Die Brandmauer
Henning Mankell
2003
1
Zwei junge Mädchen überfallen einen Taxifahrer, betäuben ihn mit einem Hammer und töten ihn mit einem Küchenmesser. Als die Polizei sie verhört, zeigen sie keinerlei Schuldgefühle. Wallander kann es kaum fassen. Finden junge Menschen heutzutage wirklich nichts dabei, jemanden hinterrücks zu ermorden? Kurz darauf geschehen die merkwürdigsten Dinge: Ein Mann fällt vor einem Bankautomaten tot um. Seine Leiche wird aus der Pathologie gestohlen und wieder an den ursprünglichen Fundort transportiert. In ganz Schonen geht das Licht aus. In der Transformatorstation liegt eine verkohlte Leiche. Wallander ist sich sicher, daß etwas anderes, Größeres hinter all dem steckt…
Inhaltsverzeichnis
I Der Anschlag
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II Die Brandmauer
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NACHWORT
Ein Mensch, der vom Wege der Klugheit abirrt
Wird weilen in der Schar der Toten.
Die Sprüche Salomos, 21,16
Teil I
Der Anschlag
1
Am Abend flaute der Wind plötzlich ab und schlief dann völlig ein.
Er war auf den Balkon getreten. Am Tage konnte er zwischen den gegenüberliegenden Häusern das Meer erkennen. Aber jetzt war es dunkel. Manchmal nahm er sein altes englisches Miniaturfernglas mit hinaus und schaute in die erleuchteten Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite. Aber es endete immer damit, daß ihn das Gefühl beschlich, jemand habe ihn entdeckt.
Der Himmel war sternenklar.
Schon Herbst, dachte er. Vielleicht bekommen wir heute nacht Frost. Obwohl es für Schonen ziemlich früh ist.
Irgendwo in der Nähe fuhr ein Auto. Ihn fröstelte, und er ging wieder hinein. Die Balkontür klemmte. Auf dem Block neben dem Telefon auf dem Küchentisch notierte er sich, daß er am nächsten Tag die Tür reparieren mußte.
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Dann ging er ins Wohnzimmer. Einen Augenblick blieb er in der Tür stehen und ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. Weil Sonntag war, hatte er geputzt. Es gab ihm stets ein Gefühl von Zufriedenheit, sich in einem vollkommen sauberen Zimmer zu befinden.
An der einen Schmalseite stand ein Schreibtisch. Er zog den Stuhl vor, knipste die Arbeitslampe an und holte das dicke Logbuch heraus, das er in einer der Schubladen aufbewahrte. Wie üblich begann er damit, das am Abend zuvor Geschriebene durchzulesen.
Samstag, der 4. Oktober 1997. Der Wind war den ganzen Tag böig. Laut Wetterdienst 8 – 10 Meter pro Sekunde. Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Temperatur um sechs Uhr früh sieben Grad. Um zwei Uhr war sie auf acht Grad gestiegen. Am Abend auf fünf gesunken.
Danach hatte er nur noch vier Sätze geschrieben.
Der Weltraum ist heute öde und leer. Keine Nachrichten. C antwortet nicht. Alles ist ruhig.
Er schraubte den Deckel vom Tintenfaß und tauchte die Stahlfeder behutsam ein. Er hatte sie von seinem Vater geerbt, der sie seit seinem ersten Tag als Assistent des Geschäftsführers in einer kleinen Bankfiliale in Tomelilla aufbewahrt hatte. In sein Logbuch schrieb er nie mit einer anderen Feder.
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Er schrieb, daß der Wind abgenommen hatte und dann völlig eingeschlafen war. Auf dem Thermometer am Küchenfenster hatte er gesehen, daß die Temperatur drei Grad betrug. Der Himmel war klar. Er notierte außerdem, daß er die Wohnung geputzt und dafür drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten gebraucht hatte. Zehn Minuten weniger als am Sonntag davor.
Außerdem hatte er einen Spaziergang zum Sportboothafen gemacht und eine halbe Stunde in der Kirche Sankta Maria gesessen und meditiert.
Er überlegte, bevor er fortfuhr. Dann schrieb er eine weitere Zeile ins Logbuch. Am Abend kurzer Spaziergang.
Er drückte das Löschpapier vorsichtig auf das Geschriebene, wischte die Feder ab und schraubte den Deckel des Tintenfasses wieder auf.
Bevor er das Logbuch zuklappte, blickte er auf die alte Schiffsuhr, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Sie zeigte zwanzig Minuten nach elf.
Er ging in den Flur, zog seine alte Lederjacke an und stieg in ein Paar Gummistiefel. Bevor er die Wohnung verließ, fühlte er nach, ob er die Schlüssel und die Brieftasche eingesteckt hatte.
Als er auf die Straße hinaustrat, blieb er reglos im Schatten stehen und blickte um sich. Es war niemand zu sehen. Das hatte er auch nicht erwartet. Dann fing er an zu gehen. Er bog wie gewöhnlich nach links ab, überquerte die Straße nach Malmö und ging hinunter zu den Kaufhäusern und dem roten Backsteingebäude, in dem das Finanzamt untergebracht war. Er beschleunigte seine Schritte, bis er seinen üblichen ruhigen Abendrhythmus gefunden hatte. Tagsüber ging er schneller, weil er sich anstrengen und ins Schwitzen geraten wollte. Doch die Abendspaziergänge waren etwas anderes. Da versuchte er, die Gedanken des Tages abzuschütteln und sich auf den Schlaf und den kommenden Tag vorzubereiten.
Vor dem Baumarkt führte eine Frau ihren Hund aus. Einen Schäferhund. Er begegnete ihr fast jedesmal, wenn er seinen Abendspaziergang machte. Ein Wagen fuhr in hohem Tempo vorüber. Am Steuer erkannte er einen jungen Mann und hörte Musik, obwohl die Wagenfenster geschlossen waren.
Sie wissen nicht, was sie erwartet, dachte er. Alle diese Jugendlichen, die in ihren Autos herumfahren und so laute Musik hören, daß ihre Ohren in absehbarer Zeit geschädigt sind.
Sie wissen nicht, was sie erwartet. Ebensowenig wie die alleinstehenden Damen, die mit ihren Hunden Gassi gehen.
Der Gedanke belebte ihn. Er dachte an all die Macht, an der er teilhatte. Das Gefühl, einer der Auserwählten zu sein. Die über die Kraft verfügten, alte versteinerte Wahrheiten zu Fall zu bringen und ganz neue und unerwartete zu erschaffen.
Er blieb stehen und schaute zum Sternenhimmel auf.
Nichts ist wirklich faßbar, dachte er. Mein eigenes Leben ebensowenig wie die Tatsache, daß das Licht der Sterne, die ich jetzt sehe, schon eine unendliche Zeitspanne hierher unterwegs gewesen ist. Das einzige, was dem Ganzen eine Spur von Sinn geben kann, ist das, was ich tue. Das Angebot, das ich vor fast zwanzig Jahren bekommen und angenommen habe, ohne zu zögern.
Er ging weiter, jetzt schneller, weil ihn die Gedanken erregten, die sich in seinem Kopf entwickelten. Er merkte, daß er ungeduldig geworden war. Sie hatten so lange gewartet. Endlich näherten sie sich dem Augenblick, wo sie ihre unsichtbaren Visiere herunterklappen und ihre große Flutwelle über die Erde hinwegrollen sehen würden.
Doch noch war der Augenblick nicht gekommen. Noch war die Zeit nicht reif. Ungeduld war eine Schwäche, die er sich nicht erlauben durfte.
Er hielt inne. Er befand sich schon mitten im Villenviertel. Weiter wollte er nicht gehen. Kurz nach Mitternacht wollte er im Bett liegen.
Er machte kehrt und ging langsam zurück. Als er das Finanzamt hinter sich gelassen hatte, entschloß er sich, zum Bankomat an einem der Kaufhäuser hinüberzugehen. Er tastete mit der Hand nach seiner Brieftasche. Er wollte kein Geld abheben. Aber er wollte sich einen Kontoauszug ausdrucken lassen, um sicherzugehen, daß alles seine Ordnung hatte.
Er blieb im Licht vor dem Geldautomaten stehen und zog seine blaue Scheckkarte hervor. Die Frau mit dem Schäferhund war jetzt verschwunden. Aus Richtung Malmö kommend, donnerte ein Laster vorbei. Wahrscheinlich wollte er mit einer der Fähren nach Polen. Dem Lärm nach zu urteilen war der Auspuff defekt.
Er gab seine Geheimnummer ein und drückte anschließend auf die Taste Kontoauszug. Die Karte kam wieder heraus, und er steckte sie zurück in die Brieftasche. Im Innern des Geldautomaten ratterte es. Er lächelte, als er daran dachte, kicherte.
Wenn die Menschen wüßten, dachte er. Wenn die Menschen wüßten, was sie erwartet.
Der weiße Zettel mit dem Kontoauszug wurde durch den Spalt herausgeschoben. Er suchte nach seiner Brille, doch ihm fiel ein, daß sie in dem Jackett steckte, das er getragen hatte, als er zum Sportboothafen gegangen war. Einen Moment lang ärgerte er sich darüber, daß er sie vergessen hatte.
Er suchte die Stelle, wo das Licht der Straßenlaterne am hellsten war, und betrachtete blinzelnd den Kontoauszug.
Die automatische Überweisung vom Freitag war verbucht. Ebenso die Barauszahlung vom Tag zuvor. Sein Guthaben betrug 9765 Kronen. Alles in bester Ordnung.
Was dann geschah, kam ohne jede Vorwarnung.
Ihm war, als habe ein Pferd ihn getreten. Ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn.
Er fiel vornüber, die Hand krampfte sich um den Zettel mit den Zahlen.
Als sein Kopf auf dem kalten Asphalt aufschlug, erlebte er einen Augenblick der Klarheit.
Sein letzter Gedanke war, daß er nichts begriff.
Dann wurde er von einem Dunkel umschlossen, das von allen Seiten gleichzeitig kam.
Mitternacht war gerade vorüber. Es war Montag, der 6. Oktober 1997.
Ein weiterer Lastzug fuhr auf dem Weg zur Nachtfähre vorüber.
Dann war alles wieder still.
2
Als Kurt Wallander sich in der Mariagata in Ystad in seinen Wagen setzte, war ihm beklommen zumute. Es war kurz nach acht am Morgen des 6. Oktober 1997. Während er aus der Stadt hinausfuhr, fragte er sich, warum er nicht abgelehnt hatte. Er hegte einen tiefen und intensiven Widerwillen gegen Beerdigungen. Dennoch war er jetzt zu einer solchen unterwegs. Weil er noch viel Zeit hatte, beschloß er, nicht den direkten Weg nach Malmö zu nehmen. Er bog statt dessen auf die Küstenstraße in Richtung Svarte und Trelleborg ab. Zu seiner Linken lag das Meer. Eine Fähre lief gerade ein.
Er dachte, daß dies die vierte Beerdigung in sieben Jahren war. Zuerst war sein Kollege Rydberg an Krebs gestorben. Es war eine langwierige und quälende Krankheitszeit gewesen. Wallander hatte ihn oft im Krankenhaus besucht, in dem er dahinsiechte. Rydbergs Tod war für Wallander ein schwerer Schlag. Es war Rydberg gewesen, der einen Polizisten aus ihm gemacht hatte. Er hatte Wallander gelehrt, die richtigen Fragen zu stellen. Mit Rydbergs Hilfe hatte Wallander sich die schwere Kunst angeeignet, einen Tatort zu interpretieren. Bevor Wallander mit Rydberg zusammenzuarbeiten begann, war er ein äußerst durchschnittlicher Polizist gewesen. Erst viel später, als Rydberg schon lange tot war, hatte Wallander erkannt, daß er selbst nicht nur Beharrlichkeit und Energie besaß, sondern auch gewisse Fähigkeiten. Doch noch immer führte er im stillen Gespräche mit Rydberg, wenn eine komplizierte Ermittlung ihm zu schaffen machte und er nicht wußte, in welche Richtung er sich wenden sollte. Noch immer wurde ihm fast täglich bewußt, wie sehr er Rydberg vermißte.
Dann war plötzlich sein Vater gestorben. Er war in seinem Atelier in Löderup einem Schlaganfall erlegen. Es war jetzt drei Jahre her. Nach wie vor erschien es Wallander unbegreiflich, daß sein Vater nicht mehr dasein sollte, von seinen Gemälden und dem ewigen Geruch nach Terpentin und Ölfarben umgeben. Das Haus in Löderup war nach dem Tod seines Vaters verkauft worden. Wallander war zuweilen vorbeigefahren und hatte gesehen, daß jetzt andere Menschen dort wohnten. Aber er hatte nie angehalten. Dann und wann besuchte er das Grab, fast jedesmal mit einem diffusen Gefühl von schlechtem Gewissen. Er stellte fest, daß die Abstände zwischen den Besuchen von Mal zu Mal größer wurden. Und er merkte, daß es ihm immer schwerer fiel, sich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung zu rufen.
Ein Mensch, der tot war, wurde am Ende zu einem Menschen, der nicht existiert hatte.
Dann Svedberg. Sein Kollege, der im Jahr zuvor in seiner eigenen Wohnung brutal ermordet worden war. Damals hatte Wallander darüber nachgedacht, wie wenig er im Grunde von den Menschen wußte, mit denen er zusammenarbeitete. Svedbergs Tod hatte Dinge ans Licht gebracht, von denen er nicht einmal ansatzweise etwas geahnt hatte.
Und jetzt war er auf dem Weg zu seiner vierten Beerdigung, der einzigen, zu der er eigentlich nicht hätte fahren müssen.
Sie hatte am Mittwoch angerufen. Wallander hatte gerade sein Büro verlassen wollen. Es war spät am Nachmittag. Er hatte Kopfschmerzen, nachdem er über einem trostlosen Ermittlungsmaterial gebeugt gesessen hatte, in dem es um die Beschlagnahme von Schmuggelzigaretten aus einem Lastzug ging, der mit einer Fähre gekommen war. Die Spuren hatten ins nördliche Griechenland geführt und sich da verloren. Er hatte mit der griechischen und der deutschen Polizei Informationen ausgetauscht. Aber den Hintermännern waren sie trotzdem nicht nähergekommen. Jetzt wurde ihm klar, daß man den Fahrer, der wahrscheinlich nichts von dem Schmuggelgut in seiner Ladung gewußt hatte, zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilen würde. Dramatischer würde es nicht werden. Wallander war sicher, daß täglich Schmuggelzigaretten nach Ystad kamen, und er bezweifelte, daß es ihnen jemals gelingen würde, den Verkehr zu stoppen.
Außerdem war sein Tag dadurch verdorben worden, daß er heftig mit dem Staatsanwalt aneinandergeraten war, der Per Åkeson vertrat. Åkeson war vor einigen Jahren in den Sudan gegangen und schien nicht an eine Rückkehr zu denken. Bei Åkesons Aufbruch und wenn Wallander jetzt die Briefe las, die er regelmäßig bekam, verspürte er ein nagendes Gefühl von Neid. Åkeson hatte etwas gewagt, von dem Wallander nur geträumt hatte. Jetzt wurde er bald fünfzig. Er wußte, auch wenn er es sich selbst nicht richtig eingestehen wollte, daß die großen, wichtigen Entscheidungen in seinem Leben wahrscheinlich hinter ihm lagen. Etwas anderes als Polizist würde er nicht mehr werden. Er konnte bis zu seiner Pensionierung versuchen, ein besserer Ermittler zu werden. Und vielleicht etwas von seinem Können an seine jüngeren Kollegen weiterzugeben. Doch darüber hinaus gab es nichts, was er als Wendepunkt seines Lebens vor sich sehen konnte. Es gab keinen Sudan, der auf ihn wartete.
Er hatte mit der Jacke in der Hand dagestanden, als sie anrief.
Zuerst hatte er nicht gewußt, wer sie war. Dann hatte er erkannt, daß es Stefan Fredmans Mutter war. Gedanken und Erinnerungsbilder rasten ihm durch den Kopf. In wenigen Sekunden hatte er sich die Ereignisse wieder vergegenwärtigt, die jetzt drei Jahre zurücklagen.
Der Junge, der sich als Indianer maskiert und versucht hatte, Rache zu nehmen an den Männern, die seine Schwester in den Wahnsinn getrieben und seinem kleinen Bruder Todesangst eingejagt hatten. Einer der von ihm Getöteten war der eigene Vater gewesen. Wallander hatte sich an das entsetzliche Schlußbild erinnert, als der Junge neben dem Körper seiner toten Schwester kniete und weinte. Von dem, was nachher passiert war, wußte Wallander nicht viel. Außer daß der Junge natürlich nicht im Gefängnis gelandet war, sondern in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt.
Jetzt rief Anette Fredman an, um ihm zu sagen, daß Stefan tot war. Er hatte sich das Leben genommen, indem er sich von dem Gebäude hinabgestürzt hatte, in dem er eingeschlossen gehalten worden war. Wallander hatte ihr sein Beileid ausgesprochen und irgendwo in seinem Inneren eine ganz eigene Trauer verspürt. Vielleicht war es auch nur ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Aber er hatte nicht verstanden, warum sie ihn eigentlich angerufen hatte. Er hatte mit dem Telefonhörer in der Hand dagestanden und versucht, sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen. Er war ihr zwei- oder dreimal begegnet, in einem Vorort von Malmö, als sie nach Stefan fahndeten und sich an den Gedanken zu gewöhnen versuchten, daß ein Vierzehnjähriger diese brutalen Gewaltverbrechen begangen haben könnte. Wallander erinnerte sich daran, wie scheu sie gewirkt hatte und unter welch starkem Druck sie gestanden haben mußte. Sie hatte etwas Gehetztes an sich gehabt, als fürchtete sie die ganze Zeit, daß das Schlimmste geschehen würde. Was dann ja auch der Fall gewesen war. Wallander erinnerte sich vage, daß er sich gefragt hatte, ob sie süchtig war. Vielleicht trank sie zuviel, oder sie betäubte ihre Ängste mit Tabletten. Außerdem fiel es ihm schwer, sich ihr Gesicht vorzustellen. Die Stimme, die ihm aus dem Hörer entgegenkam, war ihm fremd.
Dann hatte sie ihr Anliegen vorgebracht.
Sie bat ihn, zur Beerdigung zu kommen. Weil fast niemand sonst dabei wäre. Nur sie und Stefans kleiner Bruder Jens waren noch übrig. Wallander war trotz allem ein freundlicher Mann, der es gut mit ihnen gemeint hatte. Er versprach zu kommen. Und bereute es sogleich. Aber da war es schon zu spät. Hinterher hatte er versucht herauszufinden, was mit dem Jungen eigentlich passiert war, nachdem sie ihn gefaßt hatten. Er sprach mit einem Arzt in der psychiatrischen Anstalt, in der Stefan untergebracht worden war. In den Jahren nach der Einweisung war Stefan fast ganz verstummt und hatte alle seine inneren Türen geschlossen. Aber Wallander erfuhr, daß der Junge, der tot auf dem Asphalt gelegen hatte, Kriegsbemalung getragen hatte. Farben und Blut hatten sich zu einer schreckenerregenden Maske vermischt, die vielleicht mehr über die Gesellschaft erzählte, in der Stefan gelebt hatte, als über seine gespaltene Persönlichkeit.
Wallander fuhr langsam. Als er am Morgen den dunklen Anzug angezogen hatte, war er erstaunt, daß die Hose paßte. Er hatte also abgenommen. Seit er vor zwei Jahren erfahren hatte, daß er zuckerkrank war, hatte er seine Eßgewohnheiten geändert, Sport getrieben und auf sein Gewicht geachtet. Anfangs war er im Übereifer mehrmals am Tag auf die Waage gestiegen, bis er sie schließlich wütend fortgeworfen hatte. Wenn er es nicht schaffte, auch ohne ständige Kontrolle abzunehmen, konnte er es ebensogut bleibenlassen.
Doch der Arzt, den er regelmäßig besuchte, hatte nicht nachgegeben, sondern Wallander eindringlich ermahnt, seine nachlässige Lebensweise mit unregelmäßigen und ungesunden Mahlzeiten und ohne die geringste Dosis Bewegung aufzugeben. Schließlich hatte es gewirkt. Wallander hatte sich einen Trainingsanzug und ein Paar Turnschuhe gekauft und angefangen, regelmäßige Spaziergänge zu machen. Als Martinsson vorschlug, gemeinsam joggen zu gehen, hatte Wallander sich jedoch brüsk geweigert. Es gab eine Grenze, und für ihn hörte der Spaß beim Joggen auf. Jetzt hatte er sich eine Runde von einer Stunde zurechtgelegt, die von der Mariagata durch Sandskogen und zurück führte. Mindestens viermal die Woche zwang er sich dazu, sie zu gehen. Seine Besuche bei verschiedenen Fast-Food-Lokalen hatte er auch eingeschränkt. Und sein Arzt hatte einen Fortschritt erkannt. Der Blutzuckerspiegel war gesunken, und Wallander hatte abgenommen. Eines Morgens beim Rasieren hatte er außerdem festgestellt, daß sich sein Aussehen verändert hatte. Seine Wangen waren eingefallen. Es war ihm vorgekommen, als sehe er sein wirkliches Gesicht zurückkehren, nachdem es lange Zeit unter unnötigem Fett und schlechter Haut verborgen gewesen war. Seine Tochter Linda war angenehm überrascht, als sie ihn gesehen hatte. Nur im Polizeipräsidium hatte sich nie jemand dazu geäußert, daß er abgenommen hatte.
Als ob wir einander nie wirklich wahrnähmen, dachte Wallander. Wir arbeiten zusammen. Aber wir sehen einander nicht.
Er fuhr am Strand von Mossby entlang, der jetzt im Herbst verlassen war. Er erinnerte sich an die Zeit vor sechs Jahren, als ein Gummifloß mit zwei toten Männern angetrieben worden war. Er bremste heftig und bog von der Hauptstraße ab. Er hatte noch immer reichlich Zeit. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Es war windstill, ein paar Grad über Null. Er knöpfte seinen Mantel zu und folgte einem Pfad, der sich zwischen den Dünen hinschlängelte. Da lag das Meer. Und der leere Strand. Spuren von Menschen und Hunden. Und von Pferdehufen. Er blickte über das Wasser. Ein Zugvogelschwarm war auf dem Weg nach Süden.
Immer noch konnte er sich genau an die Stelle erinnern, an der das Floß angetrieben war. Später hatte die komplizierte Ermittlung Wallander nach Lettland geführt, nach Riga. Und dort war Baiba gewesen. Die Witwe eines ermordeten lettischen Kriminalbeamten, eines Mannes, den er kennen und schätzen gelernt hatte.
Dann waren Baiba und er zusammengewesen. Lange hatte er geglaubt, es könnte etwas daraus werden. Daß sie nach Schweden kommen würde. Einmal hatten sie sich sogar ein Haus in der Nähe von Ystad angesehen. Aber dann hatte sie sich langsam zurückgezogen. Eifersüchtig hatte Wallander sich gefragt, ob sie einen anderen hatte. Einmal war er sogar nach Riga geflogen, ohne sich anzukündigen. Aber es hatte keinen anderen Mann gegeben. Es hatte einfach daran gelegen, daß Baiba sich nicht sicher war, ob sie noch einmal einen Polizeibeamten heiraten wollte und ob sie ihr Heimatland verlassen sollte, in dem sie eine zwar schlechtbezahlte, aber befriedigende Arbeit als Übersetzerin hatte. Dann war es zu Ende gegangen.
Wallander wanderte am Strand entlang und dachte, daß es jetzt mehr als ein Jahr her war, seit er zuletzt mit ihr gesprochen hatte. Immer noch tauchte sie zuweilen in seinen Träumen auf. Aber es gelang ihm nie, sie zu greifen. Wenn er ihr entgegenging oder seine Hand nach ihr ausstreckte, war sie immer schon wieder verschwunden. Er fragte sich, ob er sie eigentlich vermißte. Seine Eifersucht hatte sich gelegt. Jetzt konnte er sie sich in der Nähe eines anderen Mannes vorstellen, ohne daß es ihm einen Stich versetzte.
Es ist die verlorene Gemeinsamkeit, dachte er. Mit Baiba blieb mir die Einsamkeit erspart, die mir vorher nicht bewußt gewesen war. Wenn ich sie vermisse, dann vermisse ich in Wahrheit die Gemeinsamkeit.
Er ging zum Auto zurück. Vor verlassenen Stränden sollte er sich hüten. Besonders im Herbst. Sie konnten leicht eine große und schwere Düsterkeit in ihm auslösen.
Einmal hatte er an der nördlichsten Spitze von Jütland einen einsamen Polizeibezirk nur für sich allein eingerichtet. Es war in einer Periode seines Lebens gewesen, in der er wegen anhaltender Depressionen krankgeschrieben war und nie geglaubt hatte, daß er noch einmal ins Polizeipräsidium von Ystad zurückkehren würde. Jahre waren seitdem vergangen, aber er erinnerte sich noch immer mit Grausen daran, wie er sich damals gefühlt hatte. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben. Es war eine Landschaft, die nur seine Ängste wachrief.
Er setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr weiter in Richtung Malmö. Um ihn her war tiefer Herbst. Er fragte sich, wie der Winter würde. Ob schwere Schneefälle und Wind für Chaos sorgen würden. Oder ob es regnerisch werden würde. Er überlegte auch, was er mit der Urlaubswoche anfangen sollte, die er im November nehmen mußte. Er hatte seine Tochter Linda gefragt, ob sie eine Charterreise in die Sonne machen sollten. Er wolle sie gern einladen. Aber Linda, die in Stockholm lebte und studierte — was, wußte er nicht so genau —, hatte gesagt, sie könne nicht fort. Selbst wenn sie wollte. Er hatte daraufhin überlegt, mit wem sonst er verreisen könnte. Aber es gab niemanden. Er hatte so gut wie keine Freunde. Von Sten Widén einmal abgesehen. Sten besaß einen Reiterhof nicht weit von Skurup. Aber Wallander bezweifelte, ob er wirklich Lust hatte, mit Widén zu verreisen. Nicht zuletzt wegen dessen Alkoholproblem. Er trank ständig, während Wallander — von seinem Arzt streng dazu angehalten — seinen früher allzu bedenkenlosen Alkoholkonsum eingeschränkt hatte. Er konnte natürlich Gertrud fragen, die Witwe seines Vaters. Aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, worüber er eine ganze Woche mit ihr reden sollte.
Sonst gab es niemanden.
Also würde er zu Hause bleiben. Für das Geld würde er statt dessen einen anderen Wagen kaufen. Sein Peugeot begann Schwächen zu zeigen. Als er jetzt in Richtung Malmö fuhr, hörte er ein hartnäckiges ungutes Geräusch vom Motor.
___________
Um kurz nach zehn war er im Malmöer Vorort Rosengård. Die Beerdigung war für elf Uhr angesetzt. Die Kirche war ein Neubau. Ein paar Jungen schossen direkt daneben mit einem Fußball gegen eine Mauer. Er blieb im Wagen sitzen und sah ihnen zu. Es waren sieben. Drei von ihnen waren schwarz. Drei andere sahen auch aus, als stammten sie aus Einwandererfamilien. Dann war da noch einer mit Sommersprossen und hellen üppigen Haaren. Die Jungen spielten mit großer Energie und unter viel Gelächter. Für einen kurzen Augenblick spürte Wallander heftige Lust mitzumachen. Aber er blieb sitzen. Ein Mann kam aus der Kirche und steckte sich eine Zigarette an.
Wallander stieg aus und trat zu dem rauchenden Mann. »Findet hier die Beerdigung von Stefan Fredman statt?« fragte er.
Der Mann nickte. »Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein.«
»Wir rechnen nicht damit, daß viele kommen«, sagte der Mann. »Ich nehme an, Sie wissen, was er angerichtet hat.«
»Ja«, sagte Wallander. »Ich weiß.«
Der Mann betrachtete seine Zigarette.
»Für so einen ist es bestimmt das beste, wenn er tot ist.«
Wallander war empört. »Stefan war noch nicht einmal achtzehn. Für einen so jungen Menschen ist es nie das beste, tot zu sein.«
Wallander merkte, daß er gebrüllt hatte. Der rauchende Mann sah ihn verwundert an. Wallander schüttelte wütend den Kopf und wandte sich um. In diesem Moment fuhr der schwarze Leichenwagen vor der Kirche vor. Der braune Sarg mit einem einsamen Kranz wurde herausgehoben.
Auf einmal wurde ihm klar, daß er Blumen hätte mitbringen sollen. Er ging zu den fußballspielenden Jungen. »Weiß einer von euch, ob es hier in der Nähe ein Blumengeschäft gibt?«
Einer der Jungen zeigte in eine Richtung.
Wallander zog seine Brieftasche heraus und suchte nach einem Hunderter. »Lauf hin und kauf einen Blumenstrauß«, sagte er. »Rosen. Und beeil dich. Du kriegst einen Zehner.«
Der Junge sah ihn fragend an. Aber er nahm das Geld.
»Ich bin Polizist«, sagte Wallander. »Ein gefährlicher Polizist. Wenn du mit dem Geld abhaust, kriege ich dich auf jeden Fall.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Uniform«, sagte er in gebrochenem Schwedisch. »Außerdem siehst du nicht aus wie ein Polizist. Jedenfalls nicht wie einer, der gefährlich ist.«
Wallander holte seinen Ausweis heraus. Der Junge musterte ihn eine Weile. Dann nickte er und machte sich auf den Weg. Die anderen spielten weiter.
Vielleicht kommt er trotzdem nicht zurück, dachte Wallander finster. Es ist lange her, daß Respekt vor einem Polizisten hierzulande eine Selbstverständlichkeit war.
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Aber der Junge kam mit Rosen zurück. Wallander gab ihm zwanzig Kronen. Zehn, weil er sie ihm versprochen hatte, und zehn dazu, weil der Junge wirklich zurückgekommen war. Es war natürlich viel zuviel. Kurz darauf hielt ein Taxi vor der Kirche. Er erkannte Stefans Mutter. Sie war gealtert und so mager, daß sie fast ausgemergelt wirkte. Neben ihr stand der Junge, der Jens hieß und ungefähr sieben Jahre alt war. Er war seinem Bruder sehr ähnlich. Seine Augen waren groß und weit aufgerissen. Die Angst von damals stand noch immer darin. Wallander trat zu ihnen und begrüßte sie.
»Es sind nur wir«, sagte sie. »Und der Pastor.«
Es wird ja wohl auf jeden Fall ein Kantor da sein, der Orgel spielt, dachte Wallander. Aber er sagte nichts.
Sie gingen in die Kirche. Der Pastor war jung, er saß zeitunglesend auf einem Stuhl direkt neben dem Sarg. Wallander spürte, wie Anette Fredman plötzlich seinen Arm packte.
Er verstand sie.
Der Pastor steckte die Zeitung weg. Sie nahmen rechts vom Sarg Platz. Sie hielt seinen Arm noch immer fest.
Zuerst hat sie ihren Mann verloren, dachte Wallander. Björn Fredman war ein widerwärtiger und brutaler Mensch, der sie schlug und seine Kinder in Todesangst versetzte. Aber er war trotz allem der Vater ihrer Kinder. Dann wird er von seinem eigenen Sohn getötet. Anschließend stirbt ihre Älteste, Louise. Und jetzt sitzt sie hier, um ihren Sohn zu begraben. Was bleibt ihr noch? Ein halbes Leben? Wenn überhaupt?
Jemand kam in die Kirche. Anette Fredman schien es nicht zu hören. Vielleicht konzentrierte sie sich so darauf, die Situation durchzustehen. Eine Frau kam den Mittelgang entlang. Sie war in Wallanders Alter. Jetzt hatte auch Anette Fredman sie bemerkt. Sie nickte. Die Frau setzte sich ein paar Bänke hinter ihnen.
»Sie ist Ärztin«, sagte Anette Fredman. »Sie heißt Agneta Malmström. Sie hat Jens einmal behandelt.«
Wallander kam der Name bekannt vor. Aber es dauerte eine Weile, bis ihm einfiel, daß Agneta Malmström und ihr Mann es waren, die ihm einen der wichtigsten Hinweise in der damaligen Ermittlung gegeben hatten. Er erinnerte sich, daß er eines Nachts über Radio Stockholm mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte sich auf einem Segelboot auf hoher See irgendwo bei Landsort befunden.
Orgelmusik strömte durch das Kircheninnere. Fing nicht eine Beerdigung immer mit Glockenläuten an? Er ließ den Gedanken fallen, als er spürte, wie ihr Griff um seinen Arm fester wurde. Er warf einen Blick auf den Jungen, der auf der anderen Seite von Anette Fredman saß. War es richtig, einen Siebenjährigen mit auf eine Beerdigung zu nehmen? Wallander war sich nicht sicher. Aber der Junge machte einen gefaßten Eindruck.
Die Musik verklang. Der Pastor begann zu sprechen. Sein Ausgangspunkt waren Jesu Worte von den Allerjüngsten, die zu ihm kommen sollten. Wallander saß da und blickte auf den Sarg, versuchte die Blumen im Kranz zu zählen, um den Kloß im Hals loszuwerden.
Die Feier war kurz. Anschließend traten sie an den Sarg. Anette Fredman atmete schwer, als quäle sie sich über die letzten Meter eines bergan steigenden Dauerlaufs. Agneta Malmström hatte sich ihnen angeschlossen. Wallander wandte sich dem Pastor zu, der ungeduldig wirkte.
»Glockenläuten«, sagte Wallander grimmig. »Wenn wir hinausgehen, sollen Glocken läuten. Und am liebsten keine Glocken vom Tonband.«
Der Pastor nickte widerwillig. Wallander schoß der Gedanke durch den Kopf, was wohl passiert wäre, wenn er seinen Polizeiausweis gezogen hätte. Anette Fredman und Jens traten als erste aus der Kirche. Wallander begrüßte Agneta Malmström.
»Ich habe Sie erkannt«, sagte sie. »Wir sind uns zwar nie begegnet, aber Sie waren ein paarmal in der Zeitung.«
»Frau Fredman hat mich gebeten, dabeizusein. Hat sie Sie auch angerufen?«
»Nein. Ich wollte sowieso kommen.«
»Und wie wird es jetzt weitergehen?«
Agneta Malmström schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie trinkt viel zuviel. Wie es mit Jens weitergehen soll, weiß ich auch nicht.«
Sie waren während des leise geführten Gesprächs in den Kirchenvorraum gelangt, wo Anette Fredman und Jens warteten. Die Glocken läuteten. Wallander öffnete die Tür. Er warf einen Blick auf den Sarg im Hintergrund. Die Männer des Beerdigungsinstituts hatten ihn schon aufgenommen und trugen ihn hinaus.
Plötzlich zuckte ein Blitzlicht auf. Vor der Kirche stand ein Fotograf. Anette Fredman versuchte, ihr Gesicht zu verdecken. Der Fotograf beugte sich vor und richtete die Kamera auf das Gesicht des Jungen. Wallander versuchte, sich vor ihn zu stellen, doch der Fotograf war schneller. Er machte sein Bild.
»Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?« schrie Anette Fredman.
Der Junge begann sofort zu weinen. Wallander packte den Fotografen am Arm und zog ihn zur Seite.
»Was soll denn das?« fuhr er ihn an.
»Das kann Ihnen doch scheißegal sein«, erwiderte der Fotograf. Er war in Wallanders Alter und hatte schlechten Atem.
»Ich mache die Bilder, die ich will«, fuhr er fort. »Die Beerdigung des Serienmörders Stefan Fredman. Die Bilder verkaufen sich. Leider bin ich zu spät zur Trauerfeier gekommen.«
Wallander war im Begriff, seinen Polizeiausweis zu zücken. Doch dann überlegte er es sich anders und riß mit einem einzigen Ruck die Kamera an sich. Der Fotograf versuchte, sie ihm wieder abzunehmen. Aber Wallander hielt ihn sich vom Leib. Es gelang ihm, die Kamera zu öffnen und den Film herauszunehmen. »Es gibt schließlich Grenzen«, sagte er und gab die Kamera zurück.
Der Fotograf starrte ihn an. Dann holte er sein Handy aus der Tasche. »Ich rufe die Polizei«, sagte er. »Das war eine Tätlichkeit.«
»Tun Sie das«, erwiderte Wallander. »Tun Sie das. Ich bin Kriminalbeamter und heiße Kurt Wallander. Ich arbeite in Ystad. Rufen Sie ruhig die Kollegen in Malmö an und erstatten Sie Anzeige gegen mich.«
Wallander warf den Film auf den Boden und zertrampelte ihn. Im gleichen Augenblick hörten die Glocken auf zu läuten.
Wallander war der Schweiß ausgebrochen. Anette Fredmans flehentliches Rufen, daß man sie in Ruhe lassen solle, hallte in seinem Kopf nach. Der Fotograf starrte auf seinen zertretenen Film. Die Jungen spielten ungerührt Fußball.
Schon bei ihrem Anruf hatte Frau Fredman gefragt, ob Wallander nach der Beerdigung auf eine Tasse Kaffee zu ihr nach Hause kommen wolle. Er hatte es nicht über sich gebracht, nein zu sagen.
»Es kommen keine Bilder in der Zeitung«, sagte er.
»Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?«
Wallander hatte keine Antwort.
Die Wohnung im dritten Stock des stark heruntergekommenen Mietshauses war noch so, wie er sie in Erinnerung hatte. Agneta Malmström war auch mitgekommen. Schweigend warteten sie darauf, daß der Kaffee fertig wurde. Wallander meinte, in der Küche eine Flasche klirren zu hören.
Der Junge saß auf dem Fußboden und spielte stumm mit einem Auto. Wallander spürte, daß Agneta Malmström die gleiche Beklemmung empfand wie er. Aber es gab nichts zu sagen.
Sie saßen da mit ihren Kaffeetassen. Anette Fredmans Augen glänzten. Agneta Malmström erkundigte sich, wie sie finanziell zurechtkäme, da sie arbeitslos war.
Anette Fredman antwortete einsilbig. »Es geht. Irgendwie geht es. Immer ein Tag nach dem anderen.«
Das Gespräch verebbte. Wallander blickte zur Uhr. Es war kurz vor eins. Er stand auf und reichte Frau Fredman die Hand. Im gleichen Augenblick fing sie an zu weinen. Wallander fühlte sich hilflos.
»Ich bleibe noch eine Weile«, meinte Agneta Malmström. »Gehen Sie nur.«
»Ich werde versuchen, bei Gelegenheit einmal anzurufen«, sagte Wallander. Dann tätschelte er dem Jungen etwas linkisch den Kopf und ging.
Im Auto blieb er zunächst eine Weile sitzen, bevor er den Motor anließ. Er dachte an den Fotografen, der davon ausgegangen war, seine Bilder von der Beerdigung des toten Serienmörders verkaufen zu können.
Er fuhr durch den schonischen Herbst nach Ystad zurück.
Die Ereignisse des Vormittags bedrückten ihn.
Um kurz nach zwei parkte er seinen Wagen und betrat das Polizeipräsidium.
Es war windig geworden. Der Wind kam aus Osten. Eine Wolkendecke zog langsam über die Küste heran.
3
Als Wallander in sein Zimmer kam, hatte er Kopfschmerzen. Er suchte in seinen Schreibtischschubladen nach Tabletten. Draußen auf dem Korridor ging Hansson pfeifend vorbei. In der hintersten Ecke der untersten Schublade fand er schließlich eine zerknüllte Packung Dispril. Er ging zum Eßraum und holte sich ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee. Einige der neuen jungen Polizisten, die in den letzten Jahren nach Ystad gekommen waren, saßen an einem Tisch und unterhielten sich lautstark. Wallander nickte und grüßte. Er hörte, daß es um ihre Zeit an der Polizeihochschule ging. Er kehrte in sein Zimmer zurück und saß danach untätig da und starrte das Wasserglas an, in dem sich die beiden Tabletten langsam auflösten.
Er dachte an Anette Fredman. Versuchte sich vorzustellen, wie der Junge, der stumm spielend auf dem Fußboden in der Wohnung in Rosengård gesessen hatte, in Zukunft zurechtkommen würde. Es war, als habe er sich vor der Welt versteckt. Mit der Erinnerung an einen toten Vater und zwei tote Geschwister.
Wallander leerte das Glas und hatte den Eindruck, daß die Kopfschmerzen unmittelbar nachließen. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Mappe mit der Aufschrift »Brandeilig« auf einem roten Klebezettel, die Martinsson ihm hingelegt hatte. Wallander wußte, was darin war. Sie hatten vor dem Wochenende darüber gesprochen. Eine Geschichte, die sich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in der letzten Woche ereignet hatte. Wallander war zu diesem Zeitpunkt in Hässleholm; Lisa Holgersson hatte ihn auf ein Seminar geschickt, auf dem die Reichspolizeibehörde neue Richtlinien für die Koordinierung der Kontrolle und Überwachung verschiedener Motorradgangs vorstellen wollte. Wallander hatte sie gebeten, ihn zu verschonen, aber Lisa Holgersson hatte nicht nachgegeben. Er und kein anderer sollte fahren. Eine der Gangs hatte außerhalb von Ystad schon einen abgeteilten Hof gekauft. Sie mußten damit rechnen, in Zukunft mit ihnen Probleme zu bekommen.
Wallander entschied sich mit einem Seufzer, wieder an die Arbeit zu gehen. Er schlug die Mappe auf, las den Inhalt und konnte anschließend konstatieren, daß Martinsson einen klaren und übersichtlichen Bericht über den Vorfall verfaßt hatte. Wallander lehnte sich zurück und dachte über das Gelesene nach.
Zwei Mädchen, die eine neunzehn, die andere nicht älter als vierzehn, hatten kurz nach zehn Uhr am Dienstagabend von einem Restaurant im Zentrum aus ein Taxi bestellt. Als Fahrtziel hatten sie Rydsgård angegeben. Eins der Mädchen hatte neben dem Fahrer gesessen. Am Stadtrand von Ystad hatte sie ihn gebeten anzuhalten, weil sie sich auf die Rückbank setzen wolle. Das Taxi hatte am Straßenrand angehalten. Das Mädchen im Fond hatte in diesem Moment einen Hammer hervorgeholt und dem Fahrer damit auf den Kopf geschlagen. Gleichzeitig hatte das Mädchen auf dem Beifahrersitz ein Messer gezogen und ihm in die Brust gestoßen. Dann hatten sie dem Fahrer die Brieftasche und das Handy abgenommen und das Auto verlassen. Der Taxifahrer hatte trotz seiner Verletzungen Alarm auslösen können. Er hieß Johan Lundberg, war etwas über sechzig Jahre alt und zeit seines Berufslebens Taxi gefahren. Er hatte eine gute Beschreibung der beiden Mädchen gegeben. Martinsson, der ausgerückt war, hatte ohne Schwierigkeiten durch Befragen verschiedener Gäste ihre Namen erfahren. Beide Mädchen waren bei sich zu Hause festgenommen worden. Die Neunzehnjährige kam in Untersuchungshaft. Wegen der Schwere des Verbrechens hatte man entschieden, auch die Vierzehnjährige dazubehalten. Johan Lundberg war bei Bewußtsein, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Aber dort hatte sich sein Zustand plötzlich verschlechtert. Jetzt war er ohne Bewußtsein, und die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er durchkommen würde. Martinsson zufolge hatten die beiden Mädchen als Grund für den Überfall angegeben, sie hätten »Geld gebraucht«.
Das jüngere Mädchen ging noch zur Schule und hatte ausgezeichnete Noten. Die ältere hatte früher in der Rezeption eines Hotels gearbeitet und war als Au pair in London gewesen. Keine von beiden hatte zuvor mit der Polizei oder den Sozialbehörden zu tun gehabt.
Ich begreife es nicht, dachte Wallander. Diese Mißachtung von Menschenleben. Sie hätten den Taxifahrer töten können. Vielleicht haben sie es sogar getan, wenn er jetzt im Krankenhaus sterben sollte. Zwei Mädchen. Wären es Jungen gewesen, könnte ich es vielleicht verstehen. Und sei es nur aus alter Gewohnheit.
Ein Klopfen unterbrach ihn in seinen Gedanken. Ann-Britt Höglund stand in der offenen Tür. Sie sah wie gewöhnlich blaß und müde aus. Wallander dachte an die Veränderung, die sie durchgemacht hatte, seit sie nach Ystad gekommen war. Sie war eine der Besten ihres Jahrgangs auf der Polizeihochschule gewesen und hatte ihre Stelle in Ystad voller Energie und mit großem Ehrgeiz angetreten. Jetzt hatte sie noch ihren Willen. Aber sie war verändert. Ihre Blässe kam von innen.
»Störe ich?« fragte sie.
»Nein.«
Sie setzte sich vorsichtig auf Wallanders wackligen Besucherstuhl.
Wallander zeigte auf die aufgeschlagene Mappe. »Was sagst du dazu?«
»Sind das die Taximädchen?«
»Ja.«
»Ich habe mit der, die in Haft sitzt, gesprochen. Sonja Hökberg. Klar und aufgeweckt. Beantwortet alle Fragen deutlich und präzise. Und scheint keinerlei Reue zu empfinden. Das zweite Mädchen ist seit gestern in der Obhut der Sozialbehörde.«
»Verstehst du das Ganze?«
Ann-Britt Höglund schwieg eine Weile, bevor sie antwortete. »Ja und nein. Daß die Gewalt in immer jüngeren Altersgruppen um sich greift, wissen wir.«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals von zwei Mädchen in dem Alter gehört zu haben, die bei einem Überfall mit Hammer und Messer vorgegangen sind. Waren sie betrunken?«
»Nein. Aber es fragt sich, ob man sich wirklich darüber wundern soll. Ob man nicht hätte wissen können, daß so etwas früher oder später passiert.«
Wallander lehnte sich über den Tisch vor. »Das mußt du mir erklären.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Versuch es!«
»Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht. Die Zeiten sind vorbei.«
»Das erklärt doch nicht, weshalb junge Mädchen mit Hammer und Messer auf einen Taxifahrer losgehen.«
»Also muß es andere Gründe geben, man muß nur danach suchen. Wir glauben beide nicht, daß es Menschen gibt, denen das Böse angeboren ist.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Ich versuche auf jeden Fall, es nicht zu glauben, auch wenn es einem ab und zu schwerfällt.«
»Es reicht, wenn man die Zeitschriften anschaut, die Mädchen in diesem Alter lesen. Jetzt dreht sich wieder alles um Schönheit. Sonst zählt nichts. Darum, wie man sich einen Freund angelt und sein Leben durch dessen Träume verwirklicht.«
»War das denn nicht immer so?«
»Nein. Sieh dir doch deine Tochter an. Hat sie nicht ihre eigenen Vorstellungen davon, was sie aus ihrem Leben machen will?«
Wallander wußte, daß sie recht hatte. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe noch immer nicht, warum sie Lundberg überfallen haben.«
»Das solltest du aber. Wenn diese Mädchen langsam anfangen zu durchschauen, was passiert. Daß sie nicht nur nicht gebraucht werden, sondern sogar unerwünscht sind. Dann reagieren sie. Genau wie die Jungen. Unter anderem mit Gewalt.«
Wallander schwieg. Er verstand jetzt, was Ann-Britt Höglund sagen wollte.
»Ich glaube nicht, daß ich es besser erklären kann«, sagte sie. »Willst du nicht selbst mit ihr reden?«
»Martinsson meinte das auch.«
»Eigentlich bin ich wegen etwas ganz anderem gekommen. Ich brauche deine Hilfe.«
Wallander wartete auf die Fortsetzung.
»Ich habe versprochen, hier in Ystad in einer Frauenvereinigung einen Vortrag zu halten. Donnerstag abend. Aber ich merke, daß ich es nicht schaffe. Ich kann mich nicht konzentrieren. Es passiert zuviel.«
Wallander wußte, daß sie mitten in einer aufreibenden Scheidung steckte. Ihr Mann war nie da, weil er als Monteur ständig durch die Welt reiste. So zog sich das Ganze noch zusätzlich in die Länge. Schon im Vorjahr hatte sie Wallander erzählt, daß ihre Ehe zu Ende ginge.
»Kannst du nicht Martinsson fragen?« sagte Wallander abwehrend. »Du weißt, daß ich keine Vorträge halten kann.«
»Du brauchst nur eine halbe Stunde zu reden«, sagte sie. »Darüber, wie es ist, Polizist zu sein. Dreißig Frauen. Sie werden dich lieben.«
Wallander schüttelte entschieden den Kopf. »Martinsson würde es liebend gern tun. Außerdem ist er in der Politik gewesen. Er ist daran gewöhnt zu reden.«
»Ich habe ihn gefragt. Er kann nicht.«
»Und Lisa Holgersson?«
»Das gleiche.«
»Was ist mit Hansson?«
»Der fängt nach ein paar Minuten an, über Pferde zu reden. Das geht nicht.«
Wallander wurde klar, daß er nicht ablehnen konnte. Er mußte ihr helfen. »Was ist das denn für eine Frauenvereinigung?«
»Es handelt sich um eine Art literarischen Studienzirkel, der sich zu einer Vereinigung ausgewachsen hat. Sie treffen sich seit mehr als zehn Jahren.«
»Und ich soll darüber sprechen, wie es ist, Polizist zu sein?«
»Sonst nichts. Und dann haben sie vielleicht ein paar Fragen.«
»Nicht daß ich Lust dazu hätte. Aber ich mache es, weil du es bist.«
Sie wirkte erleichtert und legte einen Zettel auf seinen Tisch. »Hier sind Name und Adresse der Kontaktperson.«
Wallander nahm den Zettel an sich. Die Adresse war die eines Hauses im Zentrum. Nicht weit entfernt von der Mariagata.
Sie stand auf. »Du kriegst kein Geld. Aber Kaffee und Kuchen.«
»Ich esse keinen Kuchen.«
»Auf jeden Fall ist es ganz im Sinne des Reichspolizeichefs, der wünscht, daß wir uns gutstellen mit der Allgemeinheit. Und ständig neue Wege suchen, um über unsere Arbeit zu informieren.«
Wallander wollte sie fragen, wie es ihr ginge. Aber er ließ es. Wenn sie über ihre Probleme sprechen wollte, konnte sie selbst damit anfangen.
In der Tür wandte sie sich um. »Wolltest du nicht zu Stefan Fredmans Beerdigung?«
»Ich war da. Und es war genauso grauenhaft, wie zu erwarten war.«
»Wie ging es der Mutter? Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.«
»Anette. Ihr scheint wirklich nichts erspart zu bleiben. Aber ich glaube, sie sorgt gut für den Jungen, der ihr noch geblieben ist. Zumindest versucht sie es.«
»Wir werden ja sehen.«
»Wie meinst du das?«
»Wie heißt der Junge?«
»Jens.«
»Wir werden sehen, ob eine Person namens Jens Fredman in zehn Jahren in den Polizeiberichten auftaucht.«
Ann-Britt Höglund verließ das Zimmer. Der Kaffee war kalt geworden. Wallander holte neuen. Die jungen Kollegen waren verschwunden. Wallander ging den Flur hinunter zu Martinssons Zimmer. Die Tür stand sperrangelweit offen, aber der Raum war leer. Wallander kehrte in sein eigenes Zimmer zurück. Seine Kopfschmerzen waren nicht wiedergekommen. Ein paar Dohlen krächzten am Wasserturm. Er versuchte vergebens, sie zu zählen.
Das Telefon klingelte, und er nahm ab, ohne sich zu setzen. Es war die Buchhandlung. Das Buch, das er bestellt habe, sei gekommen. Wallander konnte sich nicht erinnern, ein Buch bestellt zu haben. Aber er sagte nichts. Er versprach, es am nächsten Tag abzuholen.
Als er aufgelegt hatte, fiel es ihm ein. Es sollte ein Geschenk für Linda sein. Ein französisches Buch über die Restaurierung alter Möbel. Wallander hatte im Wartezimmer seines Arztes in einer Illustrierten etwas darüber gelesen. Er glaubte immer noch, daß Linda, trotz ihrer sonderbaren Ausflüge in andere Berufsbereiche, an ihrem Interesse für alte Möbel festhalten würde. Er hatte das Buch bestellt und es dann vergessen. Er beschloß, Linda noch am gleichen Abend anzurufen. Es war mehrere Wochen her, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten.
Martinsson kam ins Zimmer. Er hatte es immer eilig und klopfte selten an. Wallander war im Laufe der Jahre zu der festen Überzeugung gelangt, daß Martinsson ein guter Polizist war. Seine Schwäche war, daß seine Interessen eigentlich woanders lagen. Bei mehreren Gelegenheiten in den letzten Jahren hatte er ernsthaft ans Aufhören gedacht. Vor allem als seine Tochter vor einiger Zeit auf dem Schulhof mißhandelt worden war, nur weil ihr Vater Polizist war. Aus keinem anderen Grund. Damals hatte Wallander ihn zum Weitermachen überreden können. Martinsson war hartnäckig und ließ dann und wann auch einen gewissen Scharfsinn erkennen. Aber seine Hartnäckigkeit konnte sich in Ungeduld verwandeln, und sein Scharfsinn kam nicht zur Geltung, weil er zuweilen in der Grundlagenarbeit pfuschte.
Martinsson lehnte sich an den Türrahmen. »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du hattest dein Handy nicht eingeschaltet.«
»Ich war in der Kirche«, entgegnete Wallander. »Und anschließend habe ich es vergessen.«
»Auf Stefans Beerdigung?«
Wallander wiederholte, was er zu Ann-Britt Höglund gesagt hatte. Daß es grauenhaft gewesen war.
Martinsson machte eine Kopfbewegung zu der Mappe, die aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag.
»Ich habe es gelesen«, sagte Wallander. »Und ich begreife nicht, was diese Mädchen dazu gebracht hat, mit einem Hammer zuzuschlagen und mit einem Messer zuzustechen.«
»Es steht da«, erwiderte Martinsson. »Sie waren auf Geld aus.«
»Aber die Brutalität? Wie geht es ihm denn?«
»Lundberg?«
»Wem denn sonst?«
»Er ist immer noch bewußtlos. Sie haben versprochen anzurufen, wenn eine Änderung eintritt. Entweder kommt er durch. Oder er stirbt.«
»Verstehst du das Ganze?«
Martinsson setzte sich auf den Besucherstuhl. »Nein, ich verstehe es nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wirklich verstehen will.«
»Das müssen wir. Wenn wir weiter Polizisten sein wollen.«
Martinsson sah Wallander an.
»Du weißt, daß ich schon oft daran gedacht habe aufzuhören. Beim letzten Mal hast du es geschafft, mich zu überreden. Aber beim nächsten Mal weiß ich nicht. Es wird auf jeden Fall nicht mehr so einfach sein.«
Martinsson mochte durchaus recht haben. Das beunruhigte Wallander, der ihn als Kollegen nicht verlieren wollte. Ebensowenig wie er wollte, daß Ann-Britt Höglund eines Tages käme und ihm mitteilte, sie wolle aufhören.
»Wir sollten vielleicht noch einmal mit dem Mädchen reden«, sagte Wallander. »Mit Sonja Hökberg.«
»Ich habe erst noch etwas anderes.«
Wallander war aufgestanden, setzte sich aber wieder. Martinsson hatte ein paar Papiere in der Hand. »Ich möchte, daß du dir dies einmal durchliest. Es ist letzte Nacht passiert. Ich bin hingefahren. Ich sah keine Veranlassung, dich zu wecken.«
»Was ist denn passiert?«
Martinsson kratzte sich die Stirn. »Gegen ein Uhr alarmierte uns ein Wachmann, an einem Geldautomaten oben bei den Kaufhäusern läge ein toter Mann.«
»Bei welchen Kaufhäusern?«
»Wo das Finanzamt liegt.«
Wallander nickte.
»Wir fuhren hin. Da lag tatsächlich ein Mann auf dem Asphalt. Dem Arzt zufolge war er noch nicht lange tot. Höchstens zwei Stunden. Wir bekommen natürlich in ein paar Tagen Bescheid.«
»Was war passiert?«
»Genau das war die Frage. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Aber war er geschlagen worden, oder hatte er sich die Wunde zugezogen, als er auf den Asphalt fiel? Das konnten wir nicht gleich entscheiden.«
»War er beraubt worden?«
»Seine Brieftasche war noch da. Mit Geld.«
Wallander überlegte. »Gab es Zeugen?«
»Nein.«
»Und wer ist der Tote?«
Martinsson blätterte in seinen Papieren. »Er hieß Tynnes Falk. Siebenundvierzig Jahre alt. Er wohnte ganz in der Nähe. Apelbergsgatan 10. Eine Mietwohnung im obersten Stock.«
Wallander hob die Hand und unterbrach Martinsson. »Apelbergsgatan 10?«
»Ja.«
Wallander nickte langsam. Er erinnerte sich daran, daß er vor einigen Jahren, unmittelbar nach der Scheidung von Mona, an einem Tanzabend in Saltsjöbadens Hotel eine Frau getroffen hatte. Er war ziemlich betrunken gewesen. Er war mit ihr nach Hause gegangen und am nächsten Morgen im Bett neben einer schlafenden Frau aufgewacht, die er in nüchternem Zustand kaum wiedererkannte. Geschweige denn, daß er ihren Namen wußte. Er hatte sich in aller Eile angezogen und war weggegangen und hatte sie nie wiedergetroffen. Aber aus irgendeinem Grund war er sicher, daß es das Haus Apelbergsgatan 10 gewesen war.
»Ist was Besonderes mit der Adresse?« wollte Martinsson wissen.
»Ich habe nur nicht genau gehört, was du gesagt hast.«
Martinsson schaute ihn verwundert an. »Spreche ich so undeutlich?«
»Mach jetzt weiter.«
»Er war alleinstehend. Geschieden. Seine Exfrau wohnt noch in der Stadt. Aber die Kinder sind über das ganze Land verstreut. Ein Junge von neunzehn studiert in Stockholm. Das Mädchen ist siebzehn und arbeitet als Kindermädchen in einer Botschaft in Paris. Wir haben die Frau natürlich davon unterrichtet, daß der Mann gestorben ist.«
»Was hat er beruflich gemacht?«
»Er hatte offenbar eine Einmann-Firma. Er war Berater in der Computerbranche.«
»Und er ist nicht beraubt worden?«
»Nicht dem Zettel zufolge, den er in der Hand hielt.«
»Sonst hätte man sich vorstellen können, daß jemand ihm auflauerte und zuschlug, als er Geld abgehoben hatte.«
»An die Möglichkeit habe ich auch gedacht. Aber er hatte am Samstag Geld abgehoben. Einen kleineren Betrag.«
Martinsson reichte Wallander einen Plastikbeutel mit einem blutbefleckten Stück Papier. Wallander sah, daß der Automat den Kontoauszug genau zwei Minuten nach Mitternacht gedruckt hatte.
Er reichte den Beutel zurück. »Was sagt Nyberg?«
»Nichts außer der Kopfwunde spricht für ein Verbrechen. Vermutlich hat er einen Herzinfarkt gehabt und ist daran gestorben.«
»Vielleicht hat er damit gerechnet, daß mehr Geld auf dem Konto war«, meinte Wallander nachdenklich.
»Wie kommst du darauf?«
Wallander wußte selbst nicht, was er gemeint hatte. »Wir warten also den ärztlichen Befund ab, gehen aber davon aus, daß kein Verbrechen vorliegt. Wir legen es ab.«
Martinsson sammelte seine Papiere zusammen. »Ich rufe den Anwalt an, der der Hökberg zugewiesen worden ist. Du bekommst Bescheid, wann er hiersein wird, damit du mit ihr sprechen kannst.«
»Nicht daß ich unbedingt wollte«, gab Wallander zurück. »Aber ich muß wohl.«
Martinsson verließ das Zimmer. Wallander ging zur Toilette. Die Zeit, als er ständig pinkeln mußte, weil sein Blutzuckerspiegel zu hoch war, gehörte jedenfalls der Vergangenheit an, sagte er sich.
Die nächste Stunde widmete er der Bearbeitung des trostlosen Materials über die ins Land geschmuggelten Zigaretten. In seinem Hinterkopf kreisten unentwegt die Gedanken an das Versprechen, das er Ann-Britt Höglund gegeben hatte.
Um zwei Minuten nach vier rief Martinsson an und teilte ihm mit, daß Sonja Hökberg und der Anwalt da seien.
»Wer ist der Anwalt?« fragte Wallander.
»Herman Lötberg.«
Wallander kannte ihn. Ein älterer Mann, mit dem man gut zusammenarbeiten konnte.
»Ich bin in fünf Minuten da«, sagte Wallander und legte auf.
Er trat wieder ans Fenster. Die Dohlen waren fort. Der Wind war kräftiger geworden. Er dachte an Anette Fredman. An den Jungen, der auf dem Fußboden gespielt hatte. Seine ängstlichen Augen. Dann schüttelte er sich und versuchte, sich die einleitenden Fragen an Sonja Hökberg zurechtzulegen. In Martinssons Mappe hatte er gelesen, daß sie diejenige war, die auf dem Rücksitz gesessen und Lundberg mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen hatte. Und sie hatte nicht nur einmal zugeschlagen, sondern mehrfach. Als sei sie von unkontrollierter Wut gepackt worden.
Wallander griff nach Notizblock und Stift. Im Flur fiel ihm ein, daß er seine Brille vergessen hatte. Er ging noch einmal zurück.
Es gibt nur eine Frage, dachte er auf dem Weg zum Verhör. Eine einzige Frage, die wichtig ist.
Warum haben sie es getan?
Daß sie auf Geld aus waren, ist keine ausreichende Antwort.
Es muß eine andere Antwort geben, die tiefer liegt.
4
Sonja Hökberg sah ganz anders aus, als Wallander sie sich vorgestellt hatte. Aber wie hatte er sie sich eigentlich vorgestellt? Auf jeden Fall nicht wie die Person, die er jetzt vor sich hatte. Sonja Hökberg saß auf einem Stuhl im Vernehmungszimmer. Sie war klein, wirkte dünn, fast durchsichtig. Sie hatte halblanges blondes Haar und blaue Augen. Wie eine Schwester des Jungen auf der Kaviartube, fand Wallander. Eine Schwester von Kalle, dachte er. Kindlich, lebensfroh. Aber alles andere als eine Wahnsinnige, die einen Hammer unter der Jacke oder in ihrer Handtasche versteckt hat.
Wallander hatte den Anwalt des Mädchens im Flur begrüßt.
»Sie ist sehr gefaßt«, sagte der Anwalt. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihr klar ist, unter welchem Verdacht sie steht.«
»Sie steht nicht unter Verdacht«, sagte Martinsson mit Nachdruck. »Sie hat gestanden.«
»Der Hammer?« fragte Wallander. »Haben wir den gefunden?«
»Er lag in ihrem Zimmer unterm Bett. Sie hatte nicht einmal das Blut abgewischt. Aber das zweite Mädchen hat das Messer fortgeworfen. Wir suchen noch danach.«
Martinsson ging. Wallander betrat zusammen mit dem Anwalt das Vernehmungszimmer. Das Mädchen betrachtete sie neugierig. Sie wirkte kein bißchen nervös. Wallander nickte und setzte sich. Ein Tonbandgerät stand auf dem Tisch. Der Anwalt setzte sich so, daß Sonja Hökberg ihn sehen konnte. Wallander betrachtete sie lange. Sie erwiderte seinen Blick.
»Hast du einen Kaugummi?« fragte sie plötzlich.
Wallander schüttelte den Kopf Er blickte Lötberg an, der auch den Kopf schüttelte.
»Wir werden sehen, ob wir einen Kaugummi besorgen können«, sagte Wallander und schaltete das Tonbandgerät ein. »Aber vorher werden wir miteinander reden.«
»Ich habe schon gesagt, wie es war. Warum kann ich keinen Kaugummi kriegen? Ich bezahle dafür. Ich sage nichts, wenn ich keinen Kaugummi kriege.«
Wallander zog das Telefon heran und rief in der Anmeldung an. Ebba bekommt das bestimmt hin, dachte er. Aber als sich eine fremde Frauenstimme meldete, fiel ihm ein, daß Ebba nicht mehr da war. Sie war in Pension gegangen. Obwohl es schon über ein halbes Jahr her war, hatte Wallander sich noch nicht daran gewöhnt. Die neue Kollegin in der Anmeldung hieß Irene und war um die Dreißig. Sie war vorher Arztsekretärin gewesen und hatte sich schon nach kurzer Zeit im Polizeipräsidium viele Sympathien erworben, aber Wallander vermißte Ebba.
»Ich brauche einen Kaugummi«, sagte Wallander. »Weißt du, wer Kaugummi kaut?«
»Ja, weiß ich«, erwiderte sie. »Ich selbst.«
Wallander legte auf und ging zur Anmeldung.
»Ist es das Mädchen?« fragte Irene.
»Du schaltest schnell«, sagte Wallander.
Er kehrte ins Vernehmungszimmer zurück und gab Sonja Hökberg den Kaugummi. Er hatte vergessen, das Tonbandgerät auszuschalten.
»Dann fangen wir an«, sagte er. »Es ist der 6. Oktober 1997, sechzehn Uhr fünfzehn. Vernehmung von Sonja Hökberg durch Kurt Wallander.«
»Soll ich das gleiche noch mal erzählen?« fragte das Mädchen.
»Ja. Und du sollst so deutlich sprechen, daß es im Mikrophon zu hören ist.«
»Ich habe doch schon alles gesagt.«
»Es kann sein, daß ich ein paar weitere Fragen habe.«
»Ich habe keine Lust, alles noch mal zu sagen.«
Wallander kam für einen Moment aus dem Konzept. Es war ihm unbegreiflich, daß sie keine Spur von Unruhe oder Nervosität erkennen ließ. »Darum kommst du wohl nicht herum«, sagte er. »Du bist angeklagt, ein sehr schweres Verbrechen begangen zu haben. Und du hast gestanden. Dir wird schwere Körperverletzung vorgeworfen. Und weil es dem Taxifahrer sehr schlecht geht, kann es noch schlimmer kommen.«
Lötberg blickte Wallander mißbilligend an, sagte aber nichts.
Wallander begann von vorne.
»Du heißt also Sonja Hökberg und bist am 2. Februar 1978 geboren.«
»Ich bin Wassermann. Und du?«
»Das tut hier nichts zur Sache. Du sollst nur auf meine Fragen antworten. Sonst nichts. Ist das klar?«
»Ich bin doch nicht blöd.«
»Du wohnst mit deinen Eltern im Trastväg 12 hier in Ystad.«
»Ja.«
»Du hast einen jüngeren Bruder, der Emil heißt, geboren 1982.«
»Der sollte hier sitzen. Nicht ich.«
Wallander sah sie fragend an. »Wieso?«
»Wir haben ständig Zoff. Er geht immer an meine Sachen. Schnüffelt in meinen Schubladen herum.«
»Jüngere Geschwister sind sicher manchmal anstrengend. Aber ich glaube, das lassen wir hier erst einmal beiseite.«
Immer noch genauso ruhig, dachte Wallander. Er spürte, daß ihre Unberührtheit ihn abstieß. »Kannst du mir erzählen, was Dienstag abend passiert ist?«
»Es ist so verdammt langweilig, das gleiche zweimal zu erzählen.«
»Es hilft nichts. Eva Persson und du, ihr seid also ausgegangen?«
»Hier in der Stadt kann man ja nichts machen. Ich würde gern in Moskau wohnen.«
Wallander betrachtete sie verblüfft. Auch Lötberg schien erstaunt zu sein.
»Warum gerade Moskau?«
»Ich habe irgendwo gesehen, daß es da spannend ist. Viel los. Warst du mal in Moskau?«
»Nein. Antworte nur auf meine Fragen. Sonst nichts. Ihr seid also ausgegangen?«
»Das weißt du doch schon.«
»Eva und du, ihr seid also gute Freundinnen?«
»Sonst wären wir ja wohl nicht zusammen ausgegangen. Glaubst du, ich gehe mit jemand aus, den ich nicht mag?«
Zum erstenmal meinte Wallander einen Riß in ihrer gleichgültigen Haltung wahrzunehmen. Ihre Ruhe begann in Ungeduld überzugehen.
»Kennt ihr euch schon lange?«
»Nicht besonders.«
»Wie lange?«
»Ein paar Jahre.«
»Sie ist fünf Jahre jünger als du.«
»Sie sieht zu mir auf.«
»Was meinst du damit?«
»Sie sagt es selbst. Sie sieht zu mir auf.«
»Und warum tut sie das?«
»Das mußt du sie selbst fragen.«
Das werde ich auch, dachte Wallander. Ich werde sie eine ganze Menge fragen.
»Kannst du jetzt erzählen, was geschah?«
»Aber Herrgott noch mal.«
»Du wirst schon müssen, ob du willst oder nicht. Notfalls sitzen wir bis heute abend hier.«
»Wir haben ein Bier getrunken.«
»Ist Eva Persson nicht erst vierzehn?«
»Sie sieht älter aus.«
»Und was geschah dann?«
»Dann haben wir noch eins getrunken.«
»Und danach?«
»Wir haben ein Taxi bestellt. Das weißt du doch alles. Warum fragst du?«
»Ihr hattet also beschlossen, einen Taxifahrer zu überfallen?«
»Wir brauchten Geld.«
»Wofür?«
»Nichts Besonderes.«
»Ihr brauchtet Geld. Aber ihr brauchtet es nicht für etwas Besonderes. Richtig so?«
»Ja.«
Nein du, gar nicht richtig, schoß es Wallander durch den Kopf. Er hatte einen Anflug von Unsicherheit an ihr bemerkt. Sofort wurde er wachsam. »Im allgemeinen braucht man doch Geld für etwas Besonderes.«
»Aber so war es nicht.«
Genau so war es, dachte Wallander. Aber er entschied sich, die Frage bis auf weiteres auf sich beruhen zu lassen.
»Wie seid ihr darauf gekommen, daß es ein Taxifahrer sein sollte?«
»Wir haben darüber geredet.«
»Als ihr im Restaurant gesessen habt?«
»Ja.«
»Ihr habt also nicht vorher darüber gesprochen?«
»Warum hätten wir das tun sollen?«
Lötberg saß da und betrachtete seine Hände.
»Wenn ich versuche zusammenzufassen, was du gesagt hast, dann habt ihr, bevor ihr in diesem Restaurant Bier getrunken habt, nicht beschlossen, den Taxifahrer zu überfallen. Wer hatte die Idee?«
»Das war ich.«
»Und Eva hatte nichts einzuwenden?«
»Nein.«
Das stimmt nicht, dachte Wallander. Sie lügt. Aber sie lügt nicht schlecht. »Ihr habt vom Restaurant aus das Taxi bestellt und seid sitzen geblieben, bis es kam. Richtig?«
»Ja.«
»Aber woher hattet ihr den Hammer? Und das Messer? Wenn ihr es nicht vorher geplant habt?«
Sonja Hökberg sah Wallander an. Ihr Blick wich ihm nicht aus.
»Ich habe immer einen Hammer in der Tasche. Eva hat ein Messer.«
»Warum?«
»Man kann nie wissen, was passiert.«
»Was meinst du damit?«
»Die Straßen sind voll von Idioten. Man muß sich verteidigen können.«
»Du hast also immer einen Hammer bei dir?«
»Ja.«
»Hast du ihn früher schon mal benutzt?«
Der Anwalt fuhr zusammen. »Die Frage ist kaum relevant.«
»Was bedeutet das?« fragte Sonja Hökberg.
»Relevant? Daß die Frage nicht wichtig ist.«
»Ich kann auf jeden Fall antworten. Ich habe ihn nie benutzt. Aber Eva hat einmal einen Kerl in den Arm gestochen. Als er anfing, sie zu begrapschen.«
Wallander hatte eine Idee. Er wich von der Linie ab, der er bisher gefolgt war. »Habt ihr jemand in dem Restaurant getroffen? Hattet ihr euch mit jemand verabredet?«
»Mit wem denn?«
»Das müßtest du wissen.«
»Nein.«
»Da saßen also keine Jungs, die ihr treffen wolltet?«
»Nein.«
»Du hast also keinen Freund?«
»Nein.«
Die Antwort kam zu schnell, dachte Wallander. Viel zu schnell. Er merkte sich das. »Das Taxi kam, und ihr gingt hinaus.«
»Ja.«
»Was habt ihr dann gemacht?«
»Ja, was macht man in einem Taxi? Man sagt, wo man hin will.«
»Und ihr sagtet, ihr wolltet nach Rydsgård. Warum gerade Rydsgård?«
»Das weiß ich nicht. Es war wohl nur Zufall. Irgendwas mußten wir ja sagen.«
»Eva setzte sich auf den Vordersitz und du auf die Rückbank. Hattet ihr das abgesprochen?«
»Das war unser Plan.«
»Was für ein Plan?«
»Daß wir dem Alten sagen würden, er sollte anhalten, weil Eva nach hinten kommen wollte. Und dann wollten wir ihn uns vornehmen.«
»Ihr hattet also schon von Anfang an beschlossen, die Waffen zu benutzen?«
»Nicht, wenn der Fahrer jünger gewesen wäre.«
»Was hättet ihr da gemacht?«
»Da hätten wir den Rock hochgezogen und ihm Angebote gemacht und ihn so zum Anhalten gebracht.«
Wallander spürte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Ihre kaltschnäuzige Verschlagenheit quälte ihn. »Was für Angebote?«
»Was denkst du denn?«
»Ihr wolltet ihn also damit zu locken versuchen, daß er Sex haben könnte?«
»Was für eine Scheißsprache.«
Lötberg beugte sich hastig vor. »Du brauchst nicht soviel zu fluchen.«
Sonja Hökberg blickte ihren Anwalt an. »Ich fluche, soviel ich will.«
Lötberg zog sich zurück. Wallander hatte sich entschlossen, schnell weiterzugehen. »Aber jetzt war es also ein älterer Mann, der das Taxi fuhr. Ihr brachtet ihn dazu anzuhalten. Was geschah dann?«
»Ich habe ihn auf den Kopf geschlagen. Eva hat mit dem Messer gestochen.«
»Wie viele Male hast du zugeschlagen?«
»Ich weiß nicht. Ein paarmal. Ich hab nicht mitgezählt.«
»Hattest du keine Angst, er könnte sterben?«
»Wir brauchten doch Geld.«
»Das war nicht meine Frage. Ich habe gefragt, ob du dir nicht darüber im klaren warst, daß er sterben könnte.«
Sonja Hökberg zuckte mit den Schultern. Wallander wartete, aber sie sagte nichts mehr. Er war im Moment nicht in der Lage, die Frage zu wiederholen.
»Du hast gesagt, ihr brauchtet Geld. Wozu denn?«
Jetzt sah er ihn wieder. Den schwachen Anflug von Unsicherheit, bevor sie antwortete.
»Zu nichts Besonderem, habe ich doch schon gesagt.«
»Und was passierte dann?«
»Wir haben die Brieftasche und ein Handy mitgenommen und sind nach Hause gegangen.«
»Und was habt ihr mit der Brieftasche gemacht?«
»Wir haben das Geld geteilt. Eva hat sie dann weggeworfen.«
Wallander blätterte in Martinssons Papieren. Johan Lundberg hatte ungefähr sechshundert Kronen in seiner Brieftasche gehabt. Sie war nach einem Hinweis von Eva Persson in einem Papierkorb gefunden worden. Das Handy hatte Sonja Hökberg mitgenommen. Es war bei ihr gefunden worden.
Wallander schaltete das Tonbandgerät aus.
Sonja Hökberg verfolgte seine Bewegungen. »Kann ich jetzt nach Hause gehen?«
»Nein«, sagte Wallander. »Du bist neunzehn Jahre alt. Das bedeutet, du bist strafmündig. Du hast ein schweres Verbrechen begangen. Gegen dich wird Haftbefehl erlassen.«
»Was bedeutet das?«
»Daß du in Haft bleibst.«
»Und warum?«
Wallander sah Lötberg an. Dann stand er auf. »Ich glaube, das kann dir dein Anwalt erklären.«
Wallander verließ den Raum. Ihm war schlecht. Sonja Hökberg hatte nicht gespielt. Sie war wirklich vollkommen ungerührt. Wallander ging zu Martinsson, der telefonierte, aber auf seinen Besucherstuhl deutete. Wallander setzte sich und wartete. Er hatte plötzlich das Bedürfnis zu rauchen. Das kam selten vor. Aber die Begegnung mit Sonja Hökberg war quälend gewesen.
Martinsson beendete das Gespräch.
»Wie ging es?«
»Sie gesteht ja alles. Und sie ist eiskalt.«
»Eva Persson ist genauso. Und sie ist erst vierzehn.«
Wallander schaute Martinsson fast flehend an. »Was ist bloß los?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber das sind doch zwei kleine Mädchen, verdammt noch mal.«
»Ich weiß. Und sie scheinen nichts zu bereuen.«
Sie saßen eine Weile stumm da. Wallander fühlte sich für einen Augenblick vollkommen leer.
Schließlich brach Martinsson das bedrückte Schweigen. »Verstehst du jetzt, warum ich so oft denke, ich möchte aufhören?«
Wallander erwachte wieder zum Leben. »Verstehst du jetzt, warum es so wichtig ist, daß du es nicht tust?«
Er stand auf und trat ans Fenster. »Wie geht es Lundberg?«
»Unverändert kritisch.«
»Wir müssen dieser Sache auf den Grund gehen. Egal ob er stirbt oder nicht. Sie haben ihn überfallen, weil sie für etwas ganz Bestimmtes Geld brauchten. Wenn es nicht einen ganz anderen Grund hatte.«
»Was hätte das sein sollen?«
»Ich weiß nicht. Ich habe nur so ein Gefühl. Daß es vielleicht tiefer reicht. Ohne daß wir schon sagen können, was das ist.«
»Die Wahrscheinlichkeit spricht doch wohl dafür, daß sie ein bißchen angetrunken waren. Und sich vornahmen, Geld zu beschaffen. Ohne an die Konsequenzen zu denken.«
»Warum glaubst du das?«
»Ich bin auf jeden Fall sicher, daß es kein Geldbedarf im allgemeinen war.«
Wallander nickte. »Du kannst recht haben. Etwas in der Richtung habe ich auch schon gedacht. Auf jeden Fall will ich wissen, was es war. Morgen will ich mit Eva Persson sprechen. Den Eltern. Hatte keine von beiden einen Freund?«
»Eva Persson sagte, sie hätte einen.«
»Aber die Hökberg nicht?«
»Nein.«
»Ich glaube, daß sie lügt. Sie hat einen. Und wir werden ihn ausfindig machen.«
Martinsson machte eine Notiz. »Wer nimmt das in die Hand? Du oder ich?«
Wallander zögerte nicht. »Ich. Ich will wissen, was hier in diesem Land vorgeht.«
»Ich bin nur dankbar, wenn ich drum herumkomme.«
»Ganz kommst du nicht drum herum. Und Hansson und Ann-Britt ebensowenig. Wir müssen herausfinden, was hinter diesem Überfall steckt. Es war versuchter Mord. Und wenn Lundberg stirbt, war es Mord.«
Martinsson deutete auf die Papierstapel auf seinem Tisch. »Mir ist schleierhaft, wie ich alles, was hier liegt, schaffen soll. Es sind Ermittlungen dabei, die vor zwei Jahren begonnen wurden. Manchmal hätte ich Lust, dem Reichspolizeichef den ganzen Krempel hinzuschicken und ihn zu fragen, ob er mir erklären kann, wie ich das schaffen soll.«
»Er wird das als Nörgelei und mit dem Hinweis auf schlechte Planung abtun. Und was die schlechte Planung angeht, muß ich ihm teilweise recht geben.«
Martinsson nickte.
»Manchmal hilft es, ein bißchen zu jammern.«
»Ich weiß«, gab Wallander zurück. »Es geht mir genauso. Es ist lange her, daß wir alles schafften, was wir sollten. Jetzt müssen wir eben das Wichtige aussuchen. Ich werde mit Lisa sprechen.«
Wallander war fast schon durch die Tür, als Martinsson ihn zurückrief. »Mir ist gestern abend etwas eingefallen. Wie lange hast du kein Schießtraining mehr gemacht?«
Wallander dachte nach. »Fast zwei Jahre.«
»Ganz wie bei mir. Hansson trainiert für sich. Er ist ja in einem Sportschützenverein. Wie es mit Ann-Britt ist, weiß ich nicht. Außer daß sie wohl immer noch traumatisiert ist nach der Geschichte von vor einem Jahr. Aber laut Vorschrift soll dieses Training regelmäßig absolviert werden. Während der Dienstzeit.«
Wallander sah, worauf Martinsson hinauswollte. Mehrere Jahre lang keine Schießübungen zu machen konnte kaum als »regelmäßig« gelten. Außerdem konnte es gefährlich werden, wenn man in eine Notlage geriet.
»Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht«, sagte Wallander. »Aber es ist natürlich nicht gut.«
»Ich bezweifle, daß ich eine Wand treffen würde«, meinte Martinsson.
»Wir haben zu viel zu tun. Wir schaffen nur das Allernotwendigste. Wenn überhaupt.«
»Sag es Lisa.«
»Ich glaube, das Problem ist ihr bewußt«, erwiderte Wallander zögernd. »Aber die Frage ist, ob sie etwas daran ändern kann.«
»Ich bin noch nicht vierzig«, sagte Martinsson. »Aber trotzdem ertappe ich mich dabei, daß ich denke, wie gut es früher war. Daß es auf jeden Fall besser war. Nicht so eine Scheiße wie heute.«
Wallander fand keine passende Antwort. Martinssons Nörgelei konnte manchmal nerven. Er kehrte in sein Zimmer zurück. Es war halb sechs. Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit. Dachte an Sonja Hökberg und fragte sich, warum die beiden Mädchen so dringend Geld gebraucht hatten. Oder ob etwas anderes dahintersteckte. Dann tauchte das Gesicht von Anette Fredman auf.
Wallander spürte, daß er nicht mehr weiterarbeiten konnte, obwohl viel Arbeit auf ihn wartete. Er nahm seine Jacke und ging. Der Herbstwind schlug ihm entgegen. Das komische Motorgeräusch war sogleich wieder da, als er den Wagen startete. Er verließ den Parkplatz und sagte sich, daß er unterwegs anhalten und einkaufen mußte. Sein Kühlschrank war so gut wie leer. Genaugenommen stand nur eine Flasche Champagner darin, die er bei einer Wette mit Hansson gewonnen hatte. Warum sie gewettet hatten, wußte er nicht mehr. Er beschloß spontan, einen Blick auf den Bankautomaten zu werfen, vor dem am Vorabend ein Mann gestorben war. Bei der Gelegenheit konnte er in einem der Kaufhäuser in der Nähe einkaufen.
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Als er geparkt hatte und zu dem Geldautomaten kam, stand eine Frau mit einem Kinderwagen davor und hob Geld ab. Der Asphalt war hart und uneben. Wallander blickte sich um. Wohnungen lagen nicht in der Nähe. Mitten in der Nacht war der Ort sicher vollständig öde. Auch wenn die Straßenbeleuchtung stark war, würde ein Mann, der zusammenbrach und vielleicht aufschrie, von niemandem in der Umgebung gehört oder gesehen werden.
Wallander betrat das nächstliegende Kaufhaus und suchte die Lebensmittelabteilung. Wie üblich befiel ihn Unlust, wenn er sich entscheiden sollte. Er packte einen Korb voll, bezahlte und fuhr nach Hause. Das komische Geräusch im Motor schien immer stärker zu werden. Als er in seine Wohnung hinaufkam, zog er den dunklen Anzug aus. Nachdem er geduscht und gemerkt hatte, daß die Seife fast alle war, bereitete er sich eine Gemüsesuppe zu, die ihm erstaunlicherweise gut schmeckte. Er kochte Kaffee und nahm die Tasse mit ins Wohnzimmer. Er war müde. Nachdem er sich durch die Fernsehkanäle gezappt hatte, ohne etwas zu finden, was ihn interessierte, zog er das Telefon zu sich und wählte Lindas Nummer in Stockholm. Sie lebte mit zwei Freundinnen, von denen er nicht mehr als die Namen wußte, in einer Wohnung auf Kungsholmen. Sie jobbte manchmal als Kellnerin in einem Restaurant. Wallander hatte dort gegessen, als er in Stockholm war. Das Essen war gut gewesen. Aber er war erstaunt gewesen, daß sie die laute Musik ertrug.
Linda war jetzt sechsundzwanzig. Er war immer noch der Meinung, daß sie guten Kontakt zueinander hatten, bedauerte es aber, daß sie so weit weg war. Er vermißte das regelmäßige Zusammensein.
Ein Anrufbeantworter schaltete sich ein. Die Mitteilung, daß niemand zu Hause sei, wurde auf Englisch wiederholt. Wallander sagte seinen Namen und daß es nichts Wichtiges war.
Danach blieb er sitzen. Der Kaffee war kalt geworden.
Ich kann so nicht weiterleben, dachte er irritiert. Ich bin fünfzig. Aber ich fühle mich uralt und kraftlos.
Dann sagte er sich, daß er seinen Abendspaziergang machen sollte. Er suchte nach einem guten Grund, ihn ausfallen zu lassen. Aber schließlich stand er auf, zog seine Turnschuhe an und ging hinaus.
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Um halb neun kam er zurück. Der Spaziergang hatte seine mißmutige Stimmung vertrieben.
Das Telefon klingelte. Wallander glaubte, es sei Linda. Aber es war Martinsson.
»Lundberg ist tot. Sie haben gerade angerufen.«
Wallander stand stumm.
»Das bedeutet, daß Hökberg und Persson einen Mord begangen haben«, fuhr Martinsson fort.
»Ja«, sagte Wallander. »Und es bedeutet außerdem, daß wir eine richtige Scheißgeschichte am Hals haben.«
Sie verabredeten sich für den folgenden Morgen um acht Uhr.
Danach gab es nicht mehr viel zu sagen.
Wallander blieb auf der Couch sitzen. Er sah zerstreut die Abendnachrichten. Registrierte, daß der Dollarkurs auf dem Weg nach oben war. Das einzige, was ihn wirklich fesselte, war die Trustor-Geschichte. Wie einfach es zu sein schien, sämtliche Mittel aus einer Aktiengesellschaft abzuziehen, ohne daß jemand eingriff, bevor es zu spät war.
Linda rief nicht zurück. Um elf ging er ins Bett.
Er konnte lange nicht einschlafen.
5
Als Wallander am Dienstag, dem 7. Oktober, kurz nach sechs Uhr am Morgen erwachte, merkte er, daß er Schwierigkeiten hatte, zu schlucken. Er war schweißgebadet und spürte, daß er krank wurde. Doch der Gedanke, daß der Taxifahrer Johan Lundberg am Tag zuvor an den Folgen des brutalen Überfalls gestorben war, trieb ihn aus dem Bett. Er duschte, trank Kaffee und nahm ein paar fiebersenkende Tabletten. Die Schachtel steckte er ein. Bevor er aus dem Haus ging, zwang er sich dazu, einen Teller Dickmilch zu essen. Die Straßenlampe vor dem Küchenfenster schwankte im böigen Wind. Es war bewölkt, ein paar Grad über Null. Wallander suchte sich einen dicken Pullover aus dem Kleiderschrank. Dann stand er mit der Hand am Telefon und war im Zweifel, ob er Linda anrufen sollte. Aber er entschied, daß es dafür noch zu früh am Tag war. Als er im Auto saß, fiel ihm ein, daß ein Zettel auf dem Küchentisch lag, auf dem er sich notiert hatte, was er brauchte. Aber jetzt kam er nicht darauf, was es war. Er konnte sich auch nicht vorstellen, zurückzugehen und den Zettel zu holen. Statt dessen beschloß er, in Zukunft auf seinen Anrufbeantworter im Präsidium zu sprechen, wenn er etwas einkaufen mußte. Dann würde er, wenn er zur Arbeit kam, sofort erfahren, was er einkaufen mußte.
Er fuhr den üblichen Weg ins Präsidium, über Österleden. Jedesmal befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Um seinen Blutzucker niedrig zu halten, müßte er zu Fuß gehen. Er war auch nicht so krank, daß er den Wagen nicht hätte stehenlassen können.
Wenn ich einen Hund hätte, wäre es überhaupt kein Problem, dachte er. Aber ich habe keinen Hund. Vor einem Jahr habe ich mir in einer Zucht außerhalb von Sjöbo Labrador-Welpen angesehen. Aber es wurde nichts daraus. Es wurde nichts aus dem Haus, nichts aus dem Hund und nichts aus Baiba. Einfach nichts.
Er parkte vor dem Polizeipräsidium und betrat um sieben Uhr sein Zimmer. In dem Moment, als er sich setzte, fiel ihm ein, was er auf den Zettel geschrieben hatte. Seife. Er schrieb es auf seinen Kollegblock.
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, das bisher Geschehene noch einmal zu durchdenken. Ein Taxifahrer war ermordet worden. Sie hatten zwei Mädchen, die die Tat gestanden hatten, und eine der beiden Waffen, die benutzt worden waren. Eins der Mädchen war minderjährig, das zweite war angeklagt und würde im Laufe des Tages dem Haftrichter vorgeführt werden.
Das Unbehagen vom Vortag kehrte zurück. Sonja Hökbergs Gefühlskälte. Er versuchte sich einzureden, daß sie trotz allem ein wenig Mitgefühl empfunden hatte und daß es ihm nur nicht gelungen war, dies zu entdecken. Aber vergebens. Seine Erfahrung sagte ihm, daß er sich leider nicht irrte. Wallander stand auf, holte sich im Eßraum Kaffee und ging hinüber zu Martinsson, der auch Frühaufsteher war. Die Tür seines Zimmers stand offen. Wallander fragte sich, wie Martinsson arbeiten konnte, ohne je seine Tür zu schließen. Für Wallander war eine geschlossene Tür zur Außenwelt Bedingung, um sich zu konzentrieren.
Martinsson nickte.
»Ich dachte mir, daß du kommen würdest«, sagte er.
»Ich fühle mich nicht richtig wohl«.
»Erkältet?«
»Ich bekomme im Oktober immer Halsschmerzen.«
Martinsson, der ständig um seine Gesundheit besorgt war, wich auf seinem Stuhl zurück.
»Du hättest zu Hause bleiben können«, sagte er. »Diese betrübliche Geschichte mit Lundberg ist ja schon aufgeklärt.«
»Nur teilweise«, wandte Wallander ein. »Wir haben kein Motiv. Daß die Mädchen es nur ganz allgemein auf Geld abgesehen hatten, glaube ich nicht. Habt ihr übrigens das Messer gefunden?«
»Nyberg kümmert sich darum. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«
»Ruf ihn an.«
Martinsson verzog das Gesicht. »Er kann morgens ganz schön grantig sein.«
»Dann rufe ich selbst an.«
Wallander nahm Martinssons Telefon und versuchte es zuerst unter Nybergs Privatnummer. Nach kurzem Warten wurde sein Anruf an ein Mobiltelefon umgeleitet. Nyberg meldete sich. Aber die Verbindung war schlecht.
»Hier ist Kurt. Ich wollte nur hören, ob ihr schon das Messer gefunden habt.«
»Wie zum Teufel sollen wir bei der Dunkelheit etwas finden?« entgegnete Nyberg unwirsch.
»Ich dachte, Eva Persson hätte ausgesagt, wo sie es weggeworfen hat.«
»Trotzdem sind es noch ein paar hundert Quadratmeter, die wir absuchen müssen. Sie behauptet, es läge irgendwo auf dem Alten Friedhof.«
»Und warum holt ihr sie nicht?«
»Wenn es da liegt, dann finden wir es auch«, sagte Nyberg.
Das Gespräch war zu Ende.
»Ich habe schlecht geschlafen«, sagte Martinsson. »Meine Tochter Terese kennt Eva Persson ganz gut. Sie sind ja fast gleichaltrig. Eva Persson hat auch Eltern. Wie es denen wohl geht. Soweit ich mitbekommen habe, ist Eva ihr einziges Kind.«
Sie schwiegen und dachten nach. Dann fing Wallander an zu niesen. Er verließ sofort das Zimmer.
___________
Um acht Uhr hatten sie sich in einem der Sitzungszimmer versammelt. Wallander setzte sich wie üblich an seinen Platz an der Schmalseite. Hansson und Ann-Britt Höglund waren schon da. Martinsson stand am Fenster und telefonierte. Weil er wenig sagte und leise sprach, wußten alle, daß er mit seiner Frau telefonierte. Wallander hatte sich schon oft gefragt, worüber sie soviel reden konnten, wo sie sich doch ein, zwei Stunden vorher noch am Frühstückstisch gesehen hatten. Vielleicht hatte Martinsson das Bedürfnis, seiner Besorgnis darüber Ausdruck zu geben, Wallander könne ihn anstecken. Die Stimmung war müde und grau. Lisa Holgersson trat in den Raum.
Martinsson beendete sein Telefongespräch. Hansson stand auf und machte die Tür zu.
»Kommt Nyberg nicht?« fragte er.
»Er sucht nach dem Messer«, antwortete Wallander. »Wir gehen davon aus, daß er es findet.«
Dann sah er Lisa Holgersson an. Sie nickte. Er hatte das Wort. Wallander fragte sich im stillen, wie oft er genau diese Situation schon erlebt hatte. Früher Morgen, umgeben von Kollegen, ein Verbrechen soll aufgeklärt werden. Sie hatten im Lauf der Jahre ein neues Polizeipräsidium bekommen, neue Möbel, andere Gardinen. Die Telefone hatten ihr Aussehen verändert, ebenso der Overhead-Projektor. Und alles war natürlich mit Computern ausgestattet. Dennoch war es, als hätten all die Personen immer hier gesessen. Und er selbst am allerlängsten.
»Johan Lundberg ist tot«, begann er. »Falls einer von euch es noch nicht wußte.«
Er zeigte auf Ystads Allehanda, die auf dem Tisch lag. Der Taxifahrermord war groß aufgemacht.
»Das bedeutet also, daß diese beiden Mädchen, Hökberg und Persson, einen Mord begangen haben. Raubmord. Anders kann man es nicht nennen. Vor allem die Hökberg ist in ihrer Darstellung sehr deutlich gewesen. Sie hatten es geplant, sie hatten sich mit Waffen ausgerüstet. Sie wollten den Taxifahrer überfallen, den der Zufall ihnen über den Weg schickte. Eva Persson ist minderjährig, also nicht nur eine Frage für uns, sondern auch für andere. Den Hammer haben wir, außerdem Lundbergs leere Brieftasche und sein Handy. Was noch fehlt, ist das Messer. Keins der Mädchen bestreitet die Tat. Keine von beiden beschuldigt die andere. Ich nehme an, wir können dem Staatsanwalt das Material spätestens morgen übergeben. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Aber für unseren Teil ist es eine ekelhafte Geschichte, die im großen und ganzen schon jetzt abgeschlossen werden kann.«
Wallander verstummte. Keiner sagte etwas.
»Warum haben sie das gemacht?« fragte Lisa Holgersson schließlich. »Das Ganze wirkt ja so unglaublich unnötig.«
Wallander nickte. Er hatte gehofft, daß genau diese Frage käme, damit er sie nicht selbst formulieren mußte.
»Sonja Hökberg ist sehr bestimmt«, sagte er. »Sowohl im Verhör mit Martinsson als auch mit mir. ›Wir brauchten Geld.‹ Sonst nichts.«
»Und wozu?«
Die Frage kam von Hansson.
»Das wissen wir nicht. Darauf antworten sie nicht. Wenn man der Hökberg glauben soll, wußten sie es selbst nicht. Sie brauchten Geld. Nicht für einen besonderen Zweck. Einfach nur das: Geld.«
Wallander blickte in die Runde, bevor er fortfuhr. »Ich glaube nicht daran. Zumindest die Hökberg lügt. Davon bin ich überzeugt. Mit Eva Persson habe ich noch nicht gesprochen. Aber das Geld sollte für etwas Bestimmtes verwendet werden. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich vermute außerdem, daß Eva Persson getan hat, was Sonja Hökberg ihr sagte. Das mindert nicht ihre Schuld. Aber es gibt ein Bild des Verhältnisses der beiden.«
»Spielt das eine Rolle?« fragte Ann-Britt Höglund. »Ob sie das Geld für Kleidung oder etwas anderes verwenden wollten?«
»Eigentlich nicht. Der Staatsanwalt hat mehr als genug, um zumindest bei Hökberg auf schuldig zu plädieren. Was mit Eva Persson passiert, ist, wie gesagt, nicht nur eine Frage für uns.«
»Sie sind noch nie bei uns in Erscheinung getreten«, sagte Martinsson. »Das habe ich untersucht. Und keine hatte irgendwelche Schwierigkeiten in der Schule.«
Wallander bekam wieder das Gefühl, daß sie sich auf einer vollkommen falschen Spur befanden. Oder daß sie zumindest viel zu früh die Möglichkeit abschrieben, daß es für den Mord an Lundberg eine ganz andere Erklärung gab. Aber weil er sein Gefühl noch nicht in Worte fassen konnte, sagte er nichts. Es lag noch genug Arbeit vor ihnen. Die Wahrheit konnte Geldgier sein, aber es konnte auch etwas völlig anderes sein. Sie mußten nach verschiedenen Seiten Ausschau halten.
Das Telefon klingelte. Hansson nahm das Gespräch an. Er hörte zu und legte dann den Hörer auf.
»Es war Nyberg. Sie haben das Messer gefunden.«
Wallander nickte und klappte die Mappe zu, die er vor sich hatte.
»Wir müssen natürlich mit den Eltern reden und dafür sorgen, daß gründliche Personenuntersuchungen gemacht werden. Aber das Material für den Staatsanwalt können wir sofort zusammenstellen.«
Lisa Holgersson hob die Hand. »Wir müssen eine Pressekonferenz abhalten. Die Massenmedien bedrängen uns. Immerhin ist es ungewöhnlich, daß zwei junge Mädchen eine solche Gewalttat begehen.«
Wallander sah Ann-Britt Höglund an. Sie schüttelte den Kopf. In den letzten Jahren hatte sie ihm die Pressekonferenzen abgenommen, die ihm so zuwider waren. Aber jetzt wollte sie nicht. Wallander verstand sie.
»Ich mache das«, sagte er. »Steht die Uhrzeit schon fest?«
»Ich schlage vor, um eins.«
Wallander notierte es auf seinem Block.
Die Besprechung war bald vorüber. Die Aufgaben wurden verteilt. Alle hatten das Gefühl, daß die polizeilichen Ermittlungen so schnell wie möglich abgeschlossen werden mußten. Das Verbrechen war beklemmend. Keiner wollte mehr als nötig darin graben. Wallander würde einen Besuch im Elternhaus von Sonja Hökberg machen. Martinsson und Ann-Britt Höglund würden mit Eva Persson und ihren Eltern sprechen.
Der Raum leerte sich. Wallander spürte, daß seine Erkältung jetzt ausbrach. Bestenfalls wird es mir gelingen, einen Journalisten anzustecken, dachte er, während er seine Taschen nach Papiertaschentüchern durchsuchte.
Im Flur begegnete er Nyberg, der Stiefel und einen dicken Overall trug. Sein Haar stand zu Berge, und wie üblich war er schlechter Laune.
»Ihr habt das Messer gefunden, habe ich gehört.«
»Die Kommune hat offensichtlich kein Geld mehr, um im Herbst zu fegen«, antwortete Nyberg. »Wir haben da draußen kopfgestanden und im Laub gegraben. Aber am Ende haben wir es gefunden.«
»Was für ein Messer war es?«
»Ein Küchenmesser. Ziemlich lang. Sie muß mit solcher Kraft zugestoßen haben, daß die Spitze an einer Rippe abgebrochen ist. Das Messer ist von richtig schlechter Qualität.«
Wallander schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht zu glauben«, sagte Nyberg. »Gibt es überhaupt keinen Respekt vor Menschenleben mehr? Wieviel Geld haben sie denn gekriegt?«
»Das wissen wir noch nicht. Ungefähr sechshundert Kronen. Kaum viel mehr. Lundberg hatte gerade erst seine Schicht begonnen. Er hatte nie viel Wechselgeld bei sich, wenn er anfing.«
Nyberg murmelte etwas Unverständliches und verschwand. Wallander ging in sein Zimmer. Er blieb unentschlossen sitzen. Sein Hals schmerzte. Mit einem Seufzer schlug er die Ermittlungsmappe auf. Sonja Hökberg wohnte im Westen der Stadt. Er notierte sich die Adresse, stand auf und nahm seine Jacke. Als er in den Flur hinaustrat, klingelte sein Telefon. Er ging zurück. Es war Linda. Im Hintergrund konnte er Küchengeräusche hören.
»Ich habe heute morgen deine Nachricht gehört«, sagte sie.
»Heute morgen?«
»Ich habe die Nacht nicht zu Hause geschlafen.«
Wallander war klug genug, nicht zu fragen, wo sie die Nacht verbracht habe. Er wußte aus Erfahrung, daß es dazu führen konnte, daß sie böse wurde und einfach auflegte.
»Es war nichts Wichtiges«, sagte er. »Ich wollte nur hören, wie es dir geht.«
»Gut. Und dir?«
»Ein bißchen erkältet. Sonst alles wie immer. Ich wollte fragen, ob du nicht bald einmal herkommst.«
»Ich schaffe es nicht.«
»Aber ich kann dir die Reise bezahlen.«
»Ich sage doch, daß ich es nicht schaffe. Es geht nicht ums Geld.«
Wallander sah ein, daß er sie nicht überreden konnte. Sie war genauso stur wie er selbst.
»Wie geht es dir eigentlich?« fragte sie noch einmal. »Hast du gar keinen Kontakt mit Baiba mehr?«
»Das ist schon lange vorbei. Das weißt du doch.«
»Es ist nicht gut für dich, wenn du so herumhängst.«
»Was meinst du damit?«
»Du weißt schon, was ich meine. Du fängst schon an, mit so einer klagenden Stimme zu reden. Das hast du früher nicht getan.«
»Ich jammere doch nicht.«
»Genau wie jetzt gerade. Aber ich habe einen Vorschlag. Ich finde, du solltest eine Kontaktvermittlung zu Rate ziehen.«
»Kontaktvermittlung?«
»Wo du jemand finden kannst. Sonst wirst du ein nörgeliger Alter, der sich fragt, warum ich nachts nicht zu Hause schlafe.«
Sie sieht direkt durch mich hindurch, dachte Wallander. Direkt hindurch. »Du meinst also, ich sollte eine Annonce aufgeben?«
»Ja. Oder eine Vermittlung zu Rate ziehen.«
»Das werde ich nie tun.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube nicht daran.«
»Und warum nicht?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es war nur ein Tip. Denk darüber nach. Jetzt muß ich arbeiten.«
»Wo bist du?«
»Im Restaurant. Wir öffnen um zehn.«
Sie sagte hej, und das Gespräch war vorüber. Wallander fragte sich, wo sie die Nacht geschlafen hatte. Vor einigen Jahren hatte Linda einen Freund aus Kenia, der in Lund Medizin studierte. Aber das war zu Ende gegangen. Danach hatte er nie besonders viel über ihre Freunde gewußt. Außer daß sie offenbar in regelmäßigen Abständen wechselten. Er verspürte einen Stich von Irritation und Eifersucht. Dann verließ er sein Zimmer. Der Gedanke an eine Annonce oder eine Kontaktvermittlung war ihm tatsächlich auch schon gekommen. Aber er hatte ihn immer wieder verworfen. Das hieße, daß er sich zu etwas herabließe, für das er sich zu gut war.
Der böige Wind schlug ihm entgegen. Er setzte sich in seinen Wagen, ließ den Motor an und lauschte auf das Klopfen, das schlimmer und schlimmer wurde. Dann fuhr er zu dem Reihenhaus, in dem Sonja Hökberg bei ihren Eltern gewohnt hatte. Aus dem Bericht, den er von Martinsson bekommen hatte, wußte er, daß Sonja Hökbergs Vater »freier Unternehmer« war. Was das bedeutete, ging aus dem Bericht nicht hervor. Wallander stieg aus. Der kleine Garten war gepflegt. Er klingelte an der Haustür. Nach einem Augenblick wurde sie von einem Mann geöffnet. Wallander wußte sogleich, daß er ihn früher schon getroffen hatte. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Aber er wußte nicht, wann oder wo.
Der Mann an der Tür hatte Wallander auch sogleich erkannt. »Ich nehme an, Sie kennen mich«, sagte Herr Hökberg.
»Ja«, antwortete Wallander. »Aber ich muß gestehen, daß ich mich nicht erinnere, in welchem Zusammenhang wir uns begegnet sind.«
»Erik Hökberg?«
Wallander suchte in seiner Erinnerung. »Und Sten Widén?«
Jetzt erinnerte sich Wallander. Sten Widén mit seinem Reiterhof in Stjärnsund. Und Erik. Sie hatten einmal vor vielen Jahren eine gemeinsame Leidenschaft für die Oper gehabt. Sten war der Interessierteste gewesen. Aber Erik, ein Jugendfreund von Sten, war ein paarmal dabeigewesen, als sie sich um ein Grammophon versammelt und Verdis Opern angehört hatten.
»Ich erinnere mich«, sagte Wallander. »Aber damals hießen Sie doch nicht Hökberg.«
»Ich habe den Namen meiner Frau angenommen. Damals hieß ich Erik Eriksson.«
Erik Hökberg war ein großer Mann. Der Kleiderbügel, den er Wallander reichte, sah klein aus in seiner Hand. Wallander hatte ihn als mager in Erinnerung. Jetzt hatte er kräftiges Übergewicht. Auch deshalb hatte Wallander ihn nicht gleich unterbringen können.
Wallander hängte die Jacke auf und folgte Hökberg ins Wohnzimmer. Dort stand ein Fernseher. Aber das Geräusch kam von einem anderen Apparat in einem anderen Zimmer. Sie setzten sich. Wallander war verlegen. Sein Anliegen war ohnedies schon schwer genug.
»Schrecklich, diese Geschichte«, sagte Hökberg. »Ich verstehe natürlich nicht, was in sie gefahren ist.«
»Ist sie früher nie gewalttätig gewesen?«
»Nie.«
»Ihre Frau? Ist sie zu Hause?«
Hökberg war in seinem Sessel zusammengesunken. Hinter dem Gesicht mit den dicken Wülsten ahnte Wallander ein anderes, an das er sich erinnerte aus einer Zeit, die jetzt unendlich fern schien.
»Sie hat Emil mitgenommen und ist zu ihrer Schwester nach Höör gefahren. Sie konnte es nicht mehr aushalten hier. Journalisten, die anrufen. Ohne Rücksicht. Mitten in der Nacht, wenn es ihnen einfällt.«
»Ich muß wohl trotzdem mit ihr sprechen.«
»Das ist mir klar. Ich habe ihr gesagt, daß die Polizei sich bei ihr melden wird.«
Wallander war nicht sicher, wie er weitermachen sollte. »Sie müssen darüber gesprochen haben, Sie und Ihre Frau.«
»Sie versteht es ebensowenig wie ich. Es war wie ein Schock.«
»Sie hatten also guten Kontakt zu Sonja?«
»Es gab nie Probleme.«
»Und mit ihrer Mutter?«
»Auch nicht. Sie stritten sich manchmal. Aber nur um Dinge, die natürlich waren. In all den Jahren, die ich sie kenne, hat es nie irgendwelche Probleme gegeben.«
Wallander runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
»Ich dachte, Sie wüßten, daß sie meine Stieftochter ist.«
Das war aus der Ermittlung nicht hervorgegangen.
»Meine Frau und ich haben Emil zusammen«, fuhr Hökberg fort. »Sonja war wohl zwei Jahre alt, als ich dazukam. Es werden jetzt im Dezember siebzehn Jahre. Ruth und ich haben uns bei einer Weihnachtsfeier getroffen.«
»Wer ist Sonjas leiblicher Vater?«
»Er hieß Rolf. Er hat sich nie um sie gekümmert. Ruth war nicht mit ihm verheiratet.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Er ist seit ein paar Jahren tot. Er hat sich totgesoffen.«
Wallander hatte in seiner Tasche nach einem Stift gesucht. Er hatte schon gemerkt, daß er Brille und Notizblock vergessen hatte. Auf dem Glastisch lag ein Stapel Zeitungen.
»Kann ich eine Ecke abreißen?«
»Kann die Polizei sich keine Notizblöcke mehr leisten?«
»Das kann man sich wirklich fragen. Aber in diesem Fall habe ich meinen vergessen.«
Wallander nahm eine Zeitung als Schreibunterlage. Es war eine englische Finanzzeitung.
»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
Die Antwort überraschte Wallander.
»Ich spekuliere.«
»In was?«
»Aktien. Optionen. Devisen. Außerdem habe ich Wetteinnahmen. Hauptsächlich englisches Cricket. Manchmal ein wenig amerikanischen Baseball.«
»Sie spielen also?«
»Keine Pferde. Ich tippe nicht einmal. Aber ich nehme an, der Börsenmarkt ist auch eine Art Spiel.«
»Und Sie machen das von zu Hause aus?«
Hökberg stand auf und bedeutete Wallander, ihm zu folgen. Als sie in das angrenzende Zimmer traten, blieb Wallander auf der Schwelle stehen. Es lief nicht nur ein Fernseher, es liefen drei. Auf den Bildschirmen flimmerten Ziffernkolumnen. Außerdem gab es ein paar Computer und Drucker. An einer Wand hingen Uhren, die die Zeit in verschiedenen Weltteilen zeigten. Wallander hatte das Gefühl, einen Fluglotsenturm zu betreten.
»Es heißt immer, die neue Technik habe die Welt kleiner gemacht«, sagte Hökberg. »Das kann man bezweifeln. Aber daß meine Welt größer geworden ist, steht außer jedem Zweifel. Von diesem schlecht gebauten Reihenhaus am Stadtrand von Ystad aus kann ich auf allen Märkten der Welt präsent sein. Ich kann mich in Wettbüros in London oder Rom einwählen. Ich kann auf der Börse in Hongkong eine Option erwerben und in Djakarta amerikanische Dollar verkaufen.«
»Ist das wirklich so einfach?«
»Nicht ganz. Es sind Genehmigungen und Kontakte und Wissen erforderlich. Aber in diesem Raum befinde ich mich mitten in der Welt. Zu jeder Zeit. Stärke und Verwundbarkeit gehen Hand in Hand.«
Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück.
»Ich würde mir gern Sonjas Zimmer ansehen«, sagte Wallander.
Hökberg geleitete ihn eine Treppe hinauf. Sie gingen an einem Zimmer vorüber, das, wie Wallander annahm, dem Jungen gehörte, der Emil hieß. Hökberg zeigte auf eine Tür.
»Ich warte unten«, sagte er. »Wenn Sie mich nicht brauchen?«
»Nein, es geht schon.«
Hökbergs schwere Schritte verschwanden die Treppe hinunter. Wallander schob die Tür auf. Das Zimmer hatte eine schräge Decke mit einem Fenster, das halb offenstand. Eine dünne Gardine bewegte sich sacht im Wind. Wallander stand reglos und sah sich langsam um. Er wußte aus Erfahrung, daß der erste Eindruck wichtig war. Spätere Beobachtungen konnten eine Dramatik enthüllen, die nicht sogleich sichtbar war. Aber der erste Eindruck würde dennoch immer derjenige sein, zu dem er zurückkehrte. In diesem Zimmer wohnte ein Mensch. Diesen Menschen suchte er. Das Bett war gemacht. Überall waren rosa und geblümte Kissen. Eine Schmalwand wurde von einem hohen Regal ausgefüllt, in dem unendlich viele Spielzeugbären saßen. An der Tür des Kleiderschranks war ein Spiegel, auf dem Fußboden lag ein dicker Teppich. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch. Die Tischplatte war leer. Wallander stand lange in der Tür und betrachtete das Zimmer. Hier wohnte Sonja Hökberg. Er ging ins Zimmer, kniete neben dem Bett nieder und schaute darunter. Es war staubig. Aber an einer Stelle hatte ein Gegenstand ein Muster in den Staub gezeichnet. Wallander durchfuhr ein Schauder. Er ahnte, daß dort der Hammer gelegen hatte. Er erhob sich wieder und setzte sich aufs Bett. Es war unerwartet hart. Dann befühlte er wieder seine Stirn. Er hatte wohl wieder Fieber. Die Tablettenschachtel hatte er in der Tasche. Sein Hals war noch immer rauh. Er stand auf und öffnete die Schreibtischschubladen. Keine war verschlossen. Es gab nicht einmal einen Schlüssel. Wonach er suchte, wußte er nicht. Ein Tagebuch vielleicht oder ein Foto. Aber nichts in den Schubladen weckte seine Aufmerksamkeit. Er setzte sich wieder aufs Bett. Dachte an seine Begegnung mit Sonja Hökberg.
Das Gefühl hatte sich unmittelbar eingestellt. Schon als er auf der Türschwelle gestanden hatte.
Etwas stimmte nicht. Sonja Hökberg und ihr Zimmer paßten nicht zusammen. Er konnte sie hier nicht sehen, zwischen all diesen rosa Bären. Und doch war es ihr Zimmer. Er versuchte zu verstehen, was das bedeuten konnte. Wer sprach eher die Wahrheit? Sonja Hökberg, die er im Polizeipräsidium getroffen hatte? Oder das Zimmer, in dem sie gewohnt und einen blutigen Hammer unter ihrem Bett versteckt hatte?
Rydberg hatte ihn vor vielen Jahren gelehrt zu horchen. Jeder Raum hat seinen Atem. Du mußt horchen. Ein Zimmer erzählt viele Geheimnisse über den Menschen, der in ihm wohnt.
Zunächst war Wallander gegenüber Rydbergs Rat äußerst skeptisch gewesen. Aber nach und nach hatte er eingesehen, daß Rydberg ihn etwas Entscheidendes gelehrt hatte.
Wallander bekam Kopfschmerzen. Es hämmerte hinter den Schläfen. Er stand auf und öffnete die Kleiderschranktür. Auf den Kleiderbügeln Kleider, auf dem Boden Schuhe. Nichts anderes als Schuhe und ein kaputter Teddy. An der Innenseite der Tür hing ein Filmplakat. »Im Auftrag des Teufels«. Al Pacino spielte die Hauptrolle. Wallander erinnerte sich an ihn aus »Der Pate«. Er schloß die Kleiderschranktür wieder und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Von dort konnte er das Zimmer aus einer anderen Perspektive sehen.
Es fehlt etwas, dachte er. Er erinnerte sich an Lindas Zimmer aus ihrer Teenagerzeit. Zwar hatte auch sie Spieltiere gehabt. Aber vor allem Bilder der Idole, die wechseln konnten, aber in irgendeiner Gestalt immer da waren.
In Sonja Hökbergs Zimmer gab es nichts. Sie war neunzehn. Alles, was sie hatte, war ein Filmplakat in einem Kleiderschrank.
Wallander blieb noch ein paar Minuten sitzen. Dann verließ er das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Erik Hökberg wartete im Wohnzimmer auf ihn. Wallander bat ihn um ein Glas Wasser und nahm seine Tabletten.
Hökberg betrachtete ihn forschend. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Ich wollte mich nur umsehen.«
»Was wird mit ihr passieren?«
Wallander schüttelte den Kopf. »Sie ist strafmündig, und sie hat gestanden. Es wird also nicht leicht für sie.«
Hökberg sagte nichts. Wallander sah ihm an, wie gequält er war.
Wallander notierte die Telefonnummer von Hökbergs Schwägerin in Höör.
Dann verließ er das Reihenhaus. Der Wind hatte aufgefrischt. Die Böen kamen und gingen. Wallander fuhr zum Präsidium zurück. Er fühlte sich schlecht. Gleich nach der Pressekonferenz würde er nach Hause fahren und sich ins Bett legen. Als er in die Anmeldung kam, winkte Irene ihn zu sich. Sie war blaß.
»Was ist passiert?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Aber sie haben dich gesucht. Und du hattest wie üblich dein Handy nicht bei dir.«
»Wer hat nach mir gesucht?«
»Alle.«
Wallander verlor die Geduld. »Wer alle? Sei ein bißchen präziser!«
»Martinsson und Lisa.«
Wallander ging auf direktem Weg zu Martinssons Zimmer. Hansson war auch da.
»Was ist passiert?« fragte Wallander.
Martinsson antwortete. »Sonja Hökberg ist abgehauen.«
Wallander starrte ihn ungläubig an. »Abgehauen?«
»Vor einer knappen Stunde. Wir haben alles denkbare Personal draußen und suchen nach ihr. Aber sie ist verschwunden.«
Wallander sah seine Kollegen an.
Dann zog er seine Jacke aus und setzte sich.
6
Wallander brauchte nicht lange, um zu verstehen, was geschehen war.
Jemand war nachlässig gewesen. Jemand hatte in eklatanter Weise gegen seine Dienstvorschriften verstoßen. Aber vor allem hatte jemand vergessen, daß Sonja Hökberg nicht nur ein junges Mädchen mit vertrauenerweckendem Aussehen war. Sie hatte vor zwei Tagen einen brutalen Mord begangen.
Das Geschehen war leicht zu rekonstruieren. Sonja Hökberg sollte nach einer Unterredung mit ihrem Anwalt in die Arrestabteilung zurückgebracht werden. Während sie wartete, hatte sie darum gebeten, zur Toilette gehen zu dürfen. Als sie wieder herauskam, hatte sie bemerkt, daß der Wachbeamte, der sie begleitete, ihr den Rücken zuwandte und sich mit jemandem unterhielt, der sich in einem anliegenden Büro befand. Da war sie in die andere Richtung gegangen. Niemand hatte versucht, sie aufzuhalten. Sie war einfach durch die Anmeldung hinausspaziert. Keiner hatte sie gesehen. Irene nicht, niemand. Nach ungefähr fünf Minuten war der Wachmann in die Toilette gegangen und hatte entdeckt, daß Sonja Hökberg nicht dort war. Er war daraufhin zu dem Zimmer zurückgegangen, in dem sie die Unterredung mit ihrem Anwalt gehabt hatte. Erst als er einsah, daß sie nicht dorthin zurückgegangen war, hatte er Alarm geschlagen. Sonja Hökberg hatte zehn Minuten Zeit gehabt zu verschwinden. Und das reichte.
Wallander stöhnte. Seine Kopfschmerzen kamen wieder.
»Ich habe alle verfügbaren Leute losgeschickt«, sagte Martinsson. »Und ich habe ihren Vater angerufen. Du warst gerade gegangen. Ist bei deinem Gespräch etwas herausgekommen, was dich auf eine Idee bringt, wohin sie möglicherweise will?«
»Ihre Mutter ist bei einer Schwester in Höör.«
Er gab Martinsson den Zettel mit der Telefonnummer.
»Dahin kommt sie aber kaum zu Fuß«, sagte Hansson.
»Sonja Hökberg hat den Führerschein«, sagte Martinsson mit dem Telefonhörer am Ohr. »Sie kann per Anhalter fahren, sie kann ein Auto klauen.«
»Vor allem müssen wir mit Eva Persson sprechen«, sagte Wallander. »Und zwar auf der Stelle. Ich pfeife darauf, daß sie minderjährig ist. Jetzt soll sie sagen, was sie weiß.«
Hansson verließ das Zimmer. In der Tür wäre er beinah mit Lisa Holgersson zusammengestoßen, die bei einer Besprechung außerhalb des Präsidiums gewesen war und gerade erfahren hatte, daß Sonja Hökberg verschwunden war. Während Martinsson mit der Mutter in Höör telefonierte, erklärte Wallander Lisa, wie es zu Sonja Hökbergs Flucht hatte kommen können.
»So etwas darf einfach nicht passieren«, sagte sie.
Lisa Holgersson war wütend. Das gefiel Wallander. Er dachte zurück an seinen ehemaligen Chef, Börk, und wie der sich sofort Sorgen gemacht hätte, daß sein Ansehen in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
»Es darf nicht passieren«, sagte Wallander. »Und doch passiert es. Aber am wichtigsten ist jetzt, daß wir sie schnappen. Dann können wir klären, wo es gehapert hat. Und wer zur Verantwortung gezogen werden muß.«
»Glaubst du, es besteht die Gefahr, daß sie gewalttätig wird?«
Wallander dachte nach. Er sah ihr Zimmer vor sich. All die Plüschtiere.
»Wir wissen zuwenig über sie«, sagte er. »Aber ganz undenkbar ist es nicht.«
Martinsson legte den Hörer auf. »Ich habe mit ihrer Mutter geredet«, sagte er. »Und mit den Kollegen in Höör. Sie wissen, worum es geht.«
»Ich glaube, das weiß keiner von uns«, wandte Wallander ein. »Aber ich will, daß dieses Mädchen so schnell wie möglich gefaßt wird.«
»Hatte sie die Flucht geplant?« fragte Lisa Holgersson.
»Der Wache zufolge nicht«, sagte Martinsson. »Ich glaube, sie hat ganz einfach die Gelegenheit ergriffen, als sie sich bot.«
»Sicher war es geplant«, sagte Wallander. »Sie suchte eine Gelegenheit. Sie wollte von hier weg. Hat jemand mit dem Anwalt gesprochen? Kann er uns helfen?«
»Ich glaube nicht, daß daran schon jemand gedacht hat«, sagte Martinsson. »Er ist gleich nach seiner Unterredung mit ihr weggefahren.«
Wallander stand auf. »Ich rede mit ihm.«
»Die Pressekonferenz«, sagte Lisa Holgersson. »Was machen wir damit?«
Wallander schaute auf die Uhr. Zwanzig nach elf.
»Wir halten sie wie vorgesehen ab. Aber die Nachricht müssen wir ihnen geben. Auch wenn wir uns das lieber erspart hätten.«
»Ich sehe ein, daß ich dabeisein muß«, sagte Lisa Holgersson.
Wallander antwortete nicht. Er ging in sein Zimmer. Sein Kopf hämmerte. Bei jedem Schlucken tat es weh.
Ich sollte im Bett liegen, dachte er. Anstatt hier herumzulaufen und neunzehnjährige Mädchen zu jagen, die Taxifahrer totschlagen.
In einer seiner Schreibtischschubladen fand er Papiertaschentücher. Er wischte sich den Schweiß unter dem Hemd ab. Er hatte Fieber. Dann rief er den Anwalt Lötberg an und berichtete, was geschehen war.
»Das ist unerwartet«, sagte Lötberg, nachdem Wallander ausgeredet hatte.
»Vor allem ist es nicht gut«, sagte Wallander. »Können Sie mir helfen?«
»Ich glaube nicht. Wir haben darüber gesprochen, was jetzt geschehen würde. Daß sie Geduld haben müsse.«
»Hatte sie Geduld?«
Lötberg überlegte. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es war nicht leicht, Kontakt zu ihr zu finden. Äußerlich wirkte sie ruhig. Aber wie es unter der Oberfläche aussah, darüber kann ich wenig sagen.«
»Sie erwähnte nichts von einem Freund? Jemand, der sie besuchen sollte?«
»Nein.«
»Überhaupt nichts?«
»Sie wollte wissen, was mit Eva Persson sei.«
Wallander überlegte. »Hat sie nach ihren Eltern gefragt?«
»Nein, hat sie nicht.«
Wallander fand das bemerkenswert. Ebenso eigentümlich wie ihr Zimmer. Das Gefühl, daß etwas mit Sonja Hökberg seltsam war, wurde immer stärker.
»Ich lasse natürlich von mir hören, falls sie Kontakt zu mir aufnimmt«, sagte Lötberg.
Sie beendeten das Gespräch. Wallander sah wieder ihr Zimmer vor sich. Es war ein Kinderzimmer, dachte er. Kein Zimmer, in dem ein neunzehnjähriges Mädchen lebte. Es war das Zimmer einer Zehnjährigen. Irgendwo auf der Strecke ist das Zimmer stehengeblieben, während Sonja immer älter wurde.
Er konnte seinen Gedankengang nicht klar zu Ende denken. Aber er wußte, daß er wichtig war.
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Martinsson brauchte weniger als eine halbe Stunde, um dafür zu sorgen, daß Eva Persson Wallander treffen konnte. Wallander war verblüfft, als er das Mädchen sah. Sie war klein und sah kaum älter aus als zwölf. Er schaute auf ihre Hände und konnte sich nicht vorstellen, daß sie ein Messer gehalten und es einem Mitmenschen mit Kraft in die Brust gestoßen hatte. Aber er entdeckte schnell, daß sie etwas an sich hatte, was an Sonja Hökberg erinnerte. Zuerst konnte er die Ähnlichkeit nicht bestimmen. Dann erkannte er, was es war.
Die Augen. Die gleiche Unberührtheit.
Martinsson hatte sie allein gelassen. Am liebsten hätte Wallander Ann-Britt Höglund bei dem Gespräch mit Eva Persson dabeigehabt. Aber sie war irgendwo draußen in der Stadt und versuchte, die Fahndung nach Sonja Hökberg so effektiv wie möglich ablaufen zu lassen.
Eva Perssons Mutter hatte verweinte Augen. Sie tat Wallander sogleich leid. Es machte ihm angst, daran zu denken, was sie durchmachte.
Er kam direkt zur Sache. »Sonja ist geflohen. Jetzt möchte ich fragen, ob du weißt, wohin sie gegangen sein kann. Ich möchte, daß du genau nachdenkst. Und daß du ehrlich bist. Hast du verstanden?«
Eva Persson nickte.
»Wohin ist sie also gegangen, was glaubst du?«
»Sie ist wohl nach Hause gegangen. Wohin denn sonst?«
Wallander konnte nicht entscheiden, ob das Mädchen ehrlich oder arrogant war. Er sagte sich, daß seine Kopfschmerzen ihn ungeduldig machten.
»Wenn sie nach Hause gegangen wäre, hätten wir sie schon gefunden«, sagte er und wurde etwas lauter. Die Mutter kroch auf ihrem Stuhl zusammen.
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
Wallander schlug einen Kollegblock auf. »Was hat sie für Freunde? Mit wem verkehrt sie? Kennt sie jemanden mit einem Auto?«
»Meistens sind es wir beide.«
»Sie muß doch noch andere Freunde haben?«
»Kalle.«
»Wie heißt er weiter?«
»Ryss.«
»Er heißt Kalle Ryss?«
»Ja.«
»Ich will kein einziges Wort hören, das nicht stimmt. Hast du das verstanden?«
»Warum schreist du so, verdammt? Scheiß Opa. So heißt er. Kalle Ryss.«
Wallander war nahe daran zu explodieren. Er liebte es gar nicht, Opa genannt zu werden. »Wer ist Kalle?«
»Er surft. Meistens ist er in Australien. Aber jetzt ist er zu Hause und jobbt bei seinem Alten.«
»Und wo?«
»Sie haben einen Eisenwarenladen.«
»Kalle ist also einer von Sonjas Freunden?«
»Sie waren mal zusammen.«
Wallander fragte weiter. Aber Eva Persson kam auf keinen anderen, mit dem Sonja Hökberg Kontakt aufgenommen haben könnte. Sie wußte auch nicht, wohin Sonja geflüchtet sein könnte. In einem letzten Versuch, noch etwas Brauchbares zu erfahren, wandte Wallander sich an Eva Perssons Mutter.
»Ich kannte sie nicht«, sagte sie so leise, daß Wallander sich über den Tisch beugen mußte, um sie zu verstehen.
»Sie müssen doch die beste Freundin Ihrer Tochter gekannt haben!«
»Ich mochte sie nicht.«
Eva Persson drehte sich blitzschnell um und schlug ihre Mutter ins Gesicht. Es ging so schnell, daß Wallander nicht reagieren konnte. Die Mutter begann zu schreien. Eva Persson schlug weiter und stieß dabei Schimpfworte aus. Wallander wurde in die Hand gebissen, aber es gelang ihm mit einiger Mühe, Eva Persson von ihrer Mutter zu trennen.
»Bringt die Alte raus!« schrie Eva. »Ich will sie nicht sehen!«
In dem Augenblick verlor Wallander vollständig die Kontrolle. Er gab Eva Persson eine kräftige Ohrfeige. Der Schlag war so hart, daß Eva Persson umfiel. Mit schmerzender Hand wankte Wallander aus dem Zimmer. Lisa Holgersson, die über den Flur hastete, starrte ihn entgeistert an. »Was ist passiert?«
Wallander antwortete nicht. Er sah seine Hand an. Sie brannte nach der Ohrfeige.
Keiner von ihnen hatte den Journalisten einer Abendzeitung bemerkt, der vorzeitig zur Pressekonferenz erschienen war. Während des Tumults hatte er sich mit einer kleinen diskreten Kamera unbeobachtet bis zum Zentrum des Geschehens vorgearbeitet. Er knipste mehrere Bilder und merkte sich, was er sah und hörte. In seinem Kopf nahm schon eine Schlagzeile Gestalt an. In großer Eile kehrte er zur Anmeldung zurück.
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Mit einer halben Stunde Verspätung kam die Pressekonferenz endlich in Gang. Lisa Holgersson hatte bis zum Schluß gehofft, daß irgendeine Streife Sonja Hökberg finden würde. Wallander, der sich in dieser Hinsicht keine Illusionen machte, wollte pünktlich anfangen. Teils weil er der Meinung war, daß Lisa Holgersson vergebens hoffte. Aber ebenso wegen seiner Erkältung, die schlimmer wurde.
Schließlich gelang es ihm, Lisa davon zu überzeugen, daß keine Veranlassung bestand, noch länger zu warten. Die Journalisten würden nur irritiert sein. Es würde ohnedies schwierig genug werden.
»Und was soll ich sagen?« fragte sie, als sie unterwegs waren zum großen Sitzungssaal, in dem die Pressekonferenz stattfinden sollte.
»Nichts«, gab Wallander zurück. »Ich mach das schon. Aber ich möchte, daß du dabei bist.«
Wallander ging in eine Toilette und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Als er danach in den Sitzungssaal trat, zuckte er zusammen. Es waren mehr Journalisten anwesend, als er sich vorgestellt hatte. Er stieg auf das kleine Podium, seine Chefin folgte ihm. Sie setzten sich. Wallander blickte über die Versammlung. Einige der Gesichter kannte er. Von ein paar Journalisten kannte er die Namen, andere waren ihm völlig unbekannt.
Was sage ich jetzt? dachte er. Auch wenn man es sich vorgenommen hat, sagt man nie wirklich, was eigentlich Sache ist.
Lisa Holgersson begrüßte die Journalisten und übergab das Wort an Wallander.
Ich hasse das hier, dachte er ergeben. Ich mag es nicht nur nicht. Ich hasse diese Begegnungen mit den Medien. Auch wenn ich weiß, daß sie nötig sind.
Er zählte stumm bis drei, dann fing er an: »Vor einigen Tagen wurde ein Taxifahrer hier in Ystad überfallen und beraubt. Er ist, wie Sie schon wissen, leider seinen Verletzungen erlegen. Zwei Personen konnten im Zusammenhang mit diesem Verbrechen festgenommen werden. Sie haben die Tat gestanden. Weil einer der Täter minderjährig ist, werden wir bei dieser Pressekonferenz den Namen nicht nennen.«
Einer der Journalisten hob die Hand. »Warum sagen Sie Täter, wenn es sich um zwei Frauen handelt?«
»Darauf komme ich noch«, sagte Wallander. »Wenn Sie sich ein wenig gedulden.«
Der Journalist war jung und hartnäckig. »Die Pressekonferenz sollte um ein Uhr anfangen. Jetzt ist es nach halb zwei. Nehmen Sie überhaupt keine Rücksicht darauf, daß wir Zeiten haben, die wir einhalten müssen?«
Wallander überging die Frage mit Schweigen.
»Es handelt sich mit anderen Worten um Mord«, fuhr er fort. »Raubmord. Es besteht auch kein Grund dazu, nicht offen zu sagen, wie es sich verhält, daß es nämlich ein ungewöhnlich brutaler Mord war. Deshalb ist es natürlich erfreulich, daß wir die Tat so schnell aufklären konnten.«
Dann wagte er den Absprung. Es war, wie an einer Stelle zu tauchen, an der man mit verborgenen Untiefen rechnen mußte. »Leider ist insofern eine Komplikation aufgetreten, als eine der Täterinnen flüchtig ist. Aber wir hoffen, sie binnen kurzem greifen zu können.«
Es wurde still im Saal. Dann kamen alle Fragen auf einmal.
»Wie heißt die, die geflohen ist?«
Wallander sah Lisa Holgersson an. Sie nickte.
»Sonja Hökberg.«
»Von wo ist sie geflohen?«
»Von hier aus dem Präsidium.«
»Wie konnte das passieren?«
»Wir sind dabei, das zu untersuchen.«
»Was soll das heißen?«
»Genau das, was ich sage. Daß wir untersuchen, wie Sonja Hökberg fliehen konnte.«
»Die geflohene Frau ist mit anderen Worten gefährlich.«
Wallander zögerte. »Ja«, antwortete er schließlich. »Aber es ist nicht sicher.«
»Entweder ist sie gefährlich, oder sie ist es nicht. Können Sie sich nicht entscheiden?«
Wallander verlor die Geduld. Zum wievielten Mal an diesem Tag, wußte er nicht. Er wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann nach Hause gehen und sich ins Bett legen. »Die nächste Frage.«
Der Journalist ließ nicht locker. »Ich verlange eine vernünftige Antwort. Ist sie gefährlich oder nicht?«
»Sie haben die Antwort bekommen, die ich geben kann. Die nächste Frage.«
»Ist sie bewaffnet?«
»Nicht, soweit wir wissen.«
»Wie wurde der Taxifahrer getötet?«
»Mit Messer und Hammer.«
»Haben Sie die Mordwaffen gefunden?«
»Ja.«
»Können wir sie sehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Aus ermittlungstechnischen Gründen. Die nächste Frage.«
»Läuft eine landesweite Fahndung nach ihr?«
»Noch reicht die regionale Fahndung. Und das ist alles, was wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu sagen haben.«
Wallanders Art und Weise, die Pressekonferenz für beendet zu erklären, löste heftige Proteste aus. Wallander wußte, daß noch eine unendliche Anzahl mehr oder weniger wichtiger Fragen im Raum stand.
Aber er stand auf und zerrte Lisa Holgersson fast von ihrem Stuhl hoch. »Es reicht jetzt«, zischte er.
»Sollten wir nicht noch eine Weile bleiben?«
»Dann mußt du es übernehmen. Sie haben erfahren, was sie wissen müssen. Den Rest füllen sie genausogut selbst aus.«
Fernsehen und Radio wollten Interviews.
Wallander bahnte sich einen Weg durch den Wald von Mikrophonen und Kameraaugen. »Das hier mußt du machen«, sagte er zu Lisa Holgersson. »Oder bitte Martinsson. Ich muß jetzt nach Hause.«
Sie waren in den Korridor gelangt. Sie sah ihn verwundert an.
»Gehst du nach Hause?«
»Wenn du willst, darfst du deine Hand auf meine Stirn legen. Ich bin krank. Ich habe Fieber. Es gibt andere Polizisten, die nach der Hökberg suchen können. Und alle diese Scheißfragen beantworten können.«
Er ließ sie stehen, ohne auf eine Antwort zu warten. Ich mache einen Fehler, dachte er. Ich sollte hierbleiben und versuchen, in diesem Chaos einigermaßen Ordnung zu halten. Aber gerade im Moment schaffe ich es nicht.
Er kam in sein Zimmer und zog sich die Jacke an, als ein Zettel auf seinem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit gefangennahm. Es war Martinssons Handschrift.
»Den Ärzten zufolge ist Tynnes Falk eines natürlichen Todes gestorben. Kein Verbrechen. Können wir also ad acta legen.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis Wallander einfiel, daß es sich um den Mann handelte, der tot vor dem Geldautomaten bei den Kaufhäusern gelegen hatte. Dann bleibt uns das wenigstens erspart, dachte er.
Er verließ das Präsidium durch die Garage, um keine Journalisten zu treffen. Es stürmte jetzt. Er duckte sich gegen die Böen auf dem Weg zu seinem Wagen. Als er den Zündschlüssel umdrehte, passierte nichts. Er versuchte es mehrfach, aber der Motor war tot.
Er löste den Sicherheitsgurt und stieg aus, ohne sich die Mühe zu machen, abzuschließen. Auf dem Weg zur Mariagata fiel ihm das Buch ein, das er aus der Buchhandlung abzuholen versprochen hatte. Aber das mußte warten. Alles mußte warten. Jetzt wollte er nur schlafen.
___________
Das Erwachen war wie der Sprung aus einem Traum.
Er war wieder auf der Pressekonferenz gewesen, aber sie hatte in dem Reihenhaus stattgefunden, in dem Sonja Hökberg wohnte. Wallander hatte keine einzige der Journalistenfragen beantworten können. Dann hatte er ganz hinten im Raum seinen Vater entdeckt. Er saß augenscheinlich ungerührt zwischen den Fernsehkameras und malte eine seiner immer gleichen Herbstlandschaften.
Wallander lag still und horchte. Der Wind drückte gegen das Fenster. Er drehte den Kopf. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb sieben. Er hatte fast vier Stunden geschlafen. Er versuchte zu schlucken. Sein Hals war geschwollen und rauh. Aber das Fieber war gefallen. Er ahnte, daß sie Sonja Hökberg noch immer nicht gefaßt hatten. Sonst hätte jemand angerufen. Er stand auf und ging in die Küche. Da lag der Zettel, daß er Seife kaufen müsse. Er schrieb dazu, daß er in der Buchhandlung ein Buch abholen wollte. Dann machte er Tee. Vergebens suchte er nach einer Zitrone. Im Gemüsefach lagen nur ein paar alte Tomaten und eine angefaulte Gurke. Er nahm die Teetasse mit ins Wohnzimmer. Überall in den Ecken lag Staub. Er ging zurück in die Küche und schrieb »Staubsaugerbeutel« auf seinen Einkaufszettel. Am besten wäre es natürlich, wenn er einen neuen Staubsauger kaufte.
Er zog das Telefon an sich und rief im Präsidium an. Der einzige, den er erreichte, war Hansson.
»Wie geht es?«
Hansson klang müde. »Sie ist spurlos verschwunden.«
»Keiner, der sie gesehen hat?«
»Nichts. Der Reichspolizeichef hat angerufen und sich skeptisch zu dem Vorgefallenen geäußert.«
»Das kann ich mir denken. Aber ich schlage vor, daß wir darauf im Moment nichts geben.«
»Ich habe gehört, daß du krank bist?«
»Morgen bin ich wieder in Ordnung.«
Hansson berichtete ihm, wie die Fahndung angelaufen war. Wallander hatte keine Einwände. Man hatte eine regionale Suchaktion veranlaßt und die landesweite Fahndung vorbereitet. Hansson versprach, sich zu melden, wenn etwas passierte.
Wallander beendete das Gespräch und griff zur Fernbedienung. Er sollte sich die Nachrichten ansehen. Sicher würde Sonja Hökbergs Flucht die große Neuigkeit in den Südnachrichten sein. Vielleicht würde sie sogar als würdig erachtet, eine Reichsnachricht zu werden. Aber er legte die Fernbedienung wieder weg. Statt dessen schob er eine CD mit Verdis »La Traviata« ein. Er legte sich auf die Couch und schloß die Augen. Dachte an Eva Persson und ihre Mutter. An den wüsten Ausbruch des Mädchens. Ihre ungerührten Augen. Dann klingelte das Telefon. Er richtete sich auf, stellte die Musik leiser und nahm ab.
»Kurt?«
Er erkannte die Stimme sofort. Es war Sten Widén. Unter Wallanders wenigen Freunden war Sten der älteste.
»Lange her.«
»Es ist immer lange her, wenn wir miteinander reden. Wie geht es dir? Im Präsidium hat mir jemand gesagt, daß du krank bist.«
»Halsschmerzen. Nichts Besonderes.«
»Ich dachte, wir könnten uns treffen.«
»Gerade im Moment ist es schwierig. Du hast vielleicht die Nachrichten gesehen?«
»Ich sehe weder Nachrichten, noch lese ich Zeitung. Außer die Ergebnisse von Galopprennen und den Wetterbericht.«
»Wir haben eine Person, die sich auf der Flucht befindet. Ich muß diese Person kriegen. Danach können wir uns sehen.«
»Ich wollte mich verabschieden.«
Wallander spürte, wie etwas in seinem Magen sich verkrampfte. War Sten krank? Hatte er seine Leber endgültig kaputtgesoffen?
»Warum das? Warum dich verabschieden?«
»Ich verkaufe den Hof und geh weg.«
In den letzten Jahren hatte Sten Widén immer wieder davon gesprochen, aufbrechen zu wollen. Der Hof, den er von seinem Vater geerbt hatte, war immer mehr zu einer trostlosen Belastung geworden. Lange Abende hatte Wallander seinen Träumen von einem anderen Leben zugehört, das er beginnen wollte, bevor es zu spät war. Er hatte Widéns Träumen nie größeren Ernst beigemessen als seinen eigenen. Offenbar war das ein Irrtum gewesen. Wenn Sten betrunken war, was häufig vorkam, konnte er übertreiben. Aber jetzt wirkte er nüchtern und voller Energie. Die normalerweise schleppende Stimme war verändert.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja. Ich fahre.«
»Wohin?«
»Das habe ich noch nicht entschieden. Aber bald ist es soweit.«
Der Knoten im Magen hatte sich wieder gelöst. Statt dessen empfand Wallander Neid. Sten Widéns Träume hatten sich trotz allem als tragfähiger erwiesen als seine eigenen.
»Ich komme raus zu dir, sobald ich es schaffe. Im besten Fall schon in ein paar Tagen.«
»Ich bin zu Hause.«
Als das Gespräch beendet war, blieb Wallander lange untätig sitzen. Er konnte ein Gefühl des Neids nicht unterdrücken. Seine eigenen Träume von einem Aufbruch aus dem Polizistendasein wirkten unendlich entlegen. Was Sten Widén jetzt tat, würde er selbst nie schaffen.
Er trank seinen Tee aus und trug die Tasse in die Küche. Das Thermometer vor dem Fenster zeigte ein Grad über Null. Für Anfang Oktober war es kalt.
Er ging zur Couch zurück. Die Musik war schwach zu hören. Er streckte sich nach der Fernbedienung und richtete sie auf die Musikanlage.
Im gleichen Augenblick fiel der Strom aus.
Zuerst glaubte er, es sei eine Sicherung. Aber als er sich tastend zum Fenster bewegt hatte, sah er, daß auch die Straßenlaternen erloschen waren.
Er kehrte zur Couch zurück und wartete.
Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wußte, war, daß ein großer Teil Schonens im Dunkeln lag.
7
Olle Andersson schlief. Das Telefon klingelte.
Als er die Nachttischlampe anknipsen wollte, blieb alles dunkel. Im Nu war ihm klar, was der Anruf bedeutete. Er knipste die Taschenlampe an, die stets neben seinem Bett stand, und nahm den Hörer ab. Wie er vermutet hatte, kam der Anruf von der Betriebszentrale von Sydkraft, die rund um die Uhr besetzt war. Rune Ågren war am Apparat. Olle Andersson wußte, daß er in dieser Nacht vom 7. auf den 8. Oktober Dienst hatte. Rune stammte aus Malmö und hatte seit über dreißig Jahren für verschiedene Kraftwerke gearbeitet. Im nächsten Jahr würde er in Rente gehen.
Er kam direkt zur Sache. »Wir haben einen Spannungsabfall und Stromausfall in einem Viertel von Schonen.«
Olle Andersson wunderte sich. Sie hatten zwar seit einigen Tagen starken Wind, aber er hatte noch lange keine Sturmstärke erreicht.
»Weiß der Teufel, was da los ist«, fuhr Ågren fort. »Aber es ist die Transformatorstation bei Ystad, die ausgefallen ist. Also schmeiß dich in die Klamotten, und nichts wie hin.«
Olle Andersson wußte, daß es eilte. Die Transformatorstation bei Ystad war ein Knotenpunkt in dem komplizierten Leitungsnetz, durch das der Strom über Städte und Regionen verteilt wurde. Wenn dort etwas passierte, konnte in einem großen Teil Schonens der Strom ausfallen. Es war ständig Personal in Bereitschaft, falls ein Störfall im Verteilernetz eintrat, und in dieser Woche war Olle Andersson für den Bezirk Ystad zuständig.
»Ich war eingeschlafen«, sagte er. »Wann kam der Ausfall?«
»Vor vierzehn Minuten. Wir brauchten eine Weile, um ihn zu lokalisieren. Du mußt dich beeilen. Die Polizei in Kristianstad hat außerdem einen Defekt am Reserveaggregat. Ihre Notrufanlage ist ausgefallen.«
Olle Andersson wußte, was das bedeutete. Er legte den Hörer auf und zog sich an.
Seine Frau Berit war wach geworden. »Was ist denn passiert?«
»Ich muß raus. Schonen ist ohne Strom.«
»Ist der Sturm so stark?«
»Nein. Es muß etwas anderes sein. Schlaf nur weiter.«
Mit der Taschenlampe in der Hand ging er die Treppe hinunter. Das Haus lag in Svarte. Er würde zwanzig Minuten mit dem Wagen brauchen, um zur Transformatorstation zu gelangen. Während er seine Jacke anzog, fragte er sich, was wohl passiert war.
Er befürchtete, der Fehler könnte so kompliziert sein, daß er allein nicht in der Lage war, ihn zu beheben. Wenn der Stromausfall umfassend war, mußte die Spannung so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden.
Der Wind war stark, als er auf den Hof hinauskam, aber Olle Andersson war trotzdem sicher, daß es nicht der Wind war, der die Störung verursacht hatte. Er setzte sich in seinen Wagen, eine rollende Werkstatt, schaltete den Funk ein und rief Ågren an. »Ich bin jetzt unterwegs.«
Er brauchte neunzehn Minuten bis zur Transformatorstation. Die Landschaft lag in absoluter Dunkelheit. Jedesmal, wenn der Strom ausfiel und er unterwegs war, um den Schaden zu beheben, hatte er den gleichen Gedanken. Daß diese kompakte Dunkelheit vor nur hundert Jahren völlig normal gewesen war. Die Elektrizität hatte alles verändert. Kein heute Lebender konnte sich vorstellen, wie es damals gewesen war. Aber Olle Andersson pflegte auch zu denken, wie verwundbar die Gesellschaft geworden war. So konnte ein simpler Defekt in einem der Schaltzentren die Stromversorgung eines ganzen Landesteils lahmlegen.
»Ich bin da«, gab er Ågren durch.
»Dann mach schnell jetzt.«
Die Transformatorstation stand auf einem Acker. Sie war von einem hohen Zaun umgeben. Überall hingen Schilder, die darauf hinwiesen, daß das Betreten Lebensgefahr bedeutete. Er duckte sich gegen den Wind. In der Hand hielt er den Schlüsselbund. Er trug eine Brille, die er selbst konstruiert hatte. Statt Gläsern hatte er zwei kleine, aber starke Taschenlampen oberhalb der Augen montiert. Er suchte die richtigen Schlüssel. Als er an das Tor kam, blieb er wie angewurzelt stehen. Es war aufgebrochen. Er schaute sich um. Kein Auto, kein Mensch.
Er griff zum Funkgerät und rief Ågren an. »Das Tor ist aufgebrochen«, sagte er.
Ågren konnte ihn wegen des Sturms nur schwer verstehen. Andersson mußte wiederholen, was er gesagt hatte.
»Es sieht leer aus«, fuhr er fort. »Ich gehe rein.«
Er erlebte nicht zum erstenmal, daß das Tor einer Transformatorstation aufgebrochen worden war. Sie erstatteten jedesmal Anzeige bei der Polizei. Manchmal gelang es der Polizei sogar, die Täter zu fassen. Oft waren es Jugendliche, die aus reinem Mutwillen gehandelt hatten. Aber sie hatten zuweilen davon gesprochen, was passieren würde, wenn jemand sich ernsthaft vornähme, Sabotage am Stromnetz auszuüben. Erst im September hatte er an einer Sitzung teilgenommen, auf der einer der technischen Sicherheitsbeauftragten von Sydkraft darüber gesprochen hatte, daß sie ganz neue Sicherheitsmaßnahmen ins Auge fassen müßten.
Er drehte den Kopf. Weil er seine große Taschenlampe in der Hand hielt, waren es drei Lichtpunkte, die über das Stahlskelett der Transformatorstation glitten. Mitten zwischen den Stahltürmen lag ein kleines graues Haus, das eigentliche Herzstück der Station. Es hatte eine Stahltür, die mit zwei verschiedenen Schlüsseln geöffnet wurde und die Unbefugte nur mit einer kräftigen Sprengladung aufbrechen konnten. An seinem Schlüsselbund hatte er die verschiedenen Schlüssel mit kleinen farbigen Streifen Isolierband markiert. Der rote Schlüssel war für das Tor, Gelb und Blau waren für die Stahltür. Er blickte sich um. Alles wirkte verlassen. Nur der Wind heulte. Er begann zu gehen. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Etwas ließ ihn stutzen. Er schaute sich um. War etwas hinter ihm? Aus dem Funkgerät, das er an seiner Jacke befestigt hatte, erklang Ågrens schnarrende Stimme. Er antwortete nicht. Was hatte ihn innehalten lassen? In der Dunkelheit um ihn herum war nichts. Jedenfalls nichts, was er sehen konnte. Aber ein Geruch. Es muß von den Äckern kommen, dachte er; ein Bauer, der Mist auf die Äcker gefahren hat. Er ging weiter auf das niedrige Gebäude zu. Der Geruch wurde nicht schwächer.
Plötzlich blieb Andersson wie angewurzelt stehen. Die Stahltür war offen. Er machte ein paar Schritte rückwärts und griff zum Funkgerät.
»Die Tür ist offen«, sagte er. »Hörst du mich?«
»Ich höre. Was meinst du damit, die Tür ist offen?«
»Genau das, was ich sage.«
»Ist jemand da?«
»Ich weiß nicht. Aber es sieht nicht so aus, als sei sie aufgebrochen worden.«
»Wie kann sie dann offen sein?«
»Ich weiß nicht.«
Es wurde still im Funkgerät. Andersson fühlte sich plötzlich sehr einsam. Ågren meldete sich wieder.
»Meinst du, sie ist aufgeschlossen worden?«
»Es sieht so aus. Außerdem riecht es hier komisch.«
»Sieh nach, was los ist. Es wird höchste Zeit. Die Chefs setzen mir schon zu. Sie rufen an wie die Irren und wollen wissen, was los ist.«
Andersson holte tief Luft, ging zur Tür und leuchtete hinein. Zuerst begriff er nicht, was er sah. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war entsetzlich. Dann verstand er, was passiert war. Daß in dieser Oktobernacht in Schonen die Lichter ausgegangen waren, lag an der verkohlten Leiche, die zwischen den Sammelschienen hing. Ein Mensch hatte den Stromausfall herbeigeführt.
Er stolperte rückwärts aus dem Häuschen und rief Ågren an. »Im Transformatorhaus ist eine Leiche.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor Ågren antwortete.
»Sag das noch einmal.«
»Da drinnen ist eine verkohlte Leiche. Ein Mensch hat den Kurzschluß verursacht.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Du hörst doch, was ich sage! Ein Relaisschutz muß kaputtgegangen sein.«
»Dann alarmieren wir die Polizei. Warte da, wo du bist. Wir müssen versuchen, das gesamte Leitungsnetz von hier aus umzukoppeln.«
Im Funkgerät wurde es still. Olle merkte, wie er zitterte. Ihm war unbegreiflich, was hier geschehen war. Warum ging ein Mensch in eine Transformatorstation und nahm sich das Leben, indem er sich Starkstrom durch den Körper jagte? Es war, als setzte man sich auf einen elektrischen Stuhl.
Ihm war schlecht. Um sich nicht zu übergeben, ging er zum Auto zurück.
Der Wind war böig und stark. Jetzt hatte es auch angefangen zu regnen.
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Der Alarmruf erreichte das im Dunkeln liegende Polizeipräsidium in Ystad kurz nach Mitternacht. Der Beamte, der das Gespräch von der Sydkraft entgegennahm, schrieb mit und nahm eine schnelle Einschätzung der Lage vor. Weil eine Leiche mit im Spiel war, rief er Hansson an, der Bereitschaftsdienst hatte und versprach, sogleich hinzufahren. Hansson hatte eine Kerze neben dem Telefon. Martinssons Nummer wußte er auswendig. Es dauerte lange, bis Martinsson sich meldete, weil er geschlafen und nicht mitbekommen hatte, daß der Strom ausgefallen war. Er hörte Hansson zu und begriff sofort, daß es ernst war. Als er aufgelegt hatte, fühlte er über die Tasten seines Telefons und drückte eine Nummer, die er auswendig konnte.
Wallander war auf dem Sofa eingeschlafen, während er darauf wartete, daß der Strom zurückkam. Aber als das Klingeln des Telefons ihn weckte, war es immer noch pechschwarz um ihn her. Er riß das Telefon vom Tisch, als er nach dem Hörer griff.
»Martinsson hier. Hansson hat gerade angerufen.«
Wallander ahnte, daß etwas Ernstes passiert war, und hielt den Atem an.
»Sie haben in einer Anlage von Sydkraft außerhalb von Ystad eine Leiche gefunden.«
»Ist es deswegen dunkel?«
»Ich weiß nicht. Aber ich fand, daß du informiert werden solltest. Trotz deiner Krankheit.«
Wallander schluckte. Sein Hals war noch immer geschwollen. Aber er hatte kein Fieber mehr. »Mein Auto ist kaputt«, sagte er. »Du mußt mich abholen.«
»Ich bin in zehn Minuten da.«
»Fünf«, sagte Wallander. »Nicht mehr. Und wenn die ganze Gegend schwarz ist.«
Er zog sich im Dunkeln an und ging hinunter auf die Straße. Es regnete. Martinsson kam nach sieben Minuten. Sie fuhren durch die unbeleuchtete Stadt. Hansson wartete an einem der Rondelle an der Ausfahrt.
»Es ist eine Transformatorstation gleich nördlich vom Müllplatz«, sagte Martinsson.
Wallander wußte, wo sie lag. Er hatte dort draußen in einem angrenzenden Waldstück mit Baiba einen Spaziergang gemacht, als sie bei ihm zu Besuch war.
»Was genau ist denn passiert?«
»Ich weiß nicht mehr, als ich dir gesagt habe. Sydkraft hat uns alarmiert. Sie haben die Leiche gefunden, als sie rausgefahren waren, um die Störung zu beheben.«
»Wie weit reicht sie denn?«
»Hansson zufolge ist ein Viertel von ganz Schonen lahmgelegt.«
Wallander sah ihn ungläubig an. Ein Stromausfall war sehr selten derartig umfassend. Es kam gelegentlich vor, wenn ein schwerer Wintersturm übers Land zog. Oder wie bei dem Orkan im Herbst 1969. Aber nicht, wenn es so wehte wie jetzt.
Sie bogen von der Hauptstraße ab. Der Regen hatte zugenommen. Martinssons Scheibenwischer lief auf vollen Touren. Wallander bereute, daß er keine Regenjacke angezogen hatte, und an seine Gummistiefel kam er auch nicht heran. Die lagen im Kofferraum seines Wagens, der beim Präsidium stand.
Hansson bremste. Eine Taschenlampe leuchtete in der Dunkelheit. Wallander sah einen Mann im Overall, der ihnen zuwinkte.
»Das hier ist eine Hochspannungsstation«, sagte Martinsson. »Es wird kein schöner Anblick sein. Wenn es stimmt, daß jemand verbrannt ist.«
Sie stiegen aus in den Regen. Hier draußen auf dem freien Feld war der Wind stärker. Der Mann, der ihnen entgegenkam, stand unter Schock. Wallander zweifelte nicht mehr daran, daß wirklich etwas Ernstes geschehen war.
»Da drinnen«, sagte der Mann und zeigte zum Haus.
Wallander ging voran. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und nahm ihm fast die Sicht. Martinsson und Hansson waren hinter ihm. Neben ihnen ging der geschockte Olle Andersson. »Da drinnen«, sagte er, als sie vor dem Transformatorenhaus stehenblieben.
»Steht da drinnen noch irgend etwas unter Strom?« fragte Wallander.
»Nichts. Jetzt nicht mehr.«
Wallander nahm Martinssons Taschenlampe und leuchtete ins Innere des Häuschens. Jetzt roch er den Gestank von verbranntem Menschenfleisch. Ein Geruch, an den er sich nie hatte gewöhnen können. Obwohl er ihn oft genug gerochen hatte, wenn Menschen bei Bränden umgekommen waren. Ihm fuhr unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, daß Hansson sich bestimmt übergeben würde. Leichengeruch ertrug er nicht.
Der Körper war schwarz verkohlt. Das Gesicht war unkenntlich. Sie hatten einen rußigen Kadaver vor sich. Eingeklemmt zwischen Sicherungen und Leitungen.
Er trat zur Seite, damit Martinsson sehen konnte.
»Pfui Teufel«, stöhnte Martinsson.
Wallander rief Hansson zu, er solle Nyberg benachrichtigen und die volle Besetzung anfordern.
»Und sie sollen einen Generator mitbringen. Damit wir hier Licht haben.«
Er wandte sich an Martinsson. »Wie heißt der Mann, der die Leiche entdeckt hat?«
»Olle Andersson.«
»Was tat er hier?«
»Sydkraft hatte ihn hergeschickt. Sie haben natürlich Reparateure, die rund um die Uhr in Bereitschaft sind.«
»Sprich mit ihm. Versuche, einen Zeitplan aufzustellen. Und trampelt hier nicht herum. Nyberg dreht sonst durch.«
Martinsson nahm Andersson mit zu einem der Autos. Wallander war plötzlich allein. Er ging in die Hocke und leuchtete die Leiche an. Von der Kleidung war nichts übrig. Wallander hatte das Gefühl, eine Mumie zu betrachten. Oder einen Körper, der nach tausend Jahren in einem Moor gefunden worden war. Aber dies war eine moderne Transformatorstation. Er versuchte nachzudenken. Der Strom war gegen elf ausgefallen. Jetzt war es kurz vor eins. Wenn es dieser Mensch war, der den Stromausfall verursacht hatte, dann war es vor ungefähr zwei Stunden passiert.
Wallander kam wieder hoch. Die Taschenlampe ließ er auf dem Zementfußboden stehen. Was war geschehen? Ein Mensch verschafft sich Zugang zu einer abseits gelegenen Transformatorstation und verursacht einen Stromausfall, indem er sich das Leben nimmt. Wallander verzog das Gesicht. So einfach konnte es nicht sein. Schon häuften sich die Fragen. Er bückte sich nach der Lampe und sah sich im Raum um. Er konnte nichts anderes tun, als auf Nyberg zu warten.
Aber gleichzeitig beunruhigte ihn etwas. Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über den verkohlten Körper wandern. Woher sein Gefühl kam, wußte er nicht. Aber es war, als erkenne er etwas, was nicht mehr da war. Aber vor kurzem noch dagewesen war.
Er ging nach draußen und betrachtete die massive Stahltür. Sie hatte zwei robuste Schlösser. Eine Spur von Gewalteinwirkung konnte er nicht erkennen. Er nahm den Weg zurück, den er gekommen war, und versuchte nur da aufzutreten, wo der Boden unberührt war. Als er zum Zaun kam, untersuchte er das Tor. Es war aufgebrochen worden. Was hatte das zu bedeuten? Ein Tor war aufgebrochen, eine Stahltür hingegen ohne Gewaltanwendung geöffnet worden. Martinsson hatte sich in den Wagen des Elektromonteurs gesetzt. Hansson telefonierte von seinem eigenen aus. Wallander schüttelte sich den Regen ab und setzte sich in Martinssons Wagen. Der Motor lief, die Scheibenwischer arbeiteten. Er drehte die Heizung hoch. Sein Hals tat weh. Er machte das Radio an, in dem eine Sondernachrichtensendung lief. Als er zuhörte, wurde ihm der Ernst der Situation bewußt.
Ein Viertel von ganz Schonen war ohne Strom. Von Trelleborg bis Kristianstad war es dunkel. Die Krankenhäuser hatten Notstromaggregate, aber sonst war der Stromausfall überall total. Ein Direktor von Sydkraft wurde interviewt und teilte mit, daß die Störung lokalisiert worden war. Man rechne damit, sie in einer halben Stunde behoben zu haben. Auch wenn einzelne Gegenden noch warten mußten.
Hier wird es in einer halben Stunde keinen Strom geben, dachte Wallander. Er fragte sich, ob der Mann, der im Radio interviewt wurde, schon wußte, was passiert war.
Lisa Holgersson muß informiert werden, dachte er. Er nahm Martinssons Handy und wählte ihre Nummer. Es dauerte, bis sie abnahm.
»Wallander hier. Hast du gemerkt, daß kein Strom da ist?«
»Ist der Strom ausgefallen? Ich habe geschlafen.«
Wallander erzählte das Wichtigste.
Sie war sofort hellwach. »Soll ich kommen?«
»Ich denke, du solltest Kontakt mit Sydkraft aufnehmen. Damit ihnen klar ist, daß ihr Stromausfall eine polizeiliche Ermittlung nach sich zieht.«
»Was ist denn passiert? Ein Selbstmord?«
»Ich weiß nicht.«
»Kann es Sabotage sein oder eine terroristische Aktion?«
»Schwer zu sagen. Ausschließen können wir nichts.«
»Ich rufe Sydkraft an. Halt mich auf dem laufenden.«
Wallander beendete das Gespräch. Hansson kam durch den Regen gerannt. Wallander öffnete die Tür.
»Nyberg ist unterwegs. Wie sieht es da drinnen aus?«
»Es war nichts mehr übrig. Das Gesicht ist verbrannt.«
Hansson antwortete nicht. Er lief durch den Regen zu seinem eigenen Wagen.
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Zwanzig Minuten später konnte Wallander im Rückspiegel die Lichter von Nybergs Wagen sehen. Er stieg aus und ging ihm entgegen.
Nyberg sah müde aus. »Was ist passiert? Aus Hansson konnte ich wie gewöhnlich nicht schlau werden.«
»Da drinnen ist ein Toter. Verbrannt. Nicht viel übrig.«
Nyberg blickte um sich. »Das kommt dabei raus, wenn man sich mit Hochspannung verbrennt. Ist das der Grund, warum alles dunkel ist?«
»Vermutlich.«
»Soll das heißen, daß halb Schonen jetzt darauf wartet, daß ich fertig werde? Damit sie ihren Strom wiederbekommen?«
»Falls das so ist, können wir darauf jedenfalls keine Rücksicht nehmen. Aber ich glaube, sie sind schon dabei, den Strom wieder in Gang zu bringen. Nur gerade hier nicht.«
»Wir leben in einer verwundbaren Gesellschaft«, sagte Nyberg und begann sogleich, dem Techniker, der ihn begleitete, Anweisungen zu geben.
Das gleiche hat Erik Hökberg gesagt, dachte Wallander. Daß wir in einer verwundbaren Gesellschaft leben. Seine Computer werden ausgegangen sein, falls er nachts auf ist und darauf herumtippt, um Geld zu verdienen.
Nyberg arbeitete schnell und effektiv. In kurzer Zeit waren Scheinwerfer aufgebaut und an einen scheppernden Generator angeschlossen. Martinsson und Wallander hatten sich ins Auto gesetzt. Martinsson blätterte in seinen Notizen.
»Andersson wurde von dem diensttuenden Kollegen bei Sydkraft angerufen, der Ågren heißt. Sie hatten die Störung hier lokalisiert. Andersson wohnt in Svarte. Er brauchte zwanzig Minuten hierher. Er sah sofort, daß das Tor aufgebrochen war. Die Stahltür dagegen war aufgeschlossen worden. Als er hineinschaute, sah er, was los war.«
»Hat er etwas beobachtet?«
»Als er kam, war niemand hier, und er ist niemandem begegnet.«
Wallander überlegte. »Wir müssen das mit den Schlüsseln klären«, sagte er.
Andersson telefonierte mit Ågren, als Wallander in seinen Wagen stieg. Er beendete das Gespräch sofort.
»Ich kann mir denken, wie sehr Sie das mitgenommen hat«, sagte Wallander.
»So etwas Entsetzliches habe ich noch nie gesehen. Was ist denn passiert?«
»Das wissen wir nicht. Als Sie ankamen, war das Tor also aufgebrochen, aber die Stahltür war angelehnt, ohne Gewaltanwendung. Wie erklären Sie sich das?«
»Das erkläre ich mir überhaupt nicht.«
»Wer hat außer Ihnen noch Schlüssel zu dieser Anlage?«
»Ein anderer Reparateur, der in Ystad wohnt. Er heißt Moberg. Das Hauptbüro besitzt natürlich Schlüssel. Die Kontrolle ist sehr streng.«
»Aber es hat jemand aufgeschlossen?«
»Es sieht so aus.«
»Ich nehme an, daß diese Schlüssel nicht einfach zu kopieren sind?«
»Die Schlösser sind in den USA hergestellt. Es soll unmöglich sein, sie mit falschen Schlüsseln zu öffnen.«
»Wie heißt Moberg mit Vornamen?«
»Lars.«
»Kann er vergessen haben abzuschließen?«
Andersson schüttelte den Kopf. »Das wäre gleichbedeutend mit Entlassung. Die Kontrollen sind scharf. Die Sicherheitsvorkehrungen sind in den letzten Jahren noch verstärkt worden.«
Wallander hatte vorerst keine Fragen mehr. »Am besten warten Sie noch«, sagte er. »Falls wir noch Fragen haben. Und ich möchte, daß Sie Lars Moberg anrufen.«
»Warum das?«
»Bitten Sie ihn nachzusehen, ob er seine Schlüssel noch hat. Die für diese Tür.«
Wallander stieg aus. Es regnete jetzt weniger. Das Gespräch mit Andersson hatte seine Unruhe verstärkt. Natürlich konnte es Zufall sein, daß sich ein Mensch, der sich ums Leben bringen wollte, gerade diese Transformatorstation ausgesucht hatte. Aber vieles sprach dagegen. Nicht zuletzt der Umstand, daß die Stahltür mit Schlüsseln geöffnet worden war. Das wies in eine andere Richtung: daß jemand ermordet und anschließend zwischen die stromführenden Leitungen geworfen worden war, um zu verbergen, was eigentlich geschehen war.
Wallander trat ins Scheinwerferlicht. Der Fotograf war gerade mit seinen Bildern und den Videoaufnahmen fertig geworden. Nyberg kniete neben dem toten Körper. Er grummelte verärgert, als ihm Wallanders Schatten einen Moment lang in die Quere kam.
»Was hast du gesagt?«
»Daß es eine Ewigkeit zu dauern scheint, bis der Arzt kommt. Ich muß den Körper verrücken, um zu sehen, was dahinter ist.«
»Was ist deiner Meinung nach passiert?«
»Du weißt doch, daß ich nicht gern spekuliere.«
»Und doch tun wir die ganze Zeit genau das. Also. Was glaubst du?«
Nyberg überlegte, bevor er antwortete. »Wenn jemand dies als Selbstmordmethode gewählt hat, wäre es, gelinde gesagt, makaber. Falls es sich um Mord handelt, wäre es eine ungewöhnlich brutale Vorgehensweise. Es erinnert an eine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl.«
Vollkommen richtig, dachte Wallander. Was uns zu der Möglichkeit führt, daß jemand einen Racheakt begangen hat. Indem er einen Menschen auf eine sehr spezielle Art von elektrischem Stuhl befördert.
Nyberg wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ein Kriminaltechniker hatte begonnen, den Bereich innerhalb des Zauns zu durchsuchen. Eine Ärztin erschien. Wallander hatte schon mehrfach mit ihr zusammengearbeitet. Sie hieß Susann Bexell, machte nicht viele Worte und ging sogleich an die Arbeit. Nyberg holte seine Thermoskanne und goß sich Kaffee ein. Er bot auch Wallander an, der dankend annahm. Mehr Schlaf würde er in dieser Nacht sowieso nicht bekommen. Martinsson tauchte neben ihnen auf, naß und verfroren. Wallander gab ihm seinen Kaffeebecher.
»Sie haben den Strom jetzt wieder in Gang gekriegt«, sagte Martinsson. »Sie schalten gerade um Ystad herum wieder ein. Weiß der Teufel, wie sie das machen.«
»Hat Andersson mit seinem Kollegen Moberg gesprochen? Wegen der Schlüssel?«
Martinsson ging, um nachzufragen. Wallander sah Hansson reglos hinter dem Steuer seines Wagens sitzen. Er ging hinüber und sagte ihm, er solle ins Präsidium zurückfahren. Ystad lag noch immer im Dunkeln. Hansson konnte dort von größerem Nutzen sein. Hansson nickte dankbar und fuhr davon.
Wallander trat zu der Ärztin. »Kannst du schon etwas über ihn sagen?«
»Auf jeden Fall so viel, daß du dich irrst. Es ist kein Mann. Es ist eine Frau.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Aber weitere Fragen werde ich nicht beantworten.«
»Ich habe trotzdem noch eine. War sie schon tot, als sie hier landete? Oder hat der Strom sie getötet?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Wallander wandte sich nachdenklich um. Er war die ganze Zeit davon ausgegangen, daß es ein Mann war, der dort lag. Im gleichen Augenblick sah er, wie der Kriminaltechniker, der das Gelände am Zaun untersucht hatte, mit einem Gegenstand in der Hand zu Nyberg kam. Wallander ging zu ihnen.
Es war eine Handtasche.
Wallander starrte sie an.
Zuerst glaubte er, sich zu irren.
Dann wußte er mit Sicherheit, daß er sie schon einmal gesehen hatte. Und zwar am Tag zuvor.
»Sie lag am nördlichen Ende des Zauns«, sagte der Techniker, der Ek hieß.
»Ist das eine Frau da drinnen?« fragte Nyberg verwundert.
»Nicht nur das«, erwiderte Wallander. »Jetzt wissen wir auch, wer sie ist.«
Die Tasche hatte kürzlich im Verhörzimmer gestanden. Sie hatte einen Verschluß, der an ein Eichenblatt erinnerte.
Er irrte sich nicht. »Diese Tasche gehört Sonja Hökberg«, sagte er. »Also ist sie es, die da drinnen liegt.«
Es war zehn nach zwei. Der Regen war wieder stärker geworden.
8
Um kurz nach drei Uhr am Morgen kehrte das Licht nach Ystad zurück.
Wallander befand sich zu diesem Zeitpunkt noch mit seinen Technikern an der Transformatorstation. Hansson rief vom Präsidium aus an und berichtete davon. In der Entfernung konnte Wallander die Außenbeleuchtung eines Stalls angehen sehen.
Die Ärztin hatte ihre Arbeit beendet, der Körper war weggebracht worden, und Nyberg hatte seine technische Untersuchung fortsetzen können. Er hatte Olle Anderssons Hilfe in Anspruch genommen und sich das komplizierte Transformatornetz im Innern des Hauses erklären lassen. Gleichzeitig wurden eventuelle Spuren um das eingezäunte und abgesperrte Gelände gesichert. Der anhaltende Regen machte die Arbeit mühsam. Martinsson war im Matsch ausgerutscht und gefallen und hatte sich einen Ärmel am Ellenbogen aufgerissen. Wallander fror so, daß es ihn schüttelte, und er sehnte sich nach seinen Gummistiefeln.
Kurz nachdem der Strom nach Ystad zurückgekommen war, nahm Wallander Martinsson mit in eins der Polizeiautos. Dort erstellten sie gemeinsam eine Übersicht über das, was sie bisher wußten. Ungefähr dreizehn Stunden, bevor sie in dem Transformatorhaus starb, war Sonja Hökberg aus dem Polizeipräsidium geflohen. Sie konnte zu Fuß dorthin gelangt sein. Die Zeit reichte aus. Aber weder Wallander noch Martinsson hielten das für wahrscheinlich. Immerhin betrug die Entfernung nach Ystad acht Kilometer.
»Jemand müßte sie gesehen haben«, sagte Martinsson. »Unsere Wagen waren unterwegs und haben nach ihr gesucht.«
»Sicherheitshalber sollten wir es kontrollieren«, meinte Wallander. »Daß wirklich ein Wagen auf der Strecke gefahren ist und sie nicht gesehen hat.«
»Und was ist die Alternative?«
»Daß jemand sie hingefahren hat. Der sie dann zurückgelassen hat und mit dem Wagen verschwunden ist.«
Beide wußten, was das bedeutete. Die Frage, wie Sonja Hökberg gestorben war, mußte geklärt werden. Hatte sie Selbstmord begangen, oder war sie ermordet worden?
»Die Schlüssel«, sagte Wallander. »Das Tor war aufgebrochen. Aber nicht die innere Tür. Warum?«
Sie suchten schweigend nach einer möglichen Erklärung.
»Wir brauchen eine Liste all derer, die Zugang zu den Schlüsseln haben«, fuhr Wallander fort. »Ich will eine genaue Aufstellung für jeden Schlüssel. Wer einen hat. Und wo die Leute sich gestern am späten Abend aufgehalten haben.«
»Mir leuchtet das alles nicht ein«, sagte Martinsson. »Sonja Hökberg begeht einen Mord. Dann wird sie selbst ermordet. Ich finde Selbstmord trotz allem naheliegender.«
Wallander antwortete nicht. Er hatte viele Gedanken im Kopf, doch es gelang ihm nicht, sie ineinandergreifen zu lassen. Ein ums andere Mal ging er das Gespräch mit Sonja Hökberg durch, sein erstes und zugleich letztes mit ihr.
»Du hast als erster mit ihr geredet«, sagte Wallander. »Was hattest du für einen Eindruck von ihr?«
»Den gleichen wie du. Daß es ihr nicht leid tat. Sie hätte ebensogut ein Insekt getötet haben können wie einen alten Taxifahrer.«
»Das spricht gegen Selbstmord. Warum sollte sie sich das Leben nehmen, wenn sie kein schlechtes Gewissen hatte?«
Martinsson schaltete die Scheibenwischer aus. Durch die Scheibe erkannten sie Olle Andersson, der reglos in seinem Wagen saß, dahinter Nyberg, der einen Scheinwerfer verrückte. Seine Bewegungen waren unkontrolliert. Wallander sagte sich, daß er wütend und ungeduldig war.
»Aber was spricht für Mord?«
»Nichts«, erwiderte Wallander. »Ebensowenig wie dafür, daß Sonja Hökberg sich selbst umbringt. Wir müssen beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Aber daß es ein Unglück gewesen sein sollte, können wir vergessen.«
Das Gespräch versandete. Nach einer Weile bat Wallander Martinsson, zu veranlassen, daß am Morgen um acht Uhr eine Ermittlungsgruppe zusammenkam. Dann verließ er den Wagen. Der Regen hatte aufgehört. Er spürte, wie müde er war. Und durchgefroren. Sein Hals tat weh. Er ging zu Nyberg hinüber, der im Begriff war, die Arbeit im Transformatorhaus zu beenden.
»Hast du etwas gefunden?«
»Nein.«
»Was war Anderssons Meinung?«
»Worüber? Über meine Arbeitsweise etwa?«
Wallander zählte stumm bis zehn. Nyberg war denkbar schlechter Laune. Wenn er gereizt war, konnte es unmöglich werden, mit ihm zu sprechen.
»Er kann auch nicht sagen, was passiert ist«, sagte Nyberg nach einer Weile. »Der Körper hat den Stromausfall verursacht. Aber ob es ein toter Körper war, der hier zwischen die Leitungen geworfen wurde, oder ein lebender, das können nur die Gerichtsmediziner beantworten. Wenn überhaupt.«
Wallander nickte. Er schaute zur Uhr. Halb vier. Es hatte keinen Sinn, noch zu bleiben. »Ich fahre jetzt. Aber um acht setzen wir uns zusammen.«
Nyberg grummelte etwas Unverständliches. Wallander deutete es so, daß er kommen würde.
Dann wandte er sich wieder dem Wagen zu, in dem Martinsson saß und Notizen machte. »Fahren wir«, sagte er. »Du kannst mich bei mir zu Hause absetzen.«
»Was ist mit deinem Wagen?«
»Er gibt keinen Mucks von sich.«
Schweigend kehrten sie nach Ystad zurück. Als Wallander in seine Wohnung gekommen war, ließ er ein Bad einlaufen. Während sich die Wanne füllte, nahm er seine letzten Schmerztabletten und schrieb auf die wachsende Einkaufsliste auf dem Küchentisch, daß er neue kaufen mußte. Er fragte sich ergeben, wann er wohl Zeit haben würde, in die Apotheke zu gehen.
Im warmen Wasser taute er langsam wieder auf. Für einige Minuten duselte er ein. Sein Kopf war leer. Doch dann kehrten die Bilder zurück. Von Sonja Hökberg. Und Eva Persson. In Gedanken wanderte er von einem Ereignis zum nächsten. Er ging behutsam vor, um nichts zu vergessen. Nichts hing zusammen. Warum war Johan Lundberg getötet worden? Was hatte Sonja Hökberg zu der Tat getrieben? Und warum hatte Eva Persson mitgemacht? Er war sicher, daß das Tatmotiv nicht nur akuter Geldmangel war. Das Geld sollte zu etwas benutzt werden. Wenn nicht etwas ganz anderes dahintersteckte.
In Sonja Hökbergs Handtasche, die sie bei der Transformatorstation gefunden hatten, waren nicht mehr als dreißig Kronen gewesen. Das Geld aus dem Raub war von der Polizei beschlagnahmt worden.
Sie ist geflohen, dachte er. Plötzlich tut sich ihr eine Möglichkeit auf, wegzulaufen. Das ist um zehn Uhr am Vormittag. Nichts kann vorbereitet gewesen sein. Sie verläßt das Präsidium und ist von da an dreizehn Stunden lang verschwunden. Ihr Körper wird acht Kilometer von Ystad entfernt gefunden.
Wie kam sie dorthin? Sie kann per Anhalter gefahren sein, aber sie kann auch mit jemandem Kontakt aufgenommen haben, den sie kannte. Was passiert dann? Bittet sie darum, an einen Ort gefahren zu werden, an dem sie vorhat, Selbstmord zu begehen? Oder wird sie ermordet? Wer hat die Schlüssel zur inneren Tür, aber nicht zum äußeren Tor?
Wallander stieg aus der Badewanne. Es gibt zwei Warums, dachte er. Zwei Fragen, die jetzt entscheidend sind und die in verschiedene Richtungen zeigen. Wenn sie sich entschlossen hat, Selbstmord zu begehen, warum wählt sie ausgerechnet eine Transformatorstation? Und wie kommt sie an die Schlüssel? Und wenn sie getötet worden ist: warum?
Wallander kroch ins Bett. Es war halb fünf. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Aber er war zu müde, um noch klar denken zu können. Er mußte schlafen. Bevor er das Licht löschte, stellte er den Wecker. Er schob ihn so weit vom Bett fort, daß er gezwungen sein würde, aufzustehen, um ihn auszumachen.
Als er erwachte, hatte er das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben. Er versuchte zu schlucken. Sein Hals schmerzte immer noch, aber weniger als am Tag zuvor. Er befühlte seine Stirn. Das Fieber war fort. Aber seine Nase dicht. Er ging ins Badezimmer und schneuzte sich, wobei er es vermied, in den Spiegel zu sehen. Die Müdigkeit war wie ein körperlicher Schmerz. Während das Kaffeewasser kochte, blickte er aus dem Fenster. Es war noch immer windig, aber die Regenwolken waren verschwunden. Fünf Grad über Null. Er fragte sich, wann er wohl Zeit haben würde, sich um sein Auto zu kümmern.
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Um kurz nach acht waren sie in einem der Sitzungszimmer im Präsidium versammelt. Wallander betrachtete die müden Gesichter von Martinsson und Hansson und fragte sich, wie er wohl selber aussah. Lisa Holgersson, die auch nicht viele Stunden geschlafen hatte, wirkte dagegen unberührt.
Sie war es auch, die die Sitzung eröffnete. »Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß der Stromausfall in Schonen heute nacht einer der gravierendsten und bisher umfassendsten gewesen ist. Das weist auf die Verwundbarkeit hin. Was da geschehen ist, sollte eigentlich unmöglich sein. Es geschah dennoch. Jetzt werden die Behörden, die Kraftwerksbetreiber und die Zivilverteidigung wieder überlegen, wie die Sicherheit verstärkt werden kann. Dies nur als Einleitung.«
Sie nickte Wallander zu, weiterzumachen. Er faßte zusammen.
»Wir wissen mit anderen Worten nicht, was passiert ist«, sagte er zum Abschluß. »Ob es ein Unglück war, Selbstmord oder Mord. Auch wenn wir einen Unglücksfall mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen können. Sie hat allein oder mit jemand anderem zusammen das äußere Tor aufgebrochen. Von da an hatten sie Schlüssel. Das Ganze ist gelinde gesagt merkwürdig.«
Er blickte in die Runde. Martinsson konnte mitteilen, daß Streifenwagen auf der Suche nach Sonja Hökberg mehrfach den fraglichen Weg abgefahren waren.
»Dann wissen wir das«, sagte Wallander. »Also hat jemand sie hingefahren. Was ist mit Wagenspuren?«
Er hatte die Frage an Nyberg gerichtet, der rotäugig und mit zerzausten Haaren am unteren Tischende saß. Wallander wußte, daß Nyberg sich nach seiner Pensionierung sehnte.
»Abgesehen von unseren eigenen und denen des Reparateurs Andersson haben wir zwei abweichende gefunden. Aber bei dem verdammten Regen heute nacht sind die Abdrücke sehr undeutlich.«
»Zwei andere Wagen sind also da gewesen?«
»Andersson meinte, der eine Abdruck könnte von seinem Kollegen Moberg stammen. Wir sind dabei, das zu untersuchen.«
»Dann bliebe ein Wagen mit unbekanntem Fahrer?«
»Ja.«
»Man konnte natürlich nichts darüber sagen, wann dieser andere Wagen dort war?«
Nyberg blickte ihn verwundert an. »Wie sollte das zu bewerkstelligen sein?«
»Ich setze großes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Das weißt du ja.«
»Irgendwo verläuft trotz allem eine Grenze.«
Ann-Britt Höglund hatte bisher geschwiegen. Jetzt hob sie die Hand. »Kann es eigentlich etwas anderes sein als Mord?« fragte sie. »Mir fällt es genauso schwer wie euch, einen Grund zu erkennen, warum Sonja Hökberg Selbstmord begangen haben sollte. Auch wenn sie beschlossen hätte, dem Ganzen ein Ende zu machen, wäre sie kaum auf die Idee gekommen, sich selbst zu verbrennen.«
Wallander erinnerte sich an ein Ereignis vor ein paar Jahren. Damals hatte ein Mädchen aus Mittelamerika sich verbrannt, indem sie sich in einem Rapsfeld mit Benzin übergossen hatte. Es war eine seiner gräßlichsten Erinnerungen. Er war Augenzeuge und hatte gesehen, wie das Mädchen aufloderte. Und er hatte nichts tun können.
»Frauen schlucken Tabletten«, sagte Ann-Britt. »Sie erschießen sich selten. Und sie werfen sich nicht in eine Stromleitung.«
»Ich glaube, du hast recht«, stimmte Wallander zu. »Aber wir müssen trotzdem abwarten, was die Rechtsmediziner sagen. Heute nacht da draußen war nicht eindeutig zu erkennen, was geschehen ist.«
Mehr Fragen gab es nicht.
»Die Schlüssel«, sagte Wallander. »Das ist das allerwichtigste. Zu kontrollieren, daß keiner gestohlen worden ist. Darauf müssen wir uns als erstes konzentrieren. Und außerdem läuft eine Mordermittlung. Sonja Hökberg ist zwar tot, aber Eva Persson lebt noch, und auch wenn sie minderjährig ist, muß die Ermittlung zu Ende geführt werden.«
Martinsson übernahm es, die Sache mit den Schlüsseln zu kontrollieren. Dann brachen sie auf, und Wallander ging in sein Zimmer. Unterwegs holte er Kaffee. Sein Telefon klingelte.
Es war Irene in der Anmeldung. »Du hast Besuch«, sagte sie.
»Wen denn?«
»Er heißt Enander und ist Arzt.«
Wallander suchte in seiner Erinnerung, ohne darauf zu kommen, wer es sein könnte. »Und was will er?«
»Mit dir reden.«
»Worum geht es denn?«
»Das sagt er nicht.«
»Schick ihn zu jemand anderem.«
»Das habe ich schon versucht. Aber er will unbedingt mit dir reden. Dringend.«
Wallander seufzte. »Ich komme runter«, sagte er und legte auf.
Der Mann, der ihn an der Anmeldung erwartete, war in mittleren Jahren, hatte kurze Stoppelhaare und trug einen Trainingsanzug. Er hatte einen kräftigen Händedruck und stellte sich als David Enander vor.
»Ich bin sehr beschäftigt«, sagte Wallander. »Worum geht es?«
»Es dauert nicht lange. Aber es ist wichtig.«
»Der Stromausfall heute nacht hat ein Chaos angerichtet. Ich kann Ihnen zehn Minuten geben. Wollen Sie eine Anzeige machen?«
»Ich möchte nur ein Mißverständnis aufklären.«
Wallander wartete auf eine Fortsetzung, die aber nicht kam. Sie gingen zu seinem Büro. Die Armlehne fiel ab, als Enander sich auf den Besucherstuhl setzte.
»Lassen Sie sie liegen. Der Stuhl ist kaputt«, sagte Wallander.
David Enander kam direkt zur Sache. »Es handelt sich um Tynnes Falk, der vor einigen Tagen gestorben ist.«
»Wir von uns aus haben den Fall abgeschlossen. Er starb eines natürlichen Todes.«
»Das ist genau das Mißverständnis, das ich richtigstellen möchte«, sagte Enander und strich sich über die Stoppelfrisur.
Wallander sah, daß der Mann ihm gegenüber es wirklich ernst meinte. »Ich höre.«
David Enander nahm sich Zeit und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich bin viele Jahre lang Tynnes Falks Hausarzt gewesen. Er wurde 1981 mein Patient. Mit anderen Worten, vor mehr als fünfzehn Jahren. Er kam wegen eines Ausschlags an den Händen zu mir. Ich arbeitete damals in der Ambulanz des Krankenhauses. 1986 machte ich eine eigene Praxis auf, als die neue Klinik eingerichtet wurde. Herr Falk blieb mein Patient. Er war selten oder nie krank. Die allergischen Beschwerden traten nicht wieder auf, aber ich habe regelmäßig Gesundheitskontrollen bei ihm durchgeführt. Herr Falk war ein Mensch, der wissen wollte, wie es um ihn bestellt war. Er führte auch ein vorbildliches Leben und paßte auf sich auf. Aß vernünftig, trieb Sport, hatte geregelte Gewohnheiten.«
Wallander fragte sich, worauf Enander hinauswollte. Er spürte, wie seine Ungeduld zunahm.
»Ich war verreist, als er starb«, fuhr Enander fort. »Ich hörte es erst gestern, als ich nach Hause kam.«
»Wie erfuhren Sie davon?«
»Seine frühere Frau rief mich an.«
Wallander nickte ihm zu, er solle weiterreden.
»Sie sagte, die Todesursache sollte ein schwerer Herzinfarkt gewesen sein.«
»Das ist uns auch mitgeteilt worden.«
»Die Sache ist nur die, daß das nicht stimmen kann.«
Wallander hob die Augenbrauen. »Und warum nicht?«
»Ganz einfach. Noch vor zehn Tagen habe ich bei Falk eine gründliche Untersuchung durchgeführt. Sein Herz war in ausgezeichneter Verfassung. Er hatte die Kondition eines Zwanzigjährigen.«
Wallander dachte nach. »Was wollen Sie mir eigentlich sagen? Daß unsere Ärzte sich geirrt haben?«
»Ich bin mir sehr wohl dessen bewußt, daß in seltenen Fällen auch bei einer vollkommen gesunden Person ein Herzinfarkt auftreten kann. Aber ich weigere mich zu glauben, daß dies bei Herrn Falk der Fall gewesen ist.«
»Woran sollte er sonst gestorben sein?«
»Das weiß ich nicht. An Herzversagen jedenfalls nicht.«
»Ich werde es weiterleiten«, sagte Wallander. »War sonst noch etwas?«
»Es muß etwas passiert sein«, sagte Enander. »Wenn ich es richtig verstanden habe, hatte er eine Kopfwunde. Ich glaube, er wurde überfallen. Getötet.«
»Nichts spricht dafür. Er ist nicht beraubt worden.«
»Es war nicht das Herz«, insistierte Enander. »Ich bin weder Gerichtsmediziner noch Obduzent. Ich kann nicht sagen, woran er gestorben ist. Aber das Herz war es nicht. Da bin ich mir sicher.«
Wallander machte eine Notiz und schrieb Enanders Adresse und Telefonnummer auf. Dann stand er auf. Das Gespräch war beendet. Er hatte keine Zeit mehr.
Sie trennten sich in der Anmeldung.
»Ich bin mir sicher«, wiederholte Enander. »Mein Patient Tynnes Falk ist nicht an Herzversagen gestorben.«
Wallander kehrte in sein Zimmer zurück. Er legte seine Notiz über Tynnes Falk in eine Schublade und verbrachte die folgende Stunde damit, einen Bericht über die Ereignisse der Nacht abzufassen.
Im Jahr zuvor hatte Wallander einen Computer bekommen. Nach einem eintägigen Einführungskurs hatte er aber noch lange gebraucht, um einigermaßen mit dem Gerät umgehen zu können. Bis vor ein, zwei Monaten hatte er den Computer noch mit Widerwillen betrachtet. Aber eines Tages hatte er plötzlich eingesehen, daß er ihm seine Arbeit erleichterte. Auf seinem Schreibtisch herrschte nicht mehr das Durcheinander von losen Zetteln, auf denen er seine Gedanken und Beobachtungen festhielt. Durch den Computer hatte er eine bessere Ordnung bekommen. Doch noch immer schrieb er mit zwei Fingern und machte viele Fehler. Aber jetzt brauchte er nicht mehr dazusitzen und alle Tippfehler zu übermalen. Das allein war schon eine Erleichterung.
Um elf kam Martinsson mit der Liste derer, die Schlüssel zu der Transformatorstation hatten. Es waren fünf Personen. Wallander warf einen Blick auf die Namen.
»Keiner von ihnen vermißt seine Schlüssel. Keiner hat sie aus den Augen gelassen. Abgesehen von Moberg ist in den letzten Tagen auch keiner an der Transformatorstation gewesen. Soll ich anfangen zu untersuchen, was sie in der Zeit, in der Sonja Hökberg verschwunden war, gemacht haben?«
»Damit warten wir noch«, sagte Wallander. »Bevor die Gerichtsmediziner sich geäußert haben, können wir nicht viel mehr tun als warten.«
»Was machen wir mit Eva Persson?«
»Die wird noch einmal gründlich verhört.«
»Willst du das machen?«
»Nein, danke. Ich dachte, das könnte Ann-Britt übernehmen. Ich rede mit ihr.«
Um kurz nach zwölf war Wallander die Lundberg-Ermittlung mit Ann-Britt durchgegangen. Seine Schluckbeschwerden hatten nachgelassen. Doch er war noch immer müde. Nachdem er vergebens versucht hatte, seinen Wagen zu starten, rief er in der Werkstatt an und bat, den Wagen abzuholen. Er hinterlegte die Schlüssel bei Irene in der Anmeldung und ging ins Zentrum, um in einem der Mittagsrestaurants zu essen. An den Nachbartischen wurde der Stromausfall der letzten Nacht diskutiert. Nach dem Essen ging er in die Apotheke und kaufte Seife und Schmerztabletten. Als er ins Präsidium zurückkam, fiel ihm das Buch ein, das er in der Buchhandlung hätte abholen sollen. Einen Moment lang überlegte er, ob er zurückgehen sollte, doch dann ließ er es bleiben. Sein Wagen war vom Parkplatz verschwunden. Er rief den Meister der Werkstatt an, aber sie hatten den Fehler noch nicht gefunden. Als er fragte, ob die Reparatur teuer würde, erhielt er keine klare Antwort. Er beendete das Gespräch und entschied gleichzeitig, daß es jetzt reichte. Er würde einen anderen Wagen kaufen.
Anschließend blieb er sitzen. Plötzlich war er sicher, daß Sonja Hökberg nicht zufällig in der Transformatorstation gelandet war. Und es war auch kein Zufall, daß es sich um einen der verwundbarsten Knotenpunkte im Stromnetz von ganz Schonen handelte.
Die Schlüssel, dachte er. Jemand hat Sonja Hökberg dorthin gebracht. Jemand, der die wichtigsten Schlüssel hat.
Fragte sich nur, warum das äußere Tor aufgebrochen worden war.
Er griff nach der Liste, die Martinsson ihm zuvor gegeben hatte. Fünf Personen, fünf Paar Schlüssel.
Olle Andersson, Reparateur.
Lars Moberg, Reparateur.
Hilding Olofsson, Betriebsleiter.
Artur Wahlund, Sicherheitsbeauftragter.
Stefan Molin, technischer Direktor.
Die Namen sagten ihm so wenig wie zuvor. Er rief Martinsson an, der sofort abnahm.
»Diese Schlüsselleute«, sagte er. »Hast du zufällig in unseren Registern nachgeschlagen, ob wir etwas über sie haben?«
»Hätte ich das tun sollen?«
»Nein, überhaupt nicht. Aber ich bin so daran gewöhnt, daß du genau bist.«
»Ich kann es jetzt machen.«
»Wir warten noch. Irgend etwas Neues von den Pathologen?«
»Ich bezweifle, daß sie vor morgen früh etwas sagen können.«
»Dann laß die Namen doch durchlaufen. Wenn du Zeit hast.«
Im Gegensatz zu Wallander liebte Martinsson seine Computer. Wenn jemand im Präsidium Probleme mit der neuen Technik hatte, ging der oder die Betreffende zu Martinsson.
Wallander arbeitete weiter an dem Material über den Taxifahrermord. Um drei holte er sich Kaffee. Sein Schnupfen war erträglich, der Hals wieder normal. Von Hansson hörte er, daß Ann-Britt inzwischen mit Eva Persson sprach. Es läuft gut, dachte er. Ausnahmsweise schaffen wir einmal alles, was wir schaffen müssen.
Er hatte sich gerade wieder über seine Papiere gebeugt, als Lisa Holgersson in seiner Tür erschien. Sie hielt eine Abendzeitung in der Hand. An ihrem Gesicht konnte Wallander sogleich ablesen, daß etwas passiert war.
»Hast du das hier gesehen?« fragte sie und reichte ihm die in der Mitte aufgeschlagene Zeitung.
Wallander starrte auf das Bild. Es zeigte Eva Persson auf dem Fußboden des Verhörzimmers. Es sah aus, als sei sie gefallen.
Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, als er den Text las.
Bekannter Kriminalbeamter mißhandelt Teenager. Wir haben die Bilder.
»Wer hat das Bild gemacht?« fragte Wallander ungläubig. »Es war doch kein Journalist da.«
»Es muß aber einer dagewesen sein.«
Wallander erinnerte sich vage daran, daß die Tür offengestanden hatte und daß er hinter sich einen Schatten wahrgenommen hatte.
»Es war vor der Pressekonferenz«, sagte Lisa Holgersson. »Vielleicht war jemand zu früh da und ist durch unsere Flure geschlichen?«
Wallander war wie gelähmt. In seinen dreißig Jahren bei der Polizei war er häufig in Raufereien verwickelt gewesen. Doch immer nur bei schwierigen Festnahmen. Er hatte nie jemanden während eines Verhörs angegriffen, sosehr er auch provoziert worden war.
Ein einziges Mal war es passiert. Und ausgerechnet da war ein Fotograf zur Stelle.
»Das wird Ärger geben«, sagte Lisa Holgersson. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Sie hat ihre Mutter angegriffen. Ich habe sie geschlagen, um die Mutter zu schützen.«
»Das geht aus dem Bild nicht hervor.«
»Aber so war es.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
Wallander wußte keine Antwort.
»Ich hoffe, du verstehst, daß wir eine Untersuchung dieser Sache einleiten müssen.«
Wallander konnte hören, daß sie enttäuscht klang. Das empörte ihn. Sie glaubt mir nicht, dachte er. »Du hast vielleicht vor, mich von der Arbeit zu suspendieren?«
»Nein. Aber ich will ganz genau wissen, was vorgefallen ist.«
»Das habe ich schon gesagt.«
»Eva Persson hat zu Ann-Britt etwas anderes gesagt. Daß du sie vollkommen ohne Grund geschlagen hast.«
»Sie lügt. Fragt ihre Mutter.«
Lisa Holgersson zögerte mit der Antwort. »Das haben wir schon getan«, sagte sie schließlich. »Und sie streitet ab, von ihrer Tochter geschlagen worden zu sein.«
Wallander war wie gelähmt. Ich höre auf, dachte er. Ich bleibe nicht länger bei der Polizei. Ich gehe weg von hier. Und ich komme nie wieder.
Lisa Holgersson wartete. Doch Wallander schwieg.
Da verließ sie das Zimmer.
9
Wallander verließ augenblicklich das Präsidium. Ob es eine Flucht war oder nur der Versuch, sich zu beruhigen, war ihm selbst nicht klar. Er wußte natürlich, daß alles so gewesen war, wie er gesagt hatte. Aber Lisa Holgersson hatte ihm nicht geglaubt, und das hatte ihn aus der Fassung gebracht.
Als er ins Freie trat, fluchte er, weil er kein Auto hatte. Oft, wenn er aus irgendeinem Grund aufgewühlt war, nahm er den Wagen und fuhr damit umher, bis er sich beruhigt hatte.
Er ging zu Systembolaget und kaufte eine Flasche Whisky. Dann ging er direkt nach Hause, zog den Telefonstecker heraus und setzte sich an den Küchentisch. Er öffnete die Flasche und nahm ein paar tiefe Schlucke. Es schmeckte widerlich. Doch er fand, daß er das jetzt brauchte. Wenn es etwas gab, was ihn sich wehrlos fühlen ließ, dann waren es unberechtigte Anschuldigungen. Lisa Holgersson hatte es nicht direkt gesagt. Aber ihr Mißtrauen war nicht zu übersehen gewesen. Vielleicht hat Hansson doch die ganze Zeit recht gehabt, dachte Wallander verbittert. Man sollte nie ein Weib als Chef haben. Er nahm noch einen Schluck. Langsam fühlte er sich besser. Er bereute schon, daß er nach Hause gegangen war. Es konnte so aufgefaßt werden, als fühle er sich schuldig. Er schloß das Telefon wieder an. Mit kindischer Ungeduld regte er sich sofort darüber auf, daß niemand anrief.
Er wählte die Nummer des Präsidiums. Irene meldete sich.
»Ich wollte nur sagen, daß ich nach Hause gegangen bin«, erklärte Wallander. »Ich bin erkältet.«
»Hansson hat nach dir gefragt. Und Nyberg. Und verschiedene Zeitungen.«
»Was wollten sie denn?«
»Die Zeitungen?«
»Hansson und Nyberg.«
»Das haben sie nicht gesagt.«
Sie hat bestimmt die Zeitung vor sich, dachte Wallander. Sie und alle anderen. Im Polizeipräsidium von Ystad wird wahrscheinlich über nichts anderes geredet. Manch einer dürfte außerdem Schadenfreude empfinden, daß dieser Scheiß-Wallander endlich mal eins auf die Nase bekommt.
Er ließ sich zu Hansson durchstellen. Es dauerte, bis der abnahm. Wallander vermutete, daß Hansson über seine komplizierten Wettsysteme gebeugt saß, die ihm wie immer den Supergewinn bringen sollten. Die aber nie mehr einbrachten, als daß er mit Mühe und Not seinen Einsatz zurückbekam.
»Was machen die Pferde?« fragte Wallander.
Es war eine Verharmlosung. Um zu erkennen zu geben, daß das, was in der Zeitung stand, ihn nicht aus der Fassung brachte.
»Welche Pferde?«
»Wettest du nicht?«
»Im Moment nicht. Wieso?«
»Nur ein kleiner Scherz. Was wolltest du von mir?«
»Bist du in deinem Zimmer?«
»Ich bin zu Hause. Erkältet.«
»Ich wollte dir nur sagen, daß ich kontrolliert habe, zu welchen Zeiten unsere Autos die Straße dort entlanggefahren sind. Ich habe mit den Besatzungen gesprochen. Keiner von ihnen hat Sonja Hökberg gesehen. Sie sind die Strecke viermal hin- und zurückgefahren.«
»Dann wissen wir, daß sie nicht zu Fuß gegangen ist. Sie muß also abgeholt worden sein. Sie hat demnach als erstes nach dem Verlassen des Präsidiums ein Telefon gesucht. Oder sie ist zu jemandem nach Hause gegangen. Ich hoffe, Ann-Britt hat daran gedacht, Eva Persson zu fragen.«
»Wonach?«
»Sonja Hökbergs übrige Freunde und Freundinnen. Jeden, der sie gefahren haben kann.«
»Hast du mit Ann-Britt gesprochen?«
»Dazu bin ich noch nicht gekommen.«
Es entstand eine Pause. Wallander entschied sich dafür, selbst die Initiative zu ergreifen. »Das ist kein schönes Bild in der Zeitung.«
»Nein.«
»Die Frage ist, wie ein Fotograf auf unsere Flure gelangen konnte. Bei Pressekonferenzen lotsen wir sie doch gruppenweise hinein.«
»Komisch, daß du kein Blitzlicht bemerkt hast.«
»Bei den Kameras heutzutage ist das kaum noch nötig.«
»Was war denn eigentlich passiert?«
Wallander sagte, wie es gewesen war. Er benutzte exakt die Worte wie bei Lisa Holgersson. Ließ nichts weg und fügte nichts hinzu.
»Und es gibt keinen Außenstehenden, der das Ganze gesehen hat?« fragte Hansson.
»Niemanden außer dem Fotografen. Der wird natürlich lügen. Sonst hat sein Bild ja keinen Wert.«
»Du mußt wohl öffentlich erklären, wie es sich tatsächlich abgespielt hat.«
»Das tue ich ja gerade.«
»Du mußt mit der Zeitung reden.«
»Wie stellst du dir das vor? Ein alter Polizist gegen eine Mutter und ihre Tochter? Das kann doch nicht gutgehen.«
»Du vergißt, daß das Mädchen immerhin einen Mord begangen hat.«
Wallander fragte sich, ob das helfen würde. Wenn ein Polizist sich an einem Inhaftierten verging, war das eine ernste Sache. Der Meinung war Wallander auch selbst. Da half es kaum, daß ganz besondere Umstände vorgelegen hatten.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er und bat Hansson, ihn mit Nyberg zu verbinden.
Nyberg kam erst nach einigen Minuten ans Telefon. Wallander hatte noch ein paar Schlucke aus der Whiskyflasche genommen. Er fing an, sich betrunken zu fühlen. Aber der Druck war weg.
»Nyberg.«
»Hast du die Zeitung gesehen?« fragte Wallander.
»Welche Zeitung?«
»Das Bild. Von Eva Persson?«
»Ich lese keine Abendzeitungen, aber ich habe davon gehört. Obwohl, wenn ich die Sache richtig verstanden habe, hatte sie ihre Mutter angegriffen.«
»Das geht aus dem Bild aber nicht hervor.«
»Und was hat das mit der Sache zu tun?«
»Ich werde deswegen Probleme bekommen. Lisa will eine Untersuchung vornehmen.«
»Es ist doch gut, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kommt.«
»Die Frage ist nur, ob die Zeitungen die Geschichte auch kaufen. Wem liegt denn was an einem alten Polizisten, wenn eine flotte junge Mörderin in der Nähe ist?«
Nyberg klang verwundert. »Du hast dich doch noch nie darum gekümmert, was die Zeitungen schreiben.«
»Vielleicht nicht. Aber es ist auch noch nie ein Bild veröffentlicht worden, aus dem hervorgeht, daß ich ein junges Mädchen niedergeschlagen habe.«
»Aber hat sie nicht einen Mord begangen?«
»Ich finde es trotzdem äußerst unangenehm.«
»Das geht vorüber. Ich wollte ansonsten nur bestätigen, daß einer der Reifenabdrücke von Mobergs Auto stammt. Das bedeutet, wir haben alle Abdrücke bis auf einen identifiziert. Aber der Reifen des unbekannten Autos ist ein Standardfabrikat.«
»Damit wissen wir, daß jemand sie hingefahren hat. Und dann wieder weggefahren ist.«
»Noch etwas«, sagte Nyberg. »Ihre Handtasche.«
»Was ist damit?«
»Ich habe versucht zu begreifen, warum sie dort am Zaun lag.«
»Er hat sie wohl dahin geworfen.«
»Aber warum? Er kann ja kaum geglaubt haben, wir würden sie nicht finden.«
Nyberg hatte recht. Und was er sagte, war wichtig.
»Du meinst: Warum hat er sie nicht mitgenommen? Wenn er anderseits hoffte, daß der Körper nicht zu identifizieren wäre?«
»So ungefähr.«
»Und wie lautet die Antwort?«
»Das ist dein Job. Ich stelle nur fest, wie es war. Die Tasche lag fünfzehn Meter vom Eingang des Transformatorhauses entfernt.«
»Sonst noch was?«
»Nein. Andere Spuren haben wir nicht gefunden.«
Das Gespräch war zu Ende. Wallander griff zur Whiskyflasche. Aber er stellte sie sogleich wieder hin. Es reichte jetzt. Wenn er weitertränke, würde er eine Grenze überschreiten, und das wollte er nicht. Er ging ins Wohnzimmer. Es war ungewohnt, mitten am Tage zu Hause zu sein. Würde es so sein, wenn er einmal in Pension ginge? Der Gedanke daran ließ ihn frösteln. Er stellte sich ans Fenster und blickte auf die Mariagata hinunter. Schon Dämmerung. Er dachte an den Arzt, der ihn besucht hatte, und an den Mann, der tot vor einem Geldautomaten gefunden worden war. Er nahm sich vor, am nächsten Tag den Gerichtsmediziner anzurufen und ihm von Enanders Besuch zu berichten. Von seiner Weigerung, einen Herzinfarkt als Falks Todesursache zu akzeptieren. Es würde nichts ändern. Aber er hätte die Information auf jeden Fall weitergegeben. Länger sollte er damit nicht warten.
Er dachte darüber nach, was Nyberg über Sonja Hökbergs Handtasche gesagt hatte. Eigentlich war nur eine Schlußfolgerung denkbar. Und die weckte plötzlich all seine kriminalistischen Instinkte. Die Tasche hatte dort gelegen, weil jemand wollte, daß sie gefunden wurde.
Wallander setzte sich auf die Couch und ging das Ganze im Kopf noch einmal durch. Ein Körper kann bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Besonders wenn er starken Stromstößen ausgesetzt wird und der Strom sich nicht sofort ausschaltet. Ein Mensch, der auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird, verdampft von innen heraus. Wer auch immer Sonja Hökberg tötete, wußte, daß es schwer sein würde, sie zu identifizieren. Deshalb hat er die Tasche zurückgelassen.
Aber das erklärt noch nicht, warum sie am Zaun lag.
Wallander ließ den Gedanken erst einmal fallen. Er ging zu schnell vor. Zunächst brauchten sie die Bestätigung, daß Sonja Hökberg wirklich ermordet worden war.
Er ging zurück in die Küche und kochte Kaffee. Das Telefon schwieg. Es war vier Uhr geworden. Er setzte sich mit der Kaffeetasse an den Tisch und rief wieder im Präsidium an. Irene konnte berichten, daß Zeitungen und Fernsehen weiterhin nach ihm fragten. Aber sie hatte ihnen seine Privatnummer nicht gegeben. Seit einigen Jahren hatte er eine Geheimnummer. Wieder dachte Wallander, daß seine Abwesenheit als Schuldeingeständnis gedeutet werden konnte, zumindest als Zeichen dafür, daß der Vorfall ihm zusetzte. Ich hätte dableiben sollen, dachte er. Ich hätte mit jedem einzelnen Journalisten sprechen und erzählen sollen, wie es wirklich war.
Seine Schwäche war verflogen. Er merkte, daß er langsam wütend wurde. Er bat Irene, ihn zu Ann-Britt durchzustellen. Eigentlich hätte er mit Lisa Holgersson anfangen und ihr deutlich sagen sollen, daß er ihr Mißtrauen nicht akzeptiere.
Bevor Ann-Britt abnahm, legte er schnell auf.
Im Moment wollte er mit keiner von beiden reden. Statt dessen wählte er Sten Widéns Nummer. Ein Mädchen meldete sich. Auf dem Pferdehof wechselten die Stallgehilfinnen häufig. Wallander hatte zuweilen den Verdacht, daß Sten die Mädchen nicht immer in Ruhe ließ. Als Sten ans Telefon kam, bereute Wallander schon fast, ihn angerufen zu haben. Aber immerhin konnte er sicher sein, daß Sten Widén das Bild in der Zeitung nicht gesehen hatte. »Ich wollte vorbeikommen«, sagte Wallander. »Aber mein Wagen ist nicht in Ordnung.«
»Wenn du willst, kann ich dich holen.«
Sie verabredeten sich für sieben Uhr. Wallander blickte zur Whiskyflasche. Aber er ließ sie stehen.
Es klingelte an seiner Tür. Er fuhr zusammen. Er bekam selten, eigentlich nie Besuch. Sicher war es ein Journalist, der seine Adresse herausbekommen hatte. Er stellte die Whiskyflasche in einen Schrank und machte auf.
Doch in der Tür stand kein Journalist. Es war Ann-Britt Höglund. »Störe ich?«
Er ließ sie herein und hielt das Gesicht abgewandt, damit sie nicht merkte, daß er getrunken hatte. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
»Ich bin erkältet«, sagte Wallander. »Ich kann nicht arbeiten.«
Sie nickte. Aber bestimmt glaubte sie ihm nicht. Dazu hatte sie auch keine Veranlassung. Alle wußten, daß Wallander häufig trotz Fieber und Erkältung arbeitete.
»Wie geht es dir?« fragte sie.
Die Schwäche ist vorüber, dachte Wallander. Auch wenn sie ganz tief da drinnen noch irgendwo steckt. Aber ich werde sie nicht zeigen. »Wenn du das in bezug auf das Bild in der Zeitung meinst, natürlich alles andere als gut. Wie kann sich ein Fotograf ungehindert bis zu unseren Verhörzimmern bewegen?«
»Lisa macht sich große Sorgen.«
»Sie sollte auf das hören, was ich sage«, entgegnete Wallander. »Mir den Rücken stärken. Und nicht sofort glauben, die Zeitungen hätten recht.«
»Aber man kann das Bild doch kaum schönreden.«
»Das tue ich auch nicht. Ich habe sie geschlagen. Weil sie ihre Mutter angegriffen hat.«
»Aber dir ist ja wohl klar, daß sie etwas anderes behaupten.«
»Sie lügen. Glaubst du ihnen vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Frage ist nur, wie man aufdecken kann, daß sie lügen.«
»Wer steckt dahinter?«
Ihre Antwort kam schnell und bestimmt.
»Die Mutter. Ich glaube, sie ist verschlagen. Sie sieht darin eine Möglichkeit, von der Tat ihrer Tochter abzulenken. Da nun außerdem Sonja Hökberg tot ist, können sie alles auf sie schieben.«
»Nicht das blutige Messer.«
»Auch das. Selbst wenn es aufgrund von Evas Aussage gefunden wurde, kann sie immer noch behaupten, es wäre Sonja gewesen, die auf Lundberg eingestochen hat.«
Wallander sah ein, daß Ann-Britt recht hatte. Die Toten konnten nicht reden. Und es gab ein großes Farbfoto, das einen Polizeibeamten zeigte, der ein Mädchen zu Boden geschlagen hatte. Das Bild war unscharf. Aber kaum jemand konnte daran zweifeln, was es darstellte.
»Die Staatsanwaltschaft hat eine sofortige Untersuchung gefordert.«
»Wer von den beiden?«
»Viktorsson.«
Wallander mochte Viktorsson nicht. Er war erst im August nach Ystad gekommen. Aber Wallander war bereits einige Male heftig mit ihm aneinandergeraten.
»Es wird Aussage gegen Aussage stehen.«
»Abgesehen davon, daß zwei gegen eine stehen.«
»Das Sonderbare ist, daß Eva Persson ihre Mutter überhaupt nicht mag«, sagte Wallander. »Das war vollkommen offensichtlich, als ich mit dem Mädchen sprach.«
»Sie hat wohl eingesehen, daß sie trotz allem schlecht dasteht. Auch wenn sie minderjährig ist und nicht im Gefängnis landet. Also schließt sie vorübergehend Frieden mit ihrer Mutter.«
Wallander fühlte plötzlich, daß er nicht mehr über die Sache reden konnte, jedenfalls nicht jetzt.
»Warum bist du gekommen?«
»Ich hörte, daß du krank bist.«
»So krank nun auch wieder nicht. Morgen bin ich wieder im Dienst. Erzähl mir lieber, was dein Gespräch mit Eva Persson ergeben hat.«
»Sie hat ihre Aussage widerrufen.«
»Aber sie kann unmöglich wissen, daß Sonja Hökberg tot ist.«
»Genau das ist so merkwürdig.«
Wallander brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Ann-Britt gerade gesagt hatte. Dann ging ihm ein Licht auf. Er sah sie an.
»Was denkst du?«
»Warum ändert man eine Aussage? Man hat ein Verbrechen gestanden, das man zusammen mit jemand anderem begangen hat. Alles paßt zusammen. Was die eine sagt, deckt sich mit den Worten der anderen. Warum nimmt man anschließend alles zurück?«
»Genau. Warum? Aber vor allem vielleicht: zu welchem Zeitpunkt?«
»Deshalb bin ich gekommen. Eva Persson konnte nicht wissen, daß Sonja Hökberg tot ist, als ich begann, sie zu verhören. Aber auf einmal widerruft sie ihr gesamtes Geständnis. Jetzt hat Sonja Hökberg alles getan. Eva Persson ist unschuldig. Sie wollten überhaupt keinen Taxifahrer berauben. Sie wollten nicht nach Rydsgård fahren. Sonja habe vorgeschlagen, einen Onkel von ihr in Bjäresjö zu besuchen.«
»Gibt es den?«
»Ich habe ihn angerufen. Er behauptet, Sonja seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr gesehen zu haben.«
Wallander dachte nach. »Dann gibt es nur eine Erklärung«, sagte er. »Eva Persson hätte nie ihr Geständnis widerrufen und eine Geschichte zusammengedichtet, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß Sonja Hökberg ihr nicht mehr widersprechen kann.«
»Anders kann ich es mir auch nicht erklären. Ich habe sie natürlich gefragt, warum sie vorher etwas vollkommen anderes erzählt hat.«
»Und was hat sie geantwortet?«
»Sie habe nicht gewollt, daß Sonja die ganze Schuld bekäme.«
»Weil sie Freundinnen sind?«
»Ja, genau.«
Beiden war klar, was das bedeutete. Es gab nur eine Erklärung. Eva Persson wußte, daß Sonja Hökberg tot war.
»Was denkst du?« fragte Wallander.
»Daß es zwei Möglichkeiten gibt. Sonja kann Eva angerufen haben, nachdem sie aus dem Präsidium geflohen war. Sie kann gesagt haben, sie wolle sich das Leben nehmen.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht sehr wahrscheinlich.«
»Finde ich auch nicht. Ich glaube auch gar nicht, daß sie Eva Persson angerufen hat. Sie hat jemand anderen angerufen.«
»Der später Eva Persson anrief und sagte, daß Sonja tot sei?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Was bedeutet, daß Eva Persson weiß, wer Sonja Hökberg getötet hat. Wenn es denn Mord war.«
»Kann es denn überhaupt etwas anderes gewesen sein?«
»Eigentlich nicht. Aber wir müssen auf den Befund aus Lund warten.«
»Ich habe versucht, ein vorläufiges Ergebnis zu bekommen. Aber offenbar braucht es seine Zeit bei verbrannten Körpern.«
»Ich hoffe, ihnen ist klar, wie dringend es ist?«
»Ist es das nicht immer?«
Sie schaute auf die Uhr und stand auf. »Ich muß nach Hause zu den Kindern.«
Wallander hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. Er wußte aus eigener Erfahrung, wie aufreibend eine Scheidung war. »Was macht deine Scheidung?«
»Du hast selbst eine hinter dir. Da weißt du, daß es von Anfang bis Ende beschissen ist.«
Er begleitete sie zur Tür.
»Trink einen Whisky«, sagte sie. »Den kannst du brauchen.«
»Das habe ich schon getan«, antwortete Wallander.
___________
Um sieben hörte Wallander es von der Straße hupen. Durchs Küchenfenster erkannte er Sten Widéns rostigen Kastenwagen. Er steckte die Whiskyflasche in eine Plastiktüte und ging hinunter.
Sie fuhren zum Hof hinaus. Wie üblich wollte Wallander seinen Besuch mit einer Runde durch den Stall beginnen. Viele Boxen standen leer. Ein etwa siebzehnjähriges Mädchen hängte einen Sattel auf. Dann ging sie, und sie waren allein. Wallander setzte sich auf einen Heuballen.
Sten Widén lehnte an der Wand. »Ich fahre«, sagte er. »Der Hof steht zum Verkauf.«
»Was glaubst du, wer ihn kaufen wird?«
»Jemand, der verrückt genug ist, um zu denken, daß es sich rentiert.«
»Bekommst du einen guten Preis?«
»Nein, aber es wird schon reichen. Wenn ich mich einschränke, kann ich von den Zinsen leben.«
Wallander hätte gern gewußt, über wieviel Geld sie eigentlich redeten, mochte aber nicht fragen.
»Weißt du schon, wohin du willst?« fragte er statt dessen.
»Zuerst muß ich verkaufen. Dann entscheide ich mich.«
Wallander holte die Whiskyflasche hervor. Sten nahm einen Schluck.
»Du kannst doch ohne Pferde nicht leben«, sagte Wallander. »Was wirst du machen?«
»Ich weiß nicht.«
»Du wirst dich totsaufen.«
»Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht höre ich dann ganz auf damit.«
Sie verließen den Stall und gingen über den Hof zum Wohnhaus. Der Abend war kühl. Wallanders Neid machte sich wieder bemerkbar. Sein alter Freund Per Åkeson, der Staatsanwalt, befand sich seit mehreren Jahren im Sudan. Wallander war inzwischen zu der festen Überzeugung gelangt, daß er nie zurückkommen würde. Und jetzt brach Sten auf. Zu etwas Unbekanntem, etwas Neuem. Er selbst dagegen kam in einer Abendzeitung vor, die berichtete, daß er ein vierzehnjähriges Mädchen zu Boden geschlagen habe.
Schweden ist ein Land, aus dem viele Menschen fliehen, dachte er. Die es sich leisten können. Und die, die es sich nicht leisten können, sind auf der Jagd nach Geld, um sich der Schar der Auswanderer anschließen zu können.
Wie ist es dazu gekommen? Was ist eigentlich geschehen?
Sie setzten sich in das unaufgeräumte Wohnzimmer, das auch als Büro benutzt wurde.
Sten Widén goß sich ein Glas Cognac ein. »Ich habe schon daran gedacht, Bühnenarbeiter zu werden«, sagte er.
»Was meinst du damit?«
»Genau das, was ich sage. Ich könnte an die Scala in Mailand gehen und einen Job als Kulissenschieber annehmen.«
»Aber das macht man doch alles nicht mehr von Hand?«
»Die eine oder andere Kulisse wird bestimmt noch von Hand bewegt. Stell dir vor, jeden Abend hinter der Bühne. Und Oper hören. Ohne eine Öre zu bezahlen. Ich könnte ihnen anbieten, umsonst zu arbeiten.«
»Bist du fest entschlossen?«
»Nein. Ich habe so viele Vorstellungen. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht hinauf nach Norrland gehen sollte. Und mich in einem richtig kalten und widerlichen Schneehaufen vergraben. Ich weiß noch nicht. Ich weiß nur, daß der Hof verkauft werden soll und daß ich abhaue. Aber was machst du?«
Wallander zuckte mit den Schultern, ohne etwas zu sagen. Er hatte mittlerweile zuviel getrunken. Sein Kopf wurde immer schwerer.
»Du jagst weiter Schwarzbrenner?«
Sten Widéns Stimme klang spöttisch. Wallander wurde ärgerlich. »Mörder«, erwiderte er. »Leute, die andere Menschen totschlagen. Mit dem Hammer auf den Kopf. Ich nehme an, du hast von dem Taxifahrer gehört?«
»Nein.«
»Zwei junge Mädchen haben einen Taxifahrer erschlagen und erstochen. Die jage ich. Keine Schwarzbrenner.«
»Ich begreife nicht, wie du das aushältst.«
»Ich auch nicht. Aber jemand muß es machen, und ich mache es vermutlich besser als viele andere.«
Sten Widén sah ihn an und lächelte. »Du brauchst dich nicht so ins Zeug zu legen. Ich glaub schon, daß du ein guter Polizist bist. Das hab ich immer geglaubt. Die Frage ist nur, ob du auch noch für was anderes im Leben Zeit hast.«
»Ich bin keiner, der sich drückt.«
»So einer wie ich?«
Wallander antwortete nicht. Eine Kluft hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Plötzlich fragte er sich, wie lange sie eigentlich schon existiert hatte. Ohne daß sie es bemerkt hatten. In ihrer Jugend waren sie enge Freunde gewesen. Dann waren sie in verschiedene Richtungen gegangen. Als sie sich viele Jahre später wiedersahen, hatten sie die alte Freundschaft wiederaufleben lassen. Es war ihnen nie klargeworden, daß die Voraussetzungen inzwischen völlig anders waren. Erst jetzt sah Wallander, wie es sich eigentlich verhielt. Vermutlich hatte Sten Widén es ebenfalls erkannt.
»Eins der Mädchen, die den Taxifahrer erschlugen, hatte einen Stiefvater«, sagte Wallander. »Erik Hökberg.«
Sten Widén blickte ihn erstaunt an. »Ist das dein Ernst?«
»Das ist mein Ernst. Und vermutlich ist das Mädchen jetzt selbst ermordet worden. Ich glaube nicht, daß ich die Zeit dazu habe, abzuhauen. Auch wenn ich Lust dazu hätte.«
Er steckte die Whiskyflasche zurück in die Tüte. »Kannst du mir ein Taxi bestellen?«
»Willst du schon nach Hause?«
»Ja, ich glaube schon.«
Ein Anflug von Enttäuschung zog über Sten Widéns Gesicht. Wallander empfand das gleiche. Eine Freundschaft ging zu Ende. Genauer gesagt: Sie hatten endlich entdeckt, daß sie schon lange vorbei war.
»Ich fahre dich nach Hause.«
»Nein«, sagte Wallander. »Du hast getrunken.«
Sten Widén sagte nichts. Er ging zum Telefon und bestellte ein Taxi. »Es kommt in zehn Minuten.«
Sie gingen nach draußen. Es war ein klarer und windstiller Herbstabend.
»Woran hat man geglaubt?« fragte Sten Widén plötzlich. »Als man jung war?«
»Das habe ich vergessen. Aber ich blicke nicht oft zurück. Ich habe genug mit dem zu tun, was in der Gegenwart passiert. Und mir reicht die Sorge um die Zukunft.«
Das Taxi kam.
»Schreib mal«, sagte Wallander, »und erzähl mir, was aus dir geworden ist.«
»Das werde ich tun.«
Wallander verkroch sich auf dem Rücksitz.
Der Wagen fuhr durch die Dunkelheit nach Ystad zurück.
___________
Als Wallander seine Wohnung betrat, klingelte das Telefon. Es war Ann-Britt. »Bist du gerade nach Hause gekommen? Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen. Warum hast du dein Handy nie eingeschaltet?«
»Was ist denn passiert?«
»Ich habe einen neuen Versuch bei der Pathologie in Lund gemacht und mit einem Obduzenten gesprochen. Er wollte keine feste Zusage machen. Aber er hat etwas herausgefunden. Sonja Hökberg hatte eine Fraktur am Hinterkopf.«
»Sie war also schon tot, als der Strom durch den Körper ging?«
»Vielleicht nicht tot. Aber bewußtlos.«
»Sie kann sich nicht selbst verletzt haben?«
»Er ist ziemlich sicher, daß es sich um einen Schlag gehandelt hat, den sie sich nicht selbst zufügen konnte.«
»Dann wissen wir das«, sagte Wallander. »Daß sie ermordet wurde.«
»Haben wir das nicht die ganze Zeit gewußt?«
»Nein«, entgegnete Wallander. »Wir haben es vermutet. Aber wissen tun wir es erst jetzt.«
Irgendwo im Hintergrund schrie ein Kind. Ann-Britt beeilte sich, das Gespräch zu beenden. Sie verabredeten sich für acht Uhr am folgenden Tag.
Wallander setzte sich an den Küchentisch. Er dachte an Sten Widén. Und an Sonja Hökberg. Aber vor allem an Eva Persson.
Sie muß es wissen, dachte er. Sie muß wissen, wer Sonja Hökberg getötet hat.
10
Um kurz nach fünf am Donnerstagmorgen wurde Wallander aus dem Schlaf gerissen. Als er im Dunkeln die Augen aufschlug, wußte er, was ihn geweckt hatte. Er hatte etwas vergessen. Das Versprechen, das er Ann-Britt gegeben hatte, an diesem Abend vor einer literarischen Frauenvereinigung in Ystad darüber zu reden, wie es war, als Polizist zu arbeiten.
Reglos lag er in der Dunkelheit. Es war ihm total entfallen. Er hatte nichts vorbereitet. Sich nicht einmal Stichworte gemacht.
Er spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Die Frauen, vor denen er sprechen sollte, hatten natürlich das Bild von Eva Persson gesehen. Ann-Britt mußte inzwischen angerufen und mitgeteilt haben, daß er und nicht sie kommen würde.
Das schaffe ich nicht, dachte er. Sie werden mich nur als einen brutalen Mann sehen, der Frauen mißhandelt. Aber nicht so, wie ich wirklich bin. Was das auch heißen mag.
Er blieb liegen und sann auf eine Ausflucht. Der einzige, der vielleicht Zeit haben könnte, war Hansson. Aber das war unmöglich. Ann-Britt hatte schon gesagt, warum. Hansson drückte sich nicht gut aus, wenn er über etwas anderes sprechen sollte als Pferde. Er war ein Murmler, den nur Menschen verstanden, die ihn gut kannten.
Um halb sechs stand Wallander auf. Es gab kein Entkommen. Er setzte sich an den Küchentisch und zog den Notizblock heran. Ganz oben hin schrieb er Vortrag. Er fragte sich, was Rydberg wohl einer Gruppe von Frauen über seinen Beruf erzählt hätte. Aber er vermutete, daß Rydberg sich nie zu einem Auftritt dieser Art hätte überreden lassen.
Um sechs Uhr hatte er noch immer nicht mehr als dieses eine Wort geschrieben. Er war kurz davor aufzugeben, als ihm einfiel, was er machen könnte. Er würde über den Fall sprechen, an dem sie gerade arbeiteten. Die Ermittlungen im Taximord. Vielleicht könnte er sogar mit Stefan Fredmans Beerdigung anfangen? Einige Tage aus dem Leben eines Kriminalbeamten? Genau so, wie es war, ungeschönt. Er notierte sich ein paar Stichworte. Er würde auch den Vorfall mit dem Fotografen nicht auslassen. Es könnte als eine Verteidigungsrede aufgefaßt werden, was es natürlich auch war. Schließlich war er trotz allem derjenige, der wußte, was tatsächlich geschehen war.
Um Viertel nach sechs legte er den Bleistift aus der Hand. Sein Unbehagen angesichts dessen, was ihm bevorstand, war nicht geringer geworden, doch jetzt fühlte er sich nicht mehr völlig ausgeliefert. Beim Anziehen kontrollierte er, ob er für den Abend noch ein sauberes Hemd hatte. Es hing noch eins ganz hinten im Kleiderschrank. Alle anderen lagen in einem großen Haufen auf dem Fußboden. Er hatte lange nicht gewaschen.
Kurz vor sieben rief er in der Werkstatt an und fragte nach seinem Auto. Die Auskunft, die er erhielt, war niederschmetternd. Sie überlegten offenbar, ob sie den ganzen Motor auseinandernehmen sollten. Der Meister versprach, ihm im Lauf des Tages einen Kostenvoranschlag zu machen. Das Thermometer vorm Fenster zeigte sieben Grad über Null. Schwacher Wind, Wolken, aber kein Regen. Wallanders Blick folgte einem alten Mann, der sich langsam die Straße entlangbewegte. An einem Papierkorb blieb er stehen und wühlte mit einer Hand darin herum, ohne etwas zu finden. Wallander dachte an den vergangenen Abend. Sein Neidgefühl war verflogen und einer diffusen Wehmut gewichen. Sten Widén würde aus seinem Leben verschwinden. Wie viele gab es überhaupt noch, die ihn mit seinem früheren Leben verbanden? Bald war keiner mehr übrig.
Er dachte an Mona, Lindas Mutter. Sie war auch aufgebrochen. Damals war er vollkommen entgeistert gewesen, als sie ihm sagte, sie wolle ihn verlassen. Auch wenn er im Innersten geahnt hatte, daß sich etwas Derartiges anbahnte. Vor zwei Jahren hatte sie wieder geheiratet. Wallander hatte bis dahin in regelmäßigen Abständen versucht, sie zu überreden, zu ihm zurückzukehren. Sie sollten noch einmal von vorne anfangen. Jetzt im nachhinein verstand er sich selbst nicht mehr. Er hatte nicht wirklich noch einmal von vorn anfangen wollen. Er ertrug nur die Einsamkeit nicht. Mit Mona hätte er nie mehr zusammenleben können. Ihrer beider Aufbruch war notwendig gewesen und viel zu spät gekommen. Jetzt war sie mit einem golfspielenden Versicherungsberater verheiratet. Wallander hatte ihn nie getroffen, nur ihre Stimmen waren sich dann und wann am Telefon begegnet. Linda war nicht besonders begeistert von ihm. Aber Mona schien es gutzugehen. Es gab ein Haus irgendwo in Spanien. Der Mann hatte offensichtlich Geld, was Wallander von sich nie hatte behaupten können.
Er schob die Gedanken beiseite und ging ins Präsidium. Unterwegs überlegte er weiter, was er am Abend sagen könnte. Ein Streifenwagen hielt neben ihm. Ob er mitfahren wolle. Aber Wallander winkte ab. Er wollte lieber gehen.
Vor der Anmeldung im Polizeipräsidium stand ein Mann. Als Wallander hineingehen wollte, wandte der Mann sich zu ihm um. Wallander kam sein Gesicht bekannt vor, doch er konnte ihn nirgendwo unterbringen.
»Kurt Wallander«, sagte der Mann. »Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Das kommt darauf an. Wer sind Sie?«
»Harald Törngren.«
Wallander schüttelte den Kopf.
»Ich bin der Fotograf, der das Bild gemacht hat.«
Wallander erinnerte sich jetzt an das Gesicht des Mannes von der letzten Pressekonferenz her.
»Sie meinen, daß Sie der Mann sind, der sich hier hereingeschlichen hat?«
Harald Törngren war an die Dreißig. Er hatte ein längliches Gesicht und kurzgeschnittene Haare. Er lächelte. »Ich suchte eigentlich nach einer Toilette, und niemand hat mich aufgehalten.«
»Was wollen Sie?«
»Ich dachte, Sie könnten das Bild kommentieren. Ich will ein Interview machen.«
»Sie schreiben ja doch nicht, was ich sage.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Wallander überlegte, ob er Törngren bitten sollte zu verschwinden. Gleichzeitig bot ihm die Situation eine Gelegenheit. »Ich will aber jemanden dabei haben«, sagte er. »Jemanden, der zuhört.«
Törngren lächelte weiter. »Einen Interviewzeugen?«
»Ich habe mit Journalisten schlechte Erfahrungen gemacht.«
»Sie können zehn Zeugen haben, wenn Sie wollen.«
Wallander schaute auf die Uhr. Es war fünf vor halb acht. »Sie bekommen eine halbe Stunde. Nicht mehr.«
»Wann?«
»Jetzt.«
Sie gingen hinein. Irene konnte mitteilen, daß Martinsson schon gekommen war. Wallander bat Törngren zu warten, während er zu Martinssons Zimmer ging. Er saß an seinem Computer. Wallander erklärte ihm in aller Eile die Situation.
»Möchtest du, daß ich ein Tonbandgerät mitnehme?«
»Es reicht, wenn du dabei bist. Und dich nachher an das erinnerst, was ich gesagt habe.«
Martinsson zögerte plötzlich.
»Und du weißt nicht, was er dich fragen will?«
»Nein. Aber ich weiß, was passiert ist.«
»Wenn du nur nicht aufbrausend wirst.«
Wallander reagierte verwundert. »Pflege ich Dinge zu sagen, die ich nicht meine?«
»Das kommt vor.«
Wallander sah ein, daß Martinsson recht hatte. »Ich werde daran denken. Komm, wir gehen.«
Sie setzten sich in eins der kleineren Sitzungszimmer. Törngren stellte sein Tonbandgerät auf den Tisch. Martinsson hielt sich im Hintergrund.
»Ich habe gestern abend mit Eva Perssons Mutter gesprochen«, sagte Törngren. »Sie haben vor, Anzeige gegen Sie zu erstatten.«
»Anzeige weswegen?«
»Körperverletzung. Was sagen Sie dazu?«
»Von Körperverletzung kann gar nicht die Rede sein.«
»Die beiden sind anderer Ansicht. Und ich habe mein Bild.«
»Wollen Sie wissen, was tatsächlich passiert ist?«
»Ich würde gern Ihre Version hören.«
»Das ist nicht eine Version. Es ist die Wahrheit.«
»Aussage steht gegen Aussage.«
Wallander erkannte die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens, auf das er sich eingelassen hatte. Aber jetzt war es zu spät. Er schilderte, wie Eva Persson plötzlich ihre Mutter angegriffen hatte und wie er dazwischengegangen war. Das Mädchen sei wie von Sinnen gewesen. Da habe er ihr eine Ohrfeige gegeben.
»Sowohl die Mutter als auch die Tochter sagen etwas völlig anderes.«
»Aber so ist es gewesen.«
»Es klingt nicht besonders plausibel, daß ein Mädchen seine Mutter schlägt.«
»Eva Persson hatte gerade einen Mord gestanden. Die Situation war angespannt. Da können unerwartete Dinge geschehen.«
»Eva Persson sagte gestern zu mir, sie sei zu dem Geständnis gezwungen worden.«
Wallander und Martinsson starrten einander an.
»Gezwungen?«
»Das hat sie gesagt.«
»Und wer soll sie gezwungen haben?«
»Die, die sie verhört haben.«
Jetzt war Martinsson empört. »Das ist das Idiotischste, was ich je gehört habe«, sagte er. »Wir führen hier keine Verhöre mit Zwangsmethoden durch.«
»Das hat sie aber gesagt. Jetzt widerruft sie das Geständnis. Sie sagt, sie sei unschuldig.«
Wallander blickte Martinsson scharf an, und der sagte nichts mehr. Wallander selbst war jetzt ganz ruhig. »Die Voruntersuchung ist noch lange nicht abgeschlossen. Eva Persson ist an dem Verbrechen beteiligt. Wenn sie sich entschließt, ihr Geständnis zurückzunehmen, ändert das nichts an der Sachlage.«
»Sie meinen also, daß sie lügt?«
»Darauf möchte ich nicht antworten.«
»Warum nicht?«
»Weil das hieße, Informationen aus einer laufenden Voruntersuchung an die Öffentlichkeit zu geben. Informationen, die nicht preisgegeben werden dürfen.«
»Aber Sie behaupten, daß sie lügt?«
»Das sind Ihre Worte. Ich stelle nur dar, was vorgefallen ist.«
Wallander sah bereits die Schlagzeilen vor sich. Aber er wußte, daß er das Richtige tat. Daß Eva Persson und ihre Mutter Verschlagenheit an den Tag legten, würde ihnen nicht helfen. Auch nicht, daß ihnen vermutlich übertriebene und gefühlsbetonte Reportagen in der Boulevardpresse zu Hilfe kommen würden.
»Das Mädchen ist sehr jung«, sagte Törngren. »Sie behauptet, sie sei durch ihre ältere Freundin in all dies tragische Geschehen hineingezogen worden. Und ist das nicht am wahrscheinlichsten?«
Wallander erwog schnell, ob er Sonja Hökbergs Tod erwähnen sollte. Die Nachricht war noch nicht an die Öffentlichkeit gegeben worden. Doch er konnte es nicht tun. Dennoch verschaffte sein Wissen ihm Überlegenheit. »Was meinen Sie mit ›am wahrscheinlichsten‹?« fragte er.
»Daß es sich so verhält, wie Eva sagt. Daß sie von ihrer älteren Freundin verleitet worden ist?«
»Nicht Sie und Ihre Zeitung führen die Ermittlungen im Mordfall Lundberg. Das tun wir. Wenn Sie Ihre Schlüsse ziehen und Ihre Urteile fällen, kann Sie natürlich niemand daran hindern. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Aber wahrscheinlich wird ihr in der Zeitung nicht soviel Platz eingeräumt werden.«
Wallander schlug mit den Handflächen auf den Tisch, um anzudeuten, daß das Interview beendet war.
»Danke, daß Sie sich Zeit genommen haben«, sagte Törngren und packte sein Tonbandgerät ein.
»Martinsson bringt Sie nach draußen«, sagte Wallander und stand auf.
Er gab Törngren nicht die Hand, sondern verließ einfach den Raum. Während er seine Post holte, versuchte er, das Gespräch mit Törngren zu rekapitulieren. Gab es etwas, was er hätte sagen sollen, aber nicht gesagt hatte? Hätte er etwas anders ausdrücken sollen? Mit der Post unter dem Arm und einer Tasse Kaffee in der Hand betrat er sein Zimmer. Er sagte sich, daß das Gespräch mit Törngren gut gewesen war, auch wenn er natürlich nicht wissen konnte, wie der Artikel in der Zeitung aussehen würde. Er setzte sich an den Tisch und blätterte die Post durch. Nichts war so wichtig, daß es nicht warten konnte. Dann fiel ihm der Arzt ein, der ihn am Vortag besucht hatte. Wallander suchte in der Schreibtischschublade seine Notizen und rief anschließend die Pathologie in Lund an. Er hatte Glück und bekam sogleich den Arzt an den Apparat, den er suchte. Wallander erzählte kurzgefaßt von Enanders Besuch. Der Pathologe hörte zu und notierte sich Wallanders Mitteilung. Nachdem er versprochen hatte, von sich hören zu lassen, falls die neuen Informationen irgendwelche Auswirkungen auf die bereits durchgeführte gerichtsmedizinische Untersuchung hätten, beendeten sie das Gespräch.
Um acht stand Wallander auf und ging zum Sitzungszimmer. Lisa Holgersson war da, ebenso Staatsanwalt Lennart Viktorsson. Wallander spürte, wie ihm das Adrenalin hochschoß, als er den Staatsanwalt erblickte. Viele hätten sich wohl geduckt, wenn sie auf der ersten Seite eines Boulevardblatts gelandet wären. Wallander hatte seinen Schwächeanfall schon am Vortag gehabt. Jetzt war er in Kampfeslaune. Er setzte sich auf seinen Platz und ergriff unmittelbar das Wort.
»Wie alle wissen, hat gestern eine Abendzeitung ein Bild von Eva Persson gebracht, nachdem ich ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Obwohl das Mädchen und seine Mutter etwas anderes behaupten, verhielt es sich so, daß ich eingegriffen habe, als das Mädchen auf seine Mutter losging und sie ins Gesicht schlug. Um sie zur Ruhe zu bringen, gab ich ihr eine Ohrfeige. Nicht besonders hart. Aber sie taumelte und fiel hin. Das habe ich auch dem Journalisten gesagt, dem es gelungen war, sich hier ins Präsidium einzuschleichen. Ich habe ihm heute morgen ein Interview gegeben. Martinsson war als Zeuge dabei.«
Er machte eine Pause und blickte in die Runde, bevor er fortfuhr. Lisa Holgersson wirkte unzufrieden. Er ahnte, daß sie die Sache lieber selbst aufgegriffen hätte.
»Mir ist mitgeteilt worden, daß eine interne Untersuchung des Vorfalls durchgeführt werden soll. Von mir aus gern. Und jetzt, meine ich, sollten wir zu Dringenderem übergehen, und zwar zum Mord an Lundberg und zu dem, was eigentlich mit Sonja Hökberg passiert ist.«
Lisa Holgersson ergriff sofort das Wort, nachdem er geendet hatte. Wallander gefiel ihr Gesichtsausdruck nicht. Er hatte noch immer das Gefühl, verraten worden zu sein.
»Es ist dir wohl klar, daß du keine weiteren Verhöre mit Eva Persson durchführen darfst«, sagte sie.
Wallander nickte. »Das verstehe sogar ich.«
Eigentlich hätte ich etwas anderes sagen sollen, dachte er. Daß es die oberste Pflicht eines Polizeipräsidenten ist, seinen Leuten Rückhalt zu geben. Nicht unkritisch und nicht um jeden Preis. Aber zumindest solange Aussage gegen Aussage steht. Sie findet es bequemer, sich an eine Lüge anzulehnen, als einer unbequemen Wahrheit zu vertrauen.
Viktorsson hob die Hand und unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Ich werde natürlich die interne Untersuchung genau verfolgen. Und was Eva Persson anbelangt, sollten wir ihre neuen Aussagen ernst nehmen. Vermutlich ist es gewesen, wie sie sagt. Daß Sonja Hökberg allein die Tat geplant und ausgeführt hat.«
Wallander traute seinen Ohren nicht. Er sah sich am Tisch um und suchte Rückendeckung bei seinen engsten Kollegen. Hansson saß in seinem karierten Flanellhemd da und schien in Gedanken weit weg zu sein. Martinsson massierte sich das Kinn, Ann-Britt kauerte zusammengesunken auf dem Stuhl. Keiner fing seinen Blick auf. Aber er interpretierte das, was er sah, trotzdem als Rückendeckung. »Eva Persson lügt«, sagte er. »Das, was sie zuerst gesagt hat, war die Wahrheit. Und das werden wir auch beweisen können. Wenn wir uns anstrengen.«
Viktorsson wollte weitersprechen. Aber Wallander ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er zweifelte daran, daß alle schon wußten, was Ann-Britt ihm am Abend zuvor am Telefon gesagt hatte.
»Sonja Hökberg ist ermordet worden«, sagte er. »Die Pathologie hat uns mitgeteilt, daß man eine Verletzung am Hinterkopf gefunden hat, die vermutlich von einem heftigen Schlag herrührt. Er kann tödlich gewesen sein. Sie war zumindest bewußtlos oder betäubt, als jemand sie zwischen die Stromleitungen geworfen hat. Aber daran, daß sie ermordet wurde, brauchen wir nicht mehr zu zweifeln.«
Er hatte richtig vermutet. Seine Information kam für alle im Raum überraschend.
»Ich muß darauf hinweisen, daß es sich um eine vorläufige Beurteilung des Gerichtsmediziners handelt«, fuhr Wallander fort. »Es kann also noch mehr kommen. Aber kaum weniger.«
Keiner sagte etwas. Er spürte, daß er jetzt das Kommando übernommen hatte. Das Bild in der Zeitung machte ihn wütend und gab ihm neue Energie. Aber das schlimmste für ihn war Lisa Holgerssons offenes Mißtrauen.
Er ging weiter und lieferte eine gründliche Lagebeschreibung.
»Johan Lundberg wird in seinem Taxi ermordet. Nach außen wirkt es wie ein spontan geplanter und ausgeführter Raubmord. Die Mädchen erklären, sie hätten Geld gebraucht. Aber nicht für einen bestimmten Zweck. Sie unternehmen keine Anstrengungen, nach der Tat zu entkommen. Als wir sie festnehmen, gestehen sie beide fast unmittelbar. Ihre Darstellungen decken sich, und sie zeigen keine erkennbare Reue. Wir finden außerdem die Mordwaffen. Dann flieht Sonja Hökberg. Zwölf Stunden später wird sie ermordet in einer der Transformatorstationen von Sydkraft gefunden. Wie sie dort hingekommen ist, ist eine entscheidende und noch nicht beantwortete Frage. Warum sie ermordet wird, wissen wir ebensowenig. Gleichzeitig geschieht jedoch etwas, was als wichtig angesehen werden muß. Eva Persson widerruft ihr Geständnis. Jetzt schiebt sie alles auf Sonja Hökberg. Sie macht Aussagen, die nicht mehr kontrolliert werden können, weil Sonja Hökberg inzwischen tot ist. Die Frage ist, woher Eva Persson davon wußte. Richtiger gesagt: Sie muß davon gewußt haben. Aber die Nachricht von dem Mord ist noch gar nicht veröffentlicht. Nur eine sehr begrenzte Anzahl Menschen weiß davon. Und noch weniger wußten es gestern, als Eva Persson ihre Darstellung änderte.«
Wallander verstummte. Im Raum herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Er hatte die entscheidenden Fragen eingekreist.
»Was machte Sonja Hökberg, nachdem sie das Präsidium verlassen hatte?« fragte Hansson. »Das müssen wir klären.«
»Wir wissen, daß sie nicht zu Fuß zur Transformatorstation gelangt ist«, sagte Wallander. »Auch wenn es nicht hundertprozentig zu beweisen ist, können wir davon ausgehen, daß sie gefahren ist.«
»Gehen wir jetzt nicht zu schnell vor?« wandte Viktorsson ein. »Sie kann ja schon tot gewesen sein, als sie dorthin kam.«
»Ich bin noch nicht fertig«, erwiderte Wallander. »Die Möglichkeit existiert natürlich.«
»Gibt es etwas, was dagegen spricht?«
»Nein.«
»Ist es dann nicht am wahrscheinlichsten, daß sie schon tot war, als sie dorthin gebracht wurde? Was spricht dafür, daß sie sich freiwillig dorthin begeben hat?«
»Daß sie die Person kannte, die sie fuhr.«
Viktorsson schüttelte den Kopf. »Warum sollte sich jemand zu einer der Anlagen von Sydkraft mitten auf einen Acker begeben? Hat es nicht sogar geregnet? Spricht das nicht eher dafür, daß sie an einem anderen Ort getötet wurde?«
»Jetzt gehst du zu schnell vor«, wandte Wallander ein. »Wir kreisen erst einmal die vorhandenen Alternativen ein. Aber wir treffen noch keine Wahl.«
»Wer hat sie gefahren?« warf Martinsson ein. »Wenn wir das wissen, dann wissen wir, wer sie getötet hat. Wenn auch nicht, warum.«
»Das kommt danach«, sagte Wallander. »Ich denke, daß Eva Persson kaum von jemand anderem von Sonja Hökbergs Tod erfahren haben kann als von demjenigen, der sie getötet hat.«
Er sah Lisa Holgersson an.
»Das bedeutet, daß Eva Persson der Schlüssel zu dem Ganzen ist. Sie ist minderjährig, und sie lügt. Aber jetzt muß sie unter Druck gesetzt werden. Ich will wissen, wie sie von Sonja Hökbergs Tod erfahren hat.«
Er stand auf. »Und weil nicht ich es bin, der mit Eva Persson sprechen wird, werde ich mich in der Zwischenzeit anderen Dingen widmen.«
Er verließ schnell den Raum, zufrieden mit seinem Abgang. Es war eine kindische Demonstration, das war ihm klar. Aber effektvoll, wenn er sich nicht irrte. Er nahm an, daß man Ann-Britt die Verantwortung für die Gespräche mit Eva Persson übertragen würde. Sie wußte, wonach sie zu fragen hatte. Wallander nahm seine Jacke. Er würde die Zeit nutzen, um Antwort auf eine andere Frage zu bekommen, die ihn beschäftigte. Er hoffte, daß sie sich anschließend der Person, die Sonja Hökberg getötet hatte, von zwei verschiedenen Seiten aus nähern konnten. Bevor er sein Büro verließ, nahm er zwei Fotos aus einer der Ermittlungsmappen und steckte sie in die Tasche.
Er ging zur Stadt hinunter. Die ganze Geschichte hatte etwas Sonderbares an sich, das ihn beunruhigte. Warum war Sonja Hökberg getötet worden? Warum war das auf eine Art und Weise geschehen, die in einem großen Teil Schonens zu einem Stromausfall geführt hatte? War das wirklich Zufall gewesen?
Er ging schräg über den Marktplatz und gelangte in die Hamngata. Das Restaurant, in dem Sonja Hökberg und Eva Persson Bier getrunken hatten, war noch nicht geöffnet. Er schaute durch ein Fenster hinein. Es war jemand im Lokal. Jemand, den er kannte. Er klopfte an die Scheibe. Der Mann hantierte weiter hinter dem Tresen. Wallander klopfte fester. Der Mann blickte auf. Wallander winkte, und der Mann kam ans Fenster.
Als er Wallander erkannte, lächelte er und öffnete die Tür. »Es ist noch nicht neun«, sagte er. »Und du hast schon Appetit auf Pizza?«
»Ungefähr«, sagte Wallander. »Ein Kaffee täte mir gut. Und ich muß mit dir reden.«
István Kecskeméti war 1956 aus Ungarn nach Schweden gekommen. Über die Jahre hinweg hatte er in Ystad verschiedene Restaurants betrieben. Manchmal, wenn Wallander sich nicht aufraffen konnte zu kochen, aß er bei István. Der Mann hatte zuweilen ein übertriebenes Mitteilungsbedürfnis, aber Wallander mochte ihn. Außerdem wußte István inzwischen, daß Wallander zuckerkrank war.
István war allein im Lokal. Aus der Küche hörte man jemanden Fleisch klopfen. Erst ab elf würde für Mittagsgäste geöffnet werden. Wallander setzte sich an einen der Tische tief im Inneren des Lokals, und während er darauf wartete, daß István mit dem Kaffee kam, überlegte er, wo die beiden Mädchen an jenem Abend gesessen und Bier getrunken hatten, bevor sie das Taxi bestellten.
István stellte zwei Tassen auf den Tisch. »Du kommst nicht oft«, sagte er. »Und wenn du kommst, haben wir geschlossen. Das bedeutet, daß du etwas anderes willst als Essen.«
Er warf die Arme in die Luft und stöhnte. »Alle wollen Hilfe von István. Hier rufen Sportvereine und Hilfsorganisationen an. Jemand will einen Friedhof für Tiere aufmachen. Alle bitten um Spenden. Alle wollen, daß István spendet. Damit er Reklame kriegt. Aber wie macht man auf einem Hundefriedhof Reklame für eine Pizzeria?«
Nach einem neuen Stöhnen fuhr er fort. »Vielleicht willst du auch etwas? Soll István Geld spenden für die schwedische Polizei?«
»Es reicht schon, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest«, sagte Wallander. »Am letzten Mittwoch. Warst du da hier?«
»Ich bin immer hier. Aber der letzte Mittwoch ist lange her.«
Wallander legte die beiden Fotos auf den Tisch. Es war schummerig im Lokal. »Kennst du diese beiden?«
István nahm die Fotos mit zum Tresen. Er studierte sie ausgiebig, bevor er antwortete. »Ich glaube, ja.«
»Du hast von dem Taximord gehört?«
»Schreckliche Geschichte. Daß es so etwas gibt. Und dann noch Jugendliche.«
Im gleichen Augenblick begriff István den Zusammenhang. »Waren das diese beiden?«
»Ja. Und sie waren an dem Abend hier. Es ist wichtig, daß du dich erinnerst. Wo sie saßen. Und ob sie in Begleitung waren.« Wallander konnte sehen, daß István wirklich versuchte, sich zu erinnern. Wallander wartete. István nahm die beiden Fotos und ging zwischen den Tischen umher. Er tastete sich vor, langsam, zögernd. Er sucht nach seinen Gästen, dachte Wallander. Er tut genau das, was ich selbst getan hätte. Die Frage ist nur, ob er sie in seiner Erinnerung findet.
An einem Tisch hinten am Fenster blieb István stehen. Wallander stand auf und ging zu ihm.
»Ich glaube, hier haben sie gesessen.«
»Bist du sicher?«
»Ziemlich.«
»Wer saß wo?«
István wurde unsicher. Wallander wartete, während István den Tisch umkreiste, einmal, zweimal, bevor er innehielt. Er plazierte die Fotos von Sonja Hökberg und Eva Persson auf dem Tisch, als lege er zwei Speisekarten vor.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Aber Wallander sah, daß István die Stirn in Falten zog. Er suchte noch immer etwas in seiner Erinnerung. »Es geschah etwas im Laufe des Abends«, sagte er. »Daß ich mich an sie erinnern kann, hängt damit zusammen, daß ich bezweifelte, ob die eine wirklich achtzehn war.«
»Sie war es nicht«, sagte Wallander. »Aber vergiß es.«
István rief nach einer Laila, die sich in der Küche befand. Eine übergewichtige Kaltmamsell schaukelte herein.
»Setz dich hierhin«, sagte István. Das Mädchen war blond. Er ließ sie auf Eva Perssons Stuhl Platz nehmen.
»Was ist denn los?« fragte sie. Ihr Schonisch war selbst für Wallander schwer zu verstehen.
»Bleib einfach sitzen«, sagte István. »Bleib einfach sitzen.«
Wallander wartete. Er sah zu, wie István sich zu erinnern versuchte. »Etwas geschah im Laufe des Abends«, wiederholte István.
Dann kam er darauf. Er bat Laila, sich auf den anderen Platz zu setzen.
»Sie haben die Plätze getauscht«, sagte István. »Irgendwann im Laufe des Abends haben sie die Plätze getauscht.«
Laila kehrte in die Küche zurück. Wallander setzte sich auf den Platz, auf dem Sonja Hökberg zuerst gesessen hatte. Von dort aus blickte er auf eine Wand. Und auf das Fenster zur Straße. Aber der Rest des Lokals lag hinter ihm. Als er die Seite tauschte, hatte er die Eingangstür vor sich. Weil ein Pfeiler und eine Nische mit einem Gruppentisch den Blick auf das übrige Lokal verdeckten, konnte er nur einen Tisch sehen. Einen Zweiertisch.
»Saß jemand an dem Tisch dort?« fragte er. »Kannst du dich erinnern, ob jemand ungefähr zur gleichen Zeit kam, als die Mädchen die Plätze tauschten?«
István dachte nach. »Ja«, sagte er dann. »Du hast recht. Es kam jemand und setzte sich dorthin. Aber ob es gleichzeitig mit dem Plätzetausch der Mädchen war, das kann ich nicht sagen.«
Wallander merkte, daß er den Atem anhielt. »Kannst du ihn beschreiben? Weißt du, wer er war?«
»Ich hatte ihn noch nie gesehen. Aber er ist leicht zu beschreiben.«
»Wieso?«
»Weil er schräge Augen hatte.«
Wallander begriff nicht. »Was meinst du damit?«
»Daß er Chinese war. Oder auf jeden Fall ein Asiat.«
Wallander überlegte. Er näherte sich einem wichtigen Punkt.
»Blieb er sitzen, nachdem die Mädchen mit dem Taxi weggefahren waren?«
»Ja. Bestimmt eine Stunde.«
»Hatten sie irgendwelchen Kontakt miteinander?«
István schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe nichts bemerkt. Aber es ist möglich.«
»Weißt du noch, wie der Mann seine Rechnung bezahlt hat?«
»Ich glaube, mit Kreditkarte. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Gut«, sagte Wallander. »Ich möchte, daß du die Rechnung heraussuchst.«
»Die habe ich schon weggeschickt. Ich glaube, es war American Express.«
»Dann suchen wir deine Kopie«, sagte Wallander.
Der Kaffee war kalt geworden. Er merkte, daß er es eilig hatte. Sonja Hökberg sah jemanden auf der Straße kommen, dachte er. Dann tauschte sie den Platz, um besser sehen zu können. Und der Mann war ein Asiat.
»Wonach suchst du eigentlich?« fragte István.
»Ich versuche zunächst einfach nur zu verstehen, was passiert ist«, antwortete Wallander. »Weiter bin ich noch nicht.«
Er verabschiedete sich von István und verließ das Lokal.
»Ein Mann mit schrägen Augen«, dachte er.
Plötzlich war seine Unruhe wieder da. Jetzt hatte er es eilig.
11
Außer Atem erreichte Wallander das Präsidium. Er war gelaufen, weil er wußte, daß Ann-Britt gerade mit Eva Persson sprach. Es war wichtig, daß er ihr mitteilte, was bei seinem Besuch in Istváns Restaurant herausgekommen war, und daß sie Antworten auf die neu aufgetauchten Fragen bekamen. Irene reichte ihm einen Stapel Telefonnotizen, die er ungelesen in die Tasche stopfte. Er rief in dem Zimmer an, in dem Ann-Britt mit Eva Persson saß.
»Ich wollte gerade zum Ende kommen«, sagte sie.
»Nein«, sagte Wallander. »Es sind ein paar neue Fragen aufgetaucht. Mach eine Pause. Ich komme.«
Sie verstand, daß es wichtig war, und versprach ihm, noch zu warten. Wallander erwartete sie schon ungeduldig, als sie auf den Flur hinaustrat. Er kam sofort zur Sache. Erzählte ihr von dem Plätzetausch im Restaurant und dem Mann, der am einzigen Tisch gesessen hatte, den Sonja Hökberg hatte sehen können. Als er geendet hatte, merkte er, daß sie zögerte.
»Ein Asiat?«
»Ja.«
»Glaubst du wirklich, daß das wichtig ist?«
»Sonja Hökberg hat den Platz getauscht. Sie suchte Blickkontakt mit ihm. Das muß etwas bedeuten.«
Ann-Britt Höglund zuckte mit den Schultern. »Ich werde mit ihr reden. Aber was soll ich eigentlich fragen?«
»Warum sie die Plätze tauschten. Und wann. Achte darauf, ob sie lügt. Ob sie den Mann bemerkt hat, der hinter ihrem Rücken saß.«
»Es ist schwer, ihr überhaupt etwas anzumerken.«
»Bleibt sie bei ihrer Geschichte?«
»Sonja Hökberg schlug und stach allein auf Lundberg ein. Eva Persson wußte vorher von nichts.«
»Was sagt sie, wenn du sie an ihr früheres Geständnis erinnerst?«
»Sie erklärt es damit, daß sie Angst vor Sonja Hökberg hatte.«
»Und warum hatte sie Angst?«
»Darauf antwortet sie nicht.«
»Hatte sie Angst?«
»Nein. Sie lügt.«
»Wie reagierte sie, als sie hörte, daß Sonja Hökberg tot ist?«
»Sie verstummte. Ich glaube, sie war sehr betroffen.«
»Sie wußte also nichts?«
»Kaum.«
Ann-Britt mußte wieder zurück. Vor der Tür drehte sie sich um. »Die Mutter hat ihr einen Anwalt besorgt. Er hat schon Anzeige gegen dich erstattet. Er heißt Klas Harrysson.«
Der Name sagte Wallander nichts.
»Ein junger, ehrgeiziger Anwalt aus Malmö. Er wirkt sehr siegessicher.«
Einen Moment lang überkam Wallander große Müdigkeit. Dann kehrte seine Wut zurück. »Hast du etwas aus ihr herausbekommen, was wir noch nicht wußten?«
»Ehrlich gesagt glaube ich, daß Eva Persson ein bißchen dumm ist. Aber sie hält an ihrer Geschichte fest. Der zweiten Version. Sie geht nicht davon ab. Hört sich an wie eine Maschine.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Dieser Mord an Lundberg geht tiefer. Davon bin ich überzeugt.«
»Ich hoffe, du hast recht. Und sie brauchten tatsächlich nicht nur Geld und erschlugen deshalb einen x-beliebigen Taxifahrer.«
Ann-Britt ging zurück zu Eva Persson. Wallander suchte Martinsson, konnte ihn aber nicht finden. Auch Hansson war nicht da. Zurück in seinem Zimmer blätterte Wallander die Telefonnotizen durch, die Irene ihm mitgegeben hatte. Die meisten, die etwas von ihm gewollt hatten, waren Journalisten. Aber es war auch eine Nachricht von Tynnes Falks früherer Frau darunter. Wallander legte den Zettel zur Seite, rief Irene in der Anmeldung an und bat sie, keine Gespräche durchzustellen. Durch die Auskunft bekam er die Nummer des American Express. Er erklärte sein Anliegen und wurde mit einer Frau namens Anita verbunden. Sie bat ihn darum, einen Kontrollrückruf machen zu dürfen. Wallander legte auf und wartete. Nach ein paar Minuten fiel ihm ein, daß er Irene gebeten hatte, keine Anrufe durchzustellen. Er fluchte und rief erneut bei American Express an. Diesmal glückte der Kontrollrückruf. Wallander erklärte sein Anliegen und gab ihr alle Informationen.
»Ihnen ist klar, daß das ein wenig dauern kann?« sagte die Frau namens Anita.
»Wenn Ihnen nur klar ist, daß es sehr dringend ist.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
Das Gespräch war zu Ende. Wallander wählte sofort die Nummer der Autowerkstatt. Nach ein paar Minuten kam der Meister ans Telefon. Als er den Preis nannte, verschlug es Wallander die Sprache. Gleichzeitig sagte der Meister ihm zu, den Wagen schon am nächsten Tag fertig zu haben. Teuer waren die Ersatzteile, nicht die Arbeit. Wallander sagte zu, den Wagen am nächsten Tag um zwölf Uhr abzuholen.
Einen Augenblick blieb er untätig sitzen. In Gedanken war er in dem Zimmer, in dem Ann-Britt sich mit Eva Persson aufhielt. Es irritierte ihn, daß er nicht selbst dort saß. Ann-Britt konnte manchmal zu weich sein, wenn es darauf ankam, jemanden in einem Verhör unter Druck zu setzen. Außerdem war ihm Unrecht zugefügt worden. Und Lisa Holgersson hatte offen ihr Mißtrauen gezeigt. Das verzieh er ihr nicht. Damit die Zeit verging, rief er Tynnes Falks Frau an. Sie meldete sich fast sofort.
»Mein Name ist Wallander. Spreche ich mit Marianne Falk?«
»Gut, daß Sie anrufen. Ich habe schon darauf gewartet.«
Ihre Stimme klang hell und angenehm. Wallander fühlte sich an Monas Stimme erinnert. Etwas Entferntes, vielleicht Wehmütiges durchzog ihn.
»Hat Doktor Enander mit Ihnen Kontakt aufgenommen?« fragte sie.
»Ich habe mit ihm gesprochen.«
»Sie wissen also, daß Tynnes nicht an einem Herzinfarkt gestorben ist?«´
»Das ist vielleicht eine riskante Schlußfolgerung.«
»Warum? Er ist überfallen worden.«
Sie klang sehr bestimmt. Wallander spürte, wie sein Interesse plötzlich geweckt wurde. »Das klingt fast, als seien Sie gar nicht erstaunt.«
»Worüber?«
»Daß es ein solches Ende mit ihm nahm. Daß er überfallen worden ist.«
»Das bin ich auch nicht. Tynnes hatte viele Feinde.«
Wallander zog einen Notizblock und einen Bleistift an sich. Die Brille hatte er schon auf. »Was für Feinde?«
»Das weiß ich nicht. Aber er hat sich immer Sorgen gemacht.«
Wallander suchte in seiner Erinnerung nach etwas, was er in Martinssons Bericht gelesen hatte. »Er hatte eine Computerberatungsfirma, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das hört sich nicht nach einer besonders gefährlichen Arbeit an.«
»Es kommt darauf an, wen man berät.«
»Und wen hat er beraten?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein.«
»Trotzdem glauben Sie, daß er überfallen worden ist?«
»Ich kannte meinen Mann. Auch wenn wir nicht zusammen leben konnten. Im letzten Jahr war er beunruhigt.«
»Aber er hat nie gesagt, warum?«
»Tynnes redete nur, wenn es unbedingt nötig war.«
»Sie sagten eben, er habe Feinde gehabt.«
»Das waren seine eigenen Worte.«
»Was für Feinde?«
Ihre Antwort kam zögernd. »Ich weiß, daß es sich merkwürdig anhört«, sagte sie. »Aber ich kann es nicht deutlicher ausdrücken. Obwohl wir so lange zusammengelebt und zwei Kinder miteinander haben.«
»Man benutzt das Wort ›Feind‹ nicht ohne besonderen Grund.«
»Tynnes ist viel gereist. In der ganzen Welt herum. Das hat er schon immer getan. Welche Menschen er auf diesen Reisen getroffen hat, kann ich nicht sagen. Aber manchmal kam er nach Hause und war heiter. Bei anderen Gelegenheiten wirkte er beunruhigt, wenn ich ihn in Sturup abholte.«
»Aber er muß doch irgend etwas darüber hinaus gesagt haben? Warum er Feinde hatte? Wer sie waren?«
»Er war verschwiegen. Aber ich sah sie ihm an. Seine Unruhe.«
Wallander bekam den Verdacht, die Frau, mit der er sprach, könnte überspannt sein.
»Gab es noch etwas, was Sie mir sagen wollten?«
»Es war kein Herzinfarkt. Ich will, daß die Polizei aufklärt, was eigentlich passiert ist.«
Wallander überlegte, bevor er antwortete. »Ich habe mir notiert, was Sie gesagt haben. Wir melden uns bei Ihnen, falls es notwendig wird.«
»Ich erwarte, daß Sie herausfinden, was passiert ist. Tynnes und ich waren geschieden. Aber ich habe ihn immer noch geliebt.«
Als er aufgelegt hatte, fragte Wallander sich gedankenverloren, ob Mona ihn vielleicht auch immer noch liebte. Obwohl sie jetzt mit einem anderen Mann verheiratet war. Er zweifelte stark daran. Dagegen hätte er gern gewußt, ob sie ihn je geliebt hatte. Irritiert wischte er die Gedanken beiseite und rekapitulierte noch einmal das, was Marianne Falk gesagt hatte. Ihre Besorgnis hatte echt gewirkt. Aber was sie gesagt hatte, war nicht gerade erhellend. Wer Tynnes Falk eigentlich gewesen war, blieb weiterhin ausgesprochen unklar. Er suchte Martinssons Bericht heraus und wählte dann die Nummer der Pathologie in Lund. Während der ganzen Zeit lauschte er auf Ann-Britts Schritte auf dem Korridor. Was ihn eigentlich interessierte, war das Gespräch zwischen Ann-Britt und Eva Persson. Tynnes Falk war an einem Herzinfarkt gestorben. Daran änderte auch eine besorgte Frau nichts, die sich ihren toten Exmann von eingebildeten Feinden umgeben vorstellte. Er sprach noch einmal mit dem Arzt, der Tynnes Falk obduziert hatte, und erzählte ihm von dem Gespräch mit Falks Frau.
»Es ist nicht ungewöhnlich, daß Herzinfarkte aus dem Nichts kommen«, sagte der Pathologe. »Der Mann, der zu uns gebracht wurde, ist genau daran gestorben. Weder das, was Sie beim letzten Mal gesagt haben, noch, was Sie jetzt sagen, verändert dieses Bild.«
»Und die Kopfwunde?«
»Die hat er sich zugezogen, als er mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug.«
Wallander bedankte sich und legte auf. Einen Moment lang nagte es in ihm. Marianne Falk war überzeugt, daß Tynnes Falk beunruhigt gewesen war.
Dann klappte er Martinssons Bericht zu. Sie hatten nicht die Zeit, um den Hirngespinsten der Leute nachzugehen.
Er holte Kaffee im Eßraum. Es war kurz vor zwölf. Martinsson und Hansson waren noch nicht im Haus. Wallander ging in sein Zimmer zurück. Noch einmal blätterte er den Stapel mit Telefonnotizen durch. Anita vom American Express ließ nichts von sich hören. Er trat ans Fenster und schaute zum Wasserturm, wo ein paar Krähen lärmten. Er war ungeduldig und irritiert. Sten Widéns Entschluß, aus seinem bisherigen Leben aufzubrechen, machte ihm zu schaffen. Er kam sich vor, als sei er auf dem letzten Platz eines Wettlaufs gelandet, den er zwar nicht hätte gewinnen können, in dem er aber auch nicht letzter werden wollte. Sein Gedanke war unklar, aber er wußte, was ihn störte. Das Gefühl, daß die Zeit ihm davonlief. »So kann es nicht weitergehen«, sagte er laut ins Zimmer hinein. »Es muß bald etwas passieren.«
»Mit wem redest du?«
Wallander fuhr herum. Martinsson stand in der Tür. Wallander hatte ihn nicht kommen hören. Keiner im Polizeipräsidium hatte einen so lautlosen Gang wie Martinsson.
»Ich rede mit mir selbst«, sagte Wallander offen. »Tust du das nie?«
»Meine Frau behauptet, ich rede im Schlaf. Vielleicht kann man das vergleichen?«
»Was wolltest du denn?«
»Ich habe alle, die Schlüssel zum Transformatorhaus haben, durch unsere Programme laufen lassen. Keiner von ihnen steht in unseren Registern.«
»Wie wir erwartet haben.«
»Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, warum das Tor aufgebrochen wurde«, sagte Martinsson. »Soweit ich sehen kann, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder fehlte der Schlüssel zum Tor, oder jemand wollte den Anschein von etwas erwecken, was wir noch nicht verstehen.«
»Und was könnte das sein?«
»Randale. Vandalismus. Was weiß ich.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Die Stahltür ist aufgeschlossen worden. Somit gibt es eine weitere Möglichkeit. Derjenige, der das Tor aufgebrochen hat, war nicht identisch mit der Person, die die Stahltür geöffnet hat.«
Martinsson reagierte verständnislos. »Und wie willst du das erklären?«
»Ich will es nicht erklären. Ich nenne nur eine Alternative.«
Das Gespräch versiegte. Martinsson verschwand. Es war zwölf Uhr geworden. Wallander wartete weiter.
Um fünf vor halb eins erschien Ann-Britt Höglund. »Man kann dieser Eva Persson nicht vorwerfen, es zu eilig zu haben«, sagte sie. »Wie kann ein junger Mensch so langsam sprechen?«
»Sie hat vielleicht Angst, etwas Falsches zu sagen.«
Ann-Britt hatte sich auf seinen Besucherstuhl gesetzt. »Ich habe danach gefragt, worum du mich gebeten hast«, begann sie. »Einen Chinesen hatte sie nicht gesehen.«
»Ich habe nicht Chinese gesagt. Asiat.«
»Sie hatte auf jeden Fall keinen gesehen. Sie hatten die Plätze getauscht, weil Sonja behauptete, es zöge vom Fenster.«
»Wie hat sie auf die Frage reagiert?«
Ann-Britt sah betrübt aus.
»Genau, wie du es dir gedacht hast. Sie hatte die Frage nicht erwartet. Und ihre Antwort war eine glatte Lüge.«
Wallander schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dann wissen wir das«, sagte er. »Es gibt einen Zusammenhang zwischen den beiden Mädchen und diesem Mann, der ins Lokal kam.«
»Was für einen Zusammenhang?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber es war kein gewöhnlicher Taximord.«
»Ich weiß nur nicht, wie wir weiterkommen sollen.«
Wallander erzählte ihr von dem Anruf von American Express, den er erwartete. »Dann haben wir einen Namen. Und wenn wir einen Namen haben, sind wir schon einen großen Schritt weiter. In der Zwischenzeit machst du einen Hausbesuch bei Eva Persson. Ich möchte, daß du dir ihr Zimmer ansiehst. Wo ist eigentlich ihr Vater?«
Ann-Britt blätterte in ihren Notizen. »Er heißt Hugo Lövström. Sie waren nicht verheiratet.«
»Wohnt er hier in der Stadt?«
»Er soll in Växjö leben.«
»Was heißt ›soll leben‹?«
»Daß er der Tochter zufolge ein obdachloser Alkoholiker ist. Das Mädchen ist voller Haß. Ob sie ihren Vater stärker verabscheut als ihre Mutter, ist schwer zu sagen.«
»Haben sie keinen Kontakt?«
»Es hat nicht den Anschein.«
Wallander überlegte. »Wir finden keinen Grund«, sagte er. »Wir müssen wissen, was dahintersteckt. Entweder irre ich mich. Daß junge Menschen heutzutage, und nicht nur Jungen, wirklich finden, Mord sei nichts Außergewöhnliches. Dann gebe ich mich geschlagen. Aber ganz soweit bin ich noch nicht. Irgend etwas muß sie einfach zu der Tat getrieben haben.«
»Wir sollten den Fall vielleicht als Dreiecksdrama betrachten«, sagte Ann-Britt.
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht wäre es nicht verkehrt, Lundberg ein bißchen genauer unter die Lupe zu nehmen?«
»Warum? Sie konnten doch nicht wissen, welcher Fahrer sie abholen würde.«
»Damit hast du auch wieder recht.«
Wallander merkte, daß sie über etwas nachsann. Er wartete.
»Aber wenn man es nun andersherum betrachtet«, sagte sie nachdenklich. »Wenn es trotz allem etwas Impulsives war. Sie hatten ein Taxi bestellt. Wohin sie fahren wollten, können wir vielleicht noch klären. Aber nimm einmal an, daß eine von ihnen, oder vielleicht beide, reagieren, als sie entdecken, daß es ausgerechnet Lundberg ist, der sie fährt.«
»Du hast recht«, meinte er. »Die Möglichkeit besteht.«
»Daß die Mädchen bewaffnet waren, wissen wir. Mit Hammer und Messer. Irgendeine Art von Waffe gehört wahrscheinlich bald zur Standardausrüstung von Jugendlichen. Die Mädchen sehen, daß Lundberg den Wagen fährt. Und sie töten ihn. So kann es vor sich gegangen sein. Auch wenn es ziemlich weit hergeholt ist.«
»Nicht mehr als irgend etwas anderes«, unterbrach Wallander sie. »Laß uns überprüfen, ob Lundberg schon einmal mit uns zu tun gehabt hat.«
Ann-Britt stand auf und verließ das Zimmer. Wallander griff zu seinem Notizblock und versuchte, ein Fazit dessen niederzuschreiben, was Ann-Britt gesagt hatte. Es wurde ein Uhr, ohne daß er das Gefühl hatte, weitergekommen zu sein. Er war hungrig und ging in den Eßraum, um nachzusehen, ob noch belegte Brote übrig waren. Aber der Tisch war leer. Er nahm seine Jacke und verließ das Präsidium. Diesmal nahm er sein Handy mit und gab Irene Anweisung, Gespräche von American Express weiterzuleiten. Er ging in das Mittagsrestaurant, das dem Präsidium am nächsten lag. Er spürte, daß er erkannt wurde. Das Bild in der Zeitung war bestimmt von vielen Zeitungslesern in Ystad diskutiert worden. Es war ihm peinlich, und er aß schnell.
Als er wieder auf die Straße trat, piepte sein Handy. Es war Anita. »Wir haben sie gefunden«, sagte sie.
Wallander suchte vergebens nach einem Stück Papier und etwas zum Schreiben.
»Kann ich Sie zurückrufen?« sagte er. »In zehn Minuten.«
Sie gab ihm ihre Durchwahl. Wallander hastete zurück zu seinem Büro und rief sie an.
»Die Karte ist auf den Namen Fu Cheng ausgestellt.«
Wallander schrieb.
»Sie ist ausgestellt in Hongkong«, fuhr sie fort. »Er hat eine Adresse in Kowloon.«
Wallander bat sie, das zu buchstabieren.
»Es gibt nur ein kleines Problem«, sagte sie. »Die Karte ist falsch.«
Wallander fuhr zusammen. »Sie ist also gesperrt?«
»Nein, schlimmer. Sie ist nicht gestohlen. Sie ist gefälscht. American Express hat nie eine Kreditkarte auf den Namen Fu Cheng ausgestellt.«
»Was bedeutet das?«
»Als erstes, daß es gut war, dies so bald wie möglich zu entdecken. Und daß der Restaurantbesitzer sein Geld nicht bekommt. Wenn er nicht eine Versicherung hat.«
»Das bedeutet also, es existiert kein Fu Cheng?«
»Es gibt sicher einen. Aber seine Kreditkarte ist gefälscht. Genau wie seine Adresse.«
»Warum sagen Sie das nicht gleich?«
»Ich habe es versucht.«
Wallander dankte ihr für die Hilfe und beendete das Gespräch. Ein Mann, der vielleicht aus Hongkong kam, war mit einer falschen Kreditkarte in Istváns Restaurant in Ystad aufgetaucht. Dort hatte er Blickkontakt mit Sonja Hökberg aufgenommen.
Wallander versuchte, einen Zusammenhang zu finden, der sie weiterbrachte. Aber er fand nichts. Es gab keine Verbindungsglieder. Vielleicht bilde ich mir etwas ein, dachte er. Und Sonja Hökberg und Eva Persson sind lediglich die Monster der neuen Zeit, die das Leben anderer mit absoluter Gleichgültigkeit betrachten.
Seine eigene Wortwahl ließ ihn erschrecken. Er hatte sie Monster genannt. Ein Mädchen von neunzehn und eines von vierzehn Jahren.
Er schob die Papiere zur Seite. Viel länger konnte er es nicht mehr aufschieben, den Vortrag vorzubereiten, den er am Abend halten mußte. Obwohl er beschlossen hatte, ganz einfach der Reihe nach von der Mordermittlung zu erzählen, an der sie gerade arbeiteten, wollte er die Stichwörter, die er sich gemacht hatte, ein wenig ausbauen. Sonst würde seine Nervosität überhandnehmen.
Er begann zu schreiben, konnte sich aber nur schwer konzentrieren. Sonja Hökbergs verkohlter Körper tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er zog das Telefon heran und rief Martinsson an. »Sieh einmal nach, ob du etwas über Eva Perssons Vater findest«, sagte er. »Hugo Lövström. Er soll in Växjö leben. Alkoholiker und obdachlos.«
»Dann ist es doch einfacher, die Kollegen in Växjö anzurufen und sie zu fragen«, meinte Martinsson. »Ich beschäftige mich übrigens gerade mit Lundberg.«
»Bist du von selbst darauf gekommen?«
Wallander war verblüfft.
»Ann-Britt hat mich darum gebeten. Sie selbst ist zu Eva Persson nach Hause gefahren. Ich frage mich, was sie da zu finden hofft.«
»Ich habe noch einen Namen für deine Computer. Fu Cheng.«
»Was hast du gesagt?«
Wallander buchstabierte.
»Und wer ist das?«
»Das erkläre ich dir nachher. Wir sollten uns am Nachmittag noch treffen. Ich schlage vor, wir sehen uns um halb fünf. Ganz kurz.«
»Heißt er wirklich Fu Cheng?« fragte Martinsson ungläubig.
Wallander antwortete nicht.
Den Rest des Nachmittags verbrachte er über seinen Stichwörtern für den Abend. Schon nach kurzer Zeit haßte er die ganze Veranstaltung, die vor ihm lag. Im Jahr zuvor hatte er einmal die Polizeihochschule besucht und einen, wie er selbst meinte, mißglückten Vortrag über seine Erfahrungen als Verbrechensermittler gehalten. Aber mehrere Schüler waren nachher zu ihm gekommen und hatten sich bedankt. Wofür sie sich bedankt hatten, war ihm allerdings nie klargeworden.
Um halb fünf gab er seine Vorbereitungen auf. Jetzt mochte es gehen, wie es wollte. Er sammelte seine Papiere zusammen und ging zum Sitzungszimmer. Keiner war da. Er versuchte, im Kopf eine Zusammenfassung zu erstellen. Aber seine Gedanken liefen in verschiedene Richtungen.
Es hängt nicht zusammen, dachte er. Der Mord an Lundberg hängt nicht mit den beiden Mädchen zusammen. Und die ihrerseits hängen nicht mit Sonja Hökbergs Tod in der Transformatorstation zusammen. Diese ganze Ermittlung bleibt ungreifbar. Obwohl wir wissen, was geschehen ist. Uns fehlt das große und entscheidende »Warum«.
Hansson kam zusammen mit Martinsson, kurz nach ihnen erschien Ann-Britt. Wallander war froh, daß Lisa Holgersson sich nicht zeigte.
Es wurde eine kurze Sitzung. Ann-Britt hatte einen Besuch bei Eva Persson gemacht. »Alles wirkte normal«, sagte sie. »Eine Wohnung in der Stödgata. Die Mutter arbeitet als Köchin im Krankenhaus. Das Zimmer des Mädchens sah aus, wie man es erwarten konnte.«
»Hatte sie Poster an den Wänden?« fragte Wallander.
»Popgruppen, die ich nicht kenne«, antwortete Ann-Britt. »Nichts, was auffällig wirkte. Warum fragst du?«
Wallander antwortete nicht.
Die Abschrift des Gesprächs mit Eva Persson war schon fertig. Ann-Britt reichte Kopien herum. Wallander berichtete von seinem Besuch bei István, der zur Entdeckung der falschen Kreditkarte geführt hatte.
»Wir werden diesen Mann finden«, schloß er, »und wenn auch nur, um ihn aus der Ermittlung streichen zu können.«
Sie gingen weiter die Resultate der Arbeit des Tages durch. Martinsson zuerst, dann Hansson, der mit Kalle Ryss gesprochen hatte, der als einer von Sonja Hökbergs Freunden bezeichnet worden war. Aber Ryss hatte nichts zu sagen gehabt. Außer, daß er im Grunde sehr wenig über Sonja Hökberg wußte.
»Er sagte, sie sei geheimnisvoll gewesen«, schloß Hansson. »Was auch immer das nun heißen soll.«
Nach zwanzig Minuten faßte Wallander zusammen. »Lundberg wurde von einem der Mädchen oder von beiden getötet. Das Motiv war angeblich Geld. Aber ich glaube nicht, daß es so einfach ist, und deshalb werden wir weiter suchen. Sonja Hökberg wurde ermordet. Es muß einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen geben, den wir noch nicht entdeckt haben. Einen unbekannten Ausgangspunkt. Deshalb müssen wir ohne vorgefaßte Meinung an die Dinge herangehen. Dennoch sind einige Fragen natürlich wichtiger als andere. Wer fuhr Sonja Hökberg zur Transformatorstation? Warum wurde sie ermordet? Wir müssen uns weiterhin jede Person in ihrem Bekanntenkreis gründlich vornehmen. Ich glaube, es wird länger dauern, als wir gedacht haben, bis wir die umfassende Lösung finden.«
Kurz vor fünf war die Sitzung zu Ende. Ann-Britt wünschte ihm gutes Gelingen für den Abend.
»Sie werden mich wegen Frauenmißhandlung angreifen«, klagte Wallander.
»Das glaube ich nicht. Du hast von früher her einen guten Ruf.«
»Ich dachte, der sei schon lange ruiniert.«
Wallander ging nach Hause. Es war ein Brief von Per Åkeson aus dem Sudan gekommen. Er legte ihn auf den Küchentisch. Der mußte warten. Dann duschte er und zog sich um. Um halb sieben verließ er seine Wohnung und ging zu der Adresse, wo er all diese unbekannten Frauen treffen sollte. Er blieb einen Augenblick in der Dunkelheit stehen und schaute zu der erleuchteten Villa hinauf, bevor er sich ein Herz faßte und hineinging.
___________
Als er das Haus wieder verließ, war es schon nach neun. Er schwitzte. Er hatte länger gesprochen, als er vorgehabt hatte. Auch hatte es hinterher mehr Fragen gegeben als erwartet. Doch die Frauen, die versammelt waren, hatten ihn inspiriert. Die meisten waren in seinem Alter gewesen, und ihre Aufmerksamkeit hatte ihm geschmeichelt. Eigentlich wäre er gern noch eine Weile geblieben.
Langsam ging er nach Hause. Er wußte kaum noch, was er gesagt hatte. Aber sie hatten zugehört. Das war das wichtigste.
Eine Frau in seinem Alter war ihm besonders aufgefallen. Kurz bevor er ging, hatte er ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sie hatte sich als Solveig Gabrielsson vorgestellt. Wallander konnte seine Gedanken nur schwer von ihr lösen.
Als er nach Hause kam, schrieb er ihren Namen auf den Block in der Küche. Warum er das tat, wußte er nicht.
Er hatte seine Jacke noch nicht ausgezogen, als das Telefon klingelte. Er nahm ab.
Es war Martinsson. »Wie war der Vortrag?« wollte er wissen.
»Gut. Aber du rufst doch nicht an, um mich danach zu fragen?«
Martinsson zögerte, bevor er fortfuhr. »Ich sitze hier und arbeite«, sagte er. »Und eben kam ein Anruf, von dem ich nicht richtig weiß, was ich damit anfangen soll. Aus der Pathologie in Lund.«
Wallander hielt den Atem an.
»Tynnes Falk«, fuhr Martinsson fort. »Erinnerst du dich?«
»Der Mann an dem Geldautomaten. Klar erinnere ich mich.«
»Es sieht so aus, als sei seine Leiche verschwunden.«
Wallander runzelte die Stirn. »Eine Leiche verschwindet doch höchstens in einem Sarg.«
»Sollte man meinen. Aber es sieht tatsächlich so aus, als hätte jemand diese Leiche vorher gestohlen.«
Wallander wußte nichts zu sagen. Er versuchte nachzudenken.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Martinsson. »Es ist nicht nur die Leiche verschwunden. Auf der Bahre im Kühlraum liegt jetzt etwas anderes.«
»Was denn?«
»Ein kaputtes Relais.«
Wallander war nicht sicher, ob er wußte, was ein Relais genau war. Außer daß es mit Elektrizität zu tun hatte.
»Es ist kein gewöhnliches Relais«, sagte Martinsson, »sondern ein großes.«
Wallanders Herz schlug schneller. Er ahnte die Antwort. »Ein großes Relais, das wo benutzt wird?«
»In Transformatorstationen. Solchen wie der, in der wir Sonja Hökbergs Leiche gefunden haben.«
Wallander stand einen Moment lang schweigend da.
Ein Zusammenhang war aufgetaucht.
Aber keiner, wie er ihn erwartet hatte.
12
Martinsson saß im Eßraum und wartete.
Es war mittlerweile zehn Uhr am Donnerstagabend. Aus der Notrufzentrale, in der alle nächtlichen Anrufe eingingen, war das schwache Geräusch eines Radios zu hören. Sonst war es still. Martinsson trank Tee und kaute an einem Zwieback. Wallander setzte sich ihm gegenüber, ohne die Jacke auszuziehen.
»Wie war der Vortrag?«
»Das hast du schon vorhin gefragt.«
»Früher hat es mir Spaß gemacht, vor Leuten zu reden. Ich weiß nicht, ob ich es heute noch könnte.«
»Bestimmt wärst du viel besser als ich. Aber wenn du es genau wissen willst, habe ich neunzehn Frauen gezählt, alle in mittleren Jahren, die andächtig zuhörten, allerdings mit einer gewissen Beklemmung, wenn ich die blutigeren Seiten unserer für das Gemeinwohl so nützlichen Arbeit aufzeigte. Sie waren sehr nett und stellten höfliche und nichtssagende Fragen, die ich auf eine Art und Weise beantwortete, von der unser Reichspolizeichef bestimmt angetan gewesen wäre. Reicht das?«
Martinsson nickte und strich die Zwiebackkrümel vom Tisch, bevor er seinen Notizblock heranzog.
»Ich fange ganz vorne an. Um neun vor neun klingelt das Telefon hier draußen in der Zentrale. Der Wachhabende leitet das Gespräch an mich weiter, weil es nicht um einen Einsatz geht und weil er weiß, daß ich noch da bin. Wäre ich nicht dagewesen, hätten sie den Anrufer gebeten, sich morgen wieder zu melden. Der Mann, der anrief, hieß Pålsson. Sture Pålsson. Was für einen Titel er hat, ist mir nicht klargeworden. Aber ihm untersteht das Leichenschauhaus in der Pathologie in Lund. Wahrscheinlich heißt es heutzutage nicht mehr Leichenschauhaus, aber du weißt, was ich meine. Den Kühlraum, in dem die Körper bis zur Obduktion oder bis zur Abholung durch ein Beerdigungsinstitut aufbewahrt werden. Gegen acht Uhr hatte er gemerkt, daß eins der Kühlfächer nicht ganz geschlossen war. Als er die Bahre herauszog, entdeckte er, daß der Körper verschwunden war und daß statt dessen ein elektrisches Relais dort lag. Er rief daraufhin den Angestellten an, der den Tag über die Aufsicht hatte. Einen Mann namens Lyth. Der war sicher, daß der Körper gegen sechs Uhr, als er Feierabend gemacht hatte, noch dagewesen war. Der Körper war also irgendwann zwischen sechs und acht verschwunden. Es gibt einen Zugang direkt vom Hinterhof auf der Rückseite des Leichenschauhauses. Pålsson untersucht die Tür und entdeckt, daß das Schloß aufgebrochen worden ist. Er ruft sofort die Polizei in Malmö an. Das Ganze geht sehr schnell. Eine Streife kommt innerhalb von fünfzehn Minuten. Als sie hören, daß der verschwundene Körper aus Ystad stammt und Gegenstand einer gerichtsmedizinischen Untersuchung war, sagen sie Pålsson, er solle mit uns Kontakt aufnehmen. Was er tut.«
Martinsson legte den Block zurück.
»Es ist natürlich die Aufgabe der Kollegen in Malmö, die Leiche wiederzufinden«, fuhr er fort. »Aber man muß wohl sagen, daß der Fall uns auch angeht.«
Wallander dachte eine Weile nach. Die Situation war ausgesprochen kurios. Aber auch unangenehm. Er spürte, wie seine Unruhe zunahm. »Wir können wohl voraussetzen, daß die Kollegen in Malmö an Fingerabdrücke denken«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob das Entwenden einer Leiche überhaupt unter irgendeine Verbrechenskategorie fällt. Eigenmächtiges Verfahren vielleicht. Oder Störung der Totenruhe. Aber es besteht die Gefahr, daß sie es nicht ernst nehmen. Nyberg hat wohl bei der Transformatorstation Fingerabdrücke gesichert?«
Martinsson dachte nach. »Ich glaube schon. Soll ich ihn anrufen?«
»Jetzt nicht. Aber es wäre gut, wenn die Kollegen in Malmö das Relais im Kühlraum auf Fingerabdrücke hin untersuchten.«
»Soll ich sie anrufen?«
»Das wäre das beste.«
Martinsson ging, um zu telefonieren. Wallander holte sich Kaffee und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Es konnte sich immer noch um einen eigentümlichen Zufall handeln. So etwas hatte er früher schon erlebt. Aber irgend etwas sagte ihm, daß es diesmal nicht so war. Jemand war in ein Leichenschauhaus eingebrochen, um eine Leiche zu entwenden. Im Austausch war ein elektrisches Relais zurückgelassen worden. Wallander mußte an etwas denken, was Rydberg vor vielen Jahren einmal gesagt hatte, ganz am Anfang ihrer gemeinsamen Zeit. Verbrecher hinterlassen häufig Grüße an einem Tatort. Manchmal absichtlich. Aber ebensooft aus Nachlässigkeit.
Dies hier ist keine Nachlässigkeit, dachte er. Man läuft nicht zufällig mit einem großen elektrischen Relais herum. Man vergißt es nicht auf einer Bahre in einem Leichenschauhaus. Es sollte entdeckt werden. Und es handelt sich kaum um einen Gruß an die Pathologen. Es war ein Gruß an uns.
Die zweite Frage ergab sich ebenso von selbst. Warum entwendet man eine Leiche? Es kam wohl zuweilen vor, daß Tote, die obskuren und ausgefallenen Sekten angehörten, entwendet wurden. Aber Tynnes Falk hatte kaum einer solchen Sekte angehört. Auch wenn sie natürlich nicht sicher sein konnten. Also blieb nur eine Erklärung. Seine Leiche war entwendet worden, weil etwas vertuscht werden sollte.
Martinsson kehrte zurück. »Wir haben Glück«, sagte er. »Sie hatten das Relais in einen Plastiksack gesteckt und nicht einfach in eine Ecke geworfen.«
»Fingerabdrücke?«
»Sie sind dabei.«
»Und von der Leiche keine Spur?«
»Nein.«
»Keine Zeugen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
Wallander erzählte Martinsson von seinen Überlegungen. Martinsson stimmte seinen Schlußfolgerungen zu. Das Ganze war kein Zufall. Der Körper war fortgebracht worden, weil etwas vertuscht werden sollte. Wallander berichtete Martinsson auch von Doktor Enanders Besuch und vom Telefonat mit Falks früherer Frau.
»Ich habe das nicht ganz ernst genommen«, gab er zu. »Man sollte sich doch auf die Pathologen verlassen können.«
»Daß Falks Leiche entwendet wurde, muß ja nicht gleich bedeuten, daß er auch ermordet worden ist.«
Wallander sah ein, daß Martinsson recht haben konnte.
»Trotzdem fällt es mir schwer, mir einen anderen Grund vorzustellen, als daß man befürchtet, die eigentliche Todesursache könnte entdeckt werden.«
»Vielleicht hatte er etwas verschluckt?«
Wallander hob die Augenbrauen. »Was denn?«
»Diamanten, Drogen. Was weiß ich.«
»Das hätte der Obduzent entdeckt.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Herausfinden, wer dieser Tynnes Falk war«, sagte Wallander. »Weil wir das Ganze abgeschrieben hatten, brauchten wir ihn und sein Leben nicht genauer zu untersuchen. Aber Enander machte sich die Mühe, herzukommen und uns seine Bedenken bezüglich der Todesursache mitzuteilen. Als ich mit Falks Frau gesprochen habe, meinte sie, ihr Mann sei oft beunruhigt gewesen. Und habe viele Feinde gehabt. Sie hat überhaupt eine Menge Dinge gesagt, die darauf hindeuten, daß der Mann ein komplizierter Mensch war.«
Martinsson verzog das Gesicht. »Ein Computerberater mit Feinden?«
»Das hat sie gesagt. Und keiner von uns hat sich eingehender mit ihr unterhalten.«
Martinsson hatte die Mappe mit den mageren Informationen über Tynnes Falk mitgebracht.
»Wir haben auch nicht mit den Kindern gesprochen. Wir haben mit gar keinem gesprochen, weil wir geglaubt haben, er sei eines natürlichen Todes gestorben.«
»Davon gehen wir noch immer aus«, meinte Wallander. »Zumindest ist es genauso denkbar wie irgend etwas anderes. Was wir jedoch einsehen müssen, ist, daß zwischen ihm und Sonja Hökberg ein Zusammenhang besteht. Vielleicht auch mit Eva Persson.«
»Warum nicht auch mit Lundberg?«
»Das stimmt. Vielleicht sogar mit dem Taxifahrer.«
»Wir wissen auf jeden Fall, daß Tynnes Falk tot war, als Sonja Hökberg verbrannt wurde«, sagte Martinsson. »Er kann sie also nicht getötet haben.«
»Wenn man den Gedanken verfolgt, daß Falk eventuell ermordet wurde, dann kann der Täter auch Sonja Hökberg auf dem Gewissen haben.«
Wallanders Unbehagen wuchs. Sie rührten an etwas, was sie ganz und gar nicht verstanden. Die Sache hat einen doppelten Boden, dachte er. Wir müssen tiefer eindringen.
Martinsson gähnte. Wallander wußte, daß er um diese Zeit meistens schon schlief.
»Es fragt sich, ob wir noch sehr viel weiterkommen«, sagte er. »Es ist nicht unsere Sache, Leute loszuschicken, um nach einer entlaufenen Leiche zu suchen.«
»Wir sollten einen Blick in Falks Wohnung werfen«, sagte Martinsson und unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Er lebte allein. Damit sollten wir anfangen und anschließend mit seiner Frau reden.«
»Seiner früheren Frau. Sie waren geschieden.«
Martinsson stand auf. »Ich fahre nach Hause und gehe ins Bett. Was macht dein Auto?«
»Das ist morgen wieder in Ordnung.«
»Soll ich dich nach Hause fahren?«
»Ich bleibe noch eine Weile hier.«
Martinsson zögerte noch. »Ich kann nachempfinden, daß du empört bist«, sagte er. »Über das Bild in der Zeitung.«
»Was ist deine Meinung dazu?«
»Wozu?«
»Bin ich schuldig oder nicht?«
»Daß du ihr eine Ohrfeige gegeben hast, ist ja wohl klar. Aber ich glaube, daß es so gewesen ist, wie du sagst. Daß sie vorher ihre Mutter angegriffen hat.«
»Ich habe mich auf jeden Fall entschieden«, sagte Wallander. »Wenn ich eine Abmahnung bekomme, höre ich hier auf.«
Er war von seinen eigenen Worten überrascht. Der Gedanke, seinen Abschied einzureichen, falls die interne Untersuchung zu seinen Ungunsten ausging, war ihm vorher noch nie gekommen.
»Dann tauschen wir die Rollen«, sagte Martinsson.
»Wieso?«
»Dann werde ich dich davon überzeugen müssen, daß du bleiben sollst.«
»Das schaffst du nicht.«
Martinsson erwiderte nichts. Er nahm seine Mappe und ging. Wallander blieb sitzen. Nach einer Weile kamen zwei Polizisten von der Nachtschicht herein. Sie nickten Wallander zu. Wallander lauschte zerstreut ihrer Unterhaltung. Der eine überlegte, ob er sich im Frühjahr ein Motorrad kaufen sollte.
Sie holten sich Kaffee und gingen wieder. Ohne daß Wallander sich eigentlich darüber klar war, nahm ein Entschluß in seinem Kopf Gestalt an.
Er sah zur Uhr. Bald halb zwölf. Eigentlich sollte er bis zum nächsten Morgen warten. Aber eine innere Unruhe trieb ihn.
Kurz vor Mitternacht verließ er das Polizeipräsidium.
In der Tasche hatte er die Dietriche, die er normalerweise in seiner untersten Schreibtischschublade aufbewahrte.
___________
Er brauchte zehn Minuten bis zur Apelbergsgatan. Ein schwacher Wind wehte, es war ein paar Grad über Null. Der Himmel war bewölkt. Die Straßen waren menschenleer. Ein paar schwere Lastzüge fuhren auf ihrem Weg zur Polenfähre an ihm vorbei. Mitternacht. Genau um diese Zeit war Tynnes Falk gestorben, dachte Wallander. Die Uhrzeit hatte auf dem blutbefleckten Kontoauszug gestanden, den er in der Hand gehalten hatte.
Wallander blieb im Schatten stehen und betrachtete das Haus mit der Adresse Apelbergsgatan 10. Das oberste Stockwerk war dunkel. Dort hatte Falk gewohnt. In der Etage darunter brannte auch kein Licht. Aber im ersten Stock war ein Fenster erleuchtet. Wallander lief es kalt den Rücken hinunter. Dort war er einmal so betrunken in den Armen einer fremden Frau eingeschlafen, daß er nachher nicht einmal gewußt hatte, wo er war.
Er tastete nach den Dietrichen und zögerte. Was er jetzt tun wollte, war nicht nur ungesetzlich, sondern auch unnötig. Er konnte bis zum Morgen warten und Schlüssel für die Wohnung besorgen. Aber seine innere Unruhe trieb ihn weiter. Und die respektierte er. Sie stellte sich nur ein, wenn seine Intuition ihm sagte, daß etwas eilte.
Die Haustür war nicht verschlossen. Er hatte im Büro daran gedacht, eine Taschenlampe einzustecken. Das Treppenhaus war dunkel. Er horchte nach Geräuschen, bevor er vorsichtig die Treppe hinaufstieg. Er versuchte, sich an damals zu erinnern, als er hier gewesen war, in Begleitung der unbekannten Frau. Aber jede Erinnerung war verschwunden. Er erreichte den obersten Treppenabsatz. Es gab zwei Türen. Die rechte war Falks. Er horchte wieder, legte das Ohr an die linke Tür. Nichts. Dann steckte er die kleine Taschenlampe zwischen die Zähne und holte seine Dietriche heraus. Bei einer Sicherheitstür hätte er schon jetzt aufgeben müssen. Aber die Tür hatte nur ein gewöhnliches Patentschloß. Das paßt nicht zu dem, was seine Frau gesagt hat, dachte Wallander. Daß Falk beunruhigt gewesen sei und Feinde gehabt habe. Sie muß sich das eingebildet haben.
Er brauchte länger als erwartet, um die Tür zu öffnen. Vielleicht fehlte ihm nicht nur das Waffentraining. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seine Finger kamen ihm ungeschickt vor, die Dietriche ungewohnt. Aber schließlich bekam er das Schloß auf. Vorsichtig öffnete er die Tür und horchte. Einen Augenblick glaubte er Atemzüge zu hören, die ihm aus dem Dunkeln entgegenkamen. Dann waren sie fort. Er trat in den Flur und schloß die Tür leise hinter sich.
Das erste, was ihm auffiel, wenn er eine fremde Wohnung betrat, war immer der Geruch. Aber hier im Flur roch es nach gar nichts. Als sei die Wohnung neu gebaut und noch nicht bewohnt. Er prägte sich das Gefühl ein und begann, vorsichtig und mit der Taschenlampe in der Hand, durch die Wohnung zu gehen, jeden Moment gewärtig, daß trotz allem jemand dasein könnte. Als er sicher war, allein zu sein, stieg er aus den Schuhen und zog alle Gardinen zu, bevor er Licht machte.
Wallander befand sich im Schlafzimmer, als das Telefon klingelte. Er fuhr zusammen. Ein zweites Klingeln. Er hielt den Atem an. Dann schaltete sich in der Dunkelheit des Wohnzimmers ein Anrufbeantworter ein, und er hastete hinüber. Aber niemand sprach eine Nachricht aufs Band. Irgendwo wurde aufgelegt. Wer hatte angerufen? Mitten in der Nacht bei einem Toten?
Wallander trat an eins der Fenster, das auf die Straße hinausging. Er schaute vorsichtig durch den Spalt in der Gardine. Die Straße war verlassen. Er versuchte, mit dem Blick die Dunkelheit der Schatten zu durchdringen. Aber er sah niemanden.
Er begann mit dem Wohnzimmer, nachdem er eine Schreibtischlampe angeknipst hatte. Er stellte sich in die Mitte des Raumes und schaute sich um. Hier hat ein Mann namens Tynnes Falk gewohnt, dachte er. Die Erzählung, die von ihm handelt, beginnt mit einem aufgeräumten Wohnzimmer, in dem alles in bester Ordnung zu sein scheint, so fern jeder Art von Chaos, wie ein Raum nur sein kann. Ledergarnitur, Seestücke an den Wänden. An einer Wand ein Bücherregal.
Er trat an den Schreibtisch. Da stand ein alter Messingkompaß. Die grüne Schreibunterlage war leer. Neben einer antiken Öllampe aus Ton Bleistifte und Kugelschreiber in penibler Ordnung.
Wallander ging in die Küche. Auf der Spüle stand eine Kaffeetasse. Auf dem karierten Wachstuch des Küchentischs lag ein Block. Wallander machte Licht und las. Balkontür. Tynnes Falk und ich haben etwas gemeinsam, dachte er. Wir haben beide Notizblöcke in der Küche. Er ging ins Wohnzimmer zurück und öffnete die Balkontür. Sie ließ sich schwer wieder schließen. Tynnes Falk war nicht mehr dazu gekommen, sie zu reparieren. Wallander ging weiter ins Schlafzimmer. Das Doppelbett war gemacht. Er kniete sich auf den Boden und schaute darunter. Ein Paar Pantoffeln. Er öffnete den Kleiderschrank und zog die Schubladen eines Sekretärs heraus. Alles präsentierte sich wohlgeordnet. Er kehrte zum Schreibtisch im Wohnzimmer zurück. Unter dem Anrufbeantworter lag eine Anleitung. Er hatte daran gedacht, Plastikhandschuhe einzustecken. Als er sicher war, den blinkenden Anrufbeantworter abhören zu können, ohne die Nachrichten darauf zu löschen, drückte er auf die Wiedergabetaste.
Zuerst fragte jemand, der Janne hieß, wie es Falk gehe. Er nannte den Zeitpunkt seines Anrufs nicht. Danach folgten zwei Anrufe, bei denen nichts anderes zu hören war als ein Mensch, der atmete. Wallander hatte das Gefühl, daß es sich beide Male um dieselbe Person handelte. Der vierte Anruf kam von einem Schneider in Malmö, der Falk mitteilte, daß seine Hosen jetzt fertig seien. Wallander notierte sich den Namen der Schneiderei. Danach wieder ein Anruf von jemandem, der nur atmete. Das war der Anruf von gerade eben. Wallander hörte das Band noch einmal ab und fragte sich, ob Nyberg und seine Techniker wohl feststellen konnten, ob das Atmen von ein und derselben Person stammte.
Er legte die Anleitung zurück. Drei Fotos standen auf dem Schreibtisch. Zwei von ihnen stellten offenbar Falks Kinder dar. Ein Junge und ein Mädchen. Der Junge saß auf einem Stein in einer tropischen Landschaft und lächelte. Er mochte an die achtzehn Jahre alt sein. Wallander drehte das Foto um. Jan 1996. Amazonas. Also war es der Sohn, der auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Das Mädchen war jünger. Sie saß von Tauben umgeben auf einer Bank. Wallander drehte das Foto um. Ina, Venedig 1995. Das dritte Foto zeigte eine Gruppe von Männern, die vor einer weißen Mauer standen. Das Bild war unscharf. Wallander drehte es um, aber die Rückseite war leer. In der obersten Schreibtischschublade fand er ein Vergrößerungsglas. Er studierte die Gesichter der Männer. Sie waren unterschiedlichen Alters. Am linken Bildrand stand ein Mann mit asiatischem Aussehen. Wallander legte das Bild hin und versuchte nachzudenken. Aber nichts griff ineinander. Er steckte das Bild in die Jackentasche.
Dann hob er die Schreibunterlage an. Darunter lag ein Zeitungsausschnitt mit einem Kochrezept. Fischfondue. Er begann die Schubladen durchzugehen. Überall die gleiche mustergültige Ordnung. In der dritten Schublade lag ein dickes Buch. Wallander holte es heraus. »Logbuch« stand in Goldschrift auf dem Ledereinband. Wallander schlug es auf und blätterte zur letzten beschriebenen Seite. Am Sonntag, dem 5. Oktober, hatte Falk in dem Buch, das offenbar sein Tagebuch war, die letzten Eintragungen gemacht. Er notiert, daß der Wind nachgelassen hat und daß die Temperatur drei Grad plus beträgt. Außerdem klarer Himmel. Er hat die Wohnung geputzt. Es hat drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten gedauert, zehn Minuten weniger als am Sonntag davor.
Wallander legte die Stirn in Falten. Daß Falk die Putzzeit notiert hatte, fand er seltsam.
Dann las er die letzte Zeile: Am Abend kurzer Spaziergang.
Wallander war erstaunt. Falk war einige Minuten nach Mitternacht am 6. Oktober vor dem Geldautomaten gestorben. Bedeutete die Notiz, daß er schon einen Abendspaziergang hinter sich hatte? Und dann einen zweiten machte?
Wallander ging zurück zu den Aufzeichnungen vom 4. Oktober.
Samstag, der 4. Oktober 1997. Der Wind war den ganzen Tag böig. Laut Wetterdienst 8 – 10 Meter pro Sekunde. Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Temperatur um sechs Uhr früh sieben Grad. Um zwei Uhr war sie auf acht Grad gestiegen. Am Abend auf fünf gesunken. Der Weltraum ist heute öde und leer. Keine Nachrichten. C antwortet nicht. Alles ist ruhig.
Wallander las die letzten Sätze noch einmal. Er verstand sie nicht. Sie enthielten eine rätselhafte Botschaft. Er blätterte zurück. An jedem Tag hatte Falk die Wetterverhältnisse beschrieben. Und dann sprach er vom »Weltraum«. Manchmal war er leer. Manchmal nahm Falk Nachrichten entgegen. Aber was für Nachrichten das waren, konnte Wallander nicht erkennen. Schließlich klappte er das Buch zu.
Noch etwas war auffallend. Nirgendwo erwähnte der Mann, der dies geschrieben hatte, Personennamen. Nicht einmal die seiner Kinder.
Das Logbuch handelte insgesamt vom Wetter und von ausgebliebenen oder empfangenen Botschaften aus dem Weltraum. Dazwischen notiert er sich auf die Minute genau, wie lange er für sein sonntägliches Putzen gebraucht hat.
Wallander legte das Logbuch in die Schublade zurück.
Er fragte sich, ob Tynnes Falk noch ganz bei Trost gewesen war. Seine Aufzeichnungen machten den Eindruck, als stammten sie von einer manischen und verwirrten Person.
Wallander stand auf und trat wieder ans Fenster. Die Straße war immer noch leer. Es war schon nach ein Uhr.
Er kehrte zum Schreibtisch zurück und ging weiter die Schubladen durch. Tynnes Falk hatte eine Aktiengesellschaft besessen, in der er der einzige Aktionär war. In einer Mappe fand er eine Kopie der Gesellschaftssatzung. Tynnes Falk war als Berater mit der Einrichtung und Betreuung von Computersystemen tätig gewesen. Was das im einzelnen besagte, blieb Wallander unklar. Aber er stellte fest, daß Falk verschiedene Banken und sogar Sydkraft als Kunden hatte.
Nirgendwo fand er etwas Überraschendes.
Er schob die letzte Schublade zurück.
Tynnes Falk ist ein Mensch, der keine Spuren hinterläßt, dachte er. Alles ist mustergültig und unpersönlich, wohlgeordnet und undramatisch. Ich finde ihn nicht.
Wallander stand auf und studierte den Inhalt des Bücherregals. Es war eine Mischung aus Belletristik und Sachbüchern auf Schwedisch, Englisch und Deutsch. Es gab auch fast einen Regalmeter Lyrik. Wallander griff ein beliebiges Buch heraus. Die Seiten fielen von selbst auf. Das Buch war mehr als einmal gelesen worden. An einer anderen Stelle fand er dicke Bände über Religionsgeschichte und Philosophie. Aber auch Bücher über Astronomie und die Kunst des Lachsfischens. Er wandte sich vom Bücherregal ab und ging vor der Stereoanlage in die Knie. Tynnes Falks CD-Sammlung war sehr gemischt. Opern neben Bach-Kantaten. Sammelalben von Elvis Presley und Buddy Holly. Einspielungen von Geräuschen aus dem Weltraum und vom Meeresboden. In einem Ständer daneben fand Wallander noch eine Anzahl alter Langspielplatten. Er schüttelte verwundert den Kopf. Hier stand Siw Malmkvist neben dem Saxophonisten John Coltrane. Auf dem Videogerät lagen ein paar Videofilme. Einer handelte von Bären in Alaska, ein anderer war von der NASA herausgegeben und beschrieb die Challenger-Epoche in der Geschichte der amerikanischen Raumfahrt. Mitten im Stapel lag auch ein Porno-Video.
Wallander richtete sich wieder auf. Seine Knie schmerzten. Er kam nicht weiter. Einen neuen Zusammenhang hatte er nicht entdeckt. Dennoch war er davon überzeugt, daß es einen gab.
Auf irgendeine Weise hing der Mord an Sonja Hökberg mit dem Tod von Tynnes Falk zusammen.
Vielleicht gab es auch einen Zusammenhang mit Johan Lundberg?
Wallander zog die Fotografie heraus, die er eingesteckt hatte, und stellte sie zurück. Er wollte nicht, daß jemand von seinem nächtlichen Besuch erfuhr. Wenn Falks Frau einen Wohnungsschlüssel hatte und ihn und die Kollegen bei einer späteren Gelegenheit hereinließ, sollte sie nicht entdecken, daß etwas fehlte.
Wallander ging von Zimmer zu Zimmer und löschte das Licht. Dann zog er die Gardinen zurück. Er lauschte, bevor er vorsichtig die Tür öffnete. Die Dietriche hatten keine Kratzer hinterlassen.
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Draußen auf der Straße stand er einen Augenblick still und schaute sich um. Es war niemand da, die Stadt schlief. Er ging langsam in Richtung Zentrum. Es war fünf vor halb zwei.
Er bemerkte den Schatten nicht, der ihm lautlos in einiger Entfernung folgte.
13
Wallander wurde vom Klingeln des Telefons geweckt.
Er schreckte aus dem Schlaf, als habe er im Grunde nur dagelegen und auf das Klingeln gewartet. In dem Moment, in dem er zum Hörer griff, sah er zur Uhr. Viertel nach fünf.
Die Stimme im Telefon war ihm fremd. »Kurt Wallander?«
»Ja. Das bin ich.«
»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie geweckt haben sollte.«
»Ich war schon wach.«
Warum lügt man in einer solchen Situation? dachte Wallander. Ist es denn eine Schande, um fünf Uhr in der Frühe noch zu schlafen?
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen wegen des tätlichen Übergriffs auf Eva Persson.«
Wallander war im Nu hellwach. Er setzte sich im Bett auf. Der Mann am Telefon sagte seinen Namen und für welche Zeitung er arbeitete. Wallander dachte, daß er sofort darauf hätte kommen müssen. Daß es nur ein Journalist sein konnte, der ihn am frühen Morgen anrief. Er hätte nicht abnehmen dürfen. Wenn einer seiner Kollegen ihn in einer dringenden Angelegenheit erreichen wollte, würde er es über sein Handy versuchen. Die Nummer hatte er bisher vor Außenstehenden geheimhalten können.
Aber jetzt war es zu spät. Er mußte antworten. »Ich habe schon klargestellt, daß es kein Übergriff war.«
»Sie meinen also, ein Bild könne lügen?«
»Es sagt nicht die ganze Wahrheit.«
»Können Sie die nicht erzählen?«
»Nicht, solange eine Untersuchung läuft.«
»Irgend etwas müssen Sie doch sagen können!«
»Das habe ich bereits getan. Es war kein Übergriff.«
Damit legte er den Hörer auf und zog schnell den Stecker aus der Wand. Er sah schon die Überschrift vor sich: »Unser Reporter abgeblitzt. Polizist schweigt hartnäckig.« Er sank in die Kissen zurück. Die Straßenlampe vor dem Fenster schwankte im Wind. Das Licht, das durch die Gardine fiel, wanderte die Wand entlang.
Er hatte geträumt, als das Telefon klingelte. Die Bilder kehrten langsam in sein Bewußtsein zurück.
Es war im letzten Jahr gewesen, als er eine Reise in die Schären von Östergötland unternommen hatte. Er war eingeladen worden, einen Mann zu besuchen, der auf einer der Schären lebte und dort die Post beförderte. Sie waren sich während einer der schlimmsten Ermittlungen begegnet, mit denen Wallander je befaßt gewesen war. Nur zögernd hatte er die Einladung angenommen. Eines frühen Morgens war er auf einer der äußersten Schären, wo die Klippen wie versteinerte Urzeittiere aus dem Meer ragen, an Land gesetzt worden. Er war auf der kargen Schäre umhergewandert und hatte ein eigenartiges Empfinden von Klarsicht und Überblick erlebt. In Gedanken war er oft zu dieser einsamen Stunde zurückgekehrt, als das Boot draußen in der Bucht lag und wartete. Mehrfach hatte er seitdem das starke Bedürfnis gehabt, das Erlebnis von damals zu wiederholen.
Der Traum versucht mir etwas zu erzählen, dachte er. Ich weiß nur nicht, was.
Bis Viertel vor sechs blieb er im Bett liegen. Dann schloß er das Telefon wieder an. Das Thermometer vor dem Fenster zeigte drei Grad plus. Der Wind war böig. Während er seinen Kaffee trank, ging er alle Ereignisse in Gedanken noch einmal durch. Zwischen dem Überfall auf den Taxifahrer, Sonja Hökbergs Tod und dem Mann, dessen Wohnung er in der Nacht besucht hatte, war ein Zusammenhang aufgetaucht. Er ließ alles noch einmal Revue passieren. Was sehe ich nicht? dachte er. Es gibt eine Tiefenschicht, die ich nicht erkennen kann. Welche Fragen muß ich eigentlich stellen?
Um sieben gab er auf. Er war nicht weiter gekommen, als daß er das Wichtigste von allem eingekreist hatte: Eva Persson mußte dazu gebracht werden, die Wahrheit zu sagen. Warum hatten Sonja Hökberg und sie im Restaurant die Plätze getauscht? Wer war der Mann, der hereingekommen war? Warum hatten sie den Taxifahrer getötet? Wie hatte Eva Persson wissen können, daß ihre Freundin tot war? Mit diesen vier Fragen mußte er anfangen.
Er ging zum Präsidium hinauf. Es war kälter, als er angenommen hatte. Noch hatte er sich nicht an den Herbst gewöhnt. Er bereute, keinen wärmeren Pullover angezogen zu haben. Während er ging, merkte er, daß sein rechter Fuß naß wurde. Er blieb stehen und schaute unter den Schuh. Die Sohle hatte ein Loch. Die Entdeckung machte ihn rasend. Er mußte sich zusammenreißen, um sich nicht die Schuhe von den Füßen zu zerren und barfuß weiterzugehen.
Das also bleibt mir, dachte er. Nach all den Jahren Polizeiarbeit. Ein Paar kaputte Schuhe.
Ein Mann, der an ihm vorbeiging, schaute ihn verwundert an. Wallander hatte laut mit sich selbst geredet.
In der Anmeldung blieb er bei Irene stehen und fragte, wer schon gekommen sei. Martinsson und Hansson waren da. Wallander bat sie, beide in sein Zimmer zu schicken. Dann entschied er sich doch für eins der Besprechungszimmer. Und bat Irene gleichzeitig, Ann-Britt ebenfalls dahin zu schicken, wenn sie kam.
Martinsson und Hansson betraten gleichzeitig das Zimmer.
»Wie ist der Vortrag gelaufen?« fragte Hansson.
»Ach, scheiß drauf«, antwortete Wallander unwirsch und bereute sofort, daß er seine schlechte Laune an Hansson ausließ. »Ich bin müde«, entschuldigte er sich.
»Wer ist das nicht, verdammt?« gab Hansson zurück, »besonders, wenn man so was hier liest.«
Er hielt eine Tageszeitung in der Hand. Wallander dachte, daß er ihn sofort unterbrechen sollte. Sie hatten keine Zeit dafür, über etwas zu diskutieren, was Hansson in einer Zeitung gelesen hatte. Aber er sagte nichts, sondern setzte sich nur an seinen Platz.
»Die Justizministerin hat sich geäußert«, sagte Hansson. »‘Eine notwendige Umstrukturierung der Polizei und ihrer Aufgaben im Lande ist in Angriff genommen worden. Es handelt sich um eine Reform, die mit großen Belastungen einhergeht. Aber die Polizei ist jetzt auf dem richtigen Weg.«’
Hansson warf die Zeitung verbittert auf den Tisch.
»Auf dem richtigen Weg? Was meint sie damit, zum Henker? Wir drehen uns ständig im Kreis, ohne zu wissen, in welche Richtung wir uns wenden sollen. Am laufenden Band werden neue Prioritäten gesetzt. Im Moment sind es Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen, Verbrechen, in die Kinder verwickelt sind, und Wirtschaftskriminalität. Aber keiner weiß, welche Prioritäten morgen gelten sollen.«
»Das ist ja nicht das Problem«, wandte Martinsson ein. »Alles ändert sich so schnell, daß es schwerfällt zu sagen, was gerade nicht Priorität hat. Aber weil wir auch ständig kürzen müssen, sollte man uns gleichzeitig erklären, welche Bereiche wir schleifen lassen sollen.«
»Ich weiß«, sagte Wallander. »Aber ich weiß auch, daß wir hier in Ystad zur Zeit 1465 unaufgeklärte Fälle haben, und ich will nicht, daß es noch mehr werden.«
Er ließ die Handflächen auf die Tischplatte fallen, um zu signalisieren, daß die Klagestunde beendet war. Martinsson und Hansson hatten recht, niemand wußte das besser als er. Aber gleichzeitig wurde er von dem starken Willen beherrscht, die Zähne zusammenzubeißen und weiterzuarbeiten.
Vielleicht lag es daran, daß er allmählich so überarbeitet war, daß er nicht mehr die Energie aufbrachte, gegen die ständigen Veränderungen im Polizeiapparat, die in immer kürzeren Abständen eintraten, zu protestieren.
Ann-Britt Höglund kam herein. »Was für ein Sturm«, sagte sie, während sie sich die Jacke auszog.
»Es ist Herbst«, sagte Wallander. »Fangen wir an. Gestern abend ist etwas passiert, was unsere Ermittlung auf ziemlich dramatische Weise verändert.«
Er nickte Martinsson zu, der von Tynnes Falks verschwundener Leiche berichtete.
»Das ist immerhin mal etwas Neues«, sagte Hansson, nachdem Martinsson geendet hatte. »Eine verschwundene Leiche haben wir bisher nicht gehabt. An ein Gummifloß erinnere ich mich, aber nicht an eine Leiche.«
Wallander verzog das Gesicht. Auch er erinnerte sich, wie das Gummifloß, das in Mossby Strand angetrieben worden war, auf noch immer ungeklärte Weise aus dem Polizeipräsidium verschwunden war.
Ann-Britt sah ihn an.
»Es müßte demnach ein Zusammenhang bestehen zwischen diesem Mann, der an dem Geldautomaten starb, und dem Mord an Lundberg? Das ist doch vollkommen absurd.«
»Ja«, gab Wallander zurück. »Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als von jetzt an auch von dieser Möglichkeit auszugehen. Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß dies keine leichte Ermittlung wird. Wir dachten, wir hätten einen ungewöhnlich brutalen, aber immerhin aufgeklärten Mord an einem Taxifahrer. Dann mußten wir erleben, wie sich der Fall ausweitete. Als es Sonja Hökberg gelang zu fliehen und wir sie tot in dieser Transformatorstation fanden. Wir wußten, daß ein Mann einen Herzinfarkt bekommen hatte und vor einem Geldautomaten tot zusammengebrochen war. Aber das hatten wir abgeschrieben, weil nichts auf ein Verbrechen deutete. Dann verschwindet die Leiche. Und jemand läßt ein Hochspannungsrelais auf der leeren Bahre zurück.«
Wallander brach ab und dachte an die vier Fragen, die er am Morgen formuliert hatte. Jetzt sah er ein, daß sie eigentlich an einer ganz anderen Stelle anfangen mußten.
»Jemand dringt in ein Leichenschauhaus ein und entwendet eine Leiche. Wir können nicht sicher sein, aber wir können vermuten, daß dieser Jemand etwas vertuschen will. Gleichzeitig wird das Relais zurückgelassen. Es ist nicht vergessen worden, es ist nicht aus Versehen dort gelandet. Die Person, die die Leiche entwendete, wollte, daß wir es finden.«
»Was wiederum nur eins bedeuten kann«, sagte Ann-Britt.
Wallander nickte. »Jemand will, daß wir zwischen Sonja Hökberg und Tynnes Falk eine Beziehung sehen.«
»Kann das nicht eine falsche Fährte sein?« wandte Hansson ein. »Jemand, der von dem verbrannten Mädchen gelesen hat.«
»Wenn ich die Kollegen in Malmö richtig verstanden habe«, sagte Martinsson, »war das Relais schwer. So etwas trägt man nicht einfach in der Aktenmappe mit sich herum.«
»Laßt uns Schritt für Schritt vorgehen«, unterbrach Wallander. »Nyberg muß untersuchen, ob das Relais von unserer Transformatorstation kommt. Wenn das der Fall ist, sehen wir klarer.«
»Nicht unbedingt«, meinte Ann-Britt. »Es kann doch eine symbolische Spur sein.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist so, wie ich denke.«
Martinsson rief Nyberg an, während die anderen Kaffee holten. Wallander erzählte von dem Journalisten, der angerufen und ihn geweckt hatte.
»Das legt sich bald«, sagte Ann-Britt.
»Ich hoffe, du hast recht. Aber sicher bin ich mir ganz und gar nicht.«
Sie kehrten ins Sitzungszimmer zurück.
»Eins noch«, sagte Wallander. »Eva Persson. Es spielt keine Rolle mehr, daß sie minderjährig ist. Jetzt muß sie ernsthaft verhört werden. Das soll Ann-Britt übernehmen. Du weißt, welches die wichtigen Fragen sind. Und gib nicht nach, bevor du eine richtige Antwort bekommen hast statt Ausflüchten.«
___________
Sie verbrachten noch eine Stunde mit der weiteren Planung der Ermittlungsarbeit. Wallander merkte, daß seine Erkältung schon vorüber war. Seine Kräfte kehrten zurück. Um kurz nach halb zehn brachen sie auf. Hansson und Ann-Britt verschwanden den Korridor hinunter. Wallander und Martinsson wollten einen Besuch in Tynnes Falks Wohnung machen. Wallander war versucht zu verraten, daß er schon dagewesen war, unterließ es aber. Es war immer seine Schwäche gewesen, die Kollegen nicht über alle Schritte, die er tat, zu informieren. Aber er hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, an dieser Eigenart noch etwas ändern zu können.
Während Martinsson versuchte, Schlüssel für Tynnes Falks Wohnung zu beschaffen, ging Wallander mit der Zeitung, die Hansson vorher auf den Tisch geknallt hatte, in sein Zimmer. Er blätterte sie durch, um zu sehen, ob etwas über ihn darinstand. Das einzige, was er fand, war eine kleine Meldung, daß ein Polizeibeamter mit langjähriger Berufserfahrung des tätlichen Übergriffs gegen eine Minderjährige verdächtigt werde. Sein Name wurde nicht genannt, aber seine Empörung wallte wieder auf.
Er wollte die Zeitung gerade fortlegen, als sein Blick auf eine Seite mit Kontaktanzeigen fiel. Zerstreut begann er zu lesen. Eine geschiedene Frau, die vor kurzem fünfzig geworden war, fühlte sich einsam, nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Sie gab Reisen und klassische Musik als ihre Lieblingsinteressen an. Wallander versuchte, sie sich vorzustellen, doch das einzige Gesicht, das er vor sich sah, gehörte einer Frau namens Erika. Er hatte sie im Jahr zuvor in einem Café in der Nähe von Västervik getroffen. Dann und wann hatte er an sie gedacht, ohne eigentlich zu wissen, warum. Irritiert warf er die Zeitung in den Papierkorb. Aber kurz bevor Martinsson hereinkam, holte er sie wieder heraus, riß die Seite heraus und legte sie in eine Schreibtischschublade.
»Seine Frau kommt mit den Schlüsseln«, sagte Martinsson. »Machen wir einen Spaziergang oder fahren wir?«
»Wir fahren. Ich habe ein Loch im Schuh.«
Martinsson betrachtete ihn interessiert. »Was würde wohl der Reichspolizeichef dazu sagen?«
»Wir haben doch schon Fußstreifen wiedereingeführt«, erwiderte Wallander. »Als nächstes sind vielleicht Barfußpolizisten dran.«
Sie verließen das Präsidium in Martinssons Wagen.
»Wie fühlst du dich?« fragte Martinsson.
»Ich bin sauer«, antwortete Wallander. »Man glaubt, man könnte sich daran gewöhnen, aber man tut es nicht. Mir ist in meinen Jahren bei der Polizei schon so gut wie alles vorgeworfen worden. Vielleicht mit Ausnahme von Faulheit. Man glaubt, man habe sich ein dickes Fell zugelegt, aber das stimmt nicht. Zumindest nicht so, wie man es sich gewünscht hätte.«
»Hast du das ernst gemeint, was du gestern gesagt hast?«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Daß du aufhörst, wenn du eine Abmahnung bekommst.«
»Ich weiß nicht. Im Moment bin ich nicht in der Lage, auch nur daran zu denken.«
Sie hielten vor dem Haus Apelbergsgatan 10. Eine Frau stand neben einem Wagen und wartete auf sie.
»Marianne Falk«, sagte Martinsson. »Sie hat nach der Scheidung seinen Namen beibehalten.«
Martinsson wollte gerade aussteigen, als Wallander ihn zurückhielt. »Weiß sie, was passiert ist? Daß die Leiche verschwunden ist?«
»Jemand hat offensichtlich daran gedacht, sie zu unterrichten.«
»Welchen Eindruck machte sie, als du sie anriefst? War sie erstaunt?«
Martinsson dachte einen Moment nach. »Ich glaube nicht.«
Sie stiegen aus. Die elegant gekleidete Frau, die dort im heftigen Wind stand, war groß und schlank und erinnerte Wallander vage an Mona. Sie begrüßten sich. Wallander hatte das Gefühl, daß sie nervös war. Seine Wachsamkeit war sofort geweckt.
»Hat man den Körper gefunden? Wie kann so etwas passieren?«
Wallander ließ Martinsson antworten.
»Es ist natürlich bedauerlich, daß so etwas geschieht.«
»Bedauerlich? Es ist empörend. Wofür haben wir eigentlich die Polizei?«
»Das kann man sich fragen«, unterbrach Wallander. »Aber nicht gerade jetzt.«
Sie gingen ins Haus und die Treppe hinauf. Wallander beschlich ein ungutes Gefühl. Hatte er am Abend zuvor vielleicht doch etwas in der Wohnung vergessen?
Marianne Falk ging voran.
Als sie die oberste Etage erreichten, blieb sie wie angewurzelt stehen und zeigte auf die Tür. Martinsson befand sich unmittelbar hinter ihr. Wallander schob ihn zur Seite. Da sah er es: Die Wohnungstür stand offen. Das Schloß, das er am Abend zuvor so mühsam mit seinen Dietrichen geöffnet hatte, ohne einen Kratzer zu hinterlassen, war mit einem kräftigen Stemmeisen aufgebrochen worden. Die Tür war angelehnt. Er lauschte. Martinsson stand direkt neben ihm. Sie hatten beide keine Waffe bei sich. Wallander zögerte. Er machte Zeichen, daß sie hinunter in die untere Etage gehen sollten.
»Es kann jemand in der Wohnung sein«, sagte er leise. »Es ist besser, wir holen Verstärkung.«
Martinsson holte sein Handy heraus.
»Ich möchte Sie bitten, unten im Wagen zu warten«, sagte Wallander zu Marianne Falk.
»Was ist denn los?«
»Tun Sie bitte, was ich Ihnen sage. Warten Sie im Wagen.«
Sie ging die Treppe hinunter. Martinsson sprach mit dem Präsidium.
»Sie kommen.«
Sie warteten reglos im Treppenhaus. Aus der Wohnung war nichts zu hören.
»Ich habe gesagt, sie sollen ohne Sirenen kommen«, flüsterte Martinsson.
Wallander nickte.
Nach acht Minuten kam Hansson mit drei Polizisten die Treppe herauf. Er hatte eine Waffe bei sich.
Wallander lieh sich von einem der anderen eine Pistole. »Also los«, sagte er.
Sie gingen auf der Treppe und vor der Tür in Stellung. Wallander merkte, daß seine Hand, die die Waffe hielt, zitterte. Er hatte Angst. Die gleiche Angst, die er stets empfand, wenn er sich in eine Situation begab, in der so gut wie alles passieren konnte. Er suchte Blickkontakt mit Hansson. Dann schob er mit der Fußspitze vorsichtig die Tür auf und rief in die Wohnung hinein. Es kam keine Antwort. Er rief noch einmal. Als die Tür hinter ihm geöffnet wurde, fuhr er zusammen. Eine ältere Frau schaute vorsichtig heraus. Martinsson drängte sie in ihre Wohnung zurück. Wallander rief zum drittenmal, ohne Antwort zu bekommen.
Dann gingen sie hinein.
Die Wohnung war leer. Aber es war nicht mehr die Wohnung, die er am Abend zuvor besucht und von der er als erstes den Eindruck pedantischer Ordnung gewonnen hatte. Jetzt waren Schubladen herausgezogen und ausgekippt. Die Bilder hingen schief, und die Plattensammlung lag auf dem Boden verstreut.
»Es ist niemand hier«, sagte er. »Aber Nyberg und seine Leute sollen so schnell wie möglich kommen. Bis dahin soll hier niemand unnötig herumlaufen.«
Hansson und die anderen Polizisten verschwanden. Martinsson ging, um mit den Nachbarn zu sprechen. Wallander stand einen Augenblick vollkommen still in der Türöffnung zum Wohnzimmer. Wie oft er schon eine Wohnung vor sich gehabt hatte, in die eingebrochen worden war, wußte er nicht. Ohne daß er sagen konnte, woran es lag, dachte er, daß dies hier anders war. Er ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Es fehlte etwas. Langsam ließ er seinen Blick noch einmal zurückwandern. Als er zum zweitenmal den Schreibtisch betrachtete, entdeckte er, was fehlte. Er zog die Schuhe aus und ging zum Schreibtisch.
Das Foto war fort. Das Gruppenbild. Die Männer, die im hellen Sonnenlicht vor einer weißen Mauer standen, einer von ihnen ein Asiat. Sorgfältig suchte er zwischen den Papieren, die über den Boden verstreut waren. Das Bild war fort.
Im gleichen Augenblick merkte er, daß noch etwas verschwunden war. Das Logbuch, in dem er am Abend zuvor geblättert hatte.
Er tat einen Schritt zurück und holte tief Luft. Jemand wußte davon, daß ich hier war, dachte er. Jemand hat mich kommen und gehen sehen.
War er aus einer instinktiven Ahnung heraus zweimal ans Fenster getreten und hatte auf die Straße hinuntergespäht? Es war jemand dagewesen, den er nicht entdeckt hatte. Jemand, der sich tief im Schatten versteckt hatte.
Martinsson unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Die Nachbarin ist Witwe und heißt Håkansson. Sie hat nichts gehört und nichts gesehen.«
Wallander dachte an die Nacht, die er einmal in betrunkenem Zustand eine Etage tiefer verbracht hatte.
»Sprich mit allen Hausbewohnern. Vielleicht hat jemand etwas beobachtet.«
»Können wir nicht jemand anderen dafür einteilen? Ich habe ziemlich viel zu tun.«
»Es ist wichtig, daß es ordentlich gemacht wird. Hier wohnen ja nicht viele Leute.«
Martinsson verschwand. Wallander wartete.
Nach zwanzig Minuten erschien ein Kriminaltechniker. »Nyberg ist unterwegs«, sagte er. »Er hatte noch etwas Wichtiges draußen an der Transformatorstation zu erledigen.«
Wallander nickte. »Der Anrufbeantworter«, sagte er dann. »Ich will wissen, was darauf ist. Alles.«
Der Polizist nickte.
»Macht eine Videoaufnahme von dem Ganzen«, fuhr Wallander fort. »Ich will diese Wohnung bis ins kleinste Detail dokumentiert haben.«
»Sind die Leute, die hier wohnen, verreist?« fragte der Polizist.
»Hier wohnte der Mann, der vor ein paar Nächten an dem Geldautomaten starb«, antwortete Wallander. »Es ist wichtig, daß ihr hier sehr gründlich arbeitet.«
Er verließ die Wohnung und ging hinunter auf die Straße. Der Himmel war jetzt wolkenlos. Marianne Falk saß in ihrem Wagen und rauchte.
Als sie Wallander erblickte, stieg sie aus. »Was ist passiert?«
»Einbruch.«
»Wie kann man nur so dreist sein und in eine Wohnung einbrechen, deren Mieter gerade gestorben ist.«
»Ich weiß, daß Sie geschieden waren«, sagte Wallander. »Aber kannten Sie seine Wohnung?«
»Wir hatten ein gutes Verhältnis. Ich habe ihn häufig besucht.«
»Ich möchte Sie bitten, später am Tag wieder herzukommen«, sagte Wallander. »Wenn die Techniker fertig sind, können wir gemeinsam durch die Wohnung gehen. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf, vielleicht fehlt etwas.«
Ihre Antwort kam sehr entschieden. »Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich war viele Jahre mit ihm verheiratet. In der Zeit kannte ich ihn ziemlich gut. Aber danach nicht mehr.«
»Was war denn vorgefallen?«
»Nichts. Aber er veränderte sich.«
»Auf welche Weise?«
»Ich wußte nicht mehr, was er dachte.«
Wallander betrachtete sie nachdenklich. »Trotzdem sollten sie sehen können, ob etwas in seiner Wohnung fehlt. Sie haben gerade gesagt, Sie hätten ihn häufig besucht.«
»Ein Bild oder eine Lampe, die fehlen, würden mir vielleicht auffallen. Aber sonst nichts. Tynnes hatte viele Geheimnisse.«
»Was meinen Sie damit?«
»Kann man damit mehr meinen als das, was es heißt? Ich wußte weder, was er dachte, noch, was er tat. Ich habe das schon bei unserem Telefongespräch zu erklären versucht.«
Wallander erinnerte sich daran, daß er am Abend zuvor in dem Logbuch gelesen hatte.
»Wissen Sie, ob Ihr Mann Tagebuch führte?«
»Ich bin sicher, daß er das nicht tat.«
»Nie?«
»Nie.«
Soweit stimmt es, dachte Wallander. Sie wußte nicht, was ihr Mann machte. Jedenfalls nicht, daß er Tagebuch führte.
»Hat Ihr früherer Mann sich für den Weltraum interessiert?«
Ihre Verwunderung wirkte ganz und gar echt. »Warum hätte er das sollen?«
»Ich frage nur.«
»Als wir jung waren, haben wir vielleicht dann und wann zum Sternenhimmel aufgeschaut. Aber später nicht mehr.«
Wallander lenkte das Gespräch in eine neue Richtung. »Sie sagten, Ihr früherer Mann habe viele Feinde gehabt. Und er sei beunruhigt gewesen.«
»Das hat er mir jedenfalls gesagt.«
»Was genau hat er gesagt?«
»Daß solche wie er Feinde hätten.«
»Das war alles?«
»Ja.«
»›Solche wie ich haben Feinde‹?«
»Ja.«
»Was meinte er damit?«
»Ich habe schon gesagt, daß ich ihn nicht mehr kannte.«
Ein Wagen bremste an der Bordsteinkante, und Nyberg stieg aus. Wallander beschloß, das Gespräch mit Frau Falk fürs erste zu beenden. Er notierte ihre Telefonnummer und sagte, er werde im Lauf des Tages von sich hören lassen.
»Eine letzte Frage noch. Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum jemand seine Leiche entwenden sollte?«
»Natürlich nicht.«
Wallander nickte. Für den Augenblick hatte er keine Fragen mehr.
Nachdem sie in ihren Wagen gestiegen war und zurückgesetzt hatte, trat Nyberg zu ihm. »Was ist denn hier los?«
»Ein Einbruch.«
»Haben wir dafür im Moment Zeit?«
»Es hängt irgendwie mit den anderen Fällen zusammen. Aber gerade jetzt interessiert mich am meisten, was du da draußen gefunden hast.«
Nyberg schneuzte sich in die Faust, bevor er antwortete.
»Du hattest recht. Als die Kollegen aus Malmö mit diesem Relais ankamen, war der Fall klar. Die Monteure konnten uns zeigen, wo es gesessen hatte.«
Wallander spürte die Spannung.
»Kein Zweifel?«
»Nicht der geringste.«
Nyberg verschwand durch die Haustür. Wallander blickte über die Straße, hinüber zu den Kaufhäusern und dem Geldautomaten.
Der Zusammenhang zwischen Tynnes Falk und Sonja Hökberg war bestätigt worden. Aber was das bedeutete, verstand Wallander ganz und gar nicht.
Langsam machte er sich auf den Weg zum Präsidium. Doch nach wenigen Metern beschleunigte er das Tempo.
14
Nach der Rückkehr ins Polizeipräsidium widmete sich Wallander dem Versuch, in dem Wust von Details, die sich angehäuft hatten, eine provisorische Ordnung zu schaffen. Aber die verschiedenen Handlungsstränge befanden sich sozusagen im freien Fall. Sie stießen aneinander und verloren sich wieder in verschiedene Richtungen.
Kurz vor elf ging er zur Toilette und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Auch das war eine Angewohnheit, die Rydberg ihm beigebracht hatte.
Es gibt nichts Besseres, wenn die Ungeduld überhandnimmt. Nichts Besseres als kaltes Wasser.
Anschließend ging er weiter zum Eßraum, um sich Kaffee zu holen. Wie so oft war der Kaffeeautomat defekt. Martinsson hatte bei einer früheren Gelegenheit vorgeschlagen, sie sollten sich mit der Bitte um Spenden für einen neuen Kaffeeautomaten an die Allgemeinheit wenden. Mit dem Argument, daß ohne ungehinderten Zugang zu Kaffee keine sinnvolle Polizeiarbeit möglich sei. Wallander betrachtete mißmutig den Apparat und erinnerte sich daran, daß in einer seiner Schreibtischschubladen noch eine Dose Pulverkaffee sein mußte. Er ging zu seinem Zimmer und durchsuchte den Schreibtisch. Schließlich fand er den Kaffee, ganz hinten, zusammen mit einer Schuhbürste und zwei kaputten alten Handschuhen.
Dann stellte er eine Liste der verschiedenen Ereignisse auf. Am Rand hielt er den zeitlichen Ablauf fest. Seine Gedanken waren darauf gerichtet, die Oberfläche der Ereignisse zu durchdringen. Er war inzwischen sicher, daß es mehrere Schichten in dem Ganzen gab. An die unterste mußten sie herankommen.
Am Ende saß er mit einer Geschichte da, die sich wie ein böses Märchen las. Zwei Mädchen gehen eines Abends in ein Restaurant und trinken Bier. Das eine Mädchen ist so jung, daß ihm überhaupt kein Bier hätte ausgeschenkt werden dürfen. Im Laufe des Abends tauschen sie die Plätze. Das geschieht zur gleichen Zeit, als ein Mann mit asiatischem Aussehen das Lokal betritt und sich an einen der Tische setzt. Dieser Mann bezahlt mit einer falschen Kreditkarte, die auf eine Person mit Namen Fu Cheng, wohnhaft in Hongkong, ausgestellt ist.
Nach einigen Stunden bestellen die Mädchen ein Taxi, geben als Ziel Rydsgård an und erschlagen unterwegs den Taxifahrer. Sie berauben ihn und gehen anschließend nach Hause, jede zu sich. Als sie festgenommen werden, gestehen sie auf der Stelle, nehmen gemeinsam die Schuld auf sich und nennen als Motiv Geldbedarf. Das ältere der beiden Mädchen flieht in einem unbewachten Augenblick aus dem Polizeipräsidium. Später wird sie verbrannt in einer Transformatorstation in der Nähe von Ystad gefunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie ermordet worden. Die Transformatorstation ist wichtig für die Stromversorgung eines großen Teils von Schonen. Als Sonja Hökberg stirbt, gehen von Trelleborg bis Kristianstad die Lichter aus. Zur gleichen Zeit ändert das zweite Mädchen seine Geschichte. Es widerruft sein Geständnis.
Parallel zu diesen Ereignissen verläuft eine Nebenhandlung. Es ist denkbar, daß diese Nebenhandlung die eigentlich entscheidende ist, das Zentrum, das wir suchen. Ein alleinstehender Computerberater namens Tynnes Falk putzt während einiger Stunden am Sonntag seine Wohnung und macht dann einen oder eventuell den zweiten Abendspaziergang. In der Nacht wird er vor einem Geldautomaten in der Nähe seiner Wohnung tot aufgefunden. Nach einer vorläufigen Untersuchung des Fundorts und aufgrund des gerichtsmedizinischen Gutachtens wird der Verdacht auf ein Verbrechen abgeschrieben. Später wird seine Leiche aus dem Leichenschauhaus entwendet, und ein elektrisches Relais, das aus der Transformatorstation bei Ystad stammt, wird auf der Bahre gefunden. Bei einem nachfolgenden Einbruch in die Wohnung des Mannes verschwinden zumindest ein Tagebuch und ein Foto.
Am Rande dieser Ereignisse, als einer der Männer auf diesem Foto und als Gast an einem Restauranttisch, figuriert ein asiatischer Mann.
Wallander las noch einmal, was er geschrieben hatte. Er wußte natürlich, daß es noch zu früh war, auch nur vorläufige Schlußfolgerungen zu ziehen. Dennoch tat er es. Bei der Zusammenstellung des Materials war ihm plötzlich etwas aufgefallen, woran er bis dahin nicht gedacht hatte.
Der Grund für Sonja Hökbergs Ermordung mußte sein, daß jemand sie daran hindern wollte zu sprechen. Tynnes Falks Körper war entwendet worden, um etwas zu verbergen. Das war ein gemeinsamer Nenner. Beide Ereignisse waren von dem Bedürfnis bestimmt, etwas zu verbergen.
Die Frage lautet also, was verborgen werden soll, dachte Wallander. Und von wem.
Er tastete sich vor, langsam und vorsichtig, als bewege er sich auf vermintem Gelände. Von Rydberg hatte er gelernt, daß Ereignisse nicht unbedingt nach ihrem chronologischen Verlauf gedeutet werden konnten. Das Wichtigste konnte ebensogut zuerst wie zuletzt geschehen. Oder irgendwo dazwischen.
Wallander wollte seine Notizen gerade zur Seite schieben, als ihm noch etwas in den Sinn kam. Zunächst wußte er nicht genau, was es war. Dann fiel es ihm ein. Erik Hökberg hatte von der Verwundbarkeit der Gesellschaft gesprochen. Wallander nahm sich seine Aufzeichnungen noch einmal vor. Was geschah, wenn er die Transformatorstation ins Zentrum rückte? Jemand hatte mit Hilfe eines menschlichen Körpers einen Stromausfall in großen Teilen Schonens verursacht. Die Verdunklung war umfassend gewesen und konnte als Sabotageakt seitens eines Menschen gedeutet werden, der wußte, wo er zuschlagen mußte. Und warum war das Relais auf der Bahre zurückgelassen worden? Die einzig sinnvolle Erklärung war, daß jemand den Zusammenhang zwischen Sonja Hökberg und Tynnes Falk als ganz eindeutig erscheinen lassen wollte. Aber was besagte das eigentlich?
Irritiert schob Wallander seine Papiere beiseite. Es war zu früh für mögliche Interpretationen. Sie mußten weitersuchen, unvoreingenommen und gründlich.
Er trank seinen Kaffee, während er geistesabwesend mit seinem Stuhl balancierte. Dann zog er die herausgerissene Zeitungsseite hervor und las weiter in den Kontaktanzeigen. Wie würde meine eigene Anzeige aussehen? dachte er. Wer würde sich eigentlich für einen fünfzigjährigen Kriminalbeamten interessieren, der an Diabetes leidet und immer weniger Lust zu seiner Arbeit hat? Der weder etwas für Waldspaziergänge noch Abende am Kamin oder Segeln übrig hat?
Er legte die Zeitungsseite fort und fing an zu schreiben:
Fünfzigjähriger Kriminalbeamter, geschieden, erwachsene Tochter, möchte aus seiner Einsamkeit ausbrechen. Aussehen und Alter spielen keine Rolle. Aber du solltest häuslich sein und gerne Opern hören. Antwort an »Kripo 97«.
Alles Lüge, dachte er. Das Aussehen spielt eine große Rolle. Und ich will auch gar nicht aus meiner Einsamkeit ausbrechen. Ich suche Gemeinsamkeit. Das ist etwas ganz anderes. Ich möchte eine Frau, mit der ich schlafen kann, eine, die dann da ist, wenn ich es will. Und eine, die mich in Frieden läßt, wenn ich allein sein will. Er zerriß das Blatt und fing von vorne an. Diesmal wurde die Anzeige übertrieben aufrichtig: Fünfzigjähriger Kriminalbeamter, Diabetiker und geschieden, erwachsene Tochter, sucht Partnerin für gelegentliche Zweisamkeit. »Du« sollst hübsch sein, eine gute Figur und Interesse an Erotik haben. Antwort unter »Alter Hund«.
Wer würde wohl auf so etwas antworten? dachte er. Bestimmt keine, die noch bei Verstand war.
Er blätterte um und fing noch einmal an. Fast sofort wurde er von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Zwölf Uhr schon. Es war Ann-Britt. Zu spät merkte er, daß die Kontaktanzeigen noch auf dem Tisch lagen. Er riß die Zeitungsseite an sich und stopfte sie in den Papierkorb. Aber sie hatte bestimmt bemerkt, womit er sich beschäftigt hatte. Das ärgerte ihn.
Ich werde nie eine Kontaktanzeige schreiben, dachte er wütend. Die Gefahr besteht, daß so eine wie Ann-Britt darauf antwortet.
Sie sah müde aus. »Ich bin gerade erst mit Eva Persson fertig geworden«, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Wallander schob alle Gedanken an Kontaktanzeigen beiseite. »Und wie war sie?«
»Sie hat ihre Geschichte nicht geändert. Sie bleibt dabei, daß Sonja Hökberg allein Lundberg erschlagen und erstochen hat.«
»Ich habe gefragt, wie sie war.«
Ann-Britt dachte nach, bevor sie antwortete. »Sie war anders. Sie wirkte besser vorbereitet.«
»Woran hast du das gemerkt?«
»Sie redete schneller. Viele ihrer Antworten machten den Eindruck, vorher zurechtgelegt worden zu sein. Erst als ich anfing, Fragen zu stellen, die sie nicht erwartet hatte, kehrte diese träge Gleichgültigkeit zurück. Damit schützt sie sich. Gibt sich selbst Zeit zum Nachdenken. Ob sie besonders clever ist, weiß ich nicht, aber verwirrt ist sie kaum. An ihren Lügen hält sie fest. Ich habe sie nicht einmal dabei ertappt, daß sie sich widersprach, obwohl wir zwei Stunden zusammengesessen haben. Das ist ziemlich beachtlich.«
Wallander zog seinen Notizblock heran. »Wir nehmen jetzt nur das Wichtigste, deine Eindrücke. Den Rest kann ich lesen, wenn die Abschrift fertig ist.«
»Für mich ist es vollkommen klar, daß sie lügt. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie eine Vierzehnjährige so verhärtet sein kann.«
»Weil sie ein Mädchen ist?«
»Es ist noch immer selten, daß Jungen so hart sind.«
»Es ist dir also nicht gelungen, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen?«
»Im Grunde nicht. Sie bleibt dabei, daß sie nicht mitgemacht hat. Und daß sie Angst vor Sonja Hökberg hatte. Ich versuchte, aus ihr herauszubekommen, warum sie Angst hatte. Aber das funktionierte nicht. Das einzige, was sie gesagt hat, war, daß Sonja sehr hart gewesen sei.«
»Womit sie sicher recht hat.«
Ann-Britt blätterte in ihren Aufzeichnungen. »Sie bestritt, daß Sonja angerufen habe, nachdem sie aus dem Präsidium abgehauen war. Es habe sich auch sonst niemand gemeldet.«
»Wann hat sie von Sonjas Tod erfahren?«
»Ihre Mutter war von Erik Hökberg angerufen worden und hat es ihr gesagt.«
»Aber Sonjas Tod muß sie erschüttert haben.«
»Das behauptet sie. Aber anmerken konnte ich ihr nichts. Obwohl sie natürlich erstaunt tat. Aber sie hat nicht die leiseste Ahnung, was Sonja bei dieser Transformatorstation gewollt hat. Und sie kann sich auch nicht vorstellen, wer sie hingefahren hat.«
Wallander stand auf und trat ans Fenster. »Hat sie wirklich überhaupt nicht reagiert? Kein Zeichen von Trauer oder Schmerz?«
»Wie ich schon gesagt habe. Sie ist kontrolliert und kalt. Viele Antworten waren zurechtgelegt, andere waren reine Lügen. Aber ich hatte den Eindruck, daß sie ganz und gar nicht verwundert war über das, was geschehen ist. Obwohl sie das Gegenteil behauptet.«
»Hattest du den Eindruck, daß sie fürchtete, ihr könnte selbst etwas passieren?«
»Nein. Ich habe auch daran gedacht. Was mit Sonja passiert ist, hat ihr, was sie selbst betrifft, keine Angst eingejagt.«
Wallander kehrte an den Tisch zurück. »Nehmen wir einmal an, es stimmt. Was besagt das?«
»Daß Eva Persson vielleicht teilweise doch die Wahrheit sagt. Nicht, was den Mord an Lundberg angeht. Daß sie daran beteiligt war, davon bin ich überzeugt. Aber daß sie vielleicht wirklich nicht viel darüber wußte, was Sonja Hökberg sonst noch getrieben hat.«
»Und was sollte das sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Warum haben sie im Restaurant die Plätze getauscht?«
»Weil Sonja fand, daß es zog. Das wiederholt sie steif und fest.«
»Und der Mann im Hintergrund?«
»Sie bleibt dabei, niemanden gesehen zu haben. Sie hat auch nicht bemerkt, daß Sonja mit jemand außer ihr Kontakt hatte.«
»Und sie hat auch nichts gesehen, als sie das Restaurant verließen?«
»Nein. Das kann auch stimmen. Ich glaube nicht, daß man Eva Persson den Vorwurf machen kann, besonders aufmerksam zu sein.«
»Hast du sie gefragt, ob sie Tynnes Falk kannte?«
»Sie behauptet, den Namen nie gehört zu haben.«
»Und war das die Wahrheit?«
Ann-Britt zögerte mit der Antwort. »Vielleicht war da eine Andeutung von Unsicherheit. Ich kann es nicht genau sagen.«
Ich hätte das Verhör selbst führen sollen, dachte Wallander ergeben. Ich hätte es gemerkt, wenn Eva Persson unsicher gewesen wäre.
Ann-Britt schien seine Gedanken zu lesen. »Ich habe nicht soviel Erfahrung wie du. Ich wünschte, ich könnte dir eine bessere Antwort geben.«
»Früher oder später bekommen wir es raus. Wenn der Haupteingang verschlossen ist, muß man es durch die Hintertür versuchen.«
»Ich versuche, die Zusammenhänge zu verstehen«, sagte Ann-Britt. »Aber ich sehe noch keinen.«
»Es wird seine Zeit dauern«, sagte Wallander. »Fragt sich, ob wir nicht Hilfe benötigen. Wir sind viel zu wenige. Auch wenn wir dies natürlich vorrangig behandeln und alles andere liegenlassen.«
Ann-Britt betrachtete ihn verwundert. »Früher hast du immer darauf bestanden, daß wir unsere Ermittlungen allein durchführen. Hast du deine Meinung geändert?«
»Vielleicht.«
»Weiß eigentlich jemand, was die Umstrukturierung, die gerade läuft, beinhaltet? Ich jedenfalls nicht.«
»Etwas wissen wir trotzdem«, wandte Wallander ein. »Der Polizeibezirk Ystad existiert nicht mehr. Heute gehören wir zum Polizeidistrikt Südliches Schonen.«
»Der mit zweihundertzwanzig Planstellen ausgestattet sein soll. Und der gleichzeitig acht Kommunen umfaßt. Von Simrishamn bis Vellinge. Keiner weiß, wie das funktionieren soll. Wenn es überhaupt besser wird.«
»Das ist mir im Moment egal. Mich interessiert nur, wie wir die ganze Kleinarbeit in dieser Ermittlung bewältigen sollen. Sonst nichts. Ich werde es bei Gelegenheit mit Lisa besprechen. Wenn sie mich nicht suspendiert.«
»Eva Persson behauptet übrigens weiterhin, daß es so war, wie sie und ihre Mutter gesagt haben. Daß du sie ohne jeden Grund geschlagen hast.«
»Das glaube ich gern. Wenn sie in anderen Dingen bei ihren Lügen bleibt, warum nicht auch in diesem Punkt.«
Wallander erzählte ihr von dem Einbruch in Tynnes Falks Wohnung.
»Ist die Leiche wieder aufgetaucht?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Begreifst du das Ganze?«
»Kein bißchen«, antwortete Wallander. »Aber ich mache mir Sorgen. Vergiß nicht, daß ein großer Teil von Schonen lahmgelegt wurde.«
Sie gingen gemeinsam durch den Korridor. Hansson steckte den Kopf aus der Tür, um mitzuteilen, daß die Polizei in Växjö Eva Perssons Vater ausfindig gemacht habe.
»Den Kollegen zufolge lebt er in einem baufälligen Schuppen irgendwo zwischen Växjö und Vislanda. Jetzt fragen sie, was wir von ihm wissen wollen.«
»Nichts, bis auf weiteres«, sagte Wallander. »Andere Fragen sind momentan dringender.«
Sie beschlossen, um halb zwei, wenn Martinsson zurückgekommen war, eine Sitzung der Ermittlungsgruppe abzuhalten. Wallander kehrte in sein Zimmer zurück und rief die Kfz-Werkstatt an. Er konnte seinen Wagen abholen. Er verließ das Präsidium und ging die Fridhemsgata hinunter zum Surbrunnsplan. Der Wind kam ihm in heftigen Stößen entgegen.
Der Kfz-Meister hieß Holmlund und betreute Wallanders Autos seit vielen Jahren. Er war ein leidenschaftlicher Motorradliebhaber und sprach ein nahezu unverständliches Schonisch aus einem zahnlosen Mund. Holmlund hatte sich in all den Jahren wenig verändert. Wallander wußte nicht zu sagen, ob er fünfzig oder sechzig Jahre alt war.
»Das war ein teurer Spaß«, sagte Holmlund und lächelte sein zahnloses Lächeln. »Aber es lohnt sich. Wenn Sie den Wagen so schnell wie möglich verkaufen.«
Wallander fuhr davon. Das häßliche Motorgeräusch war fort. Der Gedanke an einen neuen Wagen versetzte ihn in gute Stimmung. Die Frage war, ob er Peugeot treu bleiben oder die Marke wechseln sollte. Er nahm sich vor, Hansson zu fragen, der über Autos ebenso gut informiert war wie über Traber.
Er fuhr zu einem Grill-Imbiß an Österleden. Beim Essen griff er nach einer Zeitung und blätterte sie durch, hatte aber Probleme, sich zu konzentrieren. Ein Gedanke beschäftigte ihn. Er hatte nach einem Zentrum gesucht und verschiedene Wege ausprobiert, um weiterzukommen. Zuletzt war es der Stromausfall gewesen. Er hatte sich gefragt, ob das, was in der Transformatorstation geschehen war, nicht nur ein Mord, sondern zugleich ein gezielter Sabotageakt gewesen sein konnte. Aber was passierte, wenn er statt dessen versuchte, ein Zentrum zu finden, indem er von dem Mann ausging, der in dem Restaurant aufgetaucht war. Der Mann hatte eine falsche Identität gehabt. Außerdem war das Foto aus Tynnes Falks Wohnung verschwunden. Wallander verfluchte sich inzwischen selbst, weil er seinem ersten Impuls nicht nachgegeben und das Foto eingesteckt hatte. Vielleicht hätte István den asiatisch aussehenden Mann erkannt.
Er legte die Gabel hin und rief Nyberg über sein Handy an. »Das Foto einer Gruppe von Männern«, sagte Wallander. »Habt ihr so etwas gefunden?«
»Ich frage mal nach.«
Wallander wartete. Stocherte in dem Bratfisch, der nach nichts schmeckte.
Nyberg meldete sich wieder. »Wir haben ein Foto von drei Männern, die Lachse in den Händen halten. Aufgenommen 1983 in Norwegen.«
»Sonst nichts?«
»Nein. Aber woher weißt du, daß ein solches Foto existiert?«
Nyberg ist nicht dumm, dachte Wallander. Aber er hatte sich auf die Frage vorbereitet. »Ich weiß es nicht. Aber ich suche Bilder von Tynnes Falks Freundeskreis.«
»Wir sind hier gleich fertig«, sagte Nyberg.
»Hast du etwas gefunden?«
»Es sieht nach einem gewöhnlichen Einbruch aus. Könnten Fixer gewesen sein.«
»Keine Spuren?«
»Wir haben eine Anzahl Fingerabdrücke. Aber die können ebensogut von Falk stammen. Fragt sich nur, wie wir das kontrollieren sollen, nachdem die Leiche verschwunden ist.«
»Früher oder später finden wir sie.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Wenn man eine Leiche stiehlt, dann doch wohl nur, weil man sie begraben will.«
Wallander sah ein, daß Nyberg recht hatte. Gleichzeitig kam ihm eine andere Idee. Aber Nyberg kam ihm zuvor. »Ich habe mit Martinsson gesprochen und ihn gebeten, Tynnes Falk durch seine Computer laufen zu lassen. Wir konnten ja nicht ausschließen, daß er in unseren Registern ist.«
»Und ist er das?«
»Ja. Aber es gibt keine Fingerabdrücke.«
»Was hat er denn gemacht?«
»Laut Martinsson war er zu einer Strafe wegen Sachbeschädigung verurteilt worden.«
»Was meint er denn damit?«
»Da mußt du ihn schon selbst fragen«, sagte Nyberg gereizt.
Wallander beendete das Gespräch. Es war zehn nach eins. Nachdem er getankt hatte, kehrte er zum Präsidium zurück. Martinsson und er kamen gleichzeitig an.
»Niemand hat etwas gesehen oder gehört«, sagte Martinsson, während sie über den Parkplatz gingen. »Ich habe sie alle erwischt. Es scheinen hauptsächlich ältere Menschen in dem Haus zu wohnen, und die sind tagsüber zu Hause. Und eine Krankengymnastin in deinem Alter.«
Wallander gab keinen Kommentar ab. Statt dessen kam er auf das zu sprechen, was Nyberg erwähnt hatte.
»Nyberg sprach von Sachbeschädigung?«
»Ich habe die Papiere in meinem Zimmer. Es hatte etwas mit Nerzen zu tun.«
Wallander sah ihn fragend an, sagte aber nichts.
Er las den Auszug aus dem Strafregister in Martinssons Zimmer. 1991 war Tynnes Falk nördlich von Sölvesborg festgenommen worden. Ein Nerzfarmer hatte in der Nacht entdeckt, daß jemand die Käfige öffnete. Er hatte die Polizei gerufen, die mit zwei Wagen ausgerückt war. Tynnes Falk war nicht allein gewesen. Aber er war als einziger gefaßt worden. Bei seiner Vernehmung hatte er sofort gestanden und als Begründung angegeben, er sei Gegner des Tötens von Tieren für die Herstellung von Pelzwaren. Er hatte jedoch verneint, einer Organisation anzugehören, und hatte auch die Namen der anderen nicht verraten, die in der Dunkelheit entkommen waren.
Wallander legte das Blatt auf den Tisch. »Ich dachte, nur Jugendliche gäben sich mit so etwas hier ab. 1991 war Falk über vierzig.«
»Eigentlich sollte man mit ihnen sympathisieren«, sagte Martinsson. »Meine Tochter ist Mitglied der Feldbiologen.«
»Es ist ja wohl ein Unterschied, ob man Vögel beobachtet oder Nerzfarmer ruiniert.«
»Sie lernen, Achtung vor der Tierwelt zu haben.«
Wallander wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen, bei der er wahrscheinlich schnell den kürzeren ziehen würde. Aber daß Tynnes Falk in eine Befreiungsaktion von Nerzen verwickelt gewesen war, verblüffte ihn.
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Um kurz nach halb zwei versammelten sie sich. Es wurde eine kurze Sitzung. Wallander hatte sich vorgenommen, das Ergebnis seiner Überlegungen vorzutragen. Aber er beschloß, damit zu warten. Es war noch zu früh. Um Viertel nach zwei brachen sie wieder auf. Hansson hatte einen Gesprächstermin beim Staatsanwalt. Martinsson verschwand zu seinen Computern, und Ann-Britt wollte einen neuen Versuch bei Eva Perssons Mutter unternehmen. Wallander ging in sein Zimmer und rief Marianne Falk an. Ein Anrufbeantworter schaltete sich ein, aber nachdem er seinen Namen genannt hatte, wurde der Hörer abgenommen. Sie verabredeten, sich um drei Uhr vor der Wohnung in der Apelbergsgata zu treffen. Als Wallander etwas früher ankam, waren Nyberg und seine Techniker schon verschwunden. Ein Polizeiauto parkte vor dem Haus. Als Wallander die Treppe hinaufging, öffnete sich plötzlich die Tür der Wohnung, die er am liebsten vergessen wollte.
In der Tür stand eine Frau, die ihm bekannt vorkam. »Ich habe dich durchs Fenster gesehen«, sagte sie und lächelte. »Ich dachte, ich begrüße dich mal. Erinnerst du dich noch an mich?«
»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete Wallander.
»Aber du hast dich nie wieder gemeldet, wie du versprochen hattest.«
Wallander konnte sich an kein Versprechen erinnern. Aber er bezweifelte nicht, eins gegeben zu haben. Wenn er betrunken genug und von einer Frau fasziniert war, konnte er alles mögliche versprechen.
»Es war etwas dazwischengekommen. Du weißt ja, wie das ist.«
»Weiß ich das?«
Wallander murmelte etwas Unverständliches als Antwort.