Vor dem Frost
Henning Mankell
2005
1
»Gott hat gefordert«, ruft ein Mann, als die Tiere sterben: Ein Kalb wird bei lebendigem Leib verbrannt, sechs brennende Schwäne über den Marebo-See. Frauen verschwinden, eine Amerikanerin wird in der Kirche erdrosselt, und ein Lastwagen voller Dynamit läßt den Dom von Lund in Flammen aufgehen. Kurt Wallander und seine Tochter Linda ermitteln…In diesem atemberaubenden Buch spannt Henning Mankell den Bogen vom den Massaker in Jonestown bis zum 11. September 2001.
— »Ein unglaublich packaneder Roman und eine schwierige, spannende und berührende Vater-Tochter-Geschichte. Meine neue Nummer eins der Mankell-Romane.« (Heide Simonis in der »Brigitte«)
Inhaltsverzeichnis
I Prolog
II AALDUNKEL
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III DIE LEERE
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IV DAS TAU
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V DER DREIZEHNTE TURM
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VI Epilog DAS MÄDCHEN AUF DEM DACH
VII NACHWORT
Teil I
Prolog
JONESTOWN,
NOVEMBER 1978
Die Gedanken in seinem Hirn waren wie ein Funkenregen von glühenden Nadeln. Der Schmerz war fast unerträglich.
Verzweifelt versuchte er, klar zu denken und die Ruhe zu bewahren. Was quälte ihn am meisten? Er brauchte nicht nach der Antwort zu suchen: Es war die Angst. Daß Jim seine Hunde losließ und sie hinter ihm herhetzte, als wäre er ein aufgeschrecktes Wild auf der Flucht, was er eigentlich auch war. Es waren Jims Hunde, die ihm die meiste Angst machten. Die ganze lange Nacht zwischen dem 18. und dem 19. November, als er nicht mehr laufen konnte und sich zwischen den morschen Resten eines umgewehten Baums versteckte, meinte er zu hören, wie sich die Hunde näherten.
Jim läßt nie jemanden davonkommen, dachte er. Der Mann, dem ich einst zu folgen beschloß, weil er von einer grenzenlosen und göttlichen Liebe erfüllt zu sein schien, erweist sich jetzt als ein ganz anderer. Unmerklich hat er mit seinem eigenen Schatten oder mit dem Teufel, gegen den er immer gepredigt und vor dem er uns immer gewarnt hat, die Gestalt gewechselt. Dem Dämon der Ichbesessenheit, der uns daran hindert, Gott in Unterwürfigkeit und Gehorsam zu dienen. Was ich für Liebe hielt, hat sich jetzt in Haß verwandelt. Ich hätte es früher einsehen müssen. Jim hat es ja selbst klargemacht, ein um das andere Mal. Er hat uns die Wahrheit gegeben, doch nicht die ganze Wahrheit auf einmal, sondern in Form einer schleichenden Offenbarung. Aber weder ich noch einer von den anderen hat hören wollen, was wir hörten, was zwischen den Worten verborgen war. Es ist mein eigener Fehler, weil ich nicht verstehen wollte. Wenn er uns zu seinen Predigten versammelte oder uns seine Mitteilungen schickte, hat er nicht nur von der geistigen Vorbereitung gesprochen, der sich jeder einzelne unterziehen müsse, bevor der Tag des Gerichts anbreche. Er hat auch gesagt, daß wir in jedem Augenblick bereit sein müßten zu sterben.
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Er unterbrach den Gedanken und horchte ins Dunkel hinaus. Hörte er nicht das entfernte Bellen der Hunde? Aber sie waren immer noch nur in ihm, eingeschlossen in seine eigene Angst. In seinem verwirrten, verschreckten Hirn kehrte er wieder zurück zu dem, was in Jonestown geschehen war. Er mußte verstehen. Jim war ihr Führer gewesen, ihr Hirte, ihr Pastor. Sie hatten sich ihm beim Auszug aus Kalifornien angeschlossen, als sie die Verfolgung, der sie von seiten der Behörden und der Massenmedien ausgesetzt waren, nicht mehr ertrugen. In Guyana wollten sie ihren Traum von einem freien Leben in Gott verwirklichen, in Eintracht miteinander und mit der Natur. Am Anfang war auch alles so gewesen, wie Jim gesagt hatte. Sie hatten davon gesprochen, daß sie ihr Paradies gefunden hatten. Aber irgend etwas war passiert. Vielleicht würden sie ihren großen Traum hier in Guyana nicht verwirklichen können? Vielleicht waren sie hier ebenso bedroht wie in Kalifornien? Vielleicht müßten sie nicht nur ein Land hinter sich lassen, sondern auch das Leben, um in Gemeinschaft mit Gott das Dasein zu schaffen, das sie einander versprochen hatten. »Ich habe meine eigenen Gedanken geprüft«, sagte Jim. »Ich habe weiter gesehen, als ich früher gesehen habe. Der Tag des Gerichts steht nahe bevor. Wenn wir nicht mit in den furchtbaren Mahlstrom gezogen werden wollen, müssen wir vielleicht sterben. Nur indem wir sterben, werden wir überleben.«
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Sie sollten Selbstmord begehen. Als Jim das erstemal da auf dem Betplatz stand und darüber sprach, hatten seine Worte nichts Erschreckendes gehabt. Zuerst sollten die Eltern ihren Kindern von dem verdünnten Zyanid geben, das Jim in großen Plastikbehältern in einem verschlossenen Raum auf der Rückseite seines Hauses aufbewahrte. Dann würden sie selbst das Gift nehmen, und denjenigen, die zögerten und im letzten Augenblick ihren Glauben verrieten, würden Jim und seine engsten Mitarbeiter Hilfestellung leisten. Falls das Gift ausging, gab es Waffen. Jim persönlich würde dafür sorgen, daß alle tot waren, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete.
Er lag unter dem Baum und keuchte in der tropischen Hitze. Die ganze Zeit horchte er nach Jims Hunden. Den großen, rotäugigen Monstern, vor denen alle Angst hatten. Jim hatte gesagt, daß diejenigen, die sich entschieden hatten, in seiner Gemeinde zu leben, und die den großen Auszug aus Kalifornien hierher in die Wildnis von Guyana mitgemacht hatten, keinen anderen Weg gehen konnten als den von Gott bestimmten. Der Weg, den Jim Warren Jones bestimmt hatte, war der richtige.
Es klang so beruhigend, dachte er. Keiner konnte wie Jim Wörtern wie Tod, Selbstmord, Zyanid und Schußwaffen das Bedrohliche und Erschreckende nehmen und ihnen statt dessen den Klang von etwas Schönem und Erstrebenswertem verleihen.
Ein Schaudern durchfuhr ihn. Jim ist herumgegangen und hat alle Toten gesehen, dachte er. Er sieht, daß ich nicht dabei bin, und er wird die Hunde auf mich ansetzen. Der Gedanke traf ihn mit Wucht. Alle Toten. Ihm kamen die Tränen. Erst jetzt begriff er voll und ganz, was geschehen war. Sie waren alle tot, auch Maria und das Mädchen. Doch er wollte es nicht glauben. Maria und er hatten des Nachts flüsternd darüber gesprochen. Jim war im Begriff, wahnsinnig zu werden. Er war nicht mehr der Mann, der sie einst zu sich gelockt, ihnen Erlösung und einen Sinn des Lebens versprochen hatte, wenn sie sich der Volkstempelkirche anschlössen, die Jim gegründet hatte. Einst hatten sie es als Gnade empfunden, Jims Worte, das einzige Glück liege in der Hoffnung auf Gott, auf Christus, auf den Glauben an all das, was jenseits des irdischen Lebens wartete, das bald vorüber wäre. Maria hatte es am deutlichsten ausgesprochen: »Jims Augen haben begonnen zu flackern. Jim sieht uns nicht mehr an. Er sieht an uns vorbei, und seine Augen sind kalt, als meinte er es nicht mehr gut mit uns.«
Vielleicht sollten wir fortgehen, flüsterten sie des Nachts. Aber jeden Morgen sagten sie sich, daß sie das einmal gewählte Leben nicht aufgeben konnten. Jim würde bald wieder wie früher sein. Er machte eine Krise durch, seine Schwäche würde bald überwunden sein. Jim war der Stärkste von ihnen allen. Ohne ihn würden sie nicht in Verhältnissen leben, die trotz allem wie ein Bild des Paradieses waren.
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Er wischte ein Insekt weg, das über sein verschwitztes Gesicht kroch. Der Dschungel war heiß, dampfend. Die Insekten kamen kriechend und krabbelnd von allen Seiten. Ein Ast drückte gegen sein Bein. Er fuhr hoch und glaubte, es sei eine Schlange. In Guyana gab es viele Giftschlangen. Allein in den letzten drei Monaten waren zwei Mitglieder der Kolonie von Schlangen gebissen worden, ihre Beine waren stark angeschwollen und hatten eine blauschwarze Färbung angenommen, bevor sie in übelriechenden Eiterbeulen aufplatzten. Eines der beiden, eine Frau aus Arkansas, war gestorben. Sie hatten sie auf dem kleinen Friedhof der Kolonie begraben, und Jim hatte eine seiner großen Predigten gehalten, genau wie früher, als er mit seiner Kirche, der Volkstempelkirche, nach San Francisco gekommen und rasch zu einem bekannten Erweckungsprediger geworden war.
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Eine Erinnerung war deutlicher als alles andere in seinem Leben. Wie er von Alkohol und Drogen und von schlechtem Gewissen wegen des kleinen Mädchens, das er verlassen hatte, so elend und kaputt gewesen war, daß er nicht mehr wollte. Damals wollte er sterben, sich einfach vor einen Lastwagen oder einen Zug werfen, und dann wäre alles vorbei, niemand würde ihn vermissen, er selbst sich am wenigsten. Auf einer seiner letzten Wanderungen durch die Stadt, als er herumging, wie um sich von den Menschen zu verabschieden, denen es sowieso egal war, ob er lebte oder starb, kam er zufällig an dem Haus der Volkstempelkirche vorbei. »Es war die Vorsehung Gottes«, sagte Jim später, »es war Gott, der dich sah und beschloß, daß du einer der Auserwählten sein solltest, einer, dem die Gnade zuteil werden sollte, durch ihn zu leben.« Was ihn dazu getrieben hatte, in dieses Haus zu gehen, das keiner Kirche glich, wußte er noch immer nicht. Nicht einmal jetzt, da alles vorbei war und er unter einem Baum lag und darauf wartete, daß Jims Hunde kämen und ihn in Stücke rissen.
Er dachte, daß er weitermußte, seine Flucht fortsetzen mußte. Doch er konnte sein Versteck nicht verlassen. Außerdem konnte er Maria und das Mädchen nicht allein lassen. Er hatte schon einmal in seinem Leben ein Kind verlassen. Es durfte nicht wieder passieren.
Was war eigentlich geschehen? Am Morgen waren alle wie gewöhnlich früh aufgestanden. Sie hatten sich auf dem Betplatz vor Jims Haus versammelt und gewartet. Doch die Tür war geschlossen geblieben, wie so oft in der letzten Zeit. Sie hatten ihre Gebete allein gesprochen, alle neunhundertzwölf Erwachsenen und die dreihundertzwanzig Kinder, die in der Kolonie lebten. Dann waren sie an ihre Arbeit gegangen. Er hätte nicht überlebt, wenn er nicht an diesem Tag mit zwei anderen die Kolonie verlassen hätte, um zwei verschwundene Kühe zu suchen. Als er sich von Maria und ihrer Tochter verabschiedete, hatte er keinerlei Vorahnung einer drohenden Gefahr. Erst als sie auf die gegenüberliegende Seite der Schlucht gekommen waren, die die äußere Grenze zwischen der Kolonie und dem umgebenden Urwald darstellte, hatte er begriffen, daß etwas passierte.
Sie waren stehengeblieben, als sie aus der Kolonie Schüsse hörten, vielleicht hatten sie auch durch das laute Vogelgezwitscher, das sie umgab, Schreie von Menschen wahrgenommen. Sie hatten sich angesehen und waren in die Schlucht zurückgelaufen. Er hatte die beiden anderen aus den Augen verloren, er war nicht einmal sicher, ob sie nicht plötzlich beschlossen hatten zu fliehen. Als er aus dem Schatten der Bäume trat und über den Zaun zu dem Teil der Volkstempelkolonie kletterte, der von der großen Fruchtplantage eingenommen wurde, war es still. Viel zu still. Niemand pflückte irgendwelche Früchte. Es waren überhaupt keine Menschen zu sehen. Er lief zu den Häusern und begriff, daß etwas Furchtbares geschehen war. Jim war wieder herausgekommen. Er hatte die geschlossene Tür aufgestoßen. Aber er war nicht mit Liebe gekommen, sondern mit dem Haß, der immer öfter in seinen Augen zu sehen gewesen war.
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Er merkte, daß er einen Krampf bekam, und drehte vorsichtig den Körper. Die ganze Zeit horchte er nach den Hunden. Aber er hörte nur das Knirschen der Heuschrecken und das Schwirren von Nachtvögeln, die über seinem Kopf dahinstrichen. Was hatte er vorgefunden? Als er durch die verlassene Fruchtplantage gelaufen war, hatte er versucht, das zu tun, was Jim immer als die einzige Möglichkeit des Menschen bezeichnet hatte, die große Gnade zu finden. Sein Leben in Gottes Hand zu legen. Jetzt hatte er sein Leben und sein Gebet in Gottes Hand gelegt: Was auch geschehen ist, laß Maria und das Mädchen unverletzt sein. Aber Gott hatte ihn nicht gehört. Er erinnerte sich, in seiner Verzweiflung gedacht zu haben, daß vielleicht Gott und Jim Jones die Schüsse aufeinander abgegeben hatten, die sie jenseits der Schlucht gehört hatten.
Es war, als stürmte er geradewegs auf die staubige Straße in Jonestown, wo Gott und Pastor Jim Warren Jones sich gegenüberstanden, um die letzten Schüsse aufeinander abzufeuern. Aber Gott hatte er nicht gesehen. Jim Jones war dagewesen, die Hunde hatten wie wahnsinnig in ihren Zwingern gebellt, und überall auf der Erde hatten Menschen gelegen, und er hatte sogleich gesehen, daß sie tot waren. Als seien sie von einer vom Himmel herabkommenden wütenden Faust niedergestreckt worden. Jim Jones und seine engsten Mitarbeiter, die sechs Brüder, die ihn immer begleiteten, seine Diener und Leibwächter, waren herumgegangen und hatten Kinder erschossen, die versuchten, von ihren toten Eltern fortzukriechen. Er war zwischen all diesen toten Körpern herumgelaufen und hatte nach Maria und dem Mädchen gesucht, ohne sie zu finden.
Als er Marias Namen brüllte, hatte Jim Jones nach ihm gerufen. Er hatte sich umgedreht und gesehen, daß sein Pastor eine Pistole auf ihn gerichtet hielt. Sie standen zwanzig Meter voneinander entfernt, zwischen ihnen auf der versengten Erde lagen die Toten, seine Freunde, zusammengekrümmt und wie verkrampft in ihren letzten Atemzügen. Jim hatte mit beiden Händen den Pistolenkolben gehalten, gezielt und abgedrückt. Der Schuß hatte ihn verfehlt. Bevor Jim zum zweitenmal schießen konnte, war er losgerannt. Mehrere Schüsse waren noch auf ihn abgegeben worden, und er hatte gehört, wie Jim vor Wut brüllte. Aber er war nicht getroffen worden, war über all die Toten hinweggestolpert und erst stehengeblieben, als es schon dunkel geworden war. Da war er unter den Baum gekrochen und hatte sich versteckt. Er wußte nicht, ob er der einzige Überlebende war. Wo waren Maria und das Mädchen? Warum sollte er allein verschont werden? Konnte ein einzelner Mensch den Jüngsten Tag überleben? Er begriff nicht. Doch er wußte, daß es kein Traum war.
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Der Morgen dämmerte. Die Hitze stieg dampfend von den Bäumen auf. Da wußte er, daß Jim seine Hunde nicht loslassen würde. Er zog sich vorsichtig unter dem Baum hervor, schüttelte seine eingeschlafenen Beine und kam hoch. Dann ging er in die Richtung der Kolonie. Er war sehr erschöpft und wankte, starker Durst quälte ihn. Immer noch war alles still. Die Hunde sind tot, dachte er. Jim hatte gesagt, daß keiner entkommen sollte, auch die Hunde nicht. Er kletterte über den Zaun und begann zu laufen. Vor ihm auf dem Boden lagen die ersten Toten. Die, die versucht hatten, zu entkommen. Sie waren in den Rücken geschossen worden.
Dann blieb er stehen. Ein Mann lag vor ihm auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Vorsichtig bückte er sich auf unsicheren Beinen und drehte den Körper um. Jim schaute ihm direkt in die Augen. Sein Blick hat aufgehört zu flackern, dachte er. Jim sieht mir wieder gerade in die Augen. Er zwinkert nicht einmal. Ein sinnloser Gedanke fuhr ihm durch den Kopf: Die Toten zwinkern nicht. Er spürte den Impuls, Jim zu schlagen, ihm ins Gesicht zu treten. Doch er tat es nicht. Er richtete sich auf, er war der einzige Lebende unter all den Toten, und er suchte weiter, bis er Maria und das Mädchen fand.
Maria hatte versucht zu fliehen. Sie war in den Rücken getroffen worden und vornübergefallen, und sie hatte das Mädchen in den Armen gehalten. Er hockte sich nieder und weinte. Jetzt gibt es nichts mehr, dachte er. Jim hat unser Paradies in eine Hölle verwandelt.
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Er blieb bei Maria und dem Mädchen, bis ein Hubschrauber über der Kolonie zu kreisen begann. Da erhob er sich und ging davon. Er dachte an etwas, was Jim gesagt hatte, in der guten Zeit, kurz nach der Ankunft in Guyana. »Die Wahrheit über einen Menschen kann man ebenso mit der Nase erkennen wie mit den Augen oder dem Gehör. Der Teufel verbirgt sich im Menschen, und der Teufel riecht nach Schwefel. Wenn du den Schwefelgeruch spürst, sollst du das Kreuz hochhalten.«
Was ihn erwartete, wußte er nicht. Er fürchtete das, was kommen würde. Er fragte sich, wie er die große Leere würde füllen können, die Gott und Jim Jones zurückgelassen hatten.
Teil II
AALDUNKEL
1
Kurz nach neun am Abend des 21. August 2001 kam Wind auf. Wellen kräuselten sich auf dem Marebosjö, der in einer Talsenke an der Südseite von Rommeleåsen lag. Der Mann, der in der Dunkelheit am Strand wartete, hielt eine Hand in die Luft, um zu prüfen, woher der Wind kam. Fast genau aus Süden, dachte er zufrieden. Also hatte er die richtige Stelle ausgesucht, um das Brot auszulegen und die Tiere anzulocken, die er bald opfern würde.
Er setzte sich auf den Stein, auf dem er einen Pullover ausgebreitet hatte, um nicht kalt zu werden. Es war abnehmender Mond. Die Wolkendecke am Himmel ließ kein Licht durch. Aaldunkel, dachte er. So nannte es mein schwedischer Spielkamerad in meiner Kindheit. Im Augustdunkel beginnt der Aal zu wandern. Dann stößt er gegen die Leitnetze und wandert ins Innere der Reuse. Er ist gefangen.
Er horchte ins Dunkel hinaus. Seine scharfen Ohren vernahmen das Geräusch eines Autos, das in einiger Entfernung vorbeifuhr. Sonst war alles still. Er holte seine Taschenlampe heraus und ließ den Strahl über den Strand und das Wasser gleiten. Sie kamen jetzt, er konnte sie sehen. Er machte zwei weiße Flecken gegen das dunkle Wasser aus, weiße Flecken, die zahlreicher und größer werden würden.
Er knipste die Lampe aus und suchte in seinem Hirn, das er zu einem treuen und untertänigen Mitarbeiter gezähmt und getrimmt hatte, nach einer Information darüber, wie spät es war. Drei Minuten nach neun, dachte er. Dann hob er den Arm. Die Uhrzeiger leuchteten im Dunkeln. Drei Minuten nach neun. Er hatte recht gehabt. Natürlich hatte er recht gehabt. In einer halben Stunde würde alles klar sein, und er würde nicht länger warten müssen. Er hatte gelernt, daß nicht nur Menschen von dem Bedürfnis getrieben wurden, pünktlich zu sein. Er hatte drei Monate gebraucht, um das, was an ebendiesem Abend geschehen sollte, vorzubereiten. Langsam und methodisch hatte er die Tiere, die er opfern wollte, an seine Anwesenheit gewöhnt. Er hatte sich zu ihrem Freund gemacht.
Das war seine wichtigste Fähigkeit im Leben. Er konnte mit allen Freund werden. Nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren. Er machte sich zum Freund, und niemand wußte, was er meinte und dachte. Er knipste die Taschenlampe wieder an. Die weißen Flecken waren mehr geworden, und sie waren gewachsen. Sie näherten sich dem Strand. Bald würde er nicht länger warten müssen. Er leuchtete mit der Lampe über den Strand. Dort lagen die beiden mit Benzin gefüllten Sprayflaschen und die Brotstücke, die er am Strand ausgestreut hatte. Er löschte die Lampe und wartete.
Als die Zeit gekommen war, handelte er so ruhig und methodisch, wie er es geplant hatte. Die Schwäne waren ans Ufer gekommen. Sie schnappten nach seinen Brotstücken und schienen nicht zu merken, daß ein Mensch in der Nähe war. Oder sie machten sich nichts daraus, weil sie sich daran gewöhnt hatten, daß er keine Gefahr darstellte. Er benutzte die Taschenlampe jetzt nicht mehr, sondern hatte eine Nachtsichtbrille aufgesetzt. Sechs Schwäne waren auf dem Strand, drei Paare. Zwei hatten sich hingelegt, während die anderen ihr Gefieder putzten oder weiter mit den Schnäbeln nach Brotstücken suchten.
Der Augenblick war da. Er stand auf, griff mit jeder Hand eine Sprayflasche und besprühte jeden einzelnen Vogel mit Benzin, und bevor sie fortflattern konnten, hatte er eine der Flaschen fallen gelassen und die andere angezündet. Das brennende Benzin setzte sofort die Flügel der Schwäne in Brand. Flatternden Feuerbällen gleich versuchten sie, ihrer Qual zu entkommen, indem sie auf den See hinausflogen. Er nahm das Bild und die Geräusche dessen, was er sah, in sich auf, die brennenden, schreienden Vögel, die über den See davonflatterten, bevor sie ins Wasser stürzten und mit zischenden und rauchenden Flügeln starben. Wie geborstene Trompeten, dachte er. So werde ich ihre letzten Schreie in Erinnerung behalten.
Es war sehr schnell gegangen. In weniger als einer Minute hatte er die Schwäne angezündet und sie davonflattern sehen, bis sie ins Wasser gestürzt waren und alles wieder dunkel war. Er war zufrieden. Alles war gutgegangen. Der Abend war so verlaufen, wie es beabsichtigt war, ein tastender Anfang.
Er warf die beiden Sprayflaschen in den See. Den Pullover, auf dem er gesessen hatte, steckte er in den Rucksack und leuchtete anschließend um sich herum den Strand ab, um sich zu vergewissern, daß er nichts vergessen hatte. Als er sicher war, keine Spuren hinterlassen zu haben, zog er ein Handy aus der Jackentasche. Er hatte es vor einigen Tagen in Kopenhagen gekauft. Es würde nicht zu ihm verfolgt werden können. Er tippte die Nummer ein und wartete.
Als er Antwort bekam, bat er darum, mit der Polizei verbunden zu werden. Das Gespräch war kurz. Dann schleuderte er das Handy in den See, warf sich den Rucksack über und verschwand in der Dunkelheit.
Der Wind hatte inzwischen auf West gedreht und wurde immer böiger.
2
Linda Caroline Wallander fragte sich an diesem Tag Ende August, ob es Ähnlichkeiten gab zwischen ihr und ihrem Vater, die sie noch nicht entdeckt hatte, obwohl sie jetzt bald dreißig Jahre alt war und eigentlich wissen müßte, wer sie war. Sie hatte ihn gefragt, manchmal sogar versucht, ihm eine Antwort abzupressen, doch er reagierte verständnislos und antwortete ausweichend, sie gliche wohl am meisten seinem Vater. Die »Ähnlichkeitsgespräche«, wie sie sie nannte, gingen manchmal in Meinungsverschiedenheiten über, die in heftigem Streit endeten. Sie flammten heiß auf, legten sich jedoch schnell wieder. Die meisten dieser Streitereien vergaß sie auch wieder, und sie nahm an, daß auch ihr Vater diese Gespräche, die aus dem Ruder gelaufen waren, nicht lange wiederkäute.
Aber von all den Streitgesprächen dieses Sommers konnte sie eins nicht vergessen. Es ging um eine Bagatelle. Dennoch hatte sie das Gefühl, daß sie hinter der eigentlichen Erinnerung Bruchstücke ihrer Kindheit und Jugend wiederentdeckte, die sie völlig verdrängt hatte. Am gleichen Tag, an dem sie von Stockholm nach Ystad gekommen war, Anfang Juli, hatten sie angefangen, sich über Erinnerungen zu streiten. Sie hatten einmal, als sie klein war, zusammen eine Reise nach Bornholm gemacht. Sie waren zu dritt gewesen, ihr Vater, ihre Mutter Mona und sie selbst, sechs oder vielleicht sieben Jahre alt. Der Anlaß des idiotischen Streits jetzt war die Frage gewesen, ob es damals windig war oder nicht. Sie hatten im lauen Wind auf dem engen Balkon zu Abend gegessen, als das Gespräch plötzlich auf die Reise nach Bornholm kam. Ihr Vater behauptete, Linda sei seekrank gewesen und habe seine Jacke vollgespuckt. Linda dagegen meinte, vollkommen klar ein spiegelglattes blaues Meer vor sich liegen zu sehen. Sie hatten nur diese eine Reise nach Bornholm gemacht, eine Verwechslung war also ausgeschlossen. Ihre Mutter war nicht gern übers Meer gefahren, und Lindas Vater erinnerte sich, wie verwundert er gewesen war, als sie der Bornholmfahrt zugestimmt hatte.
An jenem Abend, nachdem der eigentümliche Streit sich wie in nichts aufgelöst hatte, konnte Linda lange nicht einschlafen. In zwei Monaten würde sie als Polizeianwärterin im Polizeipräsidium von Ystad anfangen. Sie hatte die Ausbildung in Stockholm abgeschlossen und hätte am liebsten sofort angefangen zu arbeiten. Jetzt war sie den Sommer über untätig, und ihr Vater konnte ihr keine Gesellschaft leisten, weil er den größten Teil seines Urlaubs schon im Mai genommen hatte. Er glaubte, er hätte ein Haus gekauft, und wollte seinen Urlaub benutzen, um im Mai umzuziehen. Er hatte auch ein Haus gekauft, in Svarte, südlich der Landstraße, direkt am Meer. Aber im letzten Augenblick, als die Anzahlung schon geleistet war, war die Besitzerin, eine ältere, alleinstehende pensionierte Lehrerin, plötzlich in Panik geraten bei dem Gedanken, ihre Rosenbüsche und ihren Rhododendron einem Mann zu überlassen, der sich überhaupt nicht dafür zu interessieren schien, einem Mann, der ausschließlich davon redete, wo er die Hundehütte bauen würde, in der der Hund, den er vielleicht kaufen wollte, eines Tages leben sollte. Sie machte einen Rückzieher, der Makler schlug ihrem Vater vor, auf der Erfüllung des Kaufvertrags zu bestehen oder zumindest Schadenersatz zu verlangen, doch in Gedanken hatte Wallander das Haus, in das er nie eingezogen war, bereits abgeschrieben.
Den Rest seines Urlaubsmonats, in dem es kalt und windig war, verbrachte er mit der Suche nach einem anderen Haus. Aber entweder waren sie zu teuer, oder es war nicht das, wovon er all die Jahre in der Mariagata in Ystad geträumt hatte. Deshalb behielt er seine Wohnung und begann sich ernsthaft zu fragen, ob er jemals von dort wegkommen würde.
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Linda stand kurz vor dem Abschluß ihres letzten Semesters an der Polizeihochschule, und er fuhr an einem Wochenende hinauf und packte seinen Wagen voll mit einem Teil der Sachen, die sie mit nach Hause nehmen wollte. Im September sollte sie eine Wohnung bekommen, bis dahin würde sie in ihrem alten Zimmer wohnen.
Sie gingen sich sofort auf die Nerven. Linda war ungeduldig und meinte, daß ihr Vater an ein paar Fäden ziehen sollte, damit sie ihren Dienst früher antreten könnte. Er redete auch bei einer Gelegenheit mit seiner Chefin Lisa Holgersson, doch sie konnte nichts machen. Die neuen Polizeianwärter wurden zwar gebraucht, weil das Präsidium stark unterbesetzt war, aber es fehlte das Geld für die Gehälter. Linda konnte ihren Dienst nicht vor dem 10. September antreten, so dringend sie auch gebraucht wurde.
Im Laufe des Sommers frischte Linda zwei alte Freundschaften wieder auf, die seit ihren Teenagerjahren geschlummert hatten. Zufällig traf sie eines Tages auf dem Marktplatz Zeba, oder »Zebra«, wie alle sie nannten. Linda erkannte sie zuerst nicht. Sie hatte ihr schwarzes Haar rot gefärbt und kurz geschnitten. Zeba stammte aus dem Iran und war bis zur Neunten, als ihre Wege sich trennten, in Lindas Klasse gegangen. An diesem Julitag, als sie sich über den Weg liefen, schob Zebra einen Kinderwagen, und sie gingen in eine Konditorei und tranken Kaffee.
Zebra hatte sich zur Barkeeperin ausbilden lassen, hatte aber dann mit Marcus, den Linda auch kannte, ein Kind bekommen, Marcus, der exotische Früchte liebte und schon mit neunzehn Jahren an der östlichen Ausfahrt von Ystad seine eigene Pflanzenschule aufgemacht hatte. Ihr Verhältnis war auseinandergegangen, aber der Junge war da. Sie unterhielten sich lange, bis der Junge anfing, so schrill und nachdrücklich zu schreien, daß sie auf die Straße flohen. Aber nach diesem zufälligen Treffen blieben sie in Kontakt, und Linda bemerkte, daß ihre Ungeduld abnahm, wenn es ihr gelang, Brücken zurück in die Zeit zu schlagen, als sie noch nichts anderes von der Welt wußte als das, was der Horizont von Ystad ihr erlaubte.
Auf dem Heimweg in die Mariagata nach dem Treffen mit Zebra fing es plötzlich an zu regnen. Sie suchte Schutz in einem Bekleidungsgeschäft in der Fußgängerzone, und während sie darauf wartete, daß der Regen aufhörte, schlug sie im Telefonbuch Anna Westins Nummer nach. Ihr Herz machte einen Satz, als sie sie fand. Anna und sie hatten fast zehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt. Die intensive Freundschaft, die sie während ihres Aufwachsens verbunden hatte, war plötzlich und brutal zu Ende gegangen, als sie sich mit siebzehn in denselben Jungen verliebten. Als dann die Verliebtheit bei beiden vorüber und vergessen war, hatten sie versucht, ihre frühere Freundschaft wiederzubeleben. Doch etwas war dazwischengekommen, und schließlich hatten sie es aufgegeben. In den letzten Jahren hatte Linda nur selten an Anna gedacht. Aber die Begegnung mit Zebra hatte die Erinnerungen wachgerufen, und sie freute sich, als sie sah, daß Anna tatsächlich noch in Ystad wohnte, in einer der Straßen hinter der Mariagata, gleich bei der Ausfahrt in Richtung Österlen.
Am gleichen Abend rief Linda an, und sie verabredeten sich für einen der folgenden Tage. Danach trafen sie sich mehrmals in der Woche, manchmal alle drei, doch meistens nur Anna und Linda. Anna wohnte allein und lebte von Studiengeld, mit dem sie mühsam ihr Medizinstudium finanzierte.
Linda hatte den Eindruck, Anna sei womöglich noch scheuer geworden als damals in den Jahren ihres gemeinsamen Heranwachsens. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter verlassen, als sie fünf oder sechs Jahre alt war. Er hatte nie mehr etwas von sich hören lassen. Annas Mutter lebte draußen auf dem Land, nicht weit von Löderup, wo Lindas Großvater viele Jahre lang gelebt und seine ewig gleichen Bilder gemalt hatte. Anna schien froh darüber zu sein, daß Linda den Kontakt zu ihr gesucht hatte und fortan wieder in Ystad leben würde. Doch Linda spürte, daß sie mit der Freundin äußerst behutsam umgehen mußte. Sie hatte etwas Zerbrechliches, etwas Scheues. Linda durfte ihr nicht zu nahe kommen. Aber in dieser Gemeinschaft, mit Zebra, ihrem Sohn und Anna, ertrug Linda immerhin den sich dahinschleppenden Sommer, während sie darauf wartete, zum Polizeipräsidium hinaufzugehen, mit der dicken Frau Lundberg zu sprechen, die der Kleiderkammer vorstand, und ihre Uniform und die übrige Ausstattung in Empfang zu nehmen und zu quittieren.
Den Sommer über arbeitete ihr Vater fast ausschließlich, aber erfolglos, an der Aufklärung einer Serie schwerer Raubüberfälle auf Banken und Postämter in Ystad und Umgebung. Dann und wann hörte Linda ihn auch von einigen großen Dynamitdiebstählen sprechen, die offenbar in einer sorgfältig geplanten Aktion durchgeführt worden waren. Wenn er abends eingeschlafen war, ging Linda seine Notizen und die Ermittlungsmappen durch, die er häufig mit nach Hause brachte. Aber wenn sie versuchte, ihn danach zu fragen, woran er gerade arbeitete, antwortete er ausweichend. Noch war sie keine Polizistin. Sie mußte mit ihren Fragen bis zum September warten.
Der Sommer verging. Eines Tages im August kam ihr Vater am frühen Nachmittag nach Hause und sagte, ein Makler habe angerufen und berichtet, er hätte jetzt ein Haus gefunden und sei überzeugt, daß es Wallander gefallen würde. Es lag nicht weit von Mossby Strand an einem Hang, der zum Meer hin abfiel. Er fragte Linda, ob sie Lust habe, mitzufahren und das Haus anzusehen. Sie rief Zebra an, mit der sie verabredet war, und verschob ihr Treffen auf den nächsten Tag.
Dann setzten sie sich in Wallanders Peugeot und verließen die Stadt in westlicher Richtung. Das Meer an diesem Tag war grau und kündete vom Herbst, der vor der Tür stand.
3
Das Haus war leer und verbarrikadiert. Dachziegel waren weggeweht, eins der Fallrohre war halb abgerissen. Das Haus lag auf einem Hügel mit unbehinderter Sicht aufs Meer. Aber es strahlte etwas Unbarmherziges und Einsames aus, dachte Linda. Dies ist kein Haus, in dem mein Vater seine Ruhe finden kann. Hier wird er nur von seinen Dämonen gejagt werden. Aber was für Dämonen sind es eigentlich? Was quälte ihn am meisten? In Gedanken versuchte sie, seine dunkleren Seiten in eine Rangordnung zu bringen; als erstes kam seine Einsamkeit, dann das steigende Übergewicht und die Steifheit seiner Gelenke. Doch danach? Sie ließ den Gedanken an die Liste fallen und beobachtete heimlich ihren Vater, wie er auf dem Grundstück umherging und das Haus inspizierte. Der Wind zog langsam, beinah grüblerisch durch ein paar hohe Buchen. Tief unter ihnen lag das Meer. Linda kniff die Augen zusammen und sah ein Schiff am Horizont.
Kurt Wallander betrachtete seine Tochter. »Du ähnelst mir, wenn du die Augen zusammenkneifst.«
»Nur dann?«
Sie gingen weiter. Auf der Rückseite des Hauses lag ein vergammeltes Ledersofa. Eine Feldmaus schreckte zwischen den Federn auf und huschte davon. Der Vater blickte sich um und schüttelte den Kopf. »Warum will ich eigentlich aufs Land?«
»Willst du, daß ich dich das frage? Dann tu ich es. Warum willst du aufs Land?«
»Es war immer mein Traum, morgens aus dem Bett zu steigen und direkt hinaus ins Freie treten und pinkeln zu können.«
Sie sah ihn belustigt an. »Nur deshalb?«
»Was könnte ein besseres Motiv sein? Fahren wir?«
»Wir machen noch eine Runde.«
Diesmal betrachtete sie das Haus mit größerer Aufmerksamkeit, als sei sie selbst eine kauflustige Spekulantin und ihr Vater der Makler. Sie schnüffelte herum wie ein Tier, das Witterung aufnahm. »Was kostet dieses Haus?«
»Vierhunderttausend.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wirklich«, sagte er.
»Hast du so viel Geld?«
»Nein. Aber die Bank hat versprochen, mir ihre Pforten zu öffnen. Ich bin vertrauenswürdig. Ein Polizeibeamter, der sein Leben lang seine Finanzen ordentlich geführt hat. Eigentlich macht es mich ein bißchen traurig, daß mir dieses Haus nicht richtig gefällt. Ein leeres Haus ist genauso bedrückend wie ein verlassener Mensch.«
Sie fuhren weiter. Linda las einen Wegweiser, an dem sie vorüberkamen: »Mossby Strand«.
Er warf ihr einen Blick zu. »Willst du hinfahren?«
»Ja. Wenn du Zeit hast.«
Ein einsamer Wohnwagen stand auf dem Parkplatz am Strand. Der Kiosk war geschlossen. Ein Mann und eine Frau, die deutsch miteinander sprachen, saßen auf kaputten Plastikstühlen vor dem Wohnwagen. Zwischen ihnen stand ein Tisch. Sie spielten Karten und waren hoch konzentriert. Linda und Kurt Wallander gingen zum Strand hinunter.
Genau an diesem Strand hatte sie ihm vor einigen Jahren ihren Entschluß mitgeteilt. Sie wollte nicht mehr Möbelpolsterin werden, und auch in den vagen Traum, vielleicht Schauspielerin zu werden, hatte sie kein rechtes Vertrauen mehr. Sie hatte aufgehört, rastlos in der Welt umherzureisen. Es war lange her, daß sie mit einem Jungen aus Kenia zusammengewesen war, der in Lund Medizin studierte und ihre größte Liebe war, auch wenn die Erinnerung daran in den letzten Jahren verblaßt war. Jetzt war er in seine Heimat zurückgefahren, und sie war ihm nicht gefolgt. Linda hatte versucht, die Leitlinien für ihr Leben zu finden, indem sie das Leben ihrer Mutter Mona betrachtete. Doch sie hatte nur eine Frau gesehen, die immer alles halb machte und dann liegenließ. Mona hatte zwei Kinder haben wollen, aber nur eins bekommen, und sie hatte geglaubt, daß Kurt Wallander die einzige und große Liebe ihres Lebens sei. Aber sie ließ sich scheiden und lebte jetzt in zweiter Ehe mit einem golfspielenden, aus Gesundheitsgründen vorzeitig pensionierten Prokuristen in Malmö.
Linda hatte daraufhin mit neuerwachter Neugier angefangen, ihren Vater zu betrachten, den Kriminalbeamten, der immer vergaß, sie am Flugplatz abzuholen, wenn sie zu Besuch kam. Sie hatte ihm insgeheim sogar einen Namen gegeben: der Mann, der immer vergißt, daß es mich gibt. Aber sie spürte, daß er derjenige war, jetzt, da ihr Großvater nicht mehr lebte, der ihr am nächsten stand. Es war, als ob sie das Fernglas umdrehte, ihn an einen Ort versetzte, wo es ihn weiterhin gab, er aber nicht zu nahe war. Eines Morgens, als sie nach dem Aufwachen noch ein wenig liegen blieb, wurde ihr auf einmal klar, was sie mit ihrem Leben machen wollte: Sie wollte wie er sein, zur Polizei gehen. Ein Jahr lang hatte sie den Gedanken für sich behalten und nur mit ihrem damaligen Freund darüber gesprochen, aber nachdem sie selbst überzeugt war, hatte sie als erstes mit ihrem Freund Schluß gemacht und war anschließend nach Schonen hinuntergefahren, hatte ihren Vater mit an diesen Strand genommen und es ihm gesagt. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie erstaunt er gewesen war. Er hatte darum gebeten, eine Minute überlegen zu dürfen, was er von ihrem Entschluß hielt. Da war sie auf einmal unsicher geworden. Vorher hatte sie gedacht, er würde sich über ihre Entscheidung freuen. In dieser kurzen Minute, als er ihr seinen breiten Rücken zuwandte und der Wind sein schütteres Haar hochwehte wie eine Tüte, hatte sie sich darauf vorbereitet, daß sie streiten würden. Aber als er sich umwandte und lächelte, wußte sie Bescheid.
Sie gingen bis ans Wasser. Linda zog mit dem Fuß die Spur eines Pferdehufs nach. Kurt Wallander beobachtete eine Möwe, die unbeweglich in der Luft über seinem Kopf stand.
»Was denkst du?« fragte sie.
»Worüber? Über das Haus?«
»Darüber, daß ich bald in Uniform vor dir auftreten werde.«
»Es fällt mir schwer, mir das richtig vorzustellen. Einzusehen, daß ich wohl aufgeregt sein werde.«
»Warum aufgeregt?«
»Vielleicht weil ich weiß, wie du dich fühlen wirst. In eine Uniform zu steigen ist nicht schwer. Aber sich dann öffentlich darin zu zeigen, das ist schwer. Du merkst, daß alle dich sehen. Du bist die Polizistin, die mitten auf der Straße steht und bereit sein muß, einzugreifen und wütende Menschen auseinanderzureißen. Ich weiß, was dir bevorsteht.«
»Ich habe keine Angst.«
»Ich rede nicht von Angst. Ich rede davon, daß die Uniform von dem Tag an, an dem du sie anziehst, immer da ist.«
Sie ahnte, daß er recht hatte. »Was glaubst du, wie es geht?«
»An der Schule ging es gut. Hier geht es gut. Du selbst bestimmst, ob es gutgeht oder nicht.«
Sie wanderten am Strand entlang. Sie erzählte, daß sie in ein paar Tagen nach Stockholm fahren würde. Ihr Jahrgang wollte sich zu einem Abschiedsball treffen, bevor sie endgültig in die verschiedenen Polizeibezirke im ganzen Land verstreut wurden.
»Wir hatten keinen Ball«, sagte er. »Ich hatte so gut wie keine Ausbildung, als ich damals anfing. Ich frage mich noch immer, wie diejenigen, die damals zur Polizei wollten, auf ihre Eignung getestet wurden. Die rohe Kraft, glaube ich. Und allzu dumm durfte man nicht sein. Aber ich weiß noch, daß ich ein Bier trank, als ich meine Uniform bekommen hatte. Nicht auf der Straße natürlich, sondern bei einem Kameraden in der Södra Förstadsgata in Malmö.«
Er schüttelte den Kopf. Linda konnte nicht sagen, ob die Erinnerung ihn amüsierte oder quälte.
»Ich wohnte noch zu Hause. Ich glaubte, mein Vater würde verrückt, als ich mit der Uniform nach Hause kam.«
»Warum fand er es so schrecklich, daß du Polizist wurdest?«
»Er hat mich zum Narren gehalten. Ich habe das erst begriffen, als er tot war.«
Linda blieb wie angewurzelt stehen. »Dich zum Narren gehalten?«
Er sah sie an und lächelte. »Eigentlich fand er es ganz gut, daß ich Polizist wurde. Aber statt das zuzugeben, machte er sich einen Jux daraus, mich im Ungewissen darüber zu lassen. Und das schaffte er ja auch, wie du weißt.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Niemand kannte meinen Vater besser als ich. Ich weiß, daß ich recht habe. Der Alte war ein Schurke. Ein wunderbar schurkiger Vater. Der einzige, den ich hatte.«
Sie gingen zum Wagen zurück. Die Wolkendecke war aufgerissen. Als die Sonne durchbrach, wurde es sofort wärmer. Die beiden kartenspielenden Deutschen schauten nicht auf, als sie vorbeigingen.
Als sie zum Wagen kamen, sah er auf die Uhr. »Hast du es eilig, nach Hause zu kommen?« fragte er.
»Ich kann es nicht erwarten, endlich mit der Arbeit anzufangen. Das ist alles. Warum fragst du, ob ich es eilig habe? Ich bin ungeduldig.«
»Ich muß noch einer Sache nachgehen. Ich erzähle dir im Wagen davon.«
Sie nahmen die Straße nach Trelleborg und bogen bei der Abfahrt zum Schloß Charlottenlund ab.
»Eigentlich ist es keine richtige Ermittlung«, sagte er. »Aber da ich schon mal in der Nähe bin, kann ich ja vorbeifahren.«
»Wo vorbeifahren?«
»Am Schloß Marebo. Oder genauer gesagt am See bei Schloß Marebo.«
Die Straße war schmal und kurvenreich. Er erzählte genauso langsam und ruckhaft, wie er fuhr. Linda fragte sich, ob seine geschriebenen Berichte ähnlich schlecht waren wie die mündliche Darstellung, die er ihr gerade gab.
Das Ganze war trotzdem sehr einfach. Vorgestern abend war bei der Polizei in Ystad ein Anruf eingegangen. Ein Mann, der weder seinen Namen nennen noch sagen wollte, von wo er anrief, und der mit einem undeutlichen Dialekt sprach, sagte, daß über dem Marebosee brennende Schwäne zu sehen gewesen seien. Eine ausführlichere Aussage hatte er nicht machen können oder nicht machen wollen. Als der Wachhabende ihm Fragen stellen wollte, hatte er aufgelegt. Er hatte sich nicht wieder gemeldet. Der Anruf wurde zu Protokoll genommen, ohne daß eine Maßnahme veranlaßt wurde, weil gerade dieser Abend ungewöhnlich turbulent war mit einer schweren Körperverletzung in Svarte und zwei Einbrüchen in Geschäfte im Zentrum von Ystad. Man kam zu der Einschätzung, daß es sich um eine optische Täuschung handelte oder daß der Anruf nichts weiter war als grober Unfug. Nur er selbst, als Martinsson ihm von dem Ganzen erzählte, dachte sogleich, daß es unwahrscheinlich genug klang, um wirklich wahr zu sein.
»Brennende Schwäne? Wer tut denn so was?«
»Ein Sadist. Ein Tierquäler.«
»Glaubst du denn, daß es stimmt?«
Er hatte an der Hauptstraße angehalten. Erst nachdem er sie überquert hatte und nach Marebo abgebogen war, antwortete er. »Hast du das nicht auf der Schule gelernt? Daß Polizisten nicht soviel glauben. Sie wollen wissen. Gleichzeitig sind sie darauf gefaßt, daß wirklich alles geschehen kann. Unter anderem, daß jemand anruft und eine Meldung über brennende Schwäne macht. Und daß die Information sich als zutreffend erweist.«
Linda stellte keine weiteren Fragen. Sie bogen auf einen Parkplatz ein und gingen den Hügel hinab bis zum See. Linda ging unmittelbar hinter ihrem Vater und dachte, daß sie bereits eine Uniform trug, auch wenn sie noch unsichtbar war.
Sie gingen um den See herum, ohne eine Spur von toten Schwänen zu finden. Keiner von beiden bemerkte, daß jemand sie durch die Linse eines Fernglases auf ihrem Spaziergang verfolgte.
4
Ein paar Tage später, an einem klaren und ruhigen Morgen, flog Linda nach Stockholm. Zebra hatte ihr geholfen, ein Ballkleid zu nähen. Es war hellblau und vorn und am Rücken tief ausgeschnitten. Ihr Jahrgang hatte einen alten Festsaal an der Hornsgata gemietet. Alle waren gekommen, sogar der verlorene Sohn des Jahrgangs. Von den achtundsechzig Schülern, die mit Linda zusammen angefangen hatten, mußte einer die Ausbildung abbrechen, nachdem sich gezeigt hatte, daß er ein gravierendes Alkoholproblem hatte, das er weder verheimlichen noch in den Griff bekommen konnte. Niemand wußte, wer bei der Schulleitung gepetzt hatte. Wie in einer stillschweigenden Übereinkunft hatten sie entschieden, daß sie alle gleichermaßen verantwortlich waren. Linda stellte ihn sich als ihr Gespenst vor. Er würde immer da draußen im Herbstdunkel sein, mit einer bohrenden Sehnsucht danach, in Gnaden wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
An diesem Abend, als sie zum letztenmal mit ihren Lehrern zusammenkamen, trank Linda viel zuviel Wein. Es kam zuweilen vor, daß sie beschwipst war, doch sie meinte immer, zu wissen, wann sie genug hatte. An diesem Abend trank sie jedoch zuviel. Vielleicht weil ihre Ungeduld ihr stärker zu schaffen machte, als sie so viele ehemalige Mitschüler traf, die bereits angefangen hatten zu arbeiten. Ihr bester Freund aus der Hochschulzeit, Mattias Olsson, hatte sich entschieden, nicht nach Sundsvall zurückzugehen, wo er herkam, und arbeitete jetzt bei der Ordnungspolizei in Norrköping. Er hatte sich schon ausgezeichnet, als er einen unter dem Einfluß anaboler Steroide amoklaufenden Bodybuilder niedergerungen hatte. Linda gehörte zu den wenigen, die noch warteten.
Sie tanzten, Zebras Ballkleid erhielt viel Lob, einige hielten Reden, andere sangen ein in Maßen spöttisches Lied auf das Lehrerkollegium, und es wäre alles in allem ein gelungener Abend gewesen, wenn nicht einer der Köche einen Fernseher in der Küche gehabt hätte.
Die Spätnachrichten brachten als Hauptthema die niederschmetternde Neuigkeit, daß ein Polizist in der Nähe von Enköping auf offener Straße niedergeschossen worden war. Die Nachricht sprach sich im Nu unter den tanzenden und trinkenden Polizeiaspiranten und ihren Lehrern herum. Die Musik wurde abgestellt, der Fernseher aus der Küche hereingetragen, und es war, dachte Linda nachher, als hätten sie alle einen Tritt in den Bauch bekommen. Plötzlich war das Fest geplatzt, das Licht wurde fahl, sie saßen da in ihren Ballkleidern und Anzügen und sahen die Bilder eines Polizisten, der niedergemäht worden war wie bei einer kaltblütigen Hinrichtung, als er zusammen mit einem Kollegen versuchte, einen gestohlenen Wagen anzuhalten. Zwei Männer waren herausgesprungen und hatten aus Maschinenpistolen gefeuert. Es waren keine Warnschüsse abgegeben worden, sie hatten in eindeutiger Tötungsabsicht gehandelt. Das Fest war vorbei, die Wirklichkeit hämmerte hart an die Tür.
Spät in der Nacht, als sie auseinandergegangen waren und Linda auf dem Weg zu ihrer Tante Kristina war, bei der sie übernachtete, blieb sie am Mariatorg stehen und rief ihren Vater an. Es war drei Uhr, und sie hörte seine verschlafene Stimme. Dennoch wurde sie ärgerlich. Er sollte nicht schlafen, wenn ein paar Stunden zuvor ein Kollege ermordet worden war. Das sagte sie auch.
»Nichts wird besser davon, daß ich nicht schlafe. Wo bist du?«
»Auf dem Weg zu Kristina.«
»Habt ihr bis jetzt gefeiert? Wie spät ist es eigentlich?«
»Drei. Es war zu Ende, als wir hörten, was passiert war.«
Er atmete schwer, als habe er sich immer noch nicht entschieden, wach zu werden.
»Was sind das für Geräusche im Hintergrund?«
»Nachtverkehr. Ich warte auf ein Taxi.«
»Wer ist bei dir?«
»Niemand.«
»Du kannst doch nicht mitten in der Nacht allein durch Stockholm laufen!«
»Ich komm schon klar. Ich bin kein Kind mehr. Entschuldige, daß ich dich geweckt habe.«
Wütend drückte sie auf die Aus-Taste ihres Handys. Es passiert zu oft, dachte sie. Es macht mich rasend. Und er merkt nicht, daß er mir auf den Geist geht.
Sie winkte ein Taxi heran und fuhr hinaus nach Gärdet, wo Kristina mit ihrem Mann und ihrem achtzehnjährigen Sohn lebte, der noch zu Hause wohnte. Kristina hatte ihr im Wohnzimmer das Sofa zurechtgemacht. Das Licht einer Straßenlaterne fiel ins Zimmer. Auf einem Bücherregal stand ein Foto von ihrem Vater, ihrer Mutter und ihr selbst. Es war vor vielen Jahren aufgenommen worden. Sie war damals vierzehn, und sie erinnerte sich noch gut daran. Es war im Frühjahr gewesen, vielleicht an einem Sonntag. Sie waren nach Löderup hinausgefahren. Ihr Vater hatte den Fotoapparat bei einem Wettbewerb im Polizeipräsidium gewonnen, und als sie das Bild machen wollten, hatte ihr Großvater sich plötzlich geweigert und sich bei seinen Gemälden im Nebengebäude eingeschlossen. Ihr Vater war wütend geworden, Mona war eingeschnappt und hatte sich zurückgezogen. Linda war zu ihrem Großvater hineingegangen und hatte versucht, ihn zu überreden, herauszukommen und sich mit ihnen fotografieren zu lassen.
»Ich will nicht auf Bildern sein, auf denen Menschen, die bald auseinandergehen, dastehen und grinsen«, hatte er geantwortet.
Sie erinnerte sich noch, wie weh es getan hatte. Auch wenn sie hätte wissen müssen, wie unsensibel ihr Großvater sein konnte, hatten seine Worte sie getroffen wie eine Ohrfeige. Dann war es ihr gelungen, sich zu fassen und ihn zu fragen, ob es stimmte, ob er etwas wüßte, was ihr nicht bekannt sei.
»Nichts wird davon besser, daß du die Augen verschließt«, hatte er gesagt. »Geh jetzt raus. Du sollst mit auf das Bild. Vielleicht täusche ich mich.«
Sie saß auf dem zum Schlafen zurechtgemachten Sofa und dachte, daß ihr Großvater fast nie recht gehabt hatte. Aber diesmal hatte er gewußt, wovon er redete. Er hatte sich geweigert, mit auf dem Foto zu sein, das mit Selbstauslöser gemacht wurde. Während des folgenden Jahres, des letzten gemeinsamen Jahres ihrer Eltern, hatten die Spannungen zugenommen.
In dieser Zeit hatte sie zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das erstemal, als sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war es der Vater gewesen, der sie gefunden hatte. Sie konnte noch immer das Bild seiner Angst vor sich sehen. Aber die Ärzte mußten ihm gesagt haben, daß zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Gefahr bestanden hatte. Die Eltern hatten ihr kaum Vorwürfe gemacht, und die wenigen erreichten sie nicht in Worten, sondern in Blicken und in Schweigen. Dagegen wurde bei ihren Eltern die letzte gewaltsame Eruption von Streit ausgelöst, die dazu führte, daß Mona eines Tages ihre Koffer packte und auszog.
Linda dachte später, wie seltsam es war, daß sie nicht die Verantwortung für die Scheidung ihrer Eltern auf sich genommen hatte. Aber eigentlich hatte sie ihnen einen Dienst erwiesen, sagte sie sich trotzig; sie hatte dazu beigetragen, eine Ehe zu beenden, die seit langem abgeschlossen und vorüber war. Sie hatte sich oft in Erinnerung gerufen, daß sie trotz ihres leichten Schlafs und der Hellhörigkeit der Wohnung nie von nächtlichen Geräuschen aus dem Schlafzimmer wach geworden war, die darauf schließen ließen, daß die Eltern sich liebten. Sie hatte einen Keil in die Ehe ihrer Eltern getrieben, der sie endgültig voneinander befreit hatte.
Von dem zweiten Selbstmordversuch wußte ihr Vater nichts. Das war ihr größtes Geheimnis vor ihm. Manchmal glaubte sie, er hätte doch erfahren, was geschehen war. Aber ebenso häufig war sie davon überzeugt, daß er nichts ahnte. Diesmal war es ihr ernst gewesen. Sie sah alles noch ganz klar vor sich.
Sie war sechzehn und zu ihrer Mutter nach Malmö gefahren. Es war eine Zeit großer Niederlagen, so großer Niederlagen, wie man sie nur als Teenager erlebt. Sie mochte sich selbst nicht leiden, schrak vor ihrem Spiegelbild zurück, das sie gleichzeitig liebte, nichts an ihrem Körper war, wie es sein sollte. Die Depression kam schleichend, wie eine Krankheit, deren Symptome zunächst vage und nicht der Beachtung wert waren. Aber auf einmal war es zu spät, und sie wurde von einer unbezwingbaren Depression befallen, als ihre Mutter für all ihre Qualen nur Unverständnis aufbrachte. Was sie am meisten erschütterte, war Monas Nein, als sie sie gebeten hatte, nach Malmö ziehen zu dürfen. Sie konnte sich über das Zusammenleben mit ihrem Vater nicht beklagen, es war die Kleinstadt, aus der sie fortwollte. Aber Mona blieb hart.
Im Zorn hatte Linda die Wohnung verlassen. Es war im zeitigen Frühjahr, noch Schnee auf den Beeten und an den Straßenrändern, ein beißender Wind kam vom Sund herüber, und sie war durch die Straßen gelaufen, die endlose Regementsgata entlang zur Ausfahrt Richtung Ystad. Irgendwo hatte sie sich verlaufen. Sie hatte die gleiche Angewohnheit wie ihr Vater, beim Gehen auf den Boden zu starren. Wie er war sie bei verschiedenen Gelegenheiten gegen Laternenpfähle oder parkende Autos gelaufen. Sie war zu einer Brücke über eine Autobahn gekommen. Ohne wirklich zu wissen, warum, war sie auf das Brückengeländer geklettert, wo sie anfing, im Wind zu schwanken. Sie schaute hinab auf die heranrasenden Autos und die gleißenden Lichter, die das Dunkel zerschnitten. Wie lange sie so stand, wußte sie nicht. Es war wie eine letzte große Vorbereitung, sie hatte nicht einmal Angst oder Selbstmitleid verspürt. Sie hatte nur darauf gewartet, daß die schwere Müdigkeit oder die Kälte sie dazu brachten, den Schritt hinaus in die Leere zu tun.
Plötzlich hatte jemand hinter ihr gestanden, oder vielleicht neben ihr, und behutsam zu ihr gesprochen. Es war eine Frau, eine junge Frau mit kindlichem Aussehen, vielleicht nicht viel älter als sie selbst. Aber sie trug eine Uniform, sie war Polizistin. Weiter hinten auf der Brücke standen zwei Polizeiwagen mit kreisendem Blaulicht. Aber nur diese Polizistin mit dem kindlichen Gesicht hatte sich genähert. Im Hintergrund hatte Linda die Schatten anderer Menschen wahrgenommen, die warteten, die die Verantwortung dafür, diese Idiotin von dem Brückengeländer herunterzuholen, einer jungen Frau übertragen hatten, die nur wenig älter war als sie selbst. Sie hatte mit ihr gesprochen, hatte gesagt, daß sie Annika heiße und nur wolle, daß Linda da herunterkäme, ein Sprung ins Leere sei keine Lösung, egal, welches Problem sie habe. Linda hatte widersprochen, sie hatte das Gefühl, das, was sie tat, verteidigen zu müssen. Wie konnte Annika wissen, wovon sie sich befreien wollte? Aber Annika gab nicht nach, sie wirkte vollkommen ruhig, als sei sie mit einer unerschöpflichen Geduld ausgestattet. Als Linda schließlich vom Geländer herunterkletterte und zu weinen anfing, aus einer Enttäuschung heraus, die natürlich zum Teil Erleichterung war, hatte auch Annika geweint. Sie hatten dagestanden und sich umarmt. Linda bat darum, daß ihr Vater, der auch Polizist sei, nichts erführe. Und ihre Mutter auch nicht, aber vor allem nicht ihr Vater. Annika versprach es ihr, und das Versprechen hatte sie gehalten. Viele Male hatte Linda sich vorgenommen, sie anzurufen. Sie hatte die Hand am Telefon gehabt, um im Polizeipräsidium in Malmö anzurufen. Aber jedesmal hatte sie die Hand wieder zurückgezogen.
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Sie stellte das Foto zurück aufs Bücherregal, dachte an den Polizisten, der ermordet worden war, und legte sich hin, um zu schlafen. Von der Straße waren ein paar lärmende Personen zu hören, die sich stritten. Sie dachte, daß sie bald mitten zwischen ihnen stehen würde und zu schlichten versuchen müßte. Aber war es wirklich das, was sie wollte? Die Wirklichkeit in Gestalt des ermordeten Polizisten auf einer Straße in Enköping gab ihr zu denken.
In dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Am Morgen wurde sie von Kristina geweckt, die jedoch in Eile war, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Kristina war in jeder Hinsicht das Gegenteil ihres Bruders. Sie war groß und schlank, hatte ein spitzes Gesicht und sprach mit einer piepsigen, schrillen Stimme, über die Lindas Vater sich bei seiner Tochter oft lustig gemacht hatte. Aber Linda mochte ihre Tante. Sie hatte etwas Einfaches, nichts brauchte kompliziert zu sein. Auch darin war sie das Gegenteil ihres Bruders, der überall Probleme sah, unlösbare Probleme, was das Privatleben anging, Probleme, auf die er sich wie ein wütender Bär stürzte, was die Arbeit betraf.
Um kurz vor neun fuhr Linda nach Arlanda hinaus, um zu versuchen, eine Maschine nach Malmö zu bekommen. Die Zeitungsaushänger posaunten den Polizistenmord heraus. Sie bekam einen Platz in einer Maschine um zwölf Uhr und rief ihren Vater an, der sie in Sturup abholte.
»War es schön?« fragte er.
»Was glaubst du?«
»Ich weiß nicht. Ich war ja nicht da.«
»Darüber haben wir heute nacht gesprochen, falls du dich erinnerst.«
»Natürlich erinnere ich mich. Du warst unhöflich.«
»Ich war müde und verbittert. Ein Polizist ist ermordet worden. Das Fest war natürlich danach nur noch fad. Man konnte nicht mehr fröhlich sein.«
Der Vater nickte, sagte aber nichts. Er setzte sie in der Mariagata ab.
»Was macht der Sadist?«
Er verstand zuerst nicht, was sie meinte.
»Der Tierquäler. Die brennenden Schwäne.«
»Das war bestimmt nur jemand, der sich wichtig machen wollte. Es wohnen ziemlich viele Leute in der Nähe des Sees. Irgend jemand müßte doch etwas bemerkt haben. Wenn es wirklich stimmt.«
___________
Kurt Wallander fuhr ins Präsidium zurück. Als Linda in die Wohnung hinaufkam, sah sie neben dem Telefon einen Zettel mit seiner Schrift. Es ging um Anna. Ein Anruf vom Abend vorher. Ruf mich an. Wichtig. Daneben hatte der Vater einen Kommentar gekritzelt, den sie nicht entziffern konnte. Sie rief ihn im Büro an:
»Warum hast du nicht gesagt, daß Anna angerufen hat?!«
»Ich habe es vergessen.«
»Was steht da? Was du daneben geschrieben hast?«
»Ich fand, daß sie besorgt wirkte.«
»Was meinst du damit?«
»Das, was ich sage. Daß sie besorgt wirkte. Am besten, du rufst sie an.«
Linda wählte Annas Nummer. Zuerst war besetzt, dann meldete sich niemand. Später versuchte sie es noch einmal, vergeblich. Gegen sieben, nachdem sie und ihr Vater zu Abend gegessen hatten, zog sie ihre Jacke an und ging zu Annas Wohnung und klingelte. Als Anna aufmachte, sah Linda sogleich, was ihr Vater gemeint hatte. Annas Gesicht war verändert. Ihre Augen flackerten unruhig. Sie zog Linda in den Flur und schlug die Tür zu.
Als habe sie es eilig, die Umwelt auszuschließen.
5
Plötzlich erinnerte sich Linda an Annas Mutter, Henrietta. Eine magere Frau, mit ruckhaften und nervösen Bewegungen. Linda hatte immer Angst vor ihr gehabt. Es war wie eine fixe Idee über sie gekommen, daß Annas Mutter wie eine leicht zerbrechliche Vase war, die zerspringen konnte, wenn jemand zu laut sprach, eine heftige Bewegung machte oder die Stille störte, die das Wichtigste in ihrem Leben zu sein schien.
Linda erinnerte sich an das erste Mal, als sie Annas Zuhause besucht hatte. Sie war acht oder neun, Anna ging in ihre Parallelklasse, und warum sie sich mochten, konnten sie nie beantworten. Wir mochten uns eben, dachte Linda. Sonst nichts. Jemand steht da und wirft unsichtbare Bänder um Menschen und verknotet sie. So war es mit Anna und mir. Wir waren unzertrennlich, bis dieser picklige Junge zwischen uns trat und wir uns beide in ihn verliebten.
Annas verschwundener Vater war für sie nur noch ein Mann auf ein paar vergilbten Fotos. Aber in ihrer Wohnung waren keine Bilder zu sehen. Henrietta hatte alle Spuren beseitigt, als wolle sie ihrer Tochter zu verstehen geben, daß ihr Vater nie mehr wiederkommen würde. Er war gegangen, um nicht zurückzukommen. Die Fotos hatte Anna in einer Schublade aufbewahrt, gut versteckt zwischen ihrer Unterwäsche. Linda erinnerte sich an einen Mann mit langen Haaren und Brille, der schaute, als sei das Bild gegen seinen Willen aufgenommen worden. Anna hatte ihr die Fotos in höchster Vertraulichkeit gezeigt. Als sie Freundinnen wurden, war ihr Vater seit zwei Jahren verschwunden. Anna leistete einen wortlosen Widerstand gegen die Art und Weise, in der ihre Mutter in der Wohnung und in ihrer beider Leben jede Spur des Vaters tilgte. Als die Mutter seine letzten Kleider in einen Papiersack gestopft und ihn zum Müll in den Keller gestellt hatte, war Anna in der Nacht hinuntergegangen und hatte sich ein Paar Schuhe und ein Hemd herausgesucht. Sie hatte die Sachen unter ihrem Bett versteckt. Für Linda hatte der verschwundene Vater etwas Abenteuerliches. Oft wünschte sie sich, es wäre umgekehrt und ihre streitenden Eltern wären verschwunden, wie graue Streifen von Rauch an einem blauen Himmel.
___________
Sie setzten sich aufs Sofa. Anna lehnte sich zurück, so daß ihr Gesicht halb im Schatten blieb.
»Wie war euer Ball?«
»Wir bekamen zum Tanz einen toten Polizisten. Da war es vorbei. Aber das Kleid war prima.«
Ich kenne das, dachte Linda. Anna kommt nie direkt zur Sache. Wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hat, braucht es seine Zeit. Deshalb fragte sie:
»Und wie geht es deiner Mutter?«
»Gut.«
Plötzlich stutzte Anna jedoch.
»Gut? Warum sage ich ›gut‹? Es geht ihr schlechter denn je. Seit zwei Jahren schreibt sie an einem Requiem über ihr eigenes Leben, ›Die namenlose Messe‹ nennt sie es. Zweimal hat sie die Noten ins Feuer geworfen, zweimal hat sie sie im letzten Moment wieder aus den Flammen gefischt. Ihr Selbstvertrauen ist ungefähr genauso tief abgesackt wie bei einem Menschen, der nur noch einen Zahn im Mund hat.«
»Wie klingt ihre Musik?«
»Ich habe kaum eine Ahnung. Dann und wann hat sie versucht, es mir zu erklären, indem sie etwas vorgesummt hat. In den seltenen Augenblicken, in denen sie glaubte, das, was sie schreibe, habe irgendeinen Wert. Aber ich erkenne nie eine Melodie. Gibt es Musik ohne Melodie? Ihre Musik hört sich an wie Schreie, als ob jemand nach dir sticht oder dich schlägt. Es will mir überhaupt nicht in den Kopf, daß jemand sich so etwas anhören will. Gleichzeitig bewundere ich sie, weil sie nicht aufgibt. Zweimal habe ich versucht, ihr zu raten, eine andere Richtung einzuschlagen, etwas ganz anderes zu machen. Sie ist doch noch keine Fünfzig. Beide Male ist sie auf mich losgegangen, hat gekratzt und gezerrt und gespuckt. Da war ich überzeugt, daß sie drauf und dran ist, verrückt zu werden.«
Anna unterbrach sich, als fürchtete sie, zuviel gesagt zu haben. Linda wartete auf die Fortsetzung. Ihr fiel ein, daß sie schon einmal so gesessen hatten, als sie entdeckten, daß sie beide in denselben Jungen verliebt waren. Keine hatte etwas sagen wollen. Sie hatten diesen stummen und atemlosen Schrecken geteilt, daß ihre Freundschaft auf dem Spiel stand. Damals hatte ihr Schweigen den ganzen Abend und bis tief in die Nacht gedauert. Es war in der Mariagata gewesen. Lindas Mutter war schon mit ihren Sachen ausgezogen, und ihr Vater war in den Wäldern bei Kadesjö gewesen auf der Suche nach einem Psychopathen, der einen Taxifahrer überfallen hatte. Linda wußte sogar noch, daß Anna an jenem Abend und in der Nacht schwach nach Vanille geduftet hatte. Gab es Parfüm mit Vanilleduft? Oder Seife? Sie hatte damals nicht gefragt und wollte es auch jetzt nicht tun.
Anna richtete sich auf und kam aus dem Halbschatten heraus. »Hast du jemals das Gefühl gehabt, daß du drauf und dran warst, den Verstand zu verlieren?«
»Jeden Tag.«
Anna warf irritiert den Kopf in den Nacken. »Ich mache keine Witze. Ich meine es ernst.«
Linda bereute sofort.
»Es ist vorgekommen. Du weißt, wann.«
»Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten. Und auf einem Brückengeländer gestanden. Aber das ist Verzweiflung. Das ist nicht dasselbe. Alle Menschen sind irgendwann einmal verzweifelt. Es ist wie ein Initiationsritus für das Erwachsenenleben. Wenn man nicht gegen das Meer oder den Mond oder seine Eltern anschreit, hat man keine Chance, erwachsen zu werden. Prinz und Prinzessin Sorgenfrei sind verfluchte Geschöpfe. Denen hat man Betäubungsspritzen in die Seele verpaßt. Wir Lebenden müssen wissen, was Trauer ist.«
Linda beneidete Anna wegen ihrer Fähigkeit, sich zu artikulieren. Sprache und Gedanke, dachte sie. Ich müßte mich erst hinsetzen und es zu Papier bringen, wenn ich versuchen wollte, so schön zu reden wie sie.
»Dann habe ich nie Angst gehabt, ich könnte verrückt werden«, antwortete sie.
Anna stand auf, ging zum Fenster und kehrte nach einer Weile zurück. Man ähnelt seinen Eltern, dachte Linda. Genau das habe ich ihre Mutter tun sehen, ständig die gleiche Bewegung, um ihre Unruhe unter Kontrolle zu behalten. Aufstehen, zum Fenster gehen und zurückkommen. Mein Vater verschränkt die Arme fest vor der Brust, und Mona reibt sich die Nase. Und was hat meine Großmutter getan? Sie starb, als ich so klein war, daß ich mich nicht an sie erinnern kann. Und Großvater? Der pfiff auf alles und malte einfach weiter seine gräßlichen Bilder.
»Ich glaube, ich habe gestern auf der Straße in Malmö meinen Vater gesehen«, sagte Anna plötzlich.
Linda runzelte die Stirn und wartete auf eine Fortsetzung, die aber ausblieb. »Du glaubst, du hättest deinen Vater in Malmö auf der Straße gesehen?«
»Ja.«
Linda überlegte. »Aber du hast ihn doch nie gesehen. Nein, das ist falsch. Du hast ihn gesehen, aber du warst so klein, als er wegging, daß du dich nicht an ihn erinnerst.«
»Ich habe die Fotos.«
Linda rechnete im Kopf nach. »Es ist fünfundzwanzig Jahre her, daß er verschwunden ist.«
»Vierundzwanzig.«
»Vierundzwanzig. Wie sieht ein Mensch nach vierundzwanzig Jahren aus? Das weiß man nicht. Man weiß nur, daß man anders aussieht.«
»Trotzdem war er es. Meine Mutter hat mir von seinem Blick erzählt. Ich bin sicher, daß er es war. Er muß es gewesen sein.«
»Ich wußte nicht einmal, daß du gestern in Malmö warst. Ich dachte, du bist in Lund, wenn du wegfährst. Wegen deiner Prüfungen oder was du nun da machst.«
Anna sah sie nachdenklich an. »Du glaubst mir nicht.«
»Du glaubst dir selbst nicht.«
»Es war mein Vater, den ich auf der Straße gesehen habe.«
Sie atmete tief durch. »Du hast recht. Ich war in Lund. Als ich in Malmö umsteigen wollte, hatte es irgendwo draußen bei Skurup einen Defekt an einer Weiche gegeben. Ein Zug fiel aus. Plötzlich hatte ich zwei Stunden freie Zeit. Es ärgerte mich, weil ich es hasse zu warten. Ich habe nie gelernt, Geduld zu haben. Nie begriffen, daß Zeit etwas ist, was man verliert oder zugute hat. Während man wartet, kann man etwas anderes tun. Aber ich ärgere mich nur. Ich ging in die Stadt, ganz planlos. Nur um diese Zeit totzuschlagen. Irgendwo kaufte ich ein Paar Strümpfe, die ich gar nicht brauchte. Vor dem Hotel St. Jörgen war eine Frau auf der Straße umgefallen. Ich ging weiter, es berührt mich immer unangenehm, wenn jemand plötzlich krank wird oder ohnmächtig wird. Ihr Rock war hochgerutscht, und es empörte mich, daß niemand ihn herunterzog. Ich war sicher, daß sie tot war. Die Menschen um sie herum standen da und schauten sie an, als wäre sie ein totes Tier, das an den Strand gespült worden war. Ich lief weiter, zum Triangel hinauf, und da ging ich ins Hotel, um den gläsernen Aufzug zum Dach hinauf zu nehmen. Ich mache das meistens, wenn ich in Malmö bin, erhebe mich wie in einem Glasballon zum Himmel. Aber diesmal ging es nicht. Man muß den Aufzug mit seinem Zimmerschlüssel öffnen. Ich war so enttäuscht. Es kam mir vor, als hätte mir jemand ein Spielzeug weggenommen. Ich setzte mich in einen der Sessel am Fenster und wollte da bleiben, bis es Zeit wäre, wieder zum Bahnhof zu gehen.
Und da entdeckte ich ihn. Er stand draußen auf der Straße, es kamen plötzliche Windböen, die das Fenster erzittern ließen. Ich blickte auf, und da stand er auf dem Bürgersteig und sah mich an. Unsere Blicke trafen sich, wir starrten uns vielleicht fünf Sekunden lang an. Dann senkte er den Blick und ging weiter. Ich war so geschockt, daß ich nicht auf den Gedanken kam, ihm zu folgen. In dem Moment glaubte ich auch nicht, daß er es war. Es mußte eine Fata Morgana gewesen sein, eine Sinnestäuschung, das kommt ja manchmal vor, daß man glaubt, in einer wildfremden Person auf der Straße einen Menschen aus der Vergangenheit zu erkennen. Als ich schließlich auf die Straße hinauslief, war er natürlich fort. Ich ging zum Bahnhof zurück, schlich mich wie ein Raubtier durch die Straßen und versuchte, Witterung aufzunehmen, um ihn aufzuspüren. Aber er war verschwunden. Ich war so erregt, so aufgewühlt, daß ich den Zug fahren ließ und noch einmal die Straßen im Zentrum durchstreifte. Aber er war nirgendwo. Dennoch war ich sicher. Es war mein Vater, der da auf der Straße gestanden hatte. Er war älter als auf den Fotos. Aber ich hatte das Gefühl, als gelänge es mir, einen weiteren Kasten mit Fotos aus der Erinnerung heraufzuholen, Bilder, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Da war er, und ich war total überzeugt. Mama hat einmal seinen Blick so beschrieben, daß er immer erst mit einer gleitenden Bewegung die Augen zum Himmel wandte, bevor er etwas sagte. Und das genau tat er da vor dem Fenster. Er hatte nicht so langes Haar wie damals, als er verschwand, und eine andere Brille, nicht die mit der dicken schwarzen Fassung, es war eine randlose Brille. Ich bin sicher. Ich habe dich angerufen, weil ich einfach mit jemandem sprechen mußte, um nicht verrückt zu werden. Es war mein Vater. Und nicht nur ich erkannte ihn, er hatte mich zuerst gesehen und war stehengeblieben, weil er mich erkannt hatte.«
Linda spürte, daß Anna wirklich überzeugt war, ihren Vater vor dem Hotelfenster beim Triangel gesehen zu haben. Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was sie über das Gedächtnis gelernt hatte, das Erinnerungsvermögen von Zeugen, über nachträgliche Konstruktionen und reine Einbildung. Sie dachte an das, was sie über Personenbeschreibungen und die Computerübungen wußte, die sie an der Polizeihochschule gemacht hatten. Jeder mußte ein Bild von sich selbst in zwanzig Jahren herstellen. Linda hatte gesehen, wie sie mit zunehmendem Alter ihrem Vater immer ähnlicher wurde, vielleicht sogar ihrem Großvater. Wir wandern auf den Wegen der Eltern und Großeltern, hatte sie gedacht. Irgendwo in unseren Gesichtern treten im Laufe des Lebens all unsere Ahnen in Erscheinung. Gleicht man als Kind seiner Mutter, nimmt man im Alter Gesichtszüge seines Vaters an. Wenn man sein Gesicht nicht wiedererkennt, sind es die seit langem vergessenen Vorfahren, die kurz zum Vorschein kommen. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß es wirklich Annas Vater gewesen war. Er hätte kaum eine erwachsene Frau erkennen können, die er als kleines Kind zum letztenmal gesehen hat. Es sei denn, er hatte heimlich ihre Entwicklung verfolgt und sich neben ihr befunden, ohne daß sie davon wußte. Linda überdachte schnell noch einmal, was sie über den geheimnisvollen Erik Westin wußte. Annas Eltern waren bei der Geburt ihrer Tochter sehr jung gewesen. Sie kamen beide aus einem großstädtischen Milieu, waren aber von der Welle grüner Unschuld mitgezogen worden, die zur Entstehung von Landkommunen in entvölkerten småländischen Dörfern führte. Linda hatte eine vage Erinnerung daran, daß Erik Westin ein guter Handwerker gewesen war, der originelle und äußerst fußgerechte Sandalen anfertigte. Aber sie hatte auch gehört, daß Annas Mutter ihn einen verantwortungslosen Taugenichts nannte, einen Haschisch rauchenden Mann, der die Passivität zum Lebensstil erkoren hatte und nicht wußte, was es bedeutete, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Aber warum war er eigentlich weggegangen? Es gab keinen Abschiedsbrief und auch keine Andeutungen oder Vorbereitungen einer Flucht. Die Polizei hatte nach ihm gefahndet, doch es gab keine Hinweise darauf, daß irgendein Verbrechen vorlag.
Erik Westin mußte seine Flucht sorgfältig geplant haben. Er hatte seinen Paß und das Geld, das er besaß, mitgenommen. Es konnte nicht viel gewesen sein; ihre Einkünfte waren gering. Das meiste mußte er für den Verkauf des Familienautos bekommen haben, das eigentlich Annas Mutter gehörte, denn sie war diejenige, die durch Nachtwachen im Krankenhaus Geld verdient und gespart hatte. Erik Westin war eines Tages einfach verschwunden. Es war früher schon vorgekommen, daß er verschwand, ohne Bescheid zu sagen. Deshalb hatte Annas Mutter zwei Wochen gewartet, bevor sie anfing, sich Sorgen zu machen, und zur Polizei ging und ihn als vermißt meldete.
Linda erinnerte sich daran, daß ihr Vater in irgendeiner Form mit der Nachforschung zu tun hatte. Doch weil kein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag, war Erik Westin ein Fall unter vielen anderen geworden. Nichts belastete ihn, keine Anklage, keine Vorstrafe. Aber es ließ auch nichts darauf schließen, daß er von geistiger Verwirrung befallen worden wäre. Einige Monate vor seinem Verschwinden hatte er sich einer ärztlichen Untersuchung unterzogen und sich als vollkommen gesund erwiesen, von einem geringfügigen Blutmangel abgesehen.
Linda wußte aus der Statistik, daß die meisten Vermißten, die gesucht werden, wieder auftauchen. Unter denen, die nicht zurückkamen, waren viele Selbstmörder, und die meisten anderen blieben freiwillig weg. Nur eine kleine Anzahl fiel Verbrechen zum Opfer. Das waren die, die an unbekannten Orten vergraben oder, mit Gewichten beschwert, im Meer oder in Binnenseen versenkt worden waren.
»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«
»Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Es war so ein Schock für mich.«
»Im Innersten bist du nicht überzeugt, daß er es war, der da vor dem Fenster stand.«
Anna sah sie flehentlich an. »Ich weiß, daß er es war. Wenn er es nicht war, muß es ein Kurzschluß in meinem Gehirn gewesen sein. Deshalb habe ich dich gefragt, ob du jemals Angst gehabt hättest, verrückt zu werden.«
»Warum sollte er jetzt zurückkommen? Nach vierundzwanzig Jahren? Warum steht er da und sieht dich durch ein Fenster an? Woher wußte er, daß du da warst?«
»Ich weiß es nicht.«
Anna stand erneut auf, ging zum Fenster und wieder zurück. »Manchmal habe ich gedacht, daß er gar nicht verschwunden ist. Daß er es nur vorzog, sich unsichtbar zu machen.«
»Aber warum?«
»Ich glaube, da war etwas, was er nicht ertrug. Es hatte nichts mit mir oder Mama zu tun. Ich glaube, es war das Gefühl, daß er mehr wollte. Das Leben mußte doch mehr sein.
Schließlich trieb ihn das fort von uns. Vielleicht versuchte er, vor sich selbst davonzulaufen. Es gibt Menschen, die träumen davon, wie Schlangen zu sein, ein Tier, das aus seiner Haut schlüpfen kann. Aber vielleicht hat er sich die ganze Zeit hier dicht bei mir befunden, ohne daß ich etwas davon wußte.«
»Du hast mich gebeten zu kommen, damit ich dir zuhöre und dann sage, was ich meine. Auch wenn du sicher bist, daß er es war, der vor dem Fenster stand, kann ich nicht glauben, daß du recht hast. Es ist dein Wunschdenken, du möchtest, daß er zurückkommt, sich wieder sichtbar macht. Vierundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit.«
»Ich weiß, daß er es war. Es war mein Vater, der da stand. Nach all diesen Jahren zeigt er sich mir wieder. Ich irre mich nicht.«
Ihr Gespräch war zu Ende. Linda spürte, daß Anna jetzt allein sein wollte, so wie sie vorher ihre Gesellschaft gebraucht hatte.
»Sprich mit deiner Mutter«, sagte Linda. »Entweder hast du ihn gesehen, oder du hast etwas gesehen, was du sehen wolltest.«
»Du glaubst mir nicht?«
»Es geht nicht darum, was ich glaube oder nicht. Nur du weißt, was du vor dem Hotelfenster gesehen hast. Du mußt verstehen, daß es mir schwerfällt zu glauben, daß es dein Vater war. Natürlich sage ich nicht, daß du lügst. Warum solltest du? Ich sage nur, daß Menschen, die vierundzwanzig Jahre fort waren, äußerst selten zurückkommen. Denk daran, überschlaf das Ganze noch einmal, und dann reden wir morgen weiter. Ich kann um fünf Uhr kommen. Paßt dir das?«
»Ich weiß, daß ich ihn gesehen habe.«
Linda runzelte die Stirn. In Annas Tonfall klang etwas Angespanntes und Hohles an. Vielleicht lügt sie doch, dachte Linda. Irgendwas an der Sache stimmt nicht. Aber warum sollte sie mich belügen? Sie muß doch merken, daß ich sie durchschaue.
Linda ging durch die abendlich leere Stadt nach Hause. Vor dem Kino in der Stora Östergata standen ein paar Jugendliche, in ein Kinoplakat versunken. Sie fragte sich, ob sie die unsichtbare Uniform bemerkten, die sie trug.
6
Am Tag danach verschwand Anna Westin spurlos aus ihrer Wohnung. Linda war sofort klar, daß etwas passiert war, als sie um fünf Uhr an ihrer Tür klingelte und Anna nicht aufmachte. Linda klingelte erneut und rief durch den Briefschlitz. Aber Anna war nicht da. Linda wartete eine halbe Stunde, zögerte noch eine Weile, holte aber dann ihre Dietriche aus der Jackentasche. Einer ihrer Kurskameraden hatte in den USA einen Vorrat davon gekauft und sie verschenkt, unter anderem an Linda. Heimlich hatten sie geübt, alle Türen zu öffnen, an die sie herankamen. Es gab nur wenige Standardschlösser, die Linda nicht schaffte.
Sie öffnete auch diese Tür mit einem raschen Griff und zog sie hinter sich zu. Dann ging sie durch die leeren Räume. Alles war aufgeräumt, genau wie am Tag zuvor. Die Spüle geleert, die Handtücher frisch gebügelt. Anna war pünktlich. Sie hatten einen genauen Zeitpunkt verabredet. Anna war nicht da. Also mußte etwas passiert sein. Die Frage war nur, was. Linda setzte sich aufs Sofa, auf dem sie am Abend zuvor gesessen hatte. Anna glaubt, ihren verschwundenen Vater auf der Straße gesehen zu haben, dachte sie. Und jetzt verschwindet sie selbst. Natürlich hängt das zusammen. Fragt sich nur, wie. Eine Rückkehr, die vermutlich nur Einbildung ist. Ist ihr Verschwinden auch Einbildung? Linda blieb lange sitzen und versuchte zu überlegen, was geschehen sein könnte. Aber im Grunde saß sie nur da und wartete auf Anna, in der Hoffnung, sie habe sich verspätet oder ihre Verabredung vergessen.
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Annas rätselhaftes Verschwinden war wie der Höhepunkt eines Tages, der für Linda früh angefangen hatte. Um halb acht war sie ins Polizeipräsidium gegangen, um Martinsson zu treffen, einen von Kurt Wallanders ältesten Kollegen, der zu Lindas Mentor bestimmt worden war. Sie sollten nicht zusammenarbeiten, weil Linda wie alle Polizeianwärter bei der Ordnungspolizei anfing und mit verschiedenen Kollegen Streife fuhr. Aber Martinsson war der Kollege, an den sie sich wenden konnte. Linda kannte ihn, seit sie klein war. Da war Martinsson selbst noch wie ein großes Kind gewesen, der jüngste Mitarbeiter ihres Vaters. Von ihrem Vater hatte sie gehört, daß Martinsson häufig den Mut verloren hatte und bei der Polizei aufhören wollte. Mindestens dreimal in den letzten zehn Jahren war es ihrem Vater gelungen, Martinsson umzustimmen, wenn er spontan seine Kündigung einreichen wollte.
Linda hatte ihren Vater gefragt, ob er in irgendeiner Form die Hand im Spiel gehabt hätte, als die Polizeiführung mit Lisa Holgersson an der Spitze Martinsson zu ihrem Mentor bestimmt hatte. Aber er stritt das entschieden ab. Aus allen Angelegenheiten, die sie betrafen, halte er sich heraus, so gut er könne. Linda hatte seine Versicherung mit Skepsis aufgenommen. Wenn sie vor etwas Angst hatte, dann davor, daß er sich in ihre Arbeit einmischen würde. Das war auch der Grund dafür gewesen, daß sie bis zuallerletzt im Zweifel gewesen war, ob sie nach Ystad zurückkehren oder in einem anderen Teil des Landes anfangen sollte zu arbeiten. Auf ihren Bewerbungsformularen für zukünftige Arbeitsplätze hatte sie als Alternative zu Ystad Kiruna und Luleå angegeben, also möglichst weit fort von Schonen. Aber sie war nach Ystad gekommen. Alles andere wäre ihr letztlich auch als undenkbar erschienen. Sie konnte sich gut vorstellen, später einmal an einem anderen Ort in Schweden zu wohnen. Wenn sie wirklich ihr ganzes Leben bei der Polizei bliebe, was keine Selbstverständlichkeit war. Vielleicht war es für frühere Generationen so gewesen. Aber in der Zeit an der Polizeihochschule hatten sie und ihre Kameraden oft darüber gesprochen, daß man nicht sein ganzes Leben bei der Polizei bleiben mußte. Die Berufserfahrung als Polizist qualifizierte einen für alles, vom Leibwächter bis zum Sicherheitsbeauftragten eines Unternehmens.
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Martinsson holte sie an der Anmeldung ab. Sie setzten sich in sein Zimmer. Auf dem Schreibtisch standen Fotos seiner beiden Kinder und seiner freundlich lächelnden Frau. Linda überlegte kurz, wessen Bild sie wohl auf ihren Schreibtisch stellen würde. Sie gingen einen Teil der Routinetätigkeiten durch, die sie erwarteten. Zunächst sollte sie mit zwei Kollegen, die schon lange bei der Ordnungspolizei in Ystad waren, Streife fahren.
»Sie sind beide gut«, sagte Martinsson. »Ekman kann manchmal ein bißchen langsam und schlapp wirken. Aber wenn es wirklich drauf ankommt, hat keiner einen besseren Überblick und besseres Handlungsvermögen. Sundin ist das genaue Gegenteil. Er kann Energie auf Unwichtiges verschwenden. Er hält immer noch Leute an, die bei Rot über die Straße gehen. Aber er weiß auch, was es bedeutet, Polizist zu sein. Du bekommst es also mit zwei guten Typen zu tun, die schon lange dabei sind.«
»Was sagen sie dazu, daß ich eine Frau bin?«
»Wenn du deinen Job machst, ist es ihnen egal. Vor zehn Jahren wäre das anders gewesen.«
»Und mein Vater?«
»Was ist mit ihm?«
»Ich bin seine Tochter.«
Martinsson überlegte, bevor er antwortete. »Es gibt bestimmt den einen oder anderen, der hofft, daß du dich blamierst. Aber das war dir sicher schon klar, als du dich hier beworben hast.«
Danach sprachen sie fast eine Stunde lang über die Lage im Polizeibezirk Ystad. »Die Lage« war etwas, worüber Linda immer hatte reden hören, solange sie zurückdenken konnte, ja, seit ihrer Kindheit, wenn sie im Wohnzimmer unter dem Tisch saß und spielte und ihren Papa mit Gläsern klirren und mit einem Kollegen über die jedesmal gleich schwierige Lage reden hörte. Sie hatte noch nie von einer Lage reden hören, in der es keine Probleme gab. Es konnte sich um alles und jedes drehen. Neue Uniformen, die nicht gut waren, die Auswechslung von Polizeiautos oder Funksystemen, Neueinstellungen von Personal, Direktiven der Reichspolizeibehörde, Veränderungen in der Verbrechensstatistik; alles hatte mit der Lage zu tun, die ständig für Unruhe und Ärger sorgte. Polizistin zu sein, dachte Linda, bedeutet, jeden Tag zusammen mit seinen Kollegen im Kampf gegen Kriminalität und Unordnung eine Einschätzung vornehmen zu müssen, wie die Lage sich seit dem Vortag verändert hat und was vom nächsten Tag zu erwarten ist. Darüber haben wir in unserer Ausbildung nichts gelernt. Aber darüber, wie man auf Straßen und Plätzen für Ordnung sorgt, weiß ich ziemlich viel, zumindest theoretisch, aber wie man lernt, »die Lage« einzuschätzen, hat uns niemand beigebracht.
Sie gingen in den Eßraum und tranken Kaffee. Martinsson faßte seine Sicht der »Lage« ganz kurz zusammen: Immer weniger Polizeibeamte leisteten Ermittlungsarbeit im Feld.
»Ich habe mich in den letzten Jahren ein bißchen mit Geschichte beschäftigt. Es kommt mir so vor, als hätten sich Verbrechen in Schweden zu keinem Zeitpunkt so gelohnt wie heute. Wenn man etwas Entsprechendes finden will, muß man weit zurückgehen, in die Zeit, bevor Gustav Vasa das Reich einte. Damals, in der Zeit der Kleinkönige, bevor Schweden zu Schweden wurde, herrschte eine verheerende Unordnung und Gesetzlosigkeit. Heute schützen wir das Gesetz kaum noch. Was wir tun, ist, die Gesetzlosigkeit in einigermaßen erträglichen Grenzen zu halten.«
Martinsson brachte Linda zur Anmeldung.
»Ich will dich nicht entmutigen«, sagte er. »Es gibt nichts Schlimmeres als kleinmütige Polizisten. Wenn man in diesem Beruf eine einigermaßen taugliche Kraft sein will, darf man nie den Mut verlieren. Und man muß seine gute Laune behalten.«
»Wie mein Vater?«
Martinsson sah sie neugierig an. »Kurt Wallander ist ein guter Polizist«, sagte er. »Und das weißt du auch. Aber man kann ihm kaum vorwerfen, die größte Stimmungskanone hier im Haus zu sein. Was du natürlich auch schon weißt.«
Sie blieben in der Anmeldung stehen. Ein verärgerter Mann beklagte sich bei einer der Angestellten über einen eingezogenen Führerschein.
»Der ermordete Polizist«, sagte Martinsson. »Wie reagierst du darauf?«
Linda erzählte von ihrem Ball, von dem Fernseher in der Küche und dem abrupten Ende des Festes.
»Es trifft schon hart«, sagte Martinsson. »Alle sind mitgenommen und sagen sich, daß unsichtbare Waffen auf jeden von uns gerichtet sein können. Wenn Kollegen getötet werden, denken viele daran aufzuhören. Aber nur sehr wenige tun es. Sie bleiben. Ich bin einer von ihnen.«
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Linda verließ das Polizeipräsidium und ging zu Fuß, gegen den Wind, zu dem Mietshaus in Öster, in dem Zebra wohnte. Unterwegs dachte sie nach über das, was Martinsson gesagt hatte, und das, was er nicht gesagt hatte. Das hatte ihr Vater ihr beigebracht, immer auf das zu achten, was nicht ausgesprochen wurde. Oft lag darin die wichtigste Mitteilung. Aber als sie das Gespräch mit Martinsson noch einmal Revue passieren ließ, fand sie nichts dergleichen. Er gehört zum einfachen und ehrlichen Typ, dachte sie. Er weiß nichts von den unsichtbaren Botschaften der Menschen.
Sie blieb nur kurz bei Zebra, weil der Junge Bauchschmerzen hatte und ununterbrochen schrie. Sie verabredeten sich für das kommende Wochenende. Dann würde Linda in aller Ruhe von dem Ball erzählen und davon, wie ihr Kleid bewundert worden war.
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Doch dieser Tag, der 27. August, war der Tag, an dem Anna Westin spurlos verschwand. Als Linda sich mit dem Dietrich Zutritt verschafft hatte und in Annas Wohnzimmer saß, versuchte sie sich Anna vorzustellen, ihre Stimme zu hören, wie sie von dem Mann erzählte, der vor einem Hotelfenster auf der Straße gestanden hatte und ihrem Vater glich. Es gibt Doppelgänger, dachte Linda. Es ist nicht nur eine Legende, daß jeder Mensch irgendwo auf der Welt seine Entsprechung hat, einen Menschen, der zur gleichen Zeit geboren ist und stirbt wie er. Doppelgänger sind eine Realität. Ich selbst habe einmal in der U-Bahn in Stockholm meine Mutter gesehen. Beinah wäre ich zu ihr gegangen. Sie hörte auf, meine Mutter zu sein, als sie eine finnische Zeitung aufschlug und zu lesen begann.
Was hatte Anna eigentlich erzählt? Von einem wiederauferstandenen Vater oder seinem Doppelgänger? Sie hatte darauf bestanden, daß es wirklich ihr Vater war. Aber Anna besteht immer auf allem, dachte Linda. Sie kann Dinge behaupten, die nicht wahr sind, sondern eingebildet oder erfunden. Aber sie würde sich nie verspäten oder vergessen, daß sie Besuch bekommen soll.
Linda ging in der Wohnung umher. Sie blieb beim Bücherregal in Annas Studierecke im Eßzimmer stehen. Sie las die Buchrücken. Hauptsächlich Romane, die eine und andere Reiseschilderung. Aber kaum Fachliteratur. Linda runzelte die Stirn. Fast keine medizinischen Fachbücher. Sie ging zu den anderen Bücherregalen in der Wohnung. Was sie noch fand, war ein Nachschlagewerk über die gewöhnlichsten Volkskrankheiten. Hier war ein Bruch, dachte sie. Müßte Linda nicht massenweise medizinische Fachliteratur für ihr Studium haben?
Sie öffnete den Kühlschrank. Darin war das Übliche, nichts Unerwartetes. Die Zukunft war in Form einer ungeöffneten Milchpackung mit dem Haltbarkeitsdatum 2. September vertreten. Linda setzte sich wieder ins Wohnzimmer und versuchte, die Bruchstelle genauer zu betrachten. Wie konnte jemand, der Medizin studierte, ohne Fachliteratur auskommen? Hatte sie die Bücher an einem anderen Ort? Aber sie wohnte in Ystad und behauptete, den größten Teil ihrer Studien hier zu betreiben.
Linda wartete. Es wurde sieben. Sie rief zu Hause an.
Ihr Vater meldete sich mit vollem Mund. »Ich dachte, wir wollten heute zusammen essen?«
Linda zögerte, bevor sie antwortete. Sie wollte etwas von Anna sagen und wollte es gleichzeitig nicht. »Ich bin beschäftigt.«
»Womit denn?«
»Mit meinem eigenen Leben.«
Ihr Vater murmelte etwas Unverständliches.
»Ich habe heute Martinsson getroffen.«
»Ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Er hat es erwähnt. Daß ihr euch getroffen habt. Mehr nicht. Du brauchst dir nicht über alles und jedes Gedanken zu machen.«
Das Gespräch endete. Linda wartete weiter. Um acht rief sie Zebra an und fragte, ob sie wüßte, wo Anna sein könnte. Zebra hatte seit einigen Tagen nichts von Anna gehört. Schließlich, als es neun Uhr geworden war und Linda etwas gegessen hatte, was sie in der Speisekammer und im Kühlschrank gefunden hatte, rief sie Henrietta an. Sie mußte es lange klingeln lassen, bevor Henrietta sich meldete. Linda ging behutsam vor. Sie wollte die zerbrechliche Frau nicht verängstigen. War Anna nach Lund gefahren? War sie in Kopenhagen oder Malmö? Linda stellte die harmlosesten Fragen, die ihr einfielen.
»Ich habe seit letzten Donnerstag nicht mit ihr gesprochen.«
Vier Tage, dachte Linda. Dann hat Anna auch nichts von dem Mann erzählt, der vor dem Hotelfenster in Malmö stand. Sie hat diese wichtige Angelegenheit nicht mit ihrer Mutter geteilt, obwohl sie sich so nahe stehen.
»Warum willst du denn wissen, wo Anna ist?«
»Ich habe sie angerufen, und sie meldet sich nicht.«
Linda hörte eine wachsende Besorgnis aus Henriettas Stimme.
»Aber du rufst doch nicht jedesmal an, wenn Anna sich nicht meldet?«
Linda war auf die Frage vorbereitet. Eine kleine Lüge, eine freundliche Lüge. »Ich hatte solche Lust zu kochen und sie zum Essen einzuladen. Sonst nichts.«
Linda gab dem Gespräch eine andere Richtung. »Weißt du, daß ich hier in Ystad bei der Polizei anfange?«
»Anna hat es erzählt. Aber wir verstehen beide nicht, warum du Polizistin wirst.«
»Wenn ich Möbelpolsterin geworden wäre, stände ich jeden Tag mit Zwecken im Mund da. Bei der Polizei ist es abwechslungsreicher.«
Irgendwo im Hintergrund läutete eine Glocke. Linda beeilte sich, das Gespräch zu beenden. Anna hat ihrer Mutter nichts von dem Mann erzählt, den sie gesehen zu haben glaubt. Sie verabredet sich heute mit mir und ist nicht da. Ohne eine Nachricht für mich zu hinterlassen.
Linda versuchte erneut sich zu sagen, daß alles Einbildung sei. Was konnte schon passiert sein? Anna ging keine Risiken ein. Im Gegensatz zu Zebra und Linda selbst war Anna übervorsichtig. Kein Typ für die Achterbahn. Sie mißtraute fremden Menschen, stieg nie in ein Taxi, ohne vorher dem Fahrer in die Augen zu sehen. Linda ging vom Einfachsten aus: Anna war aufgewühlt. War sie nach Malmö zurückgefahren, um den Mann zu suchen, der vielleicht ihr Vater war? Anna hat nie eine Verabredung verpaßt, dachte Linda. Aber sie hat auch noch nie geglaubt, ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben.
Bis Mitternacht blieb Linda in der Wohnung.
Da war sie überzeugt. Es gab keine natürliche Erklärung dafür, daß Anna nicht zu Hause war. Es war etwas passiert. Aber was?
7
Als Linda kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war ihr Vater eingeschlafen. Er erwachte davon, daß die Wohnungstür ins Schloß fiel.
Linda betrachtete mißbilligend seinen übergewichtigen Körper.
»Du schwillst«, sagte sie. »Eines Tages platzt du noch. Aber nicht wie ein Troll, auf den ein Sonnenstrahl fällt, sondern wie ein Ballon, der zu stark aufgeblasen wird.«
Er zog demonstrativ den Gürtel seines Morgenrocks enger.
»Ich tue, was ich kann.«
»Das tust du nicht.«
Er setzte sich schwerfällig aufs Sofa.
»Ich habe etwas Schönes geträumt«, sagte er. »Im Moment will ich nicht an mein Gewicht denken. Die Tür, die du geöffnet hast, war eigentlich in meinem Traum. Erinnerst du dich an Baiba?«
»Die Lettin? Habt ihr immer noch Kontakt?«
»Einmal im Jahr. Kaum mehr. Sie hat einen Mann gefunden, einen deutschen Ingenieur, der in Riga an der Verbesserung der kommunalen Wasserversorgung arbeitet. Sie hört sich sehr verliebt an, wenn sie von ihm spricht, dem guten Hermann aus Lübeck. Ich wundere mich darüber, daß ich nicht eifersüchtig bin.«
»Hast du von ihr geträumt?«
Er lächelte.
»Wir hatten ein Kind«, sagte er. »Einen kleinen Jungen, der ganz still für sich allein auf einem großen Sandplatz spielte. In der Nähe konnte man ein Blasorchester hören. Baiba und ich standen da und sahen ihm zu, und im Traum dachte ich, daß es kein Traum wäre, sondern vollkommen wirklich. Und ich spürte eine große Freude.«
»Und das du, der du dich immer über Alpträume beklagst.«
Er ließ sich nicht unterbrechen. »Die Tür ging auf. Deine Tür war eine Wagentür. Es war Sommer, die Sonne war unheimlich warm. Das ganze Dasein war überbelichtet, die Gesichter von Baiba und mir und dem Jungen waren ganz weiß, schattenlos. Es war ein schöner Traum. Wir wollten gerade losfahren, als ich aufwachte.«
»Das tut mir leid.«
Er zuckte die Schultern. »Was bedeutet schon ein Traum.«
Linda wollte über Anna reden. Aber ihr Vater schlurfte hinaus in die Küche und trank Wasser aus dem Wasserhahn. Linda ging ihm nach.
Er glättete sich das Haar im Nacken und sah sie an. »Warum kommst du so spät? Es geht mich ja überhaupt nichts an. Aber ich habe das bestimmte Gefühl, daß du gerade jetzt willst, daß ich dich frage.«
Linda erzählte. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Kühlschrank. So steht er immer da, wenn er zuhört, dachte sie. So kenne ich ihn schon aus meiner Kindheit. Ein Riese mit verschränkten Armen, der vor mir stand und auf mich hinuntersah. Ich dachte, daß ich einen Papa hatte, der ein Berg war. Papa Berg.
Er schüttelte den Kopf, als sie verstummt war. »Nein«, sagte er. »So läuft das nicht ab.«
»Was?«
»Wenn ein Mensch verschwindet.«
»Aber es sieht ihr nicht ähnlich. Ich kenne sie seit meinem siebten Lebensjahr. Sie ist nie zu spät gekommen, hat es nie vergessen, wenn wir uns verabredet hatten.«
»Es ist meistens idiotisch, zu sagen, daß einmal immer das erste Mal ist. Aber so ist es. Stell dir vor, sie ist aufgewühlt, weil sie glaubt, ihren Vater gesehen zu haben. Vielleicht ist es genau so, wie du denkst: Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht.«
Linda nickte. Natürlich hatte er recht, das sah sie ein. Es war nicht unbedingt einleuchtend, daß ihr etwas zugestoßen sein mußte.
Der Vater setzte sich auf die Holzbank vorm Fenster. »Man lernt irgendwann, daß die Ereignisse fast immer eine große Wahrscheinlichkeit aufweisen. Menschen schlagen einander tot, lügen, begehen Einbrüche und Raubüberfälle oder verschwinden. Wenn man sich tief genug in den Brunnen hinabläßt — und ich sehe jede Ermittlung als einen Brunnen —, findet man meist eine Erklärung. Es war wahrscheinlich, daß gerade dieser Mensch verschwand, es war ebenso wahrscheinlich, daß gerade ein anderer Mensch eine Bank überfiel. Ich sage nicht, daß nicht auch das Unerwartete eintrifft. Aber selten ist es richtig, wenn jemand sagt: ›Von ihm oder ihr hätte ich das nie geglaubt.‹ Wenn man nachdenkt und die äußere Farbschicht abkratzt, findet man andere Farben und andere Antworten.«
Er gähnte und ließ die Hände schwer auf die Tischplatte fallen. »Jetzt gehen wir schlafen.«
»Bleib noch ein paar Minuten sitzen.«
Er sah sie neugierig an.
»Du bist nicht überzeugt? Du glaubst immer noch, daß Anna etwas zugestoßen ist?«
»Nein. Du hast sicher recht.«
Sie saßen schweigend da. Eine Windböe ließ ein paar Zweige ans Fenster schlagen.
»Ich träume ziemlich viel in letzter Zeit«, sagte er.
»Vielleicht, weil ich so oft wach werde, wenn du nach Hause kommst. Ich träume also nicht mehr als sonst. Aber ich erinnere mich an die Träume. Gestern nacht hatte ich ein sonderbares Erlebnis. Ich ging im Traum über einen Friedhof. Plötzlich stand ich vor ein paar Grabsteinen, und ich kannte alle Namen darauf. Stefan Fredmans Name war auch dabei.«
Linda schauderte. »An den kann ich mich erinnern. Ist es wirklich wahr, daß er einmal in unsere Wohnung eingedrungen ist?«
»Ich glaube es. Aber ganz eindeutig konnten wir es nie klären. Er antwortete immer ausweichend, wenn wir ihn fragten.«
»Du warst doch auf seiner Beerdigung. Was war eigentlich passiert?«
»Er war in einer geschlossenen Anstalt. Eines Tages legte er Kriegsbemalung an, wie er es früher getan hatte, kletterte auf ein Dach und stürzte sich in die Tiefe.«
»Wie alt ist er geworden?«
»Achtzehn oder neunzehn.«
Der Wind rüttelte am Fenster.
»Und wer waren die anderen?«
»Ich erinnere mich vor allem an eine Frau, Yvonne Ander. Ich glaube, sogar ihr Todesdatum stimmte. Obwohl es eine Reihe von Jahren her ist.«
»Was hatte sie getan?«
»Erinnerst du dich daran, daß Ann-Britt Höglund niedergeschossen und schwer verletzt wurde?«
»Wie sollte ich das vergessen können! Du hast dich in Dänemark verkrochen und warst auf dem besten Wege, dich totzusaufen.«
»Na, ganz so schlimm war es nicht.«
»Es war schlimmer. Nein, an Yvonne Ander erinnere ich mich nicht.«
»Sie rächte sich an Männern, die Frauen mißhandelt und gequält hatten.«
»Ja, vielleicht erinnere ich mich. Vage.«
»Wir haben sie schließlich gefaßt. Alle glaubten, sie wäre wahnsinnig. Oder ein Monster. Ich selbst fand, daß sie einer der klügsten Menschen war, die mir begegnet sind.«
»Vielleicht ist es wie mit Ärzten und ihren Patienten.«
»Was meinst du damit?«
»Daß Polizeibeamte sich in Verbrecherinnen verlieben können, die sie gefaßt haben.«
Er knurrte einen nicht unfreundlichen Protest. »Das sind Dummheiten. Ich habe mit ihr geredet, sie verhört. Sie hatte einen Brief an mich geschrieben, bevor sie Selbstmord beging. Sie erzählte mir, daß die Gerechtigkeit wie ein Netz mit allzu weiten Maschen ist. Wir kommen an viele der Täter, für die wir uns interessieren sollten, nicht heran. Oder ziehen es vor, nicht an sie heranzukommen.«
»Und wer entscheidet das?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wir alle. Die Gesetze, nach denen wir leben, kommen ja einer allgemeinen Meinung zufolge aus der Mitte des Volkes, und wir alle haben daran unseren Anteil. Aber Yvonne Ander hat mir etwas anderes gezeigt. Deshalb vergesse ich sie nicht.«
»Wie lange ist das her?«
»Sechs Jahre.«
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Das Telefon klingelte.
Er fuhr zusammen. Sie sahen sich an. Es war vier Minuten vor eins. Er streckte sich nach dem Telefon, das an der Wand hing. Linda fragte sich unruhig, ob es einer ihrer Freunde wäre, der nicht wußte, daß sie noch keine eigene Wohnung hatte und bei ihrem Vater wohnte. Der Vater sagte seinen Namen und hörte zu. Linda versuchte, seine einsilbigen Fragen zu deuten. Der Anrufer war ein Polizist, soviel war ihr klar. Vielleicht war es Martinsson, vielleicht sogar Ann-Britt Höglund. In der Nähe von Rydsgård war etwas passiert. Wallander machte ihr Zeichen, ihm einen Block und einen Bleistift zu bringen, die auf der Fensterbank lagen. Er schrieb, während er den Hörer zwischen Schulter und Hals geklemmt hielt. Sie las über seine Schulter hinweg. Rydsgård, Kreuzung nach Charlottenlund, Viks gård. Da sind wir vorbeigefahren, dachte sie, als wir das Haus auf dem Hügel besichtigt haben, das er nicht kaufen wollte. Er schrieb wieder, sie las: Kalbsbrand. Åkerblom. Dann eine Telefonnummer. Er beendete das Gespräch und hängte den Hörer ein. Linda setzte sich wieder. Ihm gegenüber.
»›Kalbsbrand‹. Was ist das?«
»Das frage ich mich auch.«
Er stand auf. »Ich muß hin.«
»Was ist denn passiert?«
Er stand in der Tür und zögerte. Nach einem kurzen Augenblick faßte er seinen Entschluß. »Komm mit.«
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»Du warst ja von Anfang an dabei«, sagte er, als sie im Wagen saßen. »Da kannst du ebensogut jetzt mitfahren, es sieht nach einer Fortsetzung aus.«
»Wovon?«
»Die Behauptung, daß Schwäne gebrannt hätten.«
»Ist es wieder passiert?«
»Ja und nein. Nur diesmal keine Vögel. Aber offenbar hat ein Wahnsinniger einen Jungbullen aus einem Stall freigelassen, ihn mit Benzin begossen und angezündet. Der Bauer hat im Präsidium angerufen. Eine Streife ist hingefahren. Aber ich hatte veranlaßt, informiert zu werden, wenn es wieder passiert. Ein Sadist, Tierquäler. Das gefällt mir nicht.«
Linda wußte, wenn ihr Vater einen Gedanken zurückhielt.
»Du sagst nicht, was du denkst.«
»Nein.«
Er schnitt das Gespräch ab. Linda fragte sich, warum er sie eigentlich mitgenommen hatte.
Sie bogen von der Hauptstraße ab, fuhren durch das nächtlich leere Rydsgård und von da in südlicher Richtung dem Meer zu. An einer Kreuzung wartete ein Polizeiauto. Sie folgten dicht dahinter. Kurz darauf fuhren sie auf den gepflasterten Innenhof von Viks gård.
»Wer bin ich?« fragte Linda.
»Meine Tochter«, sagte er. »Niemand stört sich daran, wenn du dabei bist. Vorausgesetzt, du gibst dich nicht als mehr aus als meine Tochter. Polizistin zum Beispiel.«
Sie stiegen aus. Der böige Wind fing sich zwischen den Hauswänden. Die beiden Streifenpolizisten begrüßten sie. Der eine hieß Wahlberg, der andere Ekman. Wahlberg war stark erkältet, und Linda, die immer fürchtete sich anzustecken, zog hastig ihre Hand zurück. Ekmans Augen blinzelten kurzsichtig. Er beugte sich zu ihr vor und lächelte. »Ich dachte, du würdest erst in ein paar Wochen anfangen.«
»Sie leistet mir Gesellschaft«, sagte Kurt Wallander. »Was ist hier passiert?«
Sie gingen durch das Tor und folgten einem unbefestigten Weg, der zur Rückseite des Hauses führte, wo ein kürzlich errichteter Stall stand. Der Bauer kniete bei dem toten Tier, unmittelbar neben der Jauchegrube, ein junger Mann, vielleicht so alt wie Linda. Bauern müssen alt sein, dachte sie. In meiner Vorstellungswelt gibt es keine Bauern in meinem Alter.
Kurt Wallander streckte die Hand aus und begrüßte ihn.
»Tomas Åkerblom.«
»Dies ist meine Tochter. Sie begleitet mich.«
Als Tomas Åkerblom sich ihr zuwandte, fiel das Licht vom Stall auf sein Gesicht. Linda sah, daß seine Augen glänzten. »Wer tut so etwas?« sagte er mit bebender Stimme. »Wer tut so etwas?«
Er trat zur Seite, wie um einen unsichtbaren Vorhang vor einer makabren Installation zur Seite zu ziehen. Linda hatte den Geruch verbrannten Fleischs schon wahrgenommen. Jetzt sah sie das verkohlte Tier auf der Seite vor sich liegen. Das nach oben gewandte Auge war verbrannt. Die verkohlte Haut rauchte noch. Der Benzingeruch bereitete ihr Übelkeit. Sie trat einen Schritt zurück. Kurt Wallander beobachtete sie aufmerksam. Sie schüttelte den Kopf, sie wurde nicht ohnmächtig.
Er nickte und sah sich dann um. »Was ist passiert?« fragte er.
Tomas Åkerblom berichtete. Seine Stimme war die ganze Zeit kurz davor, zu versagen.
»Ich war gerade ins Bett gegangen und eingeschlafen. Da erwachte ich von einem Heulen. Zuerst dachte ich, ich hätte selbst geschrien, das kommt manchmal vor, wenn ich träume. Ich fuhr aus dem Bett hoch. Dann merkte ich, daß es aus dem Stall kam. Die Tiere brüllten, und eins von ihnen war in Not. Ich riß die Gardine zur Seite und sah, wie es brannte. Äpplet brannte, obwohl ich das in dem Moment nicht sehen konnte, nur, daß es eins der Jungtiere war. Es lief direkt gegen die Stallwand, der ganze Körper und der Kopf waren in Flammen gehüllt. Ich begriff nicht, was ich da sah. Ich lief runter, zog ein Paar Stiefel an. Da lag er schon am Boden. Der Körper zuckte. Ich riß eine Persenning an mich und versuchte, das Feuer zu löschen. Aber da war er schon tot. Es war furchtbar. Ich weiß nur noch, daß ich dachte: Das gibt es nicht. Das gibt es doch nicht. Kein Mensch zündet ein Tier an.«
Tomas Åkerblom verstummte.
»Haben Sie etwas gesehen?« fragte Kurt Wallander.
»Ich habe erzählt, was ich gesehen habe.«
»Sie sagten, ›kein Mensch zündet ein Tier an‹. Warum haben Sie das gesagt? Es könnte doch ein Unglück gewesen sein?«
»Wie sollte ein Stierkalb sich mit Benzin übergießen und anzünden? Warum? Ich habe noch nie von Tieren gehört, die Selbstmord begehen.«
»Jemand muß es also getan haben. Danach frage ich. Haben Sie jemanden gesehen, als Sie die Gardine aufrissen?«
»Ich habe nur das brennende Tier gesehen.«
»Können Sie sich vorstellen, wer es getan haben könnte?«
»Ein Wahnsinniger. Nur ein Wahnsinniger kann so etwas tun.«
Kurt Wallander nickte. »Wir kommen jetzt nicht weiter«, sagte er. »Lassen Sie das Tier liegen. Wir kommen zurück, wenn es hell geworden ist, und sehen uns um.«
Sie kehrten zu den Wagen zurück.
»Nur ein Wahnsinniger kann so etwas tun«, wiederholte Tomas Åkerblom.
Wallander antwortete nicht. Linda sah, daß er müde war, die Stirn gefurcht, er wirkte auf einmal alt. Mein Alter macht sich Sorgen, dachte sie. Zuerst vielleicht brennende Schwäne, dann ein Stierkalb, das »Apfel« heißt und wirklich verbrennt.
Es war, als habe er ihren Gedanken gelesen. Mit der Hand am Türgriff wandte er sich noch einmal Tomas Åkerblom zu. »Äpplet«, sagte er. »Ein sonderbarer Name für ein Tier.«
»Früher habe ich Tischtennis gespielt. Ein Teil der Jungtiere ist nach großen schwedischen Tischtennisspielern benannt. Einer meiner Ochsen heißt zum Beispile Waldner.«
Kurt Wallander nickte. Linda konnte sehen, wie er lächelte. Sie wußte, daß ihr Vater etwas für originelle Menschen übrig hatte.
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Sie fuhren nach Ystad zurück.
»Was, glaubst du, kann es sein?« fragte Linda.
»Bestenfalls haben wir einen sadistischen Tierquäler am Hals. Einen Wahnsinnigen.«
»Bestenfalls?«
»Im schlimmsten Fall ist es jemand, der sich auf Dauer mit Tieren nicht zufriedengibt«, sagte er schließlich.
Linda verstand, was er meinte. Aber sie wußte auch, daß sie im Moment am besten keine weiteren Fragen stellte.
8
Als Linda erwachte, war sie allein in der Wohnung. Es war halb acht. Sie streckte sich und dachte daran, daß ihr Vater die Wohnungstür zugeschlagen und sie geweckt hatte. Lauter als nötig. Er versucht wohl, streng zu sein, und will nicht, daß ich im Bett bleibe und faulenze.
Sie stand auf und öffnete das Fenster. Es war ein klarer Tag, die Wärme hielt an. Die Ereignisse der Nacht zogen vorüber, der qualmende Tierkadaver und ihr Vater, der plötzlich so alt und verbraucht ausgesehen hatte. Seine Unruhe verändert ihn. Er kann fast alles vor mir verbergen, aber nicht seine Unruhe.
Sie frühstückte und zog die Sachen vom Vortag an, überlegte es sich aber anders und wechselte noch zweimal die Kleider, bevor sie zufrieden war. Dann rief sie bei Anna an. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie rief hallo und bat Anna, ans Telefon zu gehen. Doch es war niemand da. Sie stellte sich vor den Spiegel im Flur und fragte sich, ob sie sich noch Sorgen machte, weil die selbstbewußte Anna weggegangen war, ohne ihr Bescheid zu sagen. Nein, sagte sie zu sich selbst. Ich mache mir keine Sorgen. Es gibt bestimmt eine Erklärung. Anna sucht nur diesen Mann, der auf der Straße stand und die Frechheit besaß, wie ihr Vater auszusehen.
Linda ging zum Sportboothafen hinunter und schlenderte über die Pier. Das Meer war spiegelblank. Eine Frau lag halbnackt auf dem Bug eines Boots und schnarchte. Noch dreizehn Tage, dachte Linda. Von wem ich wohl meine Rastlosigkeit habe? Kaum vom Vater, aber auch nicht von der Mutter.
Sie ging auf der Pier zurück. Auf einem Poller hatte jemand eine Zeitung liegenlassen. Sie blätterte darin bis zu den Anzeigenseiten, suchte nach gebrauchten Autos. Ein Saab für 19000. Ihr Vater hatte versprochen, ihr 10000 dazuzulegen. Einen Wagen wollte sie haben. Aber einen Saab für 19000? Wie lange würde der wohl halten?
Sie steckte die Zeitung ein und ging zu Annas Wohnung. Keine Reaktion auf ihr Klingeln. Als sie die Wohnungstür wieder mit dem Dietrich geöffnet hatte und in den Flur trat, hatte sie plötzlich das Gefühl, jemand sei in der Wohnung gewesen, nachdem sie diese gegen Mitternacht verlassen hatte. Sie blieb ganz still stehen und ließ den Blick über die Wände im Flur wandern, über die Kleider, die da hingen, und die Schuhe, die in einer Reihe dastanden. War etwas verändert? Sie sah jedoch nichts, was sie davon überzeugte, daß ihr Gefühl richtig war.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Ein leeres Zimmer, dachte sie. Wenn ich Vater wäre, würde ich versuchen, die Abdrücke dessen zu erkennen, was hier geschehen ist, würde versuchen, mir Menschen und ein dramatisches Geschehen vorzustellen. Doch ich sehe nichts, nur die Tatsache, daß Anna nicht hier ist.
Sie stand auf und ging langsam zweimal durch die Wohnung. Jetzt war sie überzeugt, daß Anna in der Nacht nicht hier gewesen war. Und auch sonst niemand.
Linda setzte sich an den Schreibtisch in Annas Schlafzimmer. Sie zögerte. Aber die Neugier gewann die Oberhand. Linda wußte, daß Anna Tagebuch führte. Das hatte sie schon immer getan. Linda erinnerte sich an Situationen in den letzten Jahren ihrer Gymnasialzeit, als Anna sich in eine Ecke zurückgezogen hatte und Tagebuch schrieb. Über einen Jungen, der es einmal an sich gerissen hatte, war sie mit einer solchen Wut hergefallen, unter anderem hatte sie ihn in die Schulter gebissen, daß niemals wieder jemand den Versuch machte, an ihre Aufzeichnungen zu kommen.
Sie zog eine der Schreibtischschubladen auf. Sie war voller abgegriffener, vollgeschriebener Tagebücher. Linda öffnete die anderen Schubladen. Überall Tagebücher. Auf den Umschlägen standen Jahreszahlen. Bis zu Annas sechzehntem Lebensjahr waren es rote Umschläge. Dann hatte sie plötzlich aufbegehrt und die Farbe gewechselt. Von da an hatte sie nur noch in Hefte mit schwarzem Umschlag geschrieben.
Linda schloß die Schubladen und hob ein paar Papiere an, die auf dem Schreibtisch lagen. Da war das Tagebuch, an dem sie gerade schrieb. Ich sehe nur auf die letzte Seite, dachte Linda. Sie entschuldigte sich damit, daß sie trotz allem besorgt war. Sie schlug die letzte, zur Hälfte beschriebene Seite auf. Das Datum des Vortags, des Tages, an dem Linda Anna hätte treffen sollen. Linda beugte sich über den Text. Anna hatte eine kleine Handschrift, als versuchte sie, die Buchstaben zu verstecken. Linda las den Text zweimal, zunächst ohne zu verstehen, dann mit wachsender Verwunderung. Was Anna schrieb, war unbegreiflich: Meineide, Vatikan, Meineide, Vatikan. War das ein Kode, eine Geheimsprache für Eingeweihte?
Linda brach ihren Vorsatz, nur die letzte Tagebucheintragung zu lesen. Sie blätterte zurück. Dort war der Text ganz anders. Anna hatte geschrieben: Saxhusens Lehrbuch der klinischen Grundlagen ist eine pädagogische Katastrophe; unmöglich zu lesen und zu verstehen. Als Lehrbuch unbrauchbar. Angehende Ärzte werden abgeschreckt und wenden sich statt dessen der Forschung zu, wo sie außerdem mehr verdienen können. Weiter hatte sie notiert: Am Morgen leichtes Fieber, es ist windig — stimmt genau, dachte Linda —, und weiter hatte Anna sich gefragt, wo sie den zweiten Autoschlüssel hingelegt haben könnte. Linda ging zurück zur letzten Eintragung und las sie noch einmal durch. Sie versuchte, sich Anna vorzustellen, während sie schrieb. Sie hatte nichts durchgestrichen, nichts geändert, nicht gezögert. Ihre Handschrift war nicht fahrig, sie war gleichbleibend resolut. Meineide, Vatikan, Meineide, Vatikan. Ich habe dieses Jahr neunzehn Waschtage gehabt, sehe ich. Mein Traum ist es, eine anonyme Amtsärztin in irgendeinem Vorort zu werden. Vielleicht im Norden. Aber gibt es in norrländischen Städten Vororte?
Da endete der Text. Kein Wort von dem Mann, den sie auf der Straße vor dem Hotelfenster gesehen hatte. Kein Wort, keine Andeutung, nichts. Ist das nicht etwas, was man in ein Tagebuch schreibt?
Sie blätterte zurück, um eine Bestätigung dafür zu finden. Dann und wann hatte Anna etwas über sie geschrieben. Linda ist meine Freundin, hieß es am 20. Juli zwischen Aufzeichnungen darüber, daß ihre Mutter sie besucht hatte und sie über nichts gestritten hatten und daß sie am gleichen Abend nach Malmö fahren wollte, um einen russischen Film zu sehen.
Fast eine Stunde saß Linda mit wachsendem schlechtem Gewissen da und suchte nach Eintragungen über sich selbst. Linda kann ganz schön anstrengend sein, hieß es am 4. August. Was haben wir an dem Tag gemacht, dachte Linda, ohne daß es ihr einfiel. Der 4. August war ein Tag wie alle anderen in diesem Sommer der Ungeduld gewesen. Linda hatte nicht einmal einen Kalender. Sie organisierte ihre Zeit mit losen Zetteln und schrieb sich Telefonnummern häufig aufs Handgelenk.
Sie schlug das Tagebuch zu. Sie hatte nichts gefunden. Nur diese eigentümliche letzte Eintragung. Das sieht ihr nicht ähnlich, dachte Linda. Alles, was sie sonst schreibt, sind Aufzeichnungen eines Menschen, der ausgeglichen ist und nicht mehr Probleme hat als alle anderen. Nur am letzten Tag, als sie glaubt, ihren verschwundenen Vater nach vierundzwanzig Jahren wiedergesehen zu haben, schreibt sie etwas von Meineiden und Vatikan. Das ist Irrsinn. Warum schreibt sie nichts von ihrem Vater? Warum schreibt sie etwas, was unverständlich ist?
Linda spürte, daß ihre Unruhe und Sorge zurückkehrten. Konnte Anna Grund gehabt haben für ihre Befürchtung, verrückt zu werden? Linda trat an das Fenster, an dem Anna oft stand, wenn sie sich unterhielten. Das Sonnenlicht war gleißend, Reflexe von einem Fenster auf der anderen Straßenseite zwangen sie zu blinzeln. Kann Anna von Sinnesverwirrung befallen worden sein, dachte sie. Sie glaubt, ihren Vater zu sehen. Das erschüttert sie und bringt sie so durcheinander, daß sie die Kontrolle über sich verliert und etwas tut, was sie bereut. Aber was?
Linda fuhr zusammen. Der Wagen. Annas Wagen, der kleine rote Golf. Wenn sie weggefahren wäre, müßte der Wagen fort sein. Linda hastete hinunter auf die Straße und auf den Parkplatz im Hof. Der Wagen stand da. Sie faßte die Türen an, sie waren verschlossen. Der Wagen schien frisch gewaschen zu sein. Das erstaunte sie. Annas Wagen war meistens schmutzig, dachte sie. Jedesmal wenn wir zusammen aus waren, hat sie mich in einem ungewaschenen Auto abgeholt. Jetzt glänzt es. Sogar die Felgen funkeln.
Langsam ging sie wieder hinauf, setzte sich in die Küche und suchte nach einer plausiblen Erklärung. Das einzige unbezweifelbare Faktum war, daß Anna nicht zu Hause geblieben war, als Linda wie verabredet kam, um sie zu besuchen. Es konnte sich nicht um ein Mißverständnis handeln. Anna konnte es auch nicht vergessen haben. Also hatte sie sich dafür entschieden, nicht zu Hause zu sein. Etwas anderes war ihr wichtiger. Aber ihr Auto war dafür nicht erforderlich. Linda hörte den Anrufbeantworter ab, doch nur ihr eigenes Rufen war darauf. Ihr Blick wanderte weiter zur Wohnungstür. Jemand steht draußen vor der Tür und klingelt. Ich bin es nicht, es ist nicht Zebra und nicht Annas Mutter. Welche anderen Freunde hatte Anna? Erst vor kurzem, im April, behauptete sie, allein zu leben, ohne Freund. Da hatte sie gerade jemanden hinausgeworfen, den ich nie getroffen habe, einen Herrn Måns Persson, der in Lund Elektromagnetismus studierte, sich aber als weniger zuverlässig erwies, als Anna ursprünglich geglaubt hatte. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, davon hatte sie gesprochen, und sie hatte mehrfach wiederholt, daß sie Zeit brauchte, bevor sie eine neue Beziehung einginge.
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Linda verlor für einen Augenblick den Faden, der Anna hieß, und dachte an sich selbst. Auch für sie hatte es einen Måns Persson gegeben, den sie Mitte März aus ihrem Leben hinausgeworfen hatte. Er hieß Ludwig und war in gewisser Weise wie geboren für diesen Namen, eine Mischung von erhabenem Kaiser und tolpatschigem Operettenprinz. Linda hatte ihn in einem Pub getroffen, als sie mit ein paar Kollegen ihres Jahrgangs ausgegangen war. Sie waren im Gedränge aneinandergedrückt worden, zwei Cliquen, die zufällig an angrenzenden Tischen saßen. Ludwig war bei der Stadtreinigung, er fuhr eine Kehrmaschine, als sei sie ein Sportwagen, und es war für ihn die natürlichste Sache auf der Welt, auf seine Arbeit stolz zu sein. Linda war von seinem schallenden Lachen und seinen fröhlichen Augen angetan — und von der Tatsache, daß er sie nicht unterbrach, wenn sie sprach, sondern sich wirklich anstrengte, ihr trotz des ohrenbetäubenden Lärms im Lokal zuzuhören.
Sie hatten eine Beziehung begonnen, und Linda hatte fast zu glauben gewagt, unter all den Kerlen, von denen die Welt bevölkert war, einen wirklichen Mann getroffen zu haben. Doch dann hatte sie zufällig von jemandem, der jemanden kannte, der jemanden gesehen hatte, erfahren, daß Ludwig die Zeit, in der er nicht arbeitete oder mit Linda zusammen war, einer jungen Dame widmete, die in Vallentuna eine Cateringfirma besaß. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, Ludwig bat sie zu bleiben, aber sie gab ihm den Laufpaß und weinte eine Woche lang. Jetzt schob sie die Gedanken an Ludwig beiseite, sie schmerzten immer noch. Vielleicht war es für sie wie für Anna, auch wenn sie es sich nicht so klar gesagt hatte, daß sie noch nicht reif dafür war, sich schon nach einem neuen Partner umzusehen. Sie wußte, daß ihr Vater sich wegen ihrer ständig wechselnden Freunde Sorgen machte, auch wenn er sie nie darauf ansprach.
Linda ging noch einmal durch die Wohnung. Plötzlich kam ihr die ganze Situation komisch vor, wenn nicht sogar peinlich. Was sollte Anna schon passiert sein? Nichts. Sie meisterte ihr Leben besser als viele andere. Daß sie nicht wie verabredet zu Hause gewesen war, mußte nichts bedeuten. Linda blieb an einer Bank in der Küche stehen, auf der die Zweitschlüssel für Annas Wagen lagen. Sie hatte den Wagen schon ein paarmal ausgeliehen. Ich kann ihn noch einmal ausleihen, dachte Linda, und zu Annas Mutter hinausfahren und sie besuchen. Bevor sie ging, legte sie einen Zettel in die Küche, daß sie sich das Auto geliehen habe und voraussichtlich in ein paar Stunden zurück sein würde. Aber sie schrieb nichts davon, daß sie sich Sorgen machte.
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Linda fuhr in die Mariagata und zog leichtere Kleidung an, weil es sehr warm geworden war. Dann verließ sie die Stadt, fuhr hinaus nach Kåseberga und hielt am Hafen. Das Wasser war spiegelblank, im Hafenbecken schwamm ein Hund. Auf einer Bank vor dem Laden, in dem es geräucherten Fisch gab, saß ein älterer Mann und nickte ihr zu. Linda nickte zurück, wußte aber nicht, wer der Mann war. Vielleicht ein pensionierter Kollege ihres Vaters?
Nicht weit entfernt von dem Ort, an dem Annas Mutter ihre eigenartige Musik komponierte, bog Linda in einen Seitenweg ein, der zu dem Haus führte, in dem ihr Großvater bis zu seinem Tod gelebt hatte. Sie hielt an und ging zum Haus. Nachdem Gertrud, die Witwe des Großvaters, zu ihrer Schwester gezogen war, gab es bereits den zweiten Besitzer. Der erste war ein junger Mann, der in Simrishamn eine Computerfirma betrieb. Als die Firma in Konkurs ging, verkaufte er das Haus an ein Keramikerpaar aus Huskvarna, das nach Schonen ziehen wollte. Am Gartentor schaukelte ein Schild mit der Aufschrift »Keramik-Werkstatt«. Die Tür des Nebengebäudes, in dem ihr Großvater gesessen und seine Bilder gemalt hatte, stand offen. Sie zögerte, öffnete aber dann das Gartentor und ging über den Vorplatz. An einem Wäschetrockner hingen Kinderkleider und flatterten im Wind.
Linda klopfte an die Tür des Nebengebäudes. Eine Frauenstimme antwortete. Linda trat ein. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich an das Licht im Innern gewöhnte, das im Kontrast zum blendenden Sonnenlicht stand. Eine Frau um die Vierzig saß an einer Töpferscheibe und arbeitete mit einem Messer an einem Gesicht aus Ton. Sie formte ein Ohr. Linda stellte sich vor und entschuldigte sich wegen der Störung. Die Frau legte das Messer hin und wischte sich die Hände ab. Sie gingen hinaus in die Sonne.
Das Gesicht der Frau war bleich, sie wirkte übernächtigt, aber ihre Augen waren freundlich. »Ich habe von ihm gehört. Dem Mann, der ein Bild wie das andere malte.«
»Nicht ganz. Er hatte zwei Motive. Eins war eine Landschaft mit Auerhahn, das andere war ohne den Vogel, nur Landschaft, ein See, ein Sonnenuntergang, eine Anzahl Bäume. Er benutzte Schablonen für alles, nur nicht für die Sonne. Die malte er freihändig.«
»Manchmal kommt es mir vor, als sei er noch da drinnen. War er oft wütend?«
Linda blickte sie verwundert an.
»Es hört sich manchmal an, als säße jemand da drinnen und murrte.«
»Das ist bestimmt er.«
Die Frau stellte sich als Barbro vor und bot Linda Kaffee an.
»Nein, danke, ich muß weiter. Ich habe aus reiner Neugier angehalten.«
»Wir sind von Huskvarna hierhergezogen«, sagte Barbro. »Weg von der Stadt, obwohl sie nicht groß war. Lars, mein Mann, gehört zu der neuen Generation von Alleskönnern. Er kann Fahrräder und Uhren reparieren, aber auch Diagnosen für kranke Kühe stellen und phantastische Märchen erzählen. Wir haben zwei Kinder.«
Sie bremste sich, als habe sie zuviel gesagt vor einer Fremden, und dachte nach. »Vielleicht vermissen sie das am meisten«, fuhr sie fort. »Seine phantastischen Märchen.«
Sie begleitete Linda hinaus zum Wagen.
»Er ist also nicht mehr da«, sagte Linda vorsichtig.
»Obwohl er vieles konnte, gab es doch etwas, was er nicht erkannt hatte. Daß man Kindern nie entkommt. Er bekam die Panik, nahm sein Fahrrad und fuhr davon. Jetzt wohnt er wieder in Huskvarna. Aber wir reden miteinander, und jetzt, wo er die Verantwortung nicht fühlt, kümmert er sich mehr um die Kinder.«
Sie verabschiedeten sich beim Wagen.
»Wenn man meinen Großvater lieb darum bat, nicht böse zu sein, wurde er meistens ruhig. Aber es mußte eine Frau sein, die ihn bat, sonst hörte er nicht. Das galt zu seinen Lebzeiten. Vielleicht trifft es auch jetzt zu, wo er tot ist.«
»War er glücklich?«
Linda überlegte. Das Wort paßte nicht richtig zu dem Bild, das sie von ihrem Großvater hatte.
»Seine größte Freude war es, dort drinnen im Halbdunkel zu sitzen und dasselbe zu tun, was er am Tag zuvor getan hatte. Er fand seine Ruhe in der Wiederholung. Wenn man das Glück nennen kann, war er glücklich.«
Linda schloß den Wagen auf. »Ich bin wie er«, sagte sie und lächelte. »Ich weiß also, wie man ihn nehmen muß.«
Sie fuhr davon. Im Spiegel sah sie Barbro zurückbleiben. Das passiert mir nicht, dachte sie. Mit zwei Kindern in einem alten Haus hier im windigen Österlen sitzenbleiben. Nie und nimmer.
Der Gedanke brachte sie in Rage. Ohne es zu merken, gab sie Gas. Erst als sie auf die Hauptstraße einbiegen mußte, trat sie heftig auf die Bremse.
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Annas Mutter, Henrietta Westin, wohnte in einem Haus, das den Eindruck erweckte, als wolle es sich hinter mächtigen Wachposten in Gestalt dichter Baumgruppen verbergen. Linda mußte suchen und umkehren und zurücksetzen, bevor sie an die richtige Abzweigung gelangte. Neben einer rostigen Mähmaschine hielt sie an und stieg aus. Die Hitze rief ein paar flüchtige Erinnerungsbilder an eine Urlaubsreise nach Griechenland wach, die sie mit Ludwig gemacht hatte, als ihre Beziehung noch intakt war. Sie warf den Kopf in den Nacken, schüttelte die Gedanken ab und machte sich zwischen den riesigen Bäumen auf die Suche. Eine Weile blieb sie stehen und hob die Hand zum Schutz gegen die Sonne. Ein Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt, ein Knattern, als wenn jemand wie besessen hämmerte. Durchs dichte Blattwerk hindurch entdeckte sie einen Specht, der grimmig seinen Rhythmus gegen den Baumstamm schlug. Vielleicht ist er ein Teil ihrer Musik, dachte Linda. Wenn ich Anna richtig verstanden habe, ist ihrer Mutter kein Geräusch fremd. Der Specht ist vielleicht ihr Trommler.
Sie verließ den trommelnden Vogel und ging an einem verwahrlosten, sicher seit Jahren nicht benutzten und gepflegten Gemüsegarten vorbei. Was weiß ich eigentlich von ihr, dachte Linda. Und was tue ich hier? Sie blieb stehen und versuchte, es zu fühlen. Genau in diesem Moment, im Schatten der hohen Bäume, war sie nicht besorgt. Es gab sicher eine plausible Erklärung dafür, daß Anna nicht da war. Linda machte kehrt und ging zurück zu ihrem Wagen.
Der Specht war plötzlich verstummt und verschwunden. Alles verschwindet, dachte sie. Menschen und Spechte, meine Träume und all die Zeit, die ich zu haben glaubte, die aber in Strömen verrinnt, die ich vergebens aufzustauen versuche. Sie zog ihre unsichtbaren Zügel an und hielt inne. Warum gehe ich zurück? Wenn sie schon einen Ausflug mit Annas Wagen machte, konnte sie ebensogut hineingehen und Henrietta besuchen. Ohne Sorge, ohne vorsätzliche Neugier, ob Henrietta wußte, wohin Anna verschwunden war. Vielleicht war sie ganz einfach nach Lund gefahren. Ich habe ihre Telefonnummer in Lund nicht, dachte sie. Darum könnte ich Henrietta jedenfalls bitten.
Sie folgte dem Pfad durch das Wäldchen und gelangte zu dem weißgekalkten Fachwerkhaus, das zwischen wilden Rosenbüschen eingebettet war. Eine Katze lag auf der Treppe und betrachtete sie mit aufmerksamen Augen. Linda ging zum Haus. Ein Fenster war offen. Gerade als sie sich hinunterbeugte, um die Katze zu streicheln, hörte sie durch das offene Fenster Geräusche. Henriettas Musik, dachte sie.
Dann erhob sie sich plötzlich und hielt den Atem an. Was sie durchs Fenster hörte, war keine Musik. Es war eine Frau, die weinte.
9
Im Haus begann ein Hund zu bellen. Linda fühlte sich ertappt und beeilte sich, an der Haustür zu klingeln. Es dauerte einen Moment, bis geöffnet wurde.
Henrietta hielt den wütend bellenden Elchhund im Nacken. »Er tut nichts«, sagte sie. »Komm herein.«
Linda fühlte sich nie ganz sicher, was fremde Hunde anging. Sie zögerte, bevor sie in den Flur trat. Doch sobald sie über die Schwelle getreten war, verstummte der Hund. Als habe sie eine unsichtbare Bellgrenze überschritten. Henrietta ließ den Hund los. Linda konnte sich nicht daran erinnern, daß Henrietta früher so klein und mager gewesen war. Was hatte Anna gesagt? Henrietta war noch keine Fünfzig. Linda dachte, daß Henriettas Körper bedeutend älter wirkte. Aber ihr Gesicht war jung. Patos, der Hund, beschnüffelte ihre Beine und ging dann zu seinem Korb, um sich dort auszustrecken.
Linda dachte an das Weinen, das sie gehört hatte. In Henriettas Gesicht waren keine Tränen zu sehen. Linda warf einen Blick über Henrietta hinweg. Doch es war niemand sonst zu sehen.
Henrietta bemerkte ihren Blick. »Suchst du nach Anna?«
»Nein.«
Henrietta mußte plötzlich lachen. »Das hatte ich nicht erwartet. Zuerst rufst du an, und dann kommst du zu Besuch. Was ist passiert? Ist Anna noch immer verschwunden?«
Linda war überrascht über Henriettas Direktheit. Zugleich war sie ihr eine Hilfe.
»Ja.«
Henrietta zuckte mit den Schultern und schob Linda in den großen Raum, das Resultat vieler herausgeschlagener Wände, das als Wohnzimmer und Arbeitsraum diente.
»Anna ist bestimmt in Lund. Sie zieht sich ab und zu zurück. Offenbar ist das theoretische Wissen, das ein angehender Arzt sich aneignen muß, ziemlich schwierig. Anna ist keine Theoretikerin. Wem sie gleicht, weiß ich eigentlich nicht. Nicht mir, nicht ihrem Vater. Vielleicht gleicht sie nur sich selbst.«
»Hast du ihre Telefonnummer in Lund?«
»Ich weiß nicht, ob sie Telefon hat. Sie hat ein Zimmer in einer WG. Aber ich habe nicht einmal die Adresse.«
»Ist das nicht ein bißchen komisch?«
Henrietta runzelte die Stirn. »Warum? Anna ist eine geheimnisvolle Person. Wenn man sie nicht in Frieden läßt, kann sie wütend werden. Wußtest du das nicht?«
»Nein. Hat sie kein Handy?«
»Sie gehört zu den wenigen, die da nicht mitmachen«, sagte Henrietta. »Ich habe ein Handy. Ich verstehe nicht, warum man überhaupt noch ein Festnetztelefon braucht. Aber Anna, nein. Sie hat kein Handy.«
Sie verstummte, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. Linda sah sich im Raum um. Jemand hatte geweint. Der Gedanke, Anna könnte hier sein, war ihr nicht gekommen, bis Henrietta selbst darauf hinwies. Nicht Anna, dachte Linda. Warum sollte sie hier bei ihrer Mutter sitzen und weinen? Anna ist einfach kein Mensch, der weint. Einmal, als wir noch klein waren, fiel sie von einem Klettergestell und tat sich weh. Da hat sie geweint, das weiß ich noch. Aber das ist das einzige Mal. Als wir in Tomas verliebt waren, war ich es, die weinte, und sie wurde wütend. Allerdings nicht so wütend, wie Henrietta behauptet.
Sie betrachtete Annas Mutter, die auf dem glattgeschliffenen Holzfußboden stand. Ein Sonnenstrahl huschte über ihr Gesicht. Sie hatte ein scharfes Profil, genau wie Anna.
»Ich bekomme selten Besuch«, sagte Henrietta plötzlich, als sei es das gewesen, woran sie die ganze Zeit gedacht hatte. »Die Menschen gehen mir aus dem Weg, weil ich selbst ihnen gern aus dem Weg gehe. Außerdem glauben sie, ich sei wunderlich. Man soll nicht allein mit einem Elchhund im schottischen Lehm sitzen und Musik komponieren, die niemand hören will. Und dadurch, daß ich noch immer mit einem Mann verheiratet bin, der mich vor vierundzwanzig Jahren verlassen hat, wird die Sache auch nicht besser.«
Linda nahm einen Unterton von Einsamkeit und Bitterkeit in Henriettas Stimme wahr. »Woran arbeitest du gerade?« fragte sie.
»Du brauchst dir keine Mühe zu geben. Warum bist du hergekommen? Weil du dir wegen Anna Sorgen machst?«
»Ich habe mir Annas Auto ausgeliehen. Mein Großvater hat hier in der Nähe gewohnt. Ich bin zu dem Haus gefahren und dann zu dir. Ein Ausflug. Die Tage vergehen so langsam.«
»Bis du die Uniform anziehen kannst?«
»Ja.«
Henrietta holte Kaffeetassen und eine Thermoskanne. »Ich begreife nicht, wie ein hübsches junges Mädchen wie du sich dazu entschließen kann, sein Leben bei der Polizei zu verbringen. Ich stelle mir vor, daß Polizisten ständig in Schlägereien verwickelt sind. Als bestünden Teile der Bevölkerung unseres Landes aus Menschen, die von Rauferei zu Rauferei taumeln. Und die Polizei führt einen ewigen Kampf, diese Menschen zu trennen.«
Sie goß Kaffee ein. »Aber du hast vielleicht eine Büroarbeit«, fuhr sie fort.
»Ich werde in einem Streifenwagen sitzen und ganz bestimmt so eine sein, wie du sie dir vorstellst. Jemand, der ständig bereit ist, dazwischenzugehen.«
Henrietta setzte sich und stützte das Kinn in die Hand. »Und damit willst du dein Leben verbringen?«
Linda fühlte sich plötzlich angegriffen. Sie begann sich zu wehren. Sie wollte nicht in Henriettas Bitterkeit hineingezogen werden. »Ich bin kein hübsches Mädchen. Ich bin fast dreißig, und mein Aussehen ist höchst normal. Die Jungen finden meistens, daß ich einen hübschen Mund und einen schönen Busen habe. Das finde ich manchmal selbst auch. Auf jeden Fall in Augenblicken, in denen ich mit mir zufrieden bin. Aber ansonsten bin ich höchst normal. Ich habe nie davon geträumt, einmal Miss Sweden zu werden. Außerdem kann man sich fragen, wie es aussähe, wenn es keine Polizisten gäbe. Mein Vater ist Polizist. Und ich schäme mich nicht für das, was er tut.«
Henrietta schüttelte langsam den Kopf. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
Linda war immer noch verärgert. Sie empfand das vage Bedürfnis, Henrietta etwas heimzuzahlen. »Ich dachte, ich hätte jemanden weinen hören, als ich hereinkam.«
Henrietta lächelte. »Ich habe das auf Band aufgenommen. Ein Entwurf für ein Requiem, in dem ich Musik mit den eingespielten Geräuschen weinender Menschen mische.«
»Ich weiß nicht, was ein Requiem ist.«
»Eine Totenmesse. Ich schreibe zur Zeit fast nichts anderes.«
Henrietta stand auf und ging zu dem großen Flügel am Fenster, durch das man über Felder und wogende Hügel bis zum Meer blicken konnte. Auf einem großen Tisch neben dem Flügel standen ein Tonbandgerät und verschiedene Keyboards und Mischpulte. Henrietta schaltete das Tonbandgerät ein. Eine Frau weinte, es war das Geräusch, das Linda durchs Fenster gehört hatte.
Ihre Neugier, was Annas wunderliche Mutter betraf, wurde aufs neue ernsthaft entfacht. »Hast du weinende Frauen aufgenommen?«
»Das ist aus einem amerikanischen Film. Weinen hole ich mir aus Filmen, von denen ich mir Videos ansehe, oder aus dem Radio. Ich habe ein Register von vierundvierzig weinenden Menschen, vom Baby bis zu einer alten Frau, die ich heimlich in einem Pflegeheim aufgenommen habe. Wenn du willst, kannst du gern ein Weinen zu meinem Archiv beisteuern.«
»Nein danke.«
Henrietta setzte sich an den Flügel und schlug ein paar einsame Töne an. Linda stellte sich neben sie. Henrietta hob die Hände, schlug einen Akkord an und trat auf eines der Pedale. Der Raum wurde von einem mächtigen Laut erfüllt, der langsam wieder verklang. Henrietta nickte Linda zu, sich zu setzen. Sie nahm einen Stapel Notenblätter von einem Schemel. Henrietta betrachtete sie mit forschenden Augen.
»Warum bist du eigentlich hergekommen? Ich hatte noch nie das Gefühl, daß du mich besonders magst.«
»Als ich kleiner war und mit Anna spielte, hatte ich wohl Angst vor dir.«
»Vor mir? Niemand hat Angst vor mir.«
Doch, dachte Linda schnell. Anna hatte auch Angst vor dir. Sie hatte nachts Alpträume deinetwegen.
»Ich bin hergekommen, weil ich Lust dazu hatte. Es war nicht geplant. Ich frage mich, wo Anna ist. Aber ich mache mir nicht solche Sorgen wie gestern. Du hast bestimmt recht damit, daß sie in Lund ist.«
Linda hielt inne, zögerte.
Henrietta bemerkte es sofort. »Was verschweigst du? Muß ich mir Sorgen machen wegen irgend etwas?«
»Anna war der Meinung, vor ein paar Tagen in Malmö ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben. Ich sollte vielleicht nicht darüber reden. Sie sollte es selbst tun.«
»Ist das alles?«
»Reicht das nicht?«
Henrietta spielte geistesabwesend mit den Fingern ein paar Zentimeter über den Tasten.
»Anna glaubt ständig, ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben. Seit ihrer Kindheit.«
Linda wurde sogleich hellhörig. Zu ihr hatte Anna nie gesagt, sie habe ihren Vater gesehen. Das hätte sie aber getan, wenn es häufiger vorgekommen wäre. In der Zeit, in der sie einander nahegestanden hatten, teilten sie alle wichtigen Erlebnisse. Anna war eine der wenigen, die wußten, daß Linda auf einem Brückengeländer über der Autobahn in Malmö balanciert war. Was Henrietta jetzt sagte, konnte nicht stimmen.
»Anna wird nie dieses glatte Seil loslassen. Das Seil, das ihre unmögliche Hoffnung darstellt, Erik könnte zurückkommen. Daß er überhaupt lebt.«
Linda wartete auf eine Fortsetzung, die jedoch nicht kam. »Warum ist er eigentlich weggegangen?«
Henriettas Antwort kam überraschend. »Er ging weg, weil er enttäuscht war.«
»Wovon?«
»Vom Leben. Als junger Mann hatte er schwindelerregende Vorstellungen. Mit diesen gewaltigen Träumen verführte er mich. Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der die gleichen wunderbaren Lockrufe ausstieß wie Erik. Er wollte in unserer Welt und unserer Zeit einen Unterschied bewirken. Er war wie geschaffen für die großen Aufgaben, davon war er überzeugt. Wir begegneten uns, als er sechzehn war und ich fünfzehn. Es war früh, aber einen solchen Menschen hatte ich noch nie getroffen. Er sprühte förmlich von Träumen und Lebenskraft. Schon als wir uns begegneten, hatte er beschlossen, bis zum Alter von zwanzig Jahren nur herumzuprobieren. Wollte er die Kunst, den Sport, die Politik verändern? Er wußte es nicht. Das Leben und die Welt waren für ihn wie ein unentdecktes Höhlensystem, das er durchforschte. Ich kann mich nicht erinnern, daß er bis zum Alter von zwanzig Jahren jemals an sich selbst gezweifelt hätte. Dann wurde er plötzlich unruhig. Vorher hatte er alle Zeit der Welt gehabt. Er suchte weiter nach dem großen Sinn seines Lebens. Als ich anfing, Forderungen an ihn zu stellen, daß er dazu beitragen sollte, die Familie zu versorgen, besonders nachdem Anna geboren war, konnte er die Geduld verlieren und aus der Haut fahren. Das hatte er noch nie getan. Damals fing er an, Sandalen anzufertigen, um ein wenig Geld zu verdienen. Er war sehr geschickt. Ich glaube, er beschloß, die ›Sandalen des Leichtsinns‹, wie er sie nannte, aus Protest dagegen anzufertigen, daß er seine wertvolle Zeit allein aus dem verachtenswerten Grund opfern mußte, Geld zu verdienen. Vermutlich begann er damals, sein Verschwinden vorzubereiten. Vielleicht sollte ich lieber von Flucht sprechen. Er floh nicht meinetwegen oder Annas wegen, er floh vor sich selbst. Er glaubte, er könnte seiner Enttäuschung davonlaufen. Vielleicht konnte er das. Auf die Frage bekomme ich wohl nie eine Antwort. Auf einmal war er weg. Es kam völlig überraschend. Ich hatte nichts geahnt. Erst nachher erkannte ich, wie sorgfältig er alles vorbereitet hatte. Sein Verschwinden entsprang nicht einfach einem Impuls. Daß er dann mein Auto verkaufte, kann ich ihm verzeihen. Was ich nicht verstehe, ist, wie er Anna aufgeben konnte. Sie standen sich nahe. Er liebte sie. Ich war nie so wichtig für ihn. Vielleicht in den ersten Jahren, als ich seine Träumereien ertrug. Aber nicht mehr, nachdem Anna geboren war. Ich kann noch immer nicht verstehen, wie er sie verlassen konnte. Wie kann die Enttäuschung eines Menschen über einen unmöglichen Traum so groß werden, daß er den wichtigsten Menschen in seinem Leben preisgibt? Das war sicher auch der Grund dafür, daß er starb, daß er nie zurückkam.«
»Ich dachte, es wüßte niemand, ob er lebt oder tot ist?«
»Natürlich ist er tot. Er ist seit vierundzwanzig Jahren fort. Wo sollte er denn jetzt noch sein?«
»Anna glaubt, sie hätte ihn auf der Straße gesehen.«
»Sie sieht ihn an jeder Straßenecke. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, daß sie der Wahrheit ins Auge sehen muß. Keiner von uns weiß, was passiert ist, wie er mit seiner Enttäuschung umging. Aber daß er tot ist, halte ich für selbstverständlich. Seine Träume waren zu groß, als daß er sie hätte tragen können.«
Henrietta verstummte. Der Hund seufzte in seinem Korb.
»Was glaubst du?« fragte Linda.
»Ich weiß nicht. Ich habe versucht, ihm zu folgen, ihn mir da vorzustellen, wo er war. Manchmal glaube ich, daß er in gleißendem Sonnenlicht an einem Strand entlanggeht. Ich muß die Augen zukneifen, um ihn wirklich zu sehen. Plötzlich bleibt er stehen und watet ins Wasser hinaus, bis nur noch sein Kopf zu sehen ist. Und dann ist er verschwunden.«
Sie spielte wieder mit leeren Fingerbewegungen, rührte nur eben an die Tasten.
»Ich glaube, er hat aufgegeben. Als er einsah, daß sein Traum nur ein Traum war. Und daß Anna, die er verlassen hatte, ein wirklicher Mensch war. Aber da war es wohl zu spät. Er hatte stets ein schlechtes Gewissen, auch wenn er das zu verbergen versuchte.«
Henrietta schlug mit einem Knall den Klavierdeckel zu und stand auf. »Noch Kaffee?«
»Nein danke. Ich muß jetzt gehen.«
Henrietta wirkte unruhig. Linda betrachtete sie aufmerksam. Plötzlich ergriff sie Lindas Arm und summte eine Melodie, die Linda bekannt vorkam. Ihre Stimme bewegte sich zwischen dem Schrillen und dem Unbeherrschten und dem Sanften und dem Klaren.
»Hast du das Lied schon einmal gehört?« fragte sie, als sie geendet hatte.
»Ich kenne es. Aber ich weiß nicht, wie es heißt.«
»Buona sera.«
»Ist es spanisch?«
»Italienisch. Es heißt ›Guten Abend‹. Es war in den fünfziger Jahren populär. Es kommt häufig vor, daß die Menschen heutzutage bei alter Musik Anleihen machen oder sie stehlen oder verhunzen. Aus Bach macht man Popmusik. Ich mache es jetzt umgekehrt. Ich verwandle Bachs Choräle nicht in Popmusik, ich nehme Buona sera und mache es zu klassischer Musik.«
»Geht das?«
»Ich breche die Töne und Strukturen auf, ändere den Rhythmus, tausche Gitarrensoli gegen massive Streichersequenzen. Wenn es fertig ist, spiele ich es dir vor. Dann werden die Leute endlich verstehen, was ich in all diesen Jahren zu tun versucht habe.«
Henrietta begleitete sie hinaus. Der Hund kam mit. Die Katze war nicht mehr da. »Ich würde mich freuen, wenn du einmal wiederkommst.«
Linda versprach es. Sie fuhr los. Über dem Meer in der Richtung von Bornholm türmten sich Gewitterwolken auf. Linda fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Sie hatte das Bedürfnis zu rauchen. Vor drei Jahren hatte sie aufgehört. Aber dann und wann bekam sie wieder Lust, obwohl es immer seltener wurde.
Manche Dinge wissen Mütter nicht über ihre Töchter, dachte sie. Zum Beispiel, wie nah Anna und ich uns kamen. Hätte sie das gewußt, hätte sie nie behauptet, daß Anna ständig davon redete, ihren Vater auf der Straße zu sehen. Anna hätte es mir erzählt. Wenn ich auch sonst nicht sicher bin, aber in dem Punkt bin ich es.
Sie blickte zu den Gewitterwolken auf, die näher kamen.
Es gab nur eine Erklärung. Henrietta hatte über ihre Tochter und den verschwundenen Vater nicht die Wahrheit gesagt.
10
Kurz nach fünf Uhr am Morgen ließ sie das Rollo im Schlafzimmer hochschnappen. Das Thermometer zeigte neun Grad plus. Der Himmel war klar, der Wimpel des Windmessers im Hof hing reglos herunter. Ein vollendeter Tag für eine Expedition, dachte sie. Sie hatte am Abend zuvor alles vorbereitet und verließ ihre Wohnung in einem Mehrfamilienhaus genau gegenüber dem alten Bahnhof von Skurup. Im Hof, unter einer eigens dafür angefertigten Abdeckplane, stand ihre Vespa. Sie besaß sie seit fast vierzig Jahren. Da sie sie stets ordentlich gepflegt hatte, war die Vespa immer noch in sehr gutem Zustand. Das Gerücht von ihrer vierzig Jahre alten Vespa hatte sogar die Fabrik in Italien erreicht, und man hatte mehrfach bei ihr angefragt, ob sie sich vorstellen könne, die Vespa ihre Tage im Museum des Herstellers beenden zu lassen, wofür sie jedes Jahr für den Rest ihres Lebens gratis mit einer neuen Vespa ausgestattet werden sollte. Aber sie hatte stets abgelehnt, mit den Jahren in immer schärferem Tonfall. Die Vespa, die sie mit zweiundzwanzig Jahren gekauft hatte, sollte sie begleiten, solange sie lebte. Was nachher damit geschah, war ihr egal. Vielleicht würde sich eins ihrer vier Enkelkinder dafür interessieren. Aber sie hatte nicht die Absicht, ein Testament aufzusetzen, damit die alte Vespa in die richtigen Hände gelangte. Sie befestigte den Rucksack auf dem Gepäckträger, setzte den Helm auf und trat aufs Startpedal. Der Motor sprang sofort an.
So früh am Morgen war die Ortschaft still und verlassen. Bald wird es Herbst, dachte sie, als sie an den Eisenbahngleisen und danach an der Baumschule vorüberfuhr, die rechts an der Ausfahrt zur Landstraße zwischen Ystad und Malmö lag. Sie sah sich gründlich um, ehe sie die Autostraße überquerte, und fuhr dann nach Norden in Richtung Rommeleåsen. Ihr Ziel war das Waldgebiet zwischen dem Ledsjö und Schloß Rannesholm. Es war eines der größten geschützten Waldgebiete in diesem Teil Schonens. Außerdem war der Wald alt, er war nie gelichtet worden und war an manchen Stellen nahezu undurchdringlich. Der Besitzer von Schloß Rannesholm war ein Börsenmakler, der bestimmt hatte, daß der alte Wald nicht angetastet werden durfte.
Sie brauchte eine gute halbe Stunde bis zu dem kleinen Parkplatz am Ledsjö. Sie rollte die Vespa in ein Gebüsch hinter einer hohen Eiche. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei, dann war es wieder still.
Sie schulterte den Rucksack und war bereit, ein paar Schritte zu tun und dann die Genugtuung darüber zu verspüren, sich für die Welt unsichtbar gemacht zu haben. Gab es einen stärkeren Ausdruck für die Selbständigkeit des Menschen? Den Schritt über einen Wegrand zu wagen, sich ein paar Meter in den Urwald hineinzubegeben und aufzuhören, sichtbar zu sein. Und damit nicht länger zu existieren.
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Als sie jünger war, hatte sie zuweilen gedacht, das, womit sie sich beschäftigte, sei etwas anderes als das, was sie sich vorstellte. Es war keine Stärke, sondern eine Schwäche, ein Ausdruck irgendeiner Form von Bitterkeit, die sich in ihr verbarg, ohne daß sie wußte, was es war oder warum. Eigentlich hatte ihr älterer Bruder Håkan ihr das beigebracht. Daß es zwei Sorten Menschen gab, diejenigen, die den geraden, den kürzesten und schnellsten Weg wählten, und dann die anderen, die nach dem Umweg suchten, wo die unerwarteten Ereignisse, die Kurven und die Hügel zu finden waren. Sie hatten in den Wäldern um Älmhult gespielt, wo sie aufgewachsen waren. Als ihr Vater, der im Außendienst beim Telegraphenamt arbeitete, sich beim Sturz von einem hohen Telefonmast schwer verletzte, zogen sie nach Schonen, weil ihre Mutter im Krankenhaus von Ystad Arbeit gefunden hatte. Sie war in den Teenagerjahren, anderes als Wegränder und Umwege wurde wichtiger, und erst, als sie eines Tages vor den Toren der Universität Lund stand und erkannte, daß sie überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wozu sie ihr Leben nutzen wollte, kehrte sie zu den Erinnerungen an ihre Kindheit zurück. Ihr Bruder Håkan hatte einen Beruf gewählt, bei dem die Wege von ganz anderer Beschaffenheit waren. Er hatte auf verschiedenen Schiffen angeheuert und später eine Ausbildung zum Schiffsoffizier gemacht. Seine Wege waren jetzt die Wasserstraßen, und er schrieb dann und wann nach Hause an seine Schwester und erzählte davon, wie schön es war, des Nachts über scheinbar unendliche Meere zu navigieren. Sie war neidisch gewesen, aber zugleich ließ sie sich von ihm anspornen.
Eines Tages im Herbst des ersten mühevollen Jahres an der Universität, als sie in Ermangelung eines Besseren angefangen hatte, Jura zu studieren, war sie mit dem Fahrrad auf der Straße nach Staffanstorp gefahren und aufs Geratewohl in einen Feldweg eingebogen. Sie hatte angehalten und war einem Pfad gefolgt, der zu den zerfallenen Resten einer alten Mühle führte. Da war ihr der Gedanke gekommen. Er war wie ein Blitz in ihr Bewußtsein eingeschlagen. Was ist eigentlich ein Pfad? Warum verläuft ein Pfad auf der einen und nicht auf der anderen Seite eines Baums oder Steins? Wer ging den Pfad zum erstenmal? Wann ging jemand hier zum erstenmal?
Sie starrte auf den Pfad zu ihren Füßen und wußte, daß dies ihre Lebensaufgabe sein würde. Sie wollte die Analytikerin und große Beschützerin der schwedischen Pfade werden. Sie würde die Geschichte des schwedischen Pfads schreiben. Sie lief zu ihrem Fahrrad zurück, brach am nächsten Tag ihr Jurastudium ab und begann ein Studium der Geschichte und Kulturgeographie. Sie hatte das Glück, einem verständnisvollen Professor zu begegnen, der einsah, daß sie ein Studiengebiet gefunden hatte, das noch nicht etabliert war. Er bemerkte ihren Enthusiasmus und förderte sie.
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Sie folgte dem Pfad, der sich sanft am Ufer des Ledsjö entlangschlängelte. Die Bäume waren hoch und verdeckten die Sonne. Einmal war sie am Amazonas gewesen und durch den dampfenden Regenwald gegangen. Es war wie der Eintritt in eine unendliche Kathedrale, in der das Laubwerk das Sonnenlicht filterte wie farbige Fenster. Ein wenig von diesem Gefühl erfüllte sie jetzt, als sie dem Pfad am Ufer des Ledsjö folgte.
Ebendiesen Pfad hatte sie schon vor langer Zeit kartiert. Es war ein gewöhnlicher Wanderweg, der in die 1930er Jahre zurückverfolgt werden konnte, als Rannesholm noch der Familie Haverman gehörte. Einer der Grafen, Gustav Haverman, war ein begeisterter Freiluftsportler gewesen und hatte Weiden und Buschwerk gerodet und den Pfad um den See angelegt. Aber etwas weiter entfernt von hier, dachte sie, etwas tiefer in diesem merkwürdigen Wald, wo niemand etwas anderes sieht als Moos und Steine, da werde ich abbiegen und dem Pfad folgen, den ich vor ein paar Tagen entdeckt habe. Wohin er führt, weiß ich nicht. Aber nichts ist verlockender, als einem Pfad zum erstenmal zu folgen. Immer noch hoffe ich, einmal im Leben auf einem Pfad zu gehen, der sich am Ende als ein Kunstwerk erweist, ein Pfad ohne Ziel, ein Pfad, der nur dazu geschaffen wurde, daß es ihn gibt.
Sie hielt auf einer Anhöhe inne und atmete tief durch. Zwischen den Bäumen glänzte der spiegelglatte See. Sie war jetzt dreiundsechzig. Sie brauchte noch fünf Jahre. Fünf Jahre, um ihr Lebenswerk zu vollenden, die Geschichte des schwedischen Pfads. Mit diesem Buch würde sie allen beweisen, daß Pfade die wichtigsten Spuren früherer Generationen und Gesellschaften waren. Aber die Pfade waren nicht nur Wanderwege. Es gab, und dafür würde sie überzeugende Beweise und Argumente vorbringen, auch philosophische und religiöse Aspekte des Themas, zum Beispiel wie und wo Pfade sich durch die Landschaft schlängelten. In früheren Jahren hatte sie kleinere, häufig regionale Studien und Kartierungen von Pfaden veröffentlicht. Doch das entscheidende große Werk hatte sie noch zu schreiben.
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Sie ging weiter. Die Gedanken bewegten sich frei in ihrem Kopf. So hielt sie es immer, wenn sie auf dem Weg zu einem Pfad war, den sie studieren wollte. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, als machte sie Hunde von der Leine los. Dann, wenn die Arbeit begann, war sie selbst der Hund, der vorsichtig und mit geschärften Sinnen versuchte, die Geheimnisse des Pfads zu ergründen. Sie wußte, daß viele sie für verrückt hielten. Ihre beiden Kinder hatten sich als Heranwachsende oft gefragt, was ihre Mutter eigentlich machte. Ihr Mann, der vor einem Jahr gestorben war, hatte jedoch Verständnis gezeigt. Auch wenn sie ahnte, daß er im Innersten der Meinung war, eine sonderbare Frau geheiratet zu haben. Jetzt war sie allein, und in der Familie war Håkan der einzige, der sie verstand. Sie teilten die Faszination angesichts der geringsten Wege des Menschen, der Pfade, die sich über die Erde wanden.
Sie blieb stehen. Für das ungeübte Auge gab es nichts anderes als Gras und Moos rechts und links des Pfads. Doch sie hatte es erkannt. Hier begann ein anderer, überwachsener Pfad, der vielleicht viele, viele Jahre lang nicht benutzt worden war. Bevor sie zwischen den Bäumen verschwand, ging sie vorsichtig hinunter zum Strand, setzte sich auf einen Stein und holte ihre Thermoskanne hervor. Draußen auf dem See glitt ein Schwanenpaar vorüber. Sie trank Kaffee und blinzelte in die Sonne. Ich bin ein glücklicher Mensch, dachte sie. Ich habe noch nie etwas anderes getan als das, wovon ich geträumt habe. Als Kind habe ich einmal eins von Håkans Büchern geliehen, Der Pfadfinder. Das wurde mein Leben. Genau das habe ich gemacht, Pfade gefunden und sie verstanden. Wie andere versuchen, Inschriften auf Felsplatten und Runensteinen zu verstehen.
Sie packte die Thermoskanne ein und wusch die Tasse in dem braunen Wasser aus. Das Schwanenpaar war um die Landspitze verschwunden. Sie kletterte den steilen Hang hinauf und achtete genau darauf, wohin sie die Füße setzte. Im Jahr zuvor hatte sie sich den Fuß gebrochen, als sie südlich von Brösarp umgeknickt war. Der Unfall hatte sie zu einer längeren Ruhepause gezwungen. Es war eine schwere Zeit. Auch wenn sie sich auf ihr Schreiben konzentrieren konnte, machte die Unbeweglichkeit sie rastlos und gereizt. Ihr Mann war gerade gestorben, als das Unglück geschah, und sie war verwöhnt, weil er derjenige war, der die Hausarbeit gemacht hatte. Sie verkaufte das Haus in Rydsgård und zog in die kleine Wohnung nach Skurup.
Sie wich ein paar herabhängenden Zweigen aus und trat zwischen die Bäume. Einmal hatte sie etwas von einer Lichtung gelesen, die nur der finden kann, der sich verirrt hat. So stellte sie sich das große Geheimnis des Menschseins vor. Wenn man nur das Risiko in Kauf nahm, in die Irre zu gehen, wartete das Unerwartete. Wagte man, sich dem Umweg anzuvertrauen, erwarteten einen Erlebnisse, von deren Existenz diejenigen, die sich an die Autobahnen hielten, nicht einmal etwas ahnten. Ich suche nach den vergessenen Pfaden, dachte sie. Nach Wegen, die darauf warten, aus ihrem tiefen Schlaf erweckt zu werden. Unbewohnte Häuser verfallen. Genauso ist es mit Pfaden. Wege, die nicht genutzt werden, sterben.
Sie war jetzt tief im Wald. Sie hielt inne und lauschte. Irgendwo knackte ein Zweig. Dann war es wieder still. Ein Vogel flatterte auf und verschwand. Sie ging weiter, geduckt, die Pfadfinderin. Sie bewegte sich langsam, Schritt für Schritt. Der Pfad war unsichtbar. Aber sie konnte ihn sehen, die Konturen unter dem Moos, dem Gras, den heruntergefallenen Zweigen.
Doch allmählich stellte sich Enttäuschung ein. Es war kein alter Pfad, den sie entdeckt hatte. Als sie zunächst den Pfad nur geahnt hatte, dachte sie, sie habe endlich die Reste des alten Pilgerpfads gefunden, der sich irgendwo nicht weit vom Ledsjö befinden sollte. Um den Ledsjö war er verschwunden, niemand hatte seinen Verlauf ausfindig gemacht, bevor er nordwestlich von Sturup wieder sichtbar wurde. Manchmal hatte sie gedacht, daß die Pilger der Frühzeit vielleicht einen Tunnel gegraben hatten. Sie müßte nach einer Öffnung im Boden suchen. Doch Pilger gruben keine Erdgänge, sie hatten einen Pfad, dem sie folgten. Und sie hatte ihn nicht gefunden. Bis jetzt, glaubte sie. Aber schon nach nicht einmal hundert Metern war sie überzeugt, daß der Pfad in jüngerer Zeit angelegt und genutzt worden war. Warum er aufgegeben worden war, würde sie erst sagen können, wenn sie das Ziel gefunden hatte. Sie war dreihundert Meter in den Wald hineingegangen, der an dieser Stelle sehr dicht und beinah undurchdringlich war.
Plötzlich blieb sie stehen. Etwas auf dem Boden verwirrte sie. Sie ging in die Hocke und stocherte mit dem Finger im Moos. Etwas Weißes hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Sie nahm es in die Hand. Eine Feder. Eine weiße Feder. Eine Waldtaube, dachte sie. Aber gab es weiße Waldtauben? Waren sie nicht braun, oder eher noch blau? Sie kam wieder hoch und untersuchte die Feder. Eine Schwanenfeder. Aber wie konnte sie so tief im Wald gelandet sein? Schwäne gehen zwar an Land. Aber sie wandern nicht auf unbekannten Pfaden.
Sie ging weiter. Nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen. Sie hatte etwas gesehen, was sie irritierte. Das Gras war niedergetreten. Jemand war erst kürzlich hier gegangen. Aber woher kamen die Fußspuren? Sie ging ein Stück zurück und fing noch einmal von vorn an. Nach ungefähr zehn Minuten wurde ihr klar, daß jemand aus dem Wald gekommen sein mußte und erst hier auf den Pfad gestoßen war. Vorsichtig ging sie weiter. Ihre Neugier war jetzt geringer, nachdem sie eingesehen hatte, daß der verschwundene Pilgerpfad ihr wieder einmal einen Streich spielte. Hier handelte es sich um einen Pfad, der lediglich ein Ausläufer war, vielleicht eine Verzweigung, die zu Zeiten des Freiluftsportlers Haverman angelegt worden, aber jetzt nicht mehr in Gebrauch war. Die Fußspuren auf dem Pfad vor ihr konnten die eines Jägers sein.
Sie folgte den Spuren noch einige hundert Meter. Vor ihr lag eine Schlucht, eine Erdspalte, von Dickicht bedeckt. Der Pfad lief hinunter in die Schlucht. Sie setzte ihren Rucksack ab, nachdem sie die Taschenlampe in die Jackentasche gesteckt hatte, und stieg auf leisen Sohlen, sich zwischen den Büschen vorwärtstastend, in die Senke hinab. Sie hob einen Ast zur Seite und entdeckte, daß er abgesägt war. Sie runzelte die Stirn, nahm einen weiteren Zweig in die Hand, auch der hatte eine glatte Schnittfläche. Abgesägt oder abgeschlagen. Sie erkannte, daß sie vor etwas stand, das bewußt verdeckt war. Spielende Jungen, dachte sie. Håkan und ich haben uns auch Hütten gebaut. Sie bog weitere Zweige zur Seite. Am Boden der Schlucht war tatsächlich eine Hütte. Aber sie war viel zu groß, um von einem Kind zu stammen. Plötzlich fiel ihr etwas ein, was Håkan ihr vor einigen Jahren in einer Illustrierten, vermutlich Se, gezeigt hatte. Ein Unterschlupf im Wald, der einem gesuchten Einbrecher mit dem merkwürdigen Namen »der bildschöne Bengtsson« gehört hatte. Er hatte in einer großen Hütte im Wald gelebt, die nur entdeckt worden war, weil jemand sich verirrt hatte.
Sie trat näher. Die Hütte war aus Brettern gemacht und hatte ein Blechdach. Es gab keinen Schornstein. Die Rückseite der Hütte lehnte sich an eine der steilen Felswände der Schlucht. Sie faßte die Tür an. Es gab kein Schloß. Sie sah ein, wie idiotisch es war, als sie an die Tür klopfte. Wer sollte zu Hause sein, ohne gehört zu haben, wie sie Zweige zur Seite geräumt und hinunter zur Hütte gegangen war? Sie wunderte sich mehr und mehr. Wer versteckte sich im Wald von Rannesholm?
In ihrem Kopf begann ein Warnsignal zu schrillen. Zuerst schüttelte sie den Gedanken ab. Sie hatte im allgemeinen keine Angst. Bei verschiedenen Gelegenheiten waren ihr auf einsam gelegenen Pfaden unangenehme Männer begegnet. Wenn sie Angst hatte, verbarg sie die gut hinter einer Maske von barschem Auftreten. Es war noch nie etwas passiert. Auch hier würde nichts passieren. Aber sie dachte, daß sie gegen ihren gesunden Menschenverstand argumentierte. Nur jemand, der gute Gründe dafür hatte, hielt sich im Wald in einer Hütte verborgen. Es wäre besser, wenn sie ginge. Gleichzeitig konnte sie sich nicht von dem Platz losreißen. Der Pfad hatte ein Ziel. Niemand, der nicht wie sie über einen geübten Blick verfügte, hätte ihn finden können. Aber derjenige, der die Hütte benutzte, kam von einer anderen Seite auf den Pfad. Das war das Rätselhafte. War der Pfad, den sie gefunden hatte, nur ein Reserveausgang aus der Schlucht, wie bei einem Fuchsbau? Oder hatte der Pfad früher eine andere Funktion gehabt? Ihre Neugier gewann die Oberhand.
Sie öffnete die Tür. Die beiden kleinen Fenster an den Schmalseiten ließen kaum Licht herein. Sie machte die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die Wände wandern. An der einen Wand stand ein Bett, außerdem gab es einen kleinen Tisch, einen Stuhl, zwei Petroleumlampen und einen Campingkocher. Sie versuchte nachzudenken. Wie lange hatte die Hütte leergestanden? Wer hatte sie benutzt? Sie beugte sich vor und befühlte das Bettlaken. Es war nicht feucht. Die Hütte stand noch nicht lange leer. Wieder dachte sie, daß sie lieber gehen sollte. Derjenige, der die Hütte errichtet hatte, wünschte sicher keinen unerwarteten Besuch.
Gerade als sie gehen wollte, fiel der Strahl der Taschenlampe auf ein Buch, das neben dem Bett auf dem Boden lag. Sie bückte sich. Es war eine Bibel, das Alte und das Neue Testament. Sie nahm sie in die Hand und schlug sie auf. Auf der Innenseite des Deckels stand ein Name geschrieben. Aber er war durchgestrichen. Die Bibel war gründlich benutzt, die Seiten waren abgegriffen und zerfleddert. Einzelne Verse waren angestrichen. Vorsichtig legte sie das Buch zurück. Sie knipste die Lampe aus und merkte sofort, daß etwas anders war. Das Licht war stärker. Es kam nicht nur von den Fenstern.
Die Tür hinter ihr mußte aufgemacht worden sein. Hastig drehte sie sich um. Aber es war zu spät. Es war, als habe ein Raubtier ihr die Pranke direkt ins Gesicht geschlagen. Sie fiel in ein tiefes Dunkel, das nie mehr enden sollte.
11
Nach dem Besuch bei Henrietta blieb Linda noch lange auf und wartete darauf, daß ihr Vater nach Hause käme. Aber als er kurz nach zwei Uhr am Morgen vorsichtig die Wohnungstür öffnete, war sie auf dem Sofa im Wohnzimmer mit einer Wolldecke über dem Kopf eingeschlafen. Ein paar Stunden später erwachte sie plötzlich aus einem Alptraum. Was sie geträumt hatte, wußte sie nicht, nur, daß sie im Begriff war zu ersticken. Schnarchgeräusche rollten durch die stille Wohnung. Sie ging ins Schlafzimmer, wo das Licht brannte, und sah ihren Vater. Er lag auf dem Rücken, ins Laken eingerollt. Er sieht aus wie ein Walroß, das sich gemütlich auf einer Felsenklippe ausgestreckt hat, fand sie. Zwischen zwei Schnarchern beugte sie sich über ihn. Er hatte eine deutliche Fahne.
Sie überlegte, wer wohl sein Trinkkumpan gewesen war. Die Hose, die auf dem Fußboden lag, war schmutzig, als sei er bis über die Knöchel im Schlamm gewatet. Er ist auf dem Land gewesen, dachte sie. Bei seinem alten Kumpel Sten Widén. Sie haben im Stall gesessen und zusammen eine Flasche Schnaps geleert.
Linda verließ das Schlafzimmer und dachte, daß sie eigentlich Lust hatte, ihn zu wecken und zur Rede zu stellen. Wofür zur Rede zu stellen? Sten Widén war einer seiner besten Freunde. Jetzt war er krank, schwer krank. Wenn ihr Vater richtig ernst war, pflegte er von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Wenn Sten stirbt, wird Kurt Wallander ein einsamer Mann, hatte er gesagt. Jetzt hatte Sten Widén Lungenkrebs. Linda kannte die merkwürdige Geschichte von dem Reitstall, den Sten Widén neben der Burgruine von Stjärnsund betrieb, ziemlich gut. Vor einigen Jahren hatte er seinen Betrieb abgewickelt und den Hof verkauft. Doch gerade als der neue Besitzer einziehen wollte, hatte Sten Widén alles bereut. Lindas Vater hatte von der Klausel im Kaufvertrag erzählt, die Sten das Recht einräumte, das Geschäft rückgängig zu machen. Er hatte wieder ein paar Pferde angeschafft. Dann hatte er von seiner Krankheit erfahren. Ein Gnadenjahr war bereits vergangen. Jetzt würde er seine Pferde verkaufen und in ein Hospiz für Sterbende gehen, in dem er sich einen Platz besorgt hatte. Dort würde er sein Leben beschließen. Der Hof sollte endgültig verkauft werden. Diesmal würde das Geschäft nicht rückgängig gemacht werden.
Sie zog sich aus und legte sich ins Bett. Es war ein paar Minuten vor fünf. Sie blickte an die Decke und verspürte ein schlechtes Gewissen. Gönne ich meinem Vater nicht, daß er sich mit seinem besten Freund betrinkt, der außerdem bald sterben wird? Was weiß ich davon, worüber sie miteinander reden, was sie einander bedeuten. Ich habe mir immer vorgestellt, daß mein Vater seinen Freunden ein guter Freund ist. Das bedeutet auch, daß man eine Nacht mit einem Mann, der bald sterben wird, in einem Stall zusammensitzt. Sie bekam Lust, aufzustehen und ihn zu wecken, um sich bei ihm zu entschuldigen. Das wäre das einzig Richtige. Aber er würde nur wütend werden, weil ich ihn störe. Er hat heute frei, und vielleicht unternehmen wir etwas gemeinsam.
Bevor sie einschlief, dachte sie noch einmal an die Begegnung mit Henrietta. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Sie verbarg etwas. Wußte sie, wo Anna war? Oder war da etwas anderes, worüber sie nicht sprechen wollte? Linda legte sich auf die Seite, rollte sich in Embryonalstellung zusammen und dachte schläfrig, daß sie sehr bald anfangen würde, einen Freund an ihrer Seite zu vermissen, im Schlafen wie im Wachen. Aber wo finde ich hier einen? Ich habe mich daran gewöhnt zu glauben, daß jemand, der mir auf schonisch sagt, daß er mich liebt, es wirklich ernst meint. Sie schob die Gedanken fort, glättete das Kopfkissen und schlief ein.
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Um neun Uhr rüttelte jemand sie wach. Linda fuhr auf, darauf eingestellt, verschlafen zu haben, und sah direkt ins Gesicht ihres Vaters. Er wirkte nicht im geringsten verkatert. Er war schon fertig angezogen und hatte sich ausnahmsweise ordentlich gekämmt. »Frühstück«, sagte er. »Die Zeit vergeht, das Leben läuft uns davon.«
Linda duschte und zog sich an. Er legte am Frühstückstisch eine Patience, als sie sich setzte.
»Ich vermute, du warst gestern bei Sten Widén.«
»Richtig.«
»Ich glaube außerdem, daß ihr reichlich getrunken habt.«
»Falsch. Wir haben ganz entschieden zuviel getrunken.«
»Wie bist du nach Hause gekommen?«
»Taxi.«
»Wie ging es ihm?«
»Ich wollte, ich wäre ähnlich tapfer, wenn ich erfahre, daß meine Zeit ausläuft. Er sagte folgendes: Man hat im Leben eine bestimmte Anzahl von Galopprennen. Dann ist es vorbei. Das einzige, was man tun kann, ist zu versuchen, so viele von ihnen wie möglich zu gewinnen.«
»Hat er Schmerzen?«
»Bestimmt. Aber das sagt er nicht. Er ist wie Rydberg.«
»Wer?«
»Evert Rydberg. Hast du ihn vergessen? Ein alter Kollege von hier, mit einem Muttermal auf der Backe.«
Linda hatte eine vage Vorstellung. »Ja, vielleicht erinnere ich mich.«
»Er war es, der einen Polizisten aus mir gemacht hat, als ich jung war und noch von nichts eine Ahnung hatte. Er ist auch viel zu früh gestorben. Aber kein Wort der Klage, nichts. Er hatte auch seine Galopprennen und akzeptierte es, als seine Zeit um war.«
»Wer bringt mir all das bei, wovon ich keine Ahnung habe?«
»Ich dachte, du hättest Martinsson als Ausbilder.«
»Ist er gut?«
»Er ist ein ausgezeichneter Polizist.«
»Ich habe keine deutliche Erinnerung an einen, der Rydberg hieß. Aber an Martinsson erinnere ich mich. Ich weiß nicht, wie oft du nach Hause kamst und wütend warst über etwas, was er entweder getan oder nicht getan hatte.«
Er resignierte über seiner Patience und sammelte die Karten zusammen. »Rydberg hat mich angelernt. Und ich in meiner Zeit habe Martinsson das weitergegeben, was er brauchte. Da ist es doch klar, daß ich ihn manchmal verflucht habe. Außerdem war er schwer von Begriff. Aber nachdem er die Dinge einmal gelernt hatte, saßen sie wie festzementiert.«
»Das heißt mit anderen Worten, daß indirekt du mein Mentor bist.«
Er stand vom Tisch auf. »Was ein Mentor ist, weiß ich nicht. Zieh dich jetzt an, dann fahren wir.«
Sie sah ihn verblüfft an. Hatten sie etwas verabredet, was sie vergessen hatte?
»Haben wir etwas verabredet?«
»Nichts, außer daß wir rauswollten. Und das werden wir auch. Es wird ein schöner Tag. Bevor man sich versieht, legt sich der Nebel übers Dasein. Ich hasse den schonischen Nebel. Es ist, als kröche er einem in den Kopf. Ich kann nicht klar denken, wenn alles diesig und grau und wolkenverhangen ist. Aber du hast recht, wir haben ein Ziel.«
Er setzte sich wieder an den Tisch und goß sich den letzten Rest Kaffee ein, bevor er fortfuhr.
»Hansson? Erinnerst du dich an ihn?«
Linda schüttelte den Kopf.
»Er verschwand wohl, als du noch klein warst. Einer meiner Kollegen. Im letzten Jahr kam er zurück. Jetzt habe ich erfahren, daß er sein Elternhaus außerhalb von Tomelilla verkaufen will. Seine Mutter ist seit langem tot. Aber sein Vater wurde einhundertein Jahre alt. Hansson zufolge war er so klar im Kopf und so boshaft wie immer, bis zu seiner letzten Minute. Aber jetzt soll das Haus verkauft werden. Ich dachte, wir könnten es uns ansehen. Wenn Hansson nicht übertrieben hat, ist es vielleicht genau das, was ich suche.«
Sie gingen hinunter zum Wagen und fuhren aus der Stadt hinaus. Es war windig, aber warm. Sie kamen an einer Kolonne blankgeputzter Oldtimer vorbei. Linda verblüffte ihren Vater damit, daß sie die meisten Marken kannte.
»Wo hast du all das über Autos gelernt?«
»Mein letzter Freund, Magnus.«
»Ich dachte, er hätte Ludwig geheißen.«
»Du bist nicht auf dem laufenden, Vater. Übrigens, ist Tomelilla nicht völlig falsch? Ich dachte, du wolltest auf einer Bank sitzend alt werden, einen Hund streicheln und aufs Meer schauen?«
»Ich habe nicht das Geld, um mir ein Haus am Meer zu leisten. Ich muß mich mit dem Zweitbesten zufriedengeben.«
»Leih dir doch was von Mama. Ihr vorzeitig pensionierter Prokurist hat doch Kohle genug.«
»Nie im Leben.«
»Ich kann es für dich leihen.«
»Nie im Leben.«
»Dann gibt es auch kein Haus am Meer.«
Linda warf einen Blick zu ihm hinüber. War er böse geworden? Sie konnte es nicht sagen. Aber ihr kam der Gedanke, daß sie das mit ihm gemeinsam hatte. Plötzlich aufflammende Gereiztheit, eine unglückliche Neigung, durch die geringste Kleinigkeit verletzt zu sein. Die Distanz zwischen ihm und mir wechselt, dachte sie. Manchmal sind wir einander sehr nahe, aber genauso oft klaffen dramatische Schluchten zwischen uns. Und dann müssen wir unsere Brücken bauen, die häufig wackelig sind, uns aber doch meistens wieder zusammenführen.
Er zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Jackentasche. »Die Karte«, sagte er. »Du mußt mich hinlotsen. Bald sind wir an dem Kreisverkehr, der ganz oben steht. Da biegen wir nach Kristianstad ab. Dann mußt du mir sagen, wie ich fahren soll.«
»Ich lotse dich nach Småland«, sagte sie und faltete das Papier auseinander. »Tingsryd hört sich doch gut an. Von da finden wir nie den Weg zurück.«
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Hanssons Elternhaus lag sehr schön auf einer kleinen Anhöhe und war von einem Waldgebiet umgeben, dahinter erstreckten sich Felder und Sumpfwiesen. Ein Milan schwebte im Aufwind über dem Haus. Auf der Rückseite lag ein alter Obstgarten. Das Gras stand hoch, die Rosen, die an den weiß verputzten, aber unansehnlich gewordenen Wänden in die Höhe kletterten, waren verwildert und zum Teil abgebrochen. Aus einiger Entfernung war das ansteigende und wieder abfallende Geräusch eines Traktors zu hören. Linda setzte sich auf eine alte Steinbank zwischen ein paar Johannisbeerbüschen, die rot leuchteten. Sie betrachtete ihren Vater, der dastand und zum Dach hinaufblinzelte, die Festigkeit der Fallrohre prüfte und ins Innere des Hauses zu sehen versuchte. Dann verschwand er zur Vorderseite des Hauses.
Als Linda allein war, begann sie wieder an Henrietta zu denken. Jetzt, wo sie eine gewisse Distanz zu ihrer Begegnung gefunden hatte, war ihr intuitives Gefühl der Gewißheit gewichen. Henrietta hatte nicht die Wahrheit gesagt. Sie verbarg etwas, was mit Anna zu tun hatte. Linda holte ihr Handy hervor und wählte Annas Nummer. Das Klingeln ertönte, der Anrufbeantworter ging an. Linda sprach keine Nachricht aufs Band, schaltete ihr Handy aus, stand auf und ging auf die Vorderseite des Hauses. Da stand ihr Vater und betätigte den Schwengel einer quietschenden Pumpe. Braunes Wasser ergoß sich in eine rostige Wanne.
Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich das Haus auf den Rücken nehmen und irgendwo am Meer absetzen könnte, würde ich nicht zögern. Aber hier ist mir zuviel Wald.«
»Du solltest dir einen Wohnwagen anschaffen«, sagte Linda.
»Den kannst du am Meer abstellen. Alle würden dir eine Ecke ihres Grundstücks abtreten.«
»Warum sollten sie?«
»Jeder möchte doch kostenlos einen Polizisten neben sich haben.«
Er schnitt eine Grimasse, leerte die Wanne und ging zur Straße. Linda folgte ihm. Er dreht sich nicht um, dachte sie. Das Haus hat er schon vergessen.
Sie fuhren nicht gleich los. Linda schaute dem Milan nach, der über die Felder glitt und zum Horizont hin verschwand.
»Was möchtest du machen?« fragte er.
Linda dachte an Anna. Sie mußte mit ihrem Vater darüber reden, daß sie sich Sorgen machte. »Ich muß mit dir reden. Aber nicht hier.«
»Dann weiß ich, wohin wir fahren können.«
»Wohin?«
»Du wirst schon sehen.«
Sie fuhren nach Süden, bogen links in Richtung Malmö ab und folgten dann einem Schild, das nach Kadesjö wies. Es gab einen Wald dort, einen der schönsten, die Linda kannte. Sie hatte geahnt, daß sie auf dem Weg dorthin waren. Ihr Vater und sie waren sehr oft dort spazierengegangen, besonders als sie zehn, elf Jahre alt war, noch kein Teenager. Sie hatte auch eine vage Erinnerung daran, einmal mit ihrer Mutter dort gewesen zu sein. Aber sie konnte nicht die ganze Familie zusammen vor sich sehen.
Sie ließen den Wagen an einem Holzlagerplatz stehen. Die dicken, frischgefällten Baumstämme dufteten. Sie folgten einem der Pfade durch den Wald bis zu der eigentümlichen Blechstatue, die zur Erinnerung an einen Besuch errichtet worden war, den Karl XII. möglicherweise in Kadesjö gemacht hatte. Linda wollte gerade anfangen, von Anna zu sprechen, als ihr Vater die Hand hob.
Sie standen an einer kleinen Lichtung zwischen hohen Bäumen. »Dies hier ist mein Friedhof«, sagte er. »Mein wirklicher Friedhof.«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin gerade dabei, ein großes Geheimnis zu lüften, vielleicht eines meiner größten. Wahrscheinlich werde ich es morgen bereuen. Die Bäume, die du hier siehst, die gehören jeder einem meiner toten Freunde. Auch mein Vater ist dabei, meine Mutter, alle alten Verwandten.«
Er zeigte auf eine noch junge Eiche. »Diesen Baum habe ich Stefan Fredman gegeben. Dem verzweifelten Indianer. Auch er gehört zu meinen Toten.«
»Und die, von der du gesprochen hast?«
»Yvonne Ander? Dort drüben.«
Er zeigte auf eine andere Eiche, die ein mächtiges Astwerk entfaltete. »Ich kam ein paar Wochen nach Vaters Tod hierher. Mir war, als sei mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Du warst viel stärker als ich. Ich saß im Präsidium und versuchte, die Wahrheit über einen schweren Fall von Körperverletzung ans Licht zu bringen. Es war eine Art von Ironie, daß es sich um einen jungen Mann handelte, der seinen Vater mit einem Vorschlaghammer fast totgeschlagen hatte. Dieser Junge, der log die ganze Zeit. Plötzlich hatte ich die Nase voll. Ich brach das Verhör ab und fuhr hierher. Ich nahm einen Funkstreifenwagen und schaltete die Sirene ein, um so schnell wie möglich aus der Stadt herauszukommen. Nachher bekam ich Ärger deswegen. Aber als ich hier ankam, da stellte ich mir vor, die Bäume seien die Grabsteine aller meiner Toten. Hierher, nicht zum Friedhof mußte ich kommen, um sie wiederzutreffen. Ich fühle hier eine Ruhe, wie ich sie sonst nirgendwo erlebe. Hier kann ich meine Toten umarmen, ohne daß sie mich sehen.«
»Ich werde dein Geheimnis nicht weitersagen. Danke, daß du mir davon erzählt hast.«
Sie blieben noch eine Weile unter den Bäumen. Linda wollte nicht fragen, welches der Baum ihres Großvaters war. Sie dachte, daß es wahrscheinlich die kräftige, ziemlich einsam wirkende Eiche war, die ein wenig entfernt von den anderen stand.
Die Sonne schien durchs Laubwerk herab. Es kam Wind auf, und sogleich wurde es kühler. Linda gab sich einen Ruck und erzählte davon, daß Anna verschwunden war, daß Henrietta nicht die Wahrheit sagte und daß sie das Gefühl nicht loswurde, es sei etwas passiert.
»Du kannst etwas Dummes tun«, sagte sie am Schluß. »Wenn du nämlich über das Ganze den Kopf schüttelst und sagst, ich sei überspannt und alles sei nur Einbildung. Dann werde ich wütend. Aber wenn du sagst, du glaubst, daß ich mich irre, und mir erklärst, warum, dann höre ich dir zu.«
»Du wirst als Polizistin eine grundlegende Erfahrung machen«, antwortete er. »Das Unerklärliche trifft fast nie ein. Auch für ein Verschwinden gibt es meistens eine ganz plausible, aber vielleicht unerwartete Erklärung. Als Polizistin lernst du, zwischen dem Unerklärlichen und dem Unerwarteten zu unterscheiden. Das Unerwartete kann ganz logisch, aber unmöglich herauszufinden sein, bevor man die Erklärung bekommen hat. Nicht zuletzt gilt das für die meisten Fälle von Verschwinden. Du weißt nicht, was Anna passiert ist. Du machst dir Sorgen, das ist normal. Aber meine Erfahrung sagt mir, daß du dich vielleicht auf die einzige Tugend besinnen solltest, deren ein Polizeibeamter sich rühmen kann.«
»Geduld?«
»Ganz richtig. Geduld.«
»Wie lange?«
»Ein paar Tage. Und dann ist sie sicher wieder aufgetaucht. Oder hat von sich hören lassen.«
»Ich bin trotzdem sicher, daß ihre Mutter gelogen hat.«
»Ich glaube nicht, daß Mona und ich immer die Wahrheit gesagt haben, wenn wir von dir sprachen.«
»Ich werde mich in Geduld üben. Aber auf jeden Fall sagt mir mein Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmt.«
Sie kehrten zum Wagen zurück. Es war nach ein Uhr. Linda schlug vor, irgendwo hinzufahren und zu Mittag zu essen.
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Sie fuhren zu dem Gasthaus, das den sonderbaren Namen »Vaters Hut« trug. Kurt Wallander hatte eine vage Erinnerung daran, irgendwann mit seinem Vater dort gegessen und sich heftig mit ihm gestritten zu haben. Worum es dabei gegangen war, wußte er nicht mehr.
»Gasthäuser, wo ich Streit hatte«, sagte Linda. »Man kann alles mit Namen versehen. Wahrscheinlich habt ihr euch darüber gestritten, daß du Polizist geworden bist. Ich kann mich nicht erinnern, daß ihr euch über etwas anderes uneins wart.«
»Du hast keine Ahnung. Wir waren in bezug auf alles uneins. Obwohl wir eigentlich zwei trotzige Jungen waren, die nie erwachsen wurden und das ewige verbissene Spiel spielten. Er warf mir vor, ihn zu vernachlässigen, wenn ich fünf Minuten später als verabredet kam. Er konnte sogar so diabolisch sein, seine Uhr vorzustellen, um behaupten zu können, daß ich zu spät käme.«
Sie hatten gerade Kaffee bestellt, als ein Handy klingelte. Linda griff nach ihrem, aber es war das ihres Vaters, das den gleichen Klingelton hatte. Er meldete sich und lauschte, stellte ein paar einsilbige Fragen, machte eine Notiz auf der Rückseite der Rechnung, die gerade gekommen war, und beendete das Gespräch.
»Was war denn?«
»Eine vermißte Person.«
Er legte das Geld auf den Tisch, faltete die Rechnung zusammen und steckte sie ein.
»Was passiert jetzt?« fragte Linda. »Wer ist denn verschwunden?«
»Wir fahren zurück nach Ystad. Aber wir machen einen Umweg über Skurup. Eine alleinlebende Witwe, Birgitta Medberg, ist verschwunden. Ihre Tochter scheint überzeugt zu sein, daß ihr etwas zugestoßen ist.«
»Wie verschwunden?«
»Die Anruferin war sich nicht sicher. Aber anscheinend ist ihre Mutter eine Art Forscherin, die Feldarbeit betreibt und in den Wäldern nach alten Pfaden sucht. Merkwürdige Beschäftigung.«
»Vielleicht hat sie sich verirrt?«
»Genau das denke ich auch. Wir dürften es bald erfahren.«
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Sie fuhren nach Skurup. Der Wind war stärker geworden. Es war neun Minuten nach drei am Mittwoch, dem 29. August.
12
Das Haus hatte ein Obergeschoß und war aus Ziegeln gebaut.
»Hast du ein solches Haus schon einmal gesehen?« fragte sie, als sie aus dem Wagen gestiegen waren und der Vater die Tür abschloß. Er warf einen Blick auf die Fassade.
»Es sieht aus wie das Haus, in dem du in Sollentuna gewohnt hast. Bevor du in das Wohnheim der Polizeihochschule gezogen bist.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Was mache ich jetzt?«
»Du kommst mit. Sieh es als eine Art polizeilicher Fahrstunde an.«
»Verstößt du nicht gegen irgendwelche Regeln? Unbefugte, die bei einem Verhör anwesend sind oder so?«
»Dies hier ist kein Verhör. Nur ein Gespräch. Vielleicht hauptsächlich, um jemanden zu beruhigen, der sich unnötige Sorgen macht.«
»Aber trotzdem.«
»Es gibt kein ›aber trotzdem‹. Ich habe gegen Regeln verstoßen, seit ich bei der Polizei bin. Martinsson hat einmal ausgerechnet, daß ich vier Jahre im Knast sitzen müßte für alles, was ich angestellt habe. Aber das zählt nicht, solange ich meine Arbeit gut mache. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen Nyberg und ich einer Meinung sind.«
»Nyberg, der von der Spurensicherung?«
»Meines Wissens ist das der einzige Nyberg, den wir in Ystad haben. Er geht bald in Pension. Keiner wird ihn vermissen. Oder es wird umgekehrt, daß allen seine entsetzlich schlechte Laune fehlen wird.«
Sie überquerten die Straße. Die starken Windböen trieben Schmutz vor sich her, der um ihre Füße wirbelte. Vor der Haustür stand ein Fahrrad ohne Hinterrad. Der Rahmen war verbogen, als sei das Fahrrad Opfer eines sadistischen Übergriffs gewesen. Sie gingen hinein.
Wallander las das Namensschild. »Birgitta Medberg. Sie ist die mutmaßlich Verschwundene. Ihre Tochter heißt Vanja. Dem Anruf von eben zufolge war sie vollkommen hysterisch und sprach mit einer extrem schrillen Stimme.«
»Ich bin nicht im mindesten hysterisch«, schrie eine Frau aus der Etage über ihnen. Sie beugte sich übers Treppengeländer und sah auf sie hinunter.
»Ich rede offenbar zu laut in Treppenhäusern«, murmelte er.
Sie gingen die Treppe hinauf.
»Genau, was ich mir gedacht habe«, sagte er freundlich, als er der mißtrauischen und nervösen Frau die Hand reichte. »Die Jungs auf der Wache sind unerfahrene Burschen. Die haben noch nicht gelernt, zwischen Hysterie und völlig normaler Erregung zu unterscheiden.«
Die Frau namens Vanja war um die Vierzig. Sie hatte kräftiges Übergewicht, und ihre Bluse war am Hals und an den Handgelenken schmutzig. Linda dachte, daß es lange hersein mußte, daß die Frau sich die Haare gewaschen hatte. Sie traten in die Wohnung ein. Linda erkannte sogleich den Duft, der ihr entgegenschlug. Mamas Parfüm, dachte sie. Das sie nahm, wenn sie unzufrieden oder ärgerlich war. Wenn es ihr gutging, benutzte sie ein anderes.
Sie kamen ins Wohnzimmer. Vanja ließ sich schwer in einen Sessel fallen und zeigte auf Linda, die nur kurz ihren Namen genannt hatte, als sie in den Flur traten. »Wer ist sie?«
»Eine Assistentin«, sagte Kurt Wallander forsch. »Können wir jetzt hören, was passiert ist?«
Vanja erzählte, ruckartig und nervös. Sie hatte Schwierigkeiten, Worte zu finden, auf jeden Fall war sie keine Frau, die sich häufig in längeren Sätzen ausdrücken mußte.
Linda spürte, daß ihre Unruhe echt war. Sie verglich sie mit ihrer eigenen Unruhe wegen Anna.
Vanjas Geschichte war kurz. Ihre Mutter Birgitta war Kulturgeographin und widmete sich der Kartierung alter Wege und Pfade in Südschweden, vor allem in Schonen und Teilen von Småland. Seit gut einem Jahr war sie Witwe. Sie hatte vier Enkelkinder, zu denen Vanja mit zwei Töchtern beigetragen hatte. Es waren die Töchter, die ihre Besorgnis ausgelöst hatten, so daß sie die Polizei angerufen hatte. Sie hatte mit ihrer Mutter verabredet, daß ihre Töchter sie um zwölf Uhr besuchen sollten. Vorher wollte die Mutter auf eine ihrer kleinen Exkursionen gehen, Pfadjagden, wie sie es nannte. Aber als Vanja mit ihren Töchtern kam, war ihre Mutter noch nicht wieder da. Sie hatte zwei Stunden gewartet und dann die Polizei angerufen.
Ihre Mutter würde ihre Enkelkinder nie enttäuschen. Es mußte also etwas passiert sein.
Sie verstummte. Linda versuchte, sich die erste Frage ihres Vaters vorzustellen: »Wohin wollte sie?«
»Wissen Sie, wohin sie heute morgen wollte?« fragte er.
»Nein.«
»Ich gehe davon aus, daß sie mit dem Wagen fährt.«
»Sie hat eine rote Vespa. Die ist vierzig Jahre alt.«
»Eine rote Vespa? Vierzig Jahre?«
»Vespas waren damals rot. Ich war noch nicht geboren. Aber Mama hat es mir erzählt. Sie ist Mitglied eines Clubs für alte Mopeds und Vespas. In Staffanstorp. Ich begreife nicht, warum. Aber sie liebt es, mit diesen Vespa-Narren zusammenzusein.«
»Sie sagten, sie sei vor einem Jahr Witwe geworden. Gab es Anzeichen dafür, daß sie deprimiert war?«
»Nein. Wenn Sie glauben, sie habe Selbstmord begangen, liegen Sie falsch.«
»Ich glaube gar nichts. Aber manchmal können Menschen, die uns nahestehen, sehr geschickt verbergen, wie sie sich wirklich fühlen.«
Linda starrte beharrlich ihren Vater an. Er warf ihr einen hastigen Blick zu. Wir müssen über diese Sache reden, dachte sie. Es ist falsch von mir, ihm nicht von damals zu erzählen, als ich auf dem Brückengeländer stand und schwankte. Er glaubt, das einzige Mal sei gewesen, als ich mir in die Arme geschnitten habe.
»Sie würde sich nie etwas antun. Aus einem ganz einfachen Grund. Sie würde ihre Enkelkinder nie einem solchen Schock aussetzen.«
»Es gibt niemanden, den sie besucht haben könnte?«
Vanja hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie ließ Asche auf ihre Kleidung und auf den Fußboden fallen. Linda dachte, daß sie überhaupt nicht in die Wohnung ihrer Mutter paßte.
»Meine Mutter ist altmodisch. Sie macht keine Besuche, die nicht geplant sind.«
»Soweit ich mitbekommen habe, ist sie nicht in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Es dürfte also kein Unglück geschehen sein. Aber leidet sie an einer Krankheit? Hat sie kein Mobiltelefon?«
»Mama ist gesund. Sie lebt gesund und einfach. Nicht wie ich. Aber als Eierverkäuferin bewegt man sich nicht genug.«
Vanja machte eine Geste mit ausgebreiteten Armen, wie um ihren Ekel vor ihrem eigenen Körper zum Ausdruck zu bringen.
»Und das Mobiltelefon?«
»Sie hat eins. Aber es ist nie eingeschaltet. Obwohl meine Schwester und ich sie bekniet haben.«
Es wurde still im Zimmer. Aus einer Wohnung nebenan war das leise Geräusch eines Radios oder Fernsehers zu hören.
»Und Sie haben keine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte? Gibt es jemanden, der weiß, womit sie gerade beschäftigt ist? Hat sie Tagebuch geführt?«
»Meines Wissens nicht. Mama hat allein gearbeitet.«
»Ist so etwas hier früher schon einmal vorgekommen?«
»Daß sie verschwunden ist? Nie.«
Lindas Vater holte einen Notizblock und einen Bleistift aus der Jackentasche und ließ sich Vanjas vollen Namen, die Anschrift und die Telefonnummer geben. Linda merkte, daß er stutzte, als sie ihren Nachnamen sagte, Jorner. Er hielt inne und schaute auf den Block, bevor er den Blick hob. »Ihre Mutter heißt Medberg. Sind Sie eine verheiratete Jorner?«
»Mein Mann ist Hans Jorner. Mamas Mädchenname war Lundgren. Ist das wirklich wichtig?«
»Hans Jorner. Ist er möglicherweise ein Sohn des alten Direktors der Kiesgesellschaft in Limhamn?«
»Ja. Der jüngste Sohn. Wieso?«
»Reine Neugier. Sonst nichts.«
Wallander stand auf, Linda folgte ihm. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns umsehen? Hat Ihre Mutter ein Arbeitszimmer?«
Vanja zeigte auf das Zimmer, bevor sie einen Anfall von dröhnendem Raucherhusten bekam. Sie betraten ein Arbeitszimmer, dessen Wände von Landkarten bedeckt waren. Auf dem Schreibtisch lagen ordentliche Stapel von Papieren und Mappen.
»Was war denn?« fragte Linda leise. »Mit dem Namen?«
»Das erzähle ich dir nachher. Es ist eine unangenehme Geschichte. Sie ruft alte Erinnerungen wach.«
»Was hat sie gesagt? Eierverkäuferin?«
»Ja. Aber ihre Sorge ist echt.«
Linda hob ein paar Papiere vom Schreibtisch auf.
Sofort wies er sie zurecht. »Du darfst dabeisein, du darfst zuhören und zusehen. Aber nichts anfassen.«
»Ich habe doch nur ein Blatt Papier angefaßt.«
»Das war eins zuviel.«
Linda verließ wütend das Zimmer. Natürlich hatte er recht. Aber trotzdem mochte sie seinen Ton nicht. Sie nickte Vanja, die immer noch hustete, kurz zu und ging hinunter auf die Straße. Als sie hinaustrat in den starken Wind, verfluchte sie ihre kindische Reaktion bereits.
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Zehn Minuten später kam ihr Vater aus der Haustür. »Was war los? Was habe ich falsch gemacht?«
»Nichts. Ist schon vergessen.«
Linda hob die Arme in einer entschuldigenden Geste. Er schloß den Wagen auf. Der Wind zerrte und rüttelte. Sie setzten sich in den Wagen.
Er steckte den Schlüssel ins Zündschloß, startete aber nicht. »Du hast gemerkt, daß ich gestutzt habe, als diese schreckliche Frau sagte, sie hieße Jorner. Und daß sie mit einem Sohn des alten Jorner verheiratet ist, hat es auch nicht besser gemacht.«
Er knurrte etwas vor sich hin und schloß die Hände krampfhaft ums Lenkrad. Dann erzählte er.
»Als Kristina und ich klein waren und mein Vater seine Bilder malte, kam es ja manchmal vor, daß keine Hausierer in ihren Amischlitten vorbeikamen und ihm abkauften, was er produziert hatte. Wir hatten kein Geld. Dann mußte Mutter arbeiten. Da sie keine Ausbildung hatte, gab es im großen und ganzen nur zwei Möglichkeiten, entweder in einer Fabrik zu stehen oder Haushaltshilfe zu werden. Sie entschied sich für das letztere und landete bei der Familie Jorner, wohnte aber zu Hause. Der alte Jorner, er hieß Hugo, und seine Frau Tyra waren richtig widerwärtige Menschen. Für sie hatte sich die Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert. Es gab für sie nur Oberklasse und Unterklasse, sonst nichts. Er war der Schlimmere.
Eines Abends spät kam meine Mutter völlig verweint nach Hause. Mein Vater, der sie normalerweise nie fragte, wie es ihr ging, wollte wissen, was passiert sei. Ich saß auf dem Fußboden hinterm Sofa und lauschte, und ich vergesse es nie. Es hatte ein Fest gegeben bei Jorner, nicht viele Gäste, vielleicht waren sie acht um den Tisch. Und Mutter sollte servieren. Als sie zum Kaffee kamen und schon etwas angeheitert waren, besonders Hugo, rief er Mutter herein und bat sie, eine Trittleiter zu holen. Ich weiß es noch Wort für Wort, wie Mutter mit tränenerstickter Stimme erzählte. Sie holte die Trittleiter. Die Gäste saßen am Tisch, und Hugo, sadistisch, wie er war, sagte Mutter, sie solle auf die Leiter steigen. Sie tat, was er sagte, und dann erklärte er, daß sie von da oben wohl sehen könnte, daß sie vergessen hatte, einem der Gäste einen Kaffeelöffel hinzulegen. Dann schickte er Mutter mit der Leiter wieder hinaus, und sie hörte, wie sie hinter ihr lachten und sich zuprosteten.
Mutter fing an zu weinen, als sie fertig erzählt hatte, und sagte, sie würde nie wieder einen Fuß in das Haus setzen. Und Vater war so aufgebracht, daß er schon auf dem Weg zum Schuppen war, um die Axt zu holen und sie Jorner in den Kopf zu schlagen. Aber Mutter beruhigte ihn natürlich. Ich vergesse es nie. Ich war vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Und jetzt treffe ich eine der Schwiegertöchter der Familie.«
Er ließ mit einer heftigen Bewegung den Motor an. Linda merkte, wie aufgewühlt er war. Sie verließen Sturup.
Linda betrachtete die Landschaft, die Wolkenschatten, die über die Felder wanderten. »Ich frage mich oft, wie Großmutter wohl war. Sie starb ja lange vor meiner Geburt. Aber am meisten frage ich mich, wie jemand mit Großvater verheiratet sein konnte.«
Er lachte laut.
»Meine Mutter sagte immer, wenn man ihn mit ein bißchen Salz einriebe, täte er, was sie sagte. Ich habe nie verstanden, wie sie das meinte. Einen Menschen mit Salz einreihen? Aber Mutter hatte eine Engelsgeduld.«
Er trat hart auf die Bremse und wich an den äußersten Straßenrand aus. Ein offener Sportwagen machte ein riskantes Überholmanöver.
Wallander fluchte. »Eigentlich sollte ich den Kerl stellen.«
»Und warum tust du es nicht?«
»Weil ich mir Sorgen mache.«
Linda betrachtete ihren Vater. Er war angespannt. »Da ist etwas mit dieser vermißten Frau, was mir nicht gefällt. Ich glaube, daß alles, was Vanja Jorner gesagt hat, richtig ist. Ihre Sorge war nicht gespielt. Ich glaube, daß Birgitta Medberg entweder krank geworden ist, von einer völlig unvorhersehbaren Sinnesverwirrung befallen irgendwo herumirrt, oder daß etwas passiert ist.«
»Ein Verbrechen?«
»Ich weiß nicht. Aber mein freier Tag ist jetzt wohl zu Ende. Ich bringe dich nach Hause.«
»Ich fahre mit zum Präsidium und gehe zu Fuß nach Hause.«
Er parkte in der Tiefgarage der Polizei. Linda ging durch den Hinterausgang hinaus, duckte sich gegen den starken Wind und war plötzlich unschlüssig, was sie tun sollte. Es war inzwischen halb vier, der Wind war kalt, als näherte der Herbst sich sehr schnell. Sie machte sich auf den Weg nach Hause, besann sich aber und bog in Annas Straße ein. Sie klingelte, wartete und öffnete.
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Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um zu erkennen, daß etwas geschehen war. Zuerst wußte sie nicht, was. Dann wurde ihr klar, daß jemand in der Wohnung gewesen war. Sie wußte es, ohne zu verstehen, warum. Dann merkte sie, daß etwas fehlte. Sie stand in der Türöffnung des Wohnzimmers und suchte nach dem, was anders war. War etwas verschwunden? Etwas an der Wand? Sie trat ans Bücherregal und fuhr mit der Hand über die Buchrücken. Nichts fehlte.
Sie setzte sich auf den Stuhl, den Anna meistens benutzte, und sah sich um. Etwas war verändert, da war sie sich sicher. Aber was? Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, um den Raum aus anderer Perspektive wahrzunehmen. Da entdeckte sie es. Ein kleines Glasbild mit einem aufgespießten blauen Schmetterling hatte an einer der Seitenwände gehangen, zwischen einem Kunstposter aus Berlin und einem alten Barometer. Jetzt war das Schmetterlingsbild fort. Linda schüttelte den Kopf. Bildete sie sich etwas ein? Nein, es war fort. In ihrer Erinnerung war es noch da, als sie beim letztenmal in der Wohnung war. Konnte Henrietta dagewesen sein und es mitgenommen haben? Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Sie zog die Jacke aus und ging langsam durch die Wohnung.
Erst als sie die Türen von Annas Kleiderschrank öffnete, war sie wirklich überzeugt, daß jemand in der Wohnung gewesen sein mußte. Es fehlten Kleidungsstücke und vielleicht auch eine Tasche. Linda wußte es, weil bei Anna die Kleiderschranktüren meistens offenstanden. Ein paar Tage vor Annas Verschwinden war Linda in Annas Schlafzimmer gewesen, um ein Telefonbuch zu holen, als sie einen Augenblick allein in der Wohnung war. Sie setzte sich aufs Bett und versuchte nachzudenken. Dann sah sie das Tagebuch, das auf dem Schreibtisch lag. Das Tagebuch ist noch da, dachte sie. Und das ist falsch. Richtiger gesagt: Es bedeutet, daß es nicht Anna sein kann, die hiergewesen ist. Sie kann Kleider geholt haben, sie kann sogar den blauen Schmetterling mitgenommen haben. Aber sie würde nie ihr Tagebuch zurücklassen. Nie im Leben.
13
Linda versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Sie befand sich in einem leeren Raum, durch die Tür einzutreten war, wie einen Wasserspiegel zu durchschneiden und in eine vollkommen stille und fremde Landschaft hinabzusinken. Sie rief sich Gelerntes in Erinnerung. Es gab immer Spuren an Orten, an denen sich etwas Dramatisches abgespielt hatte. Aber hatte das, was geschehen war, überhaupt etwas mit Dramatik zu tun?
Es fanden sich keine Blutflecke, keine Verwüstung, alles war so ordentlich wie immer. Abgesehen davon, daß ein kleines Schmetterlingsbild und eine Tasche sowie einige Kleidungsstücke verschwunden waren. Dennoch sollten Spuren dasein. Selbst wenn es trotz allem Anna war, die sich zwischenzeitlich in die Wohnung begeben hatte, mußte sie sich in ihrer eigenen Wohnung wie ein ungebetener Gast verhalten haben.
Linda ging langsam die Wohnung ein weiteres Mal durch, ohne etwas zu bemerken. Nichts war verändert, nichts fehlte. Dann hörte sie den Anrufbeantworter ab, dessen Blinken verriet, daß neue Nachrichten vorlagen. Drei Anrufe wurden angezeigt. Wir geben unsere Stimmen von uns, dachte Linda. Wir verstreuen sie auf Hunderte von Anrufbeantwortern in der ganzen Welt. Zahnarzt Sivertsson wollte den Termin für die jährliche Kontrolle ändern und bat um Rückruf bei der Sprechstundenhilfe. Eine Frau namens Mirre rief aus Lund an und wollte wissen, ob Anna mit nach Båstad käme oder nicht. Und zuletzt Linda selbst, ihr Hallo und das Klicken, als sie wieder auflegte.
Auf dem Tisch lag ein Adreßbuch. Linda suchte den Zahnarzt Sivertsson und wählte die Nummer.
»Zahnarztpraxis Sivertsson.«
»Ich heiße Linda Wallander. Ich habe Anna Westin versprochen, mich um ihre Anrufe zu kümmern. Sie ist ein paar Tage verreist. Ich wollte nur wissen, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sie kommen sollte.«
Nach einem Moment kam die Zahnarzthelferin zurück ans Telefon. »Am 10. September um neun Uhr.«
Linda beendete das Gespräch und suchte nach der Nummer der Frau, die Mirre hieß. Sie dachte an ihr eigenes vollgekritzeltes Adreßbuch, das sie immer wieder zusammenkleben mußte. Irgend etwas hielt sie davon ab, ein neues zu kaufen. Es war wie ein Erinnerungsalbum. All diese durchgestrichenen Telefonnummern, die nirgendwo mehr hinführten, Telefonnummern, die in Frieden auf einem höchst privaten Friedhof ruhten. Für ein paar Minuten vergaß sie alles, was mit Anna zu tun hatte, und kehrte statt dessen zu dem Augenblick im Wald zurück, zu ihrem Vater und seinen Bäumen. Sie empfand eine Zärtlichkeit für ihn, als ahnte sie, wie er als Kind gewesen war. Ein kleiner Junge mit großen Gedanken, allzu großen vielleicht zuweilen. Ich weiß viel zu wenig über ihn. Was ich zu wissen glaube, erweist sich außerdem häufig als falsch. Das sagt er immer, aber ich sage es auch. Ich habe ihn mir immer als einen freundlichen Mann vorgestellt, nicht besonders scharfsinnig, aber beharrlich und mit großen intuitiven Fähigkeiten. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ich glaube, daß er ein guter Polizist ist. Aber ich vermute, er ist ein zutiefst sentimentaler Mensch, der wahrscheinlich heimlich von der Liebe und von kleinen romantischen Begegnungen träumt und im Grunde die zumeist unbegreifliche und brutale Wirklichkeit um sich herum haßt.
Sie zog einen Stuhl ans Fenster und begann in einem Buch zu blättern, in dem Anna gelesen hatte. Es war auf Englisch und handelte von Alexander Fleming und dem Penicillin. Sie überflog eine Seite und merkte, daß sie Schwierigkeiten hatte, den Text zu verstehen. Es erstaunte Linda, daß Anna mit dem Buch zurechtkam. Vor langer Zeit hatten sie darüber gesprochen, nach England zu fahren und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Vielleicht hatte Anna diesen Traum verwirklicht? Linda legte das Buch über Fleming zur Seite und blätterte langsam das umfangreiche Adreßbuch durch. Die Seiten waren wie vollgeschriebene Tafeln in einer Mathematikstunde. Überall Streichungen und Verweise. Linda lächelte wehmütig, als sie ihre eigene alte Telefonnummer fand, außerdem die von zwei Freunden, die sie schon lange vergessen hatte. Wonach suche ich? dachte sie. Ich suche nach einer Spur, die Anna hinterlassen hat. Aber warum sollte sie die in ihrem Adreßbuch haben?
Sie blätterte weiter, dann und wann von dem Gefühl gestört, unberechtigterweise in Annas geheimsten und privatesten Bereich eingedrungen zu sein. Ich bin über ihren Zaun geklettert, dachte sie. Ich tue es in guter Absicht. Aber ich fühle mich trotzdem nicht ganz wohl dabei. Verschiedene lose Zettel lagen in dem abgegriffenen Adreßbuch. Ein Zeitungsausschnitt über eine Reise zu einem Medizinmuseum in Reims, ein paar Zugfahrscheine von Ystad nach Lund und zurück.
Linda zuckte zusammen. Auf einer Seite stand in grellem Rot das Wort »Papa«, dahinter eine neunzehnstellige Telefonnummer aus lauter Einsen und Dreien. Eine Nummer, die es nicht gibt, dachte Linda. Die Nummer einer geheimen Stadt mit einer nicht weniger geheimen Vorwahl, in der all die verschwundenen Menschen versammelt waren.
Am liebsten hätte sie das Buch zugeschlagen. Sie hatte in Annas Leben nichts zu suchen. Aber sie machte weiter. Viele der Telefonnummern erstaunten sie. Anna hatte die Nummern des Ministerratsausschusses und der Sekretärin des Ministerpräsidenten aufgeschrieben. Was wollte Anna von ihm? Es gab auch eine Nummer eines Mannes in Madrid mit Namen Raoul. Neben die Nummer hatte Anna ein Herz gemalt, es aber später hitzig wieder durchgestrichen. Wir hätten Theorie und Praxis der Deutung von Adreßbüchern studieren sollen, dachte Linda.
Aber nur eine Nummer interessierte Linda noch, nachdem sie das Buch durchgegangen war. »Zu Hause in Lund«, hatte Anna geschrieben. Linda zögerte eine Weile. Dann wählte sie die Nummer. Eine männliche Stimme meldete sich sofort:
»Peter.«
»Kann ich Anna sprechen?«
»Ich seh mal nach, ob sie da ist.«
Linda wartete. Im Hintergrund war Musik zu hören. Sie kannte das Stück, aber der Name des Sängers fiel ihr nicht ein.
Der Mann namens Peter kam zurück. »Sie ist nicht da.«
»Weißt du, wann sie zurückkommt?«
»Ich weiß nicht mal, ob sie hier ist. Ich habe sie eine Zeitlang nicht gesehen. Ich frag mal nach.«
Er verschwand, kam aber rasch zurück. »Niemand hier hat sie in den letzten Tagen gesehen.«
Bevor Linda ihn nach der Anschrift fragen konnte, hatte er aufgelegt. Sie blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Keine Anna, dachte sie. Keine Sorge, nur eine sachliche Feststellung, daß sie nicht da ist. Linda fing an, sich dumm vorzukommen. Sie zog einen Vergleich zu ihrem eigenen Verhalten. Ich kann ebenfalls einfach aufbrechen. Mein ganzes Leben lang bin ich einfach aufgebrochen, ohne Bescheid zu sagen. Mehrmals war Vater drauf und dran, mich suchen zu lassen. Aber ich habe immer ein Gefühl dafür gehabt, wann es wirklich zu weit ging, und dann von mir hören lassen. Warum sollte Anna es nicht ebenso machen?
Linda rief Zebra an und fragte, ob sie etwas von Anna gehört habe. Zebra verneinte. Anna hatte nichts von sich hören lassen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.
Linda ging in die Küche und machte Tee. Während sie darauf wartete, daß das Wasser kochte, sah sie an der Wand ein paar Schlüssel. Sie wußte, zu welchen Schlössern sie paßten. Sie schaltete die Herdplatte aus und ging hinunter in den Keller. Annas mit einem Drahtgitter abgeteilter Verschlag lag am Ende des schmalen Ganges. Linda hatte Anna eines Abends geholfen, einen Tisch hinunterzutragen. Er stand noch da, wie sie durch das Gitter sah. Sie öffnete das Vorhängeschloß und machte Licht. Sofort fühlte sie sich wieder dumm. Ich lasse Anna verschwinden, um etwas zu tun zu haben, dachte sie. In dem Moment, in dem ich diese Uniform anziehen werde und anfangen kann zu arbeiten, wird Anna wieder auftauchen. Es ist ein Spiel. Natürlich ist nichts passiert. Sie hob ein paar Flickenteppiche an, die auf dem Tisch lagen. Darunter waren einige verstaubte Zeitschriften. Sie legte die Teppiche wieder zurück, schloß ab und ging zurück in die Wohnung.
Diesmal ließ sie das Teewasser richtig kochen. Sie nahm die Tasse mit in Annas Schlafzimmer und legte sich auf die Seite des Doppelbetts, die nicht Annas war. Sie hatte schon einmal dort gelegen. Anna und sie hatten bis in die Nacht geredet und Wein getrunken, und sie hatte nicht mehr nach Hause gehen können. Da hatte sie hier geschlafen, unruhig, weil Anna sich heftig im Schlaf gewälzt und ständig umgedreht hatte. Linda stellte die Tasse ab und streckte sich aus. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Als sie erwachte, wußte sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte eine Stunde geschlafen. Der Tee war kalt geworden. Sie trank ihn dennoch, da sie durstig war. Dann stand sie auf und glättete den Bettüberwurf. Plötzlich fühlte sie wieder, daß etwas nicht in Ordnung war.
Es dauerte eine Weile, bis ihr der Grund klar wurde. Der Bettüberwurf. Auf Annas Seite. Jemand hatte da gelegen, die Vertiefung war noch zu sehen. Und hatte ihn nachher nicht geglättet. Das paßte ganz und gar nicht zu Anna, die, was Ordnung anging, strenge Disziplin hielt. Ein Tisch mit Brotkrümeln oder ein nicht geglätteter Bettüberwurf waren bei ihr eine Unmöglichkeit, eine Niederlage in ihrem Leben.
Einer Eingebung folgend, hob Linda den Bettüberwurf an. Darunter lag ein T-Shirt. Es war eine XXL-Größe, dunkelblau mit einem Werbetext für die englische Fluggesellschaft Virgin. Sie roch daran. Es war nicht Annas Duft. Es roch nach einem starken Waschmittel oder After Shave. Sie breitete das T-Shirt auf dem Bett aus. Anna schlief im Nachthemd. Sie war außerdem eigen und kaufte nur gute Qualität. Linda konnte sich nicht vorstellen, daß Anna auch nur eine einzige Nacht in einem billigen T-Shirt mit einem Werbeaufdruck für eine englische Fluggesellschaft schlafen würde.
Sie saß auf der Bettkante und betrachtete das Hemd. Auf der Polizeihochschule haben wir nicht gelernt, wie man sich zu fremden T-Shirts in den Betten verschwundener Freundinnen verhält, dachte sie. Sie fing an, darüber nachzugrübeln, was ihr Vater wohl täte. Es war vorgekommen, daß er ihr auf ihre immer anspruchsvolleren Fragen ausführlich geantwortet hatte, wenn sie in ihrer Zeit an der Polizeihochschule einmal für ein langes Wochenende bei ihm gewesen war. Er hatte von verschiedenen Ermittlungen erzählt, und sie wußte mittlerweile, daß er einen Ausgangspunkt hatte, zu dem er immer wieder zurückkehrte, den er wie ein Mantra wiederholte, wenn er eine Tatortuntersuchung vornahm. Es gibt immer etwas, was man nicht sieht, hatte er gesagt. Es gilt, das Detail zu lokalisieren, das man nicht sofort entdeckt hat. Sie sah sich im Schlafzimmer um. Was ist hier, ohne daß ich es sehe? Was mir Kummer macht, ist nicht das Unsichtbare, sondern das Sichtbare. Ein Bettüberwurf, der nicht ordentlich glattgezogen ist, ein T-Shirt an einer Stelle, wo eigentlich ein Nachthemd liegen sollte.
Draußen im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Sie fuhr zusammen, stand auf und stellte sich neben den Anrufbeantworter. Sollte sie abnehmen? Sie streckte die Hand aus, zog sie aber wieder zurück. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Es war Henrietta. Ich bin es nur. Deine Freundin Linda, die komischerweise Polizistin werden will, war gestern hier und wollte wissen, wo du dich aufhältst. Das war alles. Melde dich, wenn du Zeit hast. Hej.
Linda spielte die Nachricht noch einmal ab. Henriettas Stimme, vollkommen ruhig, keine Botschaft zwischen den Worten, keine Besorgnis, nur das Normale. Die Kritik, vielleicht Verachtung, weil ihre Tochter eine Freundin hatte, die dumm genug war, sich in eine Uniform zu kleiden. Linda spürte, daß es sie ärgerte. Vielleicht war Anna genauso? Vielleicht betrachtete sie Lindas Berufswahl mit Widerwillen oder gar Verachtung? Sie kann mir egal sein, dachte Linda. Soll sie doch verschwunden sein, soviel sie will. Sie füllte die Gießkanne in der Küche und gab den Topfpflanzen Wasser. Dann verließ sie die Wohnung und ging nach Hause.
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Als ihr Vater gegen sieben Uhr heimkam, hatte sie Essen gemacht und selbst schon gegessen. Sie wärmte ihm sein Essen auf, während er sich umzog. Als er aß, setzte sie sich zu ihm in die Küche.
»Was war denn?«
»Mit der vermißten Tante?«
»Was denn sonst?«
»Das hat der Farbenladen in die Hand genommen.«
Linda sah ihn fragend an. »Der Farbenladen?«
»Wir haben einen Kollegen namens Svartman in der Kriminalabteilung und einen, der Grönkvist heißt. Sie sind ziemlich neu hier und arbeiten oft zusammen. Schwarz und Grün, das wird in unserem internen Jargon der Farbenladen. Und daß Svartman außerdem noch mit einer Frau verheiratet ist, die Rosa heißt, macht das Bild vollkommen. Sie sollen versuchen herauszufinden, wohin Birgitta Medberg verschwunden sein kann. Nyberg wollte sich ihre Wohnung ansehen. Wir sind zu der Ansicht gelangt, daß die Angelegenheit ernst zu nehmen ist. Dann werden wir ja sehen.«
»Was glaubst du?«
Er schob den Teller von sich. »Etwas an der Sache ist beunruhigend. Aber ich kann mich ja irren.«
»Was genau beunruhigt dich?«
»Gewisse Menschen verschwinden ganz einfach nicht. Tun sie es trotzdem, ist etwas passiert. Ich nehme an, daß da meine Erfahrung spricht.«
Er erhob sich vom Tisch und setzte Kaffeewasser auf. »Vor bald zwanzig Jahren verschwand eine Immobilienmaklerin. Daran müßtest du dich erinnern. Aber vielleicht weißt du nicht, daß sie fromm war, einer freikirchlichen Gemeinde angehörte, kleine Kinder hatte. Da war mir sofort klar, daß etwas passiert war, als der Ehemann zu mir kam und sie als vermißt meldete. Sie war ermordet worden.«
»Birgitta Medberg ist Witwe, sie hat keine kleinen Kinder und gehört kaum einer Kirche an. Kannst du dir diese fette Tochter als religiös vorstellen?«
»Ich kann mir jeden Menschen als religiös vorstellen. Dich auch. Aber darum geht es nicht. Ich rede vom Unerwarteten, dem, was man nicht richtig greifen kann.«
Linda erzählte von ihrem erneuten Besuch in Annas Wohnung. Sie erzählte ausführlich, und ihr Vater betrachtete sie mit einem Gesichtsausdruck, der wachsende Mißbilligung erkennen ließ.
»Du solltest dich nicht damit abgeben«, sagte er, nachdem sie geendet hatte. »Wenn etwas passiert ist, ist das Sache der Polizei und des Staatsanwalts.«
»Ich bin doch Polizistin.«
»Du bist Polizeianwärterin und sollst bei der Ordnungspolizei anfangen und dafür sorgen, daß es auf Straßen und Plätzen und in den schönen kleinen Dörfern Schonens einigermaßen ruhig ist.«
»Ich finde es aber sehr sonderbar, daß sie nicht da ist.«
Kurt Wallander stellte seinen Teller und die Tasse in die Spüle. »Wenn du tatsächlich meinst, daß etwas passiert ist, schlage ich vor, daß du es der Polizei meldest.«
Er verließ die Küche. Der Fernseher ging an. Linda blieb sitzen. Seine Ironie ärgerte sie. Besonders, weil er natürlich recht hatte.
Sie blieb in der Küche sitzen und muffelte, bis sie sich wieder in der Lage fühlte, ihrem Vater gegenüberzutreten. Er saß im Wohnzimmer und war in seinem Sessel eingeschlafen. Als er anfing zu schnarchen, stieß Linda ihn in die Seite. Er zuckte zusammen und hob die Hände, als sei er überfallen worden. Genau wie ich es getan hätte, dachte sie. Das ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns. Er verschwand im Badezimmer und ging danach ins Bett. Linda sah noch einen Film an, ohne sich wirklich konzentrieren zu können. Kurz vor Mitternacht ging sie schlafen. Sie träumte von Herman Mboya, der nach Kenia zurückgegangen war und in Nairobi eine eigene Praxis aufgemacht hatte.
Sie wurde von ihrem Handy geweckt. Es lag neben der Nachttischlampe und vibrierte. Sie meldete sich und schaute gleichzeitig auf die Uhr. Es war nach drei. Niemand sagte etwas. Sie hörte nur Atemzüge. Dann wurde aufgelegt. Linda war sicher. Wer auch angerufen hatte, es hatte mit Anna zu tun. Sie hatte eine wortlose Mitteilung erhalten, nur ein paar Atemzüge. Aber die Mitteilung war wichtig.
Linda schlief nicht wieder ein. Um Viertel nach sechs stand ihr Vater auf. Sie ließ ihn in Ruhe duschen und sich ankleiden. Als er sich in der Küche zu schaffen machte, ging sie zu ihm. Er war erstaunt, sie schon fix und fertig angezogen zu sehen.
»Ich fahre mit dir ins Präsidium.«
»Warum?«
»Ich habe nachgedacht über das, was du gestern gesagt hast. Daß ich die Polizei einschalten sollte, wenn ich mir Sorgen mache. Und das will ich tun. Ich gehe mit dir, um eine Vermißtenmeldung zu machen. Anna Westin ist verschwunden, und ich glaube, daß ihr etwas Ernstes zugestoßen ist.«
14
Linda wußte nie im voraus, wann ihr Vater einen seiner plötzlichen und schweren Wutanfälle bekam. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie und ihre Mutter erlebt hatten, als sie aufwuchs. Ihr Großvater hatte einfach nur mit den Schultern gezuckt oder zurückgebrüllt. Unruhig suchte sie nach Anzeichen, daß ein Wutanfall sich anbahnte. Auf seiner Stirn, zwischen den Augenbrauen, flammte ein roter Fleck auf, aber meistens erst dann, wenn der Ausbruch schon im Gange war.
Auch an diesem Morgen, an dem Linda beschloß, Annas Verschwinden von einer privaten zu einer polizeilichen Angelegenheit zu machen, hatte sie die Reaktion, die eintrat, nicht erwartet. Ihr Vater warf einen Stapel Papierservietten auf den Fußboden. Es wirkte ein wenig komisch, weil statt des krachenden Getöses, das er beabsichtigt hatte, nur eine größere Menge Papierservietten durch die Küche flatterte. Aber Linda spürte wieder den Schrecken aus ihrer Kindheit. In einem vorüberrasenden Augenblick erinnerte sie sich an alle die Male, da sie, von kaltem Schweiß bedeckt, aus Alpträumen aufgeschreckt war, in denen ihr Vater, der gerade noch freundlich gelächelt hatte, einen plötzlichen Wutanfall bekam. Sie erinnerte sich auch an etwas, was ihre Mutter Mona gesagt hatte, als die Eltern bereits geschieden waren. Er selbst versteht es nicht, welche Form von Terror es bedeutet, immer mit grundlosen Wutanfällen konfrontiert zu sein, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich glaube, er bekam diese Wutausbrüche nur zu Hause. Andere erleben ihn sicher als einen breitschultrigen, freundlichen Mann, als einen tüchtigen, wenn auch ein wenig eigensinnigen Kriminalbeamten. Wenn er auf der Arbeit brüllt, ist es berechtigt. Aber zu Hause ist er ein Wilder, ein Terrorist, den ich gefürchtet, aber auch gehaßt habe.
Linda mußte an Monas Worte denken, als sie ihren noch immer erregten, großgewachsenen Vater betrachtete, der mit Servietten um sich warf.
»Warum hörst du nicht auf das, was ich dir sage? Wie kannst du jemals eine gute Polizistin werden, wenn du jedesmal, wenn eine deiner Freundinnen nicht ans Telefon geht, glaubst, es sei ein Verbrechen geschehen?«
»So ist es nicht.«
Er warf die restlichen Servietten auf den Fußboden. Wie ein Kind, dachte Linda, das seinen Teller vom Tisch fegt, weil es nicht essen will.
»Unterbrich mich nicht. Habt ihr denn auf der Polizeihochschule nichts gelernt?«
»Ich habe gelernt, gewisse Dinge ernst zu nehmen. Was die anderen gelernt haben, weiß ich nicht.«
»Du machst dich lächerlich.«
»Dann tue ich das eben. Aber Anna ist verschwunden.«
Des Vaters Wut war ebenso schnell verraucht, wie sie gekommen war. Auf seiner Backe waren ein paar Schweißtropfen zu sehen. Ein kurzer Wutausbruch, dachte Linda. Ungewöhnlich kurz, und auch nicht so heftig wie früher. Entweder wagt er es nicht mehr richtig bei mir, oder er wird langsam alt. Und jetzt entschuldigt er sich gleich.
»Entschuldige bitte.«
Linda antwortete nicht, sondern sammelte die Servietten vom Fußboden auf. Sie warf sie in den Abfalleimer und merkte erst da, daß sie Herzklopfen hatte. Vor seiner Wut wird mir immer angst und bange sein, dachte sie.
Ihr Vater hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sah unglücklich aus. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Linda starrte ihn an, wartete aber mit dem, was sie sagen wollte, bis ihre Blicke sich trafen. »Ich kenne keinen, der so dringend jemanden zum Vögeln braucht wie du.«
Er zuckte zusammen, als habe sie ihn geschlagen. Gleichzeitig wurde er rot.
Linda streichelte ihm die Wange, so freundlich sie es vermochte.
»Du weißt, daß ich recht habe. Damit es dir nicht allzu peinlich sein muß, gehe ich zu Fuß zum Präsidium. Du kannst allein fahren.«
»Ich hatte heute selbst vor, zu Fuß zu gehen.«
»Tu das morgen. Ich mag es nicht, wenn du so schreist. Ich will in Frieden gelassen werden.«
Ihr Vater verließ mit hängendem Kopf die Wohnung. Linda wechselte die Bluse, weil sie geschwitzt hatte, und überlegte, ob sie trotz allem davon absehen sollte, Anna als vermißt zu melden. Sie ging aus dem Haus, ohne sich entschieden zu haben.
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Die Sonne schien, der Wind war böig. Linda blieb unten auf der Mariagata stehen, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Sie pflegte sich stets ihrer Entschlußfreudigkeit zu rühmen. Aber in der Nähe ihres Vaters konnte die Entschlossenheit sie verlassen. Grimmig dachte sie, daß sie dringend die Wohnung bekommen mußte, auf die sie wartete, in einem der Häuser gleich hinter der Mariakirche. Sie konnte nicht endlos bei ihrem Vater wohnen.
Sie zweifelte jetzt nicht mehr, sondern ging zum Polizeipräsidium. Wenn Anna etwas zugestoßen war, würde sie es sich nie verzeihen, ihren Verdacht beiseite geschoben und keine polizeiliche Meldung erstattet zu haben. Dann wäre ihre Karriere bei der Polizei zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte.
Ihr Weg führte sie am Folkpark vorbei. Als sie klein war, hatte sie ihn einmal zusammen mit ihrem Vater besucht. Es war ein Sonntag, vielleicht im Frühsommer, und sie hatten einem Zauberer zugeschaut, der Goldmünzen aus den Ohren der versammelten Kinder zog. Aber das Bild wurde getrübt durch etwas, was vorher geschehen war. In dem Punkt war ihre Erinnerung vollkommen klar. Sie war in ihrem Zimmer davon aufgewacht, daß ihre Eltern sich stritten. Die Stimmen waren laut und wieder leiser geworden, sie hörte, daß die beiden um Geld stritten, das fehlte, das verschwendet worden war. Plötzlich hatte Mona aufgeschrien und angefangen zu weinen. Als Linda aus dem Bett tappte und vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer aufschob, sah sie, daß ihre Mutter aus der Nase blutete. Ihr Vater stand mit glühendrotem Kopf am Fenster. Sie hatte sogleich begriffen, daß er ihre Mutter geschlagen hatte. Nur wegen dieses Geldes, das nicht mehr da war.
Sie hielt auf dem Bürgersteig inne und blinzelte in die Sonne. Die Erinnerung verursachte ihr einen Kloß im Hals. Sie hatte dort am Türspalt gestanden und ihre Eltern angesehen und gedacht, nur sie könnte das Problem lösen. Sie wollte nicht, daß Mona Nasenbluten hatte. Sie ging zurück in ihr Zimmer und holte ihre Spardose. Dann ging sie ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Tisch. Es war vollkommen still gewesen. Eine einsame Wüstenwanderung mit einer kleinen Spardose in der Hand.
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Sie blinzelte wieder in die Sonne, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. Sie rieb sich die Augen und drehte sich um, als wollte sie die Erinnerung auf Abwege führen. Sie bog in die Industriegata ein und beschloß, doch noch einen Tag zu warten, bevor sie Anna als vermißt meldete, und statt dessen wieder in ihre Wohnung zu gehen. Noch einmal, dachte sie.
Wenn seit gestern abend jemand dagewesen ist, werde ich es merken. Sie klingelte an der Wohnungstür. Nichts. Nachdem sie geöffnet hatte, stand sie wiederum unter Hochspannung im Flur. Ihre Augen wanderten, alle ihre inneren Antennen waren ausgefahren. Aber es gab keine Spur. Nichts.
Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Die Post, dachte sie. Auch wenn Anna nie Briefe oder Karten schrieb, müßte etwas durch ihren Briefschlitz geworfen worden sein. Reklame, Gemeindemitteilungen, irgend etwas. Aber hier ist nichts.
Sie ging durch die Wohnung. Das Bett war so, wie sie es am Tag zuvor verlassen hatte. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und ging in Gedanken noch einmal alles durch. Anna war jetzt seit drei Tagen weg. Wenn man es so nennen konnte.
Ärgerlich schüttelte Linda den Kopf und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie nahm das angefangene Tagebuch vom Schreibtisch, betete stumm um Sündenvergebung und blätterte dreißig Tage zurück. Nichts. Das Bemerkenswerteste war, daß Anna am 7. und 8. August Zahnschmerzen hatte und bei Zahnarzt Sivertsson war. Linda dachte über die Tage nach und runzelte die Stirn. Am 8. August hatten sie, Zebra und Anna, einen langen Spaziergang bei Käseberga gemacht. Sie waren in Annas Wagen gefahren, Zebras Junge war ausnahmsweise richtig pflegeleicht, und sie hatten sich dabei abgewechselt, ihn zu tragen, wenn er nicht mehr laufen konnte.
Aber Zahnschmerzen?
Von neuem hatte Linda das Gefühl, daß es in Annas Tagebuch Dinge gab, die seltsam waren, als handelte es sich um eine chiffrierte Sprache. Aber warum? Was kann eine Notiz über Zahnschmerzen anderes bedeuten als eben Zahnschmerzen?
Sie las weiter und versuchte, Unterschiede in der Schrift festzustellen. Anna wechselte ständig den Stift, häufig mitten in einer Zeile. Linda vermutete, daß sie unterbrochen worden war, vielleicht von einem Anruf, und dann den Stift nicht wiederfand, den sie auf dem Weg zum Telefon irgendwo vergessen hatte. Linda legte das Tagebuch ab, ging in die Küche und trank Wasser.
Sie stellte das Glas zurück und ging wieder zum Tagebuch. Als sie umblätterte, stockte ihr der Atem. Zuerst dachte sie, es sei Einbildung, daß ihre Erinnerung ihr einen Streich spielte. Doch dann erkannte sie, daß sie sich nicht irrte. Am 13. August schrieb Anna: Brief von Birgitta Medberg.
Linda las den Text noch einmal, diesmal am Fenster stehend, wo die Sonne auf die Tagebuchseite fiel. Birgitta Medberg war kein gewöhnlicher Name. Linda legte das Tagebuch auf die Fensterbank und schlug das Telefonbuch auf. Sie brauchte nur zwei Minuten, um festzustellen, daß es in dem Teil von Schonen, den das Telefonbuch abdeckte, nur eine Birgitta Medberg gab. Sie rief die Auskunft an und fragte, wie viele Birgitta Medbergs es im ganzen Land gab. Es waren nur wenige. Und nur eine Kulturgeographin in Schonen.
Linda las weiter, jetzt aufgeregt und ungeduldig, bis zu der letzten, unbegreiflichen Aufzeichnung: Meineide, Vatikan. Aber nichts mehr über Birgitta Medberg.
Ein Brief, dachte sie. Anna verschwindet. Ein paar Wochen zuvor hat sie diesen Brief von Birgitta Medberg bekommen, die auch verschwunden ist. Und inmitten des Ganzen befindet sich auch der Vater, den Anna nach vierundzwanzig Jahren auf einer Straße in Malmö wiederentdeckt zu haben glaubt.
Linda durchsuchte die Wohnung. Irgendwo mußte der Brief sein. Sie betete nicht mehr um Vergebung, als sie Annas sämtliche Schubladen durchwühlte. Aber der Brief war nicht zu finden. Sie brauchte drei Stunden, um die Wohnung zu durchsuchen. Sie fand andere Briefe, doch keinen von Birgitta Medberg.
Als Linda die Wohnung verließ, nahm sie Annas Wagenschlüssel mit. Sie fuhr hinunter ins Hafencafé, aß ein belegtes Brot und trank einen Tee. Ein Mann in ihrem Alter lächelte sie an, als sie das Café verließ. Er trug einen ölverschmierten Overall. Sie brauchte einige Zeit, um darauf zu kommen, daß es einer ihrer Klassenkameraden aus der Oberstufe war. Sie begrüßten sich. Linda suchte in ihrer Erinnerung vergeblich nach seinem Namen.
Er streckte ihr die Hand hin, nachdem er sie abgewischt hatte.
»Ich segle«, sagte er. »Ein altes Kosterboot, dessen Maschine manchmal streikt. Deshalb das ganze Öl.«
»Ich habe dich sofort wiedererkannt«, sagte sie. »Ich bin nach Ystad zurückgekommen.«
»Um was zu tun?«
Linda zögerte. Sie fragte sich, warum, erinnerte sich aber an die Geschichten, die ihr Vater erzählt hatte, von Situationen im Leben, in denen er es vorgezogen hatte, sich mit einem anderen Beruf zu präsentieren als dem des Polizisten. Alle Polizisten haben eine Geheimtür, hatte er gesagt. Man wählt sich eine andere Identität, in die man schlüpfen kann. Martinsson ist Immobilienmakler, und Svedberg, der nicht mehr lebt, sagte meistens, er sei Baggerführer und selbständiger Unternehmer. Ich bin mit meinem zweiten Ich Geschäftsführer einer nicht existierenden Bowlingbahn in Eslöv.
»Ich habe eine Polizeiausbildung gemacht«, antwortete Linda.
Im gleichen Moment fiel ihr sein Name wieder ein. Er hieß Torbjörn. Er sah sie an und lächelte. »Wolltest du nicht Möbelpolsterin werden?«
»Ja, schon. Aber ich habe es mir dann anders überlegt.«
Sie machte Anstalten zu gehen.
Er streckte ihr die Hand hin. »Ystad ist klein. Wir sehen uns bestimmt mal wieder.«
Linda beeilte sich, zum Wagen zurückzukommen, den sie auf der Rückseite des alten Theaters geparkt hatte. Was denken sie sich wohl? fragte sie sich. Warum kommt Linda als Bulle hierher zurück?
Sie fuhr nach Skurup, parkte auf dem Marktplatz und ging die Straße zu dem Haus hinauf, in dem Birgitta Medberg wohnte. Im Treppenhaus hing Essensgeruch. Sie klingelte an der Wohnungstür, niemand kam. Sie horchte und rief durch den Briefschlitz. Als sie sich vergewissert hatte, daß niemand zu Hause war, holte sie ihre Dietriche heraus. Ich beginne meine Polizeikarriere mit dem Aufbrechen von Türen, dachte sie und merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Dann glitt sie hinein. Ihr Herz pochte. Sie lauschte und ging leise durch die Wohnung. Sie durchsuchte sie und fürchtete die ganze Zeit, es könnte jemand kommen. Wonach sie suchte, wußte sie eigentlich nicht, nur etwas, was bestätigte, daß es einen Kontakt gegeben hatte, ein Verbindungsglied zwischen Anna und Birgitta Medberg.
Sie wollte bereits aufgeben, als sie unter der grünen Schreibunterlage auf dem Schreibtisch ein Papier fand. Es war kein Brief, sondern ein Stück einer Landkarte. Die Fotokopie eines altertümlichen Meßtischblatts, auf der Text und Gemarkungsgrenzen schlecht zu sehen waren.
Linda knipste die Schreibtischlampe an. Nur schwer konnte sie die Schrift erkennen: Ländereien um Rannesholm. Es war ein Schloß, aber wo lag es? Im Bücherregal hatte sie eine Karte von Schonen gesehen. Sie faltete sie auseinander. Rannesholm lag nur ungefähr zwanzig Kilometer nördlich von Skurup. Linda sah wieder auf die andere Karte. Obwohl es eine schlechte Kopie war, meinte sie, ein paar Pfeile und Notizen zu erkennen. Sie steckte die beiden Karten ein, machte das Licht aus und lauschte lange am Briefschlitz, bevor sie auf leisen Sohlen die Wohnung verließ.
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Es war vier Uhr am Nachmittag geworden, als sie auf das Freizeitgelände fuhr, das Rannesholm und zwei kleinere Seen umgab, die auf den dazugehörigen Ländereien lagen. Was mache ich hier eigentlich, fuhr es ihr durch den Kopf. Denke mir ein Abenteuer oder ein Märchen aus, damit die Zeit schneller vergeht? Sie schloß den Wagen ab und dachte, daß sie ihrer unsichtbaren Uniform überdrüssig war. Der Parkplatz war leer, bis auf Annas Wagen. Dann ging sie hinunter zum Wasser. Ein Schwanenpaar schwamm auf dem See, dessen Oberfläche vom Wind gekräuselt wurde. Von Westen zog Regen heran. Sie zog den Reißverschluß ihrer Jacke zu und schüttelte sich. Noch war Sommer, doch der Herbst näherte sich. Vom Ufer warf sie Steine ins Wasser. Es gab einen Zusammenhang zwischen Anna und Birgitta Medberg, dachte sie. Aber was sie gemeinsam haben, weiß ich nicht.
Sie warf einen neuen Stein ins Wasser. Noch etwas verbindet die beiden, spann sie den Gedanken weiter. Beide sind verschwunden. Das Verschwinden der einen nimmt die Polizei vielleicht ernst, das der anderen nicht.
Die Regenwolken waren schneller herangezogen, als sie erwartet hatte. Sie stellte sich unter eine Eiche am Rand des Parkplatzes. Die ersten Tropfen fielen. Die ganze Situation kam ihr auf einmal idiotisch vor. Sie wollte gerade durch den Regen zum Wagen laufen und davonfahren, als sie etwas zwischen den Büschen glitzern sah. Zuerst dachte sie, es sei eine Blechdose oder ein Plastikgegenstand. Sie bog einen der Büsche zur Seite und sah einen schwarzen Gummireifen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was sie vor sich hatte. Mit den Händen bog sie weitere Zweige zur Seite. Ihr Herz schlug schneller. Sie lief zum Auto und wählte eine Nummer auf ihrem Handy.
Ausnahmsweise hatte ihr Vater daran gedacht, seins mitzunehmen und es sogar einzuschalten.
»Wo bist du?« fragte er.
Sie konnte hören, daß er für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft klang. Der Ausbruch am Morgen hatte das Seine getan.
»Ich bin bei Schloß Rannesholm. Auf dem Parkplatz.«
»Was tust du da?«
»Ich finde, du solltest herkommen.«
»Ich habe keine Zeit. Wir haben gleich eine Sitzung, auf der wir ein paar neue wahnsinnige Anordnungen der Reichspolizeibehörde besprechen wollen.«
»Laß das sausen. Komm her. Ich habe was gefunden.«
»Was?«
»Birgitta Medbergs Vespa.«
Sie hörte die schweren Atemzüge ihres Vaters. »Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und wie ist das zugegangen?«
»Das erzähle ich dir, wenn du hergekommen bist.«
Es schnarrte in Lindas Handy. Das Gespräch wurde unterbrochen. Aber sie rief ihn nicht wieder an. Sie wußte, daß er kommen würde.
15
Der Regen nahm zu. Linda saß im Wagen und wartete. Im Autoradio sprach jemand über chinesische Teerosen. Linda dachte daran, wie oft sie schon auf ihren Vater gewartet hatte. Wie oft war er zu spät gekommen, wenn er sie am Flugplatz oder vom Zug in Malmö abholen sollte. Und wie oft war er überhaupt nicht gekommen und brachte Entschuldigungen vor, von denen eine schlechter war als die andere. Mehrmals hatte sie versucht, ihm zu erklären, daß es sie kränkte, wenn sie das Gefühl bekam, immer sei etwas anderes wichtiger als sie. Er sagte jedesmal, er verstehe, er wolle sich bessern, sie sollte nie wieder auf ihn warten müssen. Aber selten vergingen mehr als ein paar Monate, bis es wieder passierte.
Ein einziges Mal hatte sie sich gerächt. Sie war damals einundzwanzig, es war eine wilde und romantische Zeit gewesen, in der sie sich vorstellte, Talent zur Schauspielerin zu haben; ein hoffnungsloser Traum, der bald verblaßte und ihr abhanden kam. Aber damals hatte sie eiskalt einen Plan gefaßt, hatte mit ihrem Vater abgemacht, Weihnachten in Ystad zu feiern. Nur sie und er. Nicht mit dem Großvater, der damals erst seit kurzem mit Gertrud zusammenlebte. Sie hatte am Telefon lange mit dem Vater verhandelt, daß sie als Weihnachtsessen Truthahn machen wollten und wer ihn zubereiten sollte, weil sie sich damals in Stockholm befand und er ein hoffnungsloser oder eher uninteressierter Koch war.
Sie wollten die drei Weihnachtstage zusammen verbringen, mit Weihnachtsbaum und Geschenken und langen Spaziergängen in einer Landschaft, die hoffentlich tief verschneit wäre. Am Morgen des 24. Dezember sollte er sie am Flugplatz in Sturup abholen. Aber am Tag davor flog sie mit ihrem damaligen Freund Timmy, der einen argentinischen Vater und eine finnische Mutter hatte, auf die Kanarischen Inseln. Erst am Morgen des ersten Weihnachtstags hatte sie aus einer Telefonzelle am Strand in Las Palmas angerufen und ihn gefragt, ob er jetzt begriffe, wie sie sich häufig fühlte. Er war außer sich gewesen, hauptsächlich vor Sorge, aber auch, weil er nicht verstehen oder akzeptieren konnte, was sie getan hatte. Plötzlich hatte sie da am Telefon selbst angefangen zu weinen. Ihr ganzer Plan, die Rache, fiel jetzt mit voller Wucht auf sie zurück. Was wurde besser dadurch, daß sie ihren Vater imitierte? Nichts. Es kam zur Versöhnung. Sie war zerknirscht und bat ihn um Verzeihung, und er beteuerte, sie nie wieder warten zu lassen. Dann war er mit untrüglicher Präzision zwei Stunden zu spät nach Kastrup gekommen, um sie und Timmy bei ihrer Rückkehr aus Las Palmas abzuholen.
Vor dem Wagenfenster blinkte es. Linda schaltete die Scheibenwischer an, um besser sehen zu können. Es war ihr Vater. Er parkte vor ihr, lief durch den Regen und setzte sich zu ihr in den Wagen. Er war ungeduldig und in Eile. »Nun erklär mal.«
Linda sagte es genau, wie es war. Sie merkte, daß seine Ungeduld sie nervös machte.
»Hast du das Tagebuch bei dir?« unterbrach er sie.
»Warum sollte ich es mitnehmen? Es stand genau das da, was ich gesagt habe.«
Er fragte nicht mehr. Sie erzählte weiter. Als sie fertig war, starrte er nachdenklich in den Regen hinaus. »Das klingt sonderbar«, sagte er.
»Du sagst oft, man sollte immer darauf warten, daß das Unerwartete geschieht.«
Er nickte. Dann sah er sie an. »Hast du Regenzeug?«
»Nein.«
»Ich habe einen zweiten Regenmantel im Wagen.«
Er stieß die Wagentür auf und lief zu seinem eigenen Wagen zurück. Linda wunderte sich immer wieder darüber, daß ihr großer und massiger Vater so geschmeidig und schnell sein konnte. Sie folgte ihm hinaus in den Regen. Er stand am Kofferraum und zog sich Regenzeug an. Er gab ihr einen Regenmantel, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Dann suchte er eine Schirmmütze mit der Reklameaufschrift einer Kfz-Werkstatt hervor und drückte sie ihr auf den Kopf.
Er starrte zum Himmel. Das Wasser lief ihm übers Gesicht. »Das muß die Sintflut sein«, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, daß es in meiner Kindheit so viel geregnet hätte.«
»Als ich klein war, hat es unheimlich wenig geregnet«, antwortete Linda.
Er trieb sie an. Sie ging vor ihm zu der Eiche und bog die Büsche auseinander. Er hatte sein Mobiltelefon in der Tasche seiner Regenjacke. Sie hörte, wie er im Präsidium anrief und zu murren begann, als Svartman nicht schnell genug an den Apparat kam. Sie verglichen die Kennzeichen. Er sagte die Nummer laut, Linda schaute auf die Vespa. Die Nummer stimmte. Er steckte das Handy wieder ein.
Im selben Augenblick ließ der Regen nach. Es kam so plötzlich, daß sie im ersten Augenblick nicht begriffen, was geschah. Es war wie bei einem Filmregen, bei dem nach einer Aufnahme der Wasserhahn zugedreht wurde.
»Die Sintflut macht Pause«, sagte er. »Du hast tatsächlich Birgitta Medbergs Vespa gefunden.«
Er sah sich um.
»Birgitta Medbergs Vespa«, wiederholte er. »Aber keine Birgitta Medberg.«
Linda zögerte. Dann zog sie die Fotokopie der Karte hervor, die sie zu Hause bei Birgitta Medberg gefunden hatte. Im selben Moment wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte.
Aber er hatte schon gesehen, daß sie etwas in der Hand hielt.
»Was ist das?«
»Ein Stück von einer Karte dieser Gegend.«
»Wo hast du das gefunden?«
»Es lag hier auf dem Boden.«
Er nahm das trockene Papier und sah sie fragend an. Die Frage, die er jetzt stellt, kann ich nicht beantworten, dachte sie.
Aber es kam keine Frage, warum das Papier trocken war, wo der Boden doch patschnaß war. Er studierte die Karte, blickte zum See, zur Straße, zum Parkplatz und auf die Pfade, die in den Wald führten. »Hierhin ist sie also gefahren«, sagte er. »Aber das Gelände ist groß.«
Er betrachtete den Boden bei der Eiche und dem Gebüsch, in dem die Vespa versteckt war. Linda beobachtete ihn, versuchte, seinen Gedanken zu folgen.
Plötzlich sah er sie an. »Welche Frage muß man als erstes beantworten?«
»Ob sie die Vespa versteckt oder sie nur dahin gestellt hat, damit sie nicht gestohlen würde.«
Er nickte. »Es gibt natürlich noch eine Alternative.«
Linda verstand. Sie hätte sofort daran denken müssen. »Daß jemand anders sie versteckt hat.«
Er nickte wieder.
___________
Ein Hund kam auf einem der Waldpfade gelaufen. Er war weiß mit schwarzen Punkten. Linda kam nicht auf den Namen der Rasse. Kurz darauf kam noch ein solcher Hund, dahinter noch einer, dicht gefolgt von einer Frau in Regenzeug, die sich mit hastigen Schritten näherte, ihre Hunde zu sich rief und sie anleinte, als sie Linda und ihren Vater erblickte. Sie war in den Vierzigern, groß, blond, schön. Linda sah, wie ihr Vater seine übliche, instinktive Verwandlung durchmachte, wenn ihm eine schöne Frau über den Weg lief. Er streckte den Rücken, hob den Kopf, um den Hals weniger faltig erscheinen zu lassen, und zog den Bauch ein.
»Darf ich Sie etwas fragen«, sagte er. »Ich heiße Wallander und bin von der Polizei in Ystad.«
Die Frau musterte ihn mißtrauisch. »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«
Er suchte nach seiner Brieftasche und hielt ihr seinen Ausweis hin, den sie sorgfältig studierte.
»Ist etwas passiert?«
»Nein. Gehen Sie öfter hier mit Ihren Hunden?«
»Zweimal am Tag.«
»Das heißt, Sie kennen die Wege hier?«
»Ziemlich gut. Wieso?«
Er überhörte ihre Frage. »Treffen Sie häufig Menschen hier?«
»Nicht mehr, wenn es Herbst wird. Im Sommer und im Frühjahr schon. Aber jetzt sind es bald nur noch ein paar Hundebesitzer, die mit ihren Tieren in diese Gegend kommen. Das ist schön. Man kann die Hunde von der Leine lassen.«
»Aber sie müssen doch angeleint sein. Das steht doch da auf dem Schild.«
Er zeigte in Richtung des Schilds. Sie sah ihn fragend an.
»Sind Sie deswegen hier? Um einsame Frauen mit nichtangeleinten Hunden einzufangen?«
»Nein. Ich wollte Ihnen etwas zeigen.«
Die Hunde zerrten an ihren Leinen. Wallander bog das Buschwerk zur Seite, das die Vespa verbarg. »Haben Sie die schon einmal gesehen? Sie gehört einer Frau um die Sechzig namens Birgitta Medberg.«
Die Hunde wollten vor und schnüffeln. Doch die Frau war stark und hielt sie zurück. Ihre Antwort kam ohne jedes Zögern.
»Ja. Ich habe die Frau und auch die Vespa gesehen. Mehrfach.«
»Und wann zuletzt?«
Sie dachte nach. »Gestern.«
Er warf Linda, die neben ihm stand und zuhörte, einen Blick zu. »Sind Sie sicher?«
»Nein. Ich glaube, daß es gestern war.«
»Wie kommt es, daß Sie sich nicht sicher sind?«
»Ich habe sie in der letzten Zeit oft gesehen.«
»Und seit wann?«
Wieder überlegte sie, bis sie antwortete. »Seit Juli. Vielleicht auch die letzte Woche im Juni schon. Da sah ich sie zum erstenmal. Sie ging auf einem Pfad auf der anderen Seite des Sees. Wir sind sogar stehengeblieben und haben uns unterhalten. Sie erzählte, daß sie alte überwachsene Pfade auf dem Land von Rannesholm aufnehme. Sie hatte viel Interessantes zu erzählen. Weder ich noch mein Mann wußten, daß ein alter Pilgerpfad durch unser Land verläuft. Wir wohnen im Schloß«, fügte sie hinzu. »Mein Mann ist Börsenmakler. Ich bin Anita Tademan.«
Sie blickte auf die Vespa zwischen den Büschen. Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. »Was ist denn passiert?«
»Wir wissen es nicht. Ich habe noch eine letzte Frage, die wichtig ist. Als Sie sie zuletzt gesehen haben, wo war das, auf welchem Pfad?«
Sie zeigte über die Schulter zurück. »Auf dem Weg, auf dem ich eben gekommen bin. Wenn es stark regnet, kann man dort am besten gehen. Sie hatte einen ganz überwucherten Pfad gefunden, der ungefähr fünfhundert Meter in den Wald hineinführt. Bei einer umgestürzten Buche. Da habe ich sie gesehen.«
»Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Anita Tademan? Richtig?«
»Richtig. Was ist denn passiert?«
»Möglicherweise ist Birgitta Medberg verschwunden. Aber sicher ist es nicht.«
»Wie unangenehm. Eine so freundliche Frau.«
»War sie immer allein?« fragte Linda.
Sie hatte sich nicht vorbereitet, die Frage rutschte ihr einfach so heraus, bevor sie sich bremsen konnte. Ihr Vater blickte sie erstaunt an, wurde aber nicht ärgerlich.
»Ich habe sie nie in Gesellschaft gesehen«, erwiderte sie. »Weder direkt noch indirekt.«
»Was meinen Sie damit?«
Diesmal hatte Lindas Vater nachgehakt.
»Die Zeiten sind nicht so, daß Frauen sich nach Belieben im Freien aufhalten können. Ich gehe nie ohne meine Hunde spazieren. In diesem Lande treiben sich so viele sonderbare Menschen herum. Letztes Jahr hatten wir einen Exhibitionisten hier. Soweit ich weiß, hat die Polizei ihn nie gefaßt. Aber ich wüßte natürlich gern Bescheid, was mit Birgitta Medberg ist.«
Sie ließ die Hunde frei und schlug einen Weg ein, der durch eine Allee zum Schloß führte. Linda und ihr Vater standen da und sahen den Hunden und der Frau nach.
»Sehr schön«, sagte er.
»Reich und versnobt«, sagte Linda. »Kaum eine für dich.«
»Sag das nicht«, entgegnete er. »Ich weiß, wie man sich benimmt. Sowohl Kristina als auch Mona haben mich erzogen.«
Er blickte auf die Uhr und anschließend zum Himmel. »Fünfhundert Meter«, sagte er. »Wir gehen hin und sehen nach, ob wir etwas finden.«
Er machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg. Sie folgte ihm und mußte in Laufschritt übergehen, um nicht zu weit zurückzubleiben. Zwischen den Bäumen roch es stark nach nasser Erde. Der Pfad schlängelte sich zwischen Felsblöcken und den Wurzeln umgestürzter Bäume dahin. Eine Waldtaube flatterte von einem Baum auf. Kurz danach noch eine.
___________
Linda war es, die den Pfad entdeckte. Ihr Vater ging so schnell, daß er nicht merkte, wie der Weg sich teilte und ein Arm in eine andere Richtung führte. Sie rief ihn. Er hielt an und kam zurück und sah ein, daß sie recht hatte.
»Ich habe mitgezählt«, sagte Linda. »Bis hierhin sind es ungefähr vierhundertfünfzig Meter.«
»Anita Tademan hat fünfhundert gesagt.«
»Wenn man nicht jeden Schritt zählt, sind fünfhundert Meter genauso richtig wie vierhundert oder sechshundert.«
Er klang gereizt, als er antwortete. »Ich weiß schon, wie man Entfernungen berechnet.«
Sie folgten dem neuen Pfad, der kaum zu erkennen war. Aber beide sahen die weichen Abdrücke von Stiefeln. Ein Fußpaar, dachte Linda. Ein einsamer Mensch.
Der Pfad führte sie tief in einen völlig verwilderten und anscheinend nie gepflegten Wald. Dann endete er abrupt an einer Schlucht oder einer tiefen Felsspalte, die sich durch den Wald zog. Der Vater ging in die Hocke und bohrte mit einem Finger im Moos. Linda kam ihr Vater plötzlich wie ein übergewichtiger schwedischer Indianer vor, dessen Pfadfinderinstinkte noch intakt waren. Es fehlte nicht viel, und sie hätte über ihn gekichert.
Sie stiegen vorsichtig in die Schlucht hinab. Linda blieb mit dem Fuß in ein paar Zweigen hängen und fiel hin. Als ein Zweig brach, hallte es wie ein Schuß durch den Wald. Vögel, die sie nicht sehen konnten, flogen auf und verschwanden.
»Alles in Ordnung?«
Linda klopfte sich den Schmutz ab.
»Schon gut.«
Er bog die Büsche zur Seite. Linda stand unmittelbar hinter ihm. Sie sah eine Hütte, fast wie im Märchen, ein Hexenhaus, das sich mit der Rückwand an einen Felsen lehnte. Es hatte eine Tür, ein kaputter Eimer lag halb von Erde bedeckt da. Beide horchten. Alles war still, nur vereinzelte Regentropfen fielen von den Blättern.
»Warte hier«, sagte er und ging zu der Tür.
Sie tat, was er sagte. Aber als er die Tür anfaßte, kam sie näher. Er öffnete und zuckte zusammen. Gleichzeitig glitt er aus und fiel nach hinten. Linda sprang zur Seite und landete so, daß sie durch die Tür sehen konnte. Zuerst wußte sie nicht, was es war, das sie vor sich sah.
Dann wurde ihr klar, daß sie Birgitta Medberg gefunden hatten.
Zumindest einen Teil von ihr.
Teil III
DIE LEERE
16
Was sie durch die Tür sah und was ihren Vater hatte zusammenzucken lassen, so daß er dabei ausglitt und hinfiel, hatte sie als Kind schon einmal gesehen. In ihrem Kopf flammte ein Bild auf. Es war in einem Buch gewesen, das Mona von ihrer Mutter geerbt hatte, der Großmutter, die Linda selbst nie gesehen hatte. Es war ein großes und schweres Buch mit biblischen Geschichten. Sie erinnerte sich an die Zeichnungen hinter den dünnen Seidenblättern. Eins dieser Bilder glich genau dem, das sie gerade in der Wirklichkeit vor sich hatte, mit einem Unterschied. In dem Buch hatte das Bild den bärtigen Kopf eines Mannes mit geschlossenen Augen gezeigt, auf einem funkelnden Tablett zur Schau gestellt, und mit einer Frau im Hintergrund, Salome mit ihren Schleiern. Das Bild hatte einen fast unerträglich starken Eindruck auf sie gemacht.
Vielleicht verblaßte das starke Kindheitserlebnis erst jetzt, da das Bild aus dem Buch oder ihrer Erinnerung heraustrat und in Gestalt einer Frau wiedererstand. Linda starrte Birgitta Medbergs abgeschlagenen Kopf an, der, auf der Seite auf dem Boden lag. Unmittelbar daneben waren ihre gefalteten Hände. Das war alles. Kein Körper. Linda hörte, wie ihr Vater hinter ihr aufstöhnte, und gleichzeitig spürte sie seine Faust, die sie zurückzog. »Du sollst das hier nicht sehen«, schrie er. »Geh jetzt nach Hause. Du sollst das nicht sehen.«
Er schlug heftig die Tür zu. Linda schlotterte vor Angst. Sie kletterte den Steilhang der Schlucht hinauf und riß sich ein Loch in die Hose. Ihr Vater war direkt hinter ihr. Sie liefen, bis sie zu dem großen, ausgetrampelten Pfad kamen.
»Was geht hier bloß vor?« keuchte er. »Was geht hier bloß vor?«
Er rief im Präsidium an und forderte die große Besetzung an. Sie hörte die chiffrierten Wörter, die er wählte, um zumindest einige der Journalisten und Schaulustigen fernzuhalten, die ständig den Polizeifunk abhörten. Dann kehrten sie zum Parkplatz zurück und warteten. Es dauerte vierzehn Minuten, bis sie in der Ferne die ersten Sirenen hörten. Während sie warteten, sprachen sie kein Wort miteinander. Linda war geschockt und wollte in der Nähe ihres Vaters bleiben. Aber er wandte sich ab, trat ein paar Schritte zur Seite. Linda verstand immer noch nicht ganz. Gleichzeitig kroch die andere Angst heran, die Angst um Anna. Es muß einen Zusammenhang geben, dachte sie verzweifelt. Jetzt ist die eine tot, zerstückelt. Schwindel befiel sie, sie ging in die Hocke und dachte den Gedanken nicht weiter. Ihr Vater sah sie und kam näher. Sie zwang sich, wieder aufzustehen, und schüttelte den Kopf. Es war nichts, nur eine plötzliche Schwäche, die schon vorüber war.
Jetzt wandte sie ihm den Rücken zu, versuchte zu denken. Denk klar, langsam, eindeutig, aber vor allem klar! So lautete die ständig wiederholte Ermahnung, die die Ausbildung an der Polizeihochschule geprägt hatte. In jeder Situation, sei es, daß es darum ging, betrunkene Raufbolde zu trennen, oder Menschen daran zu hindern, auf dramatische Weise Selbstmord zu begehen, mußte diese Forderung nach Klarheit gelten. Ein Polizist, der nicht denkt, ist ein schlechter Polizist. Das hatte sie sich aufgeschrieben und im Bad an den Spiegel geklebt und neben ihrem Bett angebracht. Das war es, was der Eintritt ins Polizeikorps ihr abverlangte, es war buchstäblich die Schrift an der Wand. Immer klar denken. Wie zum Teufel sollte sie jetzt klar denken können, wo sie am liebsten weinen würde? Es herrschte nicht die Spur von Klarheit in ihrem Kopf, da war nichts außer der entsetzlichen Entdeckung des abgeschlagenen Kopfs und der gefalteten Hände. Und was noch schlimmer war, das, was sich von hinten herandrängte wie ein dunkler Strom, der lautlos anschwoll und über seine Ufer trat. Was war mit Anna? Neue Bilder, die sie am liebsten davonjagen würde, blitzten auf. Annas Kopf, Annas Hände. Der Kopf Johannes des Täufers und Annas Hände, ihr Kopf und Birgitta Medbergs Hände.
Der Regen hatte von neuem eingesetzt. Sie lief zu ihrem Vater und zerrte an seiner Jacke. »Begreifst du jetzt, daß Anna etwas passiert sein kann?«
Er packte sie, versuchte, sie sich vom Leib zu halten.
»Beruhige dich. Das da draußen war Birgitta Medberg. Es war nicht Anna.«
»Anna hat in ihrem Tagebuch geschrieben, daß sie Birgitta Medberg kennt. Und Anna ist auch verschwunden. Begreifst du nicht?«
»Du mußt ruhig bleiben. Sonst nichts.«
Und sie wurde ruhig. Oder wie gelähmt, und damit still. Kurz darauf waren die Sirenen schon ganz nah, das Polizeirudel war auf dem Weg, und die Wagen schwenkten mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz ein. Sie stiegen aus und sammelten sich um ihren Vater, nachdem sie Stiefel und Regenzeug angezogen hatten, die sie alle im Kofferraum bereitzuhalten schienen. Linda stand außerhalb des Kreises. Aber keiner erhob Einwände, als sie sich zu ihnen gesellte. Martinsson war der einzige, der ihr zunickte. Auch er hatte nichts gegen ihre Anwesenheit. Hier und jetzt, in diesem Moment auf dem verregneten Parkplatz von Schloß Rannesholm, trennte sie endgültig die Nabelschnur durch, die sie noch mit der Polizeihochschule verband. Sie ging am Rand der Karawane, die im Wald verschwand. Sie nahm die Autorität ihres Vaters wahr, aber auch seinen Widerwillen, als er verlangte, daß der gesamte Parkplatz abgesperrt wurde, um die Neugierigen fernzuhalten. Er benutzte genau die Worte, als spreche er von einem bestimmten Menschentyp, die Neugierigen.
Sie ging mit, sie war das letzte Glied in der langen Kette. Als ein Mann von der Spurensicherung, der vor ihr ging, ein Lampenstativ fallen ließ, hob sie es auf und nahm es mit.
Die ganze Zeit war Anna da. Die Angst drang in Form von pochenden Stößen in Lindas Bewußtsein. Sie konnte immer noch nicht klar denken. Aber sie mußte sich an diese Kette halten. Am Ende würde jemand, vielleicht sogar ihr Vater, verstehen, daß es sich nicht allein um Birgitta Medberg handelte, sondern auch um ihre Freundin Anna.
___________
Sie verfolgte die Arbeit, während der Tag langsam dämmerte und in den Abend überging. Regenwolken kamen und gingen, die Erde war naß, die aufgestellten Lampen warfen Licht und Schatten in die Schlucht. Die Kriminaltechniker hatten vorsichtig einen Weg zur Hütte hinunter gebahnt. Linda war sorgfältig darauf bedacht, nicht im Weg zu stehen, und sie setzte ihren Fuß nicht auf, ohne daß er in die Fußspur eines anderen paßte. Manchmal trafen sich ihre und ihres Vaters Blicke, aber es war, als sähe er sie eigentlich gar nicht. Ann-Britt Höglund war die ganze Zeit an seiner Seite. Linda hatte sie dann und wann getroffen, seit sie wieder in Ystad war, hatte sie aber nie gemocht, sondern stets das Gefühl gehabt, ihr Vater müsse sich vor ihr in acht nehmen. Ann-Britt Höglund hatte sie heute kaum eines Grußes gewürdigt, und Linda ahnte, daß es nicht ganz einfach sein würde, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wenn es überhaupt je dazu kam. Ann-Britt Höglund war Kriminalinspektorin, Linda Polizeianwärterin, die noch nicht einmal angefangen hatte zu arbeiten und die sich noch lange mit den Kleinkriminellen auf Straßen und Plätzen herumschlagen würde, bevor sie irgendeine Möglichkeit bekam, sich um eine Spezialisierung zu bewerben.
Sie sah zu, wie die Arbeit voranging, wie sich Ordnung und Disziplin, Routine und Genauigkeit die ganze Zeit am Rande des Chaos zu bewegen schienen. Ab und zu wurde jemand lauter, vor allem der grantige Nyberg, der Verwünschungen und Flüche darüber ausstieß, daß die Leute nicht aufpaßten, wohin sie ihre Füße setzten. Drei Stunden nach dem Beginn der Arbeiten wurden der Kopf und die Hände, in Plastikbeutel verpackt, abtransportiert. Während die Leichenteile fortgebracht wurden, ruhte alle übrige Arbeit. Obwohl das Plastik dick war, ahnte Linda die Konturen von Birgitta Medbergs Gesicht und ihren Händen.
Dann ging die Arbeit weiter. Nyberg und seine Leute krochen umher, jemand sägte Äste ab oder durchsuchte das Unterholz, andre stellten Scheinwerfer auf oder reparierten ins Stottern geratene Generatoren. Leute kamen und gingen, Telefone piepten, und mitten in dem Ganzen stand ihr Vater vollkommen regungslos, als sei er mit unsichtbaren Seilen gefesselt. Er tat Linda leid, seine Einsamkeit und der Anspruch, daß er jederzeit in der Lage sein sollte, auf den ununterbrochenen Strom von Fragen zu antworten und außerdem alle Entscheidungen zu treffen, die nötig waren, damit die Untersuchung des Tatorts nicht zum Erliegen kam. Ein unsicherer Seiltänzer, dachte Linda. So kommt er mir vor. Ein unsicherer Polizist auf dem Hochseil, der etwas gegen sein Übergewicht und gegen seine Einsamkeit tun sollte.
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Es war schon spät geworden, als er sie entdeckte. Er beendete ein Telefongespräch und wandte sich dann Nyberg zu, der ein paar Gegenstände unter eine der Lampen hielt, um die die Nachtinsekten schwärmten und sich verbrannten. Linda trat einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Nyberg reichte ihrem Vater ein Paar Plastikhandschuhe, die dieser mit Mühe über seine großen Hände zog.
»Was ist das?« fragte er.
»Wenn du nicht völlig blind bist, müßtest du sehen, daß das eine Bibel ist.«
Er schien die Gereiztheit des Mannes mit dem schütteren Haar, das ihm wirr um den Kopf stand, gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Eine Bibel«, fuhr Nyberg fort. »Sie lag auf dem Fußboden, neben den Händen. Es gibt blutige Fingerabdrücke darauf. Aber es können ja die von jemand anders sein.«
»Des Täters?«
»Denkbar. Alles ist denkbar. Die ganze Hütte ist voller Blut. Es muß gräßlich gewesen sein. Wer auch immer das getan hat, muß von oben bis unten blutverschmiert sein.«
»Keine Waffen, keine Schlagwerkzeuge?«
»Nein, nichts. Aber diese Bibel, von den Blutflecken mal abgesehen, ist eigentümlich.«
Linda trat noch einen Schritt näher, während ihr Vater seine Brille aufsetzte.
»Die Offenbarung des Johannes«, sagte Nyberg.
»Ich kenn mich mit der Bibel nicht aus. Sag schon, was du komisch findest.«
Nyberg verzog das Gesicht, ließ sich aber nicht dazu verleiten, Streit anzufangen. »Wer kennt schon die Bibel? Aber die Offenbarung des Johannes ist ein wichtiges Kapitel, oder wie das heißt.«
Und mit einem schnellen Blick zu Linda. »Weißt du das? Sagt man Kapitel?«
Linda erschrak. »Keine Ahnung.«
»Da siehst du es. Auch die Jugend weiß es nicht. Aber egal, auf jeden Fall hat sich jemand hingesetzt und sich zwischen den Zeilen zu schaffen gemacht. Siehst du?«
Nyberg zeigte es ihm. Kurt Wallander führte das Buch dichter an die Augen. »Ich sehe etwas zwischen den Zeilen, was wie graue Flusen aussieht. Was steht denn da?«
Nyberg rief nach einem Mitarbeiter mit Namen Rosén. Ein bis zu den Hüften mit Erde verschmutzter Mann kam mit einem Vergrößerungsglas herbeigestapft.
Wallander versuchte es von neuem. »Jemand hat etwas zwischen die Zeilen geschrieben. Was steht da?«
»Ich habe zwei Zeilen entziffert«, sagte Nyberg. »Es sieht so aus, als sei derjenige, der es geschrieben hat, nicht zufrieden gewesen mit dem gedruckten Text. Es scheint sich um jemanden zu handeln, der das Wort Gottes verbessern wollte.«
Kurt Wallander nahm die Brille ab. »Was soll das heißen? ›Das Wort Gottes‹? Kannst du dich nicht verständlich ausdrücken?«
»Ich dachte, die Bibel sei das Wort Gottes. Wie soll ich es denn sonst sagen? Aber ich finde es interessant, daß jemand sich hinsetzt und den Text der Bibel umschreibt. Tut ein normaler Mensch so was? Wenn er oder sie noch alle fünf Sinne beisammen hat?«
»Ein Verrückter also. Was ist diese Hütte eigentlich? Wohnung oder Versteck?«
Nyberg schüttelte den Kopf. »Zu früh, darauf zu antworten. Aber sind Verstecke und Wohnungen nicht dasselbe für Leute, die sich zurückziehen?«
Er machte eine Armbewegung zum Wald hin, der schwarz hinter den Scheinwerfern aufragte.
»Die Hunde haben das Gelände durchsucht. Sie sind noch draußen. Die Hundeführer sagen, es sei nahezu undurchdringliches Terrain. Wenn man sich hier in der Gegend verstecken will, findet man keinen besseren Ort.«
»Könnt ihr schon was über die Person sagen?«
Nyberg schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Kleidung gefunden. Nichts Persönliches. Wir können nicht einmal sagen, ob die Person, die sich hier aufgehalten hat, ein Mann oder eine Frau war.«
Im Dunkeln schlug ein Hund an. Nieselregen setzte ein. Ann-Britt Höglund, Martinsson und Svartman kamen aus verschiedenen Richtungen und sammelten sich um Wallander. Linda blieb im Hintergrund, genau auf der Grenze zwischen Beteiligter und Zuschauerin.
»Gebt mir eure Einschätzung«, sagte ihr Vater. »Was ist hier geschehen? Wir wissen, daß ein widerwärtiger Mord stattgefunden hat. Aber warum? Wer kann der Täter sein? Warum kommt sie her? Hatte sie eine Verabredung? Ist sie hier getötet worden? Wo ist der übrige Körper? Gebt mir ein Bild.«
Der Regen tropfte. Nyberg nieste. Einer der Scheinwerfer gab den Geist auf. Nyberg trat vor Wut das Stativ um und stellte es dann wieder auf.
»Ein Bild«, wiederholte Kurt Wallander.
»Ich habe schon manches Widerwärtige gesehen«, sagte Martinsson. »Aber so was wie das hier noch nicht. Es muß ein total Irrer gewesen sein, der das hier getan hat. Aber wo ist der Rest der Leiche? Wer hat diese Hütte benutzt? Wir wissen nichts.«
»Nyberg hat eine Bibel gefunden«, sagte Kurt Wallander.
»Wir nehmen Fingerabdrücke von allem, was wir finden. Jemand hat neue Texte zwischen die Zeilen in dem Buch geschrieben. Was hat das zu bedeuten? Wir müssen untersuchen, ob die Familie Tademan je hierherkommt. Wir müssen von Haus zu Haus gehen. Auf breiter Front, ohne Pause.«
Keiner sagte etwas.
»Wir müssen den, der das hier getan hat, fassen, und zwar so schnell wie möglich«, sagte Wallander. »Ich weiß nicht, was das hier bedeutet. Aber es macht mir angst.«
Linda trat ins Licht. Es war, wie eine Bühne zu betreten, ohne sich vorbereitet zu haben. »Ich habe auch Angst.«
Nasse und müde Gesichter umgaben sie. Nur ihr Vater sah angespannt aus. Er wird wahnsinnig, dachte Linda. Aber der Schritt, den sie tat, war notwendig.
»Ich habe auch Angst«, sagte sie und berichtete von Anna. Dabei vermied sie es, ihren Vater anzusehen. Sie versuchte, sich an alle Einzelheiten zu erinnern, ihre intuitive Furcht zu unterdrücken, nur das zu erzählen, was sie wußte, und die Schlußfolgerungen von allein kommen zu lassen.
»Wir werden das natürlich untersuchen«, sagte ihr Vater, nachdem sie geendet hatte. Seine Stimme war eisig.
In dem Moment bereute Linda, was sie getan hatte. Das wollte ich nicht, dachte sie. Ich tue es nur für Anna, nicht, um dich zu provozieren.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich gehe jetzt nach Hause. Ich habe hier ja nichts zu suchen.«
»Warst du es nicht, die die Vespa gefunden hat?« fragte Martinsson.
Ihr Vater nickte. Dann wandte er sich an Nyberg. »Hast du jemanden, der Linda zum Wagen leuchten kann?«
»Ich tue es selbst«, antwortete Nyberg. »Ich muß aufs Klo. Ich kann ja nicht hier in den Wald scheißen und die empfindlichen Nasen der Hunde verwirren.«
Linda kletterte aus der Schlucht nach oben. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig und müde sie war. Nyberg leuchtete ihr auf dem Pfad. Sie begegneten einem Hundeführer und einem Hund mit hängendem Schwanz. Lichter bewegten sich zwischen den Bäumen. Orientierungslauf bei Nacht, dachte Linda. Polizisten, die zwischen den Schatten jagen. Nyberg murmelte etwas Unverständliches, als sie den Parkplatz erreichten. Dann war er weg. Ein Blitzlicht flammte im Dunkeln auf. Linda sah ein paar Ordnungspolizisten an den Absperrungen. Sie stieg ins Auto, jemand hob das Plastikband, und sie war draußen auf der Landstraße. Es waren Schaulustige da, geparkte Wagen, Menschen, die darauf warteten, daß etwas passierte. Sie spürte, daß sie ihre unsichtbare Uniform wieder übergestreift hatte. Weg hier, dachte sie. Hier ist ein schweres Verbrechen begangen worden. Niemand darf unsere Arbeit stören. Sie verlor sich in einen Tagtraum.
An der Polizeihochschule hatten sie sich Filmpolizisten genannt. Sie erinnerte sich an lange Abende mit Wein und Bier und an die Spiele von der Zukunft, die sich hauptsächlich darum drehen würde, mit Pennern zu rangeln und junge Taschendiebe zur Vernunft zu bringen. Aber alle Berufe haben ihre Träume, hatte sie gedacht. So mußte es sein. Ärzte, die Menschen nach einem schweren Unfall das Leben retteten. Blutige Arztkittel, unschlagbare Helden. Und genauso wir, junge Spunde, die bald hinaus sollen und Uniform tragen. Die Schnellen und Harten, die Starken und Unschlagbaren.
Sie schüttelte die Gedanken ab. Noch war sie keine Polizistin.
Sie fuhr zu schnell und bremste ab. In dem Augenblick lief ein Hase über die Straße. Einen kurzen Augenblick hielt das Scheinwerferlicht die Augen des Tiers fest. Sie bremste scharf. Der Hase flitzte davon, und sie fuhr weiter. Ihr Herz hämmerte. Sie atmete tief durch. Die Lichter der Autos auf der Hauptstraße kamen näher. Sie fuhr auf einen Parkplatz, löschte das Licht und machte den Motor aus. Um sie herum Dunkelheit. Sie griff nach ihrem Handy. Bevor sie wählen konnte, klingelte es.
Es war ihr Vater. Er war in Rage. »Wie kommst du dazu, mir vorzuwerfen, ich täte meine Arbeit nicht ordentlich?«
»Ich habe dir nichts vorgeworfen«, sagte sie. »Ich fürchte nur, daß Anna etwas passiert ist.«
»Das tust du kein zweites Mal. Nie wieder. Sonst sorge ich persönlich dafür, daß deine Zeit hier in Ystad kurz wird.«
Sie kam nicht dazu, zu antworten. Er hatte das Gespräch schon abgebrochen. Er hat recht, sagte sie sich. Ich hätte mich beherrschen sollen. Sie wählte seine Nummer, um sich zu entschuldigen oder zumindest eine Erklärung zu geben. Doch dann ließ sie es bleiben. Sein Zorn war noch nicht verraucht. Erst in ein paar Stunden würde er ihr vielleicht zuhören.
Sie fühlte, daß sie mit jemandem reden mußte, und wählte die Nummer von Zebra. Besetztzeichen. Sie zählte langsam bis fünfzig und rief wieder an. Immer noch besetzt. Ohne eigentlich zu wissen, warum, wählte sie Annas Nummer. Besetzt. Sie zuckte zusammen. Versuchte es erneut. Immer noch besetzt. Freude erfüllte sie. Anna war zurückgekommen! Sie ließ den Motor an, schaltete das Licht ein und fuhr auf die Straße zurück. Guter Gott, dachte sie. Ich werde ihr erzählen, was passiert ist, nur weil sie unsere Verabredung nicht eingehalten hat.
17
Linda stieg aus und sah zu Annas Fenstern hinauf. Sie waren dunkel. Ihre Angst kehrte zurück. Das Telefon war besetzt gewesen. Linda rief Zebra an, die so schnell abnahm, als habe sie neben dem Telefon gestanden und auf das Klingeln gewartet.
Linda hatte es eilig, sie verhaspelte sich. »Ich bin es. Hast du eben mit Anna telefoniert?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Ich weiß doch wohl, mit wem ich telefoniert habe. Hast du versucht, bei mir anzurufen? Ich habe mit meinem Bruder gequatscht wegen eines Kredits, den ich ihm nicht geben will.
Er wirft sein Geld nur zum Fenster hinaus. Ich habe viertausend auf der Bank. Das ist mein ganzes Vermögen. Das will er leihen, um sich damit in einen Lastzug einzukaufen, der mit Stückgut nach Bulgarien geht…«
»Dein Bruder ist mir egal«, unterbrach Linda. »Anna ist verschwunden. Es ist noch nie vorgekommen, daß sie eine Verabredung vergessen hat.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal.«
»Das sagt mein Vater auch. Aber es muß etwas passiert sein. Anna ist seit drei Tagen weg.«
»Vielleicht ist sie in Lund?«
»Nein. Eigentlich spielt es gar keine Rolle, wo sie ist. Es sieht ihr nicht ähnlich, weg zu sein. Hast du jemals erlebt, daß sie nicht gekommen ist oder angerufen hat oder zu Hause gewesen ist, wenn ihr euch verabredet hattet, miteinander zu reden oder euch zu treffen?«
Zebra dachte nach.
»Nein. Tatsächlich nicht.«
»Da siehst du’s.«
»Warum bist du so aus dem Häuschen?«
Linda war nahe daran, alles zu erzählen, was geschehen war, von dem Kopf und den abgeschlagenen Händen. Aber es wäre eine Todsünde gewesen, einem Außenstehenden etwas zu verraten. »Du hast bestimmt recht. Ich mache mir unnötig Sorgen.«
»Komm her.«
»Das schaff ich nicht.«
»Ich glaube, du wirst allmählich wunderlich davon, daß du darauf wartest, endlich anzufangen zu arbeiten. Du kannst herkommen und ein Mysterium lösen.«
»Was?«
»Eine Tür, die zugeschnappt ist.«
»Ich habe keine Zeit. Rede mit dem Hausmeister.«
»Du machst zuviel Streß. Beruhige dich mal.«
»Ich werd’s versuchen. Hej.«
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Linda klingelte an der Tür in der Hoffnung, die dunklen Fenster bedeuteten nur, daß Anna schlief. Aber die Wohnung war leer, das Bett unberührt. Linda blieb stehen und betrachtete das Telefon. Der Hörer war aufgelegt, wie es sich gehörte, die Lampe des Anrufbeantworters war dunkel. Sie setzte sich hin und ging alles durch, was in den letzten Tagen geschehen war. Jedesmal, wenn der abgetrennte Kopf wieder in ihren Gedanken auftauchte, wurde ihr übel. Oder war vielleicht der Anblick der Hände schlimmer gewesen? Wer konnte einen Menschen seiner Hände berauben? Wenn man einem Menschen den Kopf abschlug, tötete man ihn. Aber die Hände? Sie fragte sich, ob es möglich war festzustellen, ob Birgitta Medbergs Hände abgeschlagen worden waren, als sie noch lebte, oder umgekehrt. Und wo war der Rest des Körpers? Ihre Übelkeit nahm plötzlich überhand. Sie schaffte es gerade noch auf die Toilette, bevor sie sich übergeben mußte. Nachher streckte sie sich auf dem Badezimmerfußboden aus. Unter der Badewanne war eine kleine gelbe Plastikente festgeklemmt. Sie erinnerte sich daran, wußte noch, wann Anna sie vor vielen Jahren bekommen hatte.
Sie waren zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen. Wessen Idee es war, wußte sie nicht mehr. Aber sie hatten beschlossen, hinüber nach Kopenhagen zu fahren. Es war Frühling, Anna und Linda waren rastlos und unruhig in der Schule, und sie schlossen ständig neue Pakte, um sich gegenseitig zu schützen, wenn sie die Schule schwänzten. Mona hatte zugestimmt, daß Linda fuhr. Aber ihr Vater hatte ihr die Reise sofort verboten.
Linda erinnerte sich noch immer daran, daß er Kopenhagen als eine heimtückische und bedrohliche Stadt ausgemalt hatte für zwei junge Mädchen, die viel zu wenig vom Leben wußten. Es war darauf hinausgelaufen, daß Linda und Anna trotz allem fuhren. Linda war klar, daß es reichlich Ärger geben würde, wenn sie nach Hause kam. Wie um sich schon im voraus zu rächen, stahl sie einen Hunderter aus seiner Brieftasche, bevor sie fuhren. Sie nahmen den Zug nach Malmö und dann das Tragflächenboot. In Lindas Erinnerung war es für sie und Anna der erste ernsthafte Besuch in der Welt der Erwachsenen.
Es war ein Tag voller Kichern und Gackern gewesen, windig, aber sonnig, und der Frühling war im Anzug. Im Tivoli hatte Anna bei einer Tombola die Plastikente gewonnen.
Zuerst war alles strahlend und hell gewesen. Freiheit, Abenteuer, unsichtbare Mauern stürzten ein, wo sie auch gingen. Dann verdunkelten sich die Bilder. Etwas war passiert, das erste schwere Torpedo gegen ihre Freundschaft. Damals ging es noch einmal gut. Aber als sie sich dann in denselben Jungen verliebten, war die Schlacht von Anfang an schon verloren. Der unsichtbare Riß in ihrer Freundschaft weitete sich und trieb sie auseinander. Eine grüne Bank, dachte Linda, da saßen wir. Anna, die sich immerzu Geld von mir lieh, weil sie nichts hatte, bat mich, auf ihre Tasche aufzupassen, während sie zur Toilette ging. Irgendwo im Tivoli spielte ein Orchester, der Trompeter blies ständig haarscharf an den richtigen Tönen vorbei.
An all das erinnerte sich Linda, als sie in Annas Badezimmer auf dem Fußboden lag. Die Fußbodenheizung wärmte ihr den Rücken. Die grüne Bank und die Tasche. Auch jetzt, nach all den Jahren, konnte sie nicht erklären, warum sie die Tasche geöffnet und Annas Portemonnaie herausgenommen hatte. Es waren zwei Hunderter darin. Ganz offen, nicht zusammengefaltet in einem Geheimfach. Sie hatte auf das Geld gestarrt und gespürt, wie Annas Falschheit sie mit gewaltiger Wucht traf. Dann hatte sie das Portemonnaie zurückgesteckt und sich entschieden, nichts zu sagen. Doch als Anna zurückkam und fragte, ob Linda etwas zu trinken kaufen könnte, war sie explodiert. Sie hatten dagestanden und sich angeschrien; was für ein Argument Anna vorgebracht hatte, wußte sie nicht mehr. Aber sie hatten sich getrennt und waren ihrer eigenen Wege gegangen. Auf der Rückfahrt nach Malmö hatte Anna an einer anderen Stelle im Schiff gesessen. Als sie am Bahnhof auf den Zug nach Ystad warteten, waren sie sich auch aus dem Weg gegangen. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder miteinander sprachen. Sie hatten den Vorfall in Kopenhagen später nie mehr erwähnt, nur versucht, die zerbrochene Freundschaft wiederherzustellen. Und das war ihnen auch gelungen.
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Linda setzte sich auf. Ein Lügengespinst, dachte sie. Ich bin überzeugt, daß Henrietta etwas verbarg, als ich bei ihr war. Und Anna lügt, das habe ich damals in Kopenhagen gelernt. Und auch später habe ich sie beim Lügen ertappt. Aber ich kenne sie so gut, daß ich auch sicher sein kann, wenn sie die Wahrheit sagt. Und was in Malmö geschehen ist, daß sie ihren Vater gesehen hat oder zumindest davon überzeugt ist, ihn gesehen zu haben, das ist keine Erfindung. Doch was steckt dahinter? Was hat sie mir nicht erzählt? Das Ungesagte kann die größte aller Lügen sein.
In ihrer Tasche klingelte das Handy. Sie wußte sofort, daß es ihr Vater war. Um sich dagegen zu wappnen, daß er immer noch verärgert war, stand sie vom Fußboden auf, bevor sie sich meldete.
Doch seine Stimme klang nur müde und abgespannt. Ihr Vater hatte viele verschiedene Stimmen, mehr als alle anderen Menschen, die sie kannte. »Wo bist du?«
»In Annas Wohnung.«
Er schwieg einen Augenblick. Sie konnte hören, daß er noch immer draußen im Wald war. Stimmen im Hintergrund wurden lauter und wieder leiser, schnarrende Funksprechgeräte, ein Hund, der bellte.
»Was tust du da?«
»Ich habe jetzt noch mehr Angst als vorher.«
Zu ihrer Verblüffung sagte er: »Ich verstehe. Deshalb rufe ich an. Ich komme.«
»Wohin?«
»In die Wohnung. Wo du bist. Ich muß das alles noch einmal im Detail hören. Natürlich gibt es keinen Grund dafür, daß du dir Sorgen machen müßtest. Aber ich nehme das, was du gesagt hast, jetzt ernst.«
»Warum sollte ich mir keine Sorgen machen. Es ist nicht natürlich, daß sie weg ist. Das habe ich von Anfang an gesagt. Wenn du nicht verstehst, daß ich mir Sorgen mache, brauchst du auch nicht zu sagen, daß du meine Angst verstehst. Außerdem war ihr Telefon besetzt. Aber sie ist nicht hier. Es war jemand anders hier. Da bin ich sicher.«
»Ich will alles noch einmal im einzelnen hören, wenn ich komme. Wie ist die Adresse?«
Linda nannte sie ihm. »Wie geht es?«
»Ich glaube, etwas Vergleichbares ist mir noch nie begegnet.«
»Habt ihr den Körper gefunden?«
»Nein. Wir haben nichts gefunden. Und am wenigsten eine Erklärung für das, was geschehen ist. Ich hupe, wenn ich da bin.«
Linda spülte den Mund mit Wasser aus. Um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden, nahm sie Annas Zahnbürste. Einer Eingebung folgend öffnete sie das Badezimmerschränkchen. Da entdeckte sie etwas, was sie erstaunte. Das zweite zurückgelassene Tagebuch, dachte sie.
Anna litt unter Ekzemen am Hals. Nur einige Wochen zuvor, als sie eines Abends mit Zebra zusammensaßen und mit Gedanken an eine Traumreise spielten, hatte Anna gesagt, das erste, was sie in ihre Tasche, ins Handgepäck stecken würde, sei die einzige Salbe, die ihr Ekzem in Schach hielt. Linda erinnerte sich genau an Annas Worte. Ich hole mir immer nur eine Tube, damit sie so frisch wie möglich ist. Jetzt lag sie zwischen Pillenschachteln und Zahnbürsten. Anna hatte eine Manie, was Zahnbürsten anging. Linda zählte neunzehn Stück, elf davon unbenutzt. Aber die Salbentube lag da. Ohne die wäre sie nicht verreist, dachte Linda. Nicht freiwillig. Weder die Salbe noch ihr Tagebuch hätte sie zurückgelassen. Sie schloß die Tür des Spiegelschränkchens und verließ das Bad. Aber was konnte eigentlich passiert sein? Nichts ließ darauf schließen, daß Anna unter Zwang weggebracht worden war. Auf jeden Fall nicht aus ihrer Wohnung. Natürlich konnte auf der Straße etwas geschehen sein. Sie konnte angefahren oder in ein Auto gezerrt worden sein.
Linda stellte sich ans Fenster und wartete darauf, daß ihr Vater auftauchte. Sie merkte, daß sie müde war. Ihre unsichtbare Uniform spannte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, getäuscht worden zu sein. Wie waren sie in ihrer Zeit an der Polizeihochschule auf das hier vorbereitet worden? Konnte man überhaupt einen angehenden Polizisten vorbereiten auf das, was ihn erwartete, wenn sich die Tür der Wirklichkeit öffnete? Einen kurzen Moment verspürte sie Lust, sich die Uniform herunterzureißen, bevor sie sie überhaupt angezogen hatte. Sie sollte den Entschluß, Polizistin zu werden, jetzt revidieren und so bald wie möglich gegen einen anderen Lebenstraum tauschen. Sie war nicht geeignet, sie taugte nicht zur Polizistin.
Wer hatte ihr gesagt, daß sie jederzeit darauf gefaßt sein mußte, eine Tür zu öffnen und einen abgeschlagenen grauhaarigen Frauenkopf und gefaltete Hände zu erblicken. Jetzt, wo ihr Magen leer war, kam die Übelkeit nicht zurück.
Die Hände waren gefaltet, dachte sie von neuem. Betende Hände, die abgeschlagen werden. Sie schüttelte den Kopf. Was war unmittelbar vorher geschehen? Der dramatische Augenblick, in dem zwei unsichtbare Hände mit einer ebenso unsichtbaren Axt zum Schlag ausholen. Was hatte Birgitta Medberg gesehen in diesen letzten Momenten ihres Lebens? Hatte sie in die Augen eines anderen Menschen geblickt, hatte sie begriffen, was geschehen würde? Oder war ihr vergönnt gewesen, nicht wahrzunehmen, was mit ihr geschah? Linda starrte eine im Wind schaukelnde Straßenlampe an. Es gab ein Drama, das sie nur ahnen konnte. Gefaltete Hände, ein Flehen um Gnade. Die von einem brutalen Hohenpriester mit einer Axt in der Hand nicht gewährt wurde. Birgitta Medberg wußte es, dachte Linda. Sie verstand, was geschehen sollte, und bat um Gnade.
Das Scheinwerferlicht eines Wagens erleuchtete eine dunkle Hauswand. Ihr Vater bremste. Er stieg aus und schaute sich unschlüssig um, bevor er Linda entdeckte, die ihm winkte. Sie warf ihm den Schlüssel hinunter. Dann öffnete sie die Wohnungstür und hörte seine schweren Schritte im Treppenhaus. Er weckt das ganze Haus auf, dachte sie. Mein Vater dröhnt durchs Leben wie ein Zug wütender Infanteristen. Er war verschwitzt und erschöpft, seine Augen flackerten, seine Kleidung war durchnäßt.
»Gibt es hier etwas zu essen?« fragte er, als er in den Flur trat und aus den Stiefeln stieg.
»Gibt es.«
»Und hast du ein Handtuch?«
»Da ist das Badezimmer. Im unteren Regal liegen Handtücher.«
Als er aus dem Bad kam, hatte er seine Sachen ausgezogen und setzte sich in Unterhemd und Unterhose an den Tisch. Das nasse Zeug hatte er über die Wärmerohre im Bad gehängt. Linda hatte den Tisch mit dem gedeckt, was sie in Annas Kühlschrank fand. Sie wußte, daß er in Ruhe essen wollte, schweigend. Als sie Kind war, war es fast eine Todsünde gewesen, am Frühstückstisch zu reden oder Lärm zu machen. Mona hatte es nicht ausgehalten, ihrem stummen Mann gegenüberzusitzen. Sie frühstückte, wenn er gegangen war. Aber Linda hatte dagesessen und sein Schweigen geteilt. Manchmal hatte er die Zeitung sinken lassen, meistens Ystads Allehanda, und ihr zugezwinkert. Das Schweigen am Morgen war heilig.
Er biß in ein Butterbrot. Plötzlich war es, als sei ihm der Bissen im Hals steckengeblieben. »Ich hätte dich natürlich nicht mitnehmen sollen«, sagte er. »Das war unverantwortlich. Du hättest das da draußen in der Hütte nicht zu sehen brauchen.«
»Wie kommt ihr weiter?«
»Wir haben keine Spuren und keine Erklärung für das, was da geschehen ist.«
»Aber der Rest des Körpers?«
»Auch davon keine Spur. Die Hunde wittern nichts. Wir wissen, daß Birgitta Medberg in der Gegend Pfade kartiert hat. Es besteht kein Grund, etwas anderes anzunehmen, als daß sie aus reinem Zufall zu der Hütte gekommen ist. Aber wer war in der Hütte? Warum dieser brutale Mord? Warum ist der Körper zerstückelt und zum größten Teil verschwunden?«
Er aß sein Butterbrot auf, strich sich ein neues und ließ es halb gegessen liegen. »Jetzt laß mich hören. Anna Westin. Deine Freundin. Was macht sie? Studiert sie? Was?«
»Medizin. Das weißt du doch.«
»Ich vertraue meinem Gedächtnis immer weniger. Du hast dich also mit ihr verabredet. Wolltet ihr euch hier treffen?«
»Ja.«
»Und sie war nicht zu Hause?«
»Nein.«
»Ein Mißverständnis kann nicht vorliegen?«
»Nein.«
»Außerdem ist sie immer pünktlich. Stimmt das?«
»Immer.«
»Erzähl mir noch einmal das von ihrem Vater. Er war vierundzwanzig Jahre weg. Nie von sich hören lassen? Und dann sieht sie ihn durch ein Fenster in Malmö?«
Linda erzählte so detailliert wie möglich. Als sie endete, schwieg er eine Weile.
»An einem Tag kommt ein verschwundener Mensch zurück. Am nächsten verschwindet ein anderer Mensch, der den Zurückgekehrten gerade entdeckt hat. Einer kommt und einer geht.«
Er schüttelte den Kopf. Linda erzählte von dem Tagebuch und der Tube mit Salbe. Und am Schluß von ihrem Besuch bei Annas Mutter. Sie sah, daß er sehr aufmerksam zuhörte.
»Warum glaubst du, daß sie gelogen hat?«
»Anna hätte es mir erzählt, wenn sie wirklich häufig geglaubt hätte, ihren Vater gesehen zu haben.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Ich kenne sie.«
»Menschen verändern sich. Außerdem kennt man nie etwas anderes als Teile von einem anderen Menschen.«
»Gilt das auch für mich?«
»Das gilt für mich, das gilt für dich, das gilt für deine Mutter, und das gilt für Anna. Außerdem gibt es Menschen, die man überhaupt nicht kennt. Mein Vater war ein glänzendes Beispiel für die personifizierte Unbegreiflichkeit.«
»Ich kannte ihn.«
»Du kanntest ihn nicht.«
»Nur weil ihr euch nicht aufeinander einstellen konntet, muß das nicht auch für mich gelten. Außerdem reden wir von Anna.«
»Ich habe gehört, daß du ihr Verschwinden noch nicht gemeldet hast.«
»Ich habe mich nach dem gerichtet, was du gesagt hast.«
»Ausnahmsweise.«
»Jetzt hör auf.«
»Zeig mir das Tagebuch.«
Linda holte es und schlug die Seite auf, wo Anna den Brief von Birgitta Medberg erwähnt hatte.
»Kannst du dich daran erinnern, daß sie jemals Birgitta Medbergs Namen genannt hat?«
»Nein, nie.«
»Hast du ihre Mutter gefragt, ob es eine Verbindung zu Birgitta Medberg gab?«
»Ich habe das von Birgitta Medberg im Tagebuch erst nach meinem Besuch bei ihr gelesen.«
Er stand auf, holte einen Block aus seiner Jackentasche und machte eine Notiz. »Ich werde jemanden bitten, morgen bei ihr anzurufen.«
»Das kann ich doch tun.«
»Nein«, entgegnete er schroff. »Das kannst du nicht. Du bist noch keine Polizistin. Ich bitte Svartman oder sonst jemand. Und du unternimmst nichts auf eigene Faust.«
»Warum bist du so vergrätzt?«
»Ich bin nicht vergrätzt. Ich bin müde. Ich weiß nicht, was in dieser Hütte passiert ist, außer daß es entsetzlich ist. Und ebensowenig weiß ich, ob es der Anfang von etwas war oder das Ende.«
Er sah auf die Uhr und stand auf. »Ich muß zurück in den Wald.«
Er blieb unentschlossen stehen. »Ich weigere mich zu glauben, daß es ein Zufall war«, sagte er. »Daß Birgitta Medberg zufällig auf eine böse Hexe in einem Pfefferkuchenhaus gestoßen ist. Ich weigere mich zu glauben, daß man einen solchen Mord begeht, weil jemand an die falsche Tür klopft. In schwedischen Wäldern leben keine Monster. Da leben nicht einmal Trolle. Sie hätte sich lieber an ihre Schmetterlinge halten sollen.«
Er ging ins Bad und zog sich an. Linda ging ihm nach. Was hatte er da gerade gesagt? Die Tür zum Bad war angelehnt.
»Was hast du gerade gesagt?«
»Daß in schwedischen Wäldern keine Monster leben.«
»Nein, danach.«
»Mehr habe ich nicht gesagt.«
»Danach. Nach den Monstern und den Trollen. Das von Birgitta Medberg.«
»Sie hätte sich lieber an die Schmetterlinge halten sollen, statt alte Pilgerpfade zu suchen.«
»Was für Schmetterlinge denn?«
»Ann-Britt hat mit der Tochter gesprochen. Jemand mußte ihr ja die Nachricht überbringen, daß ihre Mutter tot ist. Die Tochter erzählte, ihre Mutter habe eine große Schmetterlingssammlung gehabt. Die sie vor einigen Jahren verkauft hatte, um Vanja und ihrem Kind zu helfen, eine Wohnung zu kaufen. Jetzt, wo die Mutter tot ist, hatte Vanja ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubte, daß ihre Mutter die Schmetterlinge vermißt hatte. Menschen reagieren häufig seltsam, wenn plötzlich jemand stirbt. Mir ging es ebenso, als mein Vater starb. Ich konnte anfangen zu weinen, wenn ich daran dachte, daß er sich manchmal Strümpfe anzog, die nicht zusammenpaßten.«
Linda hielt den Atem an. Er spürte sofort, daß etwas war.
»Was ist denn?«
»Komm.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Linda machte Licht und zeigte auf die leere Tapete.
»Ich habe versucht zu erkennen, ob sich etwas verändert hat.
Das habe ich dir schon erzählt. Aber ich habe vergessen zu sagen, daß hier etwas fehlt.«
»Was?«
»Ein kleines Bild. Oder ein kleines Kästchen hinter Glas. Mit einem Schmetterling. Ich bin mir ganz sicher. Er verschwand einen Tag nach dem, an dem Anna nicht zu Hause war.«
Er legte die Stirn in Falten. »Bist du sicher?«
»Ja«, antwortete sie. »Außerdem bin ich sicher, daß der Schmetterling blau war.«
18
In dieser Nacht dachte Linda, daß es eines blauen Schmetterlings bedurft hatte, damit ihr Vater sie ernst zu nehmen begann. Sie war kein Kind mehr, keine rotznasige Polizeianwärterin, aus der vielleicht einmal etwas werden würde, sondern ein erwachsener Mensch, der Urteilsfähigkeit und Wahrnehmungsvermögen besaß. Am Ende war es ihr gelungen, seine festgemauerte Auffassung einzureißen, daß sie immer noch nur seine Tochter war und nichts anderes.
Es war sehr schnell gegangen. Er hatte nur gefragt, ob sie sicher sei, daß es wirklich ein Bild mit einem blauen Schmetterling war und daß es gleichzeitig mit oder kurz nach Annas Verschwinden entfernt worden war. Linda zögerte nicht. Sie konnte sich an die nächtlichen Spiele mit ihren Kurskameradinnen an der Polizeihochschule erinnern, Lilian, die aus Arvidsjaur kam und Stockholm haßte, weil es da keine Schneescooter gab, und natürlich Julia aus Lund. Sie übten ihr Gedächtnis und ihr Beobachtungsvermögen, stellten Tabletts mit zwanzig Gegenständen auf den Tisch und nahmen dann einen davon fort, um zu sehen, ob fünfzehn Sekunden Beobachtungszeit ausreichten. Linda gewann jedesmal. Ihr größtes Bravourstück war, als sie nach nur zehn Sekunden Beobachtungszeit bei einem Tablett mit neunzehn Gegenständen gemerkt hatte, daß eine Büroklammer entfernt worden war. Sie war die inoffizielle Weltmeisterin im Wahrnehmungsvermögen.
Sie war sich sicher. Der blaue Schmetterling war zugleich mit Anna verschwunden. Oder unmittelbar danach. Das gab den Ausschlag. Ihr Vater rief im Wald an und bat Ann-Britt Höglund zu kommen, wobei er gleichzeitig nach Neuigkeiten vom Fundort fragte. Linda konnte zuerst den kratzborstigen Nyberg hören, dann Martinsson, der nieste, daß es durchs Telefon zu spritzen schien, und am Schluß Lisa Holgersson, die Polizeipräsidentin, die jetzt persönlich draußen im Wald eingetroffen war. Er legte das Handy auf den Tisch.
»Ich will Ann-Britt hier haben«, sagte er. »Ich bin so müde, daß ich mich nicht mehr auf mein Urteil verlasse. Hast du jetzt alles gesagt, was wichtig ist?«
»Ich glaube schon.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es fällt mir immer noch schwer, das alles zu glauben. Ich frage mich, ob es nicht ein so großer Zufall ist, daß er ganz einfach nicht vorkommen kann.«
»Vor ein paar Tagen sagtest du, man müßte immer damit rechnen, daß das Unerwartete geschieht.«
»Ich gebe soviel Mist von mir«, sagte er nachdenklich. »Glaubst du, es gibt Kaffee hier im Haus?«
Das Wasser sprudelte, als Ann-Britt Höglund unten auf der Straße hupte.
»Sie fährt viel zu schnell«, sagte er. »Sie hat zwei Kinder. Stell dir vor, sie fährt sich eines Tages tot. Wirf ihr den Schlüssel runter.«
Ann-Britt Höglund fing das Schlüsselbund mit einer Hand und erschien kurz darauf in der Wohnung. Linda fand immer noch, daß Ann-Britt sie mißbilligend betrachtete. Linda bemerkte, daß sie in einem Strumpf ein Loch hatte. Aber sie war geschminkt, kräftig sogar. Wann hatte sie dafür Zeit? Oder schlief sie mit der Schminke im Gesicht?
»Möchtest du Kaffee?«
»Ja, danke.«
Linda glaubte, ihr Vater würde erzählen. Aber als sie mit dem Kaffee hereinkam und ihn auf den Tisch neben Ann-Britts Stuhl stellte, nickte er ihr zu.
»Es ist besser, wenn es aus dem Mund des Propheten kommt. Jedes Detail. Frau Höglund ist eine gute Zuhörerin.«
Linda ging die Geschichte von allen Seiten an und entfaltete sie so, wie sie sich daran erinnerte, außerdem in der richtigen Ordnung, sie zeigte das Tagebuch und die Seite mit Birgitta Medbergs Namen. Ihr Vater mischte sich erst ein, als der blaue Schmetterling zur Sprache kam. Da übernahm er, da wurde ihre Erzählung in etwas verwandelt, was vielleicht die Einleitung einer Verbrechensermittlung war. Er stand vom Sofa auf und klopfte an die Tapete, wo das Bild gehangen hatte.
»Hier kommt es zusammen«, sagte er. »Zwei Punkte, nein, drei. Zuerst steht Birgitta Medbergs Name in Annas Tagebuch. Mindestens ein Brief wurde geschrieben. Doch der Brief ist nicht auffindbar. Außerdem spielen in beider Leben Schmetterlinge eine Rolle. Was das bedeutet, wissen wir auch nicht. Und dann das Wichtigste. Beide sind verschwunden.«
»Komisch, das Ganze«, sagte Ann-Britt Höglund. »Wer kennt Anna am besten?«
»Ich weiß nicht.«
»Hat sie keinen Freund?«
»Im Moment nicht.«
»Aber gehabt?«
»Das hat doch wohl jeder. Ich würde tippen, ihre Mutter.«
Ann-Britt Höglund gähnte und raufte sich das Haar. »Was bedeutet das mit ihrem Vater, den sie gesehen zu haben glaubt? Warum ist er verschwunden? Hatte er was angestellt?«
»Annas Mutter meint, er sei geflohen.«
»Wovor?«
»Vor der Verantwortung.«
»Aber jetzt kommt er zurück? Und dann verschwindet sie? Und Birgitta Medberg wird ermordet?«
»Nein«, unterbrach Wallander. »Nicht ermordet. Das reicht nicht, das trifft nicht das, was geschehen ist. Sie ist geschlachtet worden. Abgeschlagene Hände, die zum Gebet gefaltet sind, der Kopf abgetrennt, der Rest des Körpers weg. Eine kleine Hütte wie in einem Märchen, ein lebensgefährliches Pfefferkuchenhaus am Fuß einer Schlucht im unberührten Wald von Rannesholm. Martinsson hat die Tademans aufgescheucht, alle beide. Der Börsenmakler war übrigens stark betrunken, obwohl er schlief, behauptete Martinsson. Interessant. Mit Anita Tademan, die Linda und ich getroffen haben, war laut Martinsson bedeutend leichter zu reden. Keine seltsamen Individuen sind in der Nähe des Schlosses oder auf den Straßen der Umgebung gesehen worden, keiner hat etwas von einer Hütte gewußt. Sie rief an und weckte einen Jäger, der viel in dem Wald ist. Er hatte nie eine Hütte gesehen, seltsamerweise auch keine Schlucht. Wer also auch immer der Mensch in der Hütte war, er wußte, wie man sich versteckt und unsichtbar hält. Aber sehr nahe bei anderen Menschen. Ich habe eine Ahnung, daß dies Letzte wichtig sein kann. Unsichtbar, aber in der Nähe.«
»Wovon?«
»Weiß nicht.«
»Wir müssen mit der Mutter anfangen«, sagte Ann-Britt Höglund. »Wollen wir sie jetzt wecken?«
»Das machen wir morgen früh«, antwortete Kurt Wallander, nachdem er einen Moment gezögert hatte. »Wir haben noch genug zu tun mit dem da draußen im Wald.«
Linda fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie wurde wütend. »Stell dir vor, es stößt Anna etwas zu, weil wir warten.«
»Stell dir vor, ihre Mutter vergißt etwas, weil wir sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen. Außerdem jagen wir ihr einen tödlichen Schrecken ein.«
Er stand auf. »Wir bleiben dabei. Geh du jetzt nach Hause und schlaf. Aber morgen früh gehst du mit zu ihrer Mutter.«
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Sie überließen sie sich selbst, zogen ihre Stiefel und Jacken an und verschwanden. Linda schaute ihnen durchs Fenster nach. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, er war immer noch böig und kam mal aus Osten, mal aus Süden. Sie wusch die Tassen ab und dachte, daß sie schlafen sollte. Aber wie sollte sie schlafen können? Anna fort, Henrietta, die log, Birgitta Medbergs Name im Tagebuch. Sie begann die Wohnung von neuem zu durchsuchen. Warum fand sie Birgitta Medbergs Brief nicht?
Diesmal grub sie tiefer, löste die Rückseiten von Bilderrahmen, zog Regale von den Wänden, um zu sehen, ob etwas dahintergerutscht war. Sie zog und wühlte, bis es plötzlich an der Tür klingelte. Es war nach ein Uhr. Wer klingelte da? Sie machte auf. Ein Mann mit dicken Brillengläsern, in einem braunen Morgenrock und mit verschlissenen rosa Pantoffeln an den Füßen stand vor ihr.
Er stellte sich als August Brogren vor. »Dieser schreckliche Lärm mitten in der Nacht, Fräulein Westin«, sagte er verärgert. »Ich muß Sie doch bitten, etwas leiser zu sein.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Linda. »Ab jetzt wird es still sein.«
August Brogren trat energisch einen Schritt näher. »Sie hören sich nicht an wie Fräulein Westin«, sagte er. »Sie sind nicht Fräulein Westin. Wer sind Sie?«
»Ihre Freundin.«
»Wenn man nicht mehr gut sieht, muß man lernen, Menschen an ihrer Stimme zu erkennen«, sagte August Brogren streng. »Fräulein Westin hat eine weiche Stimme, Ihre ist hart und rauh. Es ist wie der Unterschied von weichem Brot und Knäckebrot. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
August Brogren tastete sich zum Treppengeländer und schlurfte die Treppe hinunter. Linda lauschte in ihrem Innern nach Annas Stimme und verstand, was er mit seiner Beschreibung gemeint hatte. Sie schloß die Tür und machte sich fertig, um nach Hause zu gehen. Plötzlich war ihr nach Weinen zumute. Anna ist tot, dachte sie. Anna gibt es nicht mehr. Aber sie schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte sich das Leben so nicht vorstellen, ohne Anna. Sie legte den Wagenschlüssel auf den Küchentisch, schloß die Wohnung ab und ging durch die leere Stadt nach Hause. Dort legte sie sich aufs Bett und rollte sich in eine Wolldecke ein.
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Sie erwachte mit einem Ruck. Die Zeiger des Weckers funkelten im Dunkeln. Es war Viertel vor drei. Sie hatte nur gut eine Stunde geschlafen. Wovon war sie wach geworden? Sie stand auf und ging ins andere Schlafzimmer. Das Bett war leer. Dann setzte sie sich ins Wohnzimmer. Warum war sie wach geworden? Sie hatte etwas geträumt, eine drohende Gefahr, etwas, was sich im Dunkeln näherte, von oben, ein unsichtbarer Vogel auf lautlosen Flügeln, der auf ihren Kopf herunterschoß. Ein Schnabel, scharf wie eine Rasierklinge. Der Vogel hatte sie geweckt.
Obwohl sie nur so kurz geschlafen hatte, fühlte sie sich klar im Kopf. Sie fragte sich, was draußen im Wald passierte, sah die Scheinwerfer vor sich, Menschen, die sich in der Schlucht hin und her bewegten, Insekten, die um die Lichtflecken schwärmten und ihre Flügel verbrannten. Sie hatte das Gefühl, aufgewacht zu sein, weil sie keine Zeit hatte zu schlafen. Hatte Anna nach ihr gerufen? Sie horchte. Die Stimme war fort. Vielleicht war sie in dem Traum mit dem Vogel gewesen? Vielleicht war der Vogel durch die Luft gesunken, lautlos, mit immer größerer Geschwindigkeit auf einen Kopf zu, der nicht ihrer war, sondern Annas? Sie schaute zur Uhr. Drei vor drei. Anna hat gerufen, dachte sie wieder. Und entschied sich im selben Augenblick. Sie zog ihre Schuhe an, nahm ihre Jacke und verließ das Haus.
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Die Wagenschlüssel lagen auf dem Tisch, wo sie sie hingelegt hatte. Um in Zukunft nicht jedesmal die Tür mit dem Dietrich öffnen zu müssen, nahm sie ein Reserveschlüsselpaar aus einer Schublade im Flur mit. Sie nahm den Wagen und verließ die Stadt. Es war inzwischen zwanzig nach drei. Sie fuhr in nördlicher Richtung und parkte auf einem Feldweg, der in einer Senke verlief und von Henriettas Haus aus nicht zu sehen war. Sie stieg aus, horchte und drückte vorsichtig die Wagentür zu. Die Nacht war kalt. Sie zog die Jacke enger um sich und ärgerte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Sie ging ein paar Schritte vom Auto weg und blickte um sich. Alles war dunkel, in einiger Entfernung war der Himmel heller vom Widerschein der Lichter von Ystad. Es war bewölkt, der Wind weiter böig.
Sie ging den Feldweg entlang, vorsichtig, um nicht zu stolpern. Was sie tun wollte, wußte sie nicht. Aber Anna hatte gerufen. Man ließ eine Freundin, die nach einem rief, nicht im Stich. Sie blieb stehen und horchte. Irgendwo schrie ein Nachtvogel. Sie ging weiter, bis sie zu einem Pfad kam, der zur Rückseite von Henriettas Haus führte. Sie sah drei erleuchtete Fenster. Das Wohnzimmer, dachte sie. Henrietta kann wach sein. Aber vielleicht schläft sie auch und hat das Licht angelassen.
Linda verzog das Gesicht beim Gedanken an ihre eigene Angst im Dunkeln. In den Jahren bevor ihre Eltern sich scheiden ließen und sich nachts häufig stritten, hatte sie nicht in dunklen Räumen schlafen können. Eine brennende Lampe war wie eine Beschwörung. Sie brauchte viele Jahre, um ihre Angst im Dunkeln zu überwinden. Manchmal, wenn sie sich Sorgen machte, konnte die alte Angst jedoch zurückkommen.
Sie ging auf das Licht zu, machte einen Bogen um eine verrostete Egge und näherte sich dem Garten. Sie blieb wieder stehen und lauschte. War Henrietta wach und komponierte? Sie ging bis zum Zaun und kletterte hinüber. Der Hund, fiel ihr ein. Henriettas Hund. Was mache ich, wenn er anschlägt? Warum bin ich überhaupt hier draußen in der Dunkelheit? In ein paar Stunden kommen Vater und vielleicht Ann-Britt Höglund und ich sowieso her. Was glaube ich, auf eigene Faust entdecken zu können? Aber darum ging es gar nicht. Es war das andere, daß sie aus einem Alptraum erwacht war, der ihr eigentlich die Botschaft übermittelt hatte, daß Anna nach ihr gerufen hatte.
Vorsichtig ging sie bis zur Hauswand und zu den erleuchteten Fenstern. Sie erstarrte. Hörte Stimmen. Zuerst konnte sie nicht entscheiden, woher sie kamen. Dann sah sie, daß eins der Fenster nur angelehnt war. Annas Stimme war weich, hatte der Mann im Treppenhaus gesagt. Aber es war nicht Annas Stimme, sondern Henriettas. Henrietta und ein Mann. Linda lauschte, versuchte, die unsichtbaren Antennen ihrer Ohren auszufahren. Sie trat noch näher heran und konnte durchs Fenster nach drinnen sehen. Henrietta saß mit halb abgewandtem Gesicht auf einem Stuhl. Auf dem Sofa, mit dem Rücken zum Fenster, saß ein Mann. Linda ging näher heran. Was der Mann sagte, konnte sie nicht verstehen. Henrietta sprach von einer Komposition, etwas von zwölf Geigen und einem einsamen Cello, ein letztes Abendmahl, die apostolische Musik. Linda begriff nicht, was Henrietta meinte. Sie versuchte, ganz leise zu sein. Irgendwo da drinnen war der Hund. Sie versuchte zu verstehen, mit wem Henrietta sprach. Warum mitten in der Nacht?
Plötzlich, langsam, wandte Henrietta den Blick zu dem Fenster, vor dem Linda stand und hineinschaute. Sie schrak zusammen. Henrietta sah ihr direkt in die Augen. Sie kann mich nicht gesehen haben, dachte Linda. Das ist unmöglich. Aber etwas an dem Blick machte ihr angst. Sie drehte sich um und lief davon, trat aber dabei auf die Steineinfassung einer Wasserpumpe. Es schepperte im eisernen Fundament der Pumpe. Der Hund begann zu bellen.
Linda lief den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Sie stolperte und fiel, schrammte sich das Gesicht auf und stolperte weiter. In dem Moment, in dem sie sich über den Zaun warf und den Pfad hinunterlief, der zu ihrem Wagen führte, hörte sie, wie weit hinter ihr auf der Rückseite des Hauses eine Tür geöffnet wurde. Aber irgendwo kam sie vom Pfad ab. Plötzlich wußte sie nicht mehr, wo sie war. Sie blieb stehen, rang keuchend nach Atem, horchte. Henrietta hatte den Hund nicht losgelassen. Dann hätte er sie schon gefunden. Sie horchte ins Dunkel hinaus. Es war niemand da. Aber sie hatte solche Angst, daß es sie am ganzen Körper schüttelte. Stück für Stück suchte sie den Weg zurück zu der Stelle, an der der Pfad zu dem Feldweg und ihrem Wagen hin abbog. Aber sie ging wieder falsch, weil sie sich im Dunkeln fürchtete und Schatten sich in Bäume und Bäume sich in Schatten verwandelten. Sie stolperte erneut und fiel.
Als sie wieder hochkam, fuhr ein heftiger Schmerz in ihr linkes Bein. Als ob ein Messer tief ins Fleisch schnitte. Sie schrie auf und versuchte, sich von dem Schmerz loszureißen. Doch sie konnte das Bein nicht bewegen. Es fühlte sich an, als habe ein Raubtier seine Zähne in ihr Bein geschlagen. Aber das Tier atmete nicht, machte keine Geräusche. Sie tastete mit der Hand am Bein hinab. Stieß an etwas Kaltes, Eisen, und eine Kette. Da verstand sie. Eine Falle war um ihr Bein zugeschnappt.
Ihre Hand wurde naß vom Blut. Sie rief um Hilfe. Aber niemand hörte sie, niemand kam.
19
Einmal hatte sie davon geträumt, daß sie sterben müßte, allein in einer kalten Winternacht.
Sie war im Mondschein auf einem einsam gelegenen Waldsee Schlittschuh gelaufen. Plötzlich stürzte sie und brach sich ein Bein. Sie rief, aber niemand hörte sie. Sie war dabei, dort auf dem Eis zu erfrieren, und gerade als ihr Herz aufhörte zu schlagen, fuhr sie mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch.
An diesen Traum dachte sie, während sie versuchte, sich von der Falle zu befreien, die um ihren Unterschenkel zugeschnappt war. Zuerst wollte sie ihren Vater nicht anrufen und um Hilfe bitten. Aber die eiserne Kralle gab nicht nach. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief ihn an. Sie erklärte, wo sie sich befand, und daß sie Hilfe brauchte.
»Was ist denn passiert?«
»Ich bin in eine Art Falle getreten.«
»Was meinst du damit?«
»Daß ich eine Art Eisenkralle ums Bein habe.«
»Ich komme.«
Linda wartete. Sie begann zu frieren, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie die Wagenlichter sah. Sie hielten beim Haus. Linda rief. Die Tür wurde geöffnet. Der Hund bellte. Sie kamen durch die Dunkelheit. Eine Taschenlampe leuchtete. Es waren ihr Vater, Henrietta und der Hund. Es befand sich noch eine weitere Person in der Gruppe, aber sie blieb im Hintergrund, im Schatten.
»Du bist in eine alte Fuchsfalle getreten. Wer hat die ausgelegt?«
»Ich nicht«, sagte Henrietta. »Es muß der Grundbesitzer gewesen sein.«
»Mit dem werden wir ein Wörtchen zu reden haben.« Ihr Vater bog die Eisenklammer auseinander.
»Am besten bringen wir dich ins Krankenhaus«, sagte er.
Linda trat probeweise mit dem Fuß auf. Es tat weh, aber sie konnte ihn belasten. Der Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat vor.
»Ein neuer Kollege, den du noch nicht kennst«, sagte ihr Vater. »Stefan Lindman. Er hat vor ein paar Wochen bei uns angefangen.«
Linda sah ihn an. Sie mochte sein Gesicht, das vom Schein der Taschenlampe beleuchtet wurde, sofort.
»Was hast du hier gemacht?« fragte Henrietta.
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte Stefan Lindman.
Er sprach Dialekt. Woher kam er? Konnte es värmländisch sein? Als sie im Wagen saßen und Richtung Ystad fuhren, fragte sie ihren Vater.
»Er kommt aus Västergötland«, sagte er. »Da reden sie so. Komische Sprache. Schwer, sich Respekt zu verschaffen, wenn man so spricht. Die aus Östergötland, Västergötland und aus Gotland haben es am schwersten. Am leichtesten, sich Respekt zu verschaffen, haben es anscheinend Norrbottninger. Wieso auch immer.«
»Und wie will er erklären, was ich da draußen gemacht habe?«
»Irgendwas läßt er sich schon einfallen. Aber vielleicht kannst du mir erklären, was du da draußen zu tun hattest?«
»Ich habe von Anna geträumt.«
»Was hast du geträumt?«
»Sie rief nach mir. Ich wurde wach. Und fuhr zu Henriettas Haus. Ich wußte nicht, was ich dort sollte. Ich sah Henrietta im Haus. Und einen Mann. Dann sah sie mich an, und ich bin weggelaufen, und dann bin ich in diese Falle getreten.«
»Jetzt weiß ich jedenfalls, daß du nicht mitten in der Nacht in privater Mission unterwegs bist«, sagte er.
»Begreifst du nicht, daß es ernst ist?« schrie sie. »Daß Anna wirklich verschwunden ist?«
»Ich nehme dich ernst. Ich nehme es ernst, daß sie verschwunden ist. Ich nehme mein Leben ernst, und ich nehme deins ernst. Der Schmetterling hat den Ausschlag gegeben.«
»Was tut ihr denn?«
»Alles, was getan werden muß. Wir drehen jeden Stein um, sind auf der Jagd nach Auskünften und Informationen. Ein abwartendes Treiben wird zu einem kleinen Treiben, das zum großen Treiben führt. Wir tun alles, was wir tun müssen. Und jetzt kein Wort mehr davon, bevor wir dein Bein im Krankenhaus vorgeführt haben.«
Es dauerte eine Stunde, das Bein zu versorgen und zu verbinden. Als sie losfahren wollten, kam Stefan Lindman. Linda sah jetzt, daß er kurzgeschnittene Haare und blaue Augen hatte.
»Ich habe ihr erzählt, daß du im Dunkeln ganz schlecht siehst«, sagte er heiter. »Das mußte reichen als Erklärung dafür, daß du dort in der Nacht umhergeirrt bist.«
»Ich habe einen Mann im Haus gesehen«, sagte Linda.
»Henrietta Westin erzählte, sie habe Besuch von einem Mann gehabt, der mit ihr über die Vertonung eines Versdramas verhandeln wollte. Es klang vollkommen glaubwürdig.«
Linda zog die Jacke an. Sie bereute, ihren Vater angeschrien zu haben. Es war ein Zeichen von Schwäche. Nie schreien, immer die Kontrolle behalten. Aber sie hatte sich dumm benommen, jetzt mußte sie die Aufmerksamkeit auf die Dummheiten anderer lenken. Dennoch war ihre Erleichterung am wichtigsten. Annas Verschwinden war jetzt wirklich, nicht mehr etwas, was sie sich einbildete. Ein blauer Schmetterling hatte den Ausschlag gegeben. Der Preis war ein bohrender Schmerz im Bein.
»Stefan fährt dich nach Hause. Ich muß fort.«
Linda ging in eine Toilette und kämmte sich. Stefan Lindman wartete im Flur. Er trug eine schwarze Lederjacke und war auf der einen Backe schlecht rasiert. Das gefiel ihr nicht, schlechtrasierte Männer waren mit das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Sie zog es vor, auf seiner gutrasierten Seite zu gehen.
»Wie fühlst du dich?«
»Was glaubst du?«
»Du hast Schmerzen, nehme ich an. Ich weiß, wie das ist.«
»Was?«
»Schmerzen.«
»Bist du schon mal in eine Bärenfalle getreten?«
»Es war eine Fuchsfalle. Aber ich bin noch nie in eine getreten.«
»Dann weißt du auch nicht, wie es sich anfühlt.«
Er hielt ihr die Tür auf. Sie war immer noch irritiert. Die unrasierte Seite hatte sie gestört. Ihr Gespräch endete. Stefan Lindman war offenbar ein Mensch, der keine unnötigen Worte machte. Es war wie an der Polizeihochschule, dachte Linda. Es gab einen redenden Volksstamm und einen stummen Volksstamm, es gab solche, die über alles lachten, und es gab andere, die alles in ihrem großen Schweigen versinken ließen. Die meisten waren Mitglieder der größten Familie, des redenden und lärmenden Volksstamms, der die Kunst, die Klappe zu halten, nicht beherrschte.
Sie kamen an der Rückseite des Krankenhauses heraus. Er zeigte auf einen rostigen Ford. Als er die Wagentür aufschloß, trat der Fahrer eines Krankenwagens auf ihn zu und fragte, was ihm einfiele, mit seinem Wagen den Eingang der Unfallambulanz zu blockieren.
»Ich hole eine verletzte Polizistin ab«, sagte Stefan und zeigte auf Linda.
Der Krankenwagenfahrer nickte und ging. Linda fühlte, wie die unsichtbare Uniform ihr wieder paßte. Sie manövrierte sich auf den Beifahrersitz.
»Mariagatan«, hat dein Vater gesagt. »Wo liegt die?«
Linda erklärte es. Im Wagen roch es kräftig nach Farbe.
»Ich bin dabei, draußen in Knickarp ein Haus zu renovieren«, sagte Stefan Lindman.
Sie bogen in die Mariagata ein. Linda zeigte auf die Tür. Er stieg aus und öffnete ihr.
»Bis bald«, sagte er. »Ich habe Krebs gehabt. Ich weiß, was es heißt, Schmerzen zu haben. Ob man nun einen Tumor hat oder eine Eisenkralle ums Bein.«
Linda sah ihm nach, als er wegfuhr. Ihr kam in den Sinn, daß sie nicht einmal nach seinem Nachnamen gefragt hatte.
Als sie in die Wohnung kam, spürte sie die Müdigkeit. Als sie sich aufs Sofa im Wohnzimmer legen wollte, klingelte das Telefon. Es war ihr Vater. »Ich habe gehört, daß du jetzt zu Hause bist.«
»Wie heißt der Mann, der mich nach Hause gefahren hat?«
»Stefan.«
»Hat er keinen Nachnamen?«
»Lindman. Er kommt aus Borås, glaube ich. Oder war es Skövde? Ruh dich jetzt aus.«
»Ich will wissen, was Henrietta gesagt hat. Ich nehme an, du hast mit ihr gesprochen.«
»Ich habe jetzt keine Zeit.«
»So viel Zeit mußt du haben. Nur das Wichtigste.«
»Warte einen Moment.«
Seine Stimme verschwand. Linda ahnte, daß er im Präsidium war, aber auf dem Weg nach draußen. Türen schlugen, Telefonklingeln mischte sich mit dem Geräusch startender Autos.
Er kam wieder, seine Stimme war gepreßt. »Bist du noch da?«
»Ja, ich bin noch da.«
»Ganz kurz. Manchmal wünschte ich, es gäbe eine Art Stenographie für Stimmen. Henrietta sagte, sie wüßte nicht, wo Anna sei. Sie hatte nichts von ihr gehört, nichts deutete darauf hin, daß sie deprimiert war. Anna hatte nichts von ihrem Vater gesagt, aber Henrietta besteht darauf, es sei immer wieder vorgekommen, daß ihre Tochter meinte, ihn auf der Straße gesehen zu haben. Da steht Aussage gegen Aussage. Sie konnte uns keine Hinweise geben. Sie wußte auch nichts von Birgitta Medberg. Es hat also nicht viel gebracht.«
»Hast du gemerkt, daß sie log?«
»Wie kommst du darauf?«
»Du sagst doch immer, daß du Menschen nur anzuhauchen brauchst, um zu merken, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen.«
»Ich glaube nicht, daß sie die Unwahrheit gesagt hat.«
»Sie lügt.«
»Ich kann jetzt nicht weiterreden. Aber Stefan, der dich nach Hause gefahren hat, konzentriert sich darauf, eine Verbindung zwischen Birgitta Medberg und Anna zu finden. Wir haben auch eine Suchmeldung nach ihr herausgegeben. Mehr können wir nicht tun.«
»Und wie geht es draußen im Wald?«
»Langsam. Da finden wir jetzt nichts mehr.«
Das Gespräch war zu Ende. Linda, die nicht allein sein wollte, rief Zebra an. Sie hatte Glück. Zebras Sohn war bei ihrer Kusine Titchka, und Zebra selbst saß zu Hause und langweilte sich. Sie versprach, sofort zu kommen.
»Bring von unterwegs was zu essen mit«, sagte Linda. »Ich habe Hunger. Aus dem Chinarestaurant am Torg. Es ist ein Umweg für dich, aber ich verspreche dir, daß ich es auch für dich tue, wenn du einmal in eine Tierfalle getreten bist.«
Nachdem sie gegessen hatten, erzählte Linda, was passiert war. Zebra hatte im Radio von dem makabren Leichenfund gehört. Aber es fiel ihr trotzdem schwer, Lindas Befürchtung, Anna könne etwas zugestoßen sein, zu teilen.
»Wenn ich ein mieser Typ wäre und eine Frau überfallen wollte, würde ich mich vor Anna in acht nehmen. Weißt du nicht, daß sie einen Kurs in einer Kampfsportart gemacht hat? Ich weiß nicht, wie es heißt. Aber ich glaube, daß alles erlaubt ist. Außer vielleicht, Menschen zu töten. Keiner wagt sich ungestraft an Anna heran.«
Linda bereute es, Zebra gegenüber von Anna angefangen zu haben. Zebra blieb noch eine Stunde, bevor es Zeit wurde daß sie ihren Sohn abholte.
___________
Linda war wieder allein. Der Schmerz im Bein ließ allmählich nach. Sie humpelte ins Schlafzimmer. Das Fenster war angelehnt, die Gardine bewegte sich langsam. Sie versuchte, alles, was geschehen war, zu überdenken, besonders um zu verstehen, warum sie sich mitten in der Nacht hinaus zu Henriettas Haus begeben hatte. Aber sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln, die Müdigkeit machte sie schwerfällig.
Sie schreckte aus dem Schlaf hoch, als es an der Tür klingelte. Zuerst wollte sie es ignorieren, doch dann änderte sie ihre Meinung und humpelte in den Flur.
Es war Stefan Lindman, der neue Kollege ihres Vaters. »Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.«
»Ich habe nicht geschlafen.«
Dann erblickte sie sich im Flurspiegel. Ihre Haare standen wirr nach allen Seiten ab.
»Doch«, sagte sie, »ich habe geschlafen. Warum sollte ich etwas anderes behaupten? Mir tut das Bein weh.«
»Ich brauche deine Schlüssel für Anna Westins Wohnung«, sagte er. »Du hast deinem Vater gesagt, du hättest einen Reserveschlüssel.«
»Dann komme ich mit.«
Er schien erstaunt zu sein über ihre Reaktion. »Ich dachte, dir tut das Bein weh?«
»Das tut es auch. Was willst du denn in der Wohnung?«
»Ich versuche, mir ein Bild zu machen.«
»Wenn es ein Bild von Anna sein soll, bin ich es, mit der du sprechen solltest.«
»Ich gehe lieber erst allein ein wenig herum. Danach können wir uns unterhalten.«
Linda zeigte auf die Schlüssel, die auf dem Tisch im Flur lagen. Den Schlüsselring zierte das Bild eines ägyptischen Pharaos.
»Woher kommst du?« fragte sie.
»Aus Kinna.«
»Mein Vater meinte, Skövde oder Borås.«
»Ich habe in Borås gearbeitet. Aber ich fand, es war Zeit für einen Wechsel.«
»Was hast du damit gemeint, als du von Krebs geredet hast?«
»Ich hatte Krebs. An der Zunge, ausgerechnet. Die Prognose war ziemlich schlecht. Aber ich habe überlebt und bin jetzt geheilt.«
Zum erstenmal sah er ihr in die Augen. »Wie du siehst, habe ich meine Zunge noch. Sonst könnte ich nicht mit dir reden. Mit den Haaren ist es schlimmer.«
Er tippte sich mit einem Finger in den Nacken.
»Da ist es ausgefallen.«
Er lief die Treppe hinunter. Linda ging wieder ins Bett.
Krebs an der Zunge. Es schauderte sie bei dem Gedanken. Ihre Angst vor dem Tod kam und ging. Gerade im Moment war ihr Lebensgefühl sehr stark. Doch sie hatte nie vergessen, was sie auf dem Brückengeländer gedacht hatte, als sie dicht davor war, in den Tod zu springen. Das Leben kam nicht von allein. Es gab schwarze Löcher, in die man fallen konnte. Und auf deren Grund waren spitze Stäbe, und man wurde durchbohrt wie in einer von einem Ungeheuer konstruierten Falle.
Sie rollte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Im Moment ertrug sie keine schwarzen Löcher. Dann fuhr sie aus dem Halbschlaf hoch. Es war etwas mit Stefan Lindman. Sie setzte sich im Bett auf. Jetzt wußte sie, welcher Gedanke sie verfolgt hatte. Sie ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Besetzt. Beim dritten Versuch meldete sich ihr Vater.
»Ich bin es.«
»Wie geht es dir?«
»Besser. Ich wollte dich etwas fragen. Dieser Mann, der heute nacht bei Henrietta war. Hat sie etwas darüber gesagt, wie er aussah?«
»Warum hätte ich danach fragen sollen? Sie sagte nur seinen Namen. Ich habe seine Adresse notiert. Wieso?«
»Tu mir einen Gefallen. Ruf sie an und frag sie nach seiner Haarfarbe.«
»Und warum?«
»Weil es das einzige ist, was ich gesehen habe.«
»Gut, mach ich. Aber eigentlich habe ich keine Zeit. Wir werden weggeregnet hier draußen.«
»Rufst du mich zurück?«
»Wenn ich sie erreiche.«
Nach neunzehn Minuten rief er zurück. »Peter Stigström, der möchte, daß Henrietta Westin seine Verse über die schwedischen Jahreszeiten vertont, hat schulterlanges dunkles Haar mit grauen Strähnen hier und da. Reicht das?«
»Das reicht voll und ganz.«
»Erklärst du es mir jetzt oder wenn ich nach Hause komme?«
»Das hängt davon ab, wann du kommst.«
»Ziemlich bald. Ich muß mir trockene Sachen anziehen.«
»Möchtest du etwas essen?«
»Wir haben hier draußen im Wald Essen bekommen. Es gibt da ein paar pfiffige Kosovoalbaner, die an Tatorten und bei Bränden Imbißzelte aufschlagen. Wie sie herausbekommen, wo wir sind, weiß ich nicht. Vermutlich jemand von der Polizei, der ihnen Tips gibt und ein paar Prozent vom Umsatz dafür einstreicht. Ich bin in einer Stunde da.«
___________
Das Gespräch war vorüber. Linda blieb mit dem Telefon in der Hand sitzen. Der Mann, den sie durchs Fenster gesehen hatte, der ihr zugewandte Hinterkopf, war nicht von dunklem Haar mit grauen Strähnen bedeckt gewesen. Der Nacken, den sie gesehen hatte, war kurz geschnitten.
20
Kurt Wallander betrat die Wohnung. Er war klatschnaß, seine Stiefel waren lehmverschmiert, doch er kam mit großen Neuigkeiten. Nyberg hatte beim Tower der Flugüberwachung in Sturup angerufen und dort erfahren, daß es aufklaren und für die nächsten achtundvierzig Stunden niederschlagsfrei sein würde. Wallander zog sich um, lehnte Lindas Fürsorge ab und machte sich selbst in der Küche ein Omelett.
Sie wartete auf den richtigen Augenblick, um von den zwei Nacken zu sprechen, die nicht übereinstimmten. Sie verstand nicht, warum sie wartete. War es noch ein Rest der alten Angst vor der Launenhaftigkeit des Vaters? Sie wußte es nicht, sie wartete einfach. Und dann, als er den Teller von sich schob und sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ, war er es, der das Wort ergriff. »Ich habe über diese Sache mit meinem Vater nachgedacht«, sagte er unerwartet.
»Welche Sache?«
»Wie er war. Und wie er nicht war. Ich glaube, du und ich, wir kannten ihn jeder auf unsere Weise. So mußte es ja auch sein. Ich suchte die ganze Zeit nach mir selbst in ihm, vor allem in Sorge darum, was ich finden würde. Ich glaube auch, daß ich ihm immer ähnlicher geworden bin, je älter ich wurde. Wenn ich so lange lebe wie er, setze ich mich vielleicht eines Tages auch in einen undichten Schuppen und fange an, Bilder mit Auerhähnen und Sonnenuntergängen zu malen.«
»Das tust du nie.«
»Da solltest du nicht zu sicher sein. Aber da draußen in der blutbespritzten Hütte habe ich angefangen nachzudenken. Ich dachte an Vater und etwas, was er immer wieder erzählt hat, von einer Kränkung, die ihm in jungen Jahren widerfahren war. Ich versuchte ihm zu sagen, daß es sinnlos sei, herumzulaufen und eine Kränkung wiederzukäuen, die ein Menschenalter zurücklag, ein kleiner unbedeutender Vorfall vor über fünfzig Jahren. Aber er weigerte sich, mir zuzuhören. Weißt du, wovon ich spreche?«
»Nein.«
»Ein umgekipptes Glas, das zu einer lebenslangen Anklage wegen der Ungerechtigkeit des Lebens wurde. Hat er dir nie davon erzählt?«
»Nein.«
Er holte ein Glas Wasser und trank es, als wollte er sich Kraft holen zum Erzählen.
»Vater war ja einmal jung, auch wenn es einem schwerfiel, das zu glauben. Jung und ledig und ein Wilder, der die Welt sehen wollte. Er wurde auf Vikbolandet in der Nähe von Norrköping geboren. Sein Vater schlug ihn ständig, er war Stallknecht bei einem Grafen Sigenstam, und vermutlich war er ein religiöser Grübler, denn er versuchte meinem Vater die Sünde aus dem Leib zu prügeln, mit einem Lederriemen, den er aus einem alten Pferdezaumzeug herausgeschnitten hatte. Meine Großmutter, die ich nie kennengelernt habe, war eine verschüchterte Frau, die nie etwas anderes tat, als die Hände vors Gesicht zu schlagen. Du hast die Fotografie von Großvater und Großmutter gesehen, die drinnen im Regal steht. Sieh dir meine Großmutter an. Sie macht den Eindruck, als versuche sie, aus dem Bild zu verschwinden. Es ist nicht das Foto, das verblaßt. Es ist sie, die versucht, sich selbst verblassen zu lassen. Mit vierzehn lief Vater von zu Hause weg und ging zur See, arbeitete zuerst auf Roslagsbooten und später auf größeren Schiffen. Und auf einer dieser Fahrten, im Alter von zwanzig Jahren, ging er einmal an Land, als sie in Bristol lagen.
Zu jener Zeit soff er, das versäumte er nie zu erwähnen.
Mein Vater war einer, der soff, es war irgendwie schicker, als nur dazusitzen und Bier zu trinken. Die, die soffen, hatten einen anderen Rausch. Sie torkelten nicht auf den Straßen umher und gerieten in Schlägereien. Es war eine Art Seemannsaristokratie, die mit Sinn und Verstand und mit Maß soff. Es gelang ihm nie, mir das zu erklären. Wenn er und ich zusammensaßen und becherten, fand ich, daß er genauso betrunken wurde wie alle anderen auch. Rot im Gesicht, lallend, ein bißchen böse oder sentimental, meistens aber alles zusammen in einer wilden Mischung. Ich muß zugeben, daß mir das fehlt, all die Male, die wir in seiner Küche saßen und uns einen antranken und er anfing, alte italienische Schlager zu grölen, die er über alles liebte. Wenn man den Alten ›Volare‹ hat grölen hören, dann hat man etwas gehört, was man nie vergißt, das kann ich dir sagen. Wenn es einen Himmel gibt, sitzt er auf einer Wolke und schmeißt Apfelgriepsche auf den Petersdom und brüllt ›Volare‹.
Mein Vater saß also in einem Pub im Hafen von Bristol, und jemand am Tresen stieß an sein Glas, so daß es umkippte. Und dieser Jemand bat nicht um Entschuldigung. Er schaute nur auf das umgefallene Glas und bot Vater an, ein neues zu bestellen. Darüber kam mein Vater nie hinweg. In Augenblicken, in denen man es am wenigsten erwartete, konnte er anfangen, von diesem Glas und der ausgebliebenen Entschuldigung zu schwafeln. Einmal, als er und ich auf dem Finanzamt waren, um irgendwelchen Papierkram zu erledigen, fing er plötzlich an, dem Beamten von dem Glas zu erzählen, und der fragte sich natürlich, ob mein Alter verrückt geworden wäre. Er konnte eine ganze Schlange in einem Lebensmittelgeschäft aufhalten, wenn es ihm in den Sinn kam, die junge Kassiererin müßte von der fünfzig Jahre zurückliegenden Kränkung erfahren. Es war, als verliefe bei diesem Glas eine Zäsur. Das Leben vor der ausgebliebenen Entschuldigung und das Leben danach. Wie zwei verschiedene Epochen. Als habe mein Vater den Glauben an das Gute im Menschen verloren, als ein Unbekannter sein Glas umwarf und sich nicht entschuldigte. Diese ausgebliebene Entschuldigung schien eine viel stärkere Kränkung zu sein als all die Prügel, bei denen sein Vater ihn mit dem Lederriemen blutig schlug. Ich wollte ihn ein paarmal dazu bringen, doch zu erklären, vielleicht weniger mir als sich selbst, wieso das umgeworfene Glas und die ausgebliebene Entschuldigung zum großen Dämon seines Lebens werden konnte.
Er erzählte manchmal, daß er nachts schweißgebadet aufwachte und dort an der Theke gestanden und keine Entschuldigung bekommen hatte. Das war der Dreh- und Angelpunkt in der Welt, die heilige Schraube, die alles zusammenhielt. In gewisser Weise glaube ich, daß dieser Vorfall ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er dann geworden ist. Ein Mann, der in einem Schuppen saß und immer und immer wieder das gleiche Bild malte. Er wollte nicht mehr als nötig mit einer Welt zu tun haben, in der Menschen sich nicht entschuldigten, wenn sie ein Glas umgeworfen hatten.
Sogar auf unserer Italienreise fing er davon an. Wir hatten einen traumhaften Abend in einem Restaurant in der Nähe von Villa Borghese. Wunderbares Essen, guter Wein, der Alte leicht beschwipst und sentimental, schöne Frauen an den anderen Tischen, der Alte spreizte sich richtig ein bißchen vor ihnen, mußte sogar eine Zigarre rauchen, und mitten in dem Ganzen verdunkelte sich plötzlich seine Miene, und er fing an, davon zu erzählen, wie ihm damals in Bristol der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich versuchte, ihn von dem Thema abzubringen, aber er ließ nicht locker. Ein umgeworfenes Glas und eine ausgebliebene Entschuldigung. Daran mußte ich heute abend denken, mir ist, als wäre ich der Träger von Vaters Geschichte geworden, als hätte er sie an mich weitergegeben, als Teil eines Erbes, das ich ganz und gar nicht haben möchte.«
Er verstummte und füllte sein Wasserglas nach. »So war mein Vater«, sagte er. »Aber für dich war er bestimmt ein anderer.«
»Alle sind für alle anders«, sagte Linda.
Er schob das Glas von sich und sah sie an. Seine Augen waren jetzt weniger müde. Die Geschichte von dem umgeworfenen Glas hatte ihm neue Energie gegeben. Eigentlich geht es darum, dachte Linda. Kränkungen können quälend sein. Aber sie können auch Kraft geben.
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Sie erzählte von den Nacken, die nicht übereinstimmten. Er hörte aufmerksam zu. Als sie geendet hatte, fragte er nicht, ob sie auch sicher sei mit dem, was sie durch das Fenster gesehen habe. Er merkte von Anfang an, daß sie überzeugt war. Er streckte sich nach dem Telefon und wählte eine Nummer, zuerst die falsche, dann die richtige, und bekam Stefan Lindman an den Apparat. Linda hörte, wie er kurz wiedergab, was sie gesagt hatte. Und was die Konsequenz daraus war: daß sie einen weiteren Besuch bei Henrietta Westin machen mußten.
»Wir haben keine Zeit für Lügen«, sagte er zum Abschluß des Gesprächs, »weder für Lügen noch für Halbwahrheiten oder Ausweichmanöver wie Erinnerungslücken.«
Er legte auf und sah sie an. »Eigentlich ist es nicht richtig«, sagte er. »Nicht einmal notwendig. Aber ich möchte dich bitten, mich zu begleiten. Wenn du kannst.«
Linda wurde froh. »Ich kann.«
»Und dein Bein?«
»Es geht schon besser.«
Sie sah, daß er ihr nicht glaubte. »Weiß Henrietta, warum ich mitten in der Nacht da draußen war? Was Stefan ihr erzählt hat, kann sie ja kaum klüger gemacht haben.«
»Wir wollen nur wissen, wer eigentlich da war. Wir können sagen, daß wir einen Zeugen haben, aber wir erwähnen dich nicht.«
Sie gingen auf die Straße hinunter und warteten. Die Flugüberwachung hatte recht gehabt. Das Wetter war schon umgeschlagen. Der Regen war trockenen Winden aus südlichen Richtungen gewichen.
»Wann kommt der Schnee?« fragte Linda.
Er sah sie amüsiert an. »Bestimmt nicht morgen. Wieso fragst du?«
»Weil ich mich nicht erinnern kann. Ich habe den größten Teil meines Lebens hier in Ystad verbracht. Aber ich kann mich fast gar nicht an Schnee erinnern.«
»Der kommt, wenn er kommt.«
Stefan Lindman bremste vor ihnen. Sie stiegen ein, Linda setzte sich nach hinten. Kurt Wallander hatte Probleme, sich den Sicherheitsgurt anzulegen, der sich verheddert hatte.
Sie fuhren nach Malmö. Zu ihrer Linken sah Linda das Meer schimmern. Ich will hier nicht sterben, dachte sie. Der Gedanke kam völlig überraschend, wie aus dem Nichts. Ich will nicht nur hier leben. Nicht wie Zebra werden, eine alleinstehende Mutter unter tausend anderen, deren Leben ein einziges Gehetze ist, damit das Geld reicht und die Babysitter pünktlich kommen. Und ich will auch nicht wie Vater werden, der nie das richtige Haus findet, und nie den richtigen Hund und nie die richtige Frau.
»Was hast du gesagt?« fragte Kurt Wallander.
»Hab ich was gesagt?«
»Du hast vor dich hin gemurmelt. Es klang, als ob du fluchtest.«
»Davon hab ich nichts gemerkt.«
»Ich habe eine wunderliche Tochter«, sagte er zu Stefan Lindman. »Sie flucht, ohne es zu merken.«
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Sie bogen in den Seitenweg ein, der zu Henriettas Haus führte. Die Erinnerung an die Fuchsfalle ließ sofort die Schmerzen wiederkommen. Linda fragte, was mit dem Mann passieren würde, der die Fallen ausgebracht hatte.
»Er wurde ziemlich blaß, als er hörte, daß eine Polizeianwärterin hineingetreten war. Ich nehme an, er bekommt eine saftige Geldstrafe.«
»Ich habe einen guten Freund in Östersund«, sagte Stefan Lindman. »Kripo. Giuseppe Larsson.«
»Wo kommt er her?«
»Östersund. Aber er hatte anscheinend einen italienischen Schnulzensänger als Traumpapa.«
»Wie soll man sich das denn vorstellen?« fragte Linda und beugte sich zwischen die beiden Vordersitze. Sie verspürte plötzlich Lust, Stefans Gesicht zu berühren.
»Seine Mutter träumte davon, daß nicht sein Vater sein Vater wäre, sondern jemand, der im Folkpark aufgetreten war. Und der war Italiener. Nicht nur Männer haben ihre Traumfrauen.«
»Man kann sich fragen, ob Mona ähnliche Gedanken hatte«, meinte Kurt Wallander. »Aber dann wäre es wohl ein schwarzer Papa geworden, weil sie für Hosh White schwärmte.«
»Nicht Hosh«, sagte Stefan Lindman. »Josh.«
Linda überlegte zerstreut, was es bedeutet hätte, einen schwarzen Vater zu haben.
»Giuseppe hat eine alte Bärenfalle an der Wand hängen«, fuhr Stefan Lindman fort. »Sie sieht aus wie ein robustes Folterwerkzeug aus dem Mittelalter. Er sagt, wenn ein Mensch darin hängenbliebe, gingen die Eisenkrallen glatt durchs Bein. Bären oder Füchse, die darin hängenblieben, bissen sich manchmal die eigenen Beine ab, um freizukommen.«
Sie hielten und stiegen aus. Der Wind war böig. Sie gingen zum Haus hinauf, dessen Fenster erleuchtet waren. Linda humpelte, wenn sie den linken Fuß aufsetzte. Als sie den Hof betraten, fragten alle drei fast gleichzeitig, warum der Hund nicht bellte. Stefan Lindman klopfte an die Haustür. Keiner antwortete, kein Hund reagierte. Kurt Wallander schaute durch ein Fenster, Stefan Lindman faßte an die Tür. Sie war nicht verschlossen.
»Wir können ja immer sagen, wir glaubten, jemand hätte ›Herein‹ gesagt«, meinte er vorsichtig.
Sie öffneten die Tür und gingen ins Haus. Linda blieb in dem engen Flur hinter den zwei breiten Rücken stehen. Sie versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, doch da fuhr ihr sofort ein stechender Schmerz durchs Bein.
»Ist jemand da?« rief Kurt Wallander.
»Keiner da«, antwortete Stefan Lindman.
Sie gingen weiter. Das Haus sah genauso aus wie bei Lindas letztem Besuch. Notenblätter, Papiere, Zeitungen, Kaffeetassen. Die Freßnäpfe des Hundes. Nach dem ersten Eindruck von Schlampigkeit und Unordnung zeichnete sich jedoch ein Haus ab, in dem alles auf Henrietta Westins Bedürfnisse abgestimmt war.
»Unverschlossene Tür«, sagte Stefan Lindman. »Kein Hund. Also macht sie einen Abendspaziergang. Wir geben ihr eine Viertelstunde. Wenn wir die Tür offenstehen lassen, weiß sie gleich, daß jemand hier ist.«
»Vielleicht ruft sie die Polizei an«, sagte Linda. »Wenn sie glaubt, daß wir Einbrecher sind.«
»Einbrecher lassen die Tür nicht offenstehen«, antwortete ihr Vater entschlossen.
Er setzte sich in den bequemsten Sessel im Zimmer, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Stefan Lindman stellte einen Stiefel in den Türspalt. Linda schlug ein Fotoalbum auf, das Henrietta aufs Klavier gelegt hatte. Ihr Vater atmete schwer aus seinem Sessel. Stefan Lindman summte an der Tür vor sich hin. Linda blätterte. Die ersten Bilder waren aus den siebziger Jahren. Die Farben verblaßten bereits. Anna saß auf der Erde, umgeben von pickenden Hühnern und gähnenden Katzen. Linda dachte an das, was Anna ihr erzählt hatte. Die Erinnerungen an die Landkommune bei Markaryd, in der sie und ihre Eltern in ihren ersten Lebensjahren gewohnt hatten. Auf einem anderen Bild hielt Henrietta ihre Tochter im Arm. Sie trug Clogs, Schlotterhosen und ein Palästinensertuch um den Hals. Wer steht hinter der Kamera? fragte sich Linda. Vermutlich Erik Westin, der bald spurlos verschwinden wird.
Stefan Lindman hatte seinen Platz an der Tür verlassen und war neben sie getreten. Linda zeigte und erklärte ihm, was sie wußte. Die Landkommune, die grüne Welle, der Sandalenmacher, der verschwand.
»Es hört sich an wie ein Märchen«, sagte er. »Aus Tausendundeiner Nacht. ›Der Sandalenmacher, der verschwand‹.«
Sie blätterten weiter.
»Ist er auf einem Bild?«
»Die einzigen Fotos von ihm, die ich gesehen habe, waren bei Anna zu Hause. Jetzt sind sie weg.«
Stefan Lindman furchte die Stirn. »Sie nimmt Fotos mit, läßt aber ihr Tagebuch zurück? Stimmt das?«
»Das stimmt. Aber etwas daran stimmt eben nicht.«
Sie blätterten weiter. Anstelle der Kommune mit Hühnern und gähnenden Katzen jetzt eine Wohnung in Ystad. Grauer Beton, ein steriler Spielplatz. Anna jetzt ein paar Jahre älter.
»Als dieses Bild aufgenommen wurde, war er schon ein paar Jahre verschwunden«, sagte Linda. »Die Person, die das Bild gemacht hat, ist dichter an Anna herangegangen. Auf den früheren Bildern war der Abstand größer.«
»Der Vater hat die ersten Bilder gemacht. Jetzt fotografiert Henrietta. Ist es das, was du meinst?«
»Ja.«
Sie gingen das Album weiter durch. Nirgendwo war ein Bild von Annas Vater. Eines der letzten Bilder zeigte Anna am Tag ihres Abiturs. Am Bildrand war Zebra zu erkennen. Linda war auch dabeigewesen. Aber auf dem Bild war sie nicht zu sehen.
Sie wollte gerade umblättern, als das Licht flackerte und dann erlosch. Das Haus war schwarz. Ihr Vater fuhr mit einem Ruck hoch.
Alles war dunkel. Von draußen hörte man einen Hund bellen. Linda dachte, daß dort draußen im Dunkeln auch Menschen waren. Die nicht hervortraten und sich zeigten, die nicht das Licht suchten, sondern sich immer tiefer in die Welt der Schatten zurückzogen.
21
Im tiefsten Dunkel fühlte er sich am sichersten. Er hatte nie verstanden, warum die Pastoren immer vom Licht redeten, das ständig die große Gnade umgab, die Ewigkeit, das Bild Gottes. Warum konnte ein Wunder nicht im Dunkeln geschehen? War es für den Teufel und seine Dämonen nicht schwerer, einen in der Welt der Schatten zu finden als auf einem erleuchteten Feld, wo weiße Gestalten sich langsam bewegten wie Schaum auf einer Meereswelle? Ihm hatte Gott sich stets als ein großes und sicheres Dunkel offenbart. So war es auch jetzt, als er im Dunkeln vor dem Haus mit den erleuchteten Fenstern stehenblieb. Er sah drinnen Gestalten, die sich bewegten. Als dann alles Licht erlosch und die letzte dunkle Tür sich schloß, war es, als habe Gott ihm ein Zeichen gegeben. Im Dunkeln hatte er ein Königreich. Und das war größer als jenes Reich des Lichts in den Predigten. Ich bin sein Diener im Dunkeln, dachte er. Aus diesem Dunkel kommt kein Licht, sondern die heiligen Schatten, die ich aussende, um die Leere der Menschen zu füllen. Was sie nicht sehen, vermissen sie nicht. Ich werde ihnen die Augen öffnen und sie lehren, daß die Wahrheit sich in Bildern in der Welt des Dunkeln verbirgt. Er dachte an das, was im zweiten Brief des Johannes steht: »Es sind ja viele Verführer in die Welt ausgezogen, die nicht bekennen, Christus sei ein wirklicher, irdischer Mensch mit Leib und Blut gewesen, und hinter ihnen steht der eine große Verführer, der Feind des Christus, der Antichrist.« Das war sein heiligster Schlüssel zum Verständnis.
Nach der Begegnung mit Jim Jones und nach den schrecklichen Ereignissen im Dschungel von Guyana wußte er, was ein Verführer war. Ein falscher Prophet mit ordentlich gekämmtem Haar, der mit ebenmäßigen weißen Zähnen lächelte und sich stets mit Licht umgab. Jim Jones hatte das Dunkel gefürchtet. Wie oft hatte er sich selbst verflucht, daß er nicht schon damals den falschen Propheten durchschaut hatte, der sie nicht führen, sondern verführen wollte, hinaus in einen Dschungel, in dem sie auch alle sterben sollten. Alle bis auf ihn, der davongekommen war. Das war der erste Auftrag, den Gott ihm gegeben hatte. Er sollte überleben, um der Welt von dem falschen Propheten zu berichten. Er sollte die Lehre vom Dunkel verbreiten, das, was die Einleitung des fünften Evangeliums werden sollte, das er zu schreiben hatte, um die Heilige Schrift zu vollenden. Auch darüber hatte er im zweiten Brief des Johannes etwas gelesen, den Abschiedsgruß: »Ich hätte euch vieles zu schreiben, möchte es euch aber nicht mit Papier und Tinte sagen. Ich hoffe vielmehr, euch besuchen zu können und mündlich mit euch zu reden, so daß wir uns ganz und ungeteilt miteinander freuen können.«
Im Dunkel war Gott ihm stets nah. Am hellichten Tag, bei Sonnenschein, konnte er ihn zuweilen aus dem Blick verlieren. Doch im Dunkel war er immer nah. Dann konnte er Gottes Atem im Gesicht spüren. Der Atem war jede Nacht anders. Er konnte ihm als ein Wind entgegenkommen oder als ein hechelnder Hund, aber meistens war es nur ein schwacher Duft eines unbekannten Gewürzes. Gott war ihm im Dunkel nah, und seine Erinnerungen waren auch immer klar und deutlich, wenn kein Licht seine Ruhe störte.
In dieser Nacht begann er an all die Jahre zu denken, die vergangen waren, seit er zum letztenmal hiergewesen war. Vierundzwanzig Jahre, ein großer Teil seines Lebens. Als er aufbrach, war er noch jung gewesen. Jetzt hatte das Alter schon begonnen, von seinem Körper Besitz zu ergreifen. Es fanden sich kleine Anzeichen für die verschiedenen Gebrechen des Alterns. Er pflegte seinen Körper, wählte sorgfältig aus, was er aß und trank, und er bewegte sich ständig. Aber das Altern ließ sich nicht aufhalten, darum kam niemand herum. Gott läßt uns altern, damit wir einsehen, daß wir ganz und gar in seiner Hand sind. Er hat uns dieses merkwürdige Leben gegeben. Aber er hat es zu einer Tragödie gemacht, damit wir begreifen, daß allein er uns die Gnade gewähren kann.
Er stand dort in der Dunkelheit und dachte zurück. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Jim getroffen hatte und ihm in den Dschungel von Guyana gefolgt war, war alles so gewesen, wie er es sich erträumt hatte. Er vermißte die Menschen, die er verlassen hatte, doch Jim hatte ihn davon überzeugt, daß Gott seinen Auftrag, einer von Jims Gefolgsleuten zu werden, als ein wichtigeres Ziel angesehen hatte, als in der Nähe seiner Frau und seines Kindes zu sein. Er hatte auf Jim gehört, und manchmal waren Wochen vergangen, ohne daß er an die beiden dachte. Erst nach dem Zusammenbruch, als alle tot auf den Feldern lagen und verfaulten, waren sie wieder in sein Bewußtsein zurückgekehrt. Doch da war es zu spät, seine Verwirrung war so groß, die Leere so entsetzlich, nachdem Jim ihm Gott genommen hatte, daß er keine andere Bürde zu tragen vermochte als sich selbst.
Er erinnerte sich an die Flucht aus Caracas, wo er seine Dokumente und das Geld, das er beiseite gelegt hatte, abholte. Es war wie eine lange Flucht gewesen, von der er hoffte, sie würde sich in eine Pilgerfahrt verwandeln, eine Reise durch dunkle oder von der Sonne verbrannte Landschaften, in verschiedenen Bussen mit endlosen Stops weit draußen in der Wildnis, wenn Motoren oder Räder defekt gewesen waren. Nur vage erinnerte er sich noch an die Namen von Orten, durch die er gekommen war, von Grenzstationen oder Flugplätzen. Von Caracas war er mit dem Bus nach Kolumbien gefahren, in eine Stadt mit Namen Barranquilla. Er erinnerte sich an die lange Nacht auf der Grenzstation zwischen Venezuela und Kolumbien, die Stadt Puerto Pãez mit ihren bewaffneten Männern, die wie die Habichte über allen lauerten, die die Grenze überschritten. In jener Nacht, in der es ihm gelungen war, die mißtrauischen Grenzwachen davon zu überzeugen, daß er wirklich John Lifton war, wie es in seinen falschen Papieren stand, und daß er wirklich keinerlei Geld hatte, hatte er tief und schwer geschlafen, an eine alte Indianerin gelehnt, die einen Käfig mit zwei Hühnern auf dem Schoß hatte. Sie hatten keine Worte gewechselt, nur Blicke, und sie hatte sein Elend und seine Erschöpfung gesehen und ihm ihre Schulter und ihren runzligen Hals geliehen, um den Kopf anzulehnen. In der Nacht träumte er von denen, die er zurückgelassen hatte. Er erwachte schweißgebadet. Die alte Indianerin war wach. Sie sah ihn an, und er sank wieder zurück an ihre Schulter. Als er am nächsten Morgen wieder wach wurde, war sie fort. Er tastete mit den Fingern in seinen Strumpf. Das dicke Bündel mit Dollarscheinen war noch da. In ihm war eine Sehnsucht nach der alten Frau, die ihn hatte schlafen lassen. Er wollte zurück zu ihr, wollte für den Rest des Lebens, der ihm blieb, den Kopf an ihre Schulter und ihren Hals lehnen.
Von Barranq