.

≫Und doch ist es so≪, sagte Wallander. ≫Aber darum geht es nicht. Ich muß wissen, was mit Sten Torstensson passiert ist, dem Anwalt.≪

≫Weißt du es nicht?≪

≫Ich bin erst gestern nach Ystad zurückgekommen. Ich weiß von nichts.≪

Martinsson zögerte mit der Antwort. ≫Er wurde ermordet≪, sagte er schließlich.

Wallander merkte, daß er nicht im mindesten erstaunt war. Als er die Todesanzeige gesehen hatte, war ihm sofort klar gewesen, daß es sich nicht um einen natürlichen Tod handeln konnte.

≫Er ist am letzten Dienstag abends in seinem Büro erschossen worden≪, sagte Martinsson. ≫Es ist völlig unbegreiflich. Und tragisch. Sein Vater ist gerade erst bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wußtest du das?≪

≫Nein≪, log Wallander.

≫Komm wieder in den Dienst≪, sagte Martinsson. ≫Wir brauchen dich, um diesen Fall zu klären. Und viele andere auch.≪

≫Nein≪, sagte Wallander. ≫Ich habe mich entschieden. Ich erkläre es dir, wenn wir uns mal treffen. Ystad ist ja nicht groß; früher oder später läuft man sich über den Weg.≪

Dann beendete er rasch das Gespräch.

Im selben Moment begriff er, daß das, was er gerade zu Martinsson gesagt hatte, nicht mehr stimmte. In einigen kurzen Augenblicken hatte sich alles verändert.

Minutenlang blieb er am Telefon stehen. Dann trank er den Kaffee, zog sich an und ging zum Auto hinunter. Kurz nach halb acht betrat er zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder das Polizeigebäude. Er nickte dem Wachhabenden an der Anmeldung zu, ging auf dem kürzesten Weg zu Björks Büro und klopfte an die Tür. Björk erwartete ihn stehend. Wallander fiel auf, daß er abgemagert war. Er spürte auch, daß Björk unsicher war, wie er die Situation meistern sollte.

Ich werde es ihm leicht machen, dachte Wallander. Zuerst wird er gar nichts begreifen, genausowenig wie ich.

≫Wir freuen uns natürlich, daß es dir bessergeht≪, begann Björk vorsichtig. ≫Selbstverständlich wäre es uns lieber, wenn du wieder in den Dienst kommen würdest, anstatt uns zu verlassen. Wir brauchen dich.≪

Er machte eine hilflose Geste in Richtung seines papierbeladenen Schreibtischs. ≫Heute soll ich zu so unterschiedlichen Themen wie einer neuen Uniform und noch einer unbegreiflichen Vorlage zur Reform der Bezirksstruktur des Systems der Polizeiführung Stellung nehmen. Kennst du die?≪

Wallander schüttelte den Kopf.

≫Ich frage mich, wohin das noch führen soll≪, fuhr Björk düster fort. ≫Wenn dieser neue Uniformvorschlag durchgeht, sieht der schwedische Polizist der Zukunft aus wie eine Kreuzung von Bautischler und Zugschaffner.≪

Er sah Wallander auffordernd an, der jedoch beharrlich schwieg.

≫In den sechziger Jahren wurde die Polizei verstaatlicht≪, sagte Björk. ≫Nun soll wieder alles anders gemacht werden. Der Reichstag will die lokale Polizeiführung abschaffen und eine Art nationale Polizei einführen. Dabei ist eine Polizei doch immer national, was sonst? Seit dem Mittelalter haben wir eine einheitliche Gesetzgebung für das ganze Land. Aber wie soll man die tägliche Arbeit erledigen, wenn man in einer Flut von Merkblättern erstickt? Außerdem muß ich einen Beitrag zu einer absolut sinnlosen Konferenz über Abschiebetechnik erarbeiten. Es geht also mit anderen Worten darum, wie man Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung möglichst unauffällig in Busse und auf Fähren verfrachtet.≪

≫Mir ist klar, daß du viel zu tun hast≪, sagte Wallander und stellte insgeheim fest, daß sein Vorgesetzter der alte geblieben war. Die Rolle des Chefs hatte ihm nie gelegen. Nicht er beherrschte den Posten, der Posten beherrschte ihn.

≫Aber du scheinst nicht zu begreifen, daß wir jeden tüchtigen Kollegen brauchen≪, sagte Björk und ließ sich schwer auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. ≫Ich habe alle Papiere hier≪, fuhr er fort. ≫Du mußt nur noch unterschreiben, dann bist du Polizist gewesen. Auch wenn ich ihn nicht begrüße, muß ich deinen Entschluß doch respektieren. Ich hoffe übrigens, du hast nichts dagegen, daß ich für neun Uhr eine Pressekonferenz angesetzt habe. Du bist in den letzten Jahren zu einem bekannten Polizisten geworden, Kurt. Auch wenn du dich bisweilen ein wenig seltsam benommen hast — für unseren guten Namen und Ruf hast du unzweifelhaft viel getan. Angeblich gibt es an der Polizeihochschule Anwärter, die in dir ein Vorbild sehen.≪

≫Das ist bestimmt nur ein Gerücht≪, erwiderte Wallander. ≫Und die Pressekonferenz kannst du abblasen.≪

Björk war irritiert. ≫Kommt nicht in Frage. Das bist du deinen Kollegen schuldig. Außerdem kommt Svensk Polis, die wollen einen Artikel über dich bringen.≪

Wallander trat an den Schreibtisch. ≫Ich kann nicht aufhören≪, sagte er. ≫Ich bin heute gekommen, um wieder zu arbeiten.≪

Björk starrte ihn verständnislos an.

≫Also keine Pressekonferenz. Ich gehe sofort wieder in den Dienst. Den Arzt werde ich anrufen, damit er mich gesund schreibt. Mir geht es gut. Ich will wieder arbeiten.≪

≫Ich hoffe, daß du mich jetzt nicht auf den Arm nehmen willst≪, stammelte Björk unsicher.

≫Nein≪, sagte Wallander. ≫Es ist etwas geschehen, was mich umgestimmt hat.≪

≫Das kommt sehr überraschend.≪

≫Für mich auch. Die Entscheidung ist erst vor einer Stunde gefallen. Aber ich habe eine Bedingung. Beziehungsweise einen Wunsch.≪

Björk nickte auffordernd.

≫Ich möchte den Fall Sten Torstensson übernehmen≪, sagte Wallander. ≫Wer leitet derzeit die Ermittlungen?≪

≫Wir sind alle eingebunden. Svedberg und Martinsson bilden die Kerngruppe, zusammen mit mir. Per Åkeson vertritt die Staatsanwaltschaft.≪

≫Sten Torstensson war mein Freund.≪

Björk nickte und erhob sich. ≫Ist es wirklich wahr? Hast du deinen Entschluß geändert?≪

≫Du hörst, was ich sage.≪

Björk ging um den Schreibtisch herum und stellte sich vor Wallander. ≫Das ist die beste Nachricht seit sehr langer Zeit. Jetzt packen wir es≪, meinte er mit einem Seitenblick auf die Papiere. ≫Deine Kollegen werden überrascht sein.≪

≫Wer hat mein altes Büro?≪ erkundigte sich Wallander ausweichend.

≫Hansson.≪

≫Ich würde es gern zurückhaben, wenn es möglich ist.≪

≫Natürlich. Hansson ist diese Woche übrigens auf einem Fortbildungskurs in Halmstad. Du kannst sofort einziehen.≪

Sie gingen gemeinsam über den Flur bis zu Wallanders ehemaliger Tür.

Sein Namensschild war fort. Für einen Augenblick wurde er wütend. ≫Ich brauche eine Stunde für mich.≪

≫Halb neun haben wir eine Besprechung zum Fall Torstensson≪, sagte Björk. ≫Im kleinen Konferenzraum. Bist du sicher, daß du es ernst meinst?≪

≫Ja, bin ich.≪

Björk zögerte, bevor er weitersprach. ≫Du hast gelegentlich ein wenig launisch und unberechenbar reagiert. Das können wir nicht vergessen.≪

≫Vergiß lieber nicht, die Pressekonferenz abzusetzen≪, sagte Wallander.

Björk reichte ihm die Hand. ≫Willkommen. Gut, daß du wieder bei uns bist.≪

≫Danke.≪

Wallander machte die Tür hinter sich zu und legte sofort den Telefonhörer neben den Apparat. Dann blickte er sich im Zimmer um. Der Schreibtisch war neu, den hatte Hansson mitgebracht. Aber der Stuhl war noch der alte.

Er hängte die Jacke auf und setzte sich.

Dieser Geruch, dachte er, dieses Scheuermittel, diese trockene Luft, der Duft nach den unendlichen Mengen von Kaffee, die in diesem Haus getrunken werden.

Lange saß er ganz still.

Über ein Jahr hatte er sich gequält, hatte nach der Wahrheit über sich und die Zukunft gesucht. Ein Entschluß war langsam gereift und endlich gefaßt worden. Dann hatte er eine Zeitung aufgeschlagen, und alles war ganz anders gekommen.

Zum ersten Mal seit langem fühlte er so etwas wie körperliches Wohlbehagen.

Er hatte einen Weg eingeschlagen. Ob es der richtige war, konnte er nicht sagen. Aber das war auch nicht mehr wichtig.

Er beugte sich über den Tisch, griff nach einem Notizblock und schrieb zwei Worte: Sten Torstensson.

Jetzt war er wieder im Dienst.

3

Um halb neun, als Björk die Tür zum Konferenzraum hinter sich schloß, hatte Wallander das Gefühl, niemals weggewesen zu sein. Die anderthalb Jahre, die vergangen waren, seit er zuletzt an einer Besprechung teilgenommen hatte, existierten plötzlich nicht mehr. Es war wie ein Erwachen nach einem langen Schlaf, in dem es für ihn keine Zeit gegeben hatte.

Jetzt saßen sie wie so viele Male zuvor um den ovalen Tisch herum. Da Björk noch nichts gesagt hatte, nahm Wallander an, daß die Kollegen eine kurze Dankesrede für die zurückliegenden Jahre erwarteten. Nach Wallanders Abschied würden sie sich wieder über ihre Notizen beugen und die Fahndung nach dem unbekannten Mörder Sten Torstenssons fortsetzen.

Wallander hatte sich, ohne nachzudenken, auf seinen üblichen Platz links von Björk gesetzt. Der Stuhl neben ihm war leer, als ob die Kollegen einem, der eigentlich nicht mehr dazugehörte, nicht zu nahe kommen wollten. Gegenüber saß Martinsson und schneuzte sich vernehmlich. Wallander überlegte, ob er Martinsson jemals ohne Schnupfen erlebt hatte. Neben ihm rutschte Svedberg auf seinem Stuhl hin und her, während er sich wie gewöhnlich mit dem Stift die Glatze kratzte.

Alles wie immer, dachte Wallander, wäre da nicht die Frau in Jeans und blauem Hemd, die allein am unteren Ende des Tisches Platz genommen hatte. Er war ihr noch nie begegnet, wußte aber, wer sie war, und kannte sogar ihren Namen. Vor etwa zwei Jahren hieß es, daß ein weiterer Kriminalbeamter die Polizei von Ystad verstärken würde, und in diesem Zusammenhang war Ann-Britt Höglund erstmals erwähnt worden. Sie war jung, hatte vor knapp drei Jahren die Polizeihochschule absolviert, sich aber bereits bewährt. Das Examen hatte sie mit der besten Note abgeschlossen, und sie wurde den anderen gern als Vorbild hingestellt. Ihr Geburtsort war Svarte, aber aufgewachsen war sie in der Nähe von Stockholm. Die Polizeireviere des Landes hatten sich um sie gerissen; aber sie wollte unbedingt in ihre Heimat zurückgehen und bei der Polizei in Ystad arbeiten.

Wallander fing ihren Blick auf, und sie lächelte ihm kurz zu.

Also ist nichts wie immer, schoß es ihm durch den Kopf. Mit einer Frau in der Runde wird alles ein bißchen anders sein.

Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken. Björk hatte sich erhoben, und Wallander war plötzlich nervös. Hatte er zu lange gezögert? Vielleicht war er bereits verabschiedet worden, ohne daß er davon wußte?

≫Normalerweise ist es hart am Montagmorgen≪, begann Björk. ≫Vor allem wenn wir es, wie jetzt, mit einem besonders traurigen und unbegreiflichen Mord zu tun haben. Aber die heutige Zusammenkunft kann ich mit einer guten Neuigkeit eröffnen. Kurt hat sich gesund schreiben lassen und fängt schon heute wieder bei uns an. Da will ich natürlich der erste sein, der dich willkommen heißt. Ich weiß jedoch, daß ich im Namen aller deiner Kollegen spreche, auch für Ann-Britt, die du noch nicht kennengelernt hast.≪

Es wurde still im Raum. Martinsson starrte Björk ungläubig an, während Svedberg mit schiefgelegtem Kopf verständnislos zu Wallander hinübersah. Ann-Britt schien überhaupt nicht verstanden zu haben, was Björk gerade mitgeteilt hatte.

Ob er wollte oder nicht, es war jetzt an ihm, etwas zu sagen.

≫Es stimmt≪, sagte er, ≫ich nehme heute meine Arbeit wieder auf.≪

Svedberg hörte auf zu kippeln und klatschte die Handflächen laut auf die Tischplatte. ≫Bravo, Kurt. Denn hier wäre es, verdammt noch mal, nicht einen Tag ohne dich weitergegangen.≪

Svedbergs spontaner Kommentar ließ alle in Gelächter ausbrechen. Nacheinander gaben sie Wallander die Hand. Björk versuchte, ein wenig Gebäck zum Kaffee zu organisieren, und Wallander selbst fiel es schwer, seine Rührung zu verbergen.

Nach ein paar Minuten war alles wie sonst. Mehr Zeit für persönliche Gefühle gab es nicht; das war Wallander im Augenblick sehr recht. Er schlug den Schreibblock auf, den er aus seinem Büro mitgebracht hatte. Ein einziger Name war da notiert: Sten Torstensson.

≫Kurt hat darum gebeten, sofort an den Ermittlungen im Mordfall teilnehmen zu dürfen≪, sagte Björk. ≫Das soll uns nur recht sein. Ich schlage vor, daß wir zuerst eine Zusammenfassung über den Stand der Dinge geben. Dann soll Kurt Zeit bekommen, sich in die Details einzuarbeiten.≪

Er nickte Martinsson zu, der offenbar Wallanders Rolle als Vortragender übernommen hatte.

≫Ich bin immer noch ziemlich verwirrt≪, sagte Martinsson und blätterte in seinen Papieren. ≫Aber im großen und ganzen sieht es so aus: Am Morgen des 27. Oktober, einem Mittwoch, also vor fünf Tagen, kam Frau Berta Dunér, die Sekretärin der Anwaltskanzlei, wie immer ein paar Minuten vor acht Uhr ins Büro. Dort fand sie Sten Torstensson erschossen in seinem Zimmer. Er lag zwischen dem Schreibtisch und der Tür auf dem Fußboden, getroffen von drei Schüssen, die jeder für sich tödlich gewesen wären. Da niemand in dem Haus wohnt und die Kanzlei in einem alten Steinhaus mit dicken Mauern und darüber hinaus noch an einer Hauptverkehrsstraße liegt, hat keiner die Schüsse gehört. Jedenfalls hat sich noch niemand gemeldet. Die vorläufigen Obduktionsergebnisse lassen darauf schließen, daß er gegen dreiundzwanzig Uhr erschossen wurde. Das stimmt mit der Aussage Frau Dunérs überein, er habe oft bis spätabends über seiner Arbeit gesessen, vor allem, seit sein Vater auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist.≪

Hier machte Martinsson eine Pause und schaute Wallander fragend an.

≫Ich weiß, daß der Vater einen tödlichen Autounfall hatte≪, sagte Wallander.

Martinsson nickte und fuhr fort. ≫Das ist auch schon alles, was wir haben. Mit anderen Worten: sehr, sehr wenig. Kein Motiv, keine Mordwaffe, keinen Zeugen.≪

Wallander überlegte, ob er bereits jetzt von Sten Torstenssons Besuch in Skagen berichten sollte. Allzuoft hatte er den unverzeihlichen Fehler begangen, seinen Kollegen gegenüber Informationen zurückzuhalten. Natürlich hatte er jedesmal einen Grund für sein Schweigen gehabt, er wußte aber auch, daß die Erklärungen fast immer äußerst dürftig gewesen waren.

Ich mache etwas falsch, dachte er. Ich beginne mein zweites Leben als Polizist damit, alles umzuwerfen, was ich bisher an Erfahrungen gesammelt habe.

Und doch hatte er die Empfindung, in diesem Fall das Richtige zu tun.

Er behandelte sein Gefühl mit Respekt. Es konnte sein zuverlässigster Berater, aber auch sein schlimmster Feind sein.

Er wußte, daß er diesmal recht hatte.

Etwas von dem, was Martinsson gesagt hatte, war in ihm hängengeblieben. Oder vielleicht etwas, was er nicht gesagt hatte.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, weil Björk mit den Fingern nervös auf die Tischkante trommelte. Damit drückte der Polizeichef für gewöhnlich aus, daß er irritiert oder ungeduldig war.

≫Ich habe Gebäck bestellt≪, bemerkte er. ≫Aber da können wir natürlich lange warten. Ich schlage vor, daß wir hier abbrechen und daß ihr Kurt mit den Einzelheiten des Falles vertraut macht. Wir sehen uns am Nachmittag wieder. Vielleicht kann ich euch dann zu einem Stück Kuchen einladen.≪

Als Björk den Raum verlassen hatte, rückten sie näher zusammen. Wallander spürte, daß er etwas sagen mußte. Er hatte kein Recht, so ohne Erklärung in die Gemeinschaft zurückzukehren und so zu tun, als wäre nichts gewesen.

≫Ich muß versuchen, von vorn anzufangen≪, sagte er. ≫Es ist eine quälende Zeit gewesen. Ich habe lange überlegt, ob ich den Dienst wiederaufnehmen sollte. Man trägt schwer daran, wenn man einen Menschen getötet hat, auch wenn es in Notwehr geschah. Aber ich werde versuchen, meinen Job zu machen, so gut ich kann.≪

Alle schwiegen betroffen.

≫Glaub nicht, daß wir nicht verstehen≪, sagte Martinsson schließlich. ≫Auch wenn man als Polizist gezwungen ist, sich an alles zu gewöhnen, so als würden die Widerwärtigkeiten kein Ende nehmen, trifft es einen doch hart, wenn es jemanden erwischt, der einem nahesteht. Kann sein, daß du dich freust, wenn wir dir sagen, daß wir dich genauso vermißt haben wie vor einigen Jahren Rydberg.≪

Der im Frühjahr 1991 verstorbene alte Kriminalkommissar Rydberg war wie ein Schutzheiliger für sie. Durch seine fundierten polizeilichen Kenntnisse und seine offene, kameradschaftliche Art war er stets Mittelpunkt in der laufenden kriminalistischen Arbeit gewesen.

Wallander verstand, was Martinsson meinte.

Er war Rydberg als einziger so nahe gekommen, daß er als persönlicher Freund gelten konnte. Hinter Rydbergs mürrischem Äußeren hatte er einen Menschen kennengelernt, der über ein Wissen verfügte, das weit über ihr gemeinsames Arbeitsgebiet hinausreichte.

Ich habe ein Erbe angetreten, dachte Wallander.

Eigentlich will Martinsson sagen, daß ich in Rydbergs Fußstapfen treten soll.

Svedberg stand auf: ≫Wenn niemand etwas dagegen hat, fahre ich hinunter zu Torstenssons Kanzlei. Es sind ein paar Herren von der Anwaltskammer da, die alle Papiere durchsehen. Sie wollen, daß die Polizei dabei ist.≪

Martinsson schob einen Stapel Ermittlungsakten zu Wallander hinüber. ≫Das ist alles, was wir bisher haben. Ich nehme an, du willst das Material in Ruhe durcharbeiten.≪

Wallander nickte. ≫Was ist mit dem Autounfall?≪ fragte er. ≫Gustaf Torstensson.≪

Martinsson sah ihn verwundert an. ≫Der Fall ist abgeschlossen. Der Alte hat die Gewalt über das Fahrzeug verloren und ist von der Straße abgekommen.≪

≫Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich den Bericht trotzdem sehen≪, sagte Wallander vorsichtig.

Martinsson zuckte die Schultern. ≫Ich schicke ihn dir in Hanssons Zimmer≪, versprach er.

≫Jetzt nicht mehr Hanssons≪, sagte Wallander. ≫Ich habe mein altes Büro zurückbekommen.≪

Martinsson erhob sich. ≫Du warst schnell verschwunden, und nun bist du ebenso schnell wieder aufgetaucht. Da irrt man sich leicht.≪

Er verließ den Besprechungsraum. Jetzt war Wallander mit Ann-Britt Höglund allein.

≫Ich habe viel über dich gehört≪, sagte sie.

≫Was du gehört hast, ist bestimmt die reine Wahrheit. Leider.≪

≫Ich glaube, von dir könnte ich eine ganze Menge lernen.≪

≫Das bezweifle ich stark.≪

Um das Gespräch zu beenden, sprang Wallander auf und schob die Papiere und Aktenordner zusammen, die er von Martinsson bekommen hatte. Ann-Britt Höglund hielt ihm die Tür auf.

Als er sein Büro erreicht hatte, merkte er erst, daß er durchgeschwitzt war. Er zog Jacke und Hemd aus. Im selben Moment betrat Martinsson, ohne anzuklopfen, den Raum.

Als er den halbnackten Wallander erblickte, zuckte er erschrocken zurück. ≫Ich wollte dir nur den Bericht über Gustaf Torstenssons Unfall bringen≪, sagte Martinsson. ≫Schon wieder hab ich nicht daran gedacht, daß es nicht mehr Hanssons Tür ist.≪

≫Ich bin immer noch so altmodisch≪, erwiderte Wallander. ≫Klopf bitte an, bevor du eintrittst.≪

Martinsson legte einen Schnellhefter auf den Tisch und verschwand hastig. Wallander zog das Hemd wieder an, setzte sich an den Schreibtisch und begann zu lesen.

Es war nach elf, als er den letzten Berichtshefter zur Seite legte.

Ratlos schüttelte er den Kopf. Wo sollte er ansetzen?

Er sah Sten Torstensson vor sich, wie er ihm am Strand von Jütland aus dem Nebel entgegengekommen war.

Er hat mich um Hilfe gebeten, dachte Wallander. Ich sollte herausfinden, was mit seinem Vater geschehen war. Ein Autounfall, der keiner war, auch kein Selbstmord. Er erwähnte psychische Veränderungen des Vaters. Ein paar Tage später wurde er in seinem Büro erschossen. Er sprach davon, daß sein Vater sehr erregt gewesen sei. Aber ihm selbst war keine besondere Erregung anzumerken.

Mechanisch griff Wallander nach dem Block, auf den er Sten Torstenssons Namen geschrieben hatte. Jetzt fügte er Gustaf Torstensson hinzu.

Dann zog er eine Linie um die beiden Namen.

Er nahm den Telefonhörer ab und wählte aus dem Gedächtnis Martinssons Nummer. Nichts. Er versuchte es erneut, wieder vergebens. Nun wurde ihm klar, daß am internen Kommunikationssystem Veränderungen vorgenommen worden waren, seit er zuletzt das Telefon benutzt hatte. Er stand auf und trat auf den Gang. Martinssons Tür stand offen.

≫Ich habe mir die Akten durchgelesen≪, sagte er, nachdem er auf dem wackligen Besucherstuhl Platz genommen hatte.

≫Wie du siehst, haben wir nicht viel≪, sagte Martinsson. ≫Der oder die Täter dringen am späten Abend in Sten Torstenssons Büro ein und erschießen ihn. Es scheint nichts gestohlen worden zu sein. Die Brieftasche steckte noch in der Innentasche des Opfers. Frau Dunér, seit über dreißig Jahren in der Anwaltskanzlei, ist sicher, daß nichts fehlt.≪

Wallander nickte gedankenversunken. Er grübelte immer noch, was an dem von Martinsson Gesagten oder Nicht-Gesagten seine Aufmerksamkeit erregt hatte. ≫Du warst der erste am Tatort?≪

≫Peters und Norén waren vor mir da. Sie haben mich dann gerufen.≪

≫Normalerweise hat man spontan einen ersten Eindruck. Woran erinnerst du dich?≪

≫Raubmord≪, antwortete Martinsson, ohne zu zögern.

≫Wie viele waren es?≪

≫Wir haben keine Spuren gefunden, weder in die eine noch in die andere Richtung. Aber es ist nur eine Waffe verwendet worden, da können wir ziemlich sicher sein, auch wenn noch nicht alle technischen Untersuchungen abgeschlossen sind.≪

≫Also ist ein Mann eingebrochen?≪

Martinsson nickte. ≫Meiner Meinung nach ja. Aber das ist ein Gefühl, weder bestätigt noch widerlegt.≪

≫Sten Torstensson wurde von drei Schüssen getroffen. Einer ins Herz, einer genau unterm Nabel in den Bauch, einer in die Stirn. Das deutet doch auf eine Person hin, die ihre Waffe wirklich beherrscht, oder?≪

≫Das ist auch meine Überlegung≪, sagte Martinsson. ≫Aber es kann natürlich reiner Zufall sein. In einer amerikanischen Studie habe ich gelesen, daß blindlings abgegebene Schüsse genauso häufig töten wie gezielte.≪

Wallander erhob sich vom Stuhl, blieb aber stehen. ≫Warum bricht man in ein Anwaltsbüro ein? Vielleicht, weil es immer heißt, Juristen verdienten so viel Geld. Aber glaubt wirklich jemand, daß das Geld in der Kanzlei auf dem Schreibtisch gestapelt liegt?≪

≫Das können dir nur ein oder zwei Personen beantworten.≪

≫Und die werden wir uns schnappen. Ich fahre hin und sehe mich einmal um.≪

≫Frau Dunér ist natürlich schwer erschüttert≪, sagte Martinsson. ≫In weniger als einem Monat ist ihre ganze Existenz zusammengebrochen. Erst kam der alte Torstensson ums Leben. Sie hat kaum alle Formalitäten für die Beerdigung erledigt, da wird der Sohn ermordet. Aber obwohl sie unter Schock steht, kann man sich erstaunlich gut mit ihr unterhalten. Ihre Adresse steht im Gesprächsprotokoll von Svedberg.≪

≫Stickgatan 26≪, sagte Wallander. ≫Hinter dem Hotel Continental. Ich parke dort manchmal.≪

≫Ich dachte, da wäre Parkverbot≪, sagte Martinsson.

Wallander holte seine Jacke und verließ das Gebäude. Das Mädchen an der Anmeldung hatte er noch nicht gesehen. Er überlegte, ob er sich vorstellen sollte. Ob die gute alte Ebba aufgehört hatte oder nur zum Spätdienst eingeteilt war? Aber er ließ es. Die Stunden, die er an diesem Tag im Polizeigebäude verbracht hatte, mochten in den Augen Außenstehender undramatisch verlaufen sein, aber in ihm herrschte Hochspannung. Er mußte jetzt allein sein. Lange Zeit war er im großen und ganzen ohne menschliche Gesellschaft ausgekommen. Er würde sich wieder an den Betrieb gewöhnen. Als er zum Krankenhaus hinunterfuhr, sehnte er sich für einen kurzen Augenblick nach der Einsamkeit Skagens, nach seinem abgelegenen Revier und den Patrouillengängen, auf denen nichts passierte.

Aber das war vorbei. Er war wieder im Dienst.

Die Anwaltskanzlei befand sich in einem gelb verputzten Steinhaus in der Sjömansgata, unweit des alten Theaters, das renoviert wurde. Ein Polizeiauto parkte davor. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen einige Gaffer und kommentierten das Geschehen. Vom Meer her blies ein stürmischer Wind. Wallander fröstelte, als er aus dem Wagen stieg. Er öffnete die schwere Haustür und wäre beinahe mit Svedberg zusammengestoßen, der auf dem Weg nach draußen war.

≫Ich wollte gerade losfahren und etwas zu essen besorgen≪, sagte er.

≫Mach das≪, sagte Wallander. ≫Ich werde bestimmt eine Weile hierbleiben.≪

Im Vorzimmer saß eine junge Bürokraft vor einem leeren Schreibtisch. Sie sah ängstlich aus. Wallander erinnerte sich, daß sie laut Ermittlungsbericht Sonja Lundin hieß und erst ein paar Monate in der Kanzlei arbeitete. Sie hatte keinerlei sachdienliche Hinweise machen können.

Wallander gab ihr die Hand und stellte sich vor. ≫Ich werde mich nur ein wenig umschauen. Frau Dunér ist wohl nicht hier?≪

≫Sie ist zu Hause und weint≪, antwortete das Mädchen lakonisch.

Wallander wußte nicht, was er sagen sollte.

≫Sie wird das hier nicht überleben≪, fuhr Sonja Lundin fort. ≫Sie wird auch sterben.≪

≫Das wollen wir nicht hoffen≪, sagte Wallander und merkte, wie hohl seine Worte klangen.

Torstenssons Kanzlei war ein Arbeitsplatz für einsame Menschen, dachte er. Gustaf Torstensson hat über fünfzehn Jahre als Witwer gelebt; der Sohn Sten Torstensson war so lange Zeit mutterlos und dazu noch Junggeselle gewesen. Frau Dunér ist seit Anfang der siebziger Jahre geschieden. Drei einsame Menschen, die sich Tag für Tag trafen. Nun sind zwei davon tot, und der dritte ist völlig vereinsamt.

Wallander konnte gut verstehen, daß Frau Dunér zu Hause saß und weinte.

Die Tür zum Sitzungszimmer war geschlossen. Gemurmel drang heraus. Die beiden Türen rechts und links trugen blitzblanke Messingschilder mit den eingravierten Namen der beiden Anwälte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, betrat Wallander zuerst Gustaf Torstenssons Büro. Die Gardinen waren vorgezogen, der Raum lag im Halbdunkeln. Er schloß die Tür hinter sich und machte Licht. Ein schwacher Zigarrenduft schwebte in der Luft. Wallander ließ den Blick wandern und fühlte sich wie in einer anderen Zeit. Schwere Ledersofas, Marmortisch, Bilder an den Wänden. Konnte es sein, daß es die Mörder Sten Torstenssons auf Kunstgegenstände abgesehen hatten? Er trat an ein Gemälde heran und versuchte, die Signatur zu deuten und zu erkennen, ob es sich um ein Original handelte. Es gelang ihm nicht. Ein großer Globus stand neben dem imposanten Schreibtisch, der bis auf ein paar Stifte, ein Telefon und ein Diktiergerät völlig leer war. Er setzte sich in den bequemen Drehsessel und schaute sich weiter um, während er sich noch einmal ins Gedächtnis rief, was Sten Torstensson beim Kaffeetrinken im Kunstmuseum von Skagen gesagt hatte.

Ein Autounfall, der keiner war. Ein Mann, der in den letzten Monaten seines Lebens versucht hatte zu verbergen, daß ihn etwas stark beschäftigte.

Wallander überlegte, worin das Dasein eines Anwalts eigentlich bestand. Ein Anwalt verteidigte einen Menschen gegen die Anklage oder stand ihm mit juristischem Rat zur Seite. Ein Anwalt wurde ständig von Klienten ins Vertrauen gezogen. Ein Anwalt war streng an einen Schweigeeid gebunden.

Anwälte waren Träger vieler Geheimnisse.

Nach einer Weile erhob er sich.

Es war noch zu früh, irgendwelche Schlußfolgerungen zu ziehen.

Als er den Raum verließ, saß Sonja Lundin immer noch vor ihrem leeren Schreibtisch. Er öffnete die Tür zu Sten Torstenssons Büro. Für einen Augenblick zögerte er, als läge der Leichnam des Anwalts noch auf dem Fußboden, wie er es auf den Fotografien im Ermittlungsbericht gesehen hatte. Aber es war nur eine Plastikfolie. Den Teppich hatten die Polizeitechniker mitgenommen.

Das Zimmer glich dem des Vaters. Nur daß hier moderne Besucherstühle vor dem Schreibtisch standen.

Auf der Tischplatte lagen keine Papiere. Wallander vermied es diesmal, sich in den Drehsessel zu setzen.

Noch kratze ich nur an der Oberfläche, dachte er. Ich lausche und versuche gleichzeitig, meine Umgebung visuell aufzunehmen.

Er verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich. Svedberg war wieder da und bot Sonja Lundin ein Sandwich an. Dann hielt er Wallander die Tüte hin, der dankend ablehnte und auf das Sitzungszimmer zeigte.

≫Da tagen zwei Vertrauenspersonen von der Anwaltskammer≪, sagte Svedberg. ≫Die gehen alle Dokumente durch, die wir hier gefunden haben, registrieren, plombieren und denken darüber nach, wie es weitergehen soll. Die Klienten müssen benachrichtigt und an andere Anwälte vermittelt werden. Torstenssons Kanzlei existiert nicht mehr.≪

≫Wir müssen Zugang zu dem Material bekommen. Die Wahrheit über das Geschehene kann sehr wohl in ihren Klientenbeziehungen verborgen sein≪, sagte Wallander.

Svedberg runzelte fragend die Stirn. ≫Ihren? Du meinst wohl Sten Torstenssons. Denn der Papa hat sich ja totgefahren …≪

Wallander nickte. ≫Du hast recht. Ich meine natürlich Sten Torstenssons Klienten.≪

≫Eigentlich schade, daß es nicht andersherum ist≪, sagte Svedberg.

Wallander hätte diesen Kommentar beinahe unbeachtet gelassen, aber dahinter konnte etwas Wichtiges stecken.

≫Wieso?≪ fragte er erstaunt.

≫Weil der alte Torstensson offenbar sehr wenige Klienten hatte, während sein Sohn mit vielen Fällen beschäftigt war.≪

Svedberg nickte in Richtung des Sitzungszimmers. ≫Die glauben, daß sie mehr als eine Woche brauchen, um fertig zu werden.≪

≫Dann will ich sie jetzt nicht stören≪, meinte Wallander. ≫Ich glaube, ich spreche lieber mit Frau Dunér.≪

≫Soll ich mitkommen?≪

≫Brauchst du nicht. Ich weiß, wo sie wohnt.≪

Wallander stieg ins Auto und startete. Er war unsicher und unentschlossen. Dann zwang er sich zu einer Entscheidung. Er würde die einzige Spur verfolgen, die er bisher kannte. Die Spur, auf die ihn Sten Torstensson bei seinem Besuch in Skagen hingewiesen hatte.

Es muß da einen Zusammenhang geben, dachte Wallander, während er langsam nach Osten fuhr, Sandskogen passierte und die Stadt hinter sich ließ. Die beiden Todesfälle haben miteinander zu tun. Alles andere ergibt keinen Sinn.

Er schaute auf die graue Landschaft hinaus. Ein schwacher Nieselregen hatte eingesetzt, und er stellte die Heizung eine Stufe höher.

Wie kann man diesen Lehmboden nur mögen, dachte er. Und doch mag ich ihn. Ich bin ein Polizist, der mit dem Matsch als ständigem Begleiter lebt. Und der dieses Dasein gegen kein anderes tauschen will.

_________

Wallander brauchte über eine halbe Stunde, bis er an die Stelle kam, wo sich Gustaf Torstensson am Abend des 11. Oktober totgefahren hatte. Er klemmte sich den Untersuchungsbericht unter den Arm und stieg aus. Aus dem Kofferraum holte er ein Paar Stiefel und zog sie an, bevor er sich umsah. Wind und Regen waren stärker geworden, er fror. Auf einem halb zerfallenen Zaun saß ein Bussard und starrte ihn an.

Die Unglücksstelle wirkte selbst für schonische Verhältnisse ungewöhnlich trist. In der Nähe gab es keine Gehöfte, nur die braunen Felder dehnten sich endlos wie ein Wattenmeer. Die Straße führte geradeaus, bis sie hundert Meter weiter in eine Steigung und eine scharfe Linkskurve überging. Wallander breitete die Skizze der Unglücksstelle auf der Motorhaube aus und verglich die Karte mit der Wirklichkeit. Der Unglückswagen hatte links von der Straße in etwa zwanzig Metern Entfernung umgestürzt auf dem Acker gelegen. Bremsspuren hatte man nicht festgestellt. Zum Zeitpunkt des Unglücks herrschte dichter Nebel.

Wallander legte den Bericht in den Wagen. Wieder stand er mitten auf der Fahrbahn und sah sich um. Es war noch kein Auto vorbeigekommen. Der Bussard saß nach wie vor auf seinem Zaunpfahl. Wallander sprang über den Straßengraben und landete im Matsch, der sofort an seinen Sohlen klumpte. Er maß die zwanzig Meter ab und schaute auf die Straße zurück. Das Lieferauto einer Fleischerei fuhr vorbei, kurz darauf kamen zwei Personenwagen. Der Regen wurde stärker. Wallander versuchte, das Geschehen zu rekonstruieren. Ein Auto mit einem älteren Fahrer ist mitten in einem Nebelgürtel. Plötzlich verliert der Mann die Kontrolle über das Fahrzeug, der Wagen kommt von der Fahrbahn ab, überschlägt sich ein- oder zweimal und bleibt mit den Rädern nach oben liegen. Der Fahrer sitzt angeschnallt auf seinem Platz. Tot. Er hat nur ein paar Schürfwunden im Gesicht, aber er ist mit dem Hinterkopf auf eine Metallkante geschlagen. Der Tod trat mit großer Wahrscheinlichkeit augenblicklich ein. Erst im Morgengrauen entdeckt ein Bauer von seinem Traktor aus, was geschehen ist.

Er muß gar nicht schnell gefahren sein, dachte Wallander. Er kann die Kontrolle verloren und in Panik Gas gegeben haben. So schoß der Wagen mit einem Satz auf den Acker. Was Martinsson über den Unfallort geschrieben hat, ist vermutlich sowohl umfassend als auch korrekt.

Als er zur Straße zurückgehen wollte, entdeckte er einen Gegenstand, der genau vor ihm lag, zur Hälfte im Lehm begraben. Er bückte sich und sah, daß es ein einfaches braungestrichenes Stuhlbein war. Als er es wegwarf, breitete der Bussard seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft.

Bleibt das Autowrack, dachte Wallander. Aber vermutlich ist Martinsson auch da nichts entgangen.

Er kehrte zu seinem Wagen zurück, kratzte, so gut es ging, den Lehm von den Stiefeln und zog seine anderen Schuhe wieder an. Auf der Fahrt nach Ystad überlegte er, ob er die Gelegenheit nutzen und seinen Vater und dessen neue Frau draußen in Löderup besuchen sollte. Aber er ließ es sein. Es war wichtiger, mit Frau Dunér zu reden und den Unfallwagen zu besichtigen, bevor er wieder zum Polizeigebäude fuhr.

Er hielt an der OK-Tankstelle an der Einfahrt nach Ystad, trank eine Tasse Kaffee und aß ein belegtes Brot. Als er sich umschaute, dachte er, daß sich die schwedische Einsamkeit nirgendwo so deutlich offenbarte wie in den Imbißstuben an den Tankstellen. Er ließ den Kaffee stehen, von einer plötzlichen Unruhe erfaßt. Durch den Regen fuhr er in die Stadt hinein und bog am Hotel Continental zweimal nach rechts ab, um in die schmale Stickgata zu kommen. Nach einem abenteuerlichen Parkmanöver stand der Wagen direkt vor dem Haus, in dem Berta Dunér wohnte, halb auf der Straße, halb auf dem Gehweg. Wallander klingelte am Eingang und wartete. Es dauerte fast eine Minute, bis geöffnet wurde. Ein bleiches Gesicht erschien im Türspalt.

≫Ich heiße Kurt Wallander und bin Kriminalkommissar≪, sagte er, während er in den Taschen vergeblich nach seiner Legitimation suchte. ≫Ich würde gern mit Ihnen sprechen, wenn es möglich ist.≪

Frau Dunér öffnete die Tür und ließ ihn ein. Sie reichte ihm einen Kleiderbügel für seine feuchte Jacke. Dann führte sie ihn in ein Wohnzimmer mit blankem Parkettfußboden und einem Panoramafenster, durch das man auf einen kleinen Garten an der Rückseite des Hauses schaute. Wallander sah sich um: Nichts in der Wohnung war zufällig; vom Möbelstück bis zum kleinsten Ziergegenstand war alles bis ins Detail abgestimmt.

Sicher hielt sie die Anwaltskanzlei genauso in Ordnung, dachte er. Blumen zu gießen und Terminkalender zu führen, das sind vermutlich zwei Seiten derselben Sache — ein Leben ohne Überraschungen.

≫Bitte, nehmen Sie Platz≪, sagte sie mit unerwartet barscher Stimme. Wallander hatte sich vorgestellt, daß diese unnatürlich magere grauhaarige Frau leise sprechen würde. Er ließ sich auf einem altmodischen Rohrstuhl nieder, der knackte, als er sich zurechtsetzte.

≫Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?≪ fragte sie.

Wallander schüttelte den Kopf.

≫Tee?≪

≫Auch nicht. Ich möchte nur einige Fragen stellen und dann gleich wieder gehen.≪

Sie setzte sich auf die äußerste Kante eines geblümten Sofas auf der anderen Seite des Glastischs. Wallander merkte, daß er weder Stift noch Notizblock eingesteckt hatte. Er hatte auch nicht daran gedacht, wenigstens die ersten Fragen vorzubereiten. Es war so wichtig, daß es im Rahmen einer Ermittlung keine belanglosen Verhöre oder Gespräche gab.

≫Zuerst möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich das Geschehene bedauere≪, begann er vorsichtig. ≫Gustaf Torstensson habe ich ja nur bei wenigen Gelegenheiten getroffen. Aber Sten Torstensson kannte ich gut.≪

≫Er hat vor neun Jahren Ihre Scheidung übernommen≪, sagte Berta Dunér.

Im selben Augenblick erinnerte sich Wallander an sie. Berta Dunér hatte ihn und Mona begrüßt, wenn sie in die Kanzlei kamen, um in gereizter Stimmung die Formalitäten ihrer Trennung zu regeln. Damals waren ihr Haar noch nicht so grau und ihre Figur kräftiger gewesen. Dennoch wunderte er sich, warum er sie nicht gleich erkannt hatte.

≫Sie haben ein gutes Gedächtnis≪, sagte er.

≫Namen kann ich vergessen, aber niemals Gesichter.≪

Was sollte er darauf antworten? Wallander sagte sich, daß er mit dem Besuch bei Berta Dunér hätte warten müssen. Er wußte nicht, wonach er fragen, womit er beginnen sollte. Und an die Umstände seiner Scheidung wollte er lieber nicht erinnert werden.

≫Sie haben bereits mit meinem Kollegen Svedberg gesprochen≪, sagte er schließlich. ≫Leider ist es bei schwereren Verbrechen oft notwendig, weitere Fragen zu stellen, und es kann nicht immer derselbe Kommissar sein.≪

Im stillen stöhnte er über seine schwerfällige Art, sich auszudrücken. Er war nahe daran, aufzustehen und mit einer Entschuldigung das Haus zu verlassen. Aber er zwang sich, die Gedanken zusammenzunehmen. ≫Wir müssen nicht darüber reden, wie Sie am Morgen ins Büro kamen und Sten Torstensson ermordet auffanden. Oder fällt Ihnen noch etwas ein, was Sie bisher vielleicht nicht erwähnt haben?≪

Ihre Antwort kam bestimmt und ohne Zögern. ≫Nein, nichts. Es war so, wie ich es Herrn Svedberg geschildert habe.≪

≫Wann haben Sie denn am Abend zuvor das Büro verlassen?≪

≫Das war gegen sechs Uhr, vielleicht fünf Minuten nach sechs, nicht später. Ich hatte einige von Fräulein Lundin getippte Briefe durchgesehen. Dann rief ich Herrn Torstensson an und erkundigte mich, ob noch etwas zu tun wäre. Er sagte nein und wünschte mir einen guten Abend. Also zog ich mir den Mantel an und ging.≪

≫Die Tür fiel ins Schloß? Und Sten Torstensson blieb allein im Büro?≪

≫Ja.≪

≫Wissen Sie, was er an jenem Abend noch vorhatte?≪

Sie sah ihn verwundert an. ≫Er wollte natürlich weiterarbeiten. Ein so beschäftigter Anwalt wie Sten Torstensson konnte nicht einfach nach Hause gehen, wenn es ihm paßte.≪

Wallander nickte. ≫Ich weiß, daß er viel zu tun hatte. Ich möchte nur gern wissen, ob er mit einem speziellen, eiligen Fall befaßt war.≪

≫Alles war eilig≪, sagte sie. ≫Da sein Vater zwei Wochen zuvor getötet worden war, hatte er natürlich ein enormes Arbeitspensum, das versteht sich wohl von selbst.≪

Wallander stutzte. ≫Sie sprechen von dem Autounfall?≪

≫Wovon sonst?≪

≫Sie sagten, sein Vater sei getötet worden. Ich wundere mich über Ihre Wortwahl…≪

≫Man stirbt oder man wird getötet≪, sagte sie. ≫Man stirbt in seinem Bett, eines natürlichen Todes, wie es so schön heißt. Aber wenn man bei einem Autounfall umkommt, wird man ja wohl getötet, das müssen Sie doch zugeben?≪

Wallander nickte langsam. Er verstand, was sie gemeint hatte. Trotzdem war er unsicher, ob sie nicht noch etwas anderes gesagt, ob sie nicht unfreiwillig eine Botschaft ausgesandt hatte. Sofort mußte er an den Verdacht denken, der Sten Torstensson dazu getrieben hatte, ihn in Skagen zu besuchen.

≫Können Sie sich aus dem Stegreif erinnern, was Sten Torstensson in der Woche davor getan hat?≪ fragte er. ≫Am Dienstag, dem 24., und Mittwoch, dem 25. Oktober?≪

Sie antwortete, ohne zu zögern. ≫Da war er verreist.≪

Sten Torstensson hatte also aus seiner Abwesenheit kein Geheimnis gemacht, dachte Wallander.

≫Er sagte, er müsse mal für ein paar Tage raus und die Sorgen über den Tod des Vaters vergessen. Ich habe natürlich alle Termine für diese beiden Tage abgesagt.≪

Plötzlich brach sie in Tränen aus. Wallander fühlte sich ganz hilflos. Nervös knarrte der Stuhl unter seinem Gewicht.

Hastig stand sie auf und lief in die Küche hinaus. Er hörte, wie sie sich die Nase putzte. Dann kam sie zurück. ≫Es ist so schwer≪, sagte sie. ≫Es ist so unendlich schwer.≪

≫Ich verstehe.≪

≫Er hat mir eine Ansichtskarte geschickt≪, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. Wallander fürchtete, daß sie jeden Moment wieder die Fassung verlieren würde. Aber sie nahm sich zusammen.

≫Wollen Sie sie sehen?≪ fragte sie.

≫Ja, gern.≪ Wallander nickte.

Sie trat an das Bücherregal an der einen langen Wand. Aus einer Porzellanschale nahm sie eine Karte und reichte sie ihm. ≫Finnland muß wunderschön sein. Leider bin ich nie dort gewesen. Und Sie?≪

Wallander starrte verständnislos auf die Ansichtskarte. Sie zeigte eine Seenlandschaft in der Abendsonne. ≫Ja≪, sagte er langsam. ≫Ich bin schon in Finnland gewesen. Sie haben ganz recht, es ist ein sehr schönes Land.≪

≫Bitte entschuldigen Sie, daß ich mich so gehenließ. Aber die Karte kam am selben Tag, an dem ich ihn tot aufgefunden habe.≪

Wallander nickte zerstreut.

Es gab mehr Fragen an Berta Dunér, als er geahnt hatte. Aber gleichzeitig wurde ihm klar, daß es zu früh war, sie zu stellen. Seiner Sekretärin hatte Sten Torstensson also gesagt, er würde nach Finnland reisen. Eine Ansichtskarte war von dort gekommen, wie ein rätselhafter Beweis. Aber wer hatte sie geschickt, wenn sich Sten Torstensson doch gleichzeitig auf Jütland befand?

≫Ich muß diese Karte für die Ermittlungen einige Tage behalten≪, sagte er. ≫Aber ich verspreche Ihnen persönlich, daß Sie sie zurückbekommen.≪

≫Ich verstehe.≪

≫Eine letzte Frage noch, bevor ich gehe. Haben Sie in der letzten Zeit, bevor er starb, etwas Ungewöhnliches bemerkt?≪

≫Wie meinen Sie das?≪

≫Hat er sich auffällig verhalten?≪

≫Der Tod seines Vaters hat ihn natürlich sehr mitgenommen.≪

≫Sonst nichts?≪

Wallander hörte selbst, wie wenig sensibel die Frage klang. Trotzdem wartete er auf ihre Antwort.

≫Nein, er war wie immer.≪

Wallander erhob sich von dem Rohrstuhl. ≫Ich muß bestimmt noch einmal mit Ihnen reden≪, sagte er.

Sie blieb auf dem Sofa sitzen. ≫Wer kann etwas so Gräßliches tun?≪ fragte sie. ≫Hineingehen, einen Mann umbringen und dann einfach wieder hinausspazieren, als sei nichts geschehen?≪

≫Das müssen wir herausfinden. Wissen Sie, ob er Feinde hatte?≪

≫Ich wüßte nicht, warum.≪

Wallander zögerte einen Augenblick, dann stellte er noch eine Frage. ≫Was, glauben Sie, ist im einzelnen geschehen?≪

Sie stand auf, bevor sie antwortete. ≫Früher konnte man selbst das verstehen, was unbegreiflich erschien. Aber heute nicht mehr. Nicht einmal das ist mehr möglich in unserem Land.≪

Wallander zog seine Jacke an, die noch schwer war von der Feuchtigkeit. Draußen auf der Straße blieb er stehen. Ihm fiel der Spruch ein, den er sich in seiner Jugend gemerkt hatte, am Beginn seiner Arbeit als Polizist.

Leben und Tod, alles hat seine Zeit.

Er dachte auch an den letzten Satz, den Berta Dunér eben gesagt hatte. Es war etwas Wichtiges über Schweden. Etwas, worauf er zurückkommen sollte. Aber für den Augenblick verdrängte er ihre Worte.

Ich muß versuchen, die Gedanken der Toten zu verstehen. Eine Ansichtskarte aus Finnland, abgestempelt an einem Tag, an dem Sten Torstensson mit mir im Kunstmuseum von Skagen Kaffee getrunken hat, bedeutet, daß er nicht die Wahrheit gesagt hat. Jedenfalls nicht die ganze. Ein Mensch kann nicht lügen, ohne selbst davon zu wissen.

Er setzte sich ins Auto und überlegte, was er tun sollte. Eigentlich hatte er Lust, in seine Wohnung in der Mariagata zu fahren, sich ins Schlafzimmer zu legen und die Gardinen vorzuziehen. Als Polizist hatte er allerdings an anderes zu denken.

Er sah auf seine Armbanduhr. Viertel vor zwei. Spätestens um vier mußte er wieder im Präsidium sein, um an der Nachmittagsbesprechung der Ermittlungsgruppe teilzunehmen. Nach kurzem Zögern startete er den Wagen, bog in die Hamngata und hielt sich dann links, um wieder auf den Österled zu gelangen. Dann folgte er dem Malmöväg bis zur Abzweigung nach Bjäresjö. Der Nieselregen hatte aufgehört, es herrschte ein böiger Wind. Nach einigen Kilometern verließ er die Hauptstraße und hielt vor einem eingezäunten Gelände. Ein rostiges Schild besagte, daß es sich um Niklassons Schrottplatz handelte. Das Tor stand offen, und er fuhr zwischen aufgestapelten Autowracks hindurch. Er fragte sich, wie oft er in seinem Leben schon auf diesem Schrottplatz gewesen war. Niklasson war unzählige Male wegen Hehlerei verdächtigt und angeklagt worden. Bei der Polizei von Ystad genoß er einen legendären Ruf, weil er niemals verurteilt worden war, obwohl es oft lückenlose Beweise gegeben hatte. Doch schließlich war immer eine unsichtbare Nadel aufgetaucht und hatte die Anklage wie einen Luftballon zum Platzen gebracht. So konnte Niklasson jedesmal in seine beiden zusammengeschweißten Wohnwagen zurückkehren, die ihm als Wohnung und Büro dienten.

Wallander stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Eine schmutzige Katze saß auf der rostigen Karosserie eines alten Peugeot und beobachtete ihn. Im selben Augenblick sah er Niklasson, der hinter einem Reifenstapel hervorkam. Er trug einen dunklen Kittel und hatte den speckigen Hut fest über die langen Haare gezogen. Wallander konnte sich nicht erinnern, ihn je in anderen Sachen gesehen zu haben.

≫Kurt Wallander≪, sagte Niklasson und lächelte. ≫Lange nicht gesehen. Willst du mich abholen?≪

≫Sollte ich?≪ fragte Wallander.

Niklasson lachte. ≫Das mußt du selbst am besten wissen.≪

≫Du hast einen Wagen hier, den ich mir ansehen möchte≪, sagte Wallander. ≫Einen dunkelblauen Opel, der dem Anwalt Gustaf Torstensson gehört hat.≪

≫Ach der≪, winkte Niklasson ab und setzte sich in Bewegung. ≫Der steht hier hinten. Warum willst du dir den ansehen?≪

≫Weil bei dem Unfall ein Mensch darin gestorben ist.≪

≫Die Leute fahren wie die Verrückten≪, sagte Niklasson. ≫Mich wundert nur, daß sich nicht noch mehr totfahren. Hier ist er. Ich habe ihn noch nicht ausgeschlachtet; er ist noch so, wie er angeliefert wurde.≪

Wallander nickte. ≫Ich komme allein klar.≪

≫Sicher doch≪, sagte Niklasson. ≫Ich habe mich übrigens immer gefragt, was das für ein Gefühl ist, einen Menschen zu töten.≪

Die Bemerkung kam überraschend.

≫Es ist ein gräßliches Gefühl≪, murmelte Wallander. ≫Was dachtest du?≪

Niklasson zuckte die Schultern. ≫Nichts. Hat mich nur mal so interessiert.≪

Als Wallander allein war, ging er zweimal um den Unfallwagen herum. Er wunderte sich, daß der Opel äußerlich fast unversehrt wirkte, obwohl er doch über den befestigten Fahrbahnrand auf den Acker gerast war und sich dann überschlagen hatte. Er hockte sich hin und betrachtete den Fahrersitz. Sofort wurde seine Aufmerksamkeit durch die Autoschlüssel gefesselt, die vor dem Gaspedal auf der Bodenmatte lagen. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Er nahm das Bund und steckte den Zündschlüssel ins Schloß. Sten Torstensson hatte völlig recht gehabt. Weder Schlüssel noch Zündschloß waren beschädigt. Nachdenklich ging er noch einmal um den Wagen herum. Dann kroch er hinein und versuchte sich vorzustellen, wogegen Gustaf Torstensson mit dem Nacken geschlagen sein könnte. Er prüfte alle Möglichkeiten, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Obwohl es an verschiedenen Stellen eingetrocknete Blutflecken gab, konnte er die Stelle nicht finden, wo der Hinterkopf aufgeprallt war.

Mit den Schlüsseln in der Hand stieg er aus dem Auto. Ohne richtig zu wissen, warum, öffnete er den Kofferraum. Darin lagen ein paar alte Zeitungen und ein zerbrochener Holzstuhl. Sofort erinnerte er sich an das Stuhlbein, das er auf dem Acker gefunden hatte. Er nahm eine Zeitung und las das Datum. Sie war über ein halbes Jahr alt. Dann ließ er die Heckklappe wieder zufallen.

Jetzt erst wurde ihm klar, daß er etwas entdeckt hatte.

Er erinnerte sich genau an Martinssons Bericht. Darin hieß es eindeutig, daß alle Türen außer der Fahrertür verriegelt gewesen waren, ebenso der Kofferraum.

Wallander stand wie versteinert.

Ein kaputter Stuhl liegt in einem verschlossenen Kofferraum, ein Stuhlbein draußen im Lehm. Drinnen im Auto sitzt ein toter Mann.

Seine erste Reaktion war Wut über die schlampige Untersuchung und die oberflächliche Schlußfolgerung. Dann fiel ihm ein, daß nicht einmal Sten Torstensson das Stuhlbein gesehen und eine Beziehung zu der verschlossenen Heckklappe hergestellt hatte.

Langsam ging er zu seinem Wagen zurück.

Sten Torstensson hatte also recht gehabt. Sein Vater war nicht durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Auch wenn er noch nicht ahnen konnte, was es war, so wußte er doch, daß an jenem Abend etwas geschehen war, im Nebel, auf der abgelegenen Straße. Mindestens eine weitere Person mußte dort gewesen sein. Aber wer?

Niklasson kam aus seinem Wohnwagen. ≫Willst du Kaffee?≪ fragte er.

Wallander schüttelte den Kopf. ≫Rühr den Wagen nicht an. Wir müssen ihn noch einmal untersuchen.≪

≫Sei bloß vorsichtig≪, sagte Niklasson.

Wallander runzelte die Stirn. ≫Warum?≪

≫Dieser Sohn, wie hieß er doch gleich? Sten Torstensson? Er war auch hier und hat sich den Opel angesehen. Und nun ist er tot. Das meine ich. Weiter nichts.≪

Niklasson zuckte die Schultern und wiederholte: ≫Nur das. Weiter nichts.≪

Wallander kam ein Gedanke. ≫War noch jemand hier und hat sich für das Auto interessiert?≪

Niklasson schüttelte den Kopf. ≫Niemand.≪

Wallander fuhr zurück nach Ystad. Er war müde. Noch überschaute er nicht, was er eigentlich herausgefunden hatte.

Grundsätzlich aber hatte er keinen Zweifel mehr. Sten Torstensson hatte recht gehabt. Hinter dem Autounfall verbarg sich etwas ganz anderes.

Es war sieben Minuten nach vier, als Björk die Tür zum Konferenzraum hinter sich schloß. Wallander spürte sofort, daß die Stimmung gedrückt war. Er war sicher, daß keiner der anwesenden Kriminalisten etwas Dramatisches, für den Gang der Ermittlungen Entscheidendes mitzuteilen hatte. Solche Augenblicke der alltäglichen Arbeit werden in Kriminalfilmen nie gezeigt, dachte er. Und doch sind es diese stummen Momente, wo alle müde und manchmal gereizt sind, aus denen sich der Fortgang der Ermittlungen entwickelt. Wir müssen auch darüber reden, daß wir nichts wissen.

Gleichzeitig entschied er sich. Ob es ein eitler Versuch war, seine Rückkehr in den Dienst zu rechtfertigen, konnte er später nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls war die Situation geeignet zu zeigen, daß er trotz allem noch kein ausgebranntes Wrack war, das sich besser schweigend und unauffällig zurückgezogen hätte.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Björk ihn auffordernd ansah. Wallander schüttelte kaum merklich den Kopf. Noch hatte er nichts zu sagen.

≫Was haben wir?≪ sagte Björk. ≫Wo stehen wir?≪

≫Ich habe Klinken geputzt≪, begann Svedberg. ≫In den umliegenden Häusern, jeden Treppenaufgang. Aber niemand hat etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Seltsamerweise kam auch kein einziger Tip aus der Bevölkerung. Die ganze Ermittlung steckt in einer Sackgasse.≪

Björk wandte sich Martinsson zu.

≫Ich war in seiner Wohnung in der Regimentsgata≪, berichtete er. ≫Ich glaube, ich war noch nie so unsicher, wonach ich eigentlich suchen sollte. Nur eines kann ich mit Sicherheit sagen: Sten Torstensson hatte etwas für alten Cognac übrig und besaß eine Menge antiquarischer Bücher, die vermutlich nicht billig waren. Dann habe ich versucht, von den Technikern in Linköping etwas über die Pistolenkugeln zu erfahren. Aber sie haben mich auf morgen vertröstet.≪

Björk seufzte und schaute zu Ann-Britt Höglund.

≫Ich habe versucht, mir ein Bild von seinem privaten Umgang zu machen≪, begann sie. ≫Von seiner Familie, seinen Freunden. Aber auch da war nichts, was uns weiterbringen würde. Er hatte keinen großen Bekanntenkreis, er scheint fast ausschließlich für seinen Beruf gelebt zu haben. Früher ist er im Sommer oft gesegelt. Aber damit hat er aufgehört; warum, weiß ich nicht genau. Es gibt nicht viele Verwandte, ein paar Tanten und Cousinen. Er muß so etwas wie ein Eigenbrötler gewesen sein.≪

Während sie redete, beobachtete Wallander sie verstohlen. Sie spricht so überlegt und klar, daß man sie für phantasielos halten könnte, dachte er. Aber er war vorsichtig in seiner Beurteilung. Noch kannte er sie nicht persönlich, sondern nur ihren Ruf als eine besonders vielversprechende Kollegin.

Die neue Zeit, dachte er. Vielleicht ist sie der Polizistentyp der Zukunft. Ich habe mich schon immer gefragt, wie der aussehen wird.

≫Mit anderen Worten, wir sind keinen Schritt weitergekommen≪, sagte Björk. ≫Wir wissen, daß Sten Torstensson erschossen wurde. Wir wissen, wo und wann, jedoch nicht, warum und von wem. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, daß uns schwierige, zeitaufwendige Ermittlungen bevorstehen.≪

Keiner konnte etwas entgegnen. Es hatte wieder angefangen zu regnen.

Jetzt mußte Wallander reden. ≫Was Sten Torstensson angeht, habe ich nichts hinzuzufügen≪, sagte er. ≫Da kommen wir erst einmal nicht weiter. Ich glaube, wir sollten uns zunächst mit seinem Vater beschäftigen.≪

Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn.

≫Gustaf Torstensson starb nicht durch einen Verkehrsunfall≪, fuhr er fort. ≫Er wurde ermordet, wie sein Sohn. Wir müssen davon ausgehen, daß es einen Zusammenhang gibt. Alles andere wäre sinnlos.≪

Er sah seine Kollegen an, die ihn reglos anstarrten.

Plötzlich waren die unendlichen Strande Skagens und die karibische Inselwelt weit weg. Wallander spürte, daß er die Mauer durchbrochen hatte und in das Leben zurückgekehrt war, das er eine Zeitlang nicht hatte ertragen können.

≫Eigentlich habe ich nur noch eines hinzuzufügen≪, sagte er nachdenklich. ≫Ich kann beweisen, daß er ermordet wurde.≪

Am Tisch wurde es totenstill. Schließlich brach Martinsson das Schweigen. ≫Von wem?≪

≫Von jemandem, der einen seltsamen Fehler gemacht hat.≪

Wallander stand auf.

Wenig später waren sie in drei Wagen unterwegs zu der abgelegenen Straße in der Nähe von Brösarps Backar.

Als sie ankamen, dämmerte es bereits.

4

Am späten Nachmittag des 1. November erlebte der schonische Landwirt Olof Jönsson einen seltsamen Augenblick. Er war draußen auf seinen Feldern und plante im Kopf die kommende Frühjahrsaussaat, als er plötzlich auf der anderen Seite der Straße eine Gruppe von Menschen entdeckte, die im Halbkreis im Lehm herumstand, als sei sie um ein Grab versammelt. Da er immer ein Fernglas bei sich hatte, wenn er seine Felder inspizierte — manchmal streiften Rehe am Waldrand entlang -, konnte er die Besucher genauer betrachten. Einer kam ihm bekannt vor; er hatte das Gesicht schon irgendwo gesehen. Gleichzeitig fiel ihm auf, daß die vier Männer und die einzelne Frau sich genau an der Stelle befanden, wo sich einige Wochen zuvor ein alter Mann totgefahren hatte. Hastig nahm er das Fernglas herunter, als wollte er nicht aufdringlich erscheinen. Vermutlich waren es Angehörige des Verunglückten, die ihm ihren Respekt erweisen wollten, indem sie den Platz besuchten, an dem er ums Leben gekommen war. Olof Jönsson lief weiter und schaute sich nicht um.

_________

Als sie an die Unglücksstelle kamen, durchzuckte Wallander die Vorstellung, er habe sich das Ganze nur eingebildet. Was er da draußen im Lehm gefunden hatte, war vielleicht gar kein Stuhlbein. Während er auf den Acker hinausstapfte, blieben seine Kollegen auf der Straße und warteten. Im Rücken hörte er ihre Stimmen, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten.

Eingeschränktes Urteilsvermögen, dachte er, während er nach dem Stuhlbein suchte. Die fragen sich sicher, ob ich für den Polizeidienst überhaupt noch tauglich bin.

Aber da lag das Stück Holz vor seinen Füßen. Er musterte es schnell, bis er sicher war, sich nicht geirrt zu haben. Dann drehte er sich um und winkte die anderen heran. Kurz darauf standen sie um das Stuhlbein versammelt, das fest im Lehm steckte.

≫Könnte stimmen≪, sagte Martinsson zögernd. ≫Ich erinnere mich an den kaputten Stuhl im Kofferraum. Das hier könnte ein Teil davon sein.≪

≫Trotzdem scheint das Ganze sehr seltsam≪, meinte Björk. ≫Ich möchte, daß du deinen Gedankengang noch einmal wiederholst, Kurt.≪

≫Ganz einfach≪, sagte Wallander. ≫Ich habe Martinssons Bericht gelesen. Da stand, daß der Kofferraum verriegelt war. Nichts deutete darauf hin, daß die Klappe aufgesprungen und später wieder ins Schloß gefallen ist. Sonst müßte es ja wenigstens äußere Anzeichen geben, daß das Heckteil des Wagens auf den Boden aufgeschlagen ist. Die gibt es aber nicht.≪

≫Hast du dir den Opel angesehen?≪ fragte Martinsson verblüfft.

≫Ich versuche nur, mit euch gleichzuziehen≪, sagte Wallander und merkte, daß es wie eine Entschuldigung klang. Schließlich konnte sein Besuch bei Niklasson so ausgelegt werden, als traue er Martinsson nicht zu, eine einfache Unfalluntersuchung vorzunehmen. Was ja auch stimmte, aber jetzt nicht von Bedeutung war.

≫Ich meine nur≪, fuhr Wallander fort, ≫daß ein Mann, der allein in einem Auto sitzt und sich auf einem Acker vielleicht sogar mehrmals überschlägt, nicht anschließend aus dem Wagen steigt, den Kofferraum öffnet, ein abgebrochenes Stuhlbein herausnimmt, die Klappe wieder zumacht, sich wieder hinters Lenkrad setzt, sich anschnallt und dann an einem harten Schlag auf den Hinterkopf stirbt.≪

Alle schwiegen. Wallander hatte diesen Moment viele Male zuvor erlebt. Eine Hülle fällt und gibt etwas frei, was niemand zu sehen erwartet hatte.

Svedberg holte eine Plastiktüte hervor und legte das Stuhlbein vorsichtig hinein.

≫Ich habe es etwa fünf Meter von hier gefunden≪, sagte Wallander und zeigte in die Richtung. ≫Ich habe es in die Hand genommen und dann weggeworfen.≪

≫Merkwürdige Art, mit Beweismitteln umzugehen≪, sagte Björk.

≫Da wußte ich ja noch nicht, daß es mit Gustaf Torstenssons Tod zu tun hatte≪, verteidigte sich Wallander. ≫Ich weiß auch nicht, was das Stuhlbein an sich beweist.≪

≫Wenn ich dich richtig verstehe≪, sagte Björk und ignorierte Wallanders Kommentar, ≫dann bedeutet das hier, daß noch jemand anwesend war, als Gustaf Torstensson verunglückte. Es muß aber nicht bedeuten, daß er getötet wurde. Es könnte jemand gewesen sein, der den Unfall entdeckt hat und sehen wollte, ob es aus dem Kofferraum etwas zu stehlen gab. Daß die betreffende Person uns danach nicht informiert beziehungsweise ein altes Stuhlbein weggeworfen hat, ist nicht weiter verwunderlich. Leichenfledderer geben sich selten zu erkennen.≪

≫Das ist natürlich richtig≪, sagte Wallander.

≫Und doch hast du behauptet, du könntest beweisen, daß er ermordet wurde.≪

≫Das war übereilt≪, antwortete Wallander. ≫Ich hätte sagen sollen, daß das hier die Situation teilweise verändert.≪

Sie gingen zur Straße zurück.

≫Wir müssen den Opel noch einmal untersuchen≪, sagte Martinsson. ≫Die Kriminaltechniker werden sich wundern, wenn wir ihnen einen kaputten Holzstuhl schicken.≪

Björk ließ erkennen, daß er die Versammlung auf der Straße beenden wollte. Es hatte wieder angefangen zu regnen; der Wind war kräftiger geworden. ≫Morgen entscheiden wir, wie wir vorgehen. Wir müssen die verschiedenen Spuren prüfen; leider sind es ja nicht so viele. Ich glaube nicht, daß wir hier und jetzt weiterkommen.≪

Sie gingen zu ihren Wagen. Ann-Britt Höglund blieb an Wallanders Seite. ≫Kann ich mit dir fahren?≪ fragte sie. ≫Ich wohne direkt in Ystad. Martinsson hat überall Kindersitze, und Björks Auto ist voller Angelgerät.≪

Wallander nickte. Sie fuhren als letzte ab. Für Wallander war es ein ungewohntes Gefühl, jemanden so nahe bei sich zu haben. Ihm fiel ein, daß er seit jenem Sommertag vor fast zwei Jahren, als sein Schweigen begann, eigentlich mit niemandem außer mit seiner Tochter richtig gesprochen hatte.

Schließlich begann sie zu reden. ≫Ich glaube, du hast recht. Natürlich muß es einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Vaters und dem des Sohnes geben.≪

≫Das muß auf jeden Fall untersucht werden.≪

Zur Linken sahen sie das Meer. Die Wellen brachen sich; Gischt spritzte auf.

≫Warum wird man Polizist?≪ fragte Wallander.

≫Warum andere es werden, weiß ich nicht. Ich weiß nur, warum ich es geworden bin. Ich erinnere mich aber, daß auf der Polizeischule fast jeder einen anderen Traum hatte.≪

≫Haben denn Polizisten Träume?≪ fragte Wallander.

Sie sah ihn an. ≫Alle Menschen haben Träume. Auch Polizisten. Hast du keine?≪

Wallander wußte nicht, was er antworten sollte. Aber ihre Gegenfrage war natürlich richtig. Wo sind meine Träume, dachte er. Wenn man jung ist, hat man Träume, die entweder verblassen oder sich in einen Willen verwandeln, dem man dann folgt. Was ist mir eigentlich geblieben von all dem, was ich einmal wollte?

≫Ich wurde Polizistin, weil ich mich entschieden habe, nicht Priesterin zu werden≪, sagte sie plötzlich. ≫Ich habe lange an Gott geglaubt. Meine Eltern gehören der Pfingstbewegung an. Aber eines Tages war alles einfach fort, eines Morgens, als ich aufwachte. Lange wußte ich überhaupt nicht, was ich tun sollte. Dann geschah jedoch etwas, und ich entschloß mich fast sofort, Polizistin zu werden.≪

Er warf ihr einen Blick zu. ≫Erzähl bitte. Ich wüßte gern, warum Menschen immer noch zur Polizei wollen.≪

≫Ein andermal≪, sagte sie ausweichend. ≫Nicht jetzt.≪

Sie näherten sich Ystad. Sie erklärte ihm, wo sie wohnte, an der westlichen Einfahrt, in einer der neugebauten hellen Ziegelvillen mit Aussicht auf das Meer.

≫Ich weiß nicht einmal, ob du Familie hast≪, sagte Wallander, als sie in den halbfertigen Weg einbogen.

≫Ich habe zwei Kinder. Mein Mann ist Installateur. In der ganzen Welt baut er Pumpen und wartet sie; er ist fast nie bei uns. Aber er hat das Haus zusammengespart.≪

≫Klingt nach einem spannenden Beruf.≪

≫Ich werde dich mal an einem Abend einladen, wenn er hier ist≪, sagte sie. ≫Dann kann er dir selbst erzählen, wie es ist.≪

Er hielt vor ihrer Tür.

≫Ich glaube, alle sind froh, daß du wieder da bist≪, sagte sie zum Abschied.

Wallander hatte das Gefühl, daß diese Bemerkung nicht der Wahrheit entsprach, sondern eher ein Versuch war, ihn aufzumuntern, aber er nickte und murmelte einen Dank.

Dann fuhr er auf dem kürzesten Weg in die Mariagata, hängte die feuchte Jacke über den Stuhl und legte sich aufs Bett. Nicht einmal die schmutzigen Schuhe zog er aus. Er schlief ein und träumte, er läge bei Skagen in den Dünen.

Als er eine Stunde später aufwachte, wußte er zuerst nicht, wo er war. Dann zog er die Schuhe aus, ging in die Küche und kochte Kaffee. Durch das Fenster sah er, wie die Straßenlaterne in den kräftigen Windböen schwankte.

Bald ist wieder Winter, dachte er. Schnee und Chaos und Stürme. Und ich bin wieder Polizist. Das Leben wirft einen hin und her. Wann hat man schon selbst das Steuer in der Hand?

Lange saß er da und starrte auf die Tasse. Erst als der Kaffee fast kalt war, holte er aus einer Schublade einen Block und einen Stift.

Jetzt muß ich mich wieder wie ein Polizist benehmen, dachte er. Ich werde für konstruktive Gedanken bezahlt, dafür, daß ich verbrecherische Handlungen aufkläre, und nicht für Grübeleien über meine private Misere.

Es war bereits Mitternacht, als er den Stift zur Seite legte und den Rücken streckte.

Dann beugte er sich noch einmal über die Zusammenfassung, die er zu Papier gebracht hatte. Auf dem Boden um seine Füße herum lagen viele zusammengeknüllte Seiten.

Ich finde kein Muster, dachte er. Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem angeblichen Autounfall und der Tatsache, daß Sten Torstensson zwei Wochen später in seinem Büro erschossen wird. Sten Torstenssons Tod muß nicht einmal Folge dessen sein, was seinem Vater geschehen ist. Es kann sich auch umgekehrt verhalten.

Er erinnerte sich an zwei Sätze, die Rydberg in seinem letzten Lebensjahr gesagt hatte, als sie sich verzweifelt um die Aufklärung einer Serie von Brandstiftungen bemühten: ≫Die Ursache kann manchmal nach der Wirkung kommen. Als Polizist mußt du immer bereit sein, beim Denken die Richtung zu wechseln.≪

Er stand auf, ging ins Wohnzimmer hinüber und legte sich aufs Sofa. Ein alter Mann sitzt tot in seinem Wagen, auf einem Acker, an einem Oktobermorgen, begann er in Gedanken von vorn. Er kam von einem Treffen mit einem Klienten und war auf dem Heimweg. Nach einer Routineuntersuchung wird der Fall als Autounglück zu den Akten gelegt. Der Sohn des Toten glaubte jedoch von Anfang an nicht an einen Unfall. Die beiden entscheidenden Gründe sind, daß der Vater bei Nebel niemals schnell fuhr und daß er in der Zeit davor verstört und erregt gewesen war, ohne es zeigen zu wollen.

Plötzlich schreckte Wallander auf. Er war nun doch einem Muster auf der Spur, besser gesagt, einem Nicht-Muster, einem verfälschten Muster, konstruiert, damit das wirkliche Geschehen verborgen blieb.

Er verfolgte seinen Gedankengang weiter. Sten Torstensson hatte nicht beweisen können, daß es kein gewöhnlicher Unfall war. Er hatte das Stuhlbein draußen auf dem Acker nicht gesehen, nicht über den kaputten Stuhl im Kofferraum des Wagens seines Vaters nachgedacht. Gerade weil er keine entscheidenden Beweise finden konnte, hatte er sich an Wallander gewandt. Er hatte sich die Mühe gemacht, seinen Aufenthaltsort herauszufinden und zu ihm zu fahren.

Zu gleicher Zeit hatte er durch eine Ansichtskarte aus Finnland eine falsche Fährte gelegt. Zwei Tage später wird er in seinem Büro erschossen. Kein Zweifel, daß es Mord war.

Wallander merkte, daß er den Faden verloren hatte. Was er gesehen zu haben meinte, ein Muster, unter dem ein anderes lag, verschwand im Niemandsland.

Er war müde. Heute nacht kam er nicht weiter. Aus Erfahrung wußte er aber auch, daß die Ahnungen wiederkehren würden, wenn sie von Bedeutung waren.

Er ging in die Küche, spülte die Kaffeetasse ab und hob die zerknüllten Notizen vom Boden auf.

Ich muß noch einmal von vorn beginnen, dachte er. Aber wo ist der Anfang? Bei Gustaf oder Sten Torstensson?

Er legte sich zu Bett, konnte aber trotz seiner Müdigkeit nicht einschlafen. Leise regte sich in ihm das Interesse an den Motiven für Ann-Britt Höglunds Entschluß, sich zur Polizistin ausbilden zu lassen.

Als er zum letzten Mal auf die Uhr schaute, war es halb drei.

Kurz nach sechs wachte er auf, müde und zerschlagen, stand aber sofort mit dem unbestimmten Gefühl auf, verschlafen zu haben. Wenige Minuten nach halb acht betrat er das Polizeigebäude und sah erfreut, daß Ebba auf ihrem gewohnten Platz in der Anmeldung saß. Als sie ihn erblickte, sprang sie auf und lief ihm entgegen. Sie war gerührt, und er hatte selbst einen Kloß im Hals.

≫Ich konnte es gar nicht glauben≪, sagte sie. ≫Bist du wirklich zurückgekommen?≪

≫Sieht ganz so aus.≪

≫Ich glaube, ich heule gleich los.≪

≫Tu es nicht. Wir reden später.≪

Er ging weiter, so schnell er konnte. Als er in sein Büro kam, sah er, daß es gründlich gereinigt worden war. Auf dem Tisch lag eine Nachricht, daß sein Vater um einen Anruf bitte. Der schwer lesbaren Handschrift nach zu urteilen hatte Svedberg das Gespräch am Abend zuvor entgegengenommen. Einen Augenblick verharrte er mit dem Hörer in der Hand, dann entschied er sich, noch zu warten. Er nahm sich die Zusammenfassung vor, die er in der Nacht zustande gebracht hatte, und las sie noch einmal durch. Das Gefühl, trotz allem bereits jetzt einen deutlichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen erkennen zu können, wollte sich nicht wieder einstellen. Er schob die Papiere von sich. Es ist noch zu früh, dachte er. Ich kehre nach anderthalb einsamen Jahren zurück und habe weniger Geduld als je zuvor. Irritiert griff er nach seinem Schreibblock und schlug eine leere Seite auf.

Ihm war klar, daß sie von vorn beginnen mußten. Da niemand mit Sicherheit sagen konnte, wo der Anfang war, mußten sie das Feld ihrer Ermittlungen breit anlegen. Eine halbe Stunde war er damit beschäftigt, den Plan zu skizzieren. Eigentlich müßte Martinsson die Leitung übernehmen. Er selbst war zwar wieder im Dienst, wollte aber nicht sofort die ganze Verantwortung tragen.

Das Telefon klingelte. Er zögerte, bevor er den Hörer abnahm.

≫Ich höre große Neuigkeiten≪, sagte Per Åkeson. ≫Ich freue mich sehr, ehrlich!≪ Per Åkeson war der Staatsanwalt, zu dem Wallander in all den Jahren den besten Kontakt gehabt hatte. Sie hatten oft hitzig darüber gestritten, wie ein Ermittlungsergebnis interpretiert werden sollte. Wallander war manchmal wütend gewesen, wenn Per Åkeson eine Verhaftung ablehnte, weil seiner Meinung nach das belastende Material nicht ausreichte. Aber im Grunde hatte es immer eine gemeinsame Auffassung von der Arbeit gegeben.

Beide haßten es, wenn eine laufende Untersuchung nachlässig betrieben wurde.

≫Ich gebe zu, daß es ein seltsames Gefühl ist≪, sagte Wallander.

≫Es gab hartnäckige Gerüchte, du würdest aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensioniert. Jemand sollte Björk einen Tip geben, damit er den Tendenzen zur Verbreitung von Klatsch energisch entgegentritt.≪

≫Das waren keine Gerüchte. Ich hatte wirklich beschlossen aufzuhören.≪

≫Darf man fragen, warum du deine Meinung geändert hast?≪

≫Etwas ist geschehen≪, antwortete Wallander ausweichend.

Er wußte, daß Per Åkeson auf eine nähere Erklärung wartete. Aber er sagte nichts mehr.

≫Ich freue mich, daß du wieder da bist≪, wiederholte Per Åkeson schließlich. ≫Und ich bin sicher, auch im Namen meiner Kollegen zu sprechen.≪

Die Freundlichkeit, die ihm entgegenströmte, begann Wallander unangenehm zu werden, zumal es ihm schwerfiel, daran zu glauben.

Immer steht man mit einem Bein im Sumpf, mit dem anderen in der Blumenwiese, dachte er grimmig.

≫Ich gehe davon aus, daß du den Fall Torstensson übernimmst≪, fuhr Per Åkeson fort. ≫Wir sollten uns vielleicht im Laufe des Tages treffen und unsere Positionen bestimmen.≪

≫Ich übernehme den Fall nicht≪, sagte Wallander, ≫ich nehme auf eigenen Wunsch an den Ermittlungen teil. Ich setze voraus, daß jemand von den anderen die Untersuchung leitet.≪

≫Da will ich mich nicht einmischen. Ich freue mich einfach, daß du zurück bist. Hast du dich schon mit der Sache vertraut gemacht?≪

≫Noch nicht richtig.≪

≫Soweit ich weiß, gibt es noch keine entscheidenden Erkenntnisse.≪

≫Björk glaubt, daß es eine langwierige Untersuchung wird.≪

≫Und was meinst du?≪

Wallander überlegte nicht lange. ≫Bis jetzt noch gar nichts.≪

≫Wir leben in einer Zeit, in der die Unsicherheit zunimmt≪, sagte Per Åkeson. ≫Es gibt immer mehr Drohungen, immer häufiger auch in Form von anonymen Briefen. Behörden, die früher offene Türen hatten, verbarrikadieren sich wie in Bunkern. Ich glaube, ihr müßt unbedingt Nachforschungen unter seinen Klienten anstellen. Das wäre ein denkbarer Ansatzpunkt. Jemand könnte unzufrieden gewesen sein.≪

≫Damit haben wir schon begonnen.≪

Sie vereinbarten, sich am Nachmittag in den Räumen der Staatsanwaltschaft zu treffen, und beendeten dann das Gespräch. Wallander zwang sich, wieder an seiner Skizze des Ermittlungsplans zu arbeiten. Doch die Konzentration ließ nach. Irritiert legte er den Kugelschreiber zur Seite und holte sich eine Tasse Kaffee. Er beeilte sich, wieder in sein Büro zu kommen, denn er hatte keine Lust, jemandem auf dem Flur zu begegnen. Inzwischen war es Viertel nach acht. Er trank seinen Kaffee und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis seine Scheu vor Menschen verschwunden wäre. Um halb neun sammelte er seine Papiere zusammen und ging zum Konferenzraum. Er dachte, daß es in den wenigen Tagen, die seit der Ermordung Sten Torstenssons vergangen waren, ungewöhnlich wenige Fortschritte gegeben hatte. Kein Mordfall war wie der andere, aber früher hatte sich doch stets ein gewisser Eifer unter den beteiligten Kriminalisten eingestellt.

In seiner Abwesenheit hatte sich etwas verändert. Aber was?

Zwanzig Minuten vor neun waren sie versammelt, und Björk ließ die Handflächen auf die Tischplatte fallen, zum Zeichen, daß die Ermittlungsgruppe ihre Arbeit aufgenommen hatte. Er wandte sich direkt an Wallander. ≫Kurt, du bist später zu uns gestoßen und siehst das Ganze unvoreingenommen. Wie gehen wir vor?≪

≫Das kann ich wohl kaum entscheiden. Ich habe es noch nicht geschafft, mich in alle Einzelheiten zu vertiefen.≪

≫Andererseits bist du der einzige, der etwas Verwendbares herausgefunden hat≪, sagte Martinsson. ≫Wie ich dich kenne, hast du doch sicher gestern abend einen Ermittlungsplan skizziert.≪

Wallander nickte. Plötzlich merkte er, daß er eigentlich gar nichts dagegen hatte, die Verantwortung zu übernehmen. ≫Ich habe versucht, eine Zusammenfassung zu erstellen. Aber erst möchte ich berichten, was am 24. Oktober geschehen ist, als ich mich in Dänemark aufhielt. Ich hätte es schon gestern tun sollen. Aber für mich war es ein etwas hektischer Tag, um es einmal so auszudrücken.≪

Wallander erzählte seinen staunenden Kollegen von Sten Torstenssons Besuch in Skagen. Er bemühte sich, kein Detail auszulassen.

Dann herrschte Schweigen. Schließlich ergriff Björk das Wort und verbarg nicht, daß er irritiert war. ≫Höchst seltsam. Ich verstehe nicht, Kurt, daß ausgerechnet du immer in außergewöhnliche Situationen gerätst.≪

≫Ich habe ihn an euch verwiesen≪, verteidigte sich Wallander und merkte, wie er wütend wurde.

≫Das wollen wir jetzt nicht zum Thema machen≪, fuhr Björk ungerührt fort. ≫Aber es ist doch irgendwie seltsam, das mußt du zugeben. Rein faktisch wird dadurch natürlich unterstrichen, daß wir Gustaf Torstenssons Autounfall in die Ermittlungen einbeziehen müssen.≪

≫Ich sehe es als selbstverständlich und notwendig an, daß wir an zwei Fronten kämpfen≪, meinte Wallander. ≫Ausgangspunkt sollte sein, daß zwei Personen ermordet wurden, nicht nur eine. Außerdem handelt es sich um Vater und Sohn. Wir müssen zwei Gedanken gleichzeitig verfolgen. Die Lösung kann in ihrem Privatleben verborgen sein, sie kann aber auch im Beruflichen liegen — Anwälte mit gemeinsamem Büro. Daß Sten Torstensson bei mir war und die Erregtheit seines Vater erwähnte, kann daraufhindeuten, daß der Schlüssel bei Gustaf Torstensson zu finden ist. Aber sicher ist das nicht, unter anderem, weil er an Frau Dunér eine Ansichtskarte aus Finnland schickte, obwohl er sich in Dänemark befand.≪

≫Das verrät uns noch etwas≪, mischte sich Ann-Britt Höglund unverhofft ein.

Wallander nickte. ≫Daß Sten Torstensson damit rechnete, selbst bedroht zu werden. Das meintest du doch?≪

≫Ja≪, sagte Ann-Britt Höglund. ≫Warum sonst sollte er eine falsche Fährte legen?≪

Martinsson hob die Hand zum Zeichen, etwas sagen zu wollen. ≫Am einfachsten ist es wohl, wenn wir uns teilen. Die einen konzentrieren sich auf den Vater, die anderen auf den Sohn. Dann werden wir ja sehen, ob wir etwas finden, was gleichzeitig in beide Richtungen zeigt.≪

≫Ganz meine Meinung≪, sagte Wallander. ≫Dabei werde ich aber das Gefühl nicht los, daß irgendwas an dem Ganzen seltsam ist. Wir sollten möglichst bald herausfinden, was.≪

≫Jeder Mordfall ist seltsam≪, sagte Svedberg.

≫Ich meine etwas anderes. Ich weiß auch nicht, wie ich mich ausdrücken soll.≪

Björk mahnte, zu einer Entscheidung zu kommen.

≫Da ich angefangen habe, im Fall Gustaf Torstensson herumzustochern, kann ich ja gleich weitermachen≪, sagte Wallander. ≫Hat jemand Einwände?≪

≫Dann halten wir anderen uns an Sten Torstensson≪, sagte Martinsson. ≫Ich nehme an, daß du wie üblich zunächst lieber auf eigene Faust arbeitest?≪

≫Nicht unbedingt. Aber wenn ich es recht verstehe, gibt es mit Sten Torstensson bedeutend mehr Komplikationen. Sein Vater hatte viel weniger Klienten und führte ein überschaubareres Leben.≪

≫Dann verfahren wir so≪, entschied Björk und klappte seinen Terminkalender geräuschvoll zu. ≫Wir stimmen uns wie immer jeden Tag um vier Uhr ab. Im übrigen erwarte ich Unterstützung bei der heutigen Pressekonferenz.≪

≫Ich nicht≪, sagte Wallander erschrocken. ≫Das schaffe ich nicht.≪

≫Ich hatte auch eher an Ann-Britt gedacht≪, sagte Björk. ≫Es schadet nichts, wenn die Leute wissen, daß sie zu uns gehört.≪

≫Das tu ich doch gern≪, meinte sie zur Verwunderung der anderen. ≫Da kann ich noch etwas lernen.≪

Als alle auseinandergingen, bat Wallander Martinsson, noch zu bleiben. Als sie allein waren, schloß er die Tür. ≫Wir müssen mal miteinander reden. Ich werde das Gefühl nicht los, hier einfach hereingeplatzt zu sein und das Kommando übernommen zu haben. Dabei wollte ich doch eigentlich nur mein Abschiedsgesuch unterschreiben.≪

≫Wir wundern uns natürlich≪, antwortete Martinsson. ≫Das mußt du verstehen. Auch wir sind unsicher.≪

≫Ich habe Angst, jemandem auf die Zehen zu treten.≪

Martinsson brach in Lachen aus. Dann schneuzte er sich.

≫Das schwedische Polizeikorps teilt sich in zwei Gruppen. Der einen tun die Zehen weh, die andere ist chronisch überfordert. Je mehr Polizisten zu Beamten werden, desto stärker plagt sie der Karrierenerv. Gleichzeitig beinhaltet die täglich zunehmende Bürokratisierung, daß Mißverständnisse und Unklarheiten entstehen. Daher die chronisch Überforderten. Manchmal kann ich Björks Befürchtungen verstehen. Wohin soll das noch führen, was wird aus der einfachen und grundlegenden Polizeiarbeit?≪

≫Das Polizeikorps ist immer Spiegel seiner Umgebung gewesen≪, sagte Wallander. ≫Aber ich verstehe, was du meinst. Schon Rydberg hat das gemerkt. Was hältst du von Ann-Britt Höglund?≪

≫Sie ist tüchtig. Hansson und Svedberg haben Angst vor ihr, weil sie so clever ist. Zumindest Hansson fürchtet, ins Hintertreffen zu geraten. Deshalb verbringt er ja inzwischen die meiste Zeit in verschiedenen Weiterbildungskursen.≪

≫Sie verkörpert den Polizistentyp der neuen Zeit≪, sagte Wallander und stand auf.

An der Tür blieb er stehen. ≫Du hast gestern etwas gesagt, was bei mir hängengeblieben ist. Etwas über Sten Torstensson. Ich hatte das Gefühl, daß es wichtiger war, als es klang.≪

≫Ich habe von meinem Notizblock abgelesen≪, antwortete Martinsson. ≫Ich kann dir eine Kopie geben.≪

≫Das Risiko ist groß, daß ich mir Sachen einbilde≪, sagte Wallander.

Als er in seinem Büro war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte er, daß er wieder über etwas verfügte, was er lange entbehrt hatte: einen Willen. Offenbar war in der zurückliegenden Zeit nicht alles verlorengegangen.

Er saß am Schreibtisch und versuchte, sich aus der Distanz selbst zu beobachten, den schwankenden Mann auf den Westindischen Inseln, den hoffnungslosen Reisenden in Thailand, den Kerl, der viele Tage und Nächte lang bloß irgendwie funktionierte. Er sah sich selbst und merkte, daß er diesen Menschen jetzt verlassen hatte. Er konnte ihn vergessen.

Er schauderte bei der Vorstellung, welche katastrophalen Folgen seine Handlungen hätten haben können. Er dachte lange an seine Tochter Linda. Erst als Martinsson klopfte und ihm eine Kopie seiner Aufzeichnungen vom Vortag hereinreichte, verscheuchte er die Bilder. Er war überzeugt, daß jeder Mensch in sich einen kleinen Raum hat, in dem die Erinnerungen gesammelt liegen. Jetzt schob er einen Riegel vor und ließ ein kräftiges Vorhängeschloß zuschnappen. Dann ging er zur Toilette und spülte die Tabletten gegen Depressionen hinunter, die in einem Röhrchen in der Jacke gesteckt hatten.

Als er wieder im Büro war, begann er unverzüglich zu arbeiten. Es war inzwischen zehn Uhr. Er las sich Martinssons Notizen gründlich durch, ohne sagen zu können, was daran seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Es ist noch zu früh, dachte er. Rydberg hätte mich zur Geduld gemahnt. Jetzt muß ich erst einmal meinen eigenen Verstand bemühen.

Er überlegte einen Moment, wo er beginnen sollte. Dann suchte er Gustaf Torstenssons Privatadresse aus den Unterlagen heraus.

Timmermansgatan 12.

Die Straße lag in einem der ältesten und vornehmsten Villenviertel der Stadt. Er rief in der Anwaltskanzlei an und sprach mit Sonja Lundin. Sie sagte ihm, daß die Schlüssel zur Villa im Büro aufbewahrt würden. Wallander verließ das Polizeigebäude. Die schweren Regenwolken hatten sich aufgelöst, die Luft war klar, und er spürte den ersten kühlen Hauch des kommenden Winters. Als er den Wagen vor dem gelben Steinhaus stoppte, kam Sonja Lundin heraus und brachte ihm die Schlüssel.

Zweimal verfuhr er sich, bis er die Adresse gefunden hatte. Die braungestrichene große Holzvilla lag tief in einem Garten versteckt. Er parkte in der Einfahrt und lief den knirschenden Kiesweg entlang. Es war völlig still, und die Stadt schien weit entfernt zu sein. Eine Welt für sich, dachte er, während er sich umschaute. Torstenssons Kanzlei muß einiges abgeworfen haben. Teurere Häuser als dieses dürfte es in Ystad kaum geben. Der Garten war gut gepflegt, wirkte aber seltsam leblos. Hier und da Laubbäume, gestutzte Hecken, phantasielos angelegte Rabatten. Vielleicht schätzte es ein älterer Anwalt, von geraden Linien umgeben zu sein, eingeordnet in ein konventionelles Gartenmuster ohne Überraschungen. Wallander erinnerte sich, einmal gehört zu haben, Anwalt Gustaf Torstensson habe das Hohelied der Langeweile in das schwedische Prozeßwesen eingebracht. Böse Zungen behaupteten auch, der Sieg in einem Verfahren sei an Torstensson gegangen, weil der Staatsanwalt aus Verzweiflung über die schleppende, temperamentlose Verteidigung kapituliert habe. Wallander nahm sich vor, Per Åkeson über seine Erfahrungen mit Gustaf Torstensson zu befragen. Sie mußten im Laufe der Jahre mehrfach miteinander zu tun gehabt haben.

Er stieg die Treppe zum Eingang hinauf, suchte den richtigen Schlüssel und schloß auf. Es war eine komplizierte Mehrfachverriegelung, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er kam in eine große Halle, von der eine breite Treppe in die obere Etage führte. Die schweren Gardinen waren zugezogen. Als er eine zur Seite raffte, sah er, daß die Fenster vergittert waren. Ein einsamer älterer Mann mit seinen altersbedingten Ängsten, sagte er sich. Oder gab es hier noch etwas, was er schützen wollte? Hatte er Grund, sich vor etwas da draußen zu fürchten? Wallander erkundete das große Haus, zuerst das Erdgeschoß mit der Bibliothek, den Ahnenporträts, dem großen kombinierten Wohn- und Eßraum. Von der Tapete bis zum kleinsten Möbelstück war alles in dunklen Farben gehalten, was ein Gefühl von Schwermut und Schweigen vermittelte. Kein einziger fröhlicher Gegenstand, der Leichtigkeit verbreiten und zu einem Lächeln herausfordern könnte.

Er stieg die Treppe zum Obergeschoß hinauf. Gästezimmer mit akkurat gemachten Betten, verlassen wie in einem Strandhotel im Winter. Verwundert registrierte er, daß die Tür zu Gustaf Torstenssons Schlafraum von innen vergittert war. Er ging wieder hinunter; in diesem Haus fühlte er sich unbehaglich. Als er am Küchentisch saß und das Kinn auf die Handfläche stützte, war außer dem Ticken der Wanduhr kein Geräusch zu hören.

Gustaf Torstensson war 69 Jahre alt, als er starb. Die letzten fünfzehn Jahre nach dem Tod seiner Frau hatte er allein gelebt. Sten Torstensson war das einzige Kind gewesen. Der Kopie eines Ölgemäldes nach zu urteilen, die in der Bibliothek hing, hatte die Familie gemeinsame Wurzeln mit dem Heerführer Lennart Torstensson, der es im Dreißigjährigen Krieg zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hatte. Wallander erinnerte sich schwach an den Geschichtsunterricht in der Schule; der Mann war gegen die Landbevölkerung in den von seiner Armee besetzten Gebieten mit beispielloser Brutalität vorgegangen.

Wallander erhob sich und stieg die Kellertreppe hinab. Auch hier herrschte pedantische Ordnung. In der letzten Ecke, hinter dem Kesselraum, entdeckte Wallander eine verschlossene Stahltür. Er probierte die Schlüssel am Bund, bis er den richtigen hatte. Finsternis empfing ihn, offenbar gab es kein Fenster. Wallander tastete die Wand ab, bis er einen Lichtschalter fand.

Der Raum war überraschend groß. An den Wänden standen Reihen von Regalen, in denen sich osteuropäische Ikonen befanden. Ohne etwas anzufassen, drehte Wallander eine Runde und sah sich alles aus der Nähe an. Er war kein Kenner, aber er schätzte die Sammlung als sehr wertvoll ein. Das würde die Außengitter und das Schloß an der Haustür erklären, nicht jedoch die übertrieben gesicherte Schlafzimmertür. Das unbehagliche Gefühl verstärkte sich. Es kam ihm vor, als sei er in das innerste Geheimnis eines reichen alten Mannes eingedrungen — dem Leben entzogen und in ein Haus gesperrt, bewacht von der Gier, die sich in einer Unzahl von Madonnengesichtern manifestiert hatte.

Plötzlich zuckte er zusammen. Aus dem Obergeschoß waren Schritte zu hören, dann bellte ein Hund. Hastig verließ er den Raum, eilte die Treppe hinauf und trat in die Küche.

Verwundert starrte er den uniformierten Kollegen Peters an, der seine Dienstwaffe gezogen und auf ihn gerichtet hatte. Hinter ihm stand ein Mann von einer Wachgesellschaft, der einen knurrenden Hund an der Leine führte.

Peters ließ die Hand mit der Pistole sinken. Wallander spürte, wie sein Herz klopfte. Der Anblick der Waffe hatte ihm augenblicklich ins Gedächtnis gerufen, was er verdrängt zu haben glaubte.

Dann wurde er wütend. ≫Verdammt, was soll das?≪

≫Bei der Wachgesellschaft wurde Alarm ausgelöst, daraufhin hat man uns benachrichtigt≪, erklärte Peters aufgeregt. ≫Wir sind schnell hergefahren; wir wußten ja nicht, daß du hier bist.≪

Im selben Moment kam Peters Kollege Norén in die Küche. Auch er hatte die Pistole gezogen.

≫Hier läuft eine Ermittlung≪, sagte Wallander und merkte, wie seine Wut verebbte. ≫In diesem Haus hat Anwalt Torstensson gewohnt, der bei einem Autounfall ums Leben kam.≪

≫Wenn es Alarm gibt, rücken wir aus≪, sagte der Mann von der Wachgesellschaft trotzig.

≫Stellt das Signal ab≪, sagte Wallander. ≫In ein paar Stunden könnt ihr es wieder einschalten. Aber erst wird das Haus gründlich untersucht.≪

≫Das ist Kommissar Wallander≪, sagte Peters. ≫Du erinnerst dich sicher an ihn.≪

Der Wachmann war sehr jung. Er nickte. Aber Wallander merkte, daß er ihn keinesfalls wiedererkannt hatte.

≫Nimm den Hund mit raus≪, sagte Wallander. ≫Ihr werdet hier nicht mehr gebraucht.≪

Der Wachmann verließ mit dem knurrenden Schäferhund das Haus. Wallander reichte Peters und Norén die Hand.

≫Ich habe gehört, daß du zurück bist≪, sagte Norén. ≫Herzlich willkommen.≪

≫Danke.≪

≫War irgendwie nicht dasselbe, als du krank geschrieben warst≪, meinte Peters.

≫Na, jetzt bin ich jedenfalls hier≪, sagte Wallander, um das Gespräch auf die laufende Untersuchung zu lenken.

≫Der Informationsfluß ist auch nicht mehr der beste≪, sagte Norén. ≫Uns haben sie gesagt, du gingest in Pension. Da rechnet man ja nicht damit, daß du auftauchst, wenn in einem Haus Alarm ausgelöst wird.≪

≫Das Leben ist voller Überraschungen≪, sagte Wallander.

≫Also nochmals: willkommen≪, sagte Peters und streckte die Hand aus.

Zum ersten Mal hatte Wallander das Gefühl, daß die Freundlichkeit, die ihm entgegengebracht wurde, absolut echt war. Peters war kein Schauspieler, seine Worte waren einfach und überzeugend.

≫Das war eine schwere Zeit≪, sagte Wallander. ≫Aber jetzt ist es vorbei. Glaube ich jedenfalls.≪

Er verließ die Villa und winkte Peters und Norén zu, als sie im Streifenwagen verschwanden. Dann wanderte er noch eine Weile im Garten umher und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Dabei verbanden sich seine persönlichen Gefühle mit seinen Ansichten über den Fall der beiden Anwälte. Schließlich beschloß er, Frau Dunér bereits jetzt einen zweiten Besuch abzustatten. Es gab da ein paar Fragen, auf die er unbedingt eine Antwort haben wollte.

Kurz vor zwölf klingelte er an ihrer Tür und wurde eingelassen.

Diesmal nahm er die angebotene Tasse Tee dankend an. ≫Es tut mir leid, daß ich schon wieder stören muß≪, begann er. ≫Aber ich brauche Hilfe, um mir ein Bild von Vater und Sohn machen zu können. Wer war Gustaf Torstensson? Wer war Sten Torstensson? Sie haben dreißig Jahre mit dem Senior zusammengearbeitet …≪

≫Und neunzehn mit dem Junior≪, fügte sie hinzu.

≫Das ist eine lange Zeit. Da lernt man Menschen kennen. Beginnen wir mit Gustaf Torstensson. Bitte, beschreiben Sie ihn.≪

Ihre Antwort überraschte ihn. ≫Das kann ich nicht.≪

≫Warum nicht?≪

≫Ich kannte ihn nicht.≪

Sie meinte es ernst. Wallander mußte langsam vorgehen, sich die Zeit nehmen, die er sich im Namen der Ungeduld nicht zugestehen wollte.

≫Ich hoffe, Sie verstehen, daß mir diese Antwort seltsam vorkommt. Sie haben dreißig Jahre mit ihm zusammengearbeitet.≪

≫Nicht mit ihm. Für ihn. Das ist ein großer Unterschied.≪

Wallander nickte. ≫Auch wenn Sie Gustaf Torstensson privat nicht kannten, so müssen Sie doch eine ganze Menge über ihn wissen. Bitte helfen Sie mir, sonst werden wir den Mord an seinem Sohn nie aufklären können.≪

Wieder überraschte sie ihn. ≫Herr Kommissar, Sie sind nicht aufrichtig zu mir. Was ist eigentlich wirklich geschehen, als er sich totgefahren hat?≪

≫Das wissen wir noch nicht. Aber wir haben den Verdacht, daß im Zusammenhang mit dem Unfall da draußen auf der Straße etwas vorgefallen ist. Etwas, was das Unglück verursacht hat oder danach geschah.≪

≫Er ist die Strecke oft gefahren; er kannte sie in- und auswendig. Und er fuhr nie schnell.≪

≫Wenn ich es richtig verstanden habe, kam er vom Besuch bei einem seiner Klienten.≪

≫Von dem Mann auf Farnholm.≪

Wallander wartete vergeblich auf eine Fortsetzung.

≫Der Mann auf Farnholm?≪ fragte er.

≫Ja, Alfred Harderberg. Der Mann auf Schloß Farnholm.≪

Wallander wußte, daß Schloß Farnholm in einer abgelegenen Gegend auf der Südseite des Linderöd-Bergrückens lag. An dem Weg zum Schloß war er oft vorbeigekommen.

≫Harderberg war der größte Privatkunde der Kanzlei≪, fuhr Frau Dunér fort. ≫In den letzten Jahren war er Gustaf Torstenssons einziger Klient.≪

Wallander notierte sich den Namen auf einem Stück Papier, das er in der Tasche gefunden hatte. ≫Den Namen habe ich noch nie gehört. Ist das ein Gutsbesitzer?≪

≫Gutsbesitzer wird man, wenn man ein Schloß hat. Aber in erster Linie machte er Geschäfte. Große internationale Geschäfte.≪

≫Ich werde mich natürlich mit ihm in Verbindung setzen. Er muß eine der letzten Personen gewesen sein, die Gustaf Torstensson lebend getroffen haben.≪

Durch den Briefschlitz fielen Reklamezettel in den Korridor. Wallander sah, wie Frau Dunér zusammenzuckte.

Drei Menschen, die sich fürchten, dachte er. Aber wovor?

≫Gustaf Torstensson≪, versuchte er es von neuem. ≫Beschreiben Sie ihn mir bitte.≪

≫Er war der reservierteste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben getroffen habe≪, erklärte sie, und Wallander ahnte eine schwache Spur von Aggressivität in ihrer Stimme. ≫Er ließ niemals jemanden an sich heran. Er war pedantisch, mochte keine Veränderungen. Er war ein Mensch, nach dem man die Uhr stellen konnte, wie man so schön sagt. Für Gustaf Torstensson galt das uneingeschränkt. Er war blutlos wie ein Scherenschnitt, weder freundlich noch unfreundlich, nur langweilig.≪

≫Laut Sten Torstensson war er auch ein fröhlicher Mensch≪, wandte Wallander ein.

≫Davon habe ich nie etwas gemerkt≪, sagte Frau Dunér abweisend.

≫Wie war das Verhältnis von Vater und Sohn?≪

Sie antwortete bestimmt und ohne zu zögern. ≫Gustaf Torstensson war irritiert, weil sein Sohn versuchte, das Büro zu modernisieren. Und Sten Torstensson meinte natürlich, daß sein Vater in vielerlei Hinsicht eine Belastung war. Aber keiner zeigte es dem anderen. Beide scheuten offene Konflikte.≪

≫Bevor Sten Torstensson starb, äußerte er, daß sein Vater in den letzten Monaten irgendwie beunruhigt gewesen sei. Was ist Ihr Kommentar dazu?≪

Diesmal überlegte sie lange, bevor sie antwortete. ≫Kann sein. Jetzt, wo Sie es sagen. In den letzten Monaten seines Lebens wirkte er wie abwesend.≪

≫Haben Sie dafür eine Erklärung?≪

≫Nein.≪

≫Es ist nichts Besonderes geschehen?≪

≫Nein, nichts.≪

≫Ich möchte, daß Sie noch einmal in Ruhe nachdenken. Es kann sehr wichtig sein.≪

Sie goß sich etwas Tee nach und überlegte. Wallander wartete. Dann hob sie den Blick und sah ihn an. ≫Ich kann nicht antworten. Ich habe keine Erklärung.≪

Wallander merkte, daß sie nicht die Wahrheit sagte. Aber er beschloß, sie nicht unter Druck zu setzen. Alles war noch zu unklar und schwebend; die Zeit war noch nicht reif.

Er schob die Tasse zur Seite und stand auf. ≫Dann will ich nicht länger stören≪, sagte er lächelnd. ≫Danke für das Gespräch. Aber ich muß Sie vorwarnen; ich werde sicher nochmals kommen.≪

≫Natürlich.≪

≫Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an≪, sagte Wallander, als er bereits auf der Straße stand. ≫Zögern Sie nicht. Die kleinste Kleinigkeit kann wichtig sein.≪

≫Ich werde daran denken≪, sagte sie und schloß die Tür.

Wallander setzte sich ins Auto, ohne den Motor anzulassen. Ein Gefühl des Unbehagens hatte ihn ergriffen. Ohne es begründen zu können, ahnte er, daß sich etwas Großes, Schwerwiegendes und Erschreckendes hinter dem Fall der toten Anwälte verbarg.

Etwas führt uns in die falsche Richtung, dachte er. Ich muß in Betracht ziehen, daß die Ansichtskarte aus Finnland vielleicht keine falsche Spur ist, sondern die richtige.

Er wollte gerade den Motor starten, als er merkte, daß ihn jemand von der anderen Straßenseite her beobachtete.

Es war eine junge Frau, kaum älter als zwanzig, eine Asiatin. Als sie sah, daß Wallander auf sie aufmerksam geworden war, lief sie davon. Wallander sah im Rückspiegel, wie sie, ohne sich umzudrehen, nach rechts in die Hamngata einbog.

Er war sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben.

Das mußte aber nicht bedeuten, daß sie ihn nicht wiedererkannt hatte. In seinen Jahren als Polizist hatte er in verschiedenen Zusammenhängen oft Flüchtlinge und Asylsuchende getroffen.

Er fuhr zum Polizeigebäude zurück. Der Wind war immer noch böig. Von Osten näherte sich ein Wolkenband. Er war gerade in den Kristianstadväg eingebogen, als er plötzlich scharf bremste. Hinter ihm ertönte das wütende Hupen eines Lastwagens.

Ich reagiere zu langsam, dachte er. Ich sehe nicht einmal, was ganz eindeutig ist.

Nach einem gewagten Wendemanöver fuhr er die Strecke zurück, die er gekommen war. Er parkte den Wagen vor der Post in der Hamngata und eilte dann in die Querstraße, die von Norden zur Stickgata führte. Er stellte sich so, daß er das rosa Haus beobachten konnte, in dem Frau Dunér wohnte.

Es war kalt, und er ging langsam auf und ab, behielt aber den Eingang immer im Auge.

Nach einer Stunde erwog er aufzugeben. Aber er war sicher, daß sein Verdacht begründet war. So setzte er die Beobachtung fort, während Per Åkeson vergebens auf ihn wartete.

Genau sieben Minuten vor halb vier wurde die Tür des rosa Hauses geöffnet. Wallander glitt schnell hinter einen Mauervorsprung.

Er hatte recht gehabt. Die Asiatin verließ Berta Dunérs Wohnung und verschwand um die Ecke.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen.

5

Das Treffen der Ermittlungsgruppe begann Punkt vier Uhr und dauerte sieben Minuten. Wallander kam als letzter und sank auf seinen Stuhl. Er war verschwitzt und außer Atem. Die Kollegen am Tisch sahen ihn verwundert an, aber niemand machte eine Bemerkung.

Nach ein paar Minuten war Björk klar, daß keiner etwas Entscheidendes zu berichten oder zur Diskussion zu stellen hatte. Das war ein Stadium der Ermittlung, in dem sich Polizisten, ihrer eigenen Terminologie nach, in Tunnelgräber verwandelt hatten. Jeder versuchte, den Durchbruch zu schaffen und das Verborgene zu erreichen. Es war eine regelmäßig wiederkehrende Situation während einer Morduntersuchung. Der einzige, der schließlich etwas zu fragen hatte, war Wallander.

≫Wer ist Alfred Harderberg?≪ wollte er wissen, nachdem er einen Blick auf seinen Notizzettel geworfen hatte.

≫Ich dachte, das wüßte jeder≪, antwortete Björk. ≫Harderberg ist derzeit einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner des Landes. Er wohnt hier in Schonen. Wenn er nicht gerade in seinem Privatjet in der Weltgeschichte herumfliegt.≪

≫Ihm gehört Schloß Farnholm≪, fügte Svedberg hinzu. ≫Er soll ein Aquarium haben, dessen Boden mit Goldsand bedeckt ist.≪

≫Er war Gustaf Torstenssons Klient≪, sagte Wallander. ≫Sein wichtigster Klient. Und sein letzter. Torstensson hatte Harderberg an jenem Abend besucht, an dem er draußen auf dem Acker starb.≪

≫Er organisiert private Sammlungen für die Notleidenden in den Kriegsgebieten auf dem Balkan≪, sagte Martinsson. ≫Aber das ist vielleicht nicht so schwer, wenn man Geld wie Heu hat.≪

≫Alfred Harderberg ist ein Mann, der Respekt verdient≪, sagte Björk.

Wallander war leicht irritiert. ≫Meinetwegen. Aber ich werde ihn trotzdem besuchen.≪

≫Ruf vorher an≪, sagte Björk und erhob sich.

Das war die ganze Besprechung. Wallander holte Kaffee und ging in sein Büro. Er wollte in Ruhe darüber nachdenken, was der Besuch einer jungen Asiatin bei Frau Dunér bedeuten konnte. Möglicherweise gar nichts. Aber Wallanders Instinkt sagte etwas anderes. Er legte die Füße auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück. Die Kaffeetasse balancierte er auf dem Knie.

Das Telefon klingelte. Als Wallander nach dem Hörer griff, rutschte ihm die Tasse aus der Hand, der Kaffee floß über seine Hose.

≫Verdammt≪, fluchte er.

≫Du brauchst gar nicht unverschämt zu werden≪, sagte sein Vater, der am anderen Ende der Leitung war. ≫Ich wollte nur wissen, warum du nie anrufst.≪

Sofort bekam Wallander ein schlechtes Gewissen. Er fragte sich, ob es jemals ein offenes und spannungsfreies Gespräch zwischen ihm und seinem Vater geben würde. ≫Mir ist die Kaffeetasse runtergefallen≪, versuchte er zu erklären. ≫Ich habe mir die Hose versaut.≪

Der Vater schien nicht zugehört zu haben. ≫Wieso bist du in deinem Büro? Du bist doch krank geschrieben?≪

≫Nicht mehr. Ich arbeite wieder.≪

≫Seit wann?≪

≫Seit gestern.≪

≫Gestern?≪

Wallander merkte, daß sich das Gespräch ewig hinziehen würde, wenn es ihm nicht gelang, es schnellstens abzubrechen.

≫Ich weiß, daß ich dir eine Erklärung schuldig bin. Aber jetzt geht es nicht. Ich komme morgen abend zu dir raus. Dann erzähle ich dir, was passiert ist.≪

≫Ich habe dich so lange nicht gesehen≪, murmelte der Vater und legte auf.

Wallander blieb einen Augenblick mit dem Hörer in der Hand sitzen. Sein Vater, der im nächsten Jahr fünfundsiebzig wurde, rief in ihm stets widersprüchliche Gefühle hervor. Soweit er sich erinnern konnte, war ihr Verhältnis immer kompliziert gewesen. Das hatte sich nicht zuletzt an jenem Tag gezeigt, an dem er seinem Vater mitteilte, er wolle Polizist werden. In den fünfundzwanzig Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte der Vater keine Möglichkeit ausgelassen, diesen Entschluß zu kritisieren. Wallander seinerseits konnte nie das schlechte Gewissen loswerden, sich nicht so um den alternden Mann zu kümmern, wie er es tun sollte. Im Jahr zuvor, als er zu seinem Erstaunen erfahren hatte, daß der Vater eine dreißig Jahre jüngere Frau heiraten wollte, die bisher dreimal in der Woche als Haushaltshilfe kam, war er überzeugt, daß nun für ausreichend Gesellschaft gesorgt wäre. Jetzt, als er mit dem Hörer in der Hand dasaß, wurde ihm klar, daß sich im Grunde nichts geändert hatte.

Er legte auf, hob die Kaffeetasse vom Boden und tupfte das Hosenbein mit einem Stück Papier aus seinem Schreibblock ab. Dann fiel ihm ein, daß er sich mit Staatsanwalt Per Åkeson in Verbindung setzen mußte. Die Sekretärin stellte das Gespräch sofort durch. Wallander erklärte, er sei aufgehalten worden, und Per Åkeson schlug einen Termin am kommenden Vormittag vor.

Anschließend holte sich Wallander eine frische Tasse Kaffee. Im Flur stieß er mit Ann-Britt Höglund zusammen, die einen Stapel Aktenordner schleppte.

≫Wie geht es voran?≪ fragte Wallander.

≫Langsam≪, erwiderte sie. ≫Ich werde das Gefühl nicht los, daß mit diesen beiden toten Anwälten etwas nicht stimmt.≪

≫Genau das meine ich auch. Warum glaubst du das?≪

≫Ich weiß nicht.≪

≫Laß uns morgen darüber reden. Nach meinen Erfahrungen sollte man das, was man nicht in Worte fassen kann, nie unterschätzen.≪

In seinem Büro legte er den Telefonhörer neben den Apparat und nahm sich den Schreibblock vor. In Gedanken kehrte er an den kalten Strand von Skagen zurück, und Sten Torstensson kam ihm aus dem Nebel entgegen. Für mich hat diese Ermittlung bereits damals begonnen, dachte er. Als Sten Torstensson noch lebte.

Langsam ging er durch, was er bisher über die beiden toten Anwälte wußte. Er war wie der Soldat auf einem vorsichtigen Rückzug, die Aufmerksamkeit auf das Gebüsch am Weg gerichtet. Es dauerte über eine Stunde, bis er die zur Verfügung stehenden Fakten überblickte.

Was ist das, was ich wahrnehme, ohne es wirklich zu sehen, dachte er immer wieder. Als er den Stift zur Seite legte, konnte er jedoch nur grimmig konstatieren, daß er außer einem zierlich geformten Fragezeichen nichts zustande gebracht hatte.

Zwei tote Anwälte. Der eine stirbt bei einem seltsamen Autounfall, der aller Wahrscheinlichkeit nach arrangiert war. Der Mörder Gustaf Torstenssons war ein kaltblütiger Täter, der sein Verbrechen vertuschen wollte; das Stuhlbein im Lehm war ein merkwürdiger Fehler. Hier gibt es also ein Warum und ein Wer, entschied er. Aber vielleicht auch noch mehr.

Plötzlich erkannte er, daß er vor einem Stein stand, den er unmittelbar ins Rollen bringen konnte. In seinen Notizen suchte er nach Frau Dunérs Telefonnummer. Sie antwortete sofort.

≫Tut mir leid, daß ich störe≪, sagte er. ≫Hier ist Kommissar Wallander. Ich habe eine Frage, die ich gern gleich beantwortet hätte.≪

≫Natürlich, wenn ich Ihnen helfen kann.≪

Eigentlich habe ich ja zwei Fragen, schoß es Wallander durch den Kopf. Aber die nach der Asiatin hebe ich mir noch auf.

≫An dem Abend, an dem Gustaf Torstensson starb, hatte er Schloß Farnholm besucht≪, begann er. ≫Wer wußte davon, daß er seinen Klienten an genau diesem Abend aufsuchen würde?≪

Sie überlegte eine Weile, bevor sie antwortete. Wallander war sich nicht sicher, ob es so lange dauerte, weil sie sich erst erinnern mußte oder weil sie nach einer angemessenen Formulierung suchte.

≫Ich wußte es natürlich≪, sagte sie. ≫Es ist möglich, daß ich es Fräulein Lundin gegenüber erwähnt habe. Aber sonst wußte es niemand.≪

≫Sten Torstensson hatte keine Ahnung?≪

≫Ich glaube nicht. Die beiden führten separate Terminkalender.≪

≫Mit anderen Worten: Nur Sie haben von dem Besuch gewußt.≪

≫Ja.≪

≫Ich bitte nochmals um Entschuldigung für die Störung≪, sagte Wallander und beendete das Gespräch.

Er widmete sich wieder seinen Aufzeichnungen. Gustaf Torstensson fährt zu einem Klienten. Auf dem Heimweg wird ein Attentat auf ihn verübt; ein Mord, als Autounfall getarnt.

Er dachte an Frau Dunérs Antwort, sie sei die einzige, die von der Fahrt des alten Anwalts gewußt habe.

Sie hat die Wahrheit gesagt. Aber der Schatten der Wahrheit interessiert mich mehr. Denn eigentlich bedeutet ihre Antwort, daß außer ihr nur der Mann auf Schloß Farnholm wußte, was Gustaf Torstensson an diesem Abend tun würde.

Er setzte seine Gedankenwanderung fort. Die Szenerie einer Ermittlung änderte sich unaufhörlich. Da war das düstere Haus mit dem komplizierten Sicherheitssystem und der im Keller verborgenen Ikonensammlung. Als er nicht weiterzukommen schien, wechselte er zu Sten Torstensson. Nun kam er sich vor wie in einem undurchdringlichen Dickicht. Sten Torstenssons unerwartete Ankunft in seinem stürmischen Revier an der Küste, mit Nebelhörnern vom Meer her, und das verlassene Café im Kunstmuseum schienen Wallander Bestandteile einer zweifelhaften Operettenintrige zu sein. Aber es gab in der Inszenierung Augenblicke, in denen das Leben ernst genommen wurde. Wallander bezweifelte nicht, daß Sten Torstensson seinen Vater wirklich unruhig und aufgeregt erlebt hatte. Er bezweifelte ebensowenig, daß die von unbekannter Hand abgeschickte Ansichtskarte aus Finnland, die von Sten Torstensson bestellt worden war, eine Botschaft enthielt; eine Bedrohung existierte, die eine falsche Fährte erzwang. Falls nicht die falsche Fährte die Wahrheit war.

Nichts paßt zusammen, dachte Wallander. Aber dennoch lassen sich die Dinge irgendwie einordnen. Schlimmer ist es mit den losen Enden, mit der Asiatin zum Beispiel, die nicht will, daß jemand sieht, wie sie Berta Dunérs rosa Haus betritt. Und Frau Dunér selbst, die geschickt lügt, aber nicht geschickt genug. Man ahnt, daß da etwas nicht stimmt.

Wallander stand auf, streckte den Rücken und trat ans Fenster. Sechs Uhr, es war bereits dunkel. Vom Flur her waren vereinzelt Geräusche zu hören; Schritte näherten sich und verhallten dann. Eine Bemerkung Rydbergs kam ihm in den Sinn: ≫Ein Polizeigebäude ist im Grunde wie ein Gefängnis gebaut. Wir leben wie spiegelverkehrte Abbildungen voneinander, Verbrecher und Polizisten. Wir können nie wissen, wer sich eigentlich innerhalb oder außerhalb der Mauern befindet.≪

Wallander fühlte sich plötzlich müde und verlassen. Wie immer in solchen Situationen griff er auf den einzigen Trost zurück, den er hatte: Er begann, in Gedanken mit Baiba Liepa in Riga zu sprechen, als stünde sie vor ihm im Raum, als wäre der Raum ein anderer, als befände er sich in einem grauen Rigaer Haus mit verwitterter Fassade, in der Wohnung mit dem gedämpften Licht und den schweren, stets zugezogenen Vorhängen. Aber das Bild verlor an Kraft und verblaßte. Statt dessen sah Wallander sich selbst, wie er auf lehmbeschmierten Knien durch den schonischen Nebel kroch, ein Schrotgewehr in der einen, eine Pistole in der anderen Hand — die pathetische Kopie eines unglaubwürdigen Filmhelden; aber dann riß der Film, und die Wirklichkeit zeigte sich, und plötzlich war der Tod keine Idee des Drehbuchautors mehr, sondern nackte Realität. Er sah sich selbst, wie er als Augenzeuge einer Exekution beiwohnte; ein Mensch wurde durch einen Schuß direkt in die Stirn umgebracht. Und dann schießt er selbst, und er weiß eines ganz genau: Er will, daß der Mann, auf den er zielt, stirbt.

Ich bin ein Mensch, der zu selten lacht, dachte er. Ohne daß ich es gemerkt habe, bin ich in meinen sogenannten besten Jahren auf eine Küste zugetrieben, vor der gefährliche Klippen lauern.

Er verließ sein Büro, ohne irgendwelche Unterlagen mitzunehmen. Ebba in der Anmeldung telefonierte. Als sie ihm ein Zeichen machte, daß es noch einen Moment dauern würde, wedelte er abwehrend mit den Händen und signalisierte, er habe an diesem Abend noch etwas Wichtiges vor.

Dann fuhr er nach Hause und machte sich Abendbrot, an das er sich nach dem Essen nicht mehr erinnern konnte. Er goß die fünf Blumentöpfe auf den Fensterbrettern und stopfte die herumliegenden schmutzigen Kleidungsstücke in den Wäschekorb. Dann setzte er sich auf das Sofa und schnippelte und feilte an seinen Nägeln. Ab und zu schaute er sich im Zimmer um, als erwarte er, trotz allem nicht allein zu sein. Kurz nach zehn ging er zu Bett und schlief sofort ein. Der Regen hatte allmählich nachgelassen und war zu einem leichten Nieseln geworden.

Als Wallander am Mittwochmorgen erwachte, war es noch dunkel. Die Leuchtzeiger des Weckers standen auf fünf Uhr. Er drehte sich auf die Seite, um noch einmal einzuschlafen, blieb aber wach. Er war unruhig. Die lange Zeit draußen in der Kälte machte sich immer noch bemerkbar. Nichts wird jemals wieder so wie früher, dachte er. Was auch immer geschehen mag, ich werde in Zukunft mit zwei Zeitrechnungen leben müssen, mit einem Davor und einem Danach. Kurt Wallander existiert und existiert wiederum auch nicht.

Um halb sechs stand er auf, trank Kaffee, wartete auf die Zeitung und las am Thermometer ab, daß draußen vier Grad plus herrschten. Getrieben von einer Unruhe, die er weder beschreiben noch unterdrücken konnte, verließ er bereits um sechs die Wohnung. Er setzte sich ins Auto und startete. Im selben Augenblick fiel ihm ein, daß er ja bereits jetzt nach Norden fahren könnte, um einen Besuch auf Schloß Farnholm zu machen. Unterwegs würde er irgendwo eine Tasse Kaffee trinken und sich telefonisch anmelden. Er nahm die westliche Ausfahrt. Als er das militärische Übungsgelände passierte, wo er vor knapp zwei Jahren den letzten Kampf des alten Wallander bestanden hatte, vermied er es, nach rechts zu schauen. Da draußen im Nebel hatte er einsehen müssen, daß es Menschen gab, die vor keiner Form der Gewalt zurückschreckten, die nicht zögerten, Hinrichtungen vorzunehmen, wenn es ihren Zielen diente.

Da draußen hatte er, im Lehm kniend, verzweifelt sein Leben verteidigt und durch einen gezielten Schuß einen Menschen getötet. Das war ein Punkt, von dem es kein Zurück gab — Begräbnis und Geburt auf einmal.

Er fuhr den Kristianstadväg entlang und bremste ab, als er an der Stelle vorbeikam, wo Gustaf Torstensson gestorben war. Als er das große Einkaufszentrum erreicht hatte, parkte er vor dem Café und ging hinein. Es war windig geworden. Er hätte eine wärmere Jacke anziehen, er hätte überhaupt darüber nachdenken sollen, wie er sich kleidete, wenn er einen Schloßherrn besuchte. Abgetragene Cordhosen und eine etwas schmuddlige Jacke waren vielleicht nicht ganz angemessen. Ihm schoß die Frage durch den Kopf, wie Björk sich wohl herausgeputzt hätte, wäre er auf dem Weg in ein Schloß, und sei es in dienstlicher Mission.

Er war allein im Lokal und bestellte Kaffee und ein Käsebrötchen. Es war Viertel vor sieben. Zerstreut blätterte er in einer alten Illustrierten, die er von einer Ablage genommen hatte. Nach einigen Minuten wurde er müde und versuchte, einige Fragen zu formulieren, die er Alfred Harderberg beziehungsweise demjenigen stellen wollte, der von Gustaf Torstenssons letztem Klientenbesuch berichten konnte. Er wartete, bis es halb acht war. Dann lieh er sich das Telefon von der Kasse und rief zuerst im Polizeigebäude von Ystad an. Von den Kollegen war nur der Frühaufsteher Martinsson erreichbar. Wallander erklärte, wo er sich befand, und daß er mit einem mehrstündigen Besuch rechnete.

≫Weißt du, was mein erster Gedanke war, als ich heute morgen aufgewacht bin?≪ fragte Martinsson.

≫Nein?≪

≫Daß Sten Gustafsson seinen Vater ermordet hat.≪

≫Wie erklärst du dann, was mit ihm selbst geschehen ist?≪ fragte Wallander verwundert.

≫Gar nicht≪, sagte Martinsson. ≫Mir wird aber immer klarer, daß die Lösung in ihrem Beruf liegen muß, nicht im Privatleben.≪

≫Oder in einer Kombination von beidem≪, sagte Wallander nachdenklich.

≫Was meinst du?≪

≫Ich habe heute nacht so etwas geträumt≪, sagte Wallander ausweichend. ≫Bis später dann.≪

Er legte auf, griff aber gleich wieder zum Hörer, um die Nummer von Schloß Farnholm zu wählen. Schon beim ersten Rufzeichen wurde abgenommen.

≫Schloß Farnholm≪, sagte eine Frauenstimme.

≫Hier ist Kommissar Wallander von der Polizei Ystad≪, stellte er sich vor. ≫Ich würde gern mit Alfred Harderberg sprechen.≪

≫Er befindet sich in Genf≪, sagte die Frau in gebrochenem Schwedisch.

Wallander ärgerte sich über seine Naivität. Auf die Idee, der international agierende Geschäftsmann könnte auf Reisen sein, hätte er natürlich kommen müssen.

≫Wann wird er zurück sein?≪

≫Das hat er nicht mitgeteilt.≪

≫Morgen oder nächste Woche?≪

≫Das möchte ich am Telefon nicht sagen. Seine Reisen unterliegen strengster Verschwiegenheit.≪

≫Ich bin Polizist≪, sagte Wallander scharf und merkte, daß er wütend wurde.

≫Wie kann ich das wissen? Sie können sonstwer sein.≪

≫Ich werde in einer halben Stunde im Schloß sein. Nach wem soll ich dort fragen?≪

≫Das entscheiden die Wachmänner am Tor. Ich hoffe, Sie können sich ausreichend legitimieren.≪

≫Was heißt ausreichend?≪

≫Das entscheiden wir≪, antwortete die Frau.

Das Gespräch wurde unterbrochen. Wütend schmetterte Wallander den Hörer auf die Gabel. Die füllige Serviererin, die Gebäck auf einen Teller legte, sah ihn mißbilligend an. Er warf Geldstücke auf den Tisch und ging grußlos davon.

Fünfzehn Kilometer nördlich bog er nach links ab und war bald mitten im dichten Wald auf der Südseite des LinderödBergrückens. Vor der Kreuzung, von der die Zufahrt nach Schloß Farnholm abgehen mußte, bremste er. Eine Granittafel mit goldenen Buchstaben bestätigte, daß er auf dem richtigen Weg war. Die Hinweistafel erinnerte Wallander an einen protzigen Grabstein.

Der Weg zum Schloß war asphaltiert und bestens gepflegt. Zwischen Bäumen versteckt schlängelte sich ein hoher Zaun dahin. Wallander fuhr langsamer und kurbelte die Scheibe herunter, um besser sehen zu können. Es handelte sich um einen Doppelzaun mit etwa einem Meter Zwischenraum. Kopfschüttelnd kurbelte er die Scheibe wieder hoch. Nach einem weiteren Kilometer machte der Weg eine scharfe Biegung, und schon hielt er vor einem eisernen Tor. Daneben befand sich ein grauer Flachbau, der an einen Bunker erinnerte. Wallander wartete. Nichts geschah. Er hupte. Weiterhin keine Reaktion. Wütend stieg er aus dem Wagen. Irgendwie fühlte er sich durch die Zäune und das geschlossene Tor gedemütigt. Im selben Augenblick trat ein Mann aus der Stahltür des Bunkers. Er trug eine Uniform, die Wallander nie zuvor gesehen hatte. Es fiel Wallander immer noch schwer, sich an all die vielen und ihm unbekannten Wachunternehmen zu gewöhnen, die sich im Land etabliert hatten.

Der Mann in der dunkelroten Uniform kam auf ihn zu. Sie waren ungefähr im selben Alter.

Da erkannte er ihn.

≫Kurt Wallander≪, sagte der Wachmann. ≫Wir haben uns ja lange nicht getroffen.≪

≫Stimmt. Wie lange ist es jetzt her? Fünfzehn Jahre?≪

≫Zwanzig. Vielleicht mehr.≪

Wallander war jetzt der Name des Mannes eingefallen. Sie hatten denselben Vornamen, Kurt. Der andere hieß Ström mit Nachnamen. Einst hatten sie beide in Malmö ihren Polizeidienst versehen. Im Vergleich zu dem damals jungen und unerfahrenen Wallander war Ström der viel Ältere gewesen. Ihr Kontakt hatte sich auf Berufliches beschränkt. Dann war Wallander nach Ystad gezogen; irgendwann hatte er gehört, daß Ström nicht mehr bei der Polizei war. Vage konnte er sich an das Gerücht erinnern, Ström sei gefeuert worden, um etwas zu vertuschen, vielleicht einen Übergriff auf eine verhaftete Person, oder wegen des Verdachts, Diebstähle aus dem Verwahrungsraum des Reviers begangen zu haben. Aber er wußte nichts Genaues.

≫Dein Besuch wurde mir bereits angekündigt≪, sagte Ström.

≫Mein Glück. Man hat mich um eine ausreichende Legitimation gebeten. Welche akzeptierst du?≪

≫Sicherheit wird auf Schloß Farnholm großgeschrieben. Wir kontrollieren alle, die hereinwollen, sehr genau.≪

≫Was für Reichtümer verbergen sich denn hier?≪

≫Keine Reichtümer. Aber hier wohnt ein Mann, der große Geschäfte macht.≪

≫Alfred Harderberg?≪

≫Genau. Er hat, was viele gern hätten.≪

≫Was denn?≪

≫Wissen, Kenntnisse, Informationen. Das ist mehr wert als eine Banknotendruckerei.≪

Wallander nickte; er verstand. Aber die Unterwürfigkeit Ströms vor dem großen Mann berührte ihn unangenehm. ≫Du warst einmal Polizist≪, sagte er. ≫Ich bin es immer noch. Du verstehst vielleicht, warum ich hier bin?≪

≫Ich lese Zeitung. Ich nehme an, es hat mit dem Anwalt zu tun.≪

≫Es sind zwei Anwälte gestorben, nicht nur einer. Aber soweit ich weiß, hatte nur der ältere mit Harderberg zu tun.≪

≫Er kam oft her≪, bestätigte Ström. ≫Ein freundlicher Mann. Sehr diskret.≪

≫Am Abend des 11. Oktober war er zum letzten Mal hier. Hattest du da Dienst?≪

Ström nickte.

≫Ich nehme an, ihr führt Aufzeichnungen über passierende Fahrzeuge oder Personen?≪

Ström lachte laut heraus. ≫Das machen wir schon lange nicht mehr. Wozu gibt es Computer?≪

≫Dann möchte ich gern einen Ausdruck über den Abend des 11. Oktober.≪

≫Um den mußt du oben im Schloß bitten. Ich darf so etwas nicht herausgeben.≪

≫Aber du darfst dich vielleicht erinnern.≪

≫Ich weiß, daß er an jenem Abend hier war. Aber ich erinnere mich nicht, wann er kam und wieder abfuhr.≪

≫War er allein im Wagen?≪

≫Das kann ich nicht beantworten.≪

≫Weil du nicht darfst?≪

Ström nickte.

≫Ich habe manchmal daran gedacht, zu einer privaten Wachgesellschaft zu wechseln≪, sagte Wallander. ≫Aber ich glaube, ich könnte mich schwer daran gewöhnen, nicht auf Fragen antworten zu dürfen.≪

≫Alles hat seinen Preis.≪

Da muß ich ihm recht geben, dachte Wallander. Er sah Ström einen Augenblick prüfend an. ≫Alfred Harderberg, wie ist er so als Mensch?≪

Ströms Antwort überraschte ihn. ≫Ich weiß nicht.≪

≫Du mußt doch eine Meinung haben. Oder darfst du auch darauf nicht antworten?≪

≫Ich habe ihn nicht kennengelernt.≪

Wallander spürte, daß er die Wahrheit sagte.

≫Wie lange arbeitest du jetzt für ihn?≪

≫Fast fünf Jahre.≪

≫Und du hast ihn noch nie gesehen?≪

≫Nein.≪

≫Und am Tor, wenn er das Gelände verläßt?≪

≫Die Scheiben seines Wagens sind dunkel getönt.≪

≫Ich nehme an, das gehört zum Sicherheitssystem.≪

Ström nickte.

Wallander dachte nach. ≫Mit anderen Worten: Du weißt nie ganz genau, ob er hier ist oder nicht. Du weißt nie, ob er wirklich drin sitzt, wenn der Wagen das Tor passiert?≪

≫Die Sicherheit erfordert es.≪

Wallander ging zum Auto zurück; Ström verschwand hinter der Stahltür. Kurz darauf öffnete sich lautlos das Tor. Wallander hatte den Eindruck, in eine andere Welt zu geraten.

Nach etwa einem Kilometer lichtete sich der Wald. Das Schloß lag auf einem Hügel, von einem weitläufigen, gepflegten Park umgeben. Das große Haupthaus war, ebenso wie die freistehenden Nebengebäude, aus dunkelroten Ziegeln errichtet. Es war ein richtiges Schloß, mit einem Turm und Zinnen, mit Balustraden und Balkons. Die Illusion einer Märchenwelt wurde einzig und allein durch einen Helikopter gestört, der auf einer Betonplatte stand. Die Maschine wirkte auf Wallander wie ein großes Insekt, das mit gefalteten Flügeln ruhte, jedoch jederzeit zum Leben erwachen konnte.

Langsam fuhr er auf den Haupteingang zu. Auf dem Weg stolzierten Pfauen würdevoll umher. Wallander parkte hinter einem schwarzen BMW und stieg aus. Rundum war alles still. Die Ruhe erinnerte ihn an den Vortag, als er den Kiesweg zu Gustaf Torstenssons Villa hinaufgegangen war. Vielleicht ist gerade die Stille charakteristisch für die Umgebung wohlhabender Menschen, dachte er. Kein Orchester, keine Fanfaren, sondern Ruhe und Schweigen.

Im selben Moment öffnete sich eine Hälfte der Doppeltür des Haupteingangs. Eine Frau in den Dreißigern, geschmackvoll und, wie Wallander vermutete, teuer gekleidet, zeigte sich auf der Treppe. ≫Bitte, kommen sie herauf≪, sagte sie und verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln, das zwar korrekt war, jedoch vor allem kalt und distanziert wirkte.

≫Ob ich mich in Ihren Augen ausreichend legitimieren kann, weiß ich nicht≪, sagte Wallander. ≫Ström, der Wachmann, hat mich aber wiedererkannt.≪

≫Ich weiß≪, entgegnete sie.

Es war nicht die Frau, mit der er vom Café aus telefoniert hatte. Er stieg die Steintreppe hinauf und wollte ihr zur Begrüßung die Hand reichen, doch sie wandte sich nur lächelnd ab, so daß ihm nichts weiter übrigblieb, als ihr zu folgen. Sie durchquerten eine weite Empfangshalle. Auf Steinsockeln standen, von unsichtbaren Lichtquellen angestrahlt, moderne Skulpturen. Im Hintergrund, an der breiten Treppe, die ins Obergeschoß führte, meinte Wallander im Schatten zwei Männer gesehen zu haben, deren Gesichter jedoch verborgen blieben. Die Stille und die Schatten, dachte er, das ist Alfred Harderbergs Welt, soweit ich mir bisher ein Bild machen konnte. Sie gingen durch eine Tür zur Linken und kamen in einen großen ovalen Raum, den ebenfalls Skulpturen schmückten. Aber da waren auch ein paar Ritterrüstungen, wohl um daran zu erinnern, daß zu einem richtigen Schloß auch eine kriegerische Vergangenheit gehört, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Mitten im Zimmer prunkte auf glänzendem Parkett ein Schreibtisch, vor dem ein einzelner Besucherstuhl stand. Auf dem Tisch lagen keine Papiere, es gab lediglich einen PC und eine moderne Telefonanlage, nicht viel größer als ein herkömmlicher Apparat. Die Frau bat Wallander, Platz zu nehmen, und tippte eine Mitteilung in den PC. Dann riß sie ein Blatt von einem im Schreibtisch verborgenen Drucker und reichte es ihm.

≫Wenn ich richtig verstanden habe, wollten Sie doch einen Ausdruck, um zu lesen, wer am 11. Oktober das Tor passiert hat≪, sagte die Frau. ≫Hier können Sie sehen, wann Anwalt Torstensson ankam und wann er Schloß Farnholm wieder verlassen hat.≪

Wallander nahm das Blatt entgegen und legte es neben sich auf den Fußboden. ≫Ich bin nicht nur deswegen gekommen, ich habe noch einige Fragen zu stellen.≪

≫Bitte.≪

Die Frau setzte sich hinter den Schreibtisch und drückte ein paar Tasten an der Telefonanlage. Wallander ahnte, daß alle hier stattfindenden Gespräche an einem anderen Gerät mitgehört oder aufgezeichnet wurden.

≫Mir ist bekannt, daß Alfred Harderberg ein Klient von Gustaf Torstensson war≪, begann Wallander. ≫Ich weiß auch, daß er sich derzeit im Ausland aufhält.≪

≫Ja, in Dubai≪, sagte die Frau.

Wallander runzelte die Stirn. ≫Vor einer Stunde war er noch in Genf.≪

≫Vollkommen richtig. Aber er ist heute morgen noch nach Dubai geflogen.≪

Wallander holte seinen Notizblock und einen Stift aus der Jackentasche. ≫Darf ich fragen, wie Sie heißen und was Ihre Aufgabe hier ist?≪

≫Ich bin eine der Sekretärinnen von Herrn Harderberg. Ich heiße Anita Karlén.≪

≫Hat Alfred Harderberg viele Sekretärinnen?≪

≫Das kommt darauf an, wie man es betrachtet≪, sagte Anita Karlén ausweichend. ≫Ist die Frage wirklich von Bedeutung?≪

Wieder merkte Wallander, daß ihn die Art, wie er hier behandelt wurde, wütend machte. Er mußte wohl andere Saiten aufziehen, sonst war der Besuch auf Farnholm verlorene Zeit.

≫Ob die Frage von Bedeutung ist oder nicht, entscheide ich. Schloß Farnholm ist Privatbesitz; Sie haben das Recht, das Grundstück mit so vielen und so hohen Zäunen zu umgeben, wie Sie wollen, soweit es dafür eine Baugenehmigung gibt und auch auf andere Weise nicht gegen Gesetze und Verordnungen verstoßen wird. Farnholm liegt nun einmal in Schweden. Außerdem haben Sie das Recht zu bestimmen, wen Sie hier hereinlassen. Mit einer Ausnahme: die Polizei. Haben Sie verstanden?≪

≫Wir haben Ihnen den Zutritt auch nicht verwehrt≪, entgegnete sie ungerührt.

≫Ich will mich noch deutlicher ausdrücken≪, fuhr Wallander fort. Er merkte, daß ihn die Ruhe Anita Karléns verunsicherte. Vielleicht irritierte es ihn auch, daß sie so attraktiv war.

Im selben Augenblick öffnete sich im Hintergrund eine Tür. Eine Frau trug ein Tablett herein. Verwundert registrierte Wallander, daß es eine Farbige war. Wortlos stellte sie das Tablett auf den Schreibtisch und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.

≫Möchten Sie Kaffee, Kommissar Wallander?≪

≫Ja bitte.≪

Sie goß ein und reichte ihm die Tasse.

Er betrachtete das Porzellan. ≫Lassen Sie mich eine Frage stellen, die nicht von Bedeutung ist. Wenn ich dieses Schmuckstück hier runterfallen lasse, was bin ich dann schuldig?≪

Sie lächelte, diesmal richtig: ≫Es ist natürlich alles versichert. Aber es wäre schade; das Service ist ein Klassiker von Rörstrand.≪

Wallander stellte die Tasse vorsichtig neben den Computerausdruck auf den Boden und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. ≫Ich will mich sehr deutlich ausdrücken≪, wiederholte er. ≫Am selben Abend, am 11. Oktober, eine knappe Stunde nach seinem Besuch hier im Hause, starb Anwalt Gustaf Torstensson bei einem Autounfall.≪

≫Wir haben Blumen zur Beerdigung geschickt. Eine meiner Kolleginnen war bei der Beisetzung zugegen.≪

≫Aber natürlich nicht Alfred Harderberg?≪

≫Auftritten in der Öffentlichkeit geht mein Arbeitgeber nach Möglichkeit aus dem Weg.≪

≫Das habe ich mir gedacht. Nun gibt es allerdings Gründe zu glauben, daß es gar kein Autounfall war. Vieles spricht dafür, daß Anwalt Torstensson ermordet wurde. Und die Sache wird dadurch, daß sein Sohn einige Wochen später in seinem Büro erschossen wurde, nicht besser. Haben Sie zur Beerdigung des Sohnes vielleicht auch Blumen geschickt?≪

Sie sah ihn verständnislos an. ≫Wir hatten nur mit Gustaf Torstensson zu tun.≪

Wallander nickte und fuhr fort. ≫Jetzt verstehen Sie, warum ich hier bin. Und Sie haben mir immer noch nicht verraten, wie viele Sekretärinnen hier arbeiten.≪

≫Sie haben ja auch nicht verstanden, daß es auf die Betrachtungsweise ankommt.≪

≫Dann klären Sie mich bitte auf.≪

≫Also, hier auf Schloß Farnholm gibt es drei Sekretärinnen. Außerdem zwei, die Doktor Harderberg auf Reisen begleiten. Des weiteren stehen ihm an verschiedenen Stellen rund um die Welt Sekretärinnen zur Verfügung. Die Anzahl wechselt, aber es sind selten weniger als sechs.≪

≫Das wären dann insgesamt elf.≪

Anita Karlén nickte.

≫Sie nennen Ihren Arbeitgeber Doktor Harderberg?≪

≫Er hat mehrere Ehrendoktortitel. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine Aufstellung machen.≪

≫Ja, sehr freundlich. Ich möchte außerdem eine Übersicht über Doktor Harderbergs Geschäftsimperium. Aber das können Sie mir später geben. Ich würde zunächst gern wissen, was an dem Abend geschah, als Gustaf Torstensson zum letzten Mal hier war. Welche von all den Sekretärinnen kann darauf antworten?≪

≫Ich selbst hatte an jenem Abend Dienst.≪

Wallander überlegte einen Moment. ≫Deshalb sind Sie also hier; deshalb empfangen Sie mich. Aber was wäre gewesen, wenn Sie heute frei gehabt hätten? Sie konnten doch nicht wissen, daß ausgerechnet heute ein Polizist aufkreuzt.≪

≫Natürlich nicht.≪

Im selben Augenblick wurde Wallander klar, daß es die Menschen auf Schloß Farnholm sehr wohl wissen konnten. Der Gedanke irritierte ihn.

Er zwang sich zur Konzentration. ≫Was geschah an jenem Abend?≪

≫Anwalt Torstensson kam kurz nach sieben Uhr hier an. Er hatte ein etwa einstündiges vertrauliches Gespräch mit Doktor Harderberg und einigen der engsten Mitarbeiter. Dann trank er eine Tasse Tee. Genau vierzehn Minuten nach acht verließ er Farnholm.≪

≫Worüber wurde an dem Abend gesprochen?≪

≫Das kann ich nicht beantworten.≪

≫Aber Sie sagten doch vorhin, daß Sie Dienst gehabt hätten?≪

≫Es war ein Gespräch ohne Sekretärin, es wurden keine Aufzeichnungen gemacht.≪

≫Wer waren die Mitarbeiter?≪

≫Bitte?≪

≫Sie sagten, daß Anwalt Torstensson vertraulich mit Doktor Harderberg und einigen seiner engsten Mitarbeiter gesprochen habe.≪

≫Das kann ich nicht beantworten.≪

≫Weil Sie nicht antworten dürfen?≪

≫Ich weiß es nicht.≪

≫Was wissen Sie nicht?≪

≫Wer die Mitarbeiter waren. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Sie waren am selben Tag gekommen und reisten früh am nächsten wieder ab.≪

Wallander wußte plötzlich nicht, was er fragen sollte; er hatte den Eindruck, einfach nicht weiterzukommen. So entschloß er sich, an einer anderen Stelle anzusetzen. ≫Sie sagten vorhin, Doktor Harderberg habe elf Sekretärinnen. Darf ich fragen, wie viele Anwälte er beschäftigt?≪

≫Vermutlich mindestens ebenso viele.≪

≫Aber Sie dürfen nicht sagen, wie viele es genau sind?≪

≫Ich weiß es nicht.≪

Wallander nickte. Er merkte, daß er schon wieder auf dem Weg in eine Sackgasse war.

≫Wann begann Anwalt Torstensson, für Doktor Harderberg zu arbeiten?≪

≫Als Doktor Harderberg Schloß Farnholm erwarb und zu seinem Hauptquartier machte, also vor etwa fünf Jahren.≪

≫Anwalt Torstensson hatte sein Büro sein Leben lang in Ystad. Plötzlich hält man ihn für qualifiziert, als Ratgeber in internationalen Geschäften zu fungieren. Ist das nicht ein wenig merkwürdig?≪

≫Da müssen Sie wohl Doktor Harderberg fragen.≪

Wallander klappte seinen Notizblock zu. ≫Da haben Sie ganz recht. Ich möchte, daß Sie ihm eine Nachricht senden, egal, ob er sich in Genf oder in Dubai oder sonstwo aufhält, und ihm mitteilen, daß Kommissar Wallander ihn so schnell wie möglich sprechen will. Mit anderen Worten: unverzüglich am Tag seiner Rückkehr.≪

Er erhob sich und ließ die Tasse auf dem Boden stehen. ≫Die Polizei in Ystad hat keine elf Sekretärinnen≪, sagte er.

≫Aber unsere Kolleginnen an der Anmeldung sind auch ganz tüchtig. Geben Sie bitte dort Bescheid, wann er mich empfangen kann.≪

Er folgte ihr hinaus in die große Eingangshalle. In der Nähe der Tür lag auf einem Marmortisch ein dicker lederner Aktenordner.

≫Hier ist die Übersicht über Doktor Harderbergs Unternehmen, um die Sie gebeten haben≪, erklärte Anita Karlén.

Es hat also jemand mitgehört, das ganze Gespräch, dachte Wallander. Vermutlich ist ein Protokoll bereits zu Harderberg unterwegs, wo auch immer er sich befinden mag. Falls er sich dafür interessiert. Was ich bezweifle.

≫Vergessen Sie bitte nicht, darauf hinzuweisen, daß es eilt≪, sagte Wallander zum Abschied. Diesmal gab ihm Anita Karlén die Hand.

Wallander blickte kurz zu der mächtigen Treppe hinüber, die im Dunkeln lag. Aber jetzt waren die Schatten verschwunden.

Die Wolken hatten sich verzogen. Er setzte sich ins Auto. Anita Karlén stand auf der Treppe; ihr Haar wehte im Wind. Als er losfuhr, konnte er im Rückspiegel sehen, daß sie ihm nachschaute. Diesmal mußte er am Tor nicht halten; als er sich näherte, öffnete es sich. Kurt Ström ließ sich nicht sehen. Dann schlossen sich die eisernen Flügel wieder, und Wallander fuhr langsam nach Ystad zurück. Es war ein klarer Herbsttag, und seine Entscheidung, in den Dienst zurückzukehren, lag erst drei Tage zurück.

Kurz hinter der Kreuzung zur Hauptstraße lag ein toter Hase vor ihm auf der Fahrbahn. Er wich aus und dachte, daß er einer Aufklärung des Falles Gustaf Torstensson oder seines Sohnes nicht nähergekommen war. Es erschien ihm unwahrscheinlich, daß es einen Zusammenhang zwischen den toten Anwälten und den Menschen auf dem Schloß hinter dem Doppelzaun geben sollte. Aber dennoch würde er den ledernen Aktenordner noch am selben Tag durchsehen, um sich einen Eindruck von Alfred Harderbergs Imperium zu verschaffen.

Das Autotelefon signalisierte einen Anruf. Wallander nahm den Hörer ab und hörte Svedbergs Stimme.

≫Hier Svedberg. Wo bist du gerade?≪

≫Vierzig Minuten vor Ystad.≪

≫Martinsson meinte, du würdest Schloß Farnholm besuchen.≪

≫Da bin ich auch gewesen. Hat aber nichts gebracht.≪

Das Gespräch wurde kurz von Störungen unterbrochen. Dann war Svedberg wieder da. ≫Berta Dunér hat angerufen und nach dir gefragt. Du sollst dich ganz dringend bei ihr melden.≪

≫Warum denn?≪

≫Das hat sie nicht gesagt.≪

≫Wenn du mir ihre Telefonnummer gibst, rufe ich gleich an.≪

≫Es ist besser, du fährst direkt zu ihr. Es schien sehr wichtig zu sein.≪

Wallander sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Schon fünf Minuten nach neun.

≫Wie war die Besprechung heute morgen?≪

≫Nichts Besonderes.≪

≫Wenn ich nach Ystad komme, fahre ich sofort zu ihr.≪

≫Gut≪, sagte Svedberg.

Das Gespräch wurde erneut gestört. Wallander fragte sich, was Frau Dunér auf dem Herzen haben konnte. Er spürte eine gewisse Spannung und gab Gas. Fünf Minuten nach halb zehn parkte er vorschriftswidrig genau gegenüber von dem rosa Haus, in dem Berta Dunér wohnte. Schnell eilte er über die Straße und klingelte an der Tür. Sie öffnete, und er sah sofort, daß etwas passiert sein mußte. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

≫Sie haben angerufen und nach mir gefragt?≪

Sie nickte, zog ihn sofort ins Wohnzimmer und wies erregt auf den kleinen Garten vor dem Fenster. ≫Heute nacht war jemand da draußen.≪

Sie wirkte sehr verängstigt. Ihre Unruhe übertrug sich auf Wallander. Er ging zur Glastür und betrachtete den Rasen, die wegen des nahenden Winters angehäufelten Rabatten und die Kletterpflanzen an der weißgekalkten Mauer, die Berta Dunérs Garten von dem des Nachbarn trennte.

≫Ich weiß nicht, was Sie meinen≪, sagte er.

Sie war im Hintergrund geblieben, als wagte sie sich nicht zum Fenster vor. Wallander fragte sich, ob die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen ihr vielleicht die Sinne verwirrt hatten.

Sie trat neben ihn und wies hinaus. ≫Da, sehen Sie doch. Jemand ist heute nacht hiergewesen und hat gegraben.≪

≫Haben Sie jemanden gesehen?≪

≫Nein.≪

≫Oder gehört?≪

≫Nein. Aber ich weiß, daß heute nacht jemand da war.≪

Wallander versuchte, ihrem Zeigefinger zu folgen. Undeutlich glaubte er, ein Stück zertrampelten Rasen zu erkennen. ≫Das kann eine Katze gewesen sein. Oder ein Maulwurf. Vielleicht auch eine Ratte.≪

Sie schüttelte den Kopf. ≫Jemand ist heute nacht dagewesen.≪

Wallander öffnete die Glastür und ging in den Garten hinaus. Aus der Nähe besehen schien es, als wäre ein Grasbüschel ausgegraben und wieder eingesetzt worden. Er hockte sich hin und strich mit der Hand über die Halme. Die Finger stießen auf etwas Hartes aus Plastik oder Metall, einen Stachel, der aus der Erde ragte. Vorsichtig tastete er weiter. Ein graubrauner Gegenstand war direkt unter der Grasnarbe versteckt.

Wallander erstarrte. Er zog die Hand langsam zurück und stand vorsichtig auf. Einen Moment lang glaubte er, verrückt zu werden; das konnte einfach nicht wahr sein. Das war unvorstellbar, unwahrscheinlich, einfach undenkbar.

Er kehrte zur offenen Glastür zurück, indem er genau in die schwachen Fußspuren trat, die er hinterlassen hatte. Als er das Haus erreicht hatte, schaute er sich um. Er konnte immer noch nicht glauben, was er gesehen hatte.

≫Was ist da?≪ fragte Frau Dunér.

≫Geben Sie mir bitte das Telefonbuch≪, sagte Wallander mit bebender Stimme.

Sie blickte ihn verständnislos an. ≫Was wollen Sie denn damit?≪

≫Tun Sie bitte, was ich sage.≪

Sie lief in den Flur und kam mit dem Ystad-Band zurück. Wallander wog ihn in der Hand.

≫Gehen Sie in die Küche und bleiben Sie dort≪, sagte er.

Sie gehorchte.

Es konnte auf keinen Fall wahr sein, dachte Wallander. Gäbe es nur die geringste Möglichkeit für das Unwahrscheinliche, müßte er ganz andere Schritte einleiten. Er trat so weit wie möglich ins Zimmer zurück, zielte und warf das Telefonbuch auf den zwischen Grashalmen verborgenen Stachel.

Die Explosion war ohrenbetäubend.

Später wunderte er sich, daß die Fenster nicht zersprungen waren.

Er warf einen Blick auf den Krater im Rasen. Dann eilte er in die Küche, wo er Frau Dunér schreien hörte. Sie stand wie gelähmt mitten im Raum und preßte die Hände auf die Ohren. Er berührte ihre Schulter und führte sie zu einem der Küchenstühle.

≫Keine Gefahr≪, sagte er. ≫Ich bin gleich zurück. Muß nur schnell telefonieren.≪

Er wählte die Nummer des Polizeigebäudes. Zu seiner Freude meldete sich Ebba.

≫Hier ist Kurt≪, sagte er atemlos. ≫Ich muß Martinsson oder Svedberg sprechen. Oder irgendeinen anderen.≪

Ebba kannte seine Stimme, das wußte er. Deshalb handelte sie, ohne Fragen zu stellen.

Martinsson meldete sich.

≫Hier Kurt. Vermutlich wird gleich Alarm ausgelöst werden, wegen einer Explosion hinter dem Hotel Continental. Kümmere dich darum, daß es ohne Aufsehen abgeht. Ich will hier keine Feuerwehr und keinen Krankenwagen sehen. Schnapp dir jemanden und komm her. Ich bin bei Frau Dunér, Torstenssons Sekretärin, Stickgatan 26. Es ist ein rosa Haus.≪

≫Was ist denn eigentlich passiert?≪

≫Das wirst du sehen, wenn du hier bist. Du glaubst mir ja doch nicht, wenn ich es dir erkläre.≪

≫Versuch es doch.≪

Wallander zögerte: ≫Wenn ich dir sage, daß jemand eine Landmine in Frau Dunérs Garten vergraben hat — glaubst du mir dann?≪

≫Nein≪, antwortete Martinsson trocken.

≫Na siehst du.≪

Wallander legte auf und ging zur Glastür zurück.

Der Krater auf der Wiese war noch da. Es war keine Einbildung gewesen.

6

In der Erinnerung würde dieser Tag, Mittwoch, der 3. November, für Kurt Wallander immer etwas Unwirkliches haben. Hätte er es sich je träumen lassen, mitten in Ystad in einem kleinen Garten auf eine vergrabene Landmine zu stoßen?

Als Martinsson das rosa Haus in Begleitung Ann-Britt Höglunds betrat, fiel es ihm immer noch schwer zu glauben, daß wirklich eine Mine explodiert war. Trotzdem hatte er unterwegs Sven Nyberg, den technischen Experten, benachrichtigt. Er kam nur wenige Minuten später. Gemeinsam betrachteten sie den Krater im Rasen. Da sie nicht sicher sein konnten, ob noch weitere Sprengkörper im Garten versteckt waren, hielten sie sich eng an der Hauswand. Ann-Britt Höglund übernahm es, in der Küche mit Frau Dunér zu sprechen, die sich etwas beruhigt hatte.

≫Was ist denn nur geschehen?≪ fragte Martinsson aufgeregt.

≫Ich kann dir keine Antwort geben≪, erwiderte Wallander.

Mehr Worte waren nicht nötig; sie starrten weiter auf das Loch im Rasen. Die Kriminaltechniker unter Leitung des geschickten, aber leicht cholerischen Sven Nyberg machten sich an die Arbeit.

Zwischendurch wandte sich Nyberg an Wallander: ≫Was machst du eigentlich hier?≪

Wallander hatte plötzlich das Gefühl, mit seiner Rückkehr in den Dienst gegen irgendwelche Regeln verstoßen zu haben. ≫Ich arbeite hier≪, antwortete er und merkte, daß er in Abwehrstellung ging.

≫Ich dachte, du würdest aufhören.≪

≫Das dachte ich auch. Aber ich habe gemerkt, daß ihr ohne mich nicht klarkommt.≪

Sven Nyberg setzte zu einer Erwiderung an, doch Wallander hob abwehrend die Hand. ≫Ich bin nicht so wichtig wie das Loch da im Rasen.≪

Gleichzeitig fiel ihm ein, daß Sven Nyberg an verschiedenen UN-Einsätzen im Ausland teilgenommen hatte. ≫Du bist doch auf Zypern und im Nahen Osten gewesen; du mußt doch wissen, ob der Krater von einer Mine stammt≪, sagte Wallander. ≫Aber verrate uns zuerst, ob es noch mehr Explosionen geben kann.≪

≫Ich bin kein Hund≪, sagte Nyberg und ging an der Hauswand in die Hocke. Wallander berichtete, wie er den Zünder ertastet und dann das Telefonbuch geworfen hatte.

Sven Nyberg nickte. ≫Es gibt sehr wenige explosive Stoffe oder Gemische, die auf einen Stoß hin detonieren. Außer eben Minen. Dazu sind sie ja da. Menschen fliegen in die Luft, wenn sie mit dem Fuß an den Zünder geraten. Für eine Personenmine reicht ein Gewicht von einigen Kilo, ein Kinderfuß oder ein Telefonbuch. Eine Fahrzeugmine braucht vielleicht hundert Kilo Druck, um hochzugehen.≪

Er erhob sich und schaute Wallander und Martinsson fragend an. ≫Wer legt Minen in einen Garten? Diese Person solltet ihr so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen.≪

≫Und du bist sicher, daß es eine Mine war?≪

≫Ich bin nie sicher. Aber ich werde einen Spezialisten aus dem Regiment anfordern. Bis dahin darf niemand den Rasen betreten.≪

Während sie auf den Fachmann warteten, erledigte Martinsson einige Telefongespräche. Wallander setzte sich auf das Sofa und versuchte zu verstehen, was eigentlich passiert war. Aus der Küche hörte er, wie Ann-Britt Höglund langsam und geduldig Fragen stellte, die Frau Dunér noch langsamer beantwortete.

Zwei tote Anwälte, dachte Wallander. Dann vergräbt jemand eine Mine im Garten der Sekretärin der Kanzlei; natürlich, damit sie drauftritt und ebenfalls stirbt. Auch wenn alles immer noch sehr unklar und verworren ist, kann man es wagen, eine Schlußfolgerung zu ziehen: Die Lösung muß irgendwo in der Tätigkeit der Anwaltskanzlei liegen, nicht im Privatleben der drei Menschen.

Wallanders Gedanken wurden unterbrochen, als Martinsson seine Telefonate beendet hatte. ≫Björk hat gefragt, ob ich noch ganz bei Trost bin≪, grinste er. ≫Ich muß gestehen, daß ich selbst nicht wußte, was ich darauf antworten sollte. Er meint, es sei ganz ausgeschlossen, daß es eine Mine war. Aber er möchte so schnell wie möglich einen von uns zur Berichterstattung sehen.≪

≫Wenn wir etwas zu berichten haben≪, sagte Wallander grimmig. ≫Wo steckt denn Nyberg?≪

≫Er ist zum Regiment gefahren, um so schnell wie möglich einen Minensucher zu holen.≪

Wallander nickte und schaute auf die Uhr. Viertel nach zehn. Er dachte an seinen Besuch auf Schloß Farnholm. Aber er wußte im Grunde gar nicht, was er von allem halten sollte.

Martinsson stellte sich an die Glastür und betrachtete das Loch im Rasen. ≫Erinnerst du dich an die Sache vor zwanzig Jahren, im Gerichtsgebäude von Söderhamn?≪

≫Sehr vage≪, antwortete Wallander.

≫Da war ein alter Landwirt, der jahrelang unendlich viele Prozesse geführt hatte, gegen seine Nachbarn, seine Verwandten, gegen alle und jeden. Das Ganze entwickelte sich schließlich zu einer Psychose, was leider niemand rechtzeitig bemerkte. Er fühlte sich von den vermeintlichen Widersachern verfolgt, nicht zuletzt vom Richter und seinen eigenen Anwälten. Schließlich kam es zur Katastrophe. Er holte während der Verhandlung ein Gewehr hervor und erschoß den Richter und seinen Verteidiger gleich mit. Als die Polizei später sein Haus draußen im Wald durchsuchen wollte, zeigte sich, daß er an Türen und Fenstern Sprengladungen befestigt hatte. Es war reines Glück, daß bei den Explosionen niemand ums Leben kam.≪

Wallander erinnerte sich an den Fall.

≫Einem Staatsanwalt in Stockholm wurde das Haus in die Luft gesprengt≪, fuhr Martinsson fort. ≫Anwälte sind Drohungen und Übergriffen ausgesetzt. Polizisten erst recht.≪

Wallander nickte. Ann-Britt Höglund kam mit dem Notizblock in der Hand aus der Küche. Wallander wurde plötzlich bewußt, daß sie eine attraktive Frau war; das war ihm seltsamerweise zuvor nicht aufgefallen.

Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. ≫Nichts. Frau Dunér hat in der Nacht nichts gehört. Aber sie ist sicher, daß der Rasen gestern bei Einbruch der Dämmerung noch unberührt war. Sie ist eine Frühaufsteherin und hat gleich, als es hell wurde, entdeckt, daß jemand in ihrem Garten war. Sie hat natürlich keine Erklärung, warum ihr jemand nach dem Leben trachtet. Oder wenigstens ihre Beine wegsprengen will.≪

≫Sagt sie die Wahrheit?≪ fragte Martinsson.

≫Es ist immer schwer zu entscheiden, ob aufgeregte Menschen lügen oder nicht≪, antwortete Ann-Britt Höglund. ≫Aber ich bin ziemlich sicher, daß sie wirklich der Meinung ist, jemand habe die Mine in der Nacht im Garten vergraben. Und sie versteht nicht, warum.≪

≫Dennoch stört mich etwas an diesem Bild≪, sagte Wallander zögernd. ≫Aber ich bin nicht sicher, ob ich in Worte fassen kann, was ich meine.≪

≫Versuch es≪, sagte Martinsson.

≫Heute, am Morgen, entdeckt sie, daß in der Nacht jemand in ihrem Garten gewesen sein muß. Sie steht am Fenster und sieht, daß jemand ihren Rasen aufgewühlt hat. Was tut sie da?≪

≫Was tut sie nicht≪, sagte Ann-Britt Höglund.

Wallander nickte. ≫Genau. Normal wäre gewesen, daß sie einfach die Glastür aufmacht und nachsieht. Aber was tut sie?≪

≫Sie ruft die Polizei≪, sagte Martinsson.

≫Als hätte sie geahnt, daß da draußen etwas Gefährliches lauert≪, sagte Ann-Britt Höglund.

≫Oder gewußt≪, ergänzte Wallander.

≫Zum Beispiel eine Mine≪, meinte Martinsson. ≫Als sie im Polizeigebäude anrief, war sie aufgeregt.≪

≫Genauso erregt war sie, als ich hier ankam≪, sagte Wallander. ≫Jedesmal, wenn ich mit ihr gesprochen habe, wirkte sie nervös und verängstigt. Das könnte man natürlich mit all den Ereignissen der letzten Zeit erklären. Aber ich bin mir da nicht ganz sicher.≪

Die Wohnungstür wurde geöffnet, und Sven Nyberg marschierte ins Zimmer, hinter ihm zwei uniformierte Männer, die ein Gerät trugen, das einem Staubsauger glich. Es dauerte zwanzig Minuten, bis die beiden Soldaten den kleinen Garten nach Minen durchsucht hatten. Die Polizisten standen am Fenster und beobachteten aufmerksam die vorsichtige, aber zielbewußte Arbeit. Dann erklärten die Spezialisten den Garten für sicher und machten sich auf den Rückweg. Wallander begleitete sie hinaus zu ihrem Wagen.

≫Was läßt sich über die Mine sagen?≪ fragte er. ≫Größe, Explosionskraft? Kann man vermuten, wo sie hergestellt wurde? Alles ist von Interesse.≪

Lundqvist, Hauptmann, stand auf dem Schildchen an der Uniformjacke des älteren der beiden Männer. Er antwortete auch auf Wallanders Frage. ≫Keine besonders starke Mine. Aber genug, um einen Menschen zu töten. Sagen wir, eine Vier.≪

≫Was bedeutet das?≪

≫Eine Person tritt auf die Mine≪, erläuterte Hauptmann Lundqvist. ≫Dann werden drei Männer benötigt, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Also hat die Mine der kämpfenden Truppe vier Personen entzogen.≪

Wallander nickte.

≫Minen werden nicht wie andere Waffen hergestellt≪, fuhr Lundqvist fort. ≫Bofors produziert sie, ebenso andere große Rüstungsbetriebe. Aber fast jedes Land von militärischer Bedeutung baut eigene Minen. Entweder werden sie offiziell in Lizenz produziert oder heimlich als Raubkopie. Terroristische Gruppen haben ihre eigenen Modelle. Um etwas über die Identität der Mine sagen zu können, müßte man Reste des Sprengstoffs und am besten auch ein Stück des Mantelmaterials finden. Es kann Metall oder Plastik sein. Oder sogar Holz.≪

≫Wir kümmern uns darum≪, sagte Wallander. ≫Dann melden wir uns wieder.≪

≫Eine Mine ist keine nette Waffe≪, sagte Hauptmann Lundqvist. ≫Man sagt, sie sei der billigste und zuverlässigste Soldat der Welt. Sie wird irgendwo plaziert, und dann bleibt sie auf ihrem Posten, wenn es sein muß, hundert Jahre. Sie braucht weder Wasser noch Verpflegung, noch Sold. Sie liegt nur da und wartet, bis jemand kommt und drauftritt. Dann schlägt sie zu.≪

≫Wie lange kann eine Mine aktiv bleiben?≪

≫Das weiß keiner. Heute noch detonieren Minen, die während des Ersten Weltkriegs ausgelegt wurden.≪

Wallander ging ins Haus zurück. Im Garten hatte Sven Nyberg mit der technischen Untersuchung des Kraters begonnen.

≫Eine Probe des Sprengstoffs, am besten noch ein Stück von der Mine≪, sagte Wallander.

≫Wonach sollten wir sonst suchen?≪ erwiderte Nyberg irritiert. ≫Nach verbuddelten Knochen?≪

Wallander überlegte, ob er Frau Dunér noch einige Stunden Ruhe gönnen sollte, bevor er wieder mit ihr sprach. Aber seine Ungeduld machte sich bemerkbar; Ungeduld, weil sich nirgendwo Anzeichen eines Durchbruchs oder wenigstens eines handfesten Ausgangspunkts für die Ermittlungen zeigten.

≫Ihr könnt die Sache mit Björk klären≪, sagte er zu Martinsson und Ann-Britt Höglund. ≫Heute nachmittag müssen wir den Ermittlungsstand gründlich besprechen.≪

≫Gibt es denn einen Ermittlungsstand?≪ fragte Martinsson ironisch.

≫Den gibt es immer≪, sagte Wallander. ≫Wir merken es nur nicht. Hat Svedberg schon mit den Experten gesprochen, die in Torstenssons Kanzlei die Akten wälzen?≪

≫Er sitzt seit heute morgen dort. Aber ich glaube, er hat es satt. In Papieren herumzuwühlen ist nicht seine Sache.≪

≫Hilf ihm≪, sagte Wallander. ≫Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß es wichtig ist.≪

Er kehrte ins Haus zurück, hängte die Jacke in den Flur und ging in die kleine Toilette. Als er sich im Spiegel sah, zuckte er vor seinem unrasierten, rotäugigen und ungekämmten Ebenbild zurück. Er fragte sich, welchen Eindruck er wohl auf Schloß Farnholm hinterlassen hatte. Während er sich das Gesicht kalt abwusch, überlegte er, wie er Frau Dunér klarmachen sollte, daß er sehr wohl wußte, daß sie ihnen einiges verschwieg. Ich muß freundlich sein, entschied er, sonst sperrt sie sich völlig.

Er ging in die Küche, wo sie immer noch zusammengesunken auf einem Stuhl saß. Draußen im Garten buddelten die Polizeitechniker. Dann und wann hörte Wallander Nybergs aufgeregte Stimme. Er hatte das Gefühl, genau so einen Augenblick schon einmal erlebt zu haben: die schwindelnde Entdeckung, im Kreis gelaufen und wieder an einem weit in der Vergangenheit liegenden Ausgangspunkt angekommen zu sein. Er schloß die Augen und atmete tief durch. Dann setzte er sich an den Küchentisch und schaute Frau Dunér an. Entfernt erinnerte sie ihn an seine vor Jahren verstorbene Mutter; die grauen Haare und die Haut, die wie schlecht gespannt auf dem mageren Körper lag. Aber dabei fiel ihm auch auf, daß er sich nicht mehr an das Gesicht seiner Mutter erinnern konnte; es war verblaßt, war ihm entglitten.

≫Ich verstehe, daß Sie sehr erregt sind≪, begann er. ≫Aber wir müssen trotzdem miteinander reden.≪

Sie nickte schweigend.

≫Sie entdeckten also heute morgen, daß in der Nacht jemand im Garten gewesen ist?≪

≫Das habe ich gleich gesehen.≪

≫Was taten Sie da?≪

Sie schaute ihn erstaunt an. ≫Das habe ich doch schon erzählt. Muß ich denn alles noch einmal wiederholen?≪

≫Nicht alles. Beantworten Sie bitte nur meine Fragen.≪

≫Es wurde gerade hell. Ich bin eine Frühaufsteherin. Ich schaute in den Garten hinaus. Jemand war dagewesen. Ich rief die Polizei.≪

≫Warum haben Sie die Polizei gerufen?≪ fragte Wallander und beobachtete sie aufmerksam.

≫Was hätte ich sonst tun sollen?≪

≫Sie hätten zum Beispiel hinausgehen und nachsehen können.≪

≫Das habe ich nicht gewagt.≪

≫Warum nicht? Weil Sie wußten, daß dort etwas Gefährliches lauerte?≪

Sie antwortete nicht. Wallander wartete. Von draußen erklang Nybergs irritierte Stimme.

≫Ich glaube, Sie waren mir gegenüber nicht ganz aufrichtig≪, sagte Wallander. ≫Sie verschweigen etwas.≪

Sie beschattete die Augen mit der Hand, als blende sie das Licht in der Küche. Wallander wartete weiter. Die Wanduhr stand auf kurz vor elf.

≫Ich habe schon lange Angst≪, sagte sie endlich und schaute Wallander an, als trage er die Verantwortung dafür. Dann hüllte sie sich wieder in Schweigen.

≫Jede Angst hat eine Ursache. Wenn die Polizei herausfinden soll, was mit Gustaf und Sten Torstensson geschehen ist, müssen Sie uns helfen.≪

≫Ich kann nicht helfen≪, sagte sie.

Wallander spürte, daß sie jeden Moment zusammenbrechen würde. Trotzdem machte er weiter. ≫Sie können meine Fragen beantworten. Bitte sagen Sie mir zuerst, warum sie Angst haben.≪

≫Wissen Sie, was einen am meisten erschrecken kann?≪ fragte sie unvermittelt. ≫Die Angst anderer Menschen. Ich habe dreißig Jahre für Gustaf Torstensson gearbeitet. Ich kannte ihn nicht. Die Veränderung ist mir jedoch aufgefallen. Es war, als ginge plötzlich ein anderer Geruch von ihm aus. Nach Angst.≪

≫Wann ist Ihnen das zum ersten Mal aufgefallen?≪

≫Vor drei Jahren.≪

≫War zu jenem Zeitpunkt etwas Besonderes geschehen?≪

≫Alles war wie immer.≪

≫Es ist sehr wichtig, daß Sie sich erinnern.≪

≫Was glauben Sie eigentlich, was ich die ganze Zeit versuche?≪

Wallander fürchtete, das Gespräch könnte abbrechen. Ihm mußte etwas einfallen. Trotz allem schien sie ja nun bereit, ihm zu antworten. ≫Und Sie haben nie mit Gustaf Torstensson darüber gesprochen?≪

≫Nie.≪

≫Auch nicht mit seinem Sohn?≪

≫Ich glaube nicht, daß er etwas bemerkt hat.≪

Das könnte stimmen, dachte Wallander. Sie war ja in erster Linie Gustaf Torstenssons Sekretärin.

≫Sie haben keine Erklärung für das Geschehene? Begreifen Sie doch, Sie hätten sterben können, wären Sie in den Garten gegangen. Sie haben also etwas geahnt und deshalb die Polizei gerufen. Sie haben erwartet, daß etwas passieren würde. Und Sie haben keine Erklärung?≪

≫Nachts sind Menschen in die Kanzlei gekommen≪, berichtete sie stockend. ≫Wir haben es beide gemerkt, Gustaf und ich. Ein Kugelschreiber lag anders auf dem Tisch, ein Stuhl, in dem jemand gesessen hatte, war nicht genau an seinen Platz zurückgestellt worden.≪

≫Haben Sie ihn nicht danach gefragt, ihn nicht daraufhingewiesen?≪

≫Das durfte ich nicht. Er hat es verboten.≪

≫Er hat also nicht über die nächtlichen Besuche gesprochen?≪

≫Man kann es einem Menschen ansehen, wenn er über etwas nicht sprechen will.≪

Sie wurden unterbrochen, als Nyberg ans Küchenfenster klopfte.

≫Ich bin gleich zurück≪, sagte Wallander. Nyberg stand vor der Gartentür und streckte ihm die Hand hin. Wallander sah einen verbrannten Gegenstand, kaum größer als ein halber Zentimeter.

≫Eine Plastikmine≪, sagte Nyberg. ≫Das kann ich jetzt schon sagen.≪

Wallander nickte.

≫Möglicherweise finden wir heraus, von welchem Typ sie ist≪, fuhr Nyberg fort. ≫Vielleicht sogar, wo sie hergestellt wurde. Aber das wird eine Weile dauern.≪

≫Eines würde mich in diesem Zusammenhang noch interessieren. Kannst du irgend etwas über die Person sagen, die die Mine vergraben hat?≪

≫Das wäre mir vielleicht möglich gewesen, wenn du kein Telefonbuch geworfen hättest.≪

≫Die Mine war leicht zu entdecken.≪

≫Jemand, der etwas davon versteht, legt eine Mine so, daß man sie nicht sieht. Sowohl du als auch die Frau, die in der Küche sitzt, habt gesehen, daß sich jemand am Rasen zu schaffen gemacht hat. Da waren Amateure am Werk.≪

Oder jemand, der diesen Eindruck erwecken wollte, dachte Wallander. Als er wieder in der Küche war, hatte er nur noch eine Frage. ≫Gestern nachmittag bekamen Sie Besuch von einer asiatisch aussehenden Frau. Wer war das?≪

Sie starrte ihn an. ≫Woher wissen Sie das?≪

≫Das spielt keine Rolle. Beantworten Sie bitte meine Frage.≪

≫Sie macht in der Kanzlei sauber≪, sagte Frau Dunér.

So einfach ist das, dachte Wallander enttäuscht.

≫Wie heißt sie?≪

≫Kim Sung-Lee.≪

≫Wo wohnt sie?≪

≫Ich habe ihre Adresse im Büro.≪

≫Was wollte sie gestern hier?≪

≫Sie hat sich erkundigt, ob sie weiterarbeiten soll.≪

Wallander nickte. ≫Ich möchte ihre Adresse gern haben≪, sagte er und stand auf.

≫Was geschieht nun?≪ fragte Frau Dunér.

≫Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Ich werde dafür sorgen, daß sich immer ein Polizist in Ihrer Nähe aufhält, solange es nötig ist.≪

Er verabschiedete sich von Nyberg und fuhr zum Polizeigebäude. Unterwegs hielt er an Fridolfs Konditorei und kaufte sich ein paar belegte Brote. Er schloß sich in seinem Zimmer ein und bereitete sich auf den Bericht bei Björk vor. Aber als er in dessen Büro kam, erfuhr er, daß der Chef nicht im Haus war. Die Berichterstattung mußte warten.

_________

Es war ein Uhr, als Wallander an die Tür zu Per Åkesons Dienstzimmer am anderen Ende des langen, schmalen Polizeigebäudes klopfte. Wenn er das Büro betrat, war er jedesmal von neuem erstaunt über das Chaos, das hier zu herrschen schien. Der Schreibtisch war voller halbmeterhoher Papierstapel; Akten lagen auf dem Boden und auf den Besucherstühlen. An einer Wand lagen Hanteln auf einer nachlässig zusammengerollte Matte.

≫Hast du angefangen zu trainieren?≪

≫Nicht nur das≪, antwortete Per Åkeson zufrieden. ≫Neuerdings halte ich auch täglich ein Mittagsschläfchen. Ich bin gerade erst aufgewacht.≪

≫Schläfst du auf dem Boden?≪ fragte Wallander.

≫Nur dreißig Minuten. Aber dann arbeite ich mit neuer Energie.≪

≫Vielleicht sollte ich es auch einmal mit dieser Methode versuchen.≪

Per Åkeson räumte einen der Stühle leer, indem er die Akten einfach auf den Fußboden warf. Dann setzte er sich wieder und legte die Füße auf den Schreibtisch. ≫Was dich angeht, hatte ich die Hoffnung fast aufgegeben≪, sagte er lächelnd. ≫Aber im Innersten wußte ich doch, daß du zurückkommen würdest.≪

≫Das war eine schlimme Zeit≪, sagte Wallander.

Per Åkeson wurde plötzlich ernst. ≫Im Grunde kann ich mir nicht vorstellen, was das bedeutet, einen Menschen zu töten. Notwehr hin oder her, es ist doch die einzige Handlung, von der es kein Zurück gibt. Meine Phantasie reicht gerade aus, den Abgrund zu ahnen.≪

Wallander nickte. ≫Man vergißt es nie. Aber man kann vielleicht lernen, damit zu leben.≪

Sie saßen schweigend und hörten, wie sich auf dem Flur jemand über den defekten Kaffeeautomaten beschwerte.

≫Wir sind in einem Alter, du und ich≪, sagte Per Åkeson.

≫Vor einem halben Jahr wachte ich eines Morgens auf und dachte: Herrgott, das Leben! Soll es das denn gewesen sein? Ich muß zugeben, daß ich in Panik verfiel. Aber jetzt denke ich, daß es auch nützlich war. Ich habe etwas getan, was ich schon längst hätte tun sollen.≪

Aus einem der Papierstapel zog er einen Zettel und schob ihn über den Tisch. Es war eine Anzeige, in der mehrere UNOrgane juristisch qualifizierte Personen für Auslandseinsätze suchten, unter anderem für Flüchtlingslager in Afrika und Asien.

≫Ich habe mich beworben≪, sagte Per Åkeson. ≫Dann habe ich die ganze Sache vergessen. Vor knapp einem Monat jedoch wurde ich plötzlich zu einem Gespräch nach Kopenhagen gebeten. Eventuell kann ich einen Zweijahresvertrag für ein großes Flüchtlingslager in Uganda bekommen.≪

≫Nutze die Chance≪, sagte Wallander. ≫Was sagt deine Frau dazu?≪

≫Sie hat noch keine Ahnung. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie sie reagieren wird.≪

≫Du mußt es ihr sagen.≪

Per Åkeson nahm die Füße vom Tisch und schob ein paar Unterlagen zur Seite. Wallander berichtete von der Explosion in Frau Dunérs Garten.

Der Staatsanwalt schüttelte ungläubig den Kopf. ≫Das ist doch nicht möglich.≪

≫Nyberg war ziemlich sicher≪, entgegnete Wallander. ≫Und er hat meistens recht, wie du weißt.≪

≫Was denkst du über diesen verworrenen Fall? Ich habe mit Björk gesprochen. Und ich bin natürlich dafür, daß ihr den Autounfall von Gustaf Torstensson wieder aufgreift. Aber habt ihr wirklich keine Spur?≪

Wallander überlegte gut, bevor er antwortete. ≫Wir können nur in einer Beziehung sicher sein: Es war kein eigentümlicher Zufall, der die beiden Anwälte das Leben gekostet und eine Mine in Frau Dunérs Garten gelegt hat. Wir haben es mit einem geplanten Verbrechen zu tun, von dem wir weder Anfang noch Ende kennen.≪

≫Du meinst also, daß die Mine in Frau Dunérs Garten nicht als Schreckschuß gedacht war?≪

≫Wer die Mine gelegt hat, wollte Frau Dunér töten. Sie muß geschützt werden. Möglicherweise muß sie ihr Haus verlassen.≪

≫Ich kümmere mich darum≪, sagte Per Åkeson. ≫Ich rede mit Björk.≪

≫Sie hat Angst. Und ich bin jetzt sicher, daß sie nicht weiß, warum. Zunächst dachte ich, daß sie etwas verschweigt, aber sie weiß auch nicht mehr als wir alle. Kannst du mir etwas über Gustaf und Sten Torstensson erzählen? Du mußt doch viel mit ihnen zu tun gehabt haben in all den Jahren.≪

≫Gustaf Torstensson war ein Original. Und der Sohn war auf dem besten Weg, in die Fußstapfen des Vaters zu treten.≪

≫Ich glaube, alles beginnt mit Gustaf Torstensson. Aber frag mich nicht, warum.≪

≫Mit ihm hatte ich sehr wenig zu tun. Seine Auftritte als Verteidiger im Gerichtssaal waren vor meiner Zeit. In den letzten Jahren hat er sich offenbar fast ausschließlich mit ökonomischer Beratung beschäftigt.≪

≫Ja, für Alfred Harderberg, den Herrn von Schloß Farnholm. Auch das kommt mir eigentümlich vor, ein unbedeutender Anwalt aus Ystad und ein Unternehmer mit einem internationalen Finanzimperium.≪

≫Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es eine der Stärken Harderbergs, sich mit den richtigen Mitarbeitern zu umgeben. Wahrscheinlich hat er an Gustaf Torstensson etwas entdeckt, was allen anderen entgangen war.≪

≫Und Alfred Harderberg hat eine blütenweiße Weste?≪

≫Soweit ich weiß, ja. Das mag seltsam anmuten; es wird ja behauptet, daß sich hinter jedem Vermögen ein Verbrechen verbirgt. Aber Alfred Harderberg scheint tatsächlich ein unbescholtener Mitbürger zu sein. Der außerdem noch ein Herz für Schweden hat.≪

≫Inwiefern?≪

≫Er läßt nicht alle seine Investitionen ins Ausland fließen. Er hat sogar Betriebe in anderen Ländern stillgelegt und die Produktion hierher verlagert. Das ist heutzutage ungewöhnlich.≪

≫Also fällt kein Schatten auf Schloß Farnholm≪, meinte Wallander nachdenklich. ≫Gab es denn Flecken auf Gustaf Torstenssons Weste?≪

≫Absolut keine. Er war redlich, pedantisch, langweilig. Ehrbar auf die altmodische Art. Kein Genie, aber auch kein Dummkopf. Diskret. Er hat beim Aufwachen sicher niemals nach dem Sinn des Lebens gefragt.≪

≫Dennoch wurde er ermordet. Einen Fleck muß es gegeben haben. Vielleicht nicht auf seiner Weste, aber auf der eines anderen.≪

≫Ich bin nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was du meinst≪, sagte Per Åkeson.

≫Es ist doch beim Anwalt wie beim Arzt≪, sagte Wallander. ≫Er kennt die Geheimnisse vieler Menschen.≪

≫Wahrscheinlich hast du recht. In irgendeinem Klientenverhältnis liegt die Lösung. Und sie betrifft alle in der Kanzlei, die Sekretärin eingeschlossen.≪

≫Wir suchen weiter≪, sagte Wallander.

≫Über Sten Torstensson weiß ich auch nicht viel mehr≪, sagte Per Åkeson. ≫Junggeselle, ein bißchen altmodisch. Ich habe einmal ein leises Gerücht vernommen, er interessiere sich für Personen gleichen Geschlechts. Aber das hängt man wohl jedem Junggesellen an, der ein bißchen älter ist. Vor dreißig Jahren hätten wir Erpressung vermuten können.≪

≫Das muß ich mir notieren. Hast du noch etwas?≪

≫Eigentlich nicht. Ganz selten hat er einen Scherz gemacht. Er war nicht gerade der Typ, den man zum Abendessen einlädt. Aber er soll ein guter Segler gewesen sein.≪

Das Telefon klingelte. Per Åkeson meldete sich. Dann reichte er Wallander den Hörer. ≫Für dich.≪

Es war Martinsson, und Wallander merkte sofort, daß etwas Wichtiges geschehen war, denn sein sonst so ruhiger Kollege sprach laut und schnell.

≫Ich bin hier in der Anwaltskanzlei. Wir haben vielleicht gefunden, wonach wir suchten.≪

≫Was?≪

≫Drohbriefe.≪

≫Gegen wen?≪

≫Gegen alle drei.≪

≫Frau Dunér auch?≪

≫Ja.≪

≫Ich komme.≪

Wallander reichte den Hörer an Per Åkeson zurück und stand auf. ≫Martinsson hat Drohbriefe gefunden, du könntest recht haben.≪

≫Ruf mich hier oder zu Hause an, sobald du etwas zu berichten hast.≪

Wallander ging direkt hinaus zu seinem Wagen, ohne die Jacke zu holen, die noch in seinem Büro lag. Auf dem Weg zur Kanzlei überschritt er mehrfach die zulässige Geschwindigkeit. Sonja Lundin saß an ihrem Platz, als er hereinstürmte.

≫Wo sind sie?≪ fragte er.

Sonja Lundin zeigte auf das Konferenzzimmer. Wallander riß die Tür auf — er hatte die Anwesenheit der Experten von der Anwaltskammer total vergessen. Drei ernste Herren, alle über sechzig, nahmen seinen Auftritt mißbilligend zur Kenntnis. Wallander erinnerte sich an das unrasierte Gesicht in Frau Dunérs Spiegel. Es war kaum anzunehmen, daß sein Aussehen inzwischen an Attraktivität gewonnen hatte.

Martinsson und Svedberg saßen am Tisch und erwarteten ihn.

≫Das ist Kommissar Wallander≪, stellte Svedberg vor.

≫Ein im ganzen Lande bekannter Fachmann≪, sagte einer der Vertreter der Anwaltskammer und grüßte. Wallander gab auch den beiden anderen die Hand und setzte sich.

≫Ich bin gespannt≪, sagte Wallander und schaute Martinsson auffordernd an.

Das Wort ergriff jedoch einer der drei Herren aus Stockholm. ≫Ich sollte Ihnen vielleicht einleitend die Verfahrensweise erklären, wenn eine Kanzlei liquidiert wird≪, sagte der Mann, dessen Name wie Wrede geklungen hatte.

≫Das hat Zeit≪, unterbrach Wallander. ≫Lassen Sie uns so fort zur Sache kommen. Sie haben also Drohbriefe gefunden?≪

Herr Wrede sah Wallander verstimmt an und hüllte sich in Schweigen. Martinsson schob Wallander einen braunen Umschlag über den Tisch; Svedberg reichte ihm ein Paar Plastikhandschuhe.

≫Die Briefe lagen ganz weit hinten in einem Fach des Dokumentenschranks≪, sagte Martinsson. ≫Sie waren in keinem Posteingangsbuch oder Journal verzeichnet.≪

Wallander streifte sich die Handschuhe über und öffnete den braunen Umschlag. Er zog zwei Briefe auf weißem Papier heraus und versuchte, die Poststempel auf den Umschlägen zu entziffern. Auf dem einen Kuvert bemerkte er einen schwarzen Fleck, als ob jemand versucht hätte, etwas unleserlich zu machen. Wallander legte die beiden Briefbogen vor sich auf den Tisch. Die mit der Hand geschriebenen Texte waren kurz.

Das Unrecht ist nicht vergessen, keiner von Ihnen soll davonkommen, Sie werden sterben, Gustaf Torstensson, Sten Torstensson und Frau Dunér.

Der andere Brief war noch kürzer und in derselben Handschrift verfaßt.

Bald wird das Unrecht bestraft.

Die Briefe trugen das Datum 19. Juni und 26. August 1992; sie waren mit dem Namen Lars Borman unterzeichnet.

Wallander legte die Schriftstücke vorsichtig zur Seite.

≫Wir haben im Register nachgesehen≪, sagte Martinsson. ≫Weder Gustaf noch Sten Torstensson hatte einen Klienten namens Lars Borman.≪

≫Das ist korrekt≪, bestätigte Herr Wrede.

≫Ein begangenes Unrecht≪, überlegte Martinsson laut. ≫Und es muß etwas Schwerwiegendes gewesen sein, sonst hätte er ja kein Motiv, allen dreien anzudrohen, sie umzubringen.≪

≫Das stimmt≪, murmelte Wallander. Wieder hatte er das Gefühl, etwas einordnen zu müssen, was sich seinem Verständnis entzog.

≫Zeig mir, wo ihr den Umschlag gefunden habt≪, sagte er.

Svedberg führte ihn zu einem geräumigen Dokumentenschrank in dem Raum, wo Frau Dunérs Schreibtisch stand, und wies auf eine der unteren Schubladen. Wallander zog sie heraus. Sie war für eine Hängeregistratur eingerichtet.

≫Hol Sonja Lundin≪, sagte er.

Als sie mit Svedberg den Raum betrat, sah Wallander, daß sie sehr nervös war. Dennoch war er überzeugt, daß sie nichts mit den mysteriösen Geschehnissen in der Kanzlei zu tun hatte.

≫Wer besaß den Schlüssel zu diesem Schrank?≪ fragte er.

≫Frau Dunér≪, antwortete Sonja Lundin mit kaum hörbarer Stimme.

≫Sprechen Sie bitte lauter.≪

≫Frau Dunér≪, wiederholte sie.

≫Nur sie?≪

≫Die Anwälte hatten eigene Schlüssel.≪

≫War der Schrank verschlossen?≪

≫Frau Dunér öffnete ihn, wenn sie morgens kam, und schloß wieder ab, wenn sie ging.≪

Herr Wrede mischte sich in das Gespräch. ≫Wir haben von Frau Dunér den Schlüssel von Sten Torstensson bekommen und heute aufgeschlossen.≪

Wallander nickte.

Da war noch etwas, was er fragen sollte. Aber er kam nicht darauf, was es war.

Statt dessen wandte er sich an Wrede. ≫Was halten Sie von diesen Drohbriefen?≪

≫Der Mann muß natürlich sofort verhaftet werden.≪

≫Danach habe ich nicht gefragt. Ich möchte Ihre Meinung erfahren.≪

≫Anwälte geraten oft in heikle Situationen.≪

≫Soll ich daraus schließen, daß jeder Anwalt früher oder später diese Sorte Brief erhält?≪

≫Die Anwaltskammer kann Ihnen möglicherweise eine entsprechende Statistik zur Verfügung stellen.≪

Wallander sah ihn lange an, bevor er seine letzte Frage stellte. ≫Haben Sie jemals einen Drohbrief erhalten?≪

≫Das ist vorgekommen.≪

≫Weshalb?≪

≫Darüber spreche ich nicht. Damit würde ich meine Schweigepflicht als Anwalt verletzen.≪

Wallander nickte. Dann steckte er die Kuverts in den braunen Umschlag zurück. ≫Das hier nehmen wir mit≪, sagte er zu den drei Herren von der Anwaltskammer.

≫Ganz so einfach geht das nicht≪, meinte Herr Wrede, der eine Art Wortführer zu sein schien. Er war aufgestanden, und Wallander hatte den Eindruck, sich im Gerichtssaal zu befinden.

≫Möglicherweise geraten wir jetzt in einen Interessenkonflikt≪, sagte Wallander und wunderte sich über seine Wortwahl. ≫Sie sind hier, um zu entscheiden, was mit der Hinterlassenschaft der Kanzlei, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, geschehen soll. Gleichzeitig wollen wir den oder die Mörder finden. Dieser braune Umschlag steht also zunächst uns zur Verfügung.≪

≫Wir können nicht akzeptieren, daß irgendein Dokument aus der Kanzlei entfernt wird, bevor wir nicht mit dem Staatsanwalt Kontakt aufgenommen haben, der die Voruntersuchung leitet.≪

≫Dann rufen Sie Per Åkeson an≪, sagte Wallander. ≫Und grüßen Sie von mir.≪

Dann nahm er den Umschlag und verließ den Raum. Martinsson und Svedberg schlossen sich eilig an.

≫Jetzt gibt es Ärger≪, sagte Martinsson, und es klang, als könnte er sich mit dem Gedanken durchaus anfreunden.

Als sie aus dem Haus kamen, war der Wind böig. Wallander fror. ≫Was tun wir? Wo steckt eigentlich Ann-Britt Höglund?≪

≫Kind krank≪, sagte Svedberg lakonisch. ≫Hansson würde in die Hände klatschen, wenn er es mitbekäme. Er hat die ganze Zeit behauptet, daß Frauen bei der Kripo nichts zu suchen haben.≪

≫Hansson hat immer das eine oder andere behauptet≪, sagte Martinsson. ≫Polizisten, die sich ständig auf Fortbildungskursen rumdrücken, sind auch keine große Hilfe bei der Aufklärung von Verbrechen.≪

≫Die Briefe sind zwei Jahre alt≪, sagte Wallander. ≫Wir haben einen Namen, Lars Borman. Er droht, Gustaf und Sten Torstensson umzubringen. Und Frau Dunér. Er schreibt einen Brief, zwei Monate später einen weiteren. Der eine Brief steckt in einer Art Firmenkuvert. Sven Nyberg ist geschickt. Ich glaube, er kann uns sagen, was auf dem Kuvert steht. Und natürlich sind die Briefe abgestempelt. Ich weiß nicht, worauf wir eigentlich noch warten.≪

Sie fuhren zum Polizeigebäude zurück. Während Martinsson Sven Nyberg anrief, der immer noch in Frau Dunérs Garten herumbuddelte, versuchte Wallander, die Poststempel zu entziffern.

Svedberg übernahm es, in den Zentralregistern der Polizei nach dem Namen Borman zu fahnden. Als Sven Nyberg eine Viertelstunde später Wallanders Büro betrat, war er blaugefroren und hatte in Kniehöhe dunkle Grasflecken am Overall.

≫Wie geht es voran?≪ fragte Wallander.

≫Langsam≪, antwortete Nyberg. ≫Was hast du denn gedacht? Eine Mine zersplittert in Millionen Partikel, wenn sie explodiert.≪

Wallander zeigte auf die beiden Briefe und den braunen Umschlag.

≫Das hier muß gründlich untersucht werden. Aber zuerst möchte ich wissen, wo die Briefe abgestempelt wurden. Und was auf dem einen Kuvert steht. Alles andere kann warten.≪

Sven Nyberg setzte sich die Brille auf, richtete sich Wallanders Schreibtischlampe ein und betrachtete die Briefe. ≫Die Poststempel entziffern wir unterm Mikroskop. Was auf dem Kuvert stand, wurde mit Tusche übermalt. Da muß ich ein bißchen kratzen. Aber ich glaube, ich schaffe es, ohne den Brief nach Linköping zu schicken.≪

≫Es eilt≪, sagte Wallander.

Leicht verstimmt setzte Nyberg die Brille ab. ≫Es eilt immer. Ich brauche eine Stunde. Ist das zuviel?≪

≫Nimm dir die Zeit, die nötig ist. Ich weiß, daß du so schnell arbeitest, wie du kannst.≪

Nyberg nahm die Briefe und verließ das Büro. Kurz darauf kamen Martinsson und Svedberg.

≫In den Registern gibt es keinen Borman≪, sagte Svedberg. ≫Ich habe vier Bromans gefunden und einen Borrman. Ich dachte, daß der Name vielleicht falsch geschrieben wurde. Aber Evert Borrman war ein Scheckbetrüger, der Ende der 60er Jahre die Gegend von Östersund unsicher machte. Wenn er noch lebt, müßte er 85 sein.≪

Wallander schüttelte den Kopf. ≫Wir müssen auf Nyberg warten. Aber wir sollten uns von dem Ganzen hier nicht allzuviel erhoffen. Die Drohung ist brutal, aber diffus. Ich rufe euch, wenn Nyberg sich meldet.≪

Als Wallander allein war, nahm er sich den ledernen Aktenordner vor, den er am Morgen bei seinem Besuch auf Schloß Farnholm erhalten hatte. Fast eine Stunde war er damit beschäftigt, sich die Dimensionen von Alfred Harderbergs Imperium zu vergegenwärtigen, als es an die Tür klopfte und Sven Nyberg eintrat. Wallander stellte erstaunt fest, daß sein Kollege den schmutzigen Overall immer noch nicht ausgezogen hatte.

≫Ich kann deine Fragen beantworten≪, sagte Nyberg und setzte sich auf den Besucherstuhl. ≫Der Brief wurde in Helsingborg abgestempelt. Und das eine Kuvert trug den Aufdruck Hotel Linden.≪

Wallander griff nach einem Schreibblock und machte sich Notizen.

≫Hotel Linden≪, wiederholte Nyberg. ≫Gjutargatan 12. Es stand sogar die Telefonnummer dabei.≪

≫Wo?≪ fragte Wallander.

≫Oh, ich dachte, das wäre klar. Der Brief ist in Helsingborg abgestempelt, und dort liegt auch das Hotel.≪

≫Gut≪, sagte Wallander.

≫Ich tue nur, worum man mich bittet≪, sagte Nyberg.

≫Aber da es diesmal so eilig war, bin ich noch einen Schritt weitergegangen. Und ich glaube, du wirst Probleme bekommen.≪

Wallander sah ihn fragend an.

≫Ich habe die Nummer in Helsingborg gewählt. Es meldete sich die Ansage: Kein Anschluß unter dieser Nummer. Ich bat Ebba, sich darum zu kümmern. Sie brauchte nur zehn Minuten, um herauszufinden, daß das Hotel Linden vor einem Jahr geschlossen wurde.≪

Nyberg erhob sich und wischte die Sitzfläche sauber. ≫Jetzt muß ich erst mal was essen.≪

≫Tu das. Und vielen Dank für die Hilfe.≪

Als Nyberg fort war, versuchte Wallander, die neuen Informationen einzufügen. Dann rief er Svedberg und Martinsson zu sich. Einige Minuten später saßen sie bei einer Tasse Kaffee in Wallanders Büro.

≫Es muß so etwas wie ein zentrales Hotelregister geben≪, sagte Wallander. ≫Ein Hotel ist ein Unternehmen mit einem Eigentümer. Es kann nicht geschlossen werden, ohne daß es irgendwo vermerkt wird.≪

≫Was geschieht eigentlich mit den alten Hotelanmeldungen?≪ fragte Svedberg. ≫Werden die vernichtet? Oder aufbewahrt?≪

≫Das müssen wir so schnell wie möglich herausfinden≪, sagte Wallander. ≫Vor allem brauchen wir den ehemaligen Eigentümer. Wenn wir die Arbeit aufteilen, dürfte es nicht länger als eine Stunde dauern. Wir treffen uns wieder, wenn wir fertig sind.≪

Wallander rief Ebba an und bat sie, in den Telefonbüchern von Schonen und Halland nach dem Namen Borman zu suchen. Er hatte eben aufgelegt, da klingelte das Telefon. Es war sein Vater.

≫Vergiß nicht, daß du mich heute abend besuchen wolltest≪, sagte er.

≫Ich komme≪, sagte Wallander und dachte, daß er eigentlich zu müde war, um nach Löderup hinauszufahren. Aber er konnte nicht schon wieder absagen. ≫Gegen sieben bin ich da.≪

≫Wir werden ja sehen≪, sagte der Vater.

≫Was meinst du damit?≪ fragte Wallander und merkte, daß er wütend wurde.

≫Ich meine nur, daß wir ja sehen werden, ob du um sieben bei mir bist.≪

Wallander zwang sich, einer Diskussion aus dem Weg zu gehen. ≫Ich komme≪, wiederholte er nur und beendete das Gespräch.

Die Luft im Raum schien plötzlich stickig zu sein. Er trat auf den Flur hinaus und ging zur Anmeldung.

≫Unter dem Namen Borman gibt es keinen Anschluß≪, sagte Ebba. ≫Soll ich weitersuchen?≪

≫Noch nicht.≪

≫Ich möchte dich gern mal zu mir zum Essen einladen≪, sagte Ebba. ≫Du mußt mir erzählen, wie es dir so geht.≪

Wallander nickte, ohne etwas zu sagen.

Er kehrte in sein Zimmer zurück und öffnete das Fenster. Der Wind war noch stärker geworden; ihn fröstelte. Er schloß das Fenster wieder und setzte sich an den Tisch. Der Aktenordner von Schloß Farnholm lag aufgeschlagen da, doch er schob ihn zur Seite. Er dachte an Baiba in Riga.

Als es zwanzig Minuten später klopfte, war er immer noch wie abwesend.

≫Nun weiß ich alles über schwedische Hotels≪, sagte Svedberg. ≫Martinsson kommt auch gleich.≪

Bald darauf saßen sie wieder zu dritt am Tisch. Svedberg las vor, was er sich notiert hatte. ≫Eigentümer und Betreiber des Hotels Linden war ein gewisser Bertil Forsdahl. Das hat mir die Bezirksbehörde mitgeteilt. Es handelte sich um ein kleines Familienhotel, das nicht mehr rentabel war. Außerdem ist Bertil Forsdahl inzwischen siebzig Jahre alt. Aber ich habe seine Telefonnummer. Er wohnt in Helsingborg.≪

Wallander wählte die Nummer, die ihm Svedberg diktierte. Es dauerte lange, dann meldete sich eine Frauenstimme.

≫Ich suche Bertil Forsdahl≪, sagte Wallander.

≫Er ist nicht da, er kommt erst heute abend zurück. Wer sind Sie denn?≪

Wallander überlegte kurz, dann antwortete er. ≫Ich heiße Kurt Wallander und rufe aus dem Polizeigebäude von Ystad an. Es geht um das Hotel, das Ihr Mann bis vor einem Jahr betrieben hat. Nichts Besonderes, nur Routinefragen.≪

≫Mein Mann ist ein ehrlicher Mensch≪, erklärte die Frau.

≫Da gibt es keinen Zweifel. Reine Formsache. Wann wird er denn zurück sein?≪

≫Er ist auf einem Seniorenausflug nach Ven. Dann wollten sie noch in Landskrona zu Abend essen. Aber gegen zehn ist er sicher zu Hause. Er geht nie vor Mitternacht zu Bett, eine alte Gewohnheit aus seiner Zeit als Hotelier.≪

≫Bitte grüßen Sie ihn, ich lasse von mir hören. Und, wie gesagt, Sie müssen sich keine Sorgen machen.≪

≫Ich mach mir auch keine≪, sagte die Frau. ≫Mein Mann ist ein ehrlicher Mensch.≪

Wallander beendete das Gespräch und wandte sich an seine Kollegen. ≫Ich fahre heute abend zu ihm.≪

≫Das hat doch bis morgen Zeit≪, sagte Svedberg verwundert.

≫Sicher, aber ich habe heute abend nichts vor.≪

Eine Stunde später trafen sie sich zur allgemeinen Lagebesprechung wieder. Björk hatte sich mit einem wichtigen Termin bei der vorgesetzten Behörde entschuldigt, dafür tauchte überraschend Ann-Britt Höglund auf. Ihr Mann war nach Hause gekommen und hatte die Pflege des kranken Kindes übernommen.

Sie konzentrierten sich auf die Drohbriefe. Aber Wallander wurde das Gefühl nicht los, daß sie etwas viel Wichtigeres, was vielleicht klar auf der Hand lag, einfach nicht erkannten.

Er erinnerte sich, daß Ann-Britt Höglund am Tag zuvor Ähnliches geäußert hatte.

Nach der Besprechung blieben sie im Flur stehen.

≫Wenn du heute abend nach Helsingborg fährst, komme ich mit≪, sagte sie. ≫Wenn ich darf.≪

≫Das ist doch nicht nötig≪, sagte er.

≫Ich würde aber gern dabeisein.≪

Er nickte. Sie vereinbarten, sich um neun am Polizeigebäude zu treffen.

_________

Kurz vor sieben Uhr fuhr Wallander zum Haus seines Vaters in Löderup.

Unterwegs hielt er an und kaufte etwas Gebäck. Als er ankam, stand sein Vater draußen im Atelier und malte an einem Bild mit seinem immergleichen Motiv, einer Herbstlandschaft mit oder ohne Auerhahn im Vordergrund.

Solche wie meinen Vater nennt man verächtlich Jahrmarktsmaler, dachte Wallander. Manchmal fühle ich mich wie ein Jahrmarktspolizist.

Die Frau seines Vaters, die ehemalige Haushaltshilfe, war zu Besuch bei ihren Eltern. Wallander rechnete damit, daß sein Vater verstimmt wäre, daß er nur eine Stunde bleiben konnte. Doch der Alte nickte nur. Eine Weile spielten sie Karten. Wallander ging nicht weiter darauf ein, warum er wieder bei der Polizei arbeitete, und sein Vater schien auch nicht besonders interessiert, die Gründe zu erfahren. An diesem Abend kam es ausnahmsweise nicht zum Streit zwischen ihnen. Als Wallander nach Ystad zurückfuhr, überlegte er, wann es das zuletzt gegeben hatte.

Fünf vor neun stieg Ann-Britt Höglund in seinen Wagen, und sie nahmen die Ausfahrt nach Malmö. Es stürmte nach wie vor; der Wind pfiff durch eine poröse Stelle der Gummidichtung an der Scheibe. Wallander spürte den schwachen Duft von Ann-Britt Höglunds Parfüm. Als sie die E 65 erreichten, beschleunigte er.

≫Kennst du dich in Helsingborg aus?≪ fragte sie.

≫Leider nicht.≪

≫Wir könnten die Kollegen dort anrufen.≪

≫Die würde ich bis auf weiteres lieber heraushalten.≪

≫Warum?≪

≫Wenn Polizisten fremdes Terrain betreten, gibt es immer eine Menge Ärger. Man soll die Kollegen nur dann behelligen, wenn es sich absolut nicht vermeiden läßt.≪

Schweigend setzten sie die Fahrt fort. Wallander dachte unwillig an das Gespräch, das er mit Björk führen mußte. Er nahm den Abzweig zum Flugplatz Sturup und bog nach ein paar Kilometern noch einmal ab, Richtung Lund.

≫Erzähl mir, warum du Polizistin geworden bist≪, sagte Wallander schließlich.

≫Jetzt nicht. Ein andermal.≪

Es waren kaum Autos unterwegs, dafür schien der Wind immer heftiger zu toben. Sie passierten den Kreisverkehr vor Staffanstorp und sahen bereits die Lichter von Lund. Es war fünf vor halb zehn.

≫Seltsam≪, sagte sie plötzlich.

Ihre Stimme hatte sich verändert. Wallander warf ihr einen Seitenblick zu. Sie starrte angestrengt in den Außenspiegel. Nun konzentrierte auch er sich auf den nachfolgenden Verkehr. Weit entfernt leuchteten Scheinwerfer.

≫Was ist denn so seltsam?≪ fragte er.

≫Ich habe das bisher noch nie erlebt.≪

≫Was denn?≪

≫Verfolgt zu werden. Oder zumindest beschattet.≪

≫Woher willst du wissen, daß uns der Wagen folgt?≪

≫Ganz einfach, er ist hinter uns, seit wir losgefahren sind.≪

Wallander sah sie zweifelnd an.

≫Ich bin ganz sicher≪, sagte sie. ≫Dieses Auto begleitet uns, seit wir in Ystad losgefahren sind.≪

7

Die Angst war wie ein Raubtier.

Wallander sollte sich später daran erinnern wie an ein Raubtier, das zum Sprung ansetzte. Das Bild erschien ihm selbst kindisch und wenig originell. Wem würde er seine Angst beschreiben? Seiner Tochter Linda, und vielleicht auch Baiba, in einem der Briefe, die er regelmäßig nach Riga schickte. Sonst keinem. Nie würde er mit Ann-Britt Höglund über seine Gefühle im Auto sprechen. Sie fragte nicht, und er war später unsicher, ob sie seine Furcht überhaupt bemerkt hatte. Tatsächlich war er so erschrocken gewesen, daß er zu zittern begann, und er war drauf und dran, die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren und geradewegs in den Straßengraben und vielleicht auch in den Tod zu rasen. Er erinnerte sich, daß er gewünscht hatte, allein im Wagen zu sitzen. Dann wäre alles einfacher für ihn gewesen. Die bange Frage, was mit ihr, die neben ihm saß, geschehen würde, machte einen großen Teil der Angst aus. Nach außen hin hatte er die Rolle des erfahrenen Polizisten gespielt, der sich von einem so unbedeutenden Ereignis wie der plötzlichen Entdeckung, verfolgt zu werden, nicht aus der Ruhe bringen läßt. Aber insgeheim war er, noch als sie die ersten Häuser von Lund erreichten, zutiefst schockiert gewesen. Hinter dem Ortseingangsschild hatte er die erste Einfahrt genommen, die zu einer der rund um die Uhr geöffneten Tankstellen führte. Der Wagen, ein dunkelblauer Mercedes, war an ihnen vorübergefahren, ohne daß sie die Zulassungsnummer oder die Anzahl der Personen hatten erkennen können. Sie hielten an einer Tanksäule.

≫Ich glaube, du hast dich geirrt≪, meinte er.

Sie schüttelte den Kopf. ≫Der Mercedes ist uns seit Ystad gefolgt. Ich könnte nicht beschwören, daß er bereits vor dem Polizeigebäude auf uns gewartet hat, aber er ist mir schon am Kreisverkehr an der E 65 aufgefallen. Erst war es einfach ein Auto, aber als es nach zweimaligem Abbiegen immer noch hinter uns war, wurde es ernst. Ich habe das noch nie erlebt, verfolgt zu werden.≪

Wallander stieg aus dem Wagen und schraubte den Tankverschluß auf. Ann-Britt Höglund stand neben ihm und schaute zu. Er tankte voll.

≫Wer sollte uns verfolgen?≪ fragte er, als er die Tankpistole in die Halterung hängte.

Sie wartete draußen, während er bezahlen ging. Sie muß sich geirrt haben, dachte er. Langsam wich die Angst.

Sie fuhren weiter durch die Stadt. Die Straßen waren wenig belebt; die Ampeln schienen nur zögernd die Farbe zu wechseln. Als die Häuser hinter ihnen lagen und sie die Autobahn Richtung Norden erreicht hatten, beschleunigte Wallander, und sie behielten den nachfolgenden Verkehr im Auge. Aber der Mercedes zeigte sich nicht wieder. Als sie die südliche Einfahrt Helsingborgs erreicht hatten, fuhr Wallander langsamer. Ein schmutziger Lastwagen überholte donnernd, dann ein dunkelroter Volvo. Wallander hielt am Straßenrand, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Dann ging er nach hinten und hockte sich, wie um es zu kontrollieren, vor ein Rücklicht. Er wußte, daß sie alle passierenden Fahrzeuge notieren würde. Nach fünf Minuten erhob er sich wieder. Er hatte vier Fahrzeuge gezählt, darunter war ein Bus mit einem dem Motorengeräusch nach zu urteilen defekten Zylinder.

≫Kein Mercedes?≪ fragte er, als er wieder im Wagen saß.

≫Dafür ein weißer Audi. Zwei Mann vorn, vielleicht ein weiterer auf dem Rücksitz.≪

≫Woraus schließt du, daß ausgerechnet der Audi …≪

≫Weil nur die Männer in dem Auto hierher schauten. Außerdem beschleunigten sie die Fahrt.≪

Wallander wies auf das Autotelefon. ≫Ruf Martinsson an. Ich nehme an, du hast die Nummern notiert. Nicht nur von dem Audi, auch von allen anderen. Nenn sie ihm. Sag, es ist dringend.≪

Er gab ihr Martinssons Privatnummer; im Weiterfahren sah er sich nach einem öffentlichen Fernsprecher um, wo er vielleicht ein Telefonbuch mit einem Stadtplan fände, um sich besser orientieren zu können. Er hörte, wie Ann-Britt Höglund zuerst mit einem von Martinssons Kindern sprach, wahrscheinlich mit der zwölfjährigen Tochter. Kurz darauf war Martinsson selbst am Apparat, und sie gab ihm die Zulassungsnummern. Dann reichte sie Wallander den Hörer. ≫Er will dich sprechen.≪

Wallander bremste und fuhr rechts heran, bevor er übernahm.

≫Was habt ihr vor?≪ fragte Martinsson. ≫Können die Identifizierungen nicht bis morgen warten?≪

≫Wenn Ann-Britt dich anruft und sagt, daß es eilig ist, dann ist es eilig.≪

≫Was sind das für Autos?≪

≫Es würde zu lange dauern, es dir jetzt zu erklären. Da mußt du bis morgen warten. Wenn du etwas herausgefunden hast, ruf bitte zurück.≪

Er ließ Martinsson keine Zeit für weitere Fragen. Er spürte, daß Ann-Britt Höglund gekränkt war.

≫Warum traut er mir nicht? Warum muß er erst dich fragen?≪

Ihre Stimme war plötzlich schrill. Wallander war unsicher, ob sie ihre Enttäuschung nicht verbergen wollte oder konnte.

≫Mach dir nichts draus. Es dauert eine Weile, bis man sich an Veränderungen gewöhnt. Für die Polizei von Ystad bist du die größte Sensation seit Jahren. Du bist von Gewohnheitstieren umgeben, die nicht die geringste Lust haben, sich zu ändern.≪

≫Gilt das auch für dich?≪

≫Sicher.≪

Erst als sie den Fährhafen erreichten, entdeckte Wallander eine Telefonzelle. Der weiße Audi war verschwunden. Wallander parkte vor dem Bahnhof. Auf der schmutzigen Wandkarte neben dem Fahrkartenschalter fand Wallander die Gjutargata. Sie lag am Ostrand der Stadt. Er versuchte, sich den Weg einzuprägen, und kehrte zum Wagen zurück.

≫Wer folgt uns?≪ fragte sie, als sie nach links abbogen und an dem weißen Theatergebäude vorbeifuhren.

≫Ich weiß nicht. Der Fall Gustaf und Sten Torstensson ist doch allzu merkwürdig. Es kommt mir vor, als bewegten wir uns die ganze Zeit in die falsche Richtung.≪

≫Ich habe eher das Gefühl stillzustehen.≪

≫Vielleicht drehen wir uns auch im Kreis. Ohne es zu merken, treten wir immer wieder in unsere eigenen Fußstapfen.≪

Sie gelangten in eine ruhige Villengegend. Wallander parkte vor der Hausnummer 12, und sie stiegen aus. Der Wind zerrte an den Autotüren. Das Gebäude war aus roten Ziegeln, flach, mit einer wie angeklebten Garage. Zu dem Grundstück gehörte ein kleiner Garten. Unter einer Plane ahnte Wallander die Konturen eines Bootes.

Bevor sie klingeln konnten, wurde die Tür geöffnet. Ein weißhaariger Mann in einem Trainingsanzug lächelte sie neugierig an.

Wallander zeigte seine Legitimation. ≫Ich heiße Wallander und bin von der Kriminalpolizei Ystad. Das hier ist meine Kollegin Ann-Britt Höglund.≪

Der Mann nahm den Ausweis in die Hand und studierte ihn mit kurzsichtigen Augen. Zur selben Zeit kam seine Frau in den Flur und begrüßte sie. Wallander hatte das Gefühl, auf der Schwelle eines Hauses zu stehen, in dem zwei glückliche Menschen lebten. Sie wurden ins Wohnzimmer gebeten, wo ein Tablett mit Kaffee und Gebäck wartete. Wallander wollte sich gerade setzen, da fiel sein Blick auf ein Bild. Zuerst glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen, aber dann war er sicher: Vor ihm an der Wand hing eine Landschaft, die sein Vater gemalt hatte, eine Variante ohne Auerhahn. Er schüttelte den Kopf. Zum zweiten Mal in seinem Leben sah er bei fremden Menschen ein Bild seines Vaters. Das erste Mal war es in einer Wohnung in Kristianstad gewesen — mit Auerhahn im Vordergrund.

≫Tut mir leid, daß wir so spät am Abend noch stören≪, sagte Wallander. ≫Aber wir haben ein paar Fragen, die leider nicht warten können.≪

≫Aber einen Kaffee trinken Sie doch mit?≪ fragte Frau Forsdahl.

Sie nahmen dankend an. Wallander vermutete, daß Ann-Britt Höglund mitgekommen war, um zu erleben, wie er eine Befragung führte. Plötzlich fühlte er sich unsicher. Es ist so lange her, dachte er. Nicht ich sollte ihr etwas beibringen, sondern umgekehrt. Ich muß wieder lernen, was ich vor wenigen Tagen als erledigtes Kapitel meines Lebens abgeschrieben habe.

Er dachte an den unendlichen Strand von Skagen, sein einsames Revier. Einen Moment lang sehnte er sich zurück. Aber das war vorbei.

≫Bis vor einem Jahr haben Sie das Hotel Linden geführt≪, begann er.

≫Vierzig Jahre≪, sagte Bertil Forsdahl, und Wallander hörte den Stolz in seiner Stimme.

≫Das ist eine lange Zeit≪, meinte er.

≫Ich habe es 1952 erworben≪, fuhr Bertil Forsdahl fort. ≫Damals hieß es ‘Pelikan’, war heruntergewirtschaftet und hatte einen schlechten Ruf. Ich habe es von einem Mann namens Markusson gekauft. Dem war alles egal; er hatte einen Hang zum Alkohol. In den letzten Jahren waren die Zimmer meistens von seinen Zechkumpanen belegt gewesen. Ich gestehe, daß ich das Hotel billig bekam. Markusson starb im Jahr darauf; er hat sich in Helsingör totgesoffen. Damals stand eine Linde vor dem Eingang; wir tauften das Hotel um. Es lag ganz in der Nähe des alten Theaters, das später abgerissen wurde, leider. Oft haben Schauspieler bei uns gewohnt. Einmal übernachtete Inga Tidblad in unserem besten Zimmer; sie trank Tee zum Frühstück.≪

≫Ich nehme an, Sie haben ihre Anmeldung aufgehoben. Schließlich hat sie ja unterschrieben, das ist doch wie ein Autogramm.≪

≫Ich habe alle Anmeldungen aufbewahrt≪, sagte Bertil Forsdahl eifrig. ≫Unten im Keller liegen vierzig Jahrgänge.≪

≫Manchmal setzen wir uns da unten hin≪, sagte plötzlich Frau Forsdahl. ≫Blättern und erinnern uns. Man sieht die Namen und erinnert sich an die Menschen.≪

Schnell wechselte Wallander einen Blick mit Ann-Britt Höglund. Eine der wichtigsten Fragen war bereits beantwortet.

Auf der Straße begann ein Hund zu bellen.

≫Das ist der Wachhund der Nachbarn≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Der fühlt sich für die ganze Straße zuständig.≪

Wallander nahm einen Schluck Kaffee. ≫Hotel Linden≪ stand auf der Tasse. ≫Ich möchte Ihnen erklären, warum wir hier sind. Sie hatten ja nicht nur diese bedruckten Tassen, sondern auch Briefpapier mit der Hotel-Adresse. Im Juni und im August vergangenen Jahres wurden hier in Helsingborg zwei Briefe eingeworfen. Eines der Kuverts stammte aus dem Hotel. Das muß kurz vor der Schließung gewesen sein.≪

≫Wir haben den Betrieb am 15. September eingestellt≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Wer in der letzten Nacht unser Gast war, brauchte nicht zu bezahlen.≪

≫Würden Sie uns sagen, warum Sie das Hotel aufgegeben haben?≪ fragte Ann-Britt Höglund.

Wallander fühlte sich durch ihre Eigenmächtigkeit gestört. Zugleich hoffte er, daß ihr diese Reaktion verborgen blieb.

Wie aus einem geheimen weiblichen Einverständnis heraus antwortete Frau Forsdahl: ≫Was konnten wir tun? Das Haus sollte abgerissen werden, das Hotel rentierte sich nicht mehr. Wir hätten noch ein paar Jahre weitermachen können, wenn wir gewollt und die Genehmigung bekommen hätten. Aber es ging nicht.≪

≫Bis zuletzt haben wir versucht, den höchstmöglichen Standard zu halten≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Aber schließlich wurde es zu teuer. Farbfernseher in jedem Raum; das kostet.≪

≫Das war ein trauriger Tag, der 15. September≪, sagte seine Frau. ≫Wir haben noch alle Schlüssel zu den siebzehn Zimmern. An der Stelle, wo das Hotel gestanden hat, ist jetzt ein Parkplatz. Und die Linde ist natürlich weg. Sie ist eingegangen. Vielleicht können auch Bäume vor Kummer sterben.≪

Das Hundegebell auf der Straße brach nicht ab.

Wallander dachte an den Baum, den es nicht mehr gab. ≫Lars Borman≪, sagte er dann. ≫Sagt Ihnen der Name etwas?≪

Die Antwort Bertil Forsdahls fiel überraschend aus. ≫Armer Kerl.≪

≫Das war eine schreckliche Geschichte≪, fügte seine Frau hinzu. ≫Warum interessiert sich die Polizei plötzlich für ihn?≪

≫Sie kennen ihn also≪, sagte Wallander. Er sah, daß Ann-Britt Höglund rasch einen Notizblock aus ihrer Handtasche holte.

≫Ein netter Mann≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Ruhig und friedlich. Jederzeit freundlich und zuvorkommend. Solche Menschen gibt es heute kaum noch auf der Welt.≪

≫Wir würden gern mit ihm in Kontakt kommen.≪

Bertil Forsdahl und seine Frau sahen sich an. Wallander hatte plötzlich das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben.

≫Lars Borman ist tot≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Ich dachte, das wüßten Sie.≪

Wallander schwieg eine Weile. ≫Wir wissen nichts über Lars Borman≪, sagte er endlich. ≫Lediglich daß er im vergangenen Jahr zwei Briefe geschrieben hat; einer davon steckte in einem Kuvert aus Ihrem Hotel. Wir wollten ihn finden und befragen. Nun ist klar, daß es nicht mehr möglich ist. Aber wir würden gern erfahren, was geschehen ist. Und wer er war.≪

≫Er war regelmäßig bei uns zu Gast≪, antwortete Bertil Forsdahl. ≫Über viele Jahre kam er etwa jeden vierten Monat und blieb meistens zwei bis drei Tage.≪

≫Was hatte er für einen Beruf? Woher stammte er?≪

≫Lars Borman war bei der Bezirksbehörde angestellt≪, sagte Frau Forsdahl. ≫Er hatte mit Ökonomie zu tun.≪

≫Revisor≪, ergänzte Bertil Forsdahl. ≫Ein pflichtbewußter und ehrlicher Beamter des Regierungsbezirks Malmöhus.≪

≫Er wohnte in Klagshamn≪, sagte seine Frau. ≫Hatte Frau und Kind. Das Ganze war eine schreckliche Tragödie.≪

≫Was ist denn passiert?≪ fragte Wallander.

≫Er beging Selbstmord≪, sagte Bertil Forsdahl leise. Wallander merkte, daß die Erinnerung alte Wunden aufriß.

≫Lars Borman war der Mensch, von dem wir einen Selbstmord am wenigsten erwartet hätten≪, fuhr Bertil Forsdahl fort. ≫Aber offenbar trug er an einem Geheimnis, das sich keiner von uns vorstellen konnte.≪

≫Was ist passiert?≪ wiederholte Wallander.

≫Er war hier in Helsingborg, einige Wochen bevor wir zumachten. Tagsüber ging er seinem Beruf nach, abends hielt er sich im Zimmer auf. Er hat viel gelesen. Am letzten Morgen bezahlte er die Rechnung und verabschiedete sich. Er versprach, von sich hören zu lassen, auch wenn es das Hotel nicht mehr geben würde. Dann reiste er ab. Einige Wochen später erfuhren wir, was geschehen war. An einem Sonntagmorgen war er mit dem Rad losgefahren und hatte sich in einem Wäldchen nahe Klagshamn erhängt, ein paar Kilometer von seinem Haus entfernt. Er hinterließ nichts, keine Erklärung, keinen Brief, weder an seine Frau noch an die Kinder. Es war für alle wie ein Schock.≪

Wallander nickte nachdenklich. Er war in Klagshamn aufgewachsen und überlegte, in welchem Wäldchen Lars Borman sein Leben beendet haben könnte. Vielleicht hatte er selbst als Kind dort gespielt?

≫Wie alt war er?≪ fragte er.

≫Gerade fünfzig≪, antwortete Frau Forsdahl. ≫Jedenfalls nicht viel darüber.≪

≫Er wohnte also in Klagshamn und arbeitete als Revisor bei der Bezirksbehörde≪, sagte Wallander. ≫Es wundert mich, daß er im Hotel übernachtete. So weit ist es ja nun auch wieder nicht von Malmö nach Helsingborg.≪

≫Er fuhr nicht gern Auto≪, antwortete Bertil Forsdahl. ≫Außerdem, glaube ich, gefiel es ihm bei uns. Er konnte sich auf sein Zimmer zurückziehen und in Ruhe lesen. Wir ließen ihn in Frieden. Das wußte er zu schätzen.≪

≫In den Anmeldungen findet sich bestimmt seine Adresse, oder?≪

≫Wir haben gehört, daß seine Witwe das Haus verkauft hat und weggezogen ist. Sie hielt es dort nicht mehr aus, nach dem, was geschehen war. Und seine Kinder sind erwachsen.≪

≫Wissen Sie, wohin sie gezogen ist?≪

≫Nach Spanien. Marbella heißt das, glaube ich.≪

Wallander schaute zu Ann-Britt Höglund, die eifrig mitschrieb.

≫Jetzt möchte ich mal eine Frage stellen≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Warum interessiert sich die Polizei plötzlich für den armen Lars Borman?≪

≫Reine Routine≪, antwortete Wallander. ≫Mehr darf ich leider nicht sagen. Aber er war und ist keinesfalls verdächtig, ein Verbrechen begangen zu haben.≪

≫Er war ein ehrlicher Mensch≪, sagte Bertil Forsdahl. ≫Er meinte, man solle einfach und rechtschaffen leben. Wir haben uns im Laufe der Jahre oft unterhalten. Er regte sich immer auf, wenn wir auf die Unehrlichkeit zu sprechen kamen, die sich in der Gesellschaft breitmacht.≪

≫Es wurde also nie geklärt, warum er Selbstmord begangen hat?≪ fragte Wallander.

Bertil Forsdahl und seine Frau schüttelten den Kopf.

≫Tja, dann würden wir gern noch einen Blick in die Anmeldungen des letzten Jahres werfen, wenn es möglich ist.≪

≫Wir bewahren sie, wie gesagt, im Keller auf≪, sagte Bertil Forsdahl und erhob sich.

≫Vielleicht ruft Martinsson an≪, bemerkte Ann-Britt Höglund. ≫Am besten, ich hole das Mobiltelefon aus dem Auto.≪

Wallander gab ihr die Schlüssel, und Frau Forsdahl begleitete sie hinaus. Dann hörte er, wie die Wagentür zugeworfen wurde, ohne daß der Nachbarshund angefangen hätte zu bellen. Als die Frauen wieder im Haus waren, gingen sie gemeinsam in den Keller hinunter. In einem erstaunlich großen Raum waren die Anmeldungen in Aktenordnern jahrgangsweise aufgereiht. Auch ein altes Schild mit der Aufschrift Hotel Linden sowie ein Brett mit siebzehn Schlüsseln hingen an der Wand. Wie ein Museum, dachte Wallander und merkte, daß er gerührt war. Hier verbirgt sich die Erinnerung an ein langes Arbeitsleben, die Erinnerung an ein kleines, unbedeutendes Hotel, das sich zuletzt nicht mehr rentierte.

Bertil Forsdahl griff sich den letzten Ordner aus der Reihe, legte ihn auf einen Tisch und blätterte darin. Bald hatte er den Monat August 1992 gefunden. Schließlich tippte er auf eine Eintragung. Wallander und Ann-Britt Höglund beugten sich über das Dokument. Wallander erkannte die Handschrift sofort. Die Hotelanmeldung schien sogar mit demselben Stift geschrieben worden zu sein wie der Brief. Lars Borman war am 12. Oktober 1939 geboren und hatte sich als Bezirksrevisor eingetragen. Ann-Britt Höglund notierte die Adresse in Klagshamn: Mejramsvägen 23. An diese Straße konnte sich Wallander nicht erinnern, sie mußte in einer der neuen Villengegenden liegen, die erst nach seinem Umzug entstanden waren. Wallander blätterte zum Monat Juni zurück. Auch dort stand Lars Bormans Name, und das Datum stimmte mit dem des ersten Briefes überein.

≫Was sagst du dazu?≪ flüsterte Ann-Britt Höglund.

≫Noch gar nichts.≪

Im selben Moment surrte das Mobiltelefon. Wallander nickte ihr zu. Sie nahm das Gespräch an, setzte sich auf einen Hocker und schrieb mit, was Martinsson ihr diktierte. Wallander klappte den Ordner zu und beobachtete, wie Bertil Forsdahl ihn in das Regal zurückstellte. Als das Telefonat beendet war, gingen sie wieder ins Wohnzimmer. Auf der Treppe erkundigte sich Wallander, was Martinsson herausgefunden hatte.

≫Es war der Audi≪, sagte Ann-Britt Höglund. ≫Wir reden später darüber.≪

Inzwischen war es Viertel nach elf. Wallander und seine Kollegin machten sich auf den Heimweg.

≫Es tut mir leid, daß wir so spät stören mußten≪, entschuldigte sich Wallander noch einmal. ≫Aber manchmal kann die Polizei nicht warten.≪

≫Ich hoffe, wir konnten Ihnen irgendwie helfen≪, erwiderte Bertil Forsdahl. ≫Auch wenn es weh tut, an den armen Lars Borman erinnert zu werden.≪

≫Das kann ich verstehen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann rufen Sie bitte bei der Polizei in Ystad an.≪

≫Was sollte mir noch einfallen?≪ fragte Bertil Forsdahl verwundert.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Wallander und gab ihm zum Abschied die Hand.

Sie verließen das Haus und setzten sich ins Auto. Wallander knipste die Innenbeleuchtung an.

Ann-Britt Höglund holte ihren Notizblock hervor. ≫Ich hatte also recht. Es war der weiße Audi. Die Nummer stimmte nicht. Das Schild war gestohlen, es gehört eigentlich zu einem Nissan, der noch nicht einmal verkauft ist. Er steht in einem Autohaus in Malmö.≪

≫Und die anderen Fahrzeuge?≪

≫Alles in Ordnung.≪

Wallander startete. Es war halb zwölf. Der Wind hatte nachgelassen. Sie verließen die Stadt; die Straße hinter ihnen war leer.

≫Bist du müde?≪ fragte Wallander.

≫Nein.≪

Sie hielten an einer Tankstelle, an der man auch nachts noch Kaffee bekommen konnte.

≫Wenn du nicht müde bist, bleiben wir eine Weile hier. Wir halten eine