Fortunas Tochter

Isabel Allende

1999

1

»Jeder Mensch wird mit einer besonderen Begabung geboren, und Eliza Sommers entdeckte früzeitig, daß sie über derne zwei verfügte: einen guten Geruchsssinn und ein gutes Gedächtnis.«

So beginnt eine Liebesgeschichte, wie allein Isabel Allende sie erzählen kann. Es ist die Geschichte einer lebenshungrigen jungen Frau, die zwischen zwei Welten und Kulturen lebt. Als chilenisches Findelkind in der Obhut einer englischen Familien in Valparaíso aufgewachsen, bricht Eliza Sommers, kaum 17jährig, aus dieser wohlbehüteten Welt aus.

Die Suche nach ihrem Geliebtem, der dem Sog des kalifornischen Goldrauschs nicht widerstehen konnte, mach aus dem unerfahrenen Mädchen eine selbsbewußte Frau, und am Ende ihrer Odysee ist Eliza endlich ganz bei sich und in der Welt.

Inhaltsverzeichnis

I  ERSTER TEIL 1843-1848

Valparaíso

Die Engländer

Señoritas

Ein schlechter Ruf

Die Bewerber

Miss Rose

Die Liebe

II  ZWEITER TEIL 1848-1849

Die Nachricht

Der Abschied

Vierter Sohn

Tao Chi’en

Die Reise

Argonauten

Das Geheimnis

III  DRITTER TEIL 1850-1853

Eldorado

Geschäfte

Die Täubchen

Enttäuschungen

Sing Song Girls

Joaquín

Ein ungewöhnliches Paar

Teil I

ERSTER TEIL 1843-1848

Valparaíso

Jeder Mensch wird mit einer besonderen Begabung geboren, und Eliza Sommers entdeckte frühzeitig, daß sie über deren zwei verfügte: einen guten Geruchssinn und ein gutes Gedächtnis. Die erste war ihr nützlich, ihr Brot damit zu verdienen, und die zweite, um sich zu erinnern, wenn auch nicht mit größter Genauigkeit, so doch zumindest poetisch astrologisch verschwommen. Was man vergißt, scheint nie gewesen zu sein, aber sie hatte viele wirkliche oder trügerische Erinnerungen, und das war, als hätte man zweimal gelebt. Sie sagte oft zu ihrem treuen Freund, dem weisen Tao Chi’en, ihr Gedächtnis sei wie der Schiffsbauch, in dem sie sich kennengelernt hatten, geräumig und dämmrig und voll von Kisten, Fässern und Säcken, in denen sich die Geschehnisse ihres ganzen Daseins häuften. Im Wachen fiel es ihr nicht leicht, in dem riesigen Durcheinander etwas zu finden, aber es gelang ihr immer im Schlaf, wie Mama Fresia es sie gelehrt hatte in den süßen Jahren ihrer Kindheit, als die Konturen der Wirklichkeit nur mit einem blassen Strich gezeichnet waren. Sie betrat den Raum ihrer Träume durch einen oft gegangenen Weg und kehrte mit äußerster Behutsamkeit zurück, damit die zarten Gesichte nicht am harten Licht des Bewußtseins zerschellten. Sie vertraute auf dieses Mittel, wie andere an Zahlen glauben, und hatte die Kunst des Erinnerns so sehr verfeinert, daß sie Miss Rose sehen konnte, wie sie sich über den Marseiller Seifenkarton beugte, der ihr, Elizas, erstes Bettchen gewesen war.

»Daran kannst du dich unmöglich erinnern, Eliza. Neugeborene sind wie Katzen, sie haben weder Gefühle noch ein Gedächtnis«, beharrte Miss Rose bei den seltenen Malen, wo sie über dieses Thema sprachen.

Dennoch, diese Frau, die da auf sie heruntergesehen hatte in ihrem topasfarbenen Kleid, ein paar aus dem Haarknoten gelöste Strähnen im Wind wehend, war in Elizas Gedächtnis eingegraben, deshalb konnte sie nicht hinnehmen, was ihr zu ihrer Herkunft erzählt wurde.

»Du hast englisches Blut, genau wie wir«, versicherte ihr Miss Rose, als Eliza alt genug war, zu verstehen. »Nur jemand aus der britischen Kolonie konnte es sich einfallen lassen, dich in einem Korb vor der Tür der British Trading Company abzustellen. Derjenige hat bestimmt gewußt, was mein Bruder Jeremy für ein gutes Herz hat, und konnte sich denken, daß er dich aufnehmen würde. Zu jener Zeit war ich ganz verrückt danach, ein Kind zu haben, und da fielst du mir in die Arme, vom Herrgott geschickt, damit du nach den soliden Prinzipien des protestantischen Glaubens und der englischen Sprache erzogen werdest.«

»Engländerin, du? Kind, bild dir bloß nichts ein, du hast Indiohaar, genau wie ich«, widersprach Mama Fresia hinter dem Rücken ihrer Dienstherrin. Elizas Abstammung war tabu in diesem Hause, und das Kind gewöhnte sich an das Geheimnis. Wie auch andere heikle Themen erwähnte sie es nie vor Rose und Jeremy Sommers, besprach es aber flüsternd in der Küche mit Mama Fresia, die unerschütterlich an ihrer Beschreibung des Seifenkartons festhielt, während Miss Roses Lesart mit den Jahren immer blumiger ausgeschmückt wurde, bis sie sich in ein Feenmärchen verwandelte. Danach war der Korb, nunmehr im Kontor gefunden, aus feinstem Weidengeflecht gefertigt und mit Batist gefüttert, Elizas Hemdchen war bestickt und die Bettwäsche mit Brüsseler Spitze gesäumt, darüber war zudem eine Decke aus Nerz gebreitet, eine in Chile noch nie gesehene Extravaganz. Mit der Zeit kamen noch sechs in ein seidenes Taschentuch gewickelte Goldmünzen hinzu sowie ein Kärtchen, auf dem in englischer Sprache versichert wurde, dieses Kind sei, wiewohl unehelich, doch von sehr guter Abstammung, aber Eliza bekam nichts davon je zu Gesicht. Der Nerz, die Münzen und das Kärtchen waren passenderweise verschwunden, und von Elizas Herkunft blieb keine Spur. Mama Fresias Fassung jedoch kam ihren eigenen Erinnerungen schon sehr viel näher: als sie eines Märzmorgens, der chilenische Herbst hatte schon begonnen, die Tür öffneten, fanden sie ein Neugeborenes weiblichen Geschlechts, das nackt in einem Karton lag.

»Von wegen Nerzdeckchen und Goldmünzen! Ich war dabei, und ich weiß es noch sehr gut. Du lagst bibbernd vor Kälte in einer Männerweste, nicht einmal eine Windel hatten sie dir umgewickelt, und du warst von oben bis unten vollgekackt. Du warst ein wertloses kleines Nichts, rot wie eine gekochte Languste, mit ein bißchen Flaum auf dem Kopf. Das warst du. Mach dir nichts vor, du bist nicht als Prinzessin geboren, und wenn du damals schon so schwarzes Haar gehabt hättest wie jetzt, hätte die Herrschaft dich mitsamt dem Karton in den Müll geschmissen«, beharrte Mama Fresia.

Wenigstens stimmten alle darin überein, daß das Kind am 15. März 1832 in ihr Leben eingezogen war, eineinhalb Jahre nach der Ankunft der Sommers in Chile, und deshalb ernannten sie dieses Datum zu Elizas Geburtstag. Das übrige war ein Haufen Widersprüche, und Eliza kam endlich zu dem Schluß, es lohne nicht, darin herumzustochern, denn was auch immer die Wahrheit sein mochte, zu ändern war jetzt doch nichts mehr. Wichtig ist, was einer tut in dieser Welt, nicht, wie er darauf gekommen ist, sagte sie oft zu Tao Chi’en, aber dem konnte er nicht zustimmen, ihm war es unmöglich, sich sein eigenes Leben getrennt von der langen Reihe seiner Vorfahren vorzustellen, die nicht nur zu seinen körperlichen und geistigen Eigenschaften beigetragen, sondern ihm auch das Karma vererbt hatten. Sein Schicksal, glaubte er, war bestimmt durch die Handlungen der Anverwandten, die vor ihm gelebt hatten, deshalb mußte man sie mit täglichen Gebeten ehren und sie fürchten, wenn sie einem in gespenstischer Gewandung erschienen, um ihre Rechte einzufordern. Tao Chi’en konnte die Namen all seiner Ahnen hersagen bis zu den fernsten und verehrungswürdigsten Ururgroßvätern, die schon weit mehr als ein Jahrhundert tot waren. Seine größte Sorge in der Zeit des Goldfiebers war es, zum Sterben in sein Dorf in China zurückzukehren, um neben den Seinen bestattet zu werden; andernfalls würde seine Seele ewig ziellos auf fremder Erde umherirren. Eliza liebäugelte natürlich mit der Geschichte des reizenden Körbchens — kein Mensch mit gesundem Verstand möchte gern in einem gewöhnlichen Seifenkarton auftauchen —, aber der Wahrheit zu Ehren konnte sie sie nicht anerkennen. Ihre feine Hühnerhundnase erinnerte sich sehr gut an den ersten Geruch in ihrem Leben — es war nicht der von sauberer Batistbettwäsche, sondern von Wolle, Männerschweiß und Tabak. Der zweite war deftiger Ziegengestank.

Eliza konnte vom Balkon ihrer Adoptiveltern auf den Pazifischen Ozean sehen. Das Haus, auf dem Hang eines Hügels hoch über dem Hafen von Valparaíso erbaut, wollte ursprünglich den damals in London bevorzugten Georgian Style nachahmen, aber das schwierige Gelände, das Klima und das Leben in Chile überhaupt zwangen die Sommers, wesentliche Veränderungen vorzunehmen, und das Ergebnis war eine Monstrosität. Im Patio wuchsen wie Geschwülste mehrere fensterlose Schuppen mit Stahltüren, wo Jeremy Sommers die wertvollere Fracht seiner Gesellschaft lagerte, Dinge, die in den Läden am Hafen zu verschwinden pflegten.

»Dies ist ein Land der Diebe, nirgendwo auf der Welt muß die Firma so viel Geld verschleudern, um die Ware zu versichern, wie hier. Alles stehlen sie, und was man vor diesen Gaunern rettet, das wird im Winter überschwemmt oder verbrennt im Sommer, oder ein Erdbeben quetscht es platt«, wiederholte er jedesmal, wenn die Maultiergespanne neue Bündel herankarrten, damit sie im Patio seines Hauses abgeladen wurden.

Weil Eliza so oft am Fenster saß, um aufs Meer hinauszusehen und die Schiffe und die Wale am Horizont zu zählen, redete sie sich schließlich ein, sie sei die Tochter eines Schiffbrüchigen und nicht das Kind einer unnatürlichen Mutter, die fähig gewesen war, ihr nacktes Neugeborenes in der Ungewißheit eines Märztages zu verlassen. Sie schrieb in ihr Tagebuch, ein Fischer habe sie am Strand zwischen den Wrackresten eines gescheiterten Schiffes gefunden, habe sie in seine Weste gewickelt und vor dem größten Haus des englischen Viertels niedergelegt. Mit den Jahren kam sie zu dem Schluß, diese Geschichte sei ganz und gar nicht übel: immer hängt dem, was das Meer wiedergibt, etwas Poetisches und Geheimnisvolles an. Wenn der Ozean sich zurückzöge, würde der preisgegebene sandige Grund eine weite, nasse Wüste sein, übersät mit Sirenen und sterbenden Fischen, sagte John Sommers, der Bruder von Jeremy und Rose, der alle Meere dieser Erde befahren hatte und sehr lebendig beschrieb, wie das Wasser in einer tiefen, friedhöflichen Stille zurücktrat, um sich dann in eine einzige riesige Woge zu verwandeln, die alles auf ihrem Wege mitriß. Entsetzlich, erklärte er, aber wenigstens habe man Zeit, sich auf die Anhöhen zu flüchten, bei Erdbeben dagegen kündigten die Kirchenglocken die Katastrophe erst an, wenn alle Welt schon aus den Trümmern zu kriechen versuche.

Zu der Zeit, als Eliza auftauchte, war Jeremy Sommers dreißig Jahre alt und hatte begonnen, sich in der British Trading Company eine brillante Zukunft zu erarbeiten. In den Kreisen der Geschäftsleute und Bankiers genoß er den Ruf eines Ehrenmannes: sein Wort und ein Händedruck galten soviel wie ein unterschriebener Vertrag, ein unschätzbarer Vorzug bei jeder Transaktion, denn die Bestätigungsschreiben brauchten Monate, um die Ozeane zu überqueren. Für ihn, der kein Vermögen besaß, war sein guter Name wichtiger als das Leben selbst. Unter Opfern war es ihm gelungen, einen sicheren Posten in dem fernen Hafen von Valparaíso zu erlangen, und das letzte, was er sich in seinem wohlgeregelten Dasein gewünscht hätte, war ein neugeborener Säugling, der ihn in seinen Gewohnheiten stören würde, aber als Eliza ihnen ins Haus fiel, konnte er nicht anders, er mußte sie aufnehmen, denn seine Schwester Rose war von dem kleinen Ding einfach nicht abzubringen, und so gab er nach.

Damals war Rose gerade erst zwanzig, aber sie war bereits eine Frau mit Vergangenheit, und ihre Aussichten, noch eine gute Partie zu machen, waren gering. Andererseits hatte sie ihre Schlüsse gezogen und entschieden, eine Ehe wäre, selbst im günstigsten Fall, ein schlechtes Geschäft für sie; bei ihrem Bruder Jeremy genoß sie eine Unabhängigkeit, die ein Ehemann ihr nie zugestehen würde. Sie hatte es geschafft, sich ihr Leben angenehm einzurichten, und ließ sich vom Stigma der Sitzengebliebenen nicht schrecken, im Gegenteil, sie war entschlossen, der Neid aller Ehefrauen zu werden trotz der gängigen Überzeugung, daß den unweiblichen Geschöpfen, die sich von ihrer Rolle als Gattin und Mutter abwandten, ein Schnurrbart wuchs wie den Blaustrümpfen; aber sie hätte gern Kinder gehabt, und das war der einzige Kummer, den sie auch durch noch so viele Manöver der Einbildungskraft nicht in einen Sieg verwandeln konnte. Manchmal träumte sie, die Wände ihres Zimmers wären voller Blut, Blut tränkte den Teppich, Blut spritzte bis hinauf zur Decke, und mitten darin sie, nackt und bis zum Wahnsinn verwirrt einen Salamander gebärend. Sie erwachte schreiend und war den ganzen Tag verstört, ohne sich von dem Albdruck lösen zu können. Jeremy beobachtete sie, sorgte sich um ihre Nerven und fühlte sich schuldig, weil er sie so weit von England mit fortgeschleppt hatte, obwohl er sich eine gewisse Befriedigung über das Arrangement, das sie getroffen hatten, nicht versagen konnte. Da der Gedanke an eine Ehe sein Herz nie berührt hatte, löste Roses Anwesenheit die häuslichen und die gesellschaftlichen Probleme, zwei wichtige Gesichtspunkte seiner Karriere. Seine Schwester wirkte ausgleichend auf seine introvertierte und einsiedlerische Natur, deshalb ertrug er gutwillig ihre wechselnden Launen und ihre unnötigen Ausgaben. Als Eliza auftauchte und Rose darauf bestand, sie zu behalten, wagte Jeremy nicht, sich zu widersetzen oder kleinliche Bedenken zu äußern, und verlor großmütig alle um das Großziehen des Kindes geführten Kämpfe. Das begann, als es darum ging, ihm einen Namen zu geben.

»Sie wird Eliza heißen wie unsere Mutter und unseren Familiennamen tragen«, entschied Rose, nachdem sie den winzigen Findling gefüttert, gebadet und in ein Umschlagtuch gehüllt hatte.

»Auf keinen Fall, Rose! Was glaubst du wohl, was die Leute sagen werden!«

»Das erledige ich. Die Leute werden sagen, du bist ein Heiliger, weil du dieses arme Waisenkind aufnimmst, Jeremy. Es gibt kein schlimmeres Schicksal, als keine Familie zu haben. Was würde aus mir, wenn ich nicht einen Bruder wie dich hätte?« erwiderte sie, sich wohl bewußt, wie sehr ihm schon vor einem Anflug von Sentimentalität graute.

Der Klatsch war unvermeidlich, auch damit mußte sich Jeremy Sommers abfinden, wie er es auch hinnahm, daß die Kleine den Namen seiner Mutter erhielt, in den ersten Jahren im Zimmer seiner Schwester schlief und für Trubel im Haus sorgte. Rose verbreitete das unglaubliche Märchen von dem prächtigen Körbchen, das unbekannte Hände in das Kontor der British Trading Company gestellt hatten, und keiner schluckte es, aber da auch keiner ihr einen Fehltritt nachweisen konnte — denn man sah und hörte sie jeden Sonntag beim anglikanischen Gottesdienst, und ihre überschlanke Taille spottete allen Gesetzen einer schwangeren Anatomie —, sagten sie schließlich, das Baby sei wohl einem Verhältnis ihres Bruders mit irgendeinem Flittchen entsprungen und deshalb zögen sie es als Tochter der Familie auf.

Jeremy machte sich nicht die Mühe, dem boshaften Gerede entgegenzutreten. Das unvernünftige Treiben von Kindern verwirrte ihn, aber Eliza brachte es fertig, ihn zu erobern. Wiewohl er es nicht zugab, sah er sie doch gern zu seinen Füßen spielen, wenn er sich abends in seinen Sessel setzte, um die veraltete Zeitung aus London zu lesen. Freilich gab es keine Bekundungen der Zuneigung zwischen ihnen beiden, er versteifte sich schon vor der bloßen Möglichkeit, eine mitfühlende Hand zu reichen, die Vorstellung einer innigen Berührung stürzte ihn in Panik.

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Als an jenem 15. März das Neugeborene im Haus der Sommers erschien, meinte Mama Fresia, die das Amt einer Köchin und Haushälterin versah, sie müßten es sich vom Halse schaffen. »Wenn die eigene Mutter es im Stich gelassen hat, dann weil es verflucht ist, und da ist es sicherer, es gar nicht erst anzufassen«, sagte sie, aber gegen den Beschluß ihrer Dienstherrin konnte sie nichts machen.

Kaum hatte Rose das kleine Geschöpf auf den Arm genommen, fing es aus vollem Halse so zu schreien an, daß es durchs ganze Haus drang. Außerstande, es zu beruhigen, machte Rose ihm ein behelfsmäßiges Bettchen in einer Schublade ihrer Kommode und deckte es zu, worauf sie Hals über Kopf davonstürzte, um eine Amme zu suchen. Sie kehrte sehr bald mit einer Frau zurück, die sie auf dem Markt aufgetan hatte, ihr war nur nicht eingefallen, sie sich genauer anzusehen, ihr genügten die großen Brüste, die fast die Bluse sprengten, um sie eiligst einzustellen. Sie erwies sich als eine etwas zurückgebliebene Frau vom Lande, die mit ihrem Säugling das Haus betrat, einem armen Würmchen und genauso schmutzig wie seine Mutter. Sie mußten das Kleine lange in warmem Wasser einweichen, um den Dreck abzulösen, der ihm den Hintern verklebte, und die Frau tauchten sie in einen Bottich mit Seifenlauge, um sie von den Läusen zu befreien. Die beiden Säuglinge, Eliza und das Söhnchen der Frau, fielen von einer Kolik in die andere, sie litten an einer biliösen Diarrhöe, wie der Hausarzt sagte, gegen die er ebenso machtlos war wie der deutsche Apotheker. Überwältigt vom Wimmern der Kinder, das nicht nur vom Hunger herrührte, sondern auch von Schmerzen oder vielleicht von Traurigkeit, weinte Miss Rose mit ihnen. Am dritten Tag endlich mischte Mama Fresia sich widerwillig ein.

»Sehen Sie nicht, daß diese Frau ganz vergammelte Brustwarzen hat? Kaufen Sie eine Ziege, um die Kleine zu füttern, und geben Sie ihr einen Tee aus Zimtrinde; und machen Sie schnell, denn wenn Sie das bis Freitag nicht schaffen …« Sie wandte sich mürrisch brummelnd ab.

Damals konnte Miss Rose das Spanische nur eben radebrechen, aber das Wort »Ziege« verstand sie, schickte sogleich den Kutscher los, eine zu kaufen, und entließ die Amme. Kaum war das Tier zur Stelle, legte Mama Fresia, die erfahrene India, Eliza schlankweg unter das volle Euter, zum Entsetzen von Miss Rose, die noch nie etwas so Ordinäres und Ekliges gesehen hatte, aber die warme Milch und die Zimtaufgüsse brachten schnell Linderung, die Kleine hörte auf zu weinen, schlief sieben Stunden hintereinanderweg und wachte schmatzend auf. Nach wenigen Tagen zeigte sie den friedlichen Gesichtsausdruck gesunder Säuglinge und nahm offensichtlich an Gewicht zu. Miss Rose kaufte ein Fläschchen, als sie merkte, daß Eliza, wenn die Ziege im Patio meckerte, schnüffelnd die Zitzen suchte. Sie wollte das Kind nicht mit der verqueren Vorstellung aufwachsen sehen, dieses Tier sei seine Mutter. Die glücklich überstandenen Koliken gehörten zu den wenigen Kinderkrankheiten, die Eliza durchmachen mußte, die übrigen erlagen den Kräutern und Beschwörungen Mama Fresias schon bei den ersten Anzeichen, einschließlich der grausamen Seuche der afrikanischen Masern, die ein griechischer Matrose nach Valparaíso eingeschleppt hatte. Solange die Gefahr andauerte, packte Mama Fresia der Kleinen für die Nacht ein Stück rohes Fleisch auf den Bauch und band es mit einem Tuch aus roter Wolle darauf fest, ein geheimes Naturheilmittel, um die Ansteckung zu verhindern.

In den folgenden Jahren machte Miss Rose Eliza zu ihrem Spielzeug. Sie verbrachte vergnügt ganze Stunden damit, sie singen und tanzen zu lehren, sagte ihr Gedichte vor, die das kleine Mädchen mühelos im Gedächtnis behielt, flocht ihr Zöpfe und zog ihr wunderhübsche Kleidchen an, aber kaum tauchte eine andere Zerstreuung auf oder ihre Kopfschmerzen meldeten sich, schickte sie sie in die Küche zu Mama Fresia. Das Kind wuchs auf zwischen dem Nähstübchen und den rückwärtigen Hofräumen, sprach Englisch in einem Teil des Hauses und im anderen eine Mischung aus Spanisch und Mapuche, der Indiosprache ihrer Kinderfrau, war den einen Tag angezogen wie eine kleine Herzogin und spielte den andern Tag barfuß und mit einer Schürze nur dürftig bekleidet mit den Hühnern und den Hunden.

Miss Rose präsentierte sie auf ihren musikalischen Abendgesellschaften, nahm sie in der Kutsche mit zur Schokolade in der besten Konditorei, zu Einkäufen oder zum Anschauen der Schiffe im Hafen, aber ebenso konnte sie auch mehrere Tage hintereinander damit verbringen, tief versunken in ihre geheimnisvollen Hefte zu schreiben oder einen Roman zu lesen, ohne an ihren Schützling zu denken. Wenn ihr dann Eliza wieder einfiel, sprang sie schuldbewußt auf und lief, sie zu suchen, überschüttete sie mit Küssen, stopfte sie mit Näschereien voll, zog ihr wieder ihren Puppenputz an und fuhr mit ihr spazieren. Sie bemühte sich, ihr eine so umfassende Bildung wie nur möglich zukommen zu lassen, ohne die einer Señorita angemessenen Fertigkeiten zu vernachlässigen. Als Eliza einmal wütend mit dem Fuß aufstampfte — es ging um das Üben einer Klavierlektion —, packte sie sie beim Arm, und ohne auf den Kutscher zu warten, zerrte sie sie eine Meile hügelabwärts zu einem Kloster. Über dem schweren, mit Eisen beschlagenen Eichenportal las man die unter dem salzigen Seewind verblaßten Worte: »Haus der Findelkinder«.

»Sei froh und dankbar, daß mein Bruder und ich dich aufgenommen haben. Hier werden die unehelichen und die ausgesetzten Kinder untergebracht. Möchtest du etwa gerne hierher?«

Stumm schüttelte das Kind den Kopf.

»Dann ist es wohl besser, du lernst Klavierspielen wie ein braves Mädchen. Hast du mich verstanden?«

Eliza lernte Klavierspielen, zwar ohne Talent oder Feingefühl, aber durch »immer tüchtig üben« konnte sie mit zwölf Jahren Miss Rose auf den musikalischen Abendgesellschaften begleiten. Diese Fertigkeit ging ihr nie verloren, obwohl sie sie lange Zeit nicht ausübte, und manches Jahr später konnte sie sich damit in einem Wanderbordell ihr Brot verdienen, ein Ziel, das freilich Miss Rose nie in den Sinn gekommen war, als sie sich bemühte, ihr die edle Kunst der Musik beizubringen.

Viele Jahre später, an einem der stillen Nachmittage, an denen Eliza mit ihrem Freund Tao Chi’en plaudernd und chinesischen Tee trinkend in dem lieblichen Garten saß, um den sie sich beide kümmerten, kam sie zu dem Schluß, daß jene absonderliche Engländerin eine sehr gute Mutter gewesen war, und sie war ihr dankbar für die großen inneren Freiräume, die sie ihr gewährt hatte. Mama Fresia war die zweite Stütze ihrer Kindheit. Sie hängte sich an ihre weiten schwarzen Röcke, leistete ihr bei den häuslichen Arbeiten Gesellschaft und machte sie nebenbei verrückt mit tausend Fragen. So wurde sie mit Legenden und Mythen der Indios vertraut, lernte die Merkmale der Tiere und die Sturmzeichen des Meeres kennen ebenso wie die Gewohnheiten der Geister und die Botschaften der Träume, und lernte sogar kochen. Dank ihrem unfehlbaren Geruchssinn war sie imstande, mit geschlossenen Augen Zutaten, Kräuter und Gewürze zu unterscheiden und sich augenblicklich zu erinnern — genau wie sie Gedichte im Gedächtnis behielt —, welche man wozu verwendete. Schon bald verloren die komplizierten einheimischen Gerichte Mama Fresias und die leckere Kuchenbäckerei von Miss Rose ihr Geheimnis. Sie besaß eine seltene kulinarische Begabung, und als Siebenjährige konnte sie, ohne sich zu ekeln, einer Ochsenzunge die Haut abziehen oder ein Huhn ausnehmen, konnte den Teig für zwanzig Empanadas kneten, ohne zu ermüden, und ganze Stunden mit dem Aushülsen von Bohnen verbringen, während sie mit offenem Mund den grausamen Indiolegenden Mama Fresias lauschte oder ihren farbigen Darstellungen vom Leben der Heiligen.

Rose und ihr Bruder John waren von ihrer Kindheit an unzertrennlich gewesen. Sie strickte im Winter Pullover und Strümpfe für den Kapitän, und er scheute keine Mühe, um ihr von jeder Fahrt Koffer voller Geschenke mitbringen zu können und große Kisten mit Büchern, von denen mehrere unter Verschluß in Roses Schrank verwahrt wurden. Jeremy, als Hausherr und Haupt der Familie, war befugt, den Briefwechsel seiner Schwester einzusehen, ihr Tagebuch zu lesen und Zweitschlüssel für ihre Möbel zu verlangen, aber er zeigte keinerlei Neigung, das zu tun. Jeremys und Roses familiäre Beziehung war auf Zuverlässigkeit gegründet, sie hatten wenig gemein außer der gegenseitigen Abhängigkeit, die ihnen bisweilen wie eine geheime Form des Hasses erschien. Jeremy kam für die Lebenshaltung auf, aber er finanzierte weder ihre kapriziösen Einfälle, noch fragte er, woher das Geld dafür stammte, er nahm an, daß John es ihr gab. Rose ihrerseits führte den Haushalt tatkräftig und mit Stil, ihre Buchführung war stets in Ordnung, und sie belästigte ihn nicht mit läppischen Kleinigkeiten. Sie besaß einen guten, sicheren Geschmack, brachte Glanz in ihrer beider Leben und widerlegte mit ihrer Gegenwart den in jenen Ländern weit verbreiteten Glauben, daß einem Mann ohne Familie nicht zu trauen sei.

»Die Natur des Mannes ist roh und ungesittet; die Bestimmung der Frau ist es, die moralischen Werte zu bewahren und auf den guten Lebenswandel zu achten«, behauptete Jeremy.

»Ach Bruder! Du und ich, wir wissen doch, daß meine Natur ungesitteter ist als deine«, spöttelte Rose.

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Jacob Todd, ein gewinnender Rotschopf mit der schönsten Predigerstimme, die man in diesen Breiten je gehört hatte, ging 1843 in Valparaíso an Land, in seinem Gepäck dreihundert Exemplare der Bibel auf spanisch. Niemand wunderte sich über sein Kommen: er war halt ein Missionar mehr unter den vielen, die überall herumwanderten und den protestantischen Glauben predigten. In seinem Fall jedoch war die Reise aus schierer Abenteuerlust geboren und nicht aus religiösem Eifer.

Mit der nicht unüblichen Großsprecherei des Lebemannes, der zuviel Bier im Leibe hat, wettete er an einem Spieltisch in seinem Londoner Club, er könne Bibeln an jedem Punkt des Planeten verkaufen. Seine Freunde banden ihm die Augen zu, ließen einen Globus kreisen, und sein Finger fiel auf eine Kolonie des spanischen Königreiches, die verloren auf der unteren Hälfte der Erde lag, wo keiner der fröhlichen Zechkumpane menschliches Leben vermutete. Er stellte bald fest, daß der Globus etwas ältlich war, die Kolonie war schon seit über dreißig Jahren unabhängig und war nun die stolze Republik Chile, ein katholisches Land, wo die protestantischen Ideen keinen Eingang fanden, aber die Wette stand, und er war nicht gesonnen, sich zu drücken. Er war Junggeselle ohne zarte oder berufliche Bindungen, und das Verrückte einer solchen Reise zog ihn mächtig an. Bedenkt man die drei Monate für die Hinfahrt und weitere drei Monate für die Rückkehr, immerhin ging es über zwei Ozeane, dann war das ein Plan von langem Atem. Bejubelt von seinen Freunden, die ihm ein tragisches Ende unter den Händen der Papisten jenes unbekannten barbarischen Landes prophezeiten, und mit der finanziellen Unterstützung durch die Bibelgesellschaft Britanniens und des Auslandes, die ihm die Bibeln zur Verfügung stellte und die Passage bezahlte, machte er sich auf die lange Schiffsreise mit Kurs auf Valparaíso.

Der Wette zufolge mußte er die Bibeln verkaufen und binnen einem Jahr mit unterschriebener Quittung für jede einzelne zurückkommen. In den Archiven der Bibliothek hatte er Briefe von berühmten Männern, von Seeleuten und von Kaufleuten gelesen, die in Chile gewesen waren und über eine Mestizenbevölkerung von wenig mehr als einer Million Seelen berichteten und über eine fremdartige Geographie mit eindrucksvollen Gebirgen, schroffen Küsten, fruchtbaren Tälern, Wäldern mit uralten Bäumen und im ewigen Eis erstarrten Gebieten. Es stand in dem Ruf, in religiösen Dingen das unduldsamste Land des ganzen amerikanischen Kontinents zu sein, wie alle versicherten, die es besucht hatten. Trotzdem hatten fromme Missionare sich berufen gefühlt, den Protestantismus zu verbreiten, und ohne ein Wort Spanisch oder Indiosprache zu können, waren sie bis nach Patagonien gekommen, wo das Festland sich in einen Rosenkranz von Inseln auflöst. Manche starben vor Hunger oder Kälte oder, wie man argwöhnte, aufgefressen von ihren eigenen Glaubensschäfchen. In den Städten hatten sie genausowenig Erfolg. Die Gastfreundschaft, die den Chilenen heilig ist, war stärker als die religiöse Intoleranz, und aus Höflichkeit erlaubten sie ihnen, zu predigen, beachteten sie aber nicht sonderlich. Wenn sie die Vorträge der wenigen Pastoren besuchten, taten sie das mit der gleichen Einstellung, mit der sie zu einem beliebigen Spektakel gingen, und waren höchlich belustigt von ihrer Besonderheit, Ketzer zu sein. Aber nichts von alldem konnte Jacob Todd entmutigen, denn er kam ja nicht als Missionar, sondern als Bibelverkäufer.

In den Archiven der Bibliothek erfuhr er, daß Chile seit seiner Unabhängigkeitserklärung 1810 den Einwanderern die Tore geöffnet hatte, und sie kamen zu Hunderten und ließen sich in dem schmalen Land nieder, das in seiner ganzen Länge vom Pazifischen Ozean bespült wird. Die Engländer machten schnell ihr Glück als Handelsleute und Schiffsausrüster; viele brachten ihre Familien mit und blieben. Sie bildeten eine kleine Nation innerhalb des Staates mit ihren Bräuchen, Gottesdiensten, Zeitungen, Clubs, Schulen und Krankenhäusern, aber sie taten es mit so viel Anstand, daß sie, weit davon entfernt, Mißtrauen zu erregen, als Muster an Höflichkeit und Bildung angesehen wurden. Sie machten Valparaíso zu einem ihrer Stützpunkte, um den Überseehandel auf dem Pazifik zu kontrollieren, und so wurde aus einem in den Anfängen der Republik ärmlichen Häuserhaufen ohne Zukunft in weniger als zwanzig Jahren ein wichtiger Hafen, den die Segelschiffe anliefen, die um das Kap Horn herum aus dem Atlantik kamen, und später die Dampfschiffe, die durch die enge Magalhãesstraße fuhren. Valparaíso war das Handelszentrum des Pazifiks, in seinen Lagerhäusern waren Metalle, Wolle vom Schaf oder vom Alpaka, Getreide und Leder für die Märkte der Welt gespeichert.

So war es jedesmal eine Überraschung für den müden Reisenden, wenn Valparaíso in Sicht kam. Da lagen über hundert Schiffe mit Flaggen aus der halben Welt im Hafen. Die Berge mit den verschneiten Gipfeln schienen so nah, als stiegen sie geradewegs aus einem tintenblauen Meer auf, dem ein Duft nach Sirenen zu entströmen schien. Daß unter diesem Schein von tiefem Frieden eine ganze Stadt voller versunkener spanischer Segelschiffe lag und Skelette von Patrioten, die von den Soldaten des Statthalters mit Felssteinen an den Fußknöcheln ertränkt worden waren — Jacob Todd wollte es nicht wahrhaben.

Das Schiff ging in der Bucht vor Anker, zwischen Tausenden von Möwen, die mit ihren kraftvollen Flügeln und ihren hungrigen Schreien die Luft aufwirbelten. Fischerkähne tanzten auf den Wellen, einige mit riesigen noch lebenden Meeraalen und Seebarschen beladen, die an der Luft verzweifelt zappelten. Mehrere Boote beförderten die Passagiere und die Fracht des Seglers an Land. Als er zwischen Seeleuten, Stauern, Mitreisenden, Eseln und Schubkarren auf den Kai stieg, war er in einer Stadt angekommen, die, von steilen Hügeln wie ein Amphitheater umschlossen, ebenso dicht bevölkert und schmutzig war wie viele namhafte europäische Städte auch. Architektonisch jedoch kam sie ihm vor wie selbstmörderischer Schwachsinn mit ihren Häusern aus Luftziegeln und Holz in den viel zu engen Straßen — der kleinste Brand konnte sie in wenigen Stunden in Asche verwandeln. Eine von zwei geschundenen Pferden gezogene Kutsche brachte ihn und die Koffer und Kisten seines Gepäcks zum Hotel Inglés. Er fuhr vorbei an Gebäuden, die sehr hübsch um einen Platz herum gebaut waren, vorbei an mehreren eher plumpen Kirchen und an einstöckigen Wohnhäusern, die von großen Gärten umgeben waren. Er schätzte die Stadt auf etwa hundert Häuserblocks, aber er sah bald, daß sie den Blick täuschte, sie war ein Labyrinth von Gassen und Passagen. In der Ferne erspähte er ein Fischerviertel mit ärmlichen, dem scharfen Seewind ausgesetzten Hütten, neben denen Netze wie riesige Spinnweben hingen, und dahinter lagen fruchtbare Felder, die mit Gemüse und Obstbäumen bepflanzt waren. Sie begegneten Kutschen, die so modern waren wie die in London, Landauern, Droschken und Kaleschen, auch von zerlumpten Kindern gelenkten Maultiergespannen und von Ochsen gezogenen Karren mitten im Zentrum der Stadt. An den Straßenecken bettelten Mönche und Nonnen zwischen streunenden Hunden und verirrten Hühnern um Almosen für die Armen. Er beobachtete einige Frauen, beladen mit Beuteln und Körben, die Kinder am Rockzipfel, barfuß, aber mit schwarzem Tuch um den Kopf, und er sah viele Männer mit kegelförmigen Hüten müßig auf Türschwellen sitzen oder in Gruppen schwatzen.

Eine Stunde nachdem er an Land gegangen war, saß Jacob Todd in dem eleganten Salon des Hotel Inglés, rauchte aus Kairo importierte schwarze Zigaretten und blätterte in einer britischen Zeitschrift, deren Neuigkeiten ziemlich veraltet waren. Er seufzte dankbar: offensichtlich würde er keine Anpassungsprobleme haben, und wenn er sein Geld gut verwaltete, würde er hier fast so angenehm wie in London leben können. Er wartete, daß jemand zur Bedienung herbeieilte — offenbar hielt man nichts von Hast in diesen Breiten —, als John Sommers, der Kapitän des Schiffes, mit dem er gekommen war, zu ihm trat. Er war ein Hüne von Mann, dunkelhaarig, die Haut von der Sonne verbrannt wie Schuhleder, der gern mit seinen Fähigkeiten als tüchtiger Trinker, Frauenheld und ausdauernder Spieler prahlte, sei es mit Karten, sei es mit Würfeln. Sie waren gute Freunde geworden, und das Spiel hatte sie in den vielen langen Nächten auf hoher See unterhalten und an den stürmischen, eisigen Tagen, als sie das Kap Horn im Süden der Welt umschifften. John Sommers wurde von einem bleichen Mann mit gutgeschnittenem Bart begleitet, der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war und den er als seinen Bruder Jeremy vorstellte. Es würde schwerfallen, zwei verschiedenartigere Menschentypen zu finden. John wirkte wie das Urbild von Kraft und Gesundheit, freimütig, lärmig, liebenswert, während sein Bruder aussah wie ein in ewigem Winter gefangenes Gespenst. Er war einer jener Menschen, die niemals ganz anwesend sind und an die man sich nur schwer erinnert, weil ihnen feste Konturen fehlen, dachte Jacob Todd. Ohne eine Einladung abzuwarten, setzten sich beide an seinen Tisch mit der Ungezwungenheit von Landsleuten auf fremder Erde. Endlich erschien nun eine Kellnerin, und Kapitän John Sommers ließ eine Flasche Whisky kommen, während sein Bruder Tee bestellte in dem Kauderwelsch, das die Briten erfunden haben, um sich mit der Dienerschaft zu verständigen.

»Wie stehen die Dinge zu Hause?« fragte Jeremy. Er sprach leise, fast murmelnd, kaum die Lippen bewegend und mit einem etwas gekünstelten Akzent.

»Seit dreihundert Jahren passiert nichts in England«, sagte der Kapitän.

»Entschuldigen Sie meine Neugier, Mr. Todd, aber ich sah Sie das Hotel betreten und konnte nicht umhin, Ihr Gepäck zu bemerken. Mir schien, da waren mehrere Kisten mit der Aufschrift ›Bibeln‹ dabei … Habe ich mich geirrt?« fragte Jeremy Sommers.

»Es sind tatsächlich Bibeln.«

»Niemand hat uns mitgeteilt, daß uns noch ein Pastor geschickt würde …«

»Da sind wir drei Monate zusammen gesegelt, und ich habe nicht gemerkt, daß Sie ein Pastor sind, Mr. Todd!« polterte der Kapitän.

»Das bin ich in Wirklichkeit auch nicht«, erwiderte Jacob Todd und verbarg seine Verlegenheit hinter einer Rauchwolke aus seiner Zigarette.

»Ein Missionar also. Sie wollen nach Feuerland, nehme ich an. Die patagonischen Indios sind bereit für die Evangelisierung. Die Araukaner vergessen Sie besser, guter Mann, die haben die Katholiken schon für sich eingefangen«, sagte Jeremy Sommers.

»Da kann doch nur noch eine Handvoll Araukaner übrig sein. Die Burschen haben den Drang, sich massakrieren zu lassen«, fügte sein Bruder hinzu.

»Sie waren die wildesten Indios von ganz Amerika, Mr. Todd. Die meisten starben im Kampf gegen die Spanier. Sie waren Kannibalen.«

»Schnitten sich Stücke aus den lebenden Gefangenen: sie hatten ihr Mittagessen gern frisch«, erklärte der Kapitän. »Und das würden Sie und ich genauso machen, wenn uns einer die Familie umbringt, das Dorf verbrennt und das Land raubt.«

»Vortrefflich, John, jetzt verteidigst du schon den Kannibalismus!« erwiderte sein Bruder unwillig. »Auf jeden Fall, Mr. Todd, muß ich Sie warnen, kommen Sie nicht den Katholiken ins Gehege. Wir dürfen die Einheimischen nicht provozieren. Diese Leute sind sehr abergläubisch.«

»Der fremde Glaube ist Aberglaube, Mr. Todd. Der unsere heißt Religion. Die Indios von Feuerland, die Patagonier, unterscheiden sich beträchtlich von den Araukanern.«

»Genau die gleichen Wilden. Leben nackt in einem fürchterlichen Klima«, sagte Jeremy.

»Bringen Sie ihnen Ihre Religion, Mr. Todd, vielleicht lernen sie wenigstens Hosen zu tragen«, bemerkte der Kapitän.

Todd hatte noch nie von jenen Indios gehört, und etwas zu predigen, woran er selbst nicht glaubte, war das letzte, was er wollte, aber er getraute sich nicht, ihnen zu gestehen, daß seine Reise das Ergebnis einer Besäufniswette war. Er antwortete ausweichend, er gedenke eine missionarische Expedition auszurüsten, müsse aber erst noch entscheiden, wie die zu finanzieren sei.

»Hätte ich gewußt, daß Sie unterwegs sind, um diesen guten Leutchen die Absichten eines tyrannischen Gottes zu predigen, dann hätte ich Sie mitten im Atlantik über Bord geworfen, Mr. Todd.«

Sie wurden von der Kellnerin unterbrochen, die den Whisky und den Tee brachte. Sie war ein blühendes junges Mädchen und steckte in einem schwarzen Kleid, Häubchen und Schürze waren weiß und gestärkt. Als sie sich mit dem Tablett vorbeugte, verbreitete sich ein verwirrender Duft nach zerriebenen Blumen und Kohleplätteisen. Jacob Todd hatte in den letzten Monaten keine Frau zu Gesicht bekommen und starrte sie an mit einem würgenden Gefühl der Verlassenheit. John Sommers wartete, bis sich das Mädchen zurückgezogen hatte.

»Vorsicht, Mann, die Chileninnen sind gefährlich«, sagte er.

»Kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind klein, haben breite Hüften und eine unangenehme Stimme«, erklärte Jeremy Sommers, seine Teetasse balancierend.

»Die Matrosen desertieren ihretwegen!« rief der Kapitän.

»Ich gebe zu, mit Frauen kenne ich mich nicht so aus. Dafür habe ich keine Zeit. Ich muß mich um meine Geschäfte kümmern und um unsere Schwester, hast du das vergessen?«

»Nicht einen Augenblick, du erinnerst mich ja ständig dran. Sehen Sie, Mr. Todd, ich bin das schwarze Schaf der Familie, ein Windhund. Wenn der gute Jeremy nicht wäre …«

»Das Mädchen scheint Spanierin zu sein«, unterbrach ihn Jacob Todd, der ihr mit den Blicken gefolgt war, während sie jetzt einen anderen Tisch bediente. »Ich habe zwei Monate in Madrid gelebt und viele Frauen wie sie gesehen.«

»Hier sind alle Mestizen, die oberen Klassen eingeschlossen. Sie geben es natürlich nicht zu. Das Indioblut wird verheimlicht wie eine Seuche. Ich kann sie deswegen nicht tadeln, die Indios haben den Ruf, schmutzig, trunksüchtig und faul zu sein. Die Regierung versucht, die Rasse zu verbessern, indem sie europäische Einwanderer hereinholt. Im Süden schenken sie den Siedlern Land.«

»Das ist ihr Lieblingssport: Indios umbringen, damit sie ihr Land einstreichen können.«

»Du übertreibst, John.«

»Man muß sie nicht unbedingt immer mit einer Kugel beseitigen, es genügt auch, sie zu Trinkern zu machen. Aber umbringen ist viel vergnüglicher, versteht sich. Immerhin nehmen wir Briten nicht teil an diesem Zeitvertreib, Mr. Todd. Uns interessiert das Land nicht. Wozu Kartoffeln anpflanzen, wenn wir unser Glück machen können, ohne die Handschuhe auszuziehen?«

»Hier fehlt es nicht an Möglichkeiten für einen unternehmungslustigen Mann. In diesem Land liegt alles bereit, man braucht es sich nur nehmen. Wenn Sie reüssieren wollen, gehen Sie in den Norden. Dort gibt es Silber, Kupfer, Salpeter, Guano …«

»Guano?«

»Vogelscheiße«, erklärte der Seemann.

»Von alldem verstehe ich nichts, Mr. Sommers.«

»Ein Vermögen zu machen interessiert Mr. Todd nicht. Jeremy. Seine Sache ist der christliche Glaube, nicht wahr?«

»Die protestantische Kolonie ist zahlreich und wohlhabend, sie wird Ihnen helfen. Kommen Sie morgen in mein Haus. Mittwochs gibt meine Schwester Rose immer eine musikalische Gesellschaft, das ist eine gute Gelegenheit, Bekanntschaften zu schließen. Meine Kutsche wird Sie um fünf Uhr nachmittags abholen. Sie werden sich angenehm unterhalten«, sagte Jeremy und verabschiedete sich.

Am folgenden Tag, erfrischt von einer traumlosen Nacht und einem langen Bad, um all das Salz loszuwerden, das ihm noch in der verborgensten Falte klebte, aber immer noch mit dem schwankenden Gang, den er sich auf dem Schiff angewöhnt hatte, ging Jacob Todd aus, um durch den Hafen zu spazieren. Er schritt ohne Eile durch die Hauptstraße, die parallel zum Meer verlief und dem Ufer so nah, daß die Wellen sie besprühten, trank ein paar Glas in einem Café und aß in einem Gasthaus am Markt. Er hatte England an einem frostigen Februartag verlassen, und nachdem er eine endlose Wüste aus Wasser und Sternen überquert hatte, auf der er sich sogar beim Nachzählen seiner verflossenen Liebschaften verhedderte, war er auf der südlichen Halbkugel in den Beginn eines weiteren, erbarmungslosen Winters geraten. Er war vor seiner Abreise überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sich nach dem Klima zu erkundigen. Chile hatte er sich heiß und feucht wie Indien vorgestellt, denn so, glaubte er, seien nun einmal die Länder der Armen, und nun sah er sich einem eisigen Wind ausgeliefert, der ihn bis auf die Knochen durchdrang und Wolken von Sand und Unrat aufwirbelte. Er verirrte sich mehrmals in gewundenen Straßen, ging zurück und ging abermals zurück, um wieder dort zu landen, wo er angefangen hatte. Er stieg von endlosen Treppen geplagte Gassen hinauf, die von absurden, im Nirgendwo hängenden Häusern gesäumt waren, und war diskret bemüht, nicht durch die Fenster in fremde Häuslichkeiten zu spähen. Er stieß auf romantische, europäisch anmutende, von Laubengängen umgebene Plätze, wo Militärkapellen Musik für müßige Milchmädchen und ähnliche Verliebte spielten, und lief durch bescheidene, von Eseln niedergetrampelte Grünanlagen. Am Rande der Hauptstraßen wuchsen prächtige Bäume, genährt von den übelriechenden Wässern, die offen von den Hügeln herunterrannen. Im Geschäftsviertel war die Gegenwart der Briten so augenscheinlich, daß man meinte, die Luft anderer Breiten zu atmen. Die Aufschriften an verschiedenen Läden waren englisch, und die vorübergehenden britischen Landsleute waren gekleidet wie in London und trugen sogar die gleichen Leichenbestatterschirme. Kaum entfernte er sich aber von den Straßen des Zentrums, als die Armut mit der Wucht eines Faustschlages auf ihn eindrang; die Menschen wirkten matt und unterernährt, er sah Soldaten in fadenscheinigen Uniformen und Bettler an den Kirchentüren. Um zwölf Uhr mittags fingen auf allen Kirchtürmen die Glocken gleichzeitig zu läuten an, und augenblicklich verstummte der Lärm, die Leute blieben stehen, die Männer nahmen den Hut ab, die wenigen Frauen knieten nieder, und alle bekreuzigten sich. Das Bild stand zwölf Glockenschläge lang still, dann belebte sich die Straße wieder wie zuvor.

Die Engländer

Die Kutsche der Sommers fuhr mit einer halben Stunde Verspätung beim Hotel vor. Der Kutscher hatte reichlich Alkohol geladen, aber Jacob Todd konnte nicht wählerisch sein. Sie fuhren in Richtung Süden. Es hatte ein paar Stunden geregnet, und die Straßen waren an einigen Stellen fast unpassierbar geworden, wo sich unter Pfützen und Schlamm verhängnisvolle Löcher verbargen, groß genug, ein unachtsames Pferd zu schlucken. Am Rand der Straße warteten Kinder mit Ochsengespannen, bereit, im Morast steckengebliebene Kutschen für eine Kupfermünze herauszuziehen, aber trotz seiner Säuferkurzsichtigkeit schaffte es der Kutscher, alle Fallen zu vermeiden, und schließlich fuhren sie eine Anhöhe hinauf. Als sie auf dem Cerro Alegre ankamen, wo die meisten Angehörigen der Ausländerkolonie wohnten, änderte sich das Aussehen der Stadt schlagartig, und die ärmlichen Hütten und elenden Mietshäuser blieben unten zurück. Der Kutscher hielt vor einem Landhaus von beträchtlichen Ausmaßen, aber peinlich häßlichem Aussehen, eine Mißgeburt voller prätentiöser Türmchen und nutzloser Treppen, in das unebene Gelände gepflanzt und von so vielen Fackeln beleuchtet, daß die Nacht zurückgewichen war.

Ein Indiodiener in einer Livree, die ihm zu groß war, öffnete Jacob Todd die Tür, nahm seinen Mantel und Hut entgegen und führte ihn in einen weiträumigen Saal, der mit edlen Möbeln und ein wenig theatralischen Vorhängen aus grünem Samt ausgestattet und mit allem möglichen Zierat überladen war, ohne einen Zentimeter Weiß, an dem sich das Auge hätte erholen können. Er nahm an, daß in Chile wie in Europa eine nackte Wand als Zeichen der Armut angesehen wurde, und erkannte seinen Irrtum erst sehr viel später, als er die nüchternen Häuser der Chilenen besuchte. Die Gemälde hingen leicht nach vorn geneigt, damit man sie von unten besser würdigen konnte, und der Blick verlor sich im Halbdunkel der hohen Decke. Der große Kamin mit seinen dicken Holzscheiten und mehrere Kohlebecken verbreiteten eine ungleichmäßige Hitze, in der die Füße kalt blieben und der Kopf fiebrig heiß wurde. Es gab ein gutes Dutzend nach europäischer Mode gekleidete Personen in dem Raum und mehrere Mädchen in Dienstbotenkleidung, die mit Tabletts herumgingen. Jeremy und John kamen heran, um ihn zu begrüßen.

»Ich möchte Sie meiner Schwester Rose vorstellen«, sagte Jeremy und führte ihn zum hinteren Teil des Saales.

Und da sah Jacob Todd neben dem Kamin die Frau sitzen, die den Frieden seiner Seele zunichte machen sollte. Rose Sommers bezauberte ihn augenblicklich, nicht so sehr, weil sie schön, sondern weil sie selbstsicher und fröhlich war. Sie hatte nichts von der etwas grob geratenen überschäumenden Lebenskraft des Kapitäns und nichts von der langweiligen Feierlichkeit ihres Bruders Jeremy, sie war eine Frau, in deren Augen es sprühte, als wäre sie jederzeit bereit, in ein reizendes Lachen auszubrechen. Und wenn sie lachte, erschien um ihre Augwinkel ein Netz feiner Fältchen, und es war gerade das, was Jacob Todd am meisten anzog. Ihr Alter vermochte er nicht einzuschätzen, zwischen zwanzig und dreißig vermutlich, aber er nahm an, daß sie in zehn Jahren noch genauso aussehen werde, sie war schlank und rank und hatte die Haltung einer Königin. Sie war hinreißend in pfirsichfarbenen Taft gekleidet und trug keinen Schmuck außer einem Paar schlichter Korallenohrringe. Die elementarste Höflichkeit gebot, daß er sich darauf beschränkte, den Handkuß nur vorzutäuschen, aber inzwischen war sein Verstand hinreichend verwirrt, und ohne zu begreifen, was er tat, vollbrachten seine Lippen einen kräftigen Kuß. So unpassend war diese Begrüßung, daß beide einen endlosen Augenblick lang in Unschlüssigkeit verharrten — er hielt ihre Hand fest, als hätte er einen Degen gepackt, sie betrachtete das bißchen Spucke, wagte aber nicht, es abzuwischen, um den Gast nicht zu beleidigen —, bis ein kleines, wie eine Prinzessin gekleidetes Mädchen die Szene unterbrach. Todd kam zu sich, und als er sich aufrichtete, nahm er eben noch ein spöttisches Grinsen von einem Bruder Sommers zum anderen wahr. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, wandte er sich mit übertriebener Aufmerksamkeit dem Kind zu, fest entschlossen, es für sich zu gewinnen.

»Das ist Eliza, unser Schützling«, sagte Jeremy Sommers.

Jacob Todd beging seinen zweiten Schnitzer. »Was soll das heißen, Schützling?« fragte er.

»Das heißt, ich gehöre nicht zu dieser Familie«, erklärte Eliza geduldig in einem Ton, als spräche sie zu einem Trottel.

»Nein?«

»Wenn ich mich schlecht benehme, schicken sie mich zu den papistischen Nonnen.«

»Was sagst du da, Eliza! Beachten Sie das nicht, Mr. Todd. Kindern fallen oft die seltsamsten Dinge ein. Selbstverständlich gehört Eliza zu unserer Familie«, mischte Rose sich ein und erhob sich.

Eliza hatte den Tag bei Mama Fresia verbracht und ihr beim Kochen geholfen. Die Küche lag im Patio, aber Miss Rose hatte sie durch einen überdachten Gang mit dem Haus verbinden lassen, um die Peinlichkeit zu vermeiden, daß die Gerichte etwa kalt oder von Taubendreck bespritzt auf den Tisch kämen. Dieser von Fett und Ruß geschwärzte Raum war das unumstrittene Reich Mama Fresias. Katzen, Hunde, Gänse und Hühner spazierten nach Lust und Laune über den ungewachsten Steinfußboden; hier verbrachte die Ziege, die Eliza genährt hatte, wiederkäuend den Winter, und wenn sie auch schon sehr alt war, wagte niemand sie zu schlachten, denn das wäre gewesen, als ermordete man eine Mutter. Das Kind liebte den Geruch aus den Backtrögen, wenn der Sauerteig unter Seufzen den geheimnisvollen Vorgang des Treibens verrichtet; es liebte das Aroma von karamelisiertem Zucker, wenn er zur Verzierung von Torten geschlagen wird, und den Duft von Schokolade, wenn sie sich in der Milch auflöst. An den Gesellschaftsmittwochen traten die Mucamas in Tätigkeit, zwei halbwüchsige Indias, die mit im Haus wohnten und für ihr Essen arbeiteten. Sie polierten das Silber, bügelten die Tischdecken und zauberten Glanz auf das Kristall. Am Mittag wurde der Kutscher zur Konditorei geschickt, um Süßigkeiten zu kaufen, deren Rezepte eifersüchtig gehütet wurden, seit die Kolonie bestand. Mama Fresia nutzte die Gelegenheit und hängte an das Geschirr der Pferde eine lederne Flasche mit frischer Milch, die sich bei dem Trab hin und zurück in Butter verwandelte.

Um drei Uhr nachmittags rief Miss Rose Eliza in ihr Zimmer, wo der Kutscher und der Diener eine auf Löwenfüßen stehende bronzene Badewanne aufgestellt hatten, die die Mucamas mit einem Laken auslegten und mit heißem, mit Minze und Rosmarinblättern parfümiertem Wasser füllten. Rose planschte mit Eliza in der Wanne, als wäre sie selbst noch ein Kind, bis das Wasser zu kühl wurde und die Dienstmädchen wiederkamen, die Arme mit Kleidungsstücken beladen, um ihnen beim Ankleiden zu helfen: Strümpfe anziehen, Unterhosen, die bis zum Knie reichten, ein Batisthemd, dann ein kurzer Unterrock, über den Hüften gepolstert, um die Schlankheit der Taille zu betonen, darüber drei gestärkte Unterröcke und schließlich das Kleid, das den Körper völlig einhüllte und nur den Kopf und die Hände freiließ. Miss Rose trug außerdem ein steifes Korsett aus Fischbein, das so eng war, daß sie weder tief atmen noch die Arme über Schulterhöhe heben konnte, sie konnte sich auch nicht allein anziehen oder sich bücken, weil dann die Fischbeinstäbe brechen und sich ihr wie Nadeln ins Fleisch bohren würden. Dieses Bad war übrigens das einzige in der Woche, eine Zeremonie vergleichbar nur der Haarwäsche am Samstag, die jeder Vorwand umstoßen konnte, weil sie als gefährlich für die Gesundheit angesehen wurde. An den anderen Wochentagen benutzte Miss Rose Seife mit Vorsicht, sie zog es vor, sich mit einem mit Milch getränkten Schwamm abzureiben und sich mit einem Eau de toilette zu erfrischen, das mit Vanille parfümiert war und das sich, wie sie gehört hatte, seit den Tagen der Madame Pompadour in Frankreich unverminderter Beliebtheit erfreute; Eliza hätte sie mit geschlossenen Augen aus einer Menschenmenge herausgefunden, weil sie so schön nach Dessert duftete. Auch als sie die dreißig überschritten hatte, behielt sie noch diese zarte, durchsichtige Haut, wie viele junge Engländerinnen sie haben, bevor sie im Licht der Welt und unter der eigenen Arroganz zu Pergament wird. Sie pflegte ihre Erscheinung mit Rosenwasser und Zitrone, um die Haut aufzuhellen, verwendete Hamamelissalbe, um sie geschmeidig zu machen, Kamille, um den Haaren Glanz zu geben, und eine Auswahl von exotischen Balsamen und Lotionen, die Bruder John ihr aus dem Fernen Osten mitgebracht hatte, wo die schönsten Frauen der Welt lebten, wie er sagte. Sie erfand Kleider, zu denen sie sich von den Modezeitschriften aus London anregen ließ, und schneiderte sie selbst in ihrem Nähstübchen; mit Intuition und Witz veränderte sie ihre Kleidung mit immer denselben Bändern, Blumen und Federn, die ihr jahrelang dienten, ohne veraltet zu wirken. Sie benutzte keinen schwarzen Umhang, wenn sie ausging, wie die Chileninnen es tun, eine Sitte, die sie für eine Verirrung hielt, sie zog ihr kurzes Cape und ihre Sammlung von Hüten vor, obwohl sie auf der Straße angesehen wurde, als wäre sie eine Halbweltdame.

Entzückt, ein neues Gesicht auf der allwöchentlichen Gesellschaft zu sehen, verzieh Miss Rose den unverschämten Kuß, nahm Jacob Todds Arm und führte ihn zu einem runden Tisch, der in einer Ecke des Saales stand. Sie ließ ihn zwischen verschiedenen alkoholischen Getränken wählen und bestand darauf, er müsse ihren Mistela kosten, ein eigenartiges Gebräu aus Branntwein, Zimt und Zucker, das zu schlucken er sich außerstande sah, weshalb er es heimlich in einen Blumentopf kippte. Dann stellte sie ihn den übrigen Gästen vor: Mr. Applegreen, Möbelfabrikant, begleitet von seiner Tochter, einem farblosen, schüchternen jungen Ding; Madame Colbert, Leiterin einer englischen Mädchenschule; Mr. Ebeling, Besitzer des besten Geschäfts für Herrenhüte, und seine Gattin, die sich auf Todd stürzte und ihn dringlich um Nachrichten von der englischen königlichen Familie bat, als handelte es sich um ihre Verwandten. Er lernte auch die Chirurgen Page und Poett kennen.

»Die Ärzte arbeiten mit Chloroform!« klärte Miss Rose ihn bewundernd auf.

»Hier ist das noch eine Neuheit, aber in Europa hat das Chloroform die medizinische Praxis revolutioniert«, erläuterte einer der Chirurgen.

»Soviel ich weiß, wendet man es in England regelmäßig bei der Geburtshilfe an. Hat man es nicht auch bei Königin Viktoria benutzt?« fragte Todd, nur um etwas zu sagen, denn er hatte von dem Thema keine Ahnung.

»Hier sträuben sich die Katholiken heftig dagegen. Der biblische Fluch, der über der Frau hängt, heißt unter Schmerzen gebären, Mr. Todd.«

»Finden Sie das nicht ungerecht, meine Herren? Der Fluch des Mannes ist es, im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten, aber in diesem Salon, da braucht man gar nicht weit zu gehen, verdienen sich die Herren ihren Lebensunterhalt mit dem Schweiß anderer«, entgegnete Miss Rose und errötete tief.

Die beiden Chirurgen lächelten unbehaglich, aber Todd beobachtete Miss Rose hingerissen. Er wäre am liebsten die ganze Nacht an ihrer Seite geblieben, obwohl es auf einer Gesellschaft in London korrekt war, wie Jacob Todd sich erinnerte, um Mitternacht zu gehen. Er merkte aber, daß bei diesem Zusammensein die Gäste zum Bleiben entschlossen sein schienen, und er vermutete, daß der gesellschaftliche Kreis sehr begrenzt sein mußte und die wöchentliche Abendunterhaltung der Sommers vielleicht die einzige dieser Art war. Während er noch überlegte, klatschte Miss Rose in die Hände und kündigte den musikalischen Teil des Abends an. Die Dienstmädchen brachten noch mehr Kandelaber herbei, die den Saal taghell erleuchteten, und bauten Stühle im Halbkreis um ein Klavier, eine Laute und eine Harfe auf, die Damen nahmen Platz, und die Herren stellten sich hinter sie. Ein pausbäckiger Mensch setzte sich ans Klavier, und unter seinen Fleischerhänden erklang eine bezaubernde Melodie, wozu die Tochter des Möbelfabrikanten eine alte schottische Ballade sang, mit einer so makellos schönen Stimme, daß Todd völlig vergaß, wie sehr sie ihn anfangs an eine verschreckte Maus erinnert hatte; die Leiterin der Mädchenschule rezitierte ein unnötig langes patriotisches Gedicht; Rose sang ein paar Schelmenlieder im Duett mit ihrem Bruder John, trotz Jeremys offensichtlicher Mißbilligung, und forderte dann Jacob Todd auf, die Gesellschaft mit etwas aus seinem Repertoire zu erfreuen. Das gab dem neuen Gast Gelegenheit, seine gute Stimme zur Geltung zu bringen.

»Sie sind ja eine echte Errungenschaft, Mr. Todd! Sie lassen wir nicht wieder los! Sie sind jetzt dazu verurteilt, jeden Mittwoch zu kommen!« rief sie aus, als der Applaus verstummte, und beachtete den törichten Gesichtsausdruck nicht, mit dem der Gast sie ansah.

Todd fühlte, wie seine Zähne vom Zucker klebten, der Kopf drehte sich ihm, er wußte nicht, was mehr schuld daran war: Roses Bewunderung oder die genossenen Alkoholika und die starke kubanische Zigarre, die er im Gespräch mit Kapitän Sommers geraucht hatte. In diesem Haus konnte man kein Glas und keine Speise ablehnen, ohne den Gastgeber zu beleidigen; er würde bald entdecken, daß dies eine nationale Eigentümlichkeit in Chile war, wo die Gastfreundschaft sich dann äußerte, daß man die Geladenen nötigte, weit über menschliches Fassungsvermögen hinaus zu essen und zu trinken. Um neun Uhr wurde zu Tisch gebeten, sie zogen alle ins Speisezimmer, wo eine weitere Serie von üppigen Gerichten und neuen Desserts sie erwartete. Gegen Mitternacht erhoben sich die Damen und zogen sich plaudernd in den Salon zurück, während die Männer im Speisezimmer rauchten und Brandy tranken. Dann endlich, als Todd schon drauf und dran war, ohnmächtig zu werden, begannen die Gäste nach ihren Mänteln und ihren Kutschen zu fragen. Die Ebelings, die an seiner vermeintlichen Evangelisierungsmission auf Feuerland lebhaft interessiert waren, boten ihm an, ihn zu seinem Hotel zu bringen, und er nahm sofort an, weil ihn die Vorstellung schreckte, sich in tiefster Dunkelheit von dem betrunkenen Kutscher der Sommers über diese Albtraumstraßen schaukeln zu lassen. Die Fahrt kam ihm endlos vor, er fühlte sich außerstande, sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren, so übel wie ihm war mit seinem revoltierenden Magen.

»Meine Frau wurde in Afrika geboren, sie ist die Tochter eines Missionarsehepaares, das dort den wahren Glauben verbreitet; wir wissen, wie viele Opfer das mit sich bringt, Mr. Todd. Wir hoffen, Sie gewähren uns das Privileg, Sie bei Ihrem edlen Wirken unter den Eingeborenen zu unterstützen«, sagte Mr. Ebeling feierlich beim Abschied.

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In dieser Nacht konnte Jacob Todd nicht schlafen, Rose Sommers’ Bild verfolgte ihn unbarmherzig, und als der Morgen graute, hatte er beschlossen, ihr ernsthaft den Hof zu machen. Er wußte nichts von ihr, aber das kümmerte ihn nicht, vielleicht war es sein Schicksal, eine Wette zu verlieren und bis nach Chile zu reisen, nur um seine zukünftige Ehefrau kennenzulernen. Er wäre schon am gleichen Tag zur Tat geschritten, aber er kam vom Bett nicht hoch, weil schwere Koliken ihn heimsuchten. So lag er einen Tag und eine Nacht, abwechselnd bewußtlos oder von Schmerzen gepeinigt, bis er es, alle Kraft zusammennehmend, endlich schaffte, sich zur Tür zu schleppen und um Hilfe zu rufen. Auf seine Bitte schickte der Geschäftsführer des Hotels einen Boten zu den Sommers, Todds einzigen näheren Bekannten in der Stadt, und hieß einen Diener das Zimmer säubern, das wie ein Maultierstall roch. Gegen Mittag erschien Jeremy Sommers im Hotel, begleitet von dem bekanntesten Bader von Valparaíso, der über einige Kenntnisse des Englischen verfügte und der Todd erklärte, nachdem er ihn an Armen und Beinen bis zum Weißbluten zur Ader gelassen hatte, daß alle Ausländer, die zum erstenmal den Boden Chiles beträten, krank würden.

»Kein Grund zur Panik, soviel ich weiß, sterben nur wenige dran«, beruhigte er ihn.

Er gab ihm einige Oblaten aus Reispapier, die Chinin enthielten, aber Todd konnte sie vor lauter Übelkeit nicht schlucken. Er war in Indien gewesen und kannte die Symptome der Malaria und anderer Tropenkrankheiten, die mit Chinin behandelt wurden, aber diese Qualen ähnelten ihnen nicht einmal entfernt. Kaum war der Bader gegangen, kam wieder der Diener, um die blutigen Tücher fortzubringen und das Zimmer noch einmal aufzuwischen. Jeremy Sommers hatte die Adressen der Ärzte Page und Poett dagelassen, aber bevor Todd nach ihnen schicken konnte, erschien eine wohlbeleibte Matrone in dem Hotel und verlangte den Kranken zu besuchen. An der Hand hielt sie ein in blauen Samt gekleidetes kleines Mädchen, das weiße Stiefelchen und ein mit Blumen besticktes Hütchen trug und aussah wie ein Märchenwesen. Es waren Mama Fresia und Eliza, von Rose Sommers geschickt, die ein sehr geringes Vertrauen in die Aderlasserei hatte. Die beiden brachen so zielsicher in das Zimmer ein, daß der geschwächte Jacob Todd nicht zu protestieren wagte. Die erste kam in ihrer Eigenschaft als Heilerin und die Kleine als Übersetzerin.

»Meine Mamita sagt, sie wird Ihnen den Pyjama ausziehen. Ich gucke nicht hin«, erklärte das Kind und drehte sich zur Wand, während die India ihn mit zwei kräftigen Griffen auszog und sich daran machte, ihn von Kopf bis Fuß mit Branntwein abzureiben.

Sie packten heiße Ziegel in sein Bett, wickelten ihn in Decken und gaben ihm löffelweise einen mit Honig gesüßten bitteren Blätteraufguß ein, um die Schmerzen zu lindern.

»Jetzt wird meine Mamita die Krankheit besprechen«, sagte die Kleine.

»Was ist denn das?«

»Haben Sie keine Angst, es tut nicht weh.«

Mama Fresia schloß die Augen und begann, ihm mit den Händen über Oberkörper und Bauch zu streichen, wobei sie in der Mapuchesprache Beschwörungen murmelte. Jacob Todd fühlte, wie ihn eine unwiderstehliche bleierne Müdigkeit überkam, und noch bevor die India geendet hatte, schlief er tief und fest und merkte nicht mehr, wann seine beiden Krankenschwestern verschwanden. Er schlief achtzehn Stunden und erwachte in Schweiß gebadet. Am folgenden Morgen kehrten Mama Fresia und Eliza zurück, um ihm eine weitere kräftige Abreibung und eine große Tasse Hühnerbrühe angedeihen zu lassen.

»Meine Mamita sagt, Sie dürfen nie mehr Wasser trinken. Bloß schön heißen Tee, und essen Sie kein Obst, sonst möchten Sie wieder am liebsten sterben«, übersetzte das kleine Mädchen.

Ein paar Tage danach, als er aufstehen konnte und sich im Spiegel betrachtete, begriff er, daß er sich mit diesem Aussehen nicht vor Miss Rose zeigen konnte: er hatte mehrere Kilo verloren, war abgemagert und konnte keine zwei Schritte gehen, ohne keuchend auf den nächsten Stuhl zu fallen. Als er wieder imstande war, ihr ein Briefchen zu schreiben, um sich zu bedanken, daß sie ihm das Leben gerettet hatte, und Schokolade für Mama Fresia und Eliza mitschickte, erfuhr er, daß die junge Frau mit einer Freundin und ihrer Mucama nach Santiago aufgebrochen war, eine riskante Reise bei dem Klima und dem schlechten Zustand der Straßen. Miss Rose unternahm diese strapaziöse Fahrt über vierunddreißig spanische Meilen einmal jedes Jahr und immer zu Beginn des Herbstes oder mitten im Frühling, um ins Theater zu gehen, gute Musik zu hören und ihre jährlichen Einkäufe im Gran Almacén Japonés zu tätigen, dem großen japanischen Warenhaus, das nach Jasmin duftete und von Gaslampen mit rosafarbenen Glaskugeln erleuchtet wurde und in dem sie die hübschen Nichtigkeiten erstand, die in der vom Luxus nicht verwöhnten Provinzstadt nur schwer zu bekommen waren. Diesmal jedoch gab es einen guten Grund, im Winter zu fahren: sie würde für ein Porträt sitzen. Der berühmte französische Maler Monvoisin war nach Chile gekommen, eingeladen von der Regierung, um unter den Künstlern des Landes Schule zu machen. Der Meister malte lediglich den Kopf, der Rest war das Werk seiner Gehilfen, und die klebten sogar, um Zeit zu sparen, den Spitzenbesatz des Kleides unmittelbar auf die Leinwand, aber trotz solcher Schwindeleien gab einem nichts soviel Ansehen wie ein von ihm signiertes Porträt. Jeremy Sommers bestand darauf, eines von seiner Schwester malen zu lassen, das dann den Salon schmücken sollte. Das Gemälde kostete sechs Unzen Gold und noch eine mehr für jeden Helfer, aber in einem solchen Fall kam Sparen überhaupt nicht in Frage. Die Möglichkeit, ein authentisches Werk des großen Monvoisin zu besitzen, bot sich nicht zweimal im Leben, wie seine Kunden sagten.

»Wenn die Kosten kein Problem sind, dann wünsche ich, daß er mich mit drei Händen malt. Das wird dann sein berühmtestes Bild und wird schließlich in einem Museum hängen statt über unserem Kamin«, erklärte Miss Rose.

Es war das Jahr der großen Überschwemmungen, die in den Schulbüchern und in der Erinnerung der Alten aufgezeichnet blieben. Die Sintflut zerstörte Hunderte von Wohnstätten, und als das Unwetter endlich nachließ und die Wasser zu fallen begannen, setzte eine Reihe von kleineren Erdbeben ein, die sich anhörten wie Beilhiebe Gottes und verwüsteten, was die Regengüsse übriggelassen hatten. Üble Gestalten durchstöberten die Trümmer, Diebe nutzten die Verwirrung und raubten die Häuser aus, die Soldaten erhielten Befehl, jeden ohne Umstände zu erschießen, den sie bei solcherart Gewalttaten erwischten, aber einmal dabei, teilten sie Säbelhiebe nach links und rechts aus, ohne Rücksicht auf Verluste, und der Befehl mußte widerrufen werden, bevor sie auch die Unschuldigen umbrachten. Jacob Todd, der in seinem Hotel mit einer Erkältung festsaß und immer noch geschwächt war nach der kolikengeplagten Woche, horchte verzweifelt auf das unaufhörliche Getöse der Kirchenglocken, die zur Buße aufriefen, las uralte Zeitungen und suchte Gesellschaft zum Kartenspielen. Einmal ging er aus, um sich in einer Apotheke ein Stärkungsmittel für seinen Magen zu besorgen, aber der Laden erwies sich als chaotische Bruchbude, vollgestopft mit verstaubten blauen und grünen Flaschen, und der deutsche Handlungsgehilfe bot ihm Skorpionöl und Wurmspiritus an. Zum erstenmal beklagte er es, so weit von London entfernt zu sein.

In den Nächten kam er kaum zum Schlafen wegen der Betrunkenen, die auf der Straße krakeelten und sich prügelten, aber auch wegen der Beerdigungen, die zwischen zwei und drei Uhr nachts stattfanden. Der neue Friedhof lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt. Das Unwetter hatte die Erde aufgerissen, Gräber hatten sich geöffnet und die Gebeine freigegeben, die den Abhang heruntergerollt waren in wüstem Durcheinander, in dem alle Toten in der gleichen Würdelosigkeit vereint waren. Viele meinten, zehn Jahre früher wären die Verstorbenen besser untergebracht gewesen, als nämlich die wohlhabenden Leute in den Kirchen beigesetzt, die Armen in die Schluchten geworfen und die Ausländer am Strand verscharrt wurden. Dies ist ein wunderliches Land, schloß Todd, der sich ein Tuch vors Gesicht gebunden hatte, weil der Wind den ekelerregenden Gestank der Katastrophe herantrug, den die Stadtväter mit großen Feuern aus Eukalyptusholz bekämpften. Kaum fühlte er sich besser, wagte er sich hinaus, um sich die Prozessionen anzusehen. Was sonst ein frommes Ritual an den sieben Tagen der heiligen Woche und zu anderen religiösen Festen war, verwandelte sich nun in Massenaufzüge, die den Himmel anflehten, dem Unwetter ein Ende zu machen. In langen Reihen kamen die Gläubigen aus der Kirche, voran die schwarzgekleideten Männer der Laienbruderschaften, die auf Tragen die Statuen der Heiligen in ihren prächtigen, mit Gold und edlen Steinen bestickten Gewändern mit sich führten. Eine andere Kolonne trug einen gekreuzigten Christus, dessen Dornenkrone ihm um den Hals hing. Man hatte Todd erklärt, das sei der Christus von Mayo, der für diesen Anlaß eigens aus Santiago herbeigeholt worden sei, denn er sei die wundertätigste Heiligenstatue der Welt und als einzige fähig, dem Wetter zu gebieten. Vor zweihundert Jahren hatte ein schreckliches Erdbeben die Hauptstadt verheert, und die Kirche San Agustín lag in Trümmern, nur nicht der Altar, auf dem jener Christus stand. Die Dornenkrone war vom Kopf auf den Hals gerutscht, und dort blieb sie auch, denn jedesmal, wenn man versuchte, sie an ihren richtigen Platz zu schieben, begann sie wieder zu zittern. Die Prozessionen vereinten zahllose Mönche und Nonnen, vom vielen Fasten ausgezehrte fromme Frauen, aus voller Kehle betende und singende einfache Leute, reuige Sünder in groben Büßerhemden, Flagellanten, die sich mit ledernen, an den Enden mit scharfgeschliffenen Metallrosetten versehenen Geißeln den nackten Rücken peitschten. Einige fielen ohnmächtig zu Boden, und Frauen kümmerten sich um sie, wuschen ihnen das wunde Fleisch und gaben ihnen zu trinken, aber kaum hatten sich die Männer erholt, schoben sie sie zurück in die Prozession. Kolonnen von Indios, die sich mit beängstigender Inbrunst kasteiten, und Musikkapellen, die religiöse Hymnen spielten, zogen vorbei. Der rauschende Schwall der wehklagenden Gebete glich dem Tosen eines Wildwasserstromes, und die feuchte Luft roch nach Weihrauch und Schweiß. Es gab Prozessionen von Aristokraten, vornehm dunkel gekleidet und ohne Schmuck, und andere von barfüßigem, zerlumptem Elendsvolk, die sich bisweilen kreuzten, aber ohne sich zu berühren oder zu vermischen. Mit der Zeit wuchs das Wehgeschrei mehr und mehr an, die Gläubigen flehten heulend um Vergebung für ihre Sünden, sie waren sicher, daß das schlimme Wetter die göttliche Strafe für ihre Verfehlungen war. Die reuigen Büßer liefen in Massen herbei, die Kirchen konnten sie nicht mehr fassen, und so richteten sich ganze Reihen von Priestern unter Marktzelten und Schirmen ein, um die Beichten abzunehmen. Der Engländer Todd war fasziniert von dem Schauspiel, auf keiner seiner Reisen hatte er etwas so Exotisches und gleichzeitig Unheimliches mit angesehen. An protestantische Nüchternheit gewöhnt, war ihm, als wäre er ins tiefste Mittelalter zurückversetzt; seine Londoner Freunde würden ihm dies niemals glauben. Selbst aus weiter Entfernung konnte er das Zittern des leidenden Tieres spüren, das in Wellen durch die Menschenmasse lief. Er stemmte sich mit einiger Mühe hoch auf den Sockel eines Denkmals, das auf dem kleinen Platz gegenüber der Kathedrale stand und von wo er einen umfassenden Überblick über die Menge hatte. Plötzlich fühlte er, daß ihn jemand am Hosenbein zupfte, er sah hinunter, und da stand ein kleines Mädchen mit einem Umhang über dem Kopf und einem von Blut und Tränen verschmierten Gesicht. Er zog unwirsch sein Bein hoch, aber zu spät, sie hatte ihm die Hose schon beschmutzt. Er fluchte und versuchte sie durch Gesten wegzuscheuchen, an die passenden spanischen Worte konnte er sich nicht erinnern, aber zu seiner Verblüffung erklärte sie ihm in perfektem Englisch, sie habe sich verlaufen und ob er sie vielleicht nach Hause bringen könne. Da sah er sie genauer an.

»Ich bin Eliza Sommers. Erinnern Sie sich an mich?« sagte das Kind schüchtern.

Die Tatsache ausnutzend, daß Miss Rose in Santiago für das Porträt saß und Jeremy in diesen Tagen selten zu Hause erschien, weil die Warenschuppen seiner Firma überschwemmt waren, hatte sie Mama Fresia vorgeschlagen, zur Prozession zu gehen, und hatte der Armen so zugesetzt, daß die schließlich nachgegeben hatte. Ihre Herrschaft hatte ihr verboten, katholische oder Indioriten vor dem Kind zu erwähnen oder es gar der Möglichkeit auszusetzen, dergleichen zu sehen, aber auch sie starb vor Verlangen, den Christus von Mayo wenigstens einmal im Leben zu erblicken. Die Geschwister Sommers würden es ja nie erfahren, beruhigte sie sich. So schlichen sich also die beiden heimlich aus dem Haus, wanderten den Berg hinunter, bestiegen einen Ochsenkarren, ließen sich in der Nähe des Hauptplatzes absetzen und schlossen sich einer Reihe bußwilliger Indios an. Alles wäre gut gegangen, hätte Eliza sich nicht von Mama Fresias Hand losgemacht, die, angesteckt von der allgemeinen Hysterie, nichts merkte und sich von der Menge mitschieben ließ. Eliza sah sich plötzlich allein gelassen und fing an zu schreien, aber ihre Stimme verlor sich im Lärm der Gebete und der trübseligen Trommeln der Bruderschaften. Sie lief los, ihre Nana zu suchen, aber alle Frauen sahen gleich aus unter den dunklen Umhängen, und sie rutschte dauernd aus auf dem von Schlamm, Kerzenwachs und Blut bedeckten Pflaster. Inzwischen hatten sich die verschiedenen Kolonnen zu einer einzigen Masse vereint, die sich wie ein verwundetes Tier dahinschleppte, während die Glocken wie wahnsinnig läuteten und die Schiffe im Hafen tuteten. Sie wußte nicht, wie lange sie von Entsetzen gelähmt war, bis nach und nach ihre Gedanken wieder klar wurden. Inzwischen war die Prozession zur Ruhe gekommen, alle waren in die Knie gesunken, und auf einer Estrade gegenüber der Kirche zelebrierte der Bischof persönlich ein feierliches Hochamt. Eliza dachte daran, zum Cerro Alegre zu Fuß zu gehen, aber sie hatte Angst, daß die Dunkelheit sie unterwegs überraschen werde, sie war noch nie allein ausgegangen und wußte nicht, wie sie sich zurechtfinden sollte. Sie beschloß, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis die Menge sich auflöste, vielleicht würde Mama Fresia sie dann finden. Da fiel ihr Blick auf einen hochgewachsenen Rotschopf, der sich an das Denkmal des Platzes klammerte, und erkannte den Kranken, den ihre Nana und sie gepflegt hatten. Ohne Zögern drängte sie sich zu ihm durch.

»Was tust du hier? Bist du verletzt?« rief der Mann von oben.

»Ich bin verlorengegangen, können Sie mich nach Hause bringen?«

Jacob Todd stieg herab, wischte ihr das Gesicht mit seinem Taschentuch ab, musterte sie kurz und stellte fest, daß sie keinen sichtbaren Schaden davongetragen hatte.

Er schloß daraus, daß das Blut wohl von den Flagellanten stammte.

»Ich werde dich ins Kontor zu Mr. Sommers bringen.« Aber sie bat ihn, das ja nicht zu tun, denn wenn der Hausherr erführe, daß sie bei der Prozession gewesen war, würde er Mama Fresia entlassen. Todd ging also eine Mietkutsche suchen, die unter diesen Umständen nicht leicht zu finden war, während die Kleine schweigend neben ihm trottete und seine Hand keinen Augenblick losließ. Der Engländer verspürte zum erstenmal in seinem Leben einen Schauer der Zärtlichkeit für eine Kinderhand, für die kleine, feuchte Hand, die sich an seine klammerte. Von Zeit zu Zeit betrachtete er Miss Roses Ziehtochter verstohlen und war gerührt von diesem Kindergesicht mit den schwarzen mandelförmigen Augen. Endlich stießen sie auf einen von zwei Maultieren gezogenen Karren, und der Kutscher willigte ein, sie hügelan zu fahren, für das Doppelte des üblichen Preises. Sie legten die Fahrt schweigend zurück, und eine Stunde später setzte Todd die Kleine vor dem Sommersschen Hause ab. Sie verabschiedete sich mit einem Knicks, lud ihn aber nicht ein, hereinzukommen. Er sah ihr nach, wie sie davonging, klein und zart, bis zu den Füßen von dem schwarzen Umhang verhüllt. Plötzlich blieb sie stehen, wandte sich um, kam zurückgelaufen, warf ihm die Arme um den Hals und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke«, sagte sie, »noch mal danke!« Jacob Todd kehrte im selben Karren zurück zu seinem Hotel. Von Zeit zu Zeit berührte er seine Wange, überrascht von der süßen und traurigen Empfindung, die dieses kleine Mädchen ihm einflößte.

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Mochten die Prozessionen in ihrer aufgeschaukelten Frömmigkeit einen Zweck schon in sich selbst haben, so brachten sie es aber auch fertig, wie Jacob Todd staunend sehen konnte, den Regen abzustellen, und rechtfertigten somit einmal mehr den strahlenden Ruhm des Christus von Mayo. In weniger als achtundvierzig Stunden klarte der Himmel auf, und eine schüchterne Sonne schien auf all den Jammer herab. Der Unwetter und der Epidemien wegen waren geschlagene neun Wochen vergangen, ehe sich die Mittwochsgesellschaften im Hause Sommers wieder zusammenfanden, und noch ein paar mehr, ehe Jacob Todd sich getraute, Miss Rose seine Gefühle zu offenbaren. Als er es endlich schaffte, tat sie, als hätte sie es nicht gehört, aber da er beharrlich blieb, bekam er eine verblüffende Antwort.

»Das einzig Gute am Heiraten ist das Witwe-Werden«, sagte sie.

»Ein Ehemann, und mag er noch so vertrottelt sein, steht jeder Frau gut«, gab er zurück, ohne gekränkt zu sein.

»Das kümmert mich nicht. Ein Ehemann wäre nichts als lästig, und er könnte mir nichts geben, was ich nicht schon hätte.«

»Kinder vielleicht?«

»Aber was glauben Sie eigentlich, wie alt ich bin, Mr. Todd?«

»Nicht älter als siebzehn.«

»Machen Sie sich nur lustig. Zum Glück habe ich Eliza.«

»Ich bin ein Starrkopf, Miss Rose, ich gebe mich nie geschlagen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Todd. Nicht der Ehemann ist es, der einer Frau gut steht, sondern viele Bewerber.«

Jedenfalls war Rose der Grund, weshalb Jacob Todd sehr viel länger in Chile blieb als die wenigen Monate, die er sich für den Verkauf seiner Bibeln vorgenommen hatte. Die Sommers waren für ihn der perfekte gesellschaftliche Kontakt, durch sie öffneten sich ihm sperrangelweit die Türen der wohlhabenden ausländischen Kolonie, die bereit war, ihn bei der vermeintlichen frommen Mission auf Feuerland zu unterstützen. Er beschloß, sich einige Kenntnisse über die patagonischen Indios anzueignen, aber nach einem müden Blick in ein paar alte Schwarten, die er aufstöbern konnte, begriff er, daß es gleich war, ob er nun etwas darüber wußte oder nicht, denn die Ahnungslosigkeit in dieser Hinsicht war unter den Bewohnern der Kolonie allgemein. Es genügte, das zu sagen, was die Leute hören wollten, und für den Zweck verließ er sich auf seine gewandte Zunge. Um aber die Ladung Bibeln an potentielle chilenische Kunden loszuwerden, mußte er sein miserables Spanisch verbessern. Durch die zwei Monate, die er in Spanien verbracht hatte, und dank seinem guten Gehör lernte er es schneller und besser sprechen als mancher Brite, der schon vor zwanzig Jahren ins Land gekommen war. Seine recht liberalen politischen Vorstellungen hatte er anfangs für sich behalten, aber dann kam es so, daß er bei jedem gesellschaftlichen Treffen mit Fragen bestürmt wurde, und immer umgab ihn eine Gruppe staunender oder bestürzter Zuhörer. Seine demokratischen Reden, in denen er für Aufhebung der Sklaverei und Gleichheit der Menschen eintrat, erschütterten die Verschlafenheit dieser guten Leute, gaben Anlaß für endlose Diskussionen unter den Männern und entsetzte Ausrufe unter den reifen Damen, zogen aber die Jugend unwiderstehlich an. Allgemein galt er als ein bißchen verrückt, und seine aufrührerischen Ideen waren ja recht amüsant, aber seine spöttischen Witze über die königliche Familie wurden von den Mitgliedern der englischen Kolonie als höchst unschicklich angesehen, denn für sie war Königin Viktoria unantastbar wie Gott und das Empire.

Seine bescheidenen, aber nicht zu verachtenden Einkünfte erlaubten ihm, in einer gewissen Wohlhabenheit zu leben, ohne je gearbeitet zu haben, und das stufte ihn in die Klasse der Gentlemen ein. Kaum hatte man entdeckt, daß er frei von zarten Banden war, fehlte es nicht an heiratsfähigen Mädchen, die sich große Mühe gaben, ihn einzufangen, aber seit er Rose Sommers kannte, hatte er kein Auge für andere weibliche Wesen. Er fragte sich wohl tausendmal, weshalb sie ledig blieb, und die einzige Antwort, die diesem agnostischen Verstandesmenschen einfiel, war, daß der Himmel sie ihm bestimmt habe.

»Wie lange werden Sie mich noch quälen, Miss Rose? Befürchten Sie nicht, daß ich es satt bekommen könnte, Ihnen hinterherzulaufen?«

»Sie werden es nicht satt bekommen, Mr. Todd. Der Katze hinterherzulaufen ist viel vergnüglicher, als sie zu fangen«, entgegnete sie.

Die Redegewandtheit des falschen Missionars war etwas ganz Neues in jenem Milieu, und da sie annahmen, daß er die Heilige Schrift gewissenhaft studiert hatte, trugen sie ihm an, darüber zu predigen. In Valparaíso gab es eine kleine anglikanische Kirche, von der katholischen Obrigkeit schief angesehen, aber die protestantische Gemeinde traf sich auch in Privathäusern. »Wo hat man je eine Kirche ohne Jungfrauen und Teufel gesehen? Die Gringos sind alle Ketzer, sie glauben nicht an den Papst, können nicht beten, singen bloß und empfangen nicht mal die heilige Kommunion«, murrte Mama Fresia, als das Haus der Sommers für den Gottesdienst an der Reihe war. Todd bereitete sich darauf vor, er wollte aus der Bibel den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten vorlesen und dann auf die Situation der Einwanderer eingehen, die sich wie die biblischen Juden in fremdem Land anpassen mußten, aber Jeremy Sommers stellte ihn den Versammelten als Missionar vor und bat ihn, über die Indios auf Feuerland zu sprechen. Jacob Todd wußte nicht einmal, wo genau er die Gegend auf der Karte finden sollte, noch, woher sie diesen bildhaften Namen hatte, aber er vermochte die Zuhörer zu Tränen zu rühren mit der Geschichte von drei Wilden, die ein englischer Kapitän eingefangen hatte, um sie nach England zu entführen. In weniger als drei Jahren, erzählte er, waren diese unglücklichen Geschöpfe, die nackt in eisiger Kälte gelebt und dem Kannibalismus gefrönt hatten, nunmehr anständig gekleidet, hatten sich zu guten Christen gewandelt und zivilisierte Sitten angenommen, ja, sie vertrugen sogar das englische Essen. Was er nicht erzählte, war, daß sie, kaum in ihre Heimat zurückbefördert, augenblicklich wieder in ihre alten Bräuche fielen, als wären sie niemals mit England oder dem Worte Jesu in Berührung gekommen. Auf Jeremy Sommers’ Anregung wurde auf der Stelle eine Kollekte für die Verbreitung des Glaubens durchgeführt, mit so gutem Ergebnis, daß Jacob Todd gleich am nächsten Tag auf der Zweigstelle der Bank von London in Valparaíso ein Konto eröffnen konnte. Das Konto wurde von den wöchentlichen Beiträgen der Protestanten genährt und wuchs trotz der häufigen Abhebungen, die Todd tätigte, um seine eigenen Ausgaben zu decken, wenn seine Einkünfte dafür nicht ausreichten. Je mehr Geld einkam, um so mehr nahmen die Hindernisse und Vorwände zu, die Evangelisierungsmission aufzuschieben. So vergingen zwei Jahre.

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Jacob Todd fühlte sich inzwischen so wohl in Valparaíso, als wäre er hier geboren. Chilenen und Engländer hatten verschiedene Charakterzüge gemeinsam: sie entschieden alles über Bevollmächtigte und Anwälte; sie hegten eine absurde Verbundenheit mit der Tradition, mit vaterländischen Symbolen und eingefahrenen Gebräuchen; sie brüsteten sich, Individualisten zu sein und Feinde jeder Zurschaustellung, die sie als Zeichen sozialen Parvenütums verachteten; sie traten liebenswürdig und beherrscht auf, aber sie waren großer Grausamkeit fähig. Doch im Gegensatz zu den Engländern empfanden die Chilenen Abscheu vor allem Exzentrischen und fürchteten nichts mehr, als sich lächerlich zu machen. Wenn ich ein korrektes Spanisch spräche, dachte Jacob Todd, wäre ich hier wie zu Hause. Er hatte sich in der Pension einer englischen Witwe häuslich eingerichtet, die Katzen liebte und die berühmtesten Torten der Hafenstadt zu backen verstand. Er schlief mit vier Katzen in seinem Bett, einer besseren Gesellschaft, als er sie je vorher genossen hatte, und aß täglich zum Frühstück die verführerischen Torten seiner Wirtin. Er schloß Bekanntschaft mit Chilenen aller Klassen, von den armen, die er auf seinen Spaziergängen durch die Elendsviertel des Hafens kennenlernte, bis zu den vornehmsten. Jeremy Sommers führte ihn in den Club de la Unión ein, wo er als eingeladenes Mitglied akzeptiert wurde. Nur Ausländer von anerkannter gesellschaftlicher Bedeutung konnten sich solchen Vorzugs rühmen, denn der Club war eine Enklave von Grundbesitzern und konservativen Politikern, wo der Wert der Mitglieder am klangvollen Namen gemessen wurde. Ihm öffneten sich die Türen dank seiner Geschicklichkeit mit Karten und Würfeln; er verlor mit so viel Grazie, daß nur wenige merkten, wieviel er gewann. Hier freundete er sich mit Agustín del Valle an, dem Herrn über große Ländereien im Umland und über Schafherden tief im Süden, wohin er noch nie den Fuß gesetzt hatte, dafür hatte er seine eigens aus Schottland geholten Aufseher. Diese neue Freundschaft gab ihm Gelegenheit, die strengen Häuser chilenischer Aristokraten kennenzulernen, quadratische, dunkle Gebäude mit großen, fast leeren Zimmern, die ohne jede Finesse mit schweren Möbeln, trüb brennenden Kandelabern und blutigen Kruzifixen ausgestattet waren und mit einer ganzen Korona gipserner Jungfrauen und wie spanische Edelleute vergangener Zeiten gekleideter Heiliger. Es waren nach innen gekehrte Häuser, mit hohen eisernen Gittern gegen die Straße abgeschlossen, unbequem und ungefüge, aber sie hatten kühle Galerien und Patios voller Jasminsträucher, Orangenbäume und Rosenbüsche.

Als der Frühling sich zeigte, lud Agustín del Valle die Sommers und Jacob Todd auf eines seiner Landgüter ein. Der Weg war eine Plage; ein Reiter hätte ihn zu Pferde in vier, fünf Stunden geschafft, aber die Karawane, als welche die Familie mit ihren Gästen reiste, brach im Morgengrauen auf und erreichte erst am späten Abend ihr Ziel. Die del Valles zogen mit Ochsenkarren um, die mit Tischen und plüschbezogenen Diwanen beladen waren. Darauf folgte ein Zug Maultiere mit dem Gepäck und Knechte zu Pferde, mit primitiven Flinten bewaffnet zur Verteidigung gegen Räuber, die in den Bergen hinter den Wegbiegungen zu lauern pflegten. Zu der entnervenden Langsamkeit der Tiere kamen die Unebenheiten des Weges, in denen die Karren steckenblieben, und die häufigen Rastpausen, in denen die Diener in ganzen Wolken von Fliegen die Speisen aus den Körben servierten. Todd verstand nichts von Landwirtschaft, aber ein Blick genügte, um zu begreifen, daß auf dieser fruchtbaren Erde alles im Überfluß gedieh; die Früchte fielen von den Bäumen und verfaulten auf dem Boden, weil niemand sich die Mühe machte, sie aufzuheben. Auf der Hazienda fand er den gleichen Lebensstil, den er Jahre zuvor in Spanien beobachtet hatte: eine vielköpfige Familie, durch verwickelte Blutsbande und einen unerbittlichen Ehrenkodex vereint. Sein Gastgeber war ein mächtiger feudaler Patriarch, der die Geschicke seiner Sippe mit eiserner Hand lenkte und sich arrogant einer Ahnenreihe rühmte, die sich bis auf die ersten spanischen Eroberer zurückverfolgen ließ. »Meine Ururgroßväter«, erzählte er, »legten in schwere eiserne Rüstungen gezwängt mehr als tausend Kilometer zurück, überstiegen Berge, durchquerten Flüsse und die dürrste Wüste der Welt, um die Stadt Santiago zu gründen.« Unter den Seinen war er die Verkörperung von Autorität und Ehrbarkeit, aber außerhalb seiner Klasse kannte man ihn als Teufelskerl. Man sagte ihm ein ganzes Rudel Bastarde nach, aber auch den üblen Ruf, in seinen legendären Wutanfällen mehr als einen seiner Pächter erschlagen zu haben, doch diese Toten wie so viele andere Sünden wurden nie näher untersucht. Seine Frau war in den Vierzigern, aber sie wirkte wie eine zittrige, verzagte Greisin, ging immer trauerschwarz gekleidet wegen ihrer frühzeitig verstorbenen Kinder und schien zu ersticken unter dem Gewicht des Korsetts, der Religion und dieses Ehemannes, den das Schicksal ihr beschert hatte. Die Söhne verbrachten ihr müßiges Dasein zwischen Messen, Spazierfahrten, Siestas, Spielen und Festivitäten, während die Töchter wie geheimnisvolle Nymphen durch Zimmer und Gärten schwebten, mit raschelnden Unterröcken und immer unter dem wachsamen Auge ihrer Anstandsdamen. Sie wurden von Kindheit an auf ein Leben in Tugend, Glauben und Entsagung vorbereitet, ihr Los war eine standesgemäße Ehe und Mutterschaft.

Während ihres Aufenthalts auf dem Lande besuchten sie eine Corrida, die auch nicht entfernt dem glanzvollen Schauspiel von Kühnheit und Tod glich, wie es Todd in Spanien gesehen hatte; keine prunkvollen Trachten, keine hochfahrenden Ritter der Leidenschaft und des Ruhms, sondern eine Prügelszene von betrunkenen Rüpeln, die den Stier mit Spießen quälten und verhöhnten und sich unter Flüchen und Gelächter auf dem Boden wälzten, wenn er sie mit seinen stumpfgeschliffenen Hörnern umgeworfen hatte. Das Gefährlichste an dieser Corrida bestand darin, das wütende, mißhandelte, aber am Leben gelassene Tier aus der Arena zu befördern. Todd war froh, daß sie dem Stier die letzte Erniedrigung einer öffentlichen Exekution ersparten, denn sein braves englisches Herz hätte lieber den Torero als das Tier tot gesehen. An den Nachmittagen spielten die Männer ihre Kartenspiele, Tresillo und Rocambor, wobei ihnen wie Fürsten von einem wahren Heer dunkelhäutiger, unterwürfiger Diener aufgewartet wurde, die den Blick nicht vom Boden hoben und deren Stimmen nicht über ein Murmeln hinausgingen. Sie waren keine Sklaven und schienen es doch zu sein. Sie arbeiteten im Tausch gegen ein Dach über dem Kopf und einen Anteil an der Aussaat; theoretisch waren sie frei, aber sie blieben bei ihrem Patrón, so despotisch er auch sein mochte und wie hart die Bedingungen auch waren, weil sie sonst nichts hatten, wohin sie hätten gehen können. Die Sklaverei war vor mehr als zehn Jahren ohne viel Aufhebens abgeschafft worden. Der Handel mit Afrikanern war in diesen Breiten nie einträglich gewesen, wo es keine großen Plantagen gab, aber niemand erwähnte das Schicksal der Indios, die ihres Landes beraubt und ins Elend gestürzt wurden, noch das der Pächter, die sich verkauften und mit den Landgütern weitervererbt wurden wie das Vieh. Und niemand sprach auch über die Schiffsladungen chinesischer und polynesischer Sklaven, die für die Verarbeitung der Guanovorkommen auf den Chinchasinseln bestimmt waren. Solange sie nicht das Festland betraten, gab es keine Schwierigkeiten: das Gesetz verbot die Sklaverei, gewiß, aber vom Meer sagte es nichts.

Während die Männer Karten spielten, langweilte Miss Rose sich diskret in der Gesellschaft der Señora del Valle und ihrer zahlreichen Töchter. Eliza dagegen galoppierte querfeldein mit Paulina, der einzigen Tochter Agustín del Valles, die dem flügellahmen Muster der Frauen dieser Familie frühzeitig entwischt war. Sie war einige Jahre älter als Eliza, aber in diesen Tagen tobte sie mit ihr, als wären sie gleichaltrig; das Haar im Wind flatternd, die Gesichter der Sonne zugewandt, spornten sie ihre Reittiere.

Señoritas

Eliza Sommers war ein mageres kleines Mädchen mit einem Gesicht so fein wie eine Federzeichnung. 1845, als sie dreizehn wurde und Brüste und Taille sich andeuteten, war sie zwar immer noch eine Göre, aber in ihren Bewegungen lag schon jetzt jene Anmut, die ihr oberstes Schönheitsmerkmal bleiben sollte. Miss Roses unerbittliche Fürsorge verschaffte ihrem Rückgrat die Geradheit einer Lanze: ein am Rücken befestigter Eisenstab hielt sie aufrecht während der endlosen Stunden, in denen sie zum Üben am Klavier oder an einer Stickerei saß. Sie wuchs nur langsam und behielt das täuschende kindliche Aussehen bei, das ihr mehr als einmal das Leben rettete. So sehr war sie im tiefsten Innern ein Kind, daß sie in der Pubertät immer noch im selben Bettchen schlief, von ihren Puppen umgeben und am Daumen lutschend. Sie ahmte Jeremy Sommers’ überdrüssigen Gesichtsausdruck nach, weil sie glaubte, das sei ein Zeichen innerer Stärke. Mit den Jahren wurde sie es müde, sich gelangweilt zu geben, aber die Übung war ihr nützlich, ihren quirligen Charakter zu beherrschen. Sie beteiligte sich an den Aufgaben der Dienerschaft: einen Tag beim Brotbacken, einen andern beim Maismalen, einen Tag dabei, Bettzeug zu sonnen, den andern beim Kochen der Weißwäsche. Stundenlang kauerte sie hinter dem Vorhang des Empfangssaales und verschlang nacheinander die Werke von Fielding oder Walter Scott aus der Bibliothek von Jeremy Sommers, die empfindsamen Romane von Laurence Sterne oder Jane Austen aus Miss Roses Bücherschrank, veraltete Zeitungen und was sonst an Lesbarem in ihre Reichweite kam, mochte es auch noch so fade oder befremdlich sein.

Sie brachte Jacob Todd dazu, ihr eine seiner spanischen Bibeln zu schenken, und mühte sich mit unendlicher Geduld, sie zu entziffern, denn ihr Schulunterricht war in Englisch erfolgt. Sie vertiefte sich in das Alte Testament, fast krankhaft fasziniert von den Lastern und Leidenschaften der Könige, die fremde Ehefrauen verführten, von Propheten, die mit furchtbaren Strahlen züchtigten, und von Stammvätern, denen ihre Töchter heimlich beilagen. In einem Abstellraum, wo allerlei altes Gerümpel sich türmte, fand sie Landkarten, Fahrtenbücher und Navigationsdokumente ihres Onkels John, die ihr halfen, sich die Länder dieser Erde genauer vorzustellen. Die Hauslehrer, die Miss Rose für sie angestellt hatte, unterrichteten sie in Französisch, Schreibkunst, Geschichte, Geographie und ein wenig Latein, und das war erheblich mehr als das, was in den besten Mädchenschulen der Hauptstadt den Kindern beigebracht wurde und wo Gebete und gute Manieren das einzige waren, was letztlich dabei herauskam. Der regellos verschlungene Lesestoff ebenso wie die Geschichten von Kapitän Sommers beflügelten ihre Einbildungskraft. Dieser seefahrende Onkel erschien stets mit einer Ladung Geschenke und erregte ihre Phantasie mit unerhörten Geschichten von schwarzen Herrschern auf Thronen aus massivem Gold, von malaiischen Piraten, die Menschenaugen in Perlmutterdöschen setzten, von Prinzessinnen, die zusammen mit ihren verstorbenen alten Männern auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Jedesmal, wenn er zu Besuch kam, wurde alles aufgeschoben, von den Schulaufgaben bis zu den Klavierstunden. Das Jahr verging ihr damit, auf ihn zu warten, Stecknadeln in die Seekarte zu stecken und sich vorzustellen, auf welchen Meeresbreiten sein Schiff gerade segeln mochte. Eliza hatte wenig Berührung mit anderen Kindern ihres Alters, sie lebte in der abgeschlossenen Welt des Hauses ihrer Wohltäter, wo man sich in der ewigen Illusion wiegte, nicht hier, sondern in England zu sein. Jeremy Sommers bestellte alles über Katalog, von der Seife bis zu den Schuhen, und trug im Winter leichte Kleidung und im Sommer einen Mantel, denn er richtete sich nach dem Kalender der nördlichen Halbkugel. Die Kleine hörte und beobachtete aufmerksam, hatte ein fröhliches und unabhängiges Temperament, bat nie um Hilfe und besaß die seltene Gabe, sich nach Belieben unsichtbar zu machen, indem sie sich zwischen den Möbeln, den Vorhängen oder den Tapetenblumen verlor. An dem Tag, an dem sie beim Erwachen eine rötliche Flüssigkeit auf ihrem Nachthemd entdeckte, ging sie zu Miss Rose, um ihr mitzuteilen, daß sie unten blutete.

»Sprich mit niemandem darüber, das ist streng persönlich. Du bist jetzt eine Frau und mußt dich auch so benehmen, mit den Kindereien ist Schluß. Es ist Zeit, dich auf die Mädchenschule von Madame Colbert zu schicken«, das war die ganze Erklärung, die ihre Adoptivmutter ohne Atem zu holen und ohne sie anzusehen ihr gab, worauf sie zum Schrank ging und ihm ein Dutzend kleiner, von ihr selbst gesäumter Handtücher entnahm.

»Jetzt hast du die Plage, Kind, dein Körper wird sich verändern, deine Gedanken werden verschwimmen, und jeder Mann wird mit dir machen können, wozu er Lust hat«, warnte später Mama Fresia, der Eliza die Neuigkeit nicht verbergen konnte.

Die India kannte Pflanzen, die den Menstruationsfluß hemmen konnten, aber aus Angst vor ihrer Herrschaft hütete sie sich, sie ihr zu geben. Eliza nahm die Warnung ernst und beschloß, immer wachsam zu bleiben, damit sie sich nicht erfüllte. Sie umwickelte sich den Oberkörper fest mit einer seidenen Binde, denn sie war sicher, wenn diese Methode seit Jahrhunderten wirksam war, die Füße der Chinesinnen klein zu halten, wie Onkel John erzählte, dann gab es keinen Grund, weshalb sie jetzt dabei versagen sollte, ihr die Brüste plattzudrücken. Sie nahm sich auch vor, zu schreiben; jahrelang hatte sie Miss Rose in ihre Hefte schreiben sehen und vermutete, sie wolle damit den Fluch der verschwommenen Gedanken bekämpfen. Was den letzten Teil der Prophezeiung anging — nämlich daß jeder Mann mit ihr machen könne, wozu er Lust hatte —, so hielt sie ihn für ganz und gar unwichtig, weil sie schlicht außerstande war, sich vorzustellen, daß es in ihrer Zukunft Männer geben sollte. Alle Männer, die sie kannte, waren alt, mindestens zwanzig Jahre, die Welt hatte in ihrer eigenen Generation einfach keine Wesen männlichen Geschlechts aufzuweisen. Die einzigen, die ihr als Ehemann gefallen hätten, Kapitän John Sommers und Jacob Todd, waren für sie nicht erreichbar, der erste war ihr Onkel und der zweite in Miss Rose verliebt, wie ganz Valparaíso wußte.

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Jacob Todd ließ keine Gelegenheit aus, seine Beziehungen zu den Sommers warmzuhalten, es gab keinen eifrigeren und pünktlicheren Gast bei den Musikabenden, keinen aufmerksameren, wenn Miss Rose ihre hinreißenden Koloraturen sang, und keinen, der mehr bereit gewesen wäre, ihren witzigen Einfällen zu applaudieren, selbst jenen etwas grausamen, mit denen sie ihn zu quälen pflegte. Sie war eine Person voller Widersprüche, aber war er das nicht selber auch? War er vielleicht kein Atheist, verkaufte aber fröhlich Bibeln und beschwatzte die halbe Welt mit dem Märchen einer Evangelisierungsmission? Er fragte sich, weshalb sie, die so reizvoll war, nie geheiratet hatte; eine unverheiratete Frau hatte keinen leichten Stand in der Gesellschaft. Innerhalb der englischen Kolonie munkelte man über einen Skandal, den es vor Jahren in England gegeben habe, das würde ihre Anwesenheit in Chile erklären, wo sie nun die Haushälterin für ihren Bruder spielte, aber er wollte die Einzelheiten nie ergründen, er zog das Geheimnis dem Wissen über Dinge vor, die er vielleicht nicht hätte ertragen können. Die Vergangenheit zählte nicht viel, wiederholte er sich gern. Ein einziger Verstoß gegen Diskretion oder eine Fehleinschätzung genügten, um den Ruf einer Frau zu beflecken oder ihr die Aussichten auf eine gute Heirat zu verderben. Er hätte Jahre seines Lebens dafür gegeben, seine Neigung erwidert zu sehen, aber sie ließ durch nichts erkennen, daß sie bereit gewesen wäre, seiner Belagerung zu erliegen, obwohl sie auch nicht vorhatte, ihn zu entmutigen, sie hatte Spaß an dem Spiel, ihm hin und wieder die Zügel zu lockern, um sie dann scharf wieder anzuziehen.

»Mr. Todd ist ein großer häßlicher Unglücksvogel mit komischen Ideen, Pferdezähnen und schweißigen Händen. Ich werde ihn niemals heiraten, und wenn er der letzte Junggeselle auf der Welt wäre«, vertraute sie Eliza lachend an.

Dem Mädchen gefiel die Bemerkung ganz und gar nicht. Sie fühlte sich in Todds Schuld, nicht nur, weil er sie bei der Prozession des Christus von Mayo gerettet hatte, er hatte auch über den Vorfall geschwiegen, als wäre er nie geschehen. Sie mochte diesen merkwürdigen Verbündeten: er roch nach großem Hund genau wie ihr Onkel John. Eines Tages hörte sie, versteckt zwischen den Falten des schweren Samtvorhanges im Saal, ein Gespräch zwischen ihm und Jeremy Sommers mit an.

»Ich muß einen Entschluß fassen, was Eliza betrifft, Jacob. Sie hat nicht den mindesten Begriff von ihrem Platz in der Gesellschaft. Die Leute beginnen Fragen zu stellen, und Eliza bildet sich sicherlich eine Zukunft ein, die ihr nicht zukommt. Es gibt nichts Gefährlicheres als den Dämon der Phantasie, wenn er sich der weiblichen Seele bemächtigt hat.«

»Übertreiben Sie nicht, mein Freund. Eliza ist noch ein kleines Mädchen, aber sie ist intelligent und wird gewiß ihren Platz finden.«

»Intelligenz ist ein Hindernis bei einer Frau. Rose möchte sie auf Madame Colberts Schule für junge Damen schicken, aber ich bin nicht dafür, Mädchen zu gründlich zu unterrichten, sie werden unlenksam. Jeder auf seinem Platz, ist mein Wahlspruch.«

»Die Welt wandelt sich, Jeremy. In den Vereinigten Staaten sind die freien Männer vor dem Gesetz gleich. Es gelten keine Klassenschranken mehr.«

»Wir sprechen von Frauen, nicht von Männern. Zudem sind die Vereinigten Staaten ein Land von Händlern und Pionieren, ohne Tradition und ohne Geschichtssinn. Gleichheit gibt es nirgendwo, nicht einmal unter den Tieren, und schon gar nicht in Chile.«

»Wir sind Fremde, Jeremy, wir können das Spanische gerade mal radebrechen. Was gehen uns die sozialen Klassen Chiles an? Wir werden in diesem Land nie dazugehören.«

»Wir müssen ein gutes Beispiel geben. Wenn wir Briten unfähig sind, unser eigenes Haus in Ordnung zu halten, was kann man da von den anderen erwarten?«

»Eliza ist in dieser Familie aufgewachsen. Ich glaube nicht, daß Miss Rose einwilligen wird, sie fortzuschicken, nur weil sie wächst.«

So war es denn auch. Rose trotzte ihrem Bruder mit dem gesamten Repertoire ihrer Unpäßlichkeiten. Zuerst kamen Koliken und dann eine alarmierende Migräne, die sie über Nacht blind machte. Mehrere Tage ruhte alle Geschäftigkeit im Haus: die Vorhänge wurden zugezogen, alles ging auf Zehenspitzen und flüsterte nur noch. Es wurde nicht mehr gekocht, weil der Essensgeruch alles noch schlimmer machte. Jeremy aß im Club und kehrte mit dem verlegenen, schüchternen Gehaben eines Mannes heim, der ein Krankenhaus besucht. Roses ungewöhnliche Blindheit und ihre weiteren zahlreichen Beschwerden wie auch das eigensinnige Schweigen der Hausangestellten unterhöhlten seine Festigkeit. Zu allem Überfluß entpuppte sich Mama Fresia, die mysteriöserweise von den privaten Streitgesprächen der Geschwister unterrichtet war, als fürchterliche Verbündete ihrer Brotherrin. Jeremy Sommers betrachtete sich als aufgeklärten und pragmatischen Mann, gefeit gegen die Einschüchterungsversuche einer abergläubischen Hexe wie Mama Fresia, aber als die India schwarze Kerzen anzündete und alle Räume mit Salbei ausräucherte unter dem Vorwand, die Stechmücken verscheuchen zu wollen, da schloß er sich verschreckt und wütend in der Bibliothek ein. In den Nächten hörte er sie mit nackten Füßen an seiner Tür vorbeipatschen und in halblautem Singsang Beschwörungen und Verwünschungen leiern. Am dritten Tag fand er eine tote Eidechse in seiner Brandyflasche und beschloß grimmig, nun aber ein für allemal zu handeln. Er klopfte zum ersten Mal an die Tür zum Zimmer seiner Schwester und wurde eingelassen in das Heiligtum weiblicher Geheimnisse, das er sonst zu ignorieren vorzog, ebenso wie er das Nähstübchen, die Küche, die Waschküche, die düsteren Zellen des Dachgeschosses, wo die Dienstmädchen schliefen, und Mama Fresias Hütte hinten im Patio ignorierte; seine Welt waren die Salons, die Bibliothek mit den Regalen aus poliertem Mahagoni und seiner Sammlung von Stichen mit Jagdszenen, der Billardsaal mit dem prächtigen geschnitzten Tisch, sein eigenes, mit spartanischer Einfachheit eingerichtetes Zimmer und ein kleiner Raum mit italienischen Fliesen für seine Körperpflege, wo er eines Tages ein modernes Wasserklosett wie die in den Katalogen aus New York einzubauen gedachte, denn er hatte gelesen, daß die Nachttopfmethode und das Sammeln der menschlichen Exkremente in Eimern, um sie als Dünger zu verwenden, eine Quelle von Epidemien seien.

Während er wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, stieg ihm der Geruch nach Medikamenten und ein beharrlicher Vanilleduft verwirrend in die Nase. Rose konnte er nur undeutlich sehen, sie lag, hohlwangig und leidend, ohne Kopfkissen ausgestreckt im Bett, die Arme über der Brust gekreuzt, als übte sie ihren eigenen Tod. Eliza stand neben ihr und drückte ein mit grünem Tee getränktes Tuch aus, um es ihr auf die Augen zu legen.

»Laß uns allein, Kind«, sagte Jeremy Sommers und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.

Eliza machte eine kleine Verbeugung und ging, aber sie kannte alle Schwachstellen des Hauses gut genug, und das Ohr an die dünne Zwischenwand gepreßt, konnte sie die Unterhaltung deutlich verstehen, die sie später vor Mama Fresia wiederholte und in ihr Tagebuch eintrug.

»Also schön, Rose. Wir können nicht ewig im Krieg liegen. Einigen wir uns doch. Was möchtest du also?« fragte Jeremy, von Anfang an besiegt.

»Nichts, Jeremy«, seufzte sie mit kaum hörbarer Stimme.

»Sie werden Eliza niemals in Madame Colberts Schule aufnehmen. Dort kommen nur die Mädchen aus der Oberklasse und von untadeliger Herkunft hinein. Alle Welt weiß, daß Eliza adoptiert ist.«

»Ich werde schon dafür sorgen, daß sie sie aufnehmen!« rief sie mit einer Leidenschaft aus, die man bei einer Todkranken nicht erwartet hätte.

»Hör mir zu, Rose, Eliza braucht nicht noch mehr Erziehung. Sie muß eine Stellung annehmen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Was soll aus ihr werden, wenn du und ich nicht mehr da sind, um sie zu beschützen?«

»Wenn sie gut erzogen ist, wird sie sich auch gut verheiraten«, sagte Rose, warf die Tee-Kompresse auf den Boden und setzte sich im Bett auf.

»Eliza ist nicht gerade eine Schönheit, Rose.«

»Du hast sie nur noch nicht genau angesehen, Jeremy.

Man kann es von Tag zu Tag verfolgen, sie wird sehr hübsch werden, glaub mir nur. Sie wird mehr als genug Bewerber haben.«

»Eine Waise ohne Mitgift?«

»Sie wird eine Mitgift haben!« erwiderte Miss Rose, erhob sich schwankend und zerzaust aus dem Bett und tat barfuß ein paar tastende Schritte.

»Wieso denn das? Darüber haben wir ja noch nie gesprochen …«

»Weil der Augenblick noch nie gekommen war, Jeremy. Ein heiratsfähiges Mädchen braucht Schmuck, eine Aussteuer mit genügend Wäsche für mehrere Jahre und all den unentbehrlichen Dingen für den Haushalt, außerdem eine ordentliche Summe, mit der das Paar sich etwas aufbauen kann.«

»Und darf man fragen, was der Bräutigam dazu beiträgt?«

»Die Wohnung, und außerdem wird er die Frau für den Rest ihrer Tage unterhalten müssen. Jedenfalls braucht es noch ein paar Jahre, bis Eliza im heiratsfähigen Alter ist, und bis dahin wird sie eine Mitgift haben. John und ich werden es auf uns nehmen, sie ihr zu verschaffen, wir werden dich um keinen Real dafür bitten, aber es lohnt nicht, die Zeit mit Gerede darüber zu verschwenden. Du mußt Eliza als deine Tochter ansehen.«

»Aber sie ist es nicht, Rose.«

»Dann behandle sie so, als wäre sie meine Tochter. Bist du wenigstens damit einverstanden?«

»Ja, meinetwegen«, sagte Jeremy Sommers ergeben.

Die Teeaufgüsse bewährten sich aufs wunderbarste. Die Kranke genas vollkommen, und nach achtundvierzig Stunden hatte sie ihre Sehkraft wiedergewonnen und strahlte vor Freude. Sie widmete sich ihrem Bruder mit bezauberndem Eifer, nie war sie sanfter und freundlicher mit ihm umgegangen. Das Haus kehrte zu seinem gewohnten Rhythmus zurück, und aus der Küche kamen Mama Fresias köstliche kreolische Gerichte auf den Tisch, dazu die von Eliza gebackenen duftenden Brote und die feinen Pasteten, die soviel zum Ruhme der Sommers als gute Gastgeber beigetragen hatten. Von diesem Tag an änderte Miss Rose drastisch ihr bislang so unstetes Verhalten gegenüber Eliza und bemühte sich mit einer nie zuvor gezeigten mütterlichen Hingabe, sie für die Schule vorzubereiten, während sie gleichzeitig begann, Madame Colbert mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit einzukreisen. Sie hatte beschlossen, daß Eliza über Bildung und Mitgift verfügen und als schön anerkannt sein würde, auch wenn sie es nicht war, denn Schönheit war für Miss Rose eine Frage des Stils. Jede Frau, die sich mit der souveränen Sicherheit einer Schönheit bewegt, wird schließlich alle Welt überzeugen, daß sie es ist, behauptete sie. Der wichtigste Schritt, um Eliza sozial gleichzustellen, wäre eine gute Heirat, da das Mädchen keinen älteren Bruder hatte, der ihr, wie in ihrem eigenen Fall, als Abschirmung dienen konnte. Miss Rose selbst sah keinen Nutzen darin, zu heiraten, eine Ehefrau war Eigentum ihres Mannes mit weniger Rechten als ein Dienstbote oder ein Kind, andererseits aber war eine alleinstehende Frau ohne Vermögen den schlimmsten Zumutungen und Belästigungen ausgeliefert. Eine verheiratete Frau, wenn sie es schlau anfing, könnte immerhin den Ehemann am Gängelband führen, und mit ein bißchen Glück könnte sie sogar frühzeitig Witwe werden …

»Ich würde gern die Hälfte meines Lebens hingeben, wenn ich über die gleiche Freiheit verfügen könnte wie ein Mann, Eliza. Aber wir sind Frauen, und damit sind wir die Dummen. Das einzige, was wir tun können, ist, das bißchen zu nutzen, das wir haben.«

Sie erzählte Eliza nicht, daß sie selbst das eine einzige Mal, als sie versucht hatte davonzufliegen, sich nur die Nase an der Wirklichkeit gestoßen hatte — sie wollte dem Mädchen keine aufrührerischen Ideen in den Kopf setzen. Sie würde sie in den Künsten der Verstellung, der Manipulation und der Raffinesse ausbilden, denn die waren nützlicher als Aufrichtigkeit, dessen war sie sicher. Drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags schloß sie sich mit ihr ein, um die aus England importierten Schulbücher zu studieren; mit einem Lehrer zusammen vertiefte sie den Französischunterricht, denn jedes wohlerzogene Mädchen mußte diese Sprache können. In der übrigen Zeit überwachte sie persönlich jeden Nadelstich Elizas an ihrer Brautausstattung, Bettwäsche, Handtücher, Tischwäsche und wunderschön bestickte Leibwäsche, die sie dann, in Leinwand gehüllt und mit Lavendel parfümiert, in Koffern aufbewahrten. Alle drei Monate öffneten sie die Koffer und breiteten den Inhalt in der Sonne aus, damit er in den Jahren des Wartens auf die Hochzeit nicht durch Feuchtigkeit und Motten zerstört wurde. Miss Rose kaufte eine Schatulle für den Schmuck der Mitgift und trug ihrem Bruder John auf, sie mit Kostbarkeiten von seinen Fahrten zu füllen. Darin sammelten sich bald Saphire aus Indien, Smaragde und Amethyste aus Brasilien, Halsketten und Armbänder aus venezianischem Gold und sogar eine kleine Diamantbrosche. Jeremy Sommers erfuhr keinerlei Einzelheiten und hatte nicht die geringste Ahnung, auf welche Weise seine Geschwister derartige Extravaganzen bezahlten.

Die Klavierstunden — jetzt bei einem Lehrer aus Belgien, der eine Rute benutzte, um die schwerfälligen Finger seiner Schüler zu ermuntern — wurden ein tägliches Martyrium für Eliza. Sie hatte auch Tanzunterricht, und auf Anregung des Maestro zwang Miss Rose sie, stundenlang ein Buch auf dem Kopf balancierend herumzugehen, damit sie in gerader Haltung heranwuchs.

Sie erfüllte alle Aufgaben, machte ihre Klavierübungen und wanderte gerade wie eine Kerze durchs Haus, auch ohne Buch auf dem Kopf, aber nachts schlüpfte sie barfuß in den Dienerpatio, und oft fand der heraufziehende Morgen sie schlafend auf einem Strohsack in den Armen von Mama Fresia.

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Im Norden des Landes waren reiche Vorkommen von Gold und Silber entdeckt worden. In den Zeiten der Conquista, als die Spanier Amerika nach diesen Metallen abgrasten und alles mitnahmen, was sie auf dem Wege fanden, wurde Chile als das Hinterletzte der Welt angesehen, denn verglichen mit den Reichtümern des übrigen Kontinents hatte es nur wenig zu bieten. Auf dem Gewaltmarsch über seine himmelhohen Berge und durch die mondkahle Wüste im Norden erschöpfte sich die Gier im Herzen der Eroberer, und wenn sie sich doch noch etwas regte, übernahmen es die unbezähmbaren Indios, sie in Reue zu verwandeln. Die Conquistadoren, ausgelaugt und elend, verfluchten dieses Land, wo sie weiter nichts tun konnten, als ihre Fahnen aufzupflanzen und sich zum Sterben hinzulegen, denn ohne Ruhm heimzukehren war schlimmer. Dreihundert Jahre später waren diese Minen, die den Augen der begehrlichen Soldaten Spaniens verborgen geblieben waren und nun plötzlich wie durch einen Zauber ans Licht traten, ein unerwartetes Geschenk für ihre Nachkommen. So entstanden neue Vermögen in Bergbau, Industrie und Handel, und der alte Landadel, der immer das Heft in den Händen gehabt hatte, fühlte sich in seinen Privilegien bedroht; Verachtung für die Emporkömmlinge galt als ein Zeichen von Vornehmheit.

Einer dieser Neureichen verliebte sich in Paulina, die älteste Tochter Agustín del Valles. Feliciano Rodríguez de Santa Cruz hatte in wenigen Jahren ein Vermögen angesammelt dank einer Goldmine, die er gemeinsam mit seinem Bruder ausgebeutet hatte. Über seine Herkunft war wenig bekannt, es wurde nur gemunkelt, seine Vorfahren seien konvertierte Juden gewesen und der wohlklingende christliche Nachname sei nur angenommen als Schutz vor der Inquisition — ein Grund mehr für die hochmütigen del Valles, ihn entschieden zurückzuweisen. Jacob Todd mochte Paulina lieber als die vier anderen Töchter Agustíns, weil ihr keckes, fröhliches Wesen ihn an Miss Rose erinnerte. Das junge Mädchen hatte eine Art, frei herauszulachen, die sich sehr von dem hinter Fächern und Mantillas versteckten Lächeln ihrer Schwestern unterschied. Als er von der Absicht ihres Vaters erfuhr, sie in ein Kloster zu sperren, um diese Liebelei zu unterbinden, beschloß er gegen alle Vernunft, ihr zu helfen. Es gelang ihm durch eine Unaufmerksamkeit ihrer Anstandsdame, allein ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Paulina wußte, daß sie keine Zeit für lange Mitteilungen hatte, sie zog rasch aus dem Halsausschnitt einen Brief, der so oft und fest zusammengefaltet war, daß er eher wie ein harter Würfel aussah, und bat Todd, ihn ihrem Liebsten zukommen zu lassen. Am folgenden Tag wurde Paulina von ihrem Vater gezwungen, mit ihm zu der tagelangen Reise aufzubrechen, die über unmögliche Straßen nach Concepción führte, einer Stadt im Süden nahe den Indioreservaten, wo die Nonnen die Aufgabe erfüllen würden, sie durch Beten und Fasten wieder zu Verstand zu bringen. Um zu verhindern, daß ihr der unvorstellbare Gedanke kommen könnte, sich zu widersetzen oder auszureißen, ordnete ihr Vater an, sie kahlzuscheren. Die Mutter Oberin nahm die Zöpfe an sich, wickelte sie in ein besticktes Batisttuch und schickte sie den Laienschwestern von der Mutterkirche, damit sie sie für Perücken von Heiligenstatuen verwendeten. Inzwischen hatte Todd nicht nur den Brief abliefern können, er hatte auch aus Paulinas Brüdern die genaue Lage des Klosters herausgefragt und gab sein Wissen an den betrübten Feliciano Rodríguez de Santa Cruz weiter. Der dankbare Freier nahm seine Taschenuhr mit der Kette aus purem Gold ab und wollte sie dem freundlichen Liebesboten schenken, aber der wies sie gekränkt zurück.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das bezahlen soll, was Sie für mich getan haben«, murmelte Feliciano verlegen.

»Das brauchen Sie auch nicht.«

Eine gute Zeit lang hörte Jacob Todd nichts von dem unglücklichen Paar, aber zwei Monate später war die begierig aufgenommene Neuigkeit von der Flucht der jungen Dame das bevorzugte Thema bei allen gesellschaftlichen Zusammenkünften, und der stolze Agustín del Valle konnte nicht verhindern, daß der Geschichte immer weitere malerische Einzelheiten hinzugefügt wurden, die ihn lächerlich machten. Jacob Todd erfuhr erst viel später von Paulina, wie es sich abgespielt hatte. An einem Tag im Juni, einem dieser früh dunkelnden, verregneten Winternachmittage, gelang es ihr, die Überwachung zu überlisten und im Habit der Novizin, die silbernen Leuchter vom Hauptaltar unter dem Arm, aus dem Kloster zu fliehen. Dank Todds Information hatte sich Feliciano Rodríguez de Santa Cruz in den Süden begeben, stellte über den Klostergärtner einen heimlichen Kontakt mit ihr her und wartete auf die Gelegenheit, sie wiederzusehen. An jenem Nachmittag hatte er sich in der Nähe des Klosters postiert, und als er sie sah, brauchte er einige Sekunden, um in dieser stoppelhaarigen Novizin, die sich ihm in die Arme warf, ohne die Leuchter loszulassen, Paulina zu erkennen.

»Sieh mich nicht so an, Mann, die Haare wachsen nach«, sagte sie und küßte ihn voll auf den Mund.

Feliciano fuhr mit ihr in einer geschlossenen Kutsche zurück nach Valparaíso und brachte sie zeitweilig im Haus seiner verwitweten Mutter unter, dem honorigsten Versteck, das er sich vorstellen konnte, um ihre Ehre so lange wie möglich zu schützen, wenn es auch nicht ganz zu vermeiden war, daß der Skandal den Namen der Familie beschmutzte. Agustíns erster Impuls war, dem Verführer seiner Tochter im Duell entgegenzutreten, aber dann erfuhr er, daß der in Geschäften nach Santiago gefahren war. Also setzte er sich die Aufgabe, Paulina zu finden, unterstützt von seinen Söhnen und Neffen, alle bewaffnet und wild entschlossen, die Ehre der Familie zu rächen, während Mutter und Schwestern im Chor den Rosenkranz für die verirrte Tochter beteten. Der Bischof, sein Cousin, der empfohlen hatte, Paulina zu den Nonnen zu schicken, versuchte den Gemütern ein wenig Besonnenheit einzureden, aber diese Erzmachos waren nicht in der Stimmung für brav christliche Predigten. Die Reise Felicianos war ein Teil der Strategie, die sein Bruder und Jacob Todd entworfen hatten. Er fuhr ohne Aufsehen in die Hauptstadt, während die beiden anderen in Valparaíso den Aktionsplan abrollen ließen und in einer liberalen Zeitung das Verschwinden der Señorita Paulina del Valle bekanntgaben, eine Nachricht, die zu verbreiten die Familie sich gehütet hatte. Das rettete den Liebenden das Leben.

Agustín del Valle mußte endlich hinnehmen, daß die Zeiten vorbei waren, in denen man dem Gesetz trotzen konnte, und daß es sinnvoller war, die Ehre statt mit einem Doppelmord mit einer öffentlichen Hochzeit reinzuwaschen. Man handelte die Grundlagen für einen erzwungenen Frieden aus, und eine Woche später, als alles vorbereitet war, kehrte Feliciano zurück. Die Flüchtlinge stellten sich im Haus der del Valles vor, begleitet vom Bruder des Bräutigams, einem Notar und dem Bischof. Jacob Todd hielt sich diskret fern. Paulina erschien in einem sehr einfachen Kleid, aber als sie das Umschlagtuch abnahm, konnte jeder sehen, daß sie im kurzen Haar herausfordernd ein Diadem trug, das einer Königin angestanden hätte. Sie ging am Arm ihrer zukünftigen Schwiegermutter, die bereit war, für ihre Tugend zu bürgen, aber sie kam ohnedies nicht zu Worte. Da eine weitere Nachricht in der Zeitung das letzte war, was die Familie wünschte, blieb Agustín del Valle nichts anderes übrig, als die rebellische Tochter und ihren unerwünschten Freier zu empfangen. Er tat dies umgeben von seinen Söhnen und Neffen im Speisesaal, der für die Gelegenheit in ein Tribunal verwandelt worden war, während die Frauen der Familie sich in das andere Ende des Hauses zurückgezogen hatten, aber alles bis in die Einzelheiten von den Dienstmädchen erfuhren, die an den Türen lauschten und im Hin- und Herlaufen jedes Wort überbrachten. Sie erzählten, das Mädchen habe sich mit all diesen Diamanten präsentiert, die in ihrem Stoppelhaar funkelten, und sei ihrem Vater ohne die geringste Spur von Bescheidenheit oder Angst entgegengetreten, und dann habe sie verkündet, die Leuchter seien noch da, in Wirklichkeit habe sie sie nur genommen, um die Nonnen zu ärgern. Agustín del Valle, berichteten die Dienstmädchen atemlos, hob eine Reitpeitsche, aber der Bräutigam stellte sich vor seine Braut, um die Strafe abzufangen, und der Bischof, sehr müde, aber mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität, mischte sich mit dem unwiderleglichen Argument ein, daß aus der öffentlichen Hochzeit, die die Klatschmäuler zum Schweigen bringen sollte, nichts würde, wenn die Brautleute mit zerschlagenen Gesichtern vor den Altar träten.

»Laß uns eine Tasse Schokolade servieren, Agustín, und setzen wir uns, um die Angelegenheit wie gesittete Menschen zu besprechen«, schlug der kirchliche Würdenträger vor.

So geschah es. Die Tochter und die Witwe Rodríguez de Santa Cruz mußten draußen warten, weil dies eine Sache nur für Männer war, und nachdem diese mehrere Krüge schaumiger Schokolade geleert hatten, kamen sie zu einer Übereinkunft. Sie setzten ein Schriftstück auf, durch das die finanziellen Dinge geregelt und die Ehre beider Seiten gerettet wurde, unterzeichneten es in Gegenwart des Notars und machten sich daran, die Einzelheiten der Hochzeit zu planen. Einen Monat später wohnte Jacob Todd einem unvergeßlichen Fest bei, auf dem die Gastfreundschaft der Familie del Valle Überfloß; es gab Tanz, Gesang und Schlemmerei bis zum nächsten Morgen, und als die Gäste gingen, redeten sie noch lange über die Schönheit der Braut, die beachtlich guten Manieren des Bräutigams und das Glück seiner Schwiegereltern, die ihre Tochter mit einem soliden, wenn auch neuen Vermögen verheiratet hatten. Das junge Ehepaar reiste unmittelbar darauf in den Norden des Landes.

Ein schlechter Ruf

Jacob Todd bedauerte Paulinas und Felicianos Abreise, er hatte mit dem Minenmillionär und seiner lebensprühenden Frau Freundschaft geschlossen. So unbehaglich es ihm unter den Mitgliedern des Club de la Unión zu werden begann, so wohl fühlte er sich unter den jungen Unternehmern. Wie er waren sie von europäischen Ideen geprägt, sie waren modern und liberal im Unterschied zu der alten Landoligarchie, die um ein halbes Jahrhundert zurückgeblieben war. Hundertsiebzig Bibeln waren noch in seinem Besitz, er hatte sie irgendwann unter dem Bett verstaut und dachte kaum mehr an sie, die Wette war ohnedies längst verloren. Das Spanische beherrschte er inzwischen so weit, daß er sich ohne Hilfe verständlich machen konnte, und obwohl Rose Sommers ihn bislang hatte abblitzen lassen, war er immer noch beharrlich in sie verliebt, zwei gute Gründe, in Chile zu bleiben. Die fortgesetzten Kränkungen, die er von ihr erfuhr, waren eine liebe Gewohnheit geworden und konnten ihn nicht mehr verletzen. Er hatte gelernt, sie mit Ironie über sich ergehen zu lassen und ohne Bosheit zurückzugeben wie in einem Ballspiel, dessen Regeln nur sie beide kannten. Er schloß Bekanntschaft mit einer Gruppe Intellektueller und verbrachte ganze Nächte damit, über die Fortschrittsphilosophie französischer und deutscher Schule zu diskutieren ebenso wie über die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen aus London und Leipzig, die dem menschlichen Forschergeist neue Horizonte öffneten. Zeit genug zum Lesen, Nachdenken und Diskutieren hatte er ja. Ideen, die ihm zusagten, schrieb er in einem dicken, vom vielen Gebrauch schon ganz abgegriffenen Heft nieder, und er gab eine Menge Geld für Bücher aus, manche ließ er sich aus England schicken, andere kaufte er in der Buchhandlung Santos Tornero im Viertel El Almendral, wo auch die Franzosen wohnten und wo das beste Bordell Valparaísos betrieben wurde. Die Buchhandlung war der Treffpunkt von Intellektuellen und angehenden Schriftstellern. Todd konnte ganze Tage hintereinander mit Lesen zubringen, danach gab er die Bücher seinen Freunden, die sie eher schlecht als recht übersetzten und als bescheidene Broschüren verbreiteten.

Der Jüngste in der Gruppe war Joaquín Andieta, gerade achtzehn Jahre alt, aber den Mangel an Erfahrung machte sein Draufgängertum wett. Joaquín liebte es nicht, viele Worte zu machen, er war ein Mann der Tat, einer der wenigen, die genügend Klarheit und Mut aufbrachten, um die Ideen aus den Büchern in revolutionäre Impulse zu verwandeln, die übrigen zogen es vor, sie bei einer Flasche Pisco im Hinterzimmer der Buchhandlung endlos zu diskutieren. Todd mochte Andieta von Anfang an, dieser Junge hatte etwas Beunruhigendes und Rührendes an sich, das ihn anzog. Er hatte seine armselige Aktenmappe bemerkt und den Stoff seines Anzugs, dünn wie eine Zwiebelschale. Um die Löcher in seinen Schuhsohlen zu verbergen, stellte er die Füße beim Sitzen immer fest auf den Boden, er zog auch nie das Jackett aus, weil, wie Todd annahm, sein Hemd voller Flicken und Stopfstellen sein mußte. Er besaß keinen anständigen Mantel, aber im Winter war er der erste, der in aller Frühe schon unterwegs war, um Pamphlete zu verteilen und Plakate an die Wände zu kleben, in denen die Arbeiter zum Aufstand gegen die ausbeuterischen Fabrikherren aufgerufen wurden oder die Matrosen gegen die Kapitäne und die Reedereien — eine oft nutzlose Mühe, weil die Angesprochenen in der Mehrheit Analphabeten waren. Sein Ruf nach Gerechtigkeit verhallte und scheiterte an der menschlichen Gleichgültigkeit.

Zu seiner nicht geringen Überraschung kam Jacob Todd dahinter, daß sein Freund in der British Trading Company angestellt war. Gegen eine erbärmliche Entlohnung und bei einem kaum zu bewältigenden Stundenplan registrierte er die Artikel, die durch das Kontor des Hafens gingen. Natürlich wurden von ihm ein gestärkter Kragen und blankgeputzte Schuhe verlangt. Sein Leben spielte sich in einem schlecht beleuchteten Raum ohne Lüftung ab, wo sich Schreibpulte bis ins Endlose hintereinanderreihten und sich verstaubte Aktenbündel und alte Rechnungsbücher stapelten, in die seit Jahren niemand mehr hineingesehen hatte. Jacob Todd fragte Jeremy Sommers nach Andieta, aber der wußte gar nicht, um wen es sich handelte; bestimmt sehe er ihn jeden Tag, sagte er, aber er habe keine persönliche Beziehung zu seinen Untergebenen und könne sie nur selten dem Namen nach identifizieren. Aus anderer Quelle hörte Todd, daß der junge Mann bei seiner Mutter wohnte, aber über den Vater konnte er nichts erfahren; er nahm an, er sei ein Seemann auf Landurlaub gewesen und die Mutter wohl eine jener unglücklichen Frauen, die in keine soziale Klasse passen, vielleicht unehelich geboren oder von der Familie verstoßen. Joaquín Andieta hatte andalusische Gesichtszüge und die männliche Anmut eines Toreros; alles an ihm sprach von Festigkeit, Spannkraft und Selbstbeherrschung; seine Bewegungen waren präzis, sein Blick intensiv und sein Stolz rührend. Den utopischen Idealen Todds setzte er einen eisernen Wirklichkeitssinn entgegen. Todd sprach sich für eine Gesellschaft brüderlicher Gleichheit aus, ohne Priester und ohne Polizei, demokratisch regiert nach einem einzigen und unanfechtbaren Gesetz.

»Sie träumen ja, Mr. Todd. Wir haben viel zu tun, es bringt nichts ein, die Zeit mit dem Erörtern von Phantastereien zu vergeuden«, unterbrach ihn Joaquín Andieta.

»Aber wenn wir nicht damit anfangen, uns die vollkommene Gesellschaft vorzustellen, wie wollen wir sie dann schaffen?« erwiderte Todd, sein Heft schwenkend, das mehr und mehr anschwoll, weil er ihm inzwischen Pläne von idealen Städten hinzugefügt hatte, wo jeder Einwohner seine Nahrung selbst anbaute und die Kinder gesund und glücklich heranwuchsen, von der Gemeinschaft aufgezogen, denn wo es kein Privateigentum gab, konnte man auch den Besitz von Kindern nicht beanspruchen.

»Wir müssen die unhaltbaren Zustände bekämpfen, in denen wir hier leben. Als erstes muß man die Arbeiter, die Armen und die Indios vereinigen, den Bauern Land geben und den Priestern die Macht nehmen. Die Verfassung muß geändert werden, Mr. Todd. Hier wählen nur die Besitzenden, das heißt, die Reichen regieren. Die Armen zählen nicht.«

Anfangs dachte sich Jacob Todd allerlei Listen aus, wie er seinem Freund helfen konnte, aber er mußte bald wieder davon absehen, weil seine Bemühungen den Jungen kränkten. Er übertrug ihm kleine Besorgungen, um einen Vorwand zu haben, ihm Geld zu geben, aber Andieta erledigte alles gewissenhaft und wies dann jegliche Art der Bezahlung zurück. Wenn Todd ihm Tabak, ein Glas Brandy oder auch nur in einer stürmischen Nacht seinen Regenschirm anbot, reagierte Andieta mit so eisigem Hochmut, daß Todd verstört und bisweilen beleidigt aufgab. Der Junge erwähnte niemals seine Herkunft, er schien Gestalt anzunehmen, um ein paar Stunden mit revolutionären Gesprächen oder mit zündendem Lesestoff in der Buchhandlung zu verbringen, und sich am Ende dieser gemeinsamen Abende in Luft aufzulösen. Er hatte nicht genug Geld, um mit den andern in die Kneipe zu ziehen, und nahm keine Einladung an, die er doch nicht erwidern konnte.

Eines Abends konnte Todd die Ungewißheit nicht länger ertragen und folgte ihm durch das Labyrinth der Straßen am Hafen, wo man sich im Dunkel der Torgänge verstecken konnte und an den Ecken der abenteuerlich krummen Gassen, die nach Meinung der Leute absichtlich so gewunden waren, damit der Teufel sich darin nicht festsetzen konnte. Er sah, wie Andieta sich die Hosenbeine hochkrempelte, die Schuhe auszog, sie in Zeitungspapier wickelte und achtsam in seiner abgeschabten Aktentasche verstaute, aus der er ein Paar Holzpantoffeln zog und über die Füße streifte. Um diese späte Stunde waren außer streunenden Katzen, die im Unrat nach Freßbarem stöberten, nur noch einige wenige verlorene Seelen unterwegs. Todd kam sich vor wie ein Dieb, als er dem Freund im Dunkeln fast auf dem Fuße folgte, er konnte seinen hastigen Atem hören und das trockene Geräusch, mit dem er sich unaufhörlich die Hände rieb, die unter der eisigen Kälte zu erstarren drohten. Seine Schritte führten ihn zu einem schäbigen Mietshaus. Gestank nach Urin und Exkrementen schlug ihm entgegen; durch diese Viertel kamen die Straßenkehrer mit ihren langen Haken zum Freimachen der Abflüsse nur selten. Todd begriff, weshalb Andieta sich vorsichtshalber seine einzigen Schuhe ausgezogen hatte: er wußte nicht mehr, worauf er trat, seine Füße versanken in einer pestilenzialisch stinkenden Brühe. In der mondlosen Nacht sickerte spärliches Licht durch die windschiefen Fenster, von denen viele kein Glas mehr hatten und mit Pappe oder Brettern vernagelt waren. Durch die Spalten konnte man ins Innere elender, von Kerzen kümmerlich erhellter Wohnungen sehen. Feiner Nebel gab der Szene einen Anflug von Unwirklichkeit.

Todd sah, wie Andieta ein Streichholz anriß, einen Schlüssel aus der Tasche zog und bei dem flackernden Licht der kleinen Flamme eine Tür aufschloß. »Bist du es, Junge?« hörte er deutlich eine weibliche Stimme fragen, die viel klarer und jünger klang, als er erwartet hätte. Dann schloß sich die Tür. Todd stand lange in der Dunkelheit, starrte auf das schäbige Haus und verspürte den unbändigen Wunsch, an die Tür zu klopfen, nicht nur aus Neugier, sondern aus einer überwältigenden Zuneigung für seinen Freund. »Verdammt, ich werde langsam zum Idioten«, murmelte er schließlich.

Er wandte sich um und machte sich auf zum Club de la Unión, um einen Schluck zu trinken und die Zeitungen zu lesen, aber bevor er dort war, besann er sich reuevoll — er fühlte sich außerstande, nach der Armut, die er gerade verlassen hatte, diese Salons mit den Ledersesseln und Kristalleuchtern zu betreten, und kehrte zurück in seine Wohnung.

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So standen die Dinge Ende 1845, als die Handelsflotte Großbritanniens einen Geistlichen nach Valparaíso schickte, der sich um die religiösen Bedürfnisse der Protestanten kümmern sollte. Der Mann kam, willens, den Katholiken die Stirn zu bieten, eine solide anglikanische Kirche zu bauen und seiner Gemeinde neuen Auftrieb zu geben. Seine erste offizielle Handlung war, die Ausgaben für das Missionierungsvorhaben auf Feuerland zu überprüfen, von dessen Ergebnissen nirgendwo etwas zu sehen war. Jacob Todd ließ sich von Agustín del Valle auf die Hazienda einladen in der Hoffnung, so würde der neue Pastor sich allmählich wieder beruhigen, aber als er zwei Wochen später nach Valparaíso zurückkam, mußte er feststellen, daß der die Angelegenheit noch keineswegs vergessen hatte. Eine Zeitlang fand Todd immer neue Vorwände, dem Mann aus dem Weg zu gehen, aber schließlich mußte er sich doch einem Buchprüfer und danach einer Kommission der anglikanischen Kirche stellen. Er verwickelte sich in Erklärungen, die immer phantastischer wurden, während die Zahlen den begangenen Unterschlag sonnenklar bewiesen. Er gab das Geld zurück, soviel davon noch auf seinem Konto war, aber sein Ruf erlitt einen irreparablen Schaden. Aus war es für ihn mit den musikalischen Gesellschaften im Haus der Sommers, und niemand in der Ausländerkolonie lud ihn jemals wieder ein, und auf der Straße wurde er übersehen.

Die Nachricht von dem Betrug erreichte auch seine chilenischen Freunde, die ihm diskret, aber fest zu verstehen gaben, daß er besser nicht mehr im Club de la Unión erscheine, wenn er sich die Schande ersparen wolle, hinausgeworfen zu werden. Bei Kricketpartien war er künftig ebensowenig erwünscht wie an der Bar des Hotel Inglés, und bald war er von allen verlassen, denn selbst seine intellektuellen Freunde kehrten ihm den Rücken. Und die Familie del Valle schnitt ihn einhellig, außer Paulina, mit der er gelegentlich Briefe wechselte.

Paulina hatte oben im Norden ihren ersten Sohn zur Welt gebracht, und ihren Briefen nach war sie sehr zufrieden mit ihrem Leben als Ehefrau. Feliciano Rodríguez de Santa Cruz, der von Tag zu Tag reicher wurde, wie die Leute sagten, erwies sich als ein ungewöhnlicher Ehemann. Er war überzeugt, die Kühnheit, mit der Paulina aus dem Kloster geflohen war und ihre Familie unter Druck gesetzt hatte, um ihn heiraten zu können, sollte sich nicht in häuslichen Aufgaben erschöpfen, sondern zu ihrer beider Wohl genutzt werden. Seine Frau, als junge Dame erzogen, konnte nicht sonderlich gut lesen und rechnen, hatte aber eine echte Leidenschaft für geschäftliche Dinge entwickelt. Anfangs war Feliciano noch verwundert gewesen, mit welchem Interesse sie nach Einzelheiten beim Abbau und Transport der Mineralien fragte ebenso wie nach dem Auf und Ab der Handelsbörse, aber bald lernte er ihre außerordentliche Intuition schätzen. Im siebenten Monat ihrer Ehe erzielte er einen beträchtlichen Gewinn durch Spekulieren mit Zucker, wozu sie ihm geraten hatte. Dankbar schenkte er ihr ein in Peru gearbeitetes silbernes Teeservice, das neunzehn Kilo wog. Paulina, die sich mit dem schweren Brocken, ihrem ersten Sohn, im Leib kaum bewegen konnte, wies das Geschenk zurück, ohne den Blick von den Strümpfchen zu heben, die sie gerade strickte.

»Ich möchte lieber, daß du auf einer Londoner Bank ein Konto auf meinen Namen eröffnest und von jetzt an zwanzig Prozent dahin überweist von allen Einnahmen, die ich für dich erziele.«

»Wozu? Gebe ich dir nicht alles, was du wünschst, und noch viel mehr?« fragte Feliciano gekränkt.

»Das Leben ist lang und voller Überraschungen. Ich will niemals eine arme Witwe sein, noch dazu mit Kindern«, erklärte sie und strich sich über den Bauch.

Feliciano ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, aber sein angeborener Sinn für Gerechtigkeit war stärker als der Ärger des verstimmten Ehemanns. Außerdem wären diese zwanzig Prozent ein mächtiger Anreiz für Paulina, entschied er. Er tat, worum sie ihn gebeten hatte, obwohl er noch nie von einer verheirateten Frau mit eigenem Geld gehört hatte. Wenn eine Ehefrau ohne die Erlaubnis ihres Mannes nicht allein verreisen, Dokumente unterschreiben, das Recht anrufen, etwas kaufen oder verkaufen durfte, konnte sie schon gar nicht über ein eigenes Bankkonto verfügen und es nach ihrem Belieben verwenden. Wie sollte man das der Bank und den Teilhabern erklären?

»Kommen Sie mit zu uns in den Norden, die Zukunft liegt in den Minen, und dort können Sie neu anfangen«, schlug Paulina Jacob Todd vor, als sie bei einem ihrer kurzen Besuche in Valparaíso erfuhr, daß er in Ungnade gefallen war.

»Was könnte ich da schon tun, verehrte Freundin?« murmelte er.

»Ihre Bibeln verkaufen«, spöttelte Paulina, aber dann war sie doch gerührt von der abgrundtiefen Traurigkeit, mit der er sie ansah, und bot ihm augenblicklich ihr Haus, ihre Freundschaft und Arbeit in den Unternehmungen ihres Mannes an.

Aber Todd war von seinem Pech und der öffentlichen Schande so entmutigt, daß er nicht die Kraft aufbrachte, sich im Norden in ein neues Abenteuer zu wagen. Wißbegier und Ruhelosigkeit, die ihn früher angetrieben hatten, waren dem besessenen Wunsch gewichen, seinen guten Namen zurückzugewinnen.

»Ich bin ruiniert, Señora, sehen Sie das nicht? Ein Mann ohne Ehre ist ein toter Mann.«

»Die Zeiten haben sich geändert«, tröstete ihn Paulina. »Früher konnte die befleckte Ehre einer Frau nur mit Blut reingewaschen werden. Aber wie Sie wissen, Mr. Todd, genügte in meinem Fall eine Kanne Schokolade. Die Ehre der Männer ist viel widerstandsfähiger als unsere. Verzweifeln Sie nicht.«

Feliciano Rodríguez de Santa Cruz, der Todds Vermittlungsrolle bei seiner Liebesgeschichte mit Paulina nicht vergessen hatte, wollte ihm Geld leihen, damit er die Missionsgelder bis auf den letzten Centavo zurückzahlen konnte, aber vor die Wahl gestellt, es einem Freund oder dem protestantischen Pastor zu schulden, zog Todd letzteren vor, denn sein Ruf war so oder so zerstört. Inzwischen hatte er sich auch von den Katzen und den Torten verabschieden müssen, weil die englische Witwe ihn unter einer Flut von Vorwürfen vor die Tür setzte. Die gute Frau hatte ihre Anstrengungen in der Küche verdoppelt, um durch den Verkauf ihrer Torten die Verbreitung ihres Glaubens in jenen Regionen des ewigen Winters zu finanzieren, wo Tag und Nacht ein gespenstischer Wind heulte, wie Jacob Todd ihr erzählt hatte, berauscht von seiner eignen Redekunst. Als sie erfuhr, welches Schicksal ihren Ersparnissen in den Händen des falschen Missionars zuteil geworden war, geriet sie in heiligen Zorn und warf ihn aus dem Haus.

Durch Joaquín Andietas Hilfe konnte er ein Zimmer in einer halbwegs anständigen Gegend des Hafenviertels beziehen, das zwar klein war, aber ihm freien Blick auf das Meer gestattete. Das Haus gehörte einer chilenischen Familie und hatte nicht die europäischen Prätentionen des Ausländerviertels, es war nach alter Weise aus weißgekalkten Luftziegeln gebaut, hatte ein rotes Ziegeldach und bestand aus einem Eingangsflur, einem großen Raum fast ohne Möbel, der als Wohnzimmer, Eßzimmer und Elternschlafzimmer diente, einem kleineren, fensterlosen, wo alle Kinder schliefen, und einem Hinterzimmer, das vermietet wurde. Der Besitzer arbeitete als Volksschullehrer, und seine Frau trug zum Haushalt bei, indem sie in der Küche Kerzen herstellte. Der Wachsgeruch hatte sich im ganzen Haus festgesetzt. Todd konnte dieses süßliche Aroma in seinen Büchern, seiner Kleidung, seinem Haar und sogar in seiner Seele riechen; so sehr war es ihm unter die Haut gedrungen, daß er noch viele Jahre später am anderen Ende der Welt nach Kerzen roch. Er bewegte sich nur in dem schäbigen Hafenviertel, wo niemanden der gute oder schlechte Ruf eines rothaarigen Gringos kümmerte. Er aß in den Kneipen der Armen und verbrachte ganze Tage mit den Fischern, arbeitete eifrig mit an Netzen und Booten. Die körperliche Anstrengung tat ihm gut, und für ein paar Stunden konnte er seinen verletzten Stolz vergessen. Joaquín Andieta besuchte ihn oft. Sie schlossen sich ein, um über Politik zu diskutieren und Texte französischer Philosophen zu tauschen, während auf der anderen Seite der Tür die Kinder des Lehrers rannten und spielten und wie ein Faden geschmolzenen Goldes das Wachs der Kerzen floß. Joaquín Andieta kam nie auf das Missionsgeld zu sprechen, obwohl er davon wissen mußte, denn der Skandal wurde wochenlang lebhaft durchgehechelt. Als Todd ihm erklären wollte, daß es nie seine Absicht gewesen sei, zu betrügen, und daß alles nur an seinem miserablen Kopf für Zahlen, seiner sprichwörtlichen Unordnung und seinem Pech gelegen habe, legte Andieta den Zeigefinger an die Lippen, die Geste, die man überall kennt. Von Scham und Zuneigung getrieben, umarmte Jacob Todd ihn linkisch, und Andieta drückte ihn an sich, machte sich aber augenblicklich schroff wieder los, rot bis über die Ohren. Beide traten gleichzeitig verwirrt einen Schritt zurück, ohne zu verstehen, wie sie die elementare Verhaltensregel verletzen konnten, die körperlichen Kontakt zwischen Männern verbietet außer in der Schlacht oder in brutalen Sportarten. In den folgenden Monaten kam der Engländer gefährlich vom Kurs ab, vernachlässigte sein Äußeres, strich mit einem Sieben-Tage-Bart durch die Gassen und roch nach Kerzen und Alkohol. Wenn er sich mit dem Gin dann doch übernommen hatte, wetterte er wie ein Wahnsinniger atemlos und pausenlos gegen alle Regierungen, das englische Königshaus, die Militärs und Polizisten, das System der Klassenprivilegien, das er mit den Kasten Indiens verglich, die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen.

»Sie müssen hier weg, Mr. Todd, Sie drehen ja völlig durch«, wagte Joaquín Andieta eines Tages zu ihm zu sagen, als er ihn von einem Platz fortholte, wo die Polizei schon drauf und dran war, ihn festzunehmen.

Genau so, wie ein Narr auf offener Straße Reden schwingend, traf ihn Kapitän John Sommers an, der schon vor mehreren Wochen von seinem Segler an Land gegangen war. Das Schiff war bei der Fahrt ums Kap Horn so gebeutelt worden, daß langwierige Reparaturen daran vorgenommen werden mußten. John Sommers hatte einen ganzen Monat im Haus seiner Geschwister Jeremy und Rose verbracht. Das bestimmte ihn, auf einem der modernen Dampfschiffe Arbeit zu suchen, sowie er nach England zurückgekehrt sein würde, denn er war nicht bereit, das Erlebnis »Gefangener im Familienkäfig« je zu wiederholen. Er liebte die Seinen, aber am liebsten aus sicherer Distanz. Er hatte sich bislang gesträubt, an die Dampfer auch nur zu denken, weil er sich das Abenteuer des Meeres nicht vorstellen konnte ohne die Herausforderung von Wetter und Takelage, an denen ein Kapitän sein Können bewies, aber er mußte doch endlich zugeben, daß die Zukunft den neuen Schiffen gehörte, weil sie größer, sicherer und schneller waren. Als er merkte, daß ihm die Haare ausgingen, schob er die Schuld natürlich auf das seßhafte Leben. Bald fühlte er sich von der Langeweile wie in eine Rüstung eingezwängt, und er floh aus dem Haus, um rastlos wie ein gefangenes Raubtier im Hafen auf und ab zu traben. Als Jacob Todd den Kapitän erkannte, zog er sich die Krempe seines Hutes tief ins Gesicht und tat, als sähe er ihn nicht, um sich die Demütigung einer neuen Zurückweisung zu ersparen, aber der Seemann hielt ihn an und schlug ihm zur Begrüßung herzlich auf die Schulter.

»Kommen Sie, trinken wir einen Schluck!«, und damit zog er ihn in eine nahe gelegene Schenke.

Es war einer dieser Schlupfwinkel im Hafen, wo man noch anständige Getränke bekam, außerdem boten sie dort als einziges und zu Recht berühmtes Gericht gebratenen Meeraal mit Kartoffeln und Salat aus rohen Zwiebeln an. Todd, der in diesen Tagen gewöhnlich zu essen vergaß und ohnehin nie genug Geld in der Tasche hatte, roch den köstlichen Duft der Speise und glaubte ohnmächtig zu werden. Eine Woge von Dankbarkeit und Wohlgefühl trieb ihm die Tränen in die Augen. John Sommers wandte höflich den Blick ab, während Todd alles bis zum letzten Krümchen hinunterschlang.

»Ich hab diese Idee mit der Missioniererei unter den Indios von Anfang an nicht gut gefunden«, sagte er, als Todd sich eben fragte, ob der Kapitän überhaupt von dem Finanzskandal wußte. »Die armen Leute da haben das Unglück nicht verdient, evangelisiert zu werden. Was haben Sie denn jetzt vor?«

»Ich habe alles zurückgegeben, was noch auf dem Konto war, aber ich bin noch eine ganze Menge schuldig.«

»Und Sie können nicht bezahlen, was?«

»Im Augenblick nicht, aber …«

»Nichts aber, Mann. Erst haben Sie diesen guten Christen einen Vorwand geliefert, sich tugendhaft zu fühlen, und jetzt haben Sie ihnen auch noch einen hübschen Anlaß zur Entrüstung geliefert. Das Vergnügen haben sie billig gekriegt. Als ich Sie fragte, was Sie jetzt vorhaben, dachte ich an Ihre Zukunft, nicht an Ihre Schulden.«

»Ich habe keine Pläne.«

»Kommen Sie mit mir zurück nach England. Hier ist kein Platz für Sie. Wie viele Ausländer gibt es in diesem Hafenviertel? Ein paar arme Schlucker, und alle kennen sich. Glauben Sie mir, man wird Sie nicht in Frieden lassen. In England dagegen können Sie sich in der Masse verlieren.«

Jacob Todd blickte mit so verzweifeltem Gesicht in sein Glas, daß der Kapitän in schallendes Gelächter ausbrach.

»Sagen Sie mir bloß nicht, Sie bleiben wegen meiner Schwester Rose hier!«

Aber genau das war es. Die allgemeine Ablehnung wäre etwas erträglicher für Todd gewesen, wenn Miss Rose nur ein kleines bißchen Loyalität oder Verständnis gezeigt hätte, aber sie weigerte sich, ihn zu empfangen, und schickte seine Briefe, in denen er versuchte, seinen Namen reinzuwaschen, ungeöffnet zurück. Was er nicht wußte, war, daß seine Botschaften ihre Empfängerin gar nicht erreichten, weil Jeremy Sommers — und damit verletzte er die zwischen ihm und seiner Schwester bestehende Übereinkunft gegenseitiger Achtung — beschlossen hatte, sie vor ihrem eigenen guten Herzen zu schützen und zu vermeiden, daß sie eine weitere irreparable Torheit beging. Der Kapitän wußte das auch nicht, aber er ahnte Jeremys Vorsichtsmaßnahmen und bedachte, daß er unter solchen Umständen sicherlich das gleiche getan hätte. Die Vorstellung, den jammervollen Bibelverkäufer als Bewerber um die Hand seiner Schwester Rose zu sehen, erschien ihm fürchterlich, dieses eine Mal war er völlig eines Sinnes mit Jeremy.

»Sind denn meine Absichten auf Miss Rose so offensichtlich gewesen?« fragte Jacob Todd bestürzt.

»Sagen wir, sie sind kein Geheimnis, mein Freund.«

»Ich fürchte, es besteht nicht die geringste Hoffnung, daß sie meine Werbung eines Tages annimmt …«

»Das fürchte ich auch.«

»Würden Sie mir den ungeheuren Gefallen tun, sich für mich zu verwenden, Kapitän? Wenn Miss Rose mich nur einmal empfangen wollte, würde ich ihr erklären können …«

»Verlangen Sie nicht von mir, den Kuppler zu spielen, Todd. Wenn Rose Ihre Gefühle erwiderte, würden Sie das längst wissen. Meine Schwester ist nicht schüchtern, das kann ich Ihnen versichern. Ich wiederhole, Mann, Sie müssen raus aus diesem verfluchten Hafen, das ist das einzige, was Ihnen übrigbleibt, hier werden Sie schließlich als Bettler herumtrotten. Mein Schiff legt in drei Tagen ab Richtung Hongkong und von da nach England. Die Überfahrt wird lang werden, aber Sie haben ja keine Eile. Frische Luft und harte Arbeit sind unfehlbare Mittel gegen den Blödsinn Liebe. Das sage ich Ihnen, der sich in jedem Hafen verliebt und auf See sofort wieder gesund wird.«

»Ich habe kein Geld für die Passage.«

»Sie werden als Seemann arbeiten müssen und abends mit mir Karten spielen. Wenn Sie die Falschspielertricks nicht vergessen haben, die Sie so gut beherrschten, als ich Sie vor drei Jahren nach Chile brachte, werden Sie mich unterwegs todsicher bis aufs Hemd ausplündern.«

Drei Tage später ging Todd an Bord, erheblich ärmer als bei seiner Ankunft. Der einzige, der ihn zum Kai begleitete, war Joaquín Andieta. Der düster blickende junge Mann hatte im Kontor um die Erlaubnis gebeten, sich für eine Stunde entfernen zu dürfen. Er verabschiedete sich mit einem festen Händedruck von Todd.

»Wir werden uns Wiedersehen, mein Freund«, sagte der Engländer.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der Chilene, der eine klarere Witterung für das Schicksal hatte.

Die Bewerber

Zwei Jahre nach Jacob Todds Abreise vollzog sich die endgültige Metamorphose der Eliza Sommers. Aus dem eckigen Grashüpfer, der sie in der Kindheit gewesen war, verwandelte sie sich in ein junges Mädchen mit sanften Formen und lieblichen Gesichtszügen. Unter Miss Roses Aufsicht verbrachte sie die unangenehmen Jahre der Pubertät ein Buch auf dem Kopf balancierend und am Klavier Etüden übend, während sie gleichzeitig die heimischen Kräuter in Mama Fresias Garten pflegte und die alten Heilmittel gegen bekannte und andere noch unbekannte Leiden lernte; dazu gehörten Senfsamen für die Gelassenheit gegenüber den täglichen Ärgernissen, Hortensienblätter, um eitrige Geschwüre reif zu machen und das Lachen zurückzubringen, Veilchen, um die Einsamkeit zu ertragen, und Verbene, die Miss Rose ihrer Seife beimengte, denn diese edle Pflanze kuriert die Anfälle von schlechter Laune. Miss Rose gelang es nicht, den Hang ihres Schützlings zu Küche und Kochkunst zu unterbinden, und schließlich fand sie sich damit ab, daß Eliza kostbare Stunden zwischen Mama Fresias schwarzen Töpfen vergeudete. Sie betrachtete kulinarische Kenntnisse lediglich als schmückendes Beiwerk in der Erziehung eines jungen Mädchens, weil sie ihr ermöglichten, den Dienstboten Befehle zu erteilen, so wie sie es tat, aber diese Fähigkeit war denn doch weit entfernt von dem ungenierten Umgang mit schmutzigen Pfannen und Tiegeln. Eine Dame durfte nicht nach Zwiebeln und Knoblauch riechen, aber Eliza zog die Praxis der Theorie vor, und so graste sie die befreundeten Haushalte ab auf der Suche nach neuen Rezepten, die sie sich in ein Heft schrieb und dann in ihrer Küche verbesserte. Sie konnte ganze Tage damit verbringen, Gewürze und Nüsse für Kuchen oder Mais für die beliebten Pasteten zu mahlen, Tauben zum Marinieren auszunehmen und Obst zum Einmachen zu schälen oder zu entsteinen. Mit vierzehn hatte sie Miss Rose bei ihrer bescheidenen Pastetenbäckerei überflügelt und Mama Fresias gesamtes Repertoire gelernt, mit fünfzehn war sie verantwortlich für den Festschmaus an den Mittwochgesellschaften, und als die chilenischen Gerichte keine Herausforderung mehr für sie waren, interessierte sie sich für die verfeinerte französische Küche, die Madame Colbert sie lehrte, und für die exotischen Gewürze, die ihr Onkel John mitzubringen pflegte und die sie am Geruch erkannte, auch wenn sie nicht wußte, wie sie hießen. Wenn der Kutscher Freunden der Sommers eine Nachricht zu bringen hatte, überreichte er zusammen mit dem Briefchen einen gerade erst aus Elizas Händen hervorgegangenen Leckerbissen, sie hatte den lokalen Brauch, Gerichte und Desserts auszutauschen, zur Kunst erhoben. So groß war ihre Hingabe an die Bäckerei, daß Jeremy Sommers sie sich schon als Herrin ihres eigenen Cafés vorstellte, ein Plan, den Miss Rose genau wie alle anderen Vorschläge ihres Bruders zu Elizas Zukunft verwarf, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Eine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient, sagte sie, steigt auf der gesellschaftlichen Leiter ab, so achtbar ihr Beruf auch sein mag. Sie dagegen wollte einen guten Ehemann für ihren Schützling und hatte sich zwei Jahre Frist vorgegeben, um in Chile einen zu finden, danach würde sie Eliza nach England mitnehmen, sie konnte nicht riskieren, daß sie ohne Bräutigam zwanzig würde und ledig bliebe. Der Kandidat mußte ein Mann sein, der ihre dunkle Herkunft vergessen und sich für ihre Vorzüge begeistern konnte. An einen Chilenen war gar nicht erst zu denken, da heiratete die Aristokratie unter sich, und die Mittelklasse interessierte Miss Rose nicht, sie wollte Eliza nicht in Geldnöten sehen. Von Zeit zu Zeit lernte sie Handelsherren oder Minenbesitzer kennen, die mit ihrem Bruder Jeremy Geschäfte machten, aber die waren nur hinter den Nachnamen und Wappen der Oligarchie her. Es war unwahrscheinlich, daß einer von ihnen auf Eliza aufmerksam würde, denn an ihrem Äußeren war nur wenig, was Leidenschaften entzünden konnte: sie war klein und zart, die milchige Blässe und die Üppigkeit von Busen und Hüften, die so in Mode waren, gingen ihr völlig ab. Erst auf den zweiten Blick entdeckte man ihre unaufdringliche Schönheit, die Anmut ihrer Bewegungen und den ausdrucksvollen Blick ihrer schwarzen Augen. Miss Rose suchte einen Heiratskandidaten, der den klaren Verstand ihrer Adoptivtochter ebenso zu würdigen wußte wie ihren festen Charakter und ihre Geschicklichkeit, Situationen zu ihren Gunsten umzukehren, das, was Mama Fresia Glück nannte und was sie lieber als Intelligenz bezeichnete; einen Mann mit gutem Charakter und wirtschaftlich wohlsituiert, der Eliza Sicherheit und Achtung bieten würde, den sie aber mit Leichtigkeit lenken konnte. Miss Rose gedachte sie zu gegebener Zeit in der subtilen Wissenschaft der täglichen Aufmerksamkeiten zu unterweisen, die im Mann die Gewöhnung an das häusliche Leben nähren; in dem System kühner Liebkosungen, um ihn zu belohnen, und kalten Schweigens, um ihn zu bestrafen; in dem Geheimnis, wie man einem Mann den Willen raubt, das anzuwenden sie selbst keine Gelegenheit hatte; und endlich auch in der uralten Kunst der körperlichen Liebe. Niemals hätte sie gewagt, darüber mit ihr zu sprechen, aber sie verließ sich auf mehrere Bücher, die unter doppeltem Verschluß in ihrem Schrank ruhten und die sie ihr leihen würde, wenn der Augenblick gekommen war. Geschrieben konnte man alles sagen, lautete ihre Theorie, und in puncto Theorie war sie jedem über. Sie hätte über alle möglichen und unmöglichen Formen des Liebemachens Vorlesungen halten können.

»Du mußt Eliza legal adoptieren, damit sie unseren Namen trägt«, forderte sie Jeremy auf.

»Sie hat ihn jahrelang benutzt, was willst du denn noch, Rose.«

»Ich will, daß sie den Kopf hoch tragen kann, wenn sie heiratet.«

»Heiratet, wen?«

Miss Rose sagte es ihm diesmal noch nicht, aber sie hatte schon jemanden im Sinn. Das war Michael Steward, achtundzwanzig Jahre, Offizier des englischen Flottengeschwaders, das im Hafen von Valparaíso stationiert war. Sie hatte durch ihren Bruder John erfahren, daß der Seeoffizier aus einer angesehenen alten Familie stammte. Sie würden es nicht gern sehen, wenn ihr ältester Sohn und Haupterbe mit einer Unbekannten ohne Vermögen verlobt wäre, die aus einem Land stammte, dessen Namen sie stets für den eines Gewürzes gehalten hatten. Es war also unabdingbar, daß Eliza auf eine attraktive Mitgift bauen konnte und daß Jerry sie adoptierte, so wäre wenigstens die Frage ihrer Herkunft kein Hindernis.

Michael Steward war athletisch gebaut, hatte unschuldig blickende blaue Augen, blonden Backenbart und Schnurrbart, gute Zähne und eine aristokratische Nase. Das fliehende Kinn schmälerte das hübsche Gesamtbild ein wenig, und Miss Rose hoffte, so vertraut mit ihm zu werden, daß sie ihn überreden konnte, sich auch dort einen Bart wachsen zu lassen, um es zu verstecken. Nach dem, was Kapitän Sommers sagte, war die Moral des jungen Mannes beispielhaft, und seine tadellose Akte garantierte ihm eine brillante Laufbahn in der Manne. In den Augen von Miss Rose stellte die Tatsache, daß er soviel Zeit auf See verbrachte, einen beträchtlichen Vorteil für die Frau dar, die er heiraten würde. Je mehr sie darüber nachdachte, um so sicherer war sie, den idealen Mann gefunden zu haben, aber so, wie Eliza geartet war, würde sie ihn nicht bloßer Konvention wegen nehmen, sie mußte sich in ihn verlieben. Aber da konnte man hoffen, der Mann sah bildhübsch aus in seiner Uniform, und ohne sie hatte ihn bisher noch niemand gesehen.

»Steward ist nur ein Trottel mit guten Manieren. Eliza würde eingehen vor Langeweile, wenn sie mit ihm verheiratet wäre«, meinte Kapitän John, als sie ihm von ihren Plänen erzählte.

»Alle Ehemänner sind langweilig, John. Keine Frau mit zwei Fingerbreit Stirn unterm Pony heiratet, weil es unterhaltsam ist, sondern weil sie unterhalten werden will.«

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Mochte Eliza immer noch sehr mädchenhaft wirken, so war ihre Erziehung doch abgeschlossen, und bald würde sie im heiratsfähigen Alter sein. Es blieb ja noch ein wenig Zeit, überlegte Miss Rose, dennoch hieß es zielgerichtet handeln, damit nicht inzwischen eine andere, Aufgewecktere den Kandidaten wegschnappte. Einmal entschlossen, setzte sie alles daran, den Offizier ins Haus zu locken unter jedem Vorwand, der ihr einfiel. Sie verlegte die musikalischen Gesellschaften so, daß sie mit den Tagen zusammenfielen, an denen Michael Steward Landurlaub hatte, ohne Rücksicht auf die übrigen Teilnehmer, die seit Jahren den Mittwoch für diese geheiligten Geselligkeiten freigehalten hatten. Verärgert stellten einige ihre Besuche ein. Genau das aber hatte sie beabsichtigt, so konnte sie die etwas steifen musikalischen Unterhaltungen in fröhliche Festlichkeiten umwandeln und die Liste der Gäste mit unverheirateten jungen Männern und heiratsfähigen jungen Damen aus der Ausländerkolonie auffrischen an Stelle der langweiligen Ebeling, Scott und Applegreen, die schon ein wenig an Fossilien erinnerten. Die Darbietungen von Gedichten und Liedern wichen munteren Gesellschaftsspielen, zwanglosen Tänzen und Scharaden. Sie veranstaltete ländliche Picknicks und Spazierfahrten zum Strand. Früh am Morgen setzten sich zuerst schwere Karren mit Lederboden und Strohdach in Bewegung, auf denen die Dienstboten saßen, die beauftragt waren, die Eßwaren in den unzähligen Körben unter Zelten und Sonnenschirmen anzurichten; die Gesellschaft folgte in Kutschen. Vor ihren Blicken zogen fruchtbare, mit Obstbäumen bepflanzte Täler, Weinberge, Felder mit Weizen und Mais vorbei, sie sahen schroffe Küsten, gegen die der Pazifik brandete, Wolken von Schaum hochschleudernd, und in der Ferne den erhabenen Umriß der schneebedeckten Kordilleren. Irgendwie brachte Miss Rose es immer zustande, daß Eliza und Steward in derselben Kutsche fuhren, nebeneinander saßen und natürliche Partner bei den Ballspielen und den Pantomimen waren, aber beim Kartenspiel und beim Domino mußte sie sie trennen, weil Eliza sich rundweg weigerte, sich besiegen zu lassen.

»Du mußt dafür sorgen, daß der Mann sich immer überlegen fühlt, Kind«, erklärte Miss Rose ihr geduldig.

»Das kostet aber viel Arbeit«, erklärte Eliza unbewegt. Jeremy Sommers gelang es nicht, die Ausgabenflut seiner Schwester zu dämmen. Miss Rose kaufte Stoffe en gros ein und stellte zwei Dienstmädchen dazu an, den ganzen Tag aus den Zeitschriften kopierte Kleider nach neuester Mode zu nähen. Sie stürzte sich aufs unvernünftigste bei schmuggelnden Seeleuten in Unkosten, damit es ihr nie fehlte an Parfüms, am karmin-farbenen Türkischrot, Belladonna und Khol für den geheimnisvollen Blick und Creme aus echten Perlen, um die Haut zu bleichen. Zum erstenmal hatte sie keine Zeit zum Schreiben, sie war vollauf beschäftigt mit Aufmerksamkeiten für den englischen Offizier, einschließlich Kuchen und eingemachte Früchte, die er auf See mitnehmen sollte, alles hausgemacht und in hübschen Gefäßen gereicht.

»Eliza hat das für Sie gebacken, aber sie ist zu scheu, es Ihnen persönlich zu übergeben«, sagte sie, ohne freilich zu erwähnen, daß Eliza kochte oder buk, worum sie gebeten wurde, auch nicht lange fragte, für wen, weshalb sie sich auch wunderte, wenn er sich bei ihr bedankte.

Michael Steward war nicht unempfänglich für die Verführungskampagne. Sparsam mit Worten wie er war, bezeigte er seine Dankbarkeit mit kurzen Briefen, formell auf Marinepostpapier geschrieben, und wenn er wieder an Land war, stellte er sich mit Blumensträußen ein. Er hatte sich in der Blumensprache kundig gemacht, aber diese Feinheit fiel hier auf dürren Boden, denn weder Miss Rose noch sonst jemand in diesen Breiten so fern von England hatte je von dem Unterschied zwischen einer geschenkten Rose und einer geschenkten Nelke gehört oder ahnte gar, was die Farbe der Bukettschleife bedeutete. Stewards Bemühungen, Blumen aufzutreiben, die gradweise im Farbton stärker wurden, von der blaßrosa Rose über alle Abwandlungen von hellrot und hochrot bis zum brennendsten Rot als Zeichen seiner wachsenden Leidenschaft, verpufften im Leeren. Mit der Zeit gelang es ihm, seine Schüchternheit so weit zu überwinden, daß er von dem peinlichen Schweigen, das ihn anfangs kennzeichnete, geradezu in Geschwätzigkeit verfiel. Er trug euphorisch seine moralischen Ansichten über Nichtigkeiten vor und erging sich in nutzlosen Erklärungen zu Meeresströmungen und Navigationskarten. Worin er sich wirklich hervortat, das waren Sportarten, die seine Verwegenheit und seine gute Muskulatur offenbarten. Miss Rose brachte ihn dazu, an einem Ast im Garten hängend akrobatische Kunststücke vorzuführen, sie schaffte es sogar mit einiger Beharrlichkeit, daß er sie und Eliza mit Füßestampfen, Kniebeugen und Überschlagsprüngen eines ukrainischen Tanzes verblüffte, den er von einem Matrosen gelernt hatte. Miss Rose applaudierte ihm mit übertriebener Begeisterung, während Eliza schweigend und ernst zusah, ohne sich zu äußern. So vergingen Wochen, in denen Michael Steward die Konsequenzen des Schrittes abwog und abmaß, den er zu gehen wünschte, und dieserhalb an seinen Vater schrieb, um seine Pläne zu besprechen. Die unvermeidbaren Verzögerungen der Postzustellung verlängerten die Ungewißheit um mehrere Monate. Schließlich ging es um die wichtigste Entscheidung seines Lebens, und um sie zu treffen, brauchte er wesentlich mehr Mut, als wenn er gegen etwaige Feinde des Britischen Weltreiches im Pazifik kämpfte. An einem der Gesellschaftsabende endlich und nach hundert Proben vor dem Spiegel gelang es ihm, allen Mut zusammennehmend und seine Stimme festigend, daß sie nicht überschnappte, Miss Rose im Korridor abzufangen.

»Ich muß privat mit Ihnen sprechen«, flüsterte er.

Sie führte ihn in das Nähstübchen. Sie ahnte, was sie gleich hören würde, und wunderte sich über ihre Aufregung. Sie fühlte, daß ihr die Wangen brannten und das Herz raste. Sie ordnete eine Strähne, die sich aus dem Haarknoten gelöst hatte, und wischte sich dabei unauffällig den Schweiß von der Stirn. Michael Steward dachte, so schön habe er sie noch nie gesehen.

»Ich glaube, Sie ahnen schon, was ich Ihnen sagen will, Miss Rose.«

»Ahnungen sind gefährlich, Mr. Steward. Ich höre Ihnen zu …«

»Es handelt sich um meine Gefühle. Sie wissen sicherlich, wovon ich spreche. Ich möchte Ihnen erklären, daß meine Absichten von lauterster Redlichkeit sind.«

»Von einer Persönlichkeit, wie Sie es sind, erwarte ich nichts weniger. Glauben Sie, daß Ihre Gefühle erwidert werden?«

»Nur Sie können das beantworten«, stammelte der junge Offizier.

Sie standen und sahen einander an, sie mit erwartungsvoll hochgeschobenen Brauen, er in banger Furcht, gleich würde die Decke über ihm einstürzen. Wild entschlossen, zu handeln, ehe ihn sein bißchen Mut verließe, packte er sie bei den Schultern und beugte sich vor, um sie zu küssen. In eisiger Verblüffung erstarrt, stand Miss Rose regungslos. Sie fühlte die feuchten Lippen und den weichen Schnurrbart des jungen Mannes auf ihrem Mund, ohne zu begreifen, was denn zum Teufel schiefgegangen war, bis sie sich endlich rühren konnte und ihn schroff von sich stieß.

»Was tun Sie? Sehen Sie nicht, daß ich viele Jahre älter bin als Sie?« rief sie aus und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Wen kümmert das Alter?« stotterte er verdutzt, denn er hatte Miss Rose eigentlich für nicht älter als siebenundzwanzig gehalten.

»Wie können Sie es wagen! Haben Sie den Verstand verloren?«

»Aber Sie … Sie haben mir zu verstehen gegeben … Ich kann mich doch nicht so geirrt haben!« murmelte er ratlos und vor Scham wie betäubt.

»Ich wollte Sie für Eliza, nicht für mich!« schrie sie ihn entsetzt an und rannte davon, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen, während der unglückliche Bewerber sich Cape und Mütze geben ließ und ging, ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden, ging, um dieses Haus nie wieder zu betreten.

Von einer Nische im Flur hatte Eliza durch die halboffene Tür des Nähstübchens alles mit angehört. Auch sie hatte sich über all die dem jungen Offizier erwiesenen Aufmerksamkeiten gewundert. Miss Rose hatte immer so viel Gleichgültigkeit gegenüber ihren Bewerbern gezeigt, daß Eliza sich angewöhnt hatte, sie als ältere Frau zu betrachten, die das alles nichts mehr anging. Erst in den letzten Monaten, als ihre Adoptivmutter sich mit Leib und Seele den Verführungsspielchen widmete, hatte sie ihren prachtvollen Wuchs und die strahlende Haut wahrgenommen. Sie hatte geglaubt, Miss Rose sei unsterblich verliebt in Michael Steward, und ihr war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß die bukolischen Picknicks unter japanischen Sonnenschirmen und die Butterkekse zur Linderung der Unannehmlichkeiten auf hoher See nur Strategie gewesen waren, um den Offizier für sie, Eliza, einzufangen und ihr auf dem Tablett zu überreichen. Die Enthüllung traf sie wie ein Faustschlag in die Brust und benahm ihr den Atem, denn das letzte, was sie sich auf dieser Welt wünschte, war eine hinter ihrem Rücken abgesprochene Heirat. Eliza war vom Wirbelwind der ersten Liebe erfaßt worden und hatte mit unwiderruflicher Bestimmtheit geschworen, daß sie keinen anderen heiraten würde.

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Eliza Sommers sah Joaquín Andieta zum erstenmal an einem kalten Maitag des Jahres 1848, als er mit einem von mehreren Maultieren gezogenen und hoch mit Kisten und Warenballen für die British Trading Company beladenen Karren ins Haus Sommers kam. Die Frachtstücke enthielten persische Teppiche, Kristallüster und eine Sammlung Elfenbeinfiguren, ein Auftrag von Feliciano Rodríguez de Santa Cruz, um das Haus damit zu schmücken, das er sich im Norden gebaut hatte; es war eine jener wertvollen Ladungen, die im Hafen gefährdet waren, und es wurde für sicherer erachtet, sie im Haus der Sommers zu lagern bis zu dem Augenblick, wenn sie an ihren Bestimmungsort geschickt wurden. Wenn der Rest der Reise über Land führte, pflegte Jeremy Sommers zu ihrem Schutz bewaffnete Wachen anzustellen, aber in diesem Fall würde er sie in einem chilenischen Schoner zu ihrem Ziel schicken, der in einer Woche die Anker lichten würde. Andieta trug seinen einzigen, aus der Mode gekommenen, abgetragenen dunklen Anzug und hatte weder Hut noch Schirm. Flammend blickten seine Augen in der leichenhaften Blässe seines Gesichts, und sein schwarzes Haar glänzte feucht von einem der ersten Herbstregen. Miss Rose kam heraus, um die Fracht in Empfang zu nehmen, und Mama Fresia, die immer die Schlüssel des ganzen Hauses an einem Ring am Gürtel trug, führte ihn zu den Güterschuppen im letzten Patio.

Der junge Mann stellte die mitgebrachten indianischen Arbeiter in einer Reihe auf, und sie reichten die Frachtstücke von Hand zu Hand über das schwierige Gelände — die gewundenen Treppen, die aufgesetzten Terrassen und die überflüssigen Laubengänge.

Während er zählte, markierte und notierte, machte sich Eliza ihre Fähigkeit zunutze, unsichtbar zu werden, und konnte ihn so nach Lust und Laune beobachten. Zwei Monate zuvor war sie sechzehn geworden, bereit für die Liebe. Als sie Joaquín Andietas Hände mit den langen, tintenbefleckten Fingern sah und seine tiefe, dabei wie Flußrauschen klare und frische Stimme hörte, mit der er den Arbeitern kurze Anweisungen gab, da fühlte sie sich bis ins Innerste angerührt, und ein unbezwingbares Verlangen, sich ihm zu nähern und ihn zu riechen, trieb sie, aus ihrem Versteck hinter dem mit Palmen bepflanzten großen Blumentopf hervorzukommen. Mama Fresia, die schimpfte, weil die Maultiere die Einfahrt verschmutzt hatten, und im übrigen mit den Schlüsseln beschäftigt war, bemerkte nichts, aber Miss Rose sah zufällig aus dem Augenwinkel das gerötete Gesicht des Mädchens. Sie schenkte dem keine Beachtung, der Angestellte ihres Bruders war für sie nur ein Schatten mehr unter den vielen Schatten dieses trüben Tages. Eliza verschwand in der Küche und kam nach wenigen Minuten mit Gläsern und einem Krug Orangensaft zurück, der mit Honig gesüßt war. Sie, die jahrelang ein Buch auf dem Kopf balanciert hatte, ohne sich etwas dabei zu denken, war sich zum ersten Mal in ihrem Leben ihres Ganges bewußt, des Schwungs ihrer Hüften, des genauen Winkels ihrer Arme, des Abstandes zwischen Schultern und Kinn.

Sie wollte so schön sein wie Miss Rose damals, als sie, eine strahlende junge Frau, den Findling aus der behelfsmäßigen Wiege eines Marseiller Seifenkartons gehoben hatte; sie wollte singen mit Nachtigallenstimme wie Miss Applegreen, wenn sie ihre schottischen Balladen vortrug; sie wollte tanzen mit der unglaublichen Leichtigkeit ihrer Tanzlehrerin, und sie wollte auf der Stelle sterben, vernichtet von einem Gefühl so schneidend und unaufhaltbar wie ein Schwert, das ihr den Mund mit heißem Blut füllte und das sie, noch ehe sie es in Worte fassen konnte, mit dem furchtbaren Gewicht der ersten Liebe niederdrückte.

Eliza stellte das Tablett auf eine Bank und bot die Erfrischung zuerst den Arbeitern an, um Zeit zu gewinnen, bis ihr die Knie nicht mehr zitterten und sie der Starre Herr geworden war, die ihr die Brust lähmte und den Atem raubte, und dann ging sie zu Joaquín Andieta, der von seiner Aufgabe in Anspruch genommen war und kaum den Blick hob, als sie ihm das Glas hinhielt. Dabei trat sie so nahe wie möglich an ihn heran, die Richtung der leichten Brise berechnend, damit sie ihr den Geruch des Mannes brächte, der, so hatte sie beschlossen, der ihre war. Mit halb geschlossenen Augen sog sie seinen Geruch nach feuchter Kleidung, gewöhnlicher Seife und frischem Schweiß ein. Ein Strom glühender Lava durchfuhr sie, ihre Beine drohten nachzugeben, und in einem Augenblick der Panik glaubte sie, sie müsse wirklich sterben. Diese Sekunden waren von solcher Intensität, daß Joaquín Andieta das Heft aus den Händen fiel, als hätte eine fremde Kraft es ihm entrissen, während die Hitze des Feuers auch ihn erreichte und ihn mit dem Widerschein verbrannte. Er blickte Eliza an, ohne sie zu sehen, das Gesicht des Mädchens war ein bleicher Spiegel, in dem er schemenhaft sein eigenes Bild zu erkennen glaubte. Er hatte nur einen vagen Eindruck von ihrer Gestalt und der dunklen Aureole ihres Haars, und erst bei ihrer zweiten Begegnung einige Tage später würde er endlich eintauchen in das Verderben ihrer schwarzen Augen und sich verlieren in der fließenden Anmut ihrer Bewegungen. Beide bückten sich gleichzeitig, um das Heft aufzuheben, ihre Schultern stießen zusammen, und der Inhalt des Glases ergoß sich über ihr Kleid.

»Paß doch auf, was du tust, Eliza!« rief Miss Rose aus — bestürzt, denn der Blitzschlag dieser plötzlichen Liebe hatte auch sie gestreift.

»Geh dich umziehen und wasch das Kleid in kaltem Wasser, vielleicht geht der Fleck ja raus«, fügte sie trocken hinzu.

Aber Eliza, zitternd, von Joaquín Andietas Augen gefangen, rührte sich nicht, stand mit geweiteten Nüstern und sog unverhohlen seinen Geruch ein, bis Miss Rose sie beim Arm packte und mit ins Haus nahm.

»Ich hab dir ja gesagt, Kind, jeder Mann, und wenn er noch so armselig ist, kann mit dir machen, was er will«, erinnerte die India sie an diesem Abend.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama Fresia«, erwiderte Eliza.

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An jenem Herbstmorgen im Patio ihres Hauses glaubte Eliza in Joaquín Andieta ihrem Schicksal zu begegnen: sie würde für immer seine Sklavin sein. Sie hatte noch nicht lange genug gelebt, um das Geschehene zu begreifen, den inneren Aufruhr, der sie schüttelte, in Worte zu kleiden oder einen Plan zu fassen, aber ihr Spürsinn für das Unvermeidliche versagte nicht. Unbestimmt, aber schmerzlich war ihr bewußt, daß sie gefangen war, und ihr Körper reagierte, als hätte eine Seuche sie befallen.

Eine Woche lang, bis sie ihn wiedersah, wurde sie von Krämpfen geplagt, gegen die weder Mama Fresias Wunderkräuter noch das in Kirschlikör aufgelöste Arsenpulver des deutschen Apothekers halfen. Sie verlor Gewicht und wurde so leicht wie eine Taube, zum Schrecken von Mama Fresia, die alle Fenster ringsum schloß, damit nicht ein Wind das Mädchen mitriß und über das Meer zum Horizont davontrug. Sie gab ihr alle möglichen Mixturen ein, verbunden mit Beschwörungen aus ihrem umfassenden Repertoire, und als sie begriff, daß nichts fruchten wollte, suchte sie Hilfe bei den katholischen Heiligen. Der Tiefe ihres Koffers entnahm sie einige Münzen von ihren kümmerlichen Ersparnissen, kaufte zwölf Kerzen und machte sich auf, mit dem Pfarrer zu verhandeln. Nachdem sie die Kerzen im sonntäglichen Hochamt hatte segnen lassen, entzündete sie vor jedem Heiligen in den Seitenkapellen der Kirche eine, im ganzen acht, und stellte drei vor dem Bildnis des heiligen Antonius auf, des Beschützers der ledigen Mädchen ohne Hoffnung, der untreuen Ehefrauen und anderer verlorener Fälle. Die letzte nahm sie zusammen mit einer Haarsträhne und einem Hemd von Eliza mit zu der weit und breit angesehensten Machi. Das war eine alte, von Geburt an blinde Mapuche, Zauberin der weißen Magie, berühmt für ihre unanfechtbaren Weissagungen und ihr gutes Urteil, wenn es galt, Krankheiten des Körpers und Leiden der Seele zu heilen.

Mama Fresia hatte ihre Jugendjahre als Lehrling und Dienerin bei dieser Frau verbracht, aber sie konnte nicht in ihre Fußstapfen treten, so heiß sie es sich auch wünschte, weil sie die Gabe nicht hatte. Da war nichts zu machen: entweder man wird mit der Gabe geboren, oder man wird ohne sie geboren. Sie hatte einmal versucht, es Eliza zu erklären, aber ihr fiel einzig dieses ein: die Gabe sei die Fähigkeit, zu sehen, was hinter den Spiegeln ist. Da sie selbst das geheimnisvolle Talent nicht besaß, mußte Mama Fresia ihrem Ehrgeiz, eine Heilerin zu werden, entsagen und bei den Engländern in Dienst gehen.

Die Machi lebte allein in einer Schlucht zwischen zwei Hügeln in einer Lehmhütte mit Strohdach, die aussah, als könnte sie jeden Augenblick zusammenfallen. Rings um ihre Behausung lagen Felstrümmer und Baumstämme in wirrem Übereinander, in Blechbüchsen wucherten Pflanzen, dazwischen scharrten und kratzten knochendürre Hunde und große schwarze Vögel vergeblich den Boden nach etwas Eßbarem auf. Auf dem Weg zur Hütte erhob sich ein kleiner Hain aus Stöcken, behängt mit Geschenken und Amuletten und aufgepflanzt von zufriedenen Kunden, die damit für erwiesene Hilfe danken wollten.

Die alte Frau roch nach allen Heiltränken und Tinkturen und Balsamen, die sie in ihrem Leben zubereitet hatte, sie trug einen Umhang von derselben undefinierbaren Farbe wie der trockene Boden der Landschaft, ihre bloßen Füße waren schmutzig, aber sie war geschmückt mit einer Unzahl Halsketten aus Silbermünzen. Ihr Gesicht war eine verrunzelte dunkle Maske, sie hatte nur noch zwei Zähne im Mund, ihre Augen waren erloschen. Sie empfing ihre ehemalige Schülerin ohne ein Zeichen des Erkennens, nahm die Geschenke, Speisen und eine Flasche Anislikör, entgegen, machte ihr ein Zeichen, sich ihr gegenüberzusetzen, und wartete schweigend. In der Mitte der Hütte glosten ein paar Holzscheite, und der Rauch zog durch ein Loch im Dach ab. An den rußschwarzen Wänden hingen Töpfe aus Ton und Messing, getrocknete Pflanzen und allerlei ausgestopftes Kleingetier. Der schwere Geruch von Kräutern und Heilrinden mischte sich mit dem Gestank toter Tiere. Sie redeten in Mapudungo, der Sprache der Mapuche. Lange lauschte die Magierin der Geschichte Elizas, von ihrer Ankunft im Marseiller Seifenkarton bis zu der jüngst eingetretenen Krise, dann nahm sie die Kerze, die Haarsträhne und das Hemd und verabschiedete die Besucherin mit der Weisung, zurückzukehren, wenn sie ihre Zauber und Wahrsageriten vollendet haben würde.

»Es steht fest, daß es dafür keine Heilung gibt«, verkündete sie zwei Tage später, als Mama Fresia eben über die Schwelle der Hütte trat.

»Wird meine Kleine etwa sterben?«

»Darüber kann ich nichts sagen, aber sie wird viel leiden müssen, da habe ich keinen Zweifel.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Versessenheit in der Liebe. Das ist ein sehr beständiges Leiden. Sicherlich hat sie einmal in einer klaren Nacht das Fenster offenstehen lassen, und es ist ihr, während sie schlief, in den Körper gelangt. Dagegen gibt es keine Beschwörung.«

Mama Fresia ging betrübt nach Hause: wenn die Kunst dieser weisen Machi nicht ausreichte, Elizas Schicksal zu wenden, wieviel weniger konnten dann ihre schwachen Kenntnisse oder die Kerzen der Heiligen nützen.

Miss Rose

Miss Rose beobachtete Eliza mit mehr Neugier als Mitgefühl, denn diese Symptome kannte sie gut, und ihrer Erfahrung nach löschten die Zeit und Hindernisse aller Art auch die ärgsten Liebesgluten. Sie war gerade erst siebzehn gewesen, als sie sich unsterblich in einen Wiener Tenor verliebte. Damals lebte sie in England und träumte davon, eine Operndiva zu werden, gegen den hartnäckigen Widerstand ihrer Mutter und ihres Bruders Jeremy, seit dem Tod des Vaters Familienoberhaupt. Keiner der beiden betrachtete das Ariensingen als wünschenswerte Beschäftigung für eine junge Dame, zumal es auf Theaterbühnen, am Abend und in tief ausgeschnittenen Kleidern betrieben wurde. Sie konnte auch nicht mit der Unterstützung durch Bruder John rechnen, der sich der Handelsmarine verschrieben hatte und nur ein paarmal im Jahr und dann stets in Eile zu Hause auftauchte. Er kam und stellte den Alltagstrott der kleinen Familie auf den Kopf, strotzend vor guter Laune und von der Sonne anderer Breiten gebräunt, und führte stolz eine neue Narbe oder Tätowierung vor. Er verteilte Geschenke, traktierte sie mit seinen exotischen Geschichten und verschwand ganz plötzlich mit Kurs aufs East End und seine Hurenhäuser, wo er blieb, bis er wieder an Bord gehen mußte. Die Sommers gehörten zum kleinen Landadel und hegten keine besonderen Ambitionen. Sie besaßen Land, das seit Generationen im Besitz der Familie war, aber der Vater, der stumpfsinnigen Schafe und kümmerlichen Ernten überdrüssig, zog es vor, in London sein Glück zu versuchen. Er liebte die Bücher so sehr, daß er imstande war, Frau und Kindern das Brot vorzuenthalten und sich zu verschulden, um Erstausgaben von seinen Lieblingsautoren zu erwerben, aber ihm mangelte es an der Habgier der echten Sammler. Nach fruchtlosen Versuchen im Geschäftsleben beschloß er, seiner wahren Berufung nachzugeben, und eröffnete einen Laden mit gebrauchten und anderen, von ihm selbst herausgegebenen Büchern. Im rückwärtigen Teil der Buchhandlung richtete er eine kleine Druckerei ein, in der er mit zwei Helfern werkelte, und im Obergeschoß desselben Ladens gedieh im Schildkrötengang sein Geschäft mit seltenen Ausgaben.

Von seinen drei Kindern nahm nur Rose Anteil an seiner Arbeit, sie war mit der Leidenschaft für die Musik und für die Bücher aufgewachsen, und wenn sie nicht gerade am Klavier saß oder ihre Stimmübungen machte, konnte man sie in einem Winkel beim Lesen finden. Den Vater jammerte, daß sie die einzige war, die die Bücher liebte, und nicht John oder Jeremy, denen er sein Geschäft hätte vererben können. Nach seinem Tod gaben die Söhne die Buchhandlung und die Druckerei auf, John wandte sich der Seefahrt zu, und Jeremy übernahm die Sorge für seine verwitwete Mutter und seine Schwester. Er bezog ein bescheidenes Gehalt als Angestellter der British Trading Company und vom Vater hinterlassene niedrige Pachterträge, hinzu kamen die gelegentlichen Beiträge von Bruder John, die nicht immer in sicherer klingender Münze eintrafen, sondern oft als Schmuggelgut. Jeremy, darob entrüstet, verwahrte diese frevelhaften Kisten ungeöffnet in der Bodenkammer bis zum nächsten Besuch seines Bruders, der es dann selbst übernahm, ihren Inhalt zu verkaufen. Die Familie zog um in eine kleinere Wohnung, die zwar für ihre Verhältnisse zu teuer war, dafür aber günstig im Herzen Londons gelegen, also eine gute Investition — Rose mußte günstig verheiratet werden.

Mit siebzehn Jahren war das junge Mädchen eine erblühende Schönheit, und es fanden sich übergenug gutsituierte Bewerber, die bereit waren, vor Liebe zu sterben, aber während ihre Freundinnen eifrig bemüht waren, einen Ehemann zu suchen, suchte sie einen Gesangslehrer. So lernte sie Karl Bretzner kennen, einen Wiener Tenor, der nach London gekommen war, um in verschiedenen Mozartopern zu singen. Die Aufführungen erreichten ihren Höhepunkt an einem Gala-Abend mit der Zauberflöte in Anwesenheit der königlichen Familie. Bretzners Äußeres verriet nichts von seiner großen Begabung: er sah aus wie ein Fleischer. Seinem Körper, behäbiger Bauch und schwächliche Knie, ging jede Eleganz ab, und sein vollblütiges Gesicht mit dem Busch blasser Kräusellocken darüber war eher vulgär, aber wenn er den Mund aufmachte, dann verwandelte er sich in ein anderes Wesen, er wuchs zusehends, der Wanst verschwand in der Breite der Brust, das teutonenrote Gesicht strahlte in olympischem Glanz, und seine mächtige Stimme entzückte alle Welt. So wenigstens sah ihn Rose Sommers, die es schaffte, für jede Vorstellung Eintrittskarten zu ergattern. Sie stand schon lange vor Einlaß am Theater, und den entrüsteten Blicken der Vorübergehenden trotzend, die es nicht gewohnt waren, ein junges Mädchen ihres Standes ohne Begleitung zu sehen, wartete sie stundenlang vor dem Bühneneingang, bis der Maestro aus der Kutsche stieg. Am Abend der Galavorstellung bemerkte der Tenor die auf der Straße stehende Schönheit und ging zu ihr, um sie anzusprechen. Zitternd beantwortete sie seine Fragen und gestand ihre Bewunderung für ihn und ihren Wunsch, seinen Schritten zu folgen auf dem beschwerlichen, aber göttlichen Weg des Belcanto, wie sie wörtlich sagte.

»Kommen Sie nach der Vorstellung in meine Garderobe, da werden wir sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte er mit seiner kostbaren Stimme und einem gerollten R.

Das tat sie dann auch, außer sich vor Seligkeit. Nach den stehenden Ovationen, die das Publikum den Sängern darbrachte, führte ein von Karl Bretzner geschickter Türhüter sie hinter die Kulissen. Sie hatte noch nie hinter die Bühne eines Theaters geblickt, aber sie verlor keine Zeit damit, die sinnreichen Maschinen zum Vortäuschen von Stürmen zu bestaunen oder die gemalten Landschaften auf den Soffitten, ihr einziges Ziel war, ihr Idol kennenzulernen. Sie fand ihn in einem Hausrock aus königsblauem, goldpaspeliertem Samt, sein Gesicht war noch geschminkt, und er trug auch noch die weiße Lockenperücke. Der Türhüter ließ sie allein. Der Raum, voll von Spiegeln, dürftigen Möbelstücken und Vorhängen, roch nach Tabak, Schminke und Moder. In einer Ecke stand ein Paravent, bemalt mit üppigen Frauen in einem türkischen Harem, und an den Wänden hingen auf Bügeln die Kostüme des Tenors. Als Rose ihr Idol so dasitzen sah, sank ihr Enthusiasmus in sich zusammen, aber schon nach wenigen Augenblicken blähte er sich prächtig wieder auf. Bretzner nahm ihre beiden Hände in die seinen, führte sie an die Lippen und küßte sie lange, dann schmetterte er ein hohes C aus voller Brust, daß der Wandschirm mit den Odalisken ins Wackeln geriet. Roses letzte Reste von Prüderie zerfielen in einer Puderwolke, als der Sänger sich mit einer leidenschaftlichen, männlichen Geste die Perücke vom Kopf riß und auf einen Sessel warf, wo sie wie ein totes Kaninchen liegenblieb. Sein Haar wurde von einem dichten Netz plattgedrückt, und mit dem dick geschminkten Gesicht darunter wäre er jedem anderen als Rose wie eine abgelebte Kurtisane vorgekommen.

In eben jenem Sessel, auf den die Perücke gefallen war, sollte Rose ihm ein paar Tage später, genau um ein Viertel nach drei nachmittags, ihre Jungfräulichkeit opfern. Der Wiener Tenor hatte sie unter dem Vorwand dorthin gelockt, er wolle ihr das Theater zeigen, weil an dem Tag keine Vorstellung sei. Sie trafen sich heimlich in einer Konditorei, wo er sich an fünf Eclairs und zwei Tassen Schokolade delektierte, während sie in ihrem Tee rührte, den sie vor freudig banger Vorahnung nicht schlucken konnte. Dann gingen sie ins Theater. Um diese Zeit waren nur ein paar Frauen zum Saubermachen dort sowie ein Beleuchter, der Öllampen, Fackeln und Kerzen für den folgenden Tag vorbereitete. Karl Bretzner, erfahren in den Gefechten der Liebe, zauberte eine Flasche Champagner hervor und goß jedem ein Glas voll ein, das sie Mozart und Rossini weihten und auf einen Zug leerten. Darauf ließ er das junge Mädchen in der Königsloge Platz nehmen, die von oben bis unten mit Plüsch und pausbäckigen Amoretten und Rosen aus Stuck verziert war, er selbst ging auf die Bühne. Auf einem Säulenstumpf aus bemaltem Pappmache stehend, beleuchtet von den gerade angezündeten Fackeln, sang er allein für sie eine Arie aus dem Barbier von Sevilla und ließ die ganze Geschmeidigkeit und den weichen Schmelz seiner Stimme in endlosen Fiorituren erstrahlen. Als die letzte Note seiner Huldigung erstarb, hörte er Rose schluchzen. Da rannte er los, zu ihr, durchquerte mit verblüffender Behendigkeit den Zuschauersaal, grätschte über die Logenbrüstung und fiel zu ihren Füßen auf die Knie. Atemlos legte er den Kopf auf ihren Schoß und verbarg das Gesicht zwischen den Falten ihres moosfarbenen Seidenrocks. Er weinte mit ihr, denn ganz unerwartet hatte auch er sich verliebt; aus etwas, was wie eine weitere flüchtige Eroberung begonnen hatte, war über Nacht eine glühende Leidenschaft geworden.

Rose und Karl erhoben sich, einander stützend, stolpernd, bestürzt und beglückt angesichts des Unvermeidlichen, und gingen ohne recht zu wissen wie durch einen langen, halbdunklen Gang, stiegen eine kurze Treppe hinauf und standen auf einem Korridor, von dem die Garderoben abgingen. Der Name des Tenors stand in Kursivlettern an einer der Türen. Sie betraten den mit Mobiliar und verstaubten und verschwitzten Gewändern vollgestopften Raum, in dem sie zwei Tage zuvor zum erstenmal allein zusammengewesen waren. Er hatte keine Fenster, und einen Augenblick tauchten sie ein in den Schutz der Dunkelheit, wo sie den in Schluchzern und Seufzern verlorenen Atem zurückgewannen, während er ein Zündholz und dann die fünf Kerzen eines Kandelabers anzündete. In dem gelben Flackerlicht sahen sie sich an, verwirrt und töricht, von einem Sturzbach der Gefühle erfaßt, die nach Ausdruck verlangten, und doch vermochten sie kein Wort zu sprechen. Rose konnte seinem durchdringenden Blick nicht standhalten und verbarg das Gesicht in den Händen, aber er zog sie ihr sacht beiseite, mit der gleichen Zartheit, mit der er morgens seine Brezeln zerkrümelt hatte. Sie begannen sich verweinte Küßchen wie Taubenpicken auf das Gesicht zu geben, die ganz natürlich zu ernsthaften Küssen überleiteten. Rose hatte romantische, aber flüchtige Begegnungen mit einigen ihrer Bewerber gehabt, und einige von ihnen hatten ihre Wangen mit den Lippen gestreift, aber niemals hätte sie sich vorgestellt, daß man zu einem solchen Grad der Intimität gelangen könne — daß eine andere Zunge sich so mit der ihren verschlingen werde wie eine mutwillige Schlange und der fremde Speichel sie außen benetzen und innen durchfluten werde, aber der anfängliche Widerwille wurde bald von dem Drängen ihrer Jugend und ihrer Begeisterung für die Oper besiegt. Nicht nur, daß sie die Liebkosungen mit gleicher Inbrunst zurückgab, sie übernahm nun die Initiative, legte ihren Hut ab und das kleine graue Persianercape, das ihre Schultern bedeckte. Daß sie sich die Jacke aufknöpfen ließ und dann die Bluse, verstand sich schon von selbst. Das junge Mädchen wußte Schritt für Schritt dem Tanz der Vereinigung zu folgen, geleitet vom Instinkt und der hitzigen Lektüre verbotener Bücher, die sie verstohlen aus den Bücherregalen ihres Vaters entwendet hatte. Dies war der denkwürdigste Tag ihres Lebens, und sie würde in den kommenden Jahren noch die geringsten Kleinigkeiten, ausgeschmückt und überhöht, im Gedächtnis parat halten. Es sollte ihre einzige Quelle sein, aus der sie Erfahrung und Wissen schöpfte, der einzige Antrieb, aus dem sie ihre Phantasien nährte und Jahre später die geheime Kunst schuf, die sie in bestimmten Kreisen berühmt machte. Dieser wunderbare Tag konnte an Stärke nur mit jenem Märzmorgen zwei Jahre später in Valparaíso verglichen werden, als sie die neugeborene Eliza in die Arme nahm als Trost für die Kinder, die sie nicht haben, für die Männer, die sie nicht lieben, und für das Heim, das sie nie gründen würde.

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Der Wiener Tenor erwies sich als erfahrener Liebhaber. Er liebte und kannte die Frauen von Grund auf, aber er war fähig, die vielfältigen Liebschaften der Vergangenheit aus der Erinnerung zu löschen, die Ernüchterung zahlreicher Abschiede, die Eifersüchteleien, Ausschweifungen, Lügen und Täuschungen anderer Beziehungen, um sich in völliger Unschuld der kurzen Leidenschaft für Rose Sommers auszuliefern. Seine Erfahrung rührte nicht aus kläglichen Umarmungen mit billigen Huren; Bretzner war stolz darauf, daß er nie für das Vergnügen hatte bezahlen müssen, Frauen aller Schattierungen, von hochmütigen Stubenmädchen bis zu bescheidenen Komtessen, gaben sich ihm bedingungslos hin, wenn sie ihn singen gehört hatten. Er lernte die Künste der Liebe zur gleichen Zeit, wie er die des Gesanges lernte. Zehn Jahre zählte er, als sich die Frau in ihn verliebte, die seine Mentorin werden sollte, eine Französin mit den Augen eines Tigers und Brüsten aus purem Alabaster und alt genug, daß sie seine Mutter hätte sein können. Sie selbst war mit dreizehn Jahren in Frankreich durch Donatien-Alphonse-François de Sade eingeweiht worden. Als Tochter eines Kerkermeisters der Bastille hatte sie den berühmten Marquis in einer schmutzigen Zelle kennengelernt, wo er beim Schein einer Kerze seine perversen Geschichten schrieb. Sie beobachtete ihn gern aus reiner kindlicher Neugier durch das Guckloch in der Tür, ohne zu ahnen, daß ihr Vater sie für eine goldene Uhr verkauft hatte, den letzten Besitz des verarmten Adligen. Eines Morgens, als sie wieder einmal durch das Guckloch spähte, nahm ihr Vater den großen Schlüsselbund vom Gürtel, schloß die Tür auf und stieß das Mädchen in die Zelle, wie man einem Löwen Futter hinwirft. Was dort geschah, blieb ihr immer im irrealen Licht eines wüsten Traums, aber jedenfalls harrte sie bei Sade aus, folgte ihm aus dem Kerker in das schlimmere Elend der Freiheit und lernte alles, was er sie lehren konnte. Als der Marquis 1801 in die Irrenanstalt von Charenton gesperrt wurde, stand sie auf der Straße, ohne einen Franc, aber im Besitz umfassender Kenntnisse des Liebesspiels, die ihr zu einem zweiundfünfzig Jahre älteren und sehr reichen Ehemann verhalfen. Der Mann starb schon nach kurzem Eheleben, ausgehöhlt von den Exzessen seiner jungen Frau, und sie war endlich nicht nur frei, sondern hatte auch genügend Geld, um zu tun, wozu sie Lust hatte. Sie war vierunddreißig Jahre alt, hatte die Lehrzeit bei dem Marquis überlebt, Armut und Hunger ihrer Jugend, die Wirren der französischen Revolution, den Schrecken der napoleonischen Kriege, und nun mußte sie die diktatorischen Härten des Empire ertragen. Sie hatte es satt, und ihr Geist verlangte nach Ruhe. Sie beschloß, sich einen sicheren Ort zu suchen, wo sie den Rest ihrer Tage in Frieden verbringen konnte, und entschied sich für Wien. Dort lernte sie Karl Bretzner kennen, den Sohn ihrer Nachbarn, ein Kind von kaum zehn Jahren, aber er sang damals schon im Kirchenchor wie eine Nachtigall. Ihr, Freundin und Vertraute der Familie Bretzner, hatte der Kleine es zu verdanken, daß er in jenem Jahr nicht kastriert wurde, um seine Cherubstimme zu erhalten, wie der Kantor vorgeschlagen hatte.

»Rührt ihn nicht an, und in kurzer Zeit wird er der strahlendste Tenor Europas sein«, prophezeite die schöne Nachbarin. Sie irrte sich nicht.

Trotz des riesigen Altersunterschiedes wuchs zwischen ihr und dem kleinen Karl eine ungewöhnliche Beziehung. Sie bewunderte seine Reinheit der Gefühle und die Hingabe an die Musik; er hatte in ihr die Muse gefunden, die ihm nicht nur die Männlichkeit gerettet hatte, sondern ihn auch lehrte, sie zu gebrauchen. In der Zeit, in der er endgültig die Stimme wechselte und anfing, sich zu rasieren, hatte er die sprichwörtliche Geschicklichkeit ehemaliger Sängerknaben entwickelt, eine Frau in Formen zu befriedigen, von denen wackere Ehemänner nur träumen. Bei Rose Sommers ging er es sanft an. Kein feuriger Angriff in einem Wirbel allzu gewagter Liebkosungen, denn hier verbot es sich, mit Tricks aus dem Serail zu schocken, entschied er, ohne zu ahnen, daß seine Schülerin ihn in weniger als drei einprägsamen Lektionen an Erfindungsgabe übertreffen würde. Er pflegte die Einzelheiten sehr sorgfältig zu behandeln und kannte die betörende Macht des richtigen Wortes in der Stunde der Liebe. Mit der linken Hand knöpfte er ihr einen nach dem anderen die kleinen Perlmuttknöpfe im Rücken auf, während er ihr mit der rechten die Haarnadeln löste, ohne dabei mit den Küssen aus dem Rhythmus zu geraten, die er mit Schmeicheleien durchwob. Er sprach zu ihr von ihrer niedlichen Figur, der durchsichtigen Weiße ihrer Haut, der klassischen Rundung von Hals und Schultern, die in ihm einen Brand entfachten, eine hemmungslose Tollheit.

»Du machst mich verrückt. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, niemals habe ich eine Frau so geliebt wie dich, niemals werde ich wieder so lieben. Diese Begegnung haben die Götter gewollt, wir sind dazu bestimmt, uns zu lieben«, flüsterte er ihr eins ums andere Mal ins Ohr.

Er sagte ihr sein komplettes Repertoire her, aber er tat es ohne Hintergedanken, zutiefst überzeugt von seiner eigenen Ehrlichkeit und staunend entzückt von Rose. Er löste die Schlaufen des Korsetts und befreite sie von ihren Unterröcken, bis sie nur noch die langen Batistunterhosen und ein Nichts von einem Hemdchen trug, das die Erdbeeren ihrer Brüste durchscheinen ließ. Er zog ihr weder die korduanledernen Stiefel mit den geschwungenen Absätzen aus noch die weißen, an den Knien mit bestickten Bändern gehaltenen Strümpfe.

Hier hielt er inne, keuchend, mit einem mächtigen Tosen in der Brust, überzeugt, daß Rose Sommers die schönste Frau des Universums war, ein Engel war, und daß sein Herz in Stücke zerspringen würde, wenn er sich nicht beruhigte. Er hob sie mühelos auf die Arme, ging durch den Raum und stellte sie vor einen großen Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Das gelbe Licht der Kerzen und die Theaterkostüme, die in einem Durcheinander von Brokatgewändern, Federbüschen, Samtumhängen und ausgebleichten Spitzenfichus an den Wänden hingen, gaben der Szene einen Anflug von Unwirklichkeit.

Wehrlos, trunken vor Erregung, betrachtete Rose sich im Spiegel und erkannte diese Frau nicht, die da in der Unterwäsche stand, mit zerwühltem Haar und tränennassen Wangen, und der ein ebenfalls unbekannter Mann den Nacken küßte und die zarten Brüste liebkoste. Diese Atempause gab dem Tenor Zeit, ein wenig von der im ersten Ansturm verlorengegangenen Klarheit zurückzugewinnen. Er begann sich vor dem Spiegel auszuziehen, ohne Scham, und das muß man sagen — er sah nackt viel besser aus als angekleidet. Er braucht einen guten Schneider, dachte Rose, die noch nie einen nackten Mann gesehen hatte, nicht einmal als Kind ihre Brüder, und ihre Kenntnis aus den übertriebenen Beschreibungen der pikanten Bücher und einigen japanischen Ansichtskarten bezogen hatte, die sie einmal in Johns Gepäck entdeckte und wo die männlichen Organe schlicht optimistische Proportionen besaßen. Der steife rosafarbene Zapfen, der vor ihren Augen erschien, erschreckte sie nicht, wie Karl Bretzner gefürchtet hatte, sondern reizte sie zu einem nicht zu unterdrückenden fröhlichen Gelächter. Das gab allem, was nun folgte, den Ton an. Statt der feierlichen und eher schmerzvollen Zeremonie, die eine Entjungferung zu sein pflegt, ergötzten sie sich an spielerischen Bocksprüngen, verfolgten einander durch den Raum, sprangen wie die Kinder über die Möbel, tranken den Rest Champagner und öffneten eine neue Flasche, um sich mit dem schäumenden Strahl zu bespritzen, sagten sich lachend Unflätigkeiten und flüsternd Liebesschwüre, bissen sich und leckten sich und wühlten gewaltig in dem Sumpf der brandneuen Liebe, den ganzen Nachmittag und bis in den Abend, und dachten weder an die Zeit noch an das übrige Weltall. Nur sie allein existierten. Der Wiener Tenor führte Rose zu epischen Höhen, und sie, strebsame Schülerin, folgte ihm, ohne zu schwanken, und einmal auf dem Gipfel, fing sie an, ein überraschendes Naturtalent, selber zu fliegen, ließ sich von Anzeichen leiten, fragte, was sie nicht erraten konnte, blendete den Maestro und besiegte ihn schließlich mit ihrer improvisierten Geschicklichkeit und dem verwirrenden Geschenk ihrer Liebe. Als es ihnen endlich gelang, sich voneinander zu lösen und wieder in der Wirklichkeit zu landen, war es zehn Uhr abends. Das Theater war leer, draußen herrschte Dunkelheit, und zum Überfluß hatte sich ein Nebel so dick wie Eierschnee breitgemacht.

Nun begann zwischen den Liebenden ein frenetischer Austausch von kleinen Botschaften, Blumen, Süßigkeiten, abgeschriebenen Versen und kleinen sentimentalen Reliquien, solange die Theatersaison in London dauerte. Sie trafen sich, wo sie nur konnten, die Leidenschaft vertrieb alle Vorsicht. Um Zeit zu gewinnen, suchten sie sich Hotelzimmer in der Nähe des Theaters, gleichgültig gegen die Möglichkeit, erkannt zu werden. Rose schlüpfte unter lächerlichen Vorwänden aus dem Haus, und ihre tief besorgte Mutter sagte Jeremy nichts von ihrem Verdacht und betete, daß das hemmungslose Treiben ihrer Tochter nur vorübergehend sein und ohne Spuren wieder verschwinden möge. Karl Bretzner kam zu spät zu den Proben, und vom vielen Nacktausziehen zu jeder Stunde erkältete er sich und konnte in zwei Vorstellungen nicht singen, aber weit davon entfernt, es zu beklagen, nutzte er die Zeit zum Lieben, eine durch die Fieberschauer gesteigerte Liebe. Er erschien in dem gemieteten Zimmer mit Blumen für Rose, Champagner zum Anstoßen und Bespritzen, Cremekuchen, in Eile geschriebenen und im Bett zu lesenden Gedichten, aromatischen Ölen, um bislang versiegelt gewesene Zonen damit einzureiben, erotischen Büchern, die sie durchblätterten auf der Suche nach den inspiriertesten Stellen, Straußenfedern, sich damit zu kitzeln, und einer Unmenge weiterer Kleinigkeiten und Hilfsmittelchen für ihre Spiele. Die junge Frau fühlte, daß sie sich wie eine fleischfressende Pflanze öffnete, sie strömte sündige Düfte aus, um den Mann anzulocken wie ein Insekt, ihn zu zerquetschen, zu verschlucken, zu verdauen und schließlich seine zersplitterten Knöchelchen auszuspucken. Unerträgliche Energie beherrschte sie, würgte sie, nicht einen Augenblick konnte sie ruhig sein, die Ungeduld verzehrte sie. Währenddessen plätscherte Karl Bretzner in zielloser Konfusion, einmal berauscht bis zur Raserei, dann wieder ausgeblutet, bemüht, seine musikalischen Verpflichtungen zu erfüllen, aber er verschlechterte sich unüberhörbar, und die Kritiker, unbarmherzig, wie sie sind, sagten, Mozart drehe sich im Grabe herum, wenn er höre, wie der Wiener Tenor seine Musik behandle oder besser verschandle.

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Die Liebenden sahen in panischer Angst den Augenblick der Trennung und eine erste Gefährdung ihrer Liebe herannahen. Sie redeten hin und her, wollten nach Brasilien fliehen, wollten gemeinsam Selbstmord begehen, aber nie erwähnten sie die Möglichkeit einer Heirat. Schließlich war das Verlangen zu leben stärker als die Verlockung des Liebestodes, und nach der letzten Vorstellung nahmen sie eine Kutsche und fuhren in den Norden Englands, um in einem ländlichen Gasthaus Urlaub zu machen. Sie hatten beschlossen, diese Tage in der Anonymität zu genießen, bevor Karl nach Italien abreiste, wo er weiteren Verpflichtungen nachkommen mußte. Rose würde mit ihm in Wien wieder zusammentreffen, wenn er eine passende Wohnung gefunden, seine Angelegenheiten geordnet und ihr Geld für die Reise geschickt hätte.

Sie waren beim Frühstück unter einem Vordach auf dem Balkon des kleinen Gasthauses, die Beine unter einer Wolldecke, denn die Luft an der Küste war schneidend kalt, als Jeremy Sommers über sie hereinbrach, entrüstet und feierlich wie ein Prophet. Rose hatte so viele Spuren hinterlassen, daß es für ihren älteren Bruder ein leichtes gewesen war, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen und ihr in dieses abgelegene Seebad zu folgen. Als sie ihn sah, stieß sie einen Schrei eher der Überraschung als des Schreckens aus, denn die Liebe machte sie mutig. In diesem Augenblick ging ihr zum erstenmal auf, was sie getan hatte, und sie begriff, daß erhebliche Konsequenzen auf sie zukamen. Sie sprang auf, entschlossen, ihr Recht auf ein Leben nach ihrem Belieben zu verteidigen, aber ihr Bruder ließ sie nicht zu Worte kommen und wandte sich direkt an den Tenor.

»Sie schulden meiner Schwester eine Erklärung. Ich vermute, Sie haben ihr nicht gesagt, daß Sie verheiratet sind und zwei Kinder haben«, herrschte er den Verführer an.

Das war das einzige, was Karl Bretzner Rose zu erzählen unterlassen hatte. Sie hatten geredet bis zur Übersättigung, er hatte ihr bis in die intimsten Einzelheiten alles über seine früheren Amouren anvertraut, ohne die Extravaganzen des Marquis de Sade zu vergessen, die ihm seine Mentorin, die Französin mit den Tigeraugen, erzählt hatte, denn Rose zeigte eine unbändige Neugier und wollte alles wissen — wann mit wem und vor allem wie er geliebt hatte, von seinem zehnten Lebensjahr an bis einen Tag bevor er sie kennenlernte. Und er sagte ihr alles ohne Skrupel, als er gewahr wurde, wie gern sie es hörte und wie sie es in die eigene Theorie und Praxis einbezog. Aber von der Ehefrau und den Kindern hatte er kein Wort verloren — aus Mitgefühl mit dieser schönen Jungfrau, die sich ihm bedingungslos dargeboten hatte. Er hatte den Zauber dieser Begegnung nicht zerstören wollen: Rose Sommers verdiente es, ihre erste Liebe voll zu genießen.

»Sie schulden mir Genugtuung«, sagte Jeremy Sommers herausfordernd und schlug ihm den Handschuh ins Gesicht.

Karl Bretzner war ein Mann von Welt und würde nicht die Barbarei begehen, sich zu duellieren. Er begriff, daß der Augenblick gekommen war, sich zurückzuziehen, und es schmerzte ihn, daß er nicht ein paar Minuten allein mit Rose sprechen und versuchen konnte, ihr die Dinge zu erklären. Er wollte sie nicht so verlassen, mit gebrochenem Herzen und dem Gedanken, er hätte sie gewissenlos verführt, um sie danach zu verlassen. Er mußte ihr unbedingt noch einmal sagen, wie sehr er sie wirklich liebte, und es tat ihm bitter leid, daß er nicht frei war, um ihrer beider Träume zu erfüllen, aber er las in Jeremy Sommers’ Gesicht, daß der es ihm nicht erlauben würde. Jeremy nahm seine Schwester, die wie betäubt aussah, beim Arm und führte sie mit festem Griff zur Kutsche, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, von ihrem Liebhaber Abschied zu nehmen oder ihr bißchen Gepäck zu holen. Er brachte sie in das Haus einer Tante in Schottland, wo sie bleiben sollte, bis Klarheit über ihren Zustand herrschte. Wenn das schlimmste Unheil, wie er die Schwangerschaft nannte, wahr werden sollte, wären ihr Leben wie die Ehre der Familie für immer ruiniert.

»Zu niemandem ein Wort darüber, nicht einmal zu Mama oder zu John, hast du verstanden?« war das einzige, was er während der Fahrt sagte.

Rose lebte ein paar Wochen in Ängsten, bis sich herausstellte, daß sie nicht schwanger war. Die Tatsache entrang ihr einen Seufzer unendlicher Erleichterung, als hätte der Himmel sie losgesprochen. Drei weitere Monate verbrachte sie in Selbstkasteiung, strickte für die Armen, las und schrieb heimlich und vergoß nicht eine einzige Träne. Während dieser Zeit dachte sie über ihr Schicksal nach, und etwas in ihr verwandelte sich, und als sie ihre Klausur im Haus der Tante beendet hatte, war sie ein anderer Mensch. Nur sie war sich der Veränderung bewußt. Sie kehrte zurück nach London, wie sie fortgegangen war, heiter, ruhig, interessiert an Gesang und an Lektüre wie vor ihrer großen Affäre, ohne ein Wort des Grolls gegen Jeremy, weil er sie aus den Armen des Geliebten gerissen hatte, ohne Sehnsucht nach dem Mann zu äußern, der sie betrogen hatte, olympisch in ihrer Haltung gegenüber dem Klatsch im Bekanntenkreis und den Trauergesichtern ihrer Familie. An der Oberfläche schien sie dasselbe Mädchen wie zuvor zu sein, und nicht einmal ihre Mutter konnte in ihrem vollendeten Betragen einen Riß entdecken, der ihr einen Vorwurf oder einen Rat erlaubt hätte. Die einzige Veränderung in Roses Verhalten war die Laune, sich stundenlang in ihrem Zimmer einzuschließen und zu schreiben. Mit ihrer winzig kleinen Schrift füllte sie Dutzende von Heften, die sie streng unter Verschluß hielt. Aber sie versuchte niemals, einen Brief fortzuschicken, wie Jeremy feststellte, und da er nichts mehr fürchtete, als ausgelacht zu werden, machte er sich weiter keine Sorgen wegen dieser neuen Schreiberei und nahm an, seine Schwester sei vernünftig geworden und habe den unseligen Wiener Tenor vergessen. Aber sie hatte ihn nicht nur nicht vergessen, sie erinnerte sich sogar mit tagheller Klarheit an jede Einzelheit des Geschehenen und an jedes gesprochene oder geflüsterte Wort. Das einzige, was sie gänzlich aus ihrem Gedächtnis auslöschte, war der Betrug und ihre Enttäuschung. Karl Bretzners Frau und Kinder verschwanden ganz einfach, sie hatten nun einmal keinen Platz auf dem riesigen Fresko ihrer Liebeserinnerungen.

Ihr Aufenthalt im Haus der Tante hatte nicht ausgereicht, dem Gerede entgegenzuwirken, aber da die Gerüchte nicht bestätigt werden konnten, wagte niemand, die Familie ins Gesicht hinein zu kränken. Einer nach dem anderen kehrten die Verehrer zurück, die Rose vorher so stürmisch umworben hatten, aber sie schickte alle fort und redete sich mit der Krankheit ihrer Mutter heraus, die an einem Krebsgeschwür litt. Was man verschweigt, das ist, als wäre es nie gewesen, behauptete Jeremy, entschlossen, mit Schweigen jede Spur dieser Affäre zu tilgen. Roses peinliche Eskapade hing im Limbus der nicht genannten Dinge, wenn auch die Geschwister bisweilen dahingehende Anspielungen machten, die den Groll frisch erhielten, sie aber auch in dem geteilten Geheimnis vereinten. Jahre später, als es niemanden mehr berührte, wagte Rose, die ganze Sache ihrem Bruder John zu erzählen, vor dem sie immer die Rolle des verhätschelten, unschuldigen kleinen Mädchens gespielt hatte. Kurz nach dem Tode der Mutter wurde Jeremy Sommers die Leitung des Kontors der British Trading Company in Chile angeboten. Er reiste ab mit seiner Schwester Rose, und sie nahmen das Geheimnis mit ans andere Ende der Welt.

Sie kamen 1830 zum Ende des Winters in Valparaíso an, als es noch ein Dorf war, aber es gab schon europäische Handelsgesellschaften und Familien. Rose betrachtete Chile als ihre Strafe und nahm sie stoisch an, sie fügte sich darein, ihren Fehltritt mit dieser unwiderruflichen Verbannung zu bezahlen, und sie ließ nicht zu, daß irgend jemand, schon gar nicht ihr Bruder Jeremy, etwas von ihrer Verzweiflung ahnte. Ihre Disziplin, die ihr nicht erlaubte, sich zu beklagen oder auch nur im Schlaf von dem verlorenen Geliebten zu sprechen, hielt sie aufrecht, wenn Schwierigkeiten sie niederzudrücken drohten. Sie richtete sich in dem Hotel, das sie anfangs bewohnten, so gut wie möglich ein und war entschlossen, sich vor starkem Wind und Feuchtigkeit zu hüten, denn in Valparaíso hatte sich die Diphtherie ausgebreitet, und die örtlichen Bader bekämpften sie mit grausamen und nutzlosen Operationen, dazu mit ungeeigneten Messern. Der Frühling und dann der Sommer sänftigten ein wenig den schlechten Eindruck, den sie von dem fremden Land bekommen hatte. Sie entschied sich, London zu vergessen und das Beste aus ihrer neuen Situation zu machen, trotz der provinziellen Umgebung und des Seewindes, der sie bis auf die Knochen durchdrang selbst an sonnigen Mittagen. Sie überzeugte ihren Bruder — und der das Kontor — von der Notwendigkeit, ein anständiges Haus auf den Namen der Firma zu erwerben und Möbel aus London kommen zu lassen. Sie stellte es als eine Frage der Autorität und des Prestiges dar: es gehe wirklich nicht an, daß der Repräsentant einer so bedeutenden Firma in einem so erbärmlichen Hotel untergebracht sei. Achtzehn Monate später, als die kleine Eliza in ihrem Leben auftauchte, lebten die Geschwister in dem großen Haus auf dem Cerro Alegre, Miss Rose hatte den verflossenen Geliebten in ein Fach ihres Gedächtnisses verbannt und ging ganz darin auf, einen Vorzugsplatz in der Gesellschaft zu erobern. In den folgenden Jahren wuchs Valparaíso und modernisierte sich mit der gleichen Schnelligkeit, mit der Rose die Vergangenheit hinter sich ließ und sich in die hinreißende und anscheinend glückliche Frau verwandelte, die elf Jahre später Jacob Todd erobern sollte. Der falsche Missionar war nicht der erste, den sie abwies, sie war einfach nicht daran interessiert, zu heiraten. Sie hatte eine ungewöhnliche Lösung gefunden, wie sie in ihrem amour fou mit Karl Bretzner verbleiben konnte: indem sie jeden einzelnen Augenblick ihrer feurigen Leidenschaft wieder aufleben ließ und manchen anderen in der Stille ihrer einsamen Nächte erfundenen Taumel.

Die Liebe

Niemand konnte besser wissen als Miss Rose, was in Elizas liebeskranker Seele vor sich ging. Sie erriet sofort, um welchen Mann es ging, nur ein Blinder konnte die Verbindung zwischen den Fieberkrämpfen des Mädchens und dem Angestellten ihres Bruders übersehen, der die Schatzkisten für Feliciano Rodríguez de Santa Cruz bei ihnen abgeliefert hatte. Im ersten Impuls wollte sie den Jungen als unbedeutenden armen Schlucker abtun, aber sehr schnell erinnerte sie sich, daß auch sie seine gefährliche Anziehungskraft verspürt hatte. Gewiß, sie hatte als erstes auf seinen geflickten Anzug und seine unheimliche Blässe geachtet, aber ein zweiter Blick genügte, um die in ihm brennende leidenschaftliche Unbedingtheit zu erkennen. Während sie im Nähstübchen saß und wütend auf ihre Stickerei einstach, grübelte sie erbittert über diese Ohrfeige des Schicksals, die ihre Pläne, für Eliza einen netten, vermögenden Mann zu finden, einfach zerschlug. In ihren Gedanken lief eine ganze Kette von Intrigen ab, um diese Liebe zu vernichten, noch ehe sie begonnen hatte, von der Möglichkeit, Eliza nach England in ein Internat für junge Mädchen oder nach Schottland zu ihrer alten Tante zu schicken, bis zu dem Einfall, ihrem Bruder die Wahrheit hinzuknallen, damit er seinen Angestellten vor die Tür setzte. Dennoch, im Grunde ihres Herzens keimte ganz gegen ihren Willen der heimliche Wunsch, Eliza würde ihre Leidenschaft ausleben, bis sie sie voll ausgeschöpft hatte, um die ungeheure Leere wettzumachen, die vor achtzehn Jahren der Tenor in ihrem eigenen Leben hinterlassen hatte.

Inzwischen schlichen für Eliza die Stunden mit erdrückender Langsamkeit, während in ihrem Herzen wirre Gefühle tobten. Sie wußte nicht, ob es Tag, ob es Nacht war, ob Dienstag oder Freitag, ob ein paar Stunden vergangen waren oder Jahre, seit sie diesen jungen Mann kennengelernt hatte. Manchmal war ihr, als würde ihr Blut plötzlich zu Schaum und als bedeckte ihre Haut sich mit Pusteln — Empfindungen, die ebenso schnell und unerklärlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Sie sah den Geliebten überall: in dunklen Winkeln, in den Formen der Wolken, in der Tasse Tee und vor allem im Traum. Sie wußte nicht, wie er hieß, und getraute sich nicht, Jeremy Sommers danach zu fragen, weil sie fürchtete, befremdetes Stirnrunzeln zu ernten, aber sie unterhielt sich stundenlang damit, sich einen Namen auszudenken, der zu ihm passen würde. Sie brauchte verzweifelt einen Menschen, mit dem sie über ihre Liebe sprechen konnte, jede Einzelheit seines kurzen Besuches zerpflücken, bereden und überlegen, was sie verschwiegen hatten, was sie sich hätten sagen müssen und was sie sich mit Blicken und Erröten gesagt hatten und über Absichten nachdenken, aber da war niemand, dem sie vertrauen konnte. Sie wünschte sehnlichst einen Besuch von Kapitän John Sommers herbei, diesem Onkel mit dem Hang zum Freibeuter, der die faszinierendste Persönlichkeit ihrer Kindheit gewesen war, dem einzigen, der sie verstehen und ihr in dieser Not helfen könnte. Sie zweifelte nicht, daß Jeremy Sommers, wenn er je etwas erfahren sollte, dem kleinen Angestellten seiner Firma einen gnadenlosen Krieg liefern würde, und wie Miss Rose sich verhalten würde, war nicht vorauszusehen. Je weniger man hier im Hause wußte, entschied sie, um so mehr Handlungsfreiheit würden sie und ihr zukünftiger Bräutigam haben. Niemals stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn ihre Gefühle nicht mit der gleichen Stärke erwidert würden, denn für sie war es einfach unmöglich, daß eine so überwältigende Liebe nur sie allein erschüttern sollte. Einfachste Logik und simple Gerechtigkeit sprachen dafür, daß irgendwo in der Stadt er die gleichen köstlichen Qualen litt.

Eliza versteckte sich, um ihren Körper an geheimen, vorher nie erforschten Stellen zu berühren. Sie schloß die Augen, und da war es seine Hand, die sie mit vogelleichter Zartheit liebkoste, es waren seine Lippen, die sie im Spiegel berührte, sein Körper, den sie mit dem Kopfkissen umarmte, sein Liebesflüstern, das der Wind zu ihr trug. Nicht einmal ihre Träume konnten der Macht Joaquín Andietas entgehen. Sie sah ihn wie einen riesigen Schatten erscheinen, der sich über sie warf und sie auf tausend aberwitzige und verwirrende Arten verschlang. Liebender, Dämon, Erzengel, sie wußte es nicht. Sie wollte nicht aufwachen und wendete mit fanatischer Entschlossenheit die von Mama Fresia gelernte Fähigkeit an, nach Wunsch und Willen in einen Traum einzutreten oder ihn zu verlassen. Sie beherrschte diese Kunst schließlich in einem solchen Grad, daß ihr illusorischer Geliebter leiblich gegenwärtig wurde und sie ihn berühren und beriechen konnte und ganz klar und ganz nah seine Stimme hörte. Wenn sie nur immer schlafen könnte, würde sie nichts weiter brauchen: sie würde ihn von ihrem Bett aus für immer lieben können. Sie wäre im Fieberwahn dieser Leidenschaft zugrunde gegangen, wenn nicht Joaquín Andieta eine Woche später im Haus vorgesprochen hätte, um die bewußte kostbare Fracht abzuholen und an den Kunden im Norden zu schicken.

In der Nacht davor hatte sie gewußt, daß er kommen würde, aber nicht aus Instinkt oder Vorahnung, wie sie Jahre später andeutete, als sie es Tao Chi’en erzählte, sondern weil sie am Abend gehört hatte, wie Jeremy Sommers es seiner Schwester und Mama Fresia mitteilte.

»Die Fracht wird von demselben Angestellten abgeholt werden, der sie gebracht hat«, fügte er beim Hinausgehen hinzu und ahnte nicht, welchen Sturm von Emotionen seine Worte aus verschiedenen Gründen bei den drei Frauen entfesselten.

Eliza verbrachte den Morgen auf der Terrasse und ließ den Weg nicht aus den Augen, der bergauf zum Haus führte. Gegen Mittag sah sie den Karren kommen, von sechs Maultieren gezogen und gefolgt von berittenen und bewaffneten Peones. Eine eisige Ruhe kam über sie, ihr war, als wäre sie gestorben. Sie merkte nicht, daß Miss Rose und Mama Fresia sie vom Haus aus beobachteten.

»Mit soviel Mühe großgezogen, und sie verliebt sich in den erstbesten Kerl, der ihr über den Weg läuft!« murmelte Miss Rose.

Sie hatte beschlossen, ihr möglichstes zu tun, um das Unheil abzuwenden, allerdings ohne rechte Überzeugung, denn sie kannte nur allzugut die Verstocktheit der ersten Liebe.

»Ich werde die Ladung übergeben. Sag Eliza, sie soll ins Haus kommen, und laß sie nicht hinaus, unter keiner Begründung«, ordnete sie an.

»Und wie soll ich das machen?« fragte Mama Fresia verdrossen.

»Notfalls schließt du sie ein.«

»Schließen Sie sie ein, wenn Sie können. Packen Sie das nicht mir auf«, antwortete Mama Fresia und schlurfte hinaus.

Es stellte sich als unmöglich heraus, das Mädchen daran zu hindern, daß sie auf Joaquín Andieta zuging und ihm einen Brief aushändigte. Sie tat es ganz offen und sah ihm dabei in die Augen, und das mit so wilder Entschlossenheit, daß Miss Rose nicht den Mut aufbrachte, sie festzuhalten, und ebensowenig Mama Fresia wagte, sich dazwischenzustellen. Da begriffen die Frauen, daß der Zauber unvorstellbar viel stärker war und daß es weder genügend verschlossene Türen noch geweihte Kerzen geben werde, um ihn zu beschwören.

Auch den jungen Mann hatte die ganze Woche lang die Erinnerung an das Mädchen nicht losgelassen, die er für die Tochter seines Vorgesetzten Jeremy Sommers hielt, weshalb sie für ihn absolut unerreichbar war. Er ahnte nicht, welchen Eindruck er auf sie gemacht hatte, und ihm kam auch gar nicht in den Sinn, daß sie ihm neulich, als sie ihm jenes denkwürdige Glas Orangensaft anbot, ihre Liebe erklärt hatte, und deshalb erschrak er jetzt fürchterlich, als sie ihm einen geschlossenen Briefumschlag überreichte. Verlegen steckte er ihn in die Tasche und überwachte weiter das Verladen der Kisten auf den Karren, während ihm die Ohren brannten, sein Hemd sich mit Schweiß tränkte und ein Fieberschauer ihm über den Rücken lief. Aufrecht, regungslos, schweigend beobachtete Eliza ihn wenige Schritte entfernt, sie gab nicht zu erkennen, ob sie Miss Roses wütendes Gesicht bemerkte oder Mama Fresias betrübtes. Als die letzte Kiste auf dem Karren festgeschnallt war und die Maultiere zum Abstieg gewendet wurden, entschuldigte Joaquín Andieta sich bei Miss Rose für die Unannehmlichkeiten, grüßte Eliza mit einem kurzen Neigen des Kopfes und machte sich davon, so schnell er konnte.

Elizas Brief enthielt nur zwei Zeilen mit der Angabe, wann und wo sie sich treffen sollten. Die Strategie war von solcher Einfachheit und Kühnheit, daß man hätte meinen können, das Mädchen sei äußerst erfahren in schamloser Direktheit: Joaquín sollte sich in drei Tagen um neun Uhr abends in der Mariahilfkapelle einfinden, die auf dem Cerro Alegre nicht weit vom Haus der Sommers errichtet worden war als Schutz für Wanderer.

Eliza wählte die Kapelle der Nähe wegen und das Datum, weil es auf einen Mittwoch fiel. Miss Rose, Mama Fresia und die Dienstboten würden mit dem Abendessen beschäftigt sein, und niemand würde es merken, wenn sie für eine Weile verschwand. Seit dem Abgang des vergrämten Michael Steward gab es keinen Grund mehr für Lustbarkeiten, und der vorzeitig hereingebrochene Winter eignete sich auch nicht dafür, aber Miss Rose hielt am Brauch der musikalischen Abendgesellschaften fest, um die Gerüchte zu entschärfen, die auf ihre Kosten die Runde machten. Die geselligen Abende nach dem Fortbleiben Stewards aufzukündigen wäre dem Eingeständnis gleichgekommen, daß er zuletzt der einzige Grund dafür gewesen war.

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Schon um sieben Uhr abends hatte Joaquín Andieta sich am angegebenen Ort eingestellt und wartete ungeduldig.

Von weitem sah er das strahlend erleuchtete Haus, den Vorbeizug der Wagen mit den Gästen und die brennenden Laternen der Kutscher. Ein paarmal mußte er sich verstecken, wenn er das Nachtwächterduo heranstapfen hörte, das die vom Wind immer wieder ausgeblasenen Lampen der Kapelle überprüfte. Der kleine rechteckige Ziegelbau mit dem bemalten Holzkreuz darauf war nur wenig größer als ein Beichtstuhl und beherbergte ein gipsernes Standbild der Jungfrau. Auf einer Platte standen Reihen erloschener Votivkerzen und eine Amphore mit verwelkten Blumen. Es war eine Vollmondnacht, aber schwere Wolken zogen über den Himmel und schwärzten immer wieder die Mondhelle. Pünktlich um neun Uhr spürte er die Gegenwart des Mädchens und erblickte ihre Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in einen dunklen Umhang gehüllt war.

»Ich habe auf Sie gewartet, Señorita«, war das einzige, was ihm zu stottern einfiel, und er kam sich dabei vor wie ein Idiot.

»Ich habe immer auf dich gewartet«, erwiderte sie, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

Sie nahm den Umhang ab, und Joaquín sah, daß sie festlich gekleidet war. Den Rock hatte sie aufgeschürzt und trug Pantöffelchen an den Füßen, und ihre weißen Strümpfe und die wildledernen Schuhe hielt sie in der Hand, um sie auf dem Weg nicht zu beschmutzen. Das schwarze, in der Mitte gescheitelte Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die von Atlasschleifen zusammengehalten wurden. Sie setzten sich hinten in der Kapelle auf den Umhang, den sie über den Boden gebreitet hatte, verborgen hinter der Statue, schweigend, dicht nebeneinander, doch ohne sich zu berühren. In dem sanften Halbdunkel wagten sie lange Zeit nicht, einander anzusehen, verwirrt durch die plötzliche Nähe, die gleiche Luft atmend und gleichermaßen brennend trotz der schon kühlen Nacht.

»Ich heiße Eliza Sommers«, sagte sie endlich.

»Und ich Joaquín Andieta«, erwiderte er.

»Ich hab mir eingebildet, du heißt Sebastián.«

»Wieso?«

»Weil du dem heiligen Sebastian ähnelst, dem Märtyrer. Ich geh nicht in die Papistenkirche, ich bin protestantisch, aber Mama Fresia hat mich ein paarmal mitgenommen, um ihr Gelübde zu halten.«

Hiermit endete die Unterhaltung, weil sie sich weiter nichts zu sagen wußten; sie warfen sich aus dem Augwinkel Blicke zu, und beide erröteten gleichzeitig.

Eliza nahm seinen Geruch nach Seife und Schweiß wahr, aber sie traute sich nicht, mit der Nase näher heranzugehen, wie sie es gern getan hätte. Die einzigen Geräusche in der Kapelle waren das Sausen des Windes und das aufgeregte Atmen der beiden. Nach wenigen Minuten erklärte sie, sie müsse wieder nach Hause, bevor man ihr Fehlen bemerkte, und sie drückten sich zum Abschied die Hände. So trafen sie sich auch an den folgenden Mittwochabenden, immer zu verschiedenen Zeiten und für wenige Minuten. Bei jeder dieser kurzen Begegnungen kamen sie mit Riesenschritten weiter voran in der Trunkenheit und den Qualen der Liebe. Sie erzählten sich hastig das Nötigste, denn Worte schienen nur Zeitverlust, und bald schon nahmen sie sich bei der Hand und redeten so weiter, immer enger zusammengerückt, je näher die Seelen einander kamen, bis sie sich am fünften Mittwochabend auf die Lippen küßten, anfangs probend, dann erkundend und endlich ganz an die Lust verloren, die sie innerlich verzehrte. Bislang hatten sie nur gedrängte Zusammenfassungen von Elizas sechzehn und Joaquíns einundzwanzig Jahren getauscht. Sie unterhielten sich über das unwahrscheinliche Körbchen mit den Batistlaken und dem Nerzdeckchen ebenso wie über den Marseiller Seifenkarton, und Joaquín war ungeheuer erleichtert, daß sie nicht die Tochter von einem der Sommers war, sondern von ungewisser Herkunft wie er selber auch, wenn auch gesellschaftlich ein Abgrund sie trennte. Eliza erfuhr, daß Joaquín die Frucht einer schnellen Liebe war, der Vater machte sich aus dem Staub mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der er seinen Samen eingepflanzt hatte, und der Junge wuchs auf mit dem Nachnamen seiner Mutter — den seines Vaters kannte er nicht — und als Bastard gezeichnet, was jedem Schritt auf seinem Wege Schranken setzte. Die Familie verstieß die entehrte Tochter aus ihrem Schoß und wollte von dem unehelichen Kind nichts wissen. Die Großeltern und die Onkel und Tanten, Geschäftsleute und Beamte einer in Vorurteilen festgefahrenen Mittelklasse, lebten in derselben Stadt nur wenige Straßen entfernt, doch sie begegneten sich nie. Sie gingen am Sonntag in dieselbe Kirche, aber zu verschiedenen Zeiten, denn die Armen besuchten die Mittagsmesse nicht. Mit dem Schandmal behaftet, spielte Joaquín nicht auf denselben Spielplätzen, noch ging er in dieselben Schulen wie seine Vettern, doch er trug ihre abgelegten Anzüge und vergnügte sich mit ihren alten Spielsachen, die eine mitleidige Tante über gewundene Umwege der verstoßenen Schwester zukommen ließ. Joaquíns Mutter hatte weniger Glück gehabt als Miss Rose und bezahlte ihre Schwäche sehr viel teurer. Beide Frauen waren fast gleichaltrig, aber während die Engländerin blühend jung aussah, war die andere verbraucht vom Elend, von Auszehrung und von der trübsinnigen Beschäftigung, beim Licht einer Kerze Aussteuern für Bräute zu besticken. Das Unglück hatte ihre Würde nicht geschmälert, und sie erzog ihren Sohn in den unverbrüchlichen Grundsätzen der Ehre. Joaquín hatte sehr früh gelernt, den Kopf hoch zu tragen und jedem Anzeichen von Verhöhnung oder herablassendem Mitleid die Stirn zu bieten.

»Eines Tages werde ich meine Mutter aus diesem elenden Loch herausholen«, versprach Joaquín bei ihren Flüstergesprächen in der Kapelle. »Ich werde ihr ein anständiges Leben verschaffen wie das, was sie hatte, bevor sie alles verlor …«

»Sie hat nicht alles verloren. Sie hat einen Sohn«, entgegnete Eliza.

»Ich war ihr Unglück.«

»Ihr Unglück war, daß sie sich in einen schlechten Mann verliebte. Du bist ihre Erlösung«, entschied Eliza.

Da die Treffen der jungen Leute so kurz waren und nie zur gleichen Zeit stattfanden, konnte Miss Rose nicht Tag und Nacht ununterbrochen Wache halten. Sie wußte, daß etwas hinter ihrem Rücken vor sich ging, aber sie brachte nicht die Niedertracht auf, Eliza einzuschließen oder aufs Land zu schicken, wie es die Pflicht gebot, und sie verzichtete auch darauf, zu Jeremy von ihrem Verdacht zu sprechen. Sie nahm an, daß Eliza und ihr Liebster Briefe wechselten, aber es gelang ihr nicht, auch nur einen abzufangen, obwohl sie die gesamte Dienerschaft mobil machte. Die Briefe existierten und waren von solchem Feuer, daß Miss Rose, wenn sie sie gelesen hätte, sich ganz klein vorgekommen wäre. Joaquín schickte sie nicht, sondern übergab sie Eliza bei jedem ihrer Treffen. Darin sagte er ihr in den fiebrigsten Worten, was er von Angesicht zu Angesicht aus Stolz und aus Scham nicht auszusprechen wagte. Sie versteckte sie in einer Blechdose dreißig Zentimeter unter der Erde in dem kleinen Gemüsegarten, wo sie täglich Mama Fresias Heilkräuter zu versorgen vorgab. Diese Blätter, tausendmal in gestohlenen Augenblicken gelesen, waren die Hauptnahrung für ihre Leidenschaft, denn sie enthüllten eine Seite in Joaquín Andieta, die nie zum Vorschein kam, wenn sie zusammen waren. Es war, als wären sie von einem anderen Menschen geschrieben. Dieser stolze, immer abwehrbereite, finstere und zerquälte junge Mann, der sie wie rasend umarmte und dann von sich stieß, als verbrennte ihn die Berührung, öffnete beim Schreiben die Schleusen seiner Seele und schilderte seine Gefühle wie ein Dichter. Später, wenn Eliza Jahre hindurch die ungewissen Spuren Joaquín Andietas verfolgen würde, sollten ihr die Briefe den einzigen Anhaltspunkt für die Wahrheit bieten, den unwiderlegbaren Beweis, daß diese ungestüme Liebe nicht eine Ausgeburt ihrer Jungmädchenphantasie gewesen war, sondern daß sie existierte, ein kurzer Segen und eine lange Qual.

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Seit jenem ersten Mittwochabend in der Kapelle waren Elizas Koliken spurlos verflogen, und nichts in ihrem Verhalten oder ihrem Aussehen verriet ihr Geheimnis außer dem abgründigen Glanz ihrer Augen und dem immer häufiger angewandten Talent, sich unsichtbar zu machen. Bisweilen schien es, als wäre sie an verschiedenen Orten gleichzeitig, und alle Welt war verwirrt, oder besser, niemand konnte sich erinnern, wann oder wo er sie zum letztenmal gesehen hatte, und gerade dann, wenn alle nach ihr rufen wollten, materialisierte sie sich und benahm sich so, als ahnte sie gar nicht, daß sie gesucht wurde. Ein andermal war sie mit Miss Rose im Nähstübchen oder bereitete mit Mama Fresia das Essen zu, aber sie war so schweigsam und durchsichtig geworden, daß keine der beiden Frauen das Gefühl hatte, sie wirklich zu sehen. Ihre Gegenwart war in ihrer Zartheit kaum wahrnehmbar, und wenn sie verschwand, wurde sie erst Stunden später vermißt.

»Du bist wie ein Geist! Ich habe es satt, nach dir zu suchen. Ich wünsche nicht, daß du aus dem Haus gehst oder dich weiter entfernst, als ich dich sehen kann«, befahl Miss Rose ihr wiederholt.

»Mach doch Lärm, Kind, um Gottes willen! Wie soll ich dich denn sehen, wenn du so still bist wie ein Kaninchen?« zankte Mama Fresia.

Eliza sagte zu allem ja, sicher, und tat dann, wozu sie Lust hatte, wußte es aber so einzurichten, daß sie dem Anschein nach gehorchte und keiner böse auf sie wurde. In wenigen Tagen entwickelte sie eine verblüffende Geschicklichkeit, die Wirklichkeit zu verwirren, als hätte sie sich ihr Leben lang in der Kunst der Magier geübt. Angesichts der Unmöglichkeit, sie bei einer Widersprüchlichkeit oder einer beweisbaren Lüge zu ertappen, entschied Miss Rose sich dafür, ihr Vertrauen zu gewinnen, und kam bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit auf das Thema Liebe zu sprechen. Anlässe dazu gab es mehr als genug: Klatsch über Freundinnen, romantische Romane, die sie beide gelesen hatten, oder Libretti der neuen italienischen Opern, die sie auswendig lernten, aber Eliza ließ kein Wort fallen, das ihre Gefühle verraten hätte. Miss Rose suchte vergeblich das Haus nach verräterischen Spuren ab, durchwühlte die Wäsche und das Zimmer des jungen Mädchens, kehrte ihre Sammlung von Puppen und Spieldosen, ihre Bücher und Hefte um und um, konnte aber ihr Tagebuch nicht finden. Hätte sie es entdeckt, wäre sie um eine Enttäuschung reicher gewesen, denn auf seinen Seiten war Joaquín Andieta nicht einmal dem Namen nach erwähnt. Eliza schrieb nur, um ihre Erinnerung zu stützen. Dieses Tagebuch enthielt so ziemlich alles, von ihren immer wiederkehrenden Träumen bis zu der unendlichen Liste von Kochrezepten und Ratschlägen für den Haushalt, etwa wie man ein Huhn mästet oder einen Fettfleck beseitigt. Darin standen auch Gedanken über ihre Herkunft, das prächtige Körbchen und den Marseiller Seifenkarton, aber nicht ein Wort über Joaquín Andieta. Sie brauchte kein Tagebuch, um sich an ihn zu erinnern. Erst manche Jahre später würde sie darin von ihrer Mittwochsliebe erzählen.

Dann endlich in einer Nacht trafen sich die jungen Leute nicht in der Kapelle, sondern im Haus der Sommers. Bis es dazu kam, war Eliza durch die Folter unzähliger Zweifel gegangen, denn sie begriff, daß dies ein endgültiger Schritt war. Schon allein dadurch, daß sie heimlich ohne Aufsicht zusammen waren, verlor sie die Ehre, den kostbarsten Schatz eines Mädchens, ohne den für sie keine Zukunft mehr möglich war. »Eine Frau ohne Anstand ist nichts wert, sie wird nie eine Ehefrau und Mutter sein können, besser, sie bindet sich gleich einen Stein um den Hals und geht ins Wasser«, hatte man ihr eingehämmert. Sie wußte, es gab keinen Milderungsgrund für den Fehler, den sie begehen würde, was sie tat, tat sie planvoll und mit Vorbedacht. Um zwei Uhr nachts, als in der Stadt alles schlief und nur die Nachtwächter in der Dunkelheit ihre Runden gingen, schlich sich Joaquín Andieta wie ein Dieb über die Terrasse durchs Fenster in die Bibliothek, wo Eliza barfuß und im Nachthemd ihn erwartete, zitternd vor Kälte und Angst. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das stockfinstere Haus zu einem Hinterzimmer, wo in großen Schränken die Kleidung der Familie aufbewahrt wurde und in verschiedenen Truhen die Materialien für Kleider und Hüte, die Miss Rose im Verlauf der Jahre abgetragen und wieder tragbar gemacht hatte. Auf dem Fußboden lagen, von Leintüchern bedeckt und in Form gehalten, die Vorhänge aus dem Salon und dem Speisezimmer und warteten auf die nächste Saison. Eliza schien es der sicherste Ort zu sein, weit entfernt von den Schlafzimmern. Auf alle Fälle hatte sie vorsorglich Baldrian in das Gläschen Anislikör getan, das Miss Rose vor dem Schlafengehen trank, und in den Brandy, an dem Jeremy sich labte, wenn er nach dem Abendessen seine kubanische Zigarre rauchte. Sie kannte jeden Zentimeter des Hauses, wußte genau, wo der Fußboden knarrte und wie man die Türen öffnete, damit sie nicht quietschten, sie hätte Joaquín mit geschlossenen Augen führen können, und er folgte ihr, gehorsam und bleich vor Furcht, und überhörte die Stimme des Gewissens ebenso wie die seiner Mutter, die ihm unerbittlich den Ehrenkodex eines anständigen Mannes vorhielt. Niemals werde ich Eliza antun, was mein Vater meiner Mutter antat, sagte er sich, während er an der Hand des Mädchens vorwärtstappte, und wußte doch, daß alle Überlegung nutzlos war, denn er war bereits besiegt von dem ungestümen Verlangen, das ihm keine Ruhe ließ, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Eliza schlug sich inzwischen mit den mahnenden Stimmen herum, die ihr im Kopf dröhnten, gegen den Drang des Instinkts mit seinen wunderbaren Tricks. Sie hatte keine klare Vorstellung davon, was in dem Schrankzimmer geschehen würde, aber ergeben hatte sie sich so und so.

Das Haus der Sommers, das in der Luft hing wie eine der Gnade des Windes ausgelieferte Spinne, war unmöglich warm zu halten, trotz der Kohlebecken, die die Dienstboten sieben Monate lang im Jahr entzündeten. Die Laken waren ständig feucht von dem durchdringenden Hauch des Meeres, und man schlief mit heißen Wärmflaschen an den Füßen. Der einzige immer warme Raum war die Küche, wo der mit Holz beheizte Herd, ein Monstrum zu vielfältigem Gebrauch, niemals ausging. In den Stürmen des Winters krachte es im Gebälk, Bretter und Dielen lösten sich, und das Skelett des Hauses schien drauf und dran, davonzusegeln wie eine alte Fregatte. Miss Rose gewöhnte sich nie an die Pazifikstürme, ebensowenig, wie sie sich an die fast täglichen Erdstöße gewöhnte. Die echten Erdbeben, solche, die die Welt auf den Kopf stellten, ereigneten sich rund alle sechs Jahre, und jedesmal bewies sie eine erstaunliche Kaltblütigkeit, aber das dauernde Gezitter verdarb ihr die Laune. Niemals wollte sie das Porzellan und die Gläser auf Borden zu ebener Erde abstellen, wie es die Chilenen taten, und als der Geschirrschrank im Speisezimmer so schwankte, daß alle Teller herunterkrachten, verfluchte sie das Land aus vollem Halse. Im unteren Stockwerk befand sich der Aufbewahrungsraum, wo auf dem dicken Packen Vorhänge aus geblümter Cretonne, die im Sommer die schweren grünen Samtvorhänge des Salons ersetzten, Eliza und Joaquín sich liebten. Sie liebten sich umgeben von strengen Schränken, Schachteln mit Hüten und Koffern mit Miss Roses Frühlingskleidern. Weder die Kälte noch der Naphthalingeruch ernüchterten sie, denn sie waren weit jenseits aller praktischen Unzulänglichkeiten, weit jenseits der Angst vor den Folgen und weit hinaus über ihre eigene Welpenunbeholfenheit. Sie wußten nicht, wie man es tat, aber sie erfanden es im Tun, betäubt und verwirrt, in tiefem Schweigen führten sie sich gegenseitig ohne große Fertigkeit. Mit seinen einundzwanzig Jahren war er ebenso jungfräulich wie sie. Mit vierzehn hatte er es sich zum Ziel gesetzt, seiner Mutter zu Gefallen Priester zu werden, aber mit sechzehn machte er sich mit aufklärerischer Lektüre vertraut, erklärte sich zum Feind aller Pfaffen, wenn auch nicht der Religion, und beschloß, keusch zu bleiben, bis er seinen Vorsatz ausgeführt hatte, seine Mutter aus der Wohnkaserne herauszuholen. Das schien ihm eine geringe Wiedergutmachung für die zahllosen Opfer, die sie um seinetwillen gebracht hatte. Trotz der Jungfräulichkeit und der schrecklichen Angst, überrascht zu werden, gelang es den jungen Leuten doch, in der Dunkelheit zu finden, was sie suchten. Sie öffneten Knöpfe, wo Knöpfe waren, lösten Bänder, legten die Scham ab und entdeckten sich nackt, eins den Atem und den Speichel des andern trinkend. Sie sogen wilde Gerüche ein, taten fiebrig dieses hierhin und jenes dorthin in dem ehrlichen Bemühen, die Rätsel zu entziffern, den tiefsten Grund des andern zu erreichen und sich zu zweit im selben Abgrund zu verlieren. Die Sommervorhänge wurden befleckt mit heißem Schweiß, jungfräulichem Blut und männlichem Samen, aber keiner der beiden nahm diese Liebeszeichen wahr. In der Dunkelheit konnten sie kaum den Umriß des andern erkennen oder den Raum, der ihnen blieb, ohne im Aufruhr der Umarmungen die Stapel der Schachteln umzustürzen und die schweren Kleiderschränke zum Wanken zu bringen. Sie segneten den Wind und den Regen, der auf das Dach prasselte, weil er das Knarren des Fußbodens übertönte, aber so laut dröhnte der Galopp ihrer Herzen und ihr verzücktes Keuchen und ihre Liebesseufzer, daß man sich nur verwundern konnte, wieso nicht das ganze Haus davon geweckt wurde.

Im Morgengrauen verschwand Joaquín durch dasselbe Fenster der Bibliothek, und Eliza ging völlig erschöpft zu Bett. Während sie unter mehreren Zudecken schlief, brauchte er den Hügel hinab in dem Sturm zwei Stunden. Er durchquerte die Stadt, immer auf der Hut, daß die Wachen ihn nicht bemerkten, und kam zu Hause an, als eben die Kirchenglocken zu läuten anhoben und zur ersten Messe riefen. Er hatte vor, ganz leise einzutreten, sich zu waschen, den Hemdkragen zu wechseln und zur Arbeit zu gehen, in dem nassen Anzug, denn er hatte keinen anderen, aber seine Mutter war wach und erwartete ihn mit heißem Wasser für den Mate und geröstetem Brot, wie jeden Morgen.

»Wo bist du gewesen, Junge?« fragte sie ihn so traurig, daß er sie nicht belügen konnte.

»Die Liebe entdecken, Mama«, antwortete er und umarmte sie strahlend.

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Joaquín Andieta hatte sich einer politischen Idee verschrieben, die kein Echo fand in diesem Land der praktischen und vernünftigen Leute. Er war ein fanatischer Verfechter der Theorien von Lamennais geworden, den er ebenso wie die Enzyklopädisten in ziemlich dürftigen und konfusen Übersetzungen aus dem Französischen las. Wie sein Lehrer trat er für katholischen Liberalismus in der Politik und für die Trennung von Staat und Kirche ein. Er nannte sich einen Urchristen, wie es die Apostel und die Märtyrer gewesen seien, aber einen Feind der Priester, der Verräter Jesu und seiner wahren Lehre, wie er sagte, und verglich sie mit Blutegeln, die sich von der Leichtgläubigkeit der Frommen ernährten. Er hütete sich jedoch, solcherlei Ideen vor seiner Mutter auszusprechen, die der Kummer darüber getötet hätte. Er betrachtete sich auch als Feind der Oligarchie, weil sie wertlos und dekadent sei, und der Regierung, weil sie nicht die Interessen des Volkes vertrete, sondern die der Reichen, wie seine politischen Freunde bei den Zusammenkünften in der Buchhandlung Santos Tornero mit zahllosen Beispielen beweisen konnten und wie er Eliza geduldig erklärte, die ihm kaum zuhörte, weil ihr mehr an seinem Geruch als an seinen Reden lag. Der Junge war bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen für die nutzlose Glorie eines flüchtig aufstrahlenden Heldentums, aber er hatte eine tiefsitzende Angst davor, Eliza in die Augen zu sehen und von seinen Gefühlen zu sprechen.

Sie machten es zur Gewohnheit, sich in demselben Raum mit den Schränken, der nun ihr Nest war, mindestens einmal in der Woche zu lieben. Sie hatten so wenig kostbare gemeinsame Stunden für sich, daß Eliza es einfach unsinnig fand, sie mit Philosophieren zu vergeuden; wenn geredet werden sollte, dann wollte sie lieber etwas über seine Vorlieben, seine Mutter oder seine Vergangenheit hören und über seine Pläne, sie eines Tages zu heiraten. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn er ihr von Angesicht zu Angesicht die wundervollen Sätze gesagt hätte, die er in seinen Briefen schrieb. Zum Beispiel, daß es leichter sei, die Absichten des Windes oder die Sanftmut der Wellen am Strand zu messen als die Stärke seiner Liebe; daß keine noch so eisige Winternacht das immerwährende Feuer seiner Leidenschaft abzukühlen vermöchte; daß er die Tage träumend und die Nächte schlaflos verbringe, unablässig heimgesucht vom Wahnsinn der Erinnerungen und mit der Angst eines Verurteilten die Stunden zählend, die ihn noch von ihrer erneuten Umarmung trennten; »Du bist mein Engel und mein Verderben, bist Du bei mir, erlange ich göttliche Ekstase, und bist Du fern, steige ich in die Hölle hinab — worin besteht diese Macht, die Du über mich ausübst, Eliza? Sprich mir nicht von morgen oder gestern, ich lebe nur für heute, für diesen Augenblick, in dem ich wieder in die unendliche Nacht Deiner dunklen Augen eintauche.« Genährt von Miss Roses Romanen und den Dichtern der Romantik, deren Verse sie auswendig kannte, verlor das Mädchen sich in dem berauschenden Entzücken, sich wie eine Göttin angebetet zu fühlen, und erkannte nicht die Unstimmigkeit zwischen diesen flammenden Erklärungen und der realen Person Joaquín Andieta. In den Briefen verwandelte er sich in den vollkommenen Geliebten, der fähig war, seine Leidenschaft mit so engelhaftem Atem zu beschreiben, daß Schuld und Furcht dahinschwanden und dem schrankenlosen Überschwang der Sinne Platz machten. Niemand hatte jemals so geliebt, unter allen Sterblichen waren sie auserwählt für eine einzigartige Leidenschaft, schrieb Joaquín in seinen Briefen, und Eliza glaubte ihm. Und dennoch war seine Liebe hastig, hungrig, er liebte, ohne es zu genießen, als wäre er einem Laster verfallen und von Schuldgefühl verzehrt. Er nahm sich nicht die Zeit, ihren Körper kennenzulernen oder den eigenen zu entdecken, die Macht des Verlangens und der Verheimlichung überwältigten ihn. Ihm schien, als reichte ihnen nie die Zeit, obwohl Eliza ihn beruhigte und ihm erklärte, daß bei Nacht nie jemand in diesen Raum komme, daß die Sommers ihren Betäubungsschlaf schliefen, Mama Fresia desgleichen in ihrer Hütte im Patio, und daß die Zimmer der übrigen Dienstboten außer Hörweite lägen. Der Instinkt schürte die Kühnheit des Mädchens und stachelte sie an, die vielfachen Möglichkeiten der Lust zu erforschen, aber sie lernte bald sich zurückzuhalten. Ihre Initiativen im Liebesspiel versetzten Joaquín in die Defensive, er fühlte sich kritisiert, verletzt und in seiner Männlichkeit bedroht. Die bösesten Vermutungen peinigten ihn, denn er konnte sich soviel natürliche Sinnlichkeit in einem Kind von sechzehn Jahren nicht vorstellen, dessen einziger Horizont die Wände seines Hauses waren. Die Furcht vor einer Schwangerschaft verschlimmerte alles, denn keiner der beiden wußte, wie man sie verhinderte. Joaquín hatte eine vage Vorstellung davon, wie die Befruchtung vor sich ging, und nahm an, wenn er sich rechtzeitig zurückziehe, seien sie sicher, aber das gelang ihm nicht immer. Er bemerkte sehr wohl Elizas Enttäuschung, aber er wußte nicht, wie er sie trösten sollte, und statt es zu versuchen, flüchtete er sich in seine Rolle als intellektueller Mentor, wo er sich sicher fühlte. Während sie sich danach sehnte, liebkost zu werden oder wenigstens an der Schulter des Geliebten auszuruhen, löste er sich von ihr, zog sich hastig an und vergeudete die kostbare Zeit, die ihnen noch verblieb, indem er immer neue Argumente für dieselben hundertmal wiederholten politischen Ideen vom Stapel ließ. Diese mißratenen Umarmungen beunruhigten Eliza sehr, aber sie wagte nicht, es zuzugeben, nicht einmal in der tiefsten Tiefe ihres Bewußtseins, denn das hieße ja, die Bedeutung der Liebe in Frage zu stellen. Worauf sie in die Falle geriet: sie bemitleidete und entschuldigte ihren Liebsten und dachte, wenn sie mehr Zeit hätten und einen sicheren Ort, dann würden sie sich richtig gut lieben. Viel schöner als der Liebesakt waren die Stunden danach, wenn sie erfand, was nicht gewesen war, und in den Nächten träumte, was vielleicht das nächste Mal im Zimmer der Schränke geschehen würde.

Mit demselben Ernst, mit dem sie all ihre Handlungen betrieb, machte sie sich nun an die Aufgabe, ihren Geliebten zu idealisieren, bis er ihr zur Besessenheit wurde. Sie wünschte sonst nichts, als ihm bedingungslos zu dienen bis ans Ende ihrer Tage, sich zu opfern und zu leiden, um ihre Selbstverleugnung zu beweisen, für ihn zu sterben, wenn es nötig sein sollte. Geblendet durch den Zauber dieser ersten Leidenschaft, merkte sie nicht, daß diese nicht mit gleicher Intensität erwidert wurde.

Ihr Liebhaber war niemals ganz gegenwärtig. Noch in den wildesten Umarmungen auf dem Vorhängelager war sein Geist nicht beteiligt, sondern bereit, sich anderweitig zu ergehen, oder schon fort. Er gab sich nur halb, flüchtig, in einem entnervenden chinesischen Schattenspiel, aber beim Abschied, wenn Eliza ganz nahe daran war, in Tränen auszubrechen, überreichte er ihr einen seiner wundervollen Briefe. Dann verwandelte sich für Eliza das ganze Universum in einen Spiegel, dessen einziger Zweck es war, ihre Gefühle zurückzustrahlen. Der mühseligen Aufgabe der absoluten Verliebtheit unterworfen, zweifelte sie nicht an Joaquíns Fähigkeit der vorbehaltlosen Hingabe und wollte sein doppeltes Gesicht nicht sehen.

Sie hatte einen vollkommenen Geliebten erfunden und fütterte diese Schimäre mit Hartnäckigkeit. Ihre Einbildungskraft entschädigte sie für die unergiebigen Umarmungen ihres Geliebten, die sie in dem dunklen Limbus des unbefriedigten Verlangens verloren zurückließen.

Teil II

ZWEITER TEIL 1848-1849

Die Nachricht

Am 21. September, dem Tag des Frühlingsanfangs nach Miss Roses Kalender, wurden die Räume gelüftet, die Betten und Decken in die Sonne gelegt, die Möbel gewachst und die Fenstervorhänge des Salons ausgewechselt. Mama Fresia wusch die geblümten Cretonnegardinen ohne Kommentar, sie war überzeugt, daß die getrockneten Flecken von Ratten stammten. Im Patio bereitete sie große Tongefäße mit heißer Waschlauge und Panamarinde vor und weichte die Vorhänge einen ganzen Tag dann ein, stärkte sie nach dem Waschen in Reiswasser und ließ sie in der Sonne trocknen; dann wurden sie von zwei Frauen gebügelt, und als sie wieder wie neu waren, wurden sie aufgehängt, um die junge Jahreszeit zu begrüßen. Eliza und Joaquín, gleichgültig gegenüber Miss Roses Frühlingsturbulenzen, liebten sich nunmehr auf den grünen Samtvorhängen, die weicher waren als die aus Cretonne. Es war nicht mehr kalt, und die Nächte waren klar. Sie liebten sich nun schon seit drei Monaten, und Joaquíns Briefe, gewürzt mit poetischen Wendungen und flammensprühenden Liebeserklärungen, waren erheblich seltener geworden.

Eliza litt, wenn ihr Geliebter wieder so abwesend war, manchmal umarmte sie ein Phantom. Sosehr das unbefriedigte Verlangen sie auch schmerzte und die ständigen Heimlichkeiten sie belasteten, hatte das Mädchen doch nach außenhin ihre Ruhe wiedererlangt.

Sie verbrachte die Stunden des Tages mit denselben Beschäftigungen wie vorher, unterhielt sich mit ihren Büchern und Klavierübungen oder betätigte sich eifrig in der Küche und im Nähstübchen, ohne die geringste Lust zu bezeigen, aus dem Haus zu gehen, aber wenn Miss Rose sie um ihre Begleitung bat, folgte sie ihr bereitwillig wie jemand, der nichts Besseres zu tun hat. Sie ging früh schlafen und stand früh auf wie immer, sie hatte guten Appetit und sah gesund aus, aber Miss Rose und Mama Fresia waren nicht so leicht zu täuschen. Sie ließen sie nicht aus den Augen. Sie bezweifelten, daß der Liebesrausch so plötzlich verpufft sein sollte, aber als Wochen vergingen und Eliza noch immer keine Spur von Verstörtheit zeigte, legte sich ihre Wachsamkeit allmählich. Vielleicht waren die Kerzen für den heiligen Antonius doch etwas nütze gewesen, überlegte die India; vielleicht war es ja gar keine Liebe gewesen, dachte Miss Rose ohne viel Überzeugung.

Die Nachricht von den Goldfunden in Kalifornien hatte Chile im August erreicht. Anfangs war es nur ein verrücktes Gerede von betrunkenen Seeleuten in den Bordellen von El Almendral gewesen, aber ein paar Tage später meldete der Kapitän des Schoners »Adelaida«, daß die Hälfte seiner Matrosen in San Francisco desertiert sei.

»Das Gold ist überall, du kannst es mit der Schaufel einsacken! Man hat Klumpen so groß wie Orangen gesehen! Jeder, der ein bißchen Mumm hat, kann da glatt Millionär werden!« erzählte er, keuchend vor Begeisterung.

Zu Beginn dieses Jahres hatte nahe der Mühle eines Schweizer Farmers am Ufer des American River ein gewisser Marshall im Wasser ein Plättchen Gold gefunden. Dieses gelbe Partikelchen, das den Wahnsinn entfesselte, wurde entdeckt neun Tage nachdem der Krieg zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten mit der Unterzeichnung des Vertrages von Guadalupe Hidalgo beendet worden war. Als sich die Neuigkeit verbreitete, gehörte Kalifornien nicht mehr zu Mexiko. Bevor bekannt wurde, daß dieses Land auf einem unerschöpflichen Schatz saß, war niemandem viel daran gelegen gewesen; für die Amerikaner war es Indianergebiet, und die Pioniere zogen es vor, Oregon zu erobern, wo sich, wie sie glaubten, die Landwirtschaft besser betreiben lasse. Mexiko betrachtete es als eine Ansammlung von Spielhöllen und Gaunern und ließ sich nicht herab, seine Truppen hinzuschicken, um es während des Krieges zu verteidigen. Bald nach dem Fund verkündete Sam Brannan, Herausgeber einer Zeitung und Mormonenprediger, der entsandt worden war, um seinen Glauben zu verbreiten, die Neuigkeit auf den Straßen von San Francisco. Vielleicht hätten sie ihm nicht geglaubt, sein Ruf war ein wenig zwielichtig — es ging das Gerücht, er habe schlechten Gebrauch von dem Geld Gottes gemacht, und als die Mormonenkirche verlangte, er solle es zurückgeben, habe er erwidert, das werde er gern tun, gegen eine von Gott unterschriebene Quittung —, aber er stützte seine Worte mit einer Flasche voller Goldstaub, die von Hand zu Hand ging und die Menge aufpeitschte. Bei dem Schrei Gold! Gold! ließ jeder zweite alles stehen und liegen und machte sich auf zu den Goldfeldern. Die einzige Schule mußte geschlossen werden, weil nicht einmal die Kinder blieben. In Chile hatte die Neuigkeit die gleiche durchschlagende Wirkung. Der Durchschnittslohn betrug zwanzig Centavos am Tag, und die Zeitungen redeten davon, endlich sei El Dorado entdeckt, die Stadt, von der die Conquistadoren geträumt hätten, die Stadt, deren Straßen mit dem kostbaren Metall gepflastert seien: »Der Reichtum der Minen ist so groß wie der, von dem die Geschichten Sindbads erzählen oder das Märchen von Aladins Wunderlampe; stellen Sie sich ohne Angst vor Übertreibung vor, daß der Gewinn sich auf eine Unze pures Gold pro Tag beläuft«, berichteten die Blätter und fügten hinzu, es sei genügend da, um Tausende Männer Jahrzehnte hindurch reich zu machen. Das Feuer der Habsucht breitete sich sofort auch unter den Chilenen aus, die Bergmannsseelen hatten, und im Monat darauf setzte sich die Stampede Richtung Kalifornien in Bewegung. Verglichen mit jedem Abenteurer, der vom Atlantik angesegelt kam, hatten die Chilenen nur den halben Weg zurückzulegen. Die Reise von Europa nach Valparaíso dauerte drei Monate und von dort nach San Francisco weitere zwei. Die Entfernung zwischen Valparaíso und San Francisco betrug keine siebentausend Meilen, während zwischen der Ostküste Nordamerikas und den Fundorten um Kap Horn herum fast zwanzigtausend Meilen lagen. Das war, wie Joaquín Andieta überlegte, ein beachtlicher Vorsprung für die Chilenen, weil sich die zuerst Gekommenen natürlich die besten Goldadern sichern würden.

Feliciano Rodríguez de Santa Cruz stellte die gleiche Rechnung an und beschloß, sich sofort mit fünf seiner besten und verläßlichsten Bergarbeiter einzuschiffen, denen er eine gute Belohnung versprach als Ansporn und als Entschädigung dafür, daß sie ihre Familien verlassen und sich in diese gefahrvolle Unternehmung stürzen sollten. Es nahm drei Wochen in Anspruch, bis Gepäck und Ausrüstung beisammen waren für einen mehrere Monate dauernden Aufenthalt in jenem Land im Norden, das er sich öde und wild vorstellte. Er war erheblich im Vorteil gegenüber der Mehrzahl der Ahnungslosen, die blindlings und ohne die nötigen Mittel loszogen, getrieben von der Lockung eines leicht errungenen Vermögens, aber ohne die geringste Vorstellung von den Gefahren und Mühen des Vorhabens. Er war nicht bereit, wie ein Bauernknecht zu schuften und sich den Rücken krumm zu machen, er wollte mit allem wohlversorgt sein und auch zuverlässige Diener mitnehmen, wie er seiner Frau erklärte, die ihr zweites Kind erwartete, aber darauf bestand, ihn zu begleiten. Paulina gedachte mit zwei Kindermädchen und ihrem Koch zu reisen, dazu mit einer Kuh und Hühnern, um auf See Milch und Eier für die Kleinen zu haben, aber ihr Mann widersetzte sich dem energisch. Der Einfall, mit der Familie auf dem Buckel auf eine solche ungewisse Fahrt zu gehen, war der schiere Wahnsinn. Seine Frau hatte den Verstand verloren.

»Wie hieß noch dieser Kapitän, der, der mit Mr. Todd befreundet war?« unterbrach ihn Paulina mitten in seiner Predigt, während sie, eine Tasse Schokolade auf dem stattlichen Bauch balancierend, an einem Blätterteigküchlein mit Karamel knabberte — das Rezept stammte von den Klarissinnen.

»John Sommers vielleicht?«

»Ich meine den, der das Segeln satt hatte und über Dampfschiffe redete.«

»Genau der ist es.«

Paulina dachte eine Weile nach, dabei futterte sie fleißig ihre Küchlein und überhörte freundlich die Liste der Gefahren, die ihr Mann aufzählte. Sie war runder geworden und glich kaum noch dem grazilen Mädchen, das mit geschorenem Kopf aus einem Kloster geflohen war.

»Wieviel habe ich auf meinem Londoner Konto?« fragte sie schließlich.

»Fünfzigtausend Pfund. Du bist eine sehr reiche Frau.«

»Das reicht nicht. Kannst du mir das Doppelte leihen zu zehn Prozent Zinsen, zahlbar in drei Jahren?«

»Was dir für Sachen einfallen, mein Gott, Frau! Wofür zum Teufel brauchst du so viel?«

»Für ein Dampfschiff. Das große Geschäft ist nicht das Gold, Feliciano, das ist im Grunde nur Flitterkram. Das große Geschäft sind die Bergleute. Sie brauchen alles in Kalifornien und werden bar bezahlen. Es heißt, die Dampfer können geraden Kurs fahren und sind nicht von den Launen des Windes abhängig, sie sind größer und schneller. Die Segelschiffe gehören der Vergangenheit an.«

Feliciano verfolgte seine Pläne weiter, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, die finanziellen Vorahnungen seiner Frau nicht zu mißachten. Mehrere Nächte hindurch konnte er nicht schlafen. Er wanderte durch die protzigen Salons seines großen Hauses, vorbei an Säcken mit Proviant, Kisten mit Werkzeugen, Fässern mit Pulver und Stapeln von Waffen, und maß und wog Paulinas Worte ab. Je mehr er darüber nachdachte, um so richtiger erschien ihm die Idee, in Transport zu investieren, aber bevor er irgendeinen Beschluß faßte, besprach er sich mit seinem Bruder, der sein Partner bei allen Geschäften war. Der hörte ihm mit offenem Munde zu, und als Feliciano mit seinen Erklärungen am Ende war, schlug er sich mit der Hand vor die Stirn.

»Verdammt, Bruder! Wieso ist uns das nicht früher eingefallen?«

Inzwischen träumte Joaquín Andieta wie Tausende anderer Chilenen seines Alters und jeglicher Herkunft von Säcken voller Goldstaub und über den Erdboden verstreuten Goldbrocken. Verschiedene seiner Bekannten waren schon abgereist, darunter auch einer seiner Freunde aus der Buchhandlung Santos Tornero, ein junger Freiheitlicher, der gegen die Reichen wetterte und der erste war, wenn es darum ging, die verderbliche Wirkung des Geldes anzuprangern, aber er hatte seinem Ruf nicht widerstehen können und war aufgebrochen, ohne sich zu verabschieden. Kalifornien war für Joaquín die einzige Möglichkeit, aus der Misere herauszukommen, seine Mutter aus der Wohnkaserne zu holen und ihre kranken Lungen behandeln zu lassen; die einzige Möglichkeit, sich mit hocherhobenem Haupt und gefüllten Taschen vor Jeremy Sommers hinzustellen und um Elizas Hand zu bitten. Gold … Gold, für ihn erreichbar … Er konnte sie sehen, die Säcke voll Goldstaub, die Körbe mit riesigen Goldbrocken, die Geldscheine in seinen Taschen, den Palast, den er sich bauen lassen würde, stabiler und mit mehr Marmor als der Club de la Unión, um den Verwandten, die seine Mutter gedemütigt hatten, das Maul zu stopfen. Er sah sich auch aus der Kathedrale treten mit Eliza Sommers am Arm, das glücklichste Brautpaar der Welt. Es war nur eine Frage des Mutes. Was für eine Zukunft bot ihm Chile? Bestenfalls würde er mit dem Zählen der Produkte alt werden, die durch das Kontor der British Trading Company gingen. Verlieren konnte er nichts, er besaß ja nichts. Das Goldfieber warf ihn völlig aus dem Gleis, er mochte nicht essen, er konnte nicht schlafen, er ging wie auf glühenden Kohlen und spähte mit irren Augen auf das Meer. Sein Buchhändlerfreund lieh ihm Landkarten und Bücher über Kalifornien und eine Broschüre über das Waschen des Metalls, die er begierig durchlas, wobei er verzweifelt Berechnungen anstellte, wie er die Reise finanzieren könnte. Die Berichte in den Zeitungen lasen sich immer verführerischer: »In einem Teil der Gruben, genannt dry diggings, braucht man weiter kein Werkzeug als ein gewöhnliches Messer, um das Metall von den Felsen zu kratzen. In anderen Teilen ist es bereits herausgebrochen, und man verwendet nur eine ganz einfache Maschinerie, die aus einer simplen Mulde besteht mit einem ovalen Boden von ungefähr zehn Fuß Länge und im oberen Teil zwei Fuß Breite. Da kein Kapital nötig ist, ist die Konkurrenz groß, und Männer, die kaum imstande waren, sich für einen Monatslohn mit dem Allernötigsten zu versorgen, besitzen jetzt Tausende Pesos des edlen Metalls.«

Als Andieta die Möglichkeit erwähnte, sich nach Kalifornien einzuschiffen, reagierte seine Mutter ebenso unwillig wie Eliza. Ohne sich je gesehen zu haben, sagten beide Frauen genau das gleiche: wenn du gehst, Joaquín, dann sterbe ich. Beide versuchten ihm die unzähligen Gefahren eines solchen Wagnisses klarzumachen und schworen ihm, daß sie unabwendbare Armut an seiner Seite einem illusorischen Reichtum vorzögen, der das Risiko barg, ihren Joaquín für immer zu verlieren. Seine Mutter versicherte ihm, sie würde nie aus der Wohnkaserne ausziehen, nicht einmal, wenn sie Millionärin wäre, hier lebten ihre Freunde und sie habe sonst keinen Ort auf der Welt, wohin sie gehen könne. Und ihre Lungen — da sei ohnehin nichts zu machen, man könne nur hoffen, daß sie aufhörten zu rumoren. Und Eliza bot ihm verzweifelt an, mit ihm zu fliehen, falls die Sommers sie nicht heiraten ließen. Aber er hörte weder auf die eine noch auf die andere, in seinen Wahn verloren, war er sicher, daß er nie wieder eine ähnliche Gelegenheit haben würde, und sie vorbeigehen zu lassen wäre unverzeihliche Feigheit. Er diente seiner Besessenheit mit der gleichen Inbrunst, mit der er früher die freiheitlichen Ideen verbreitet hatte, aber ihm fehlten die Mittel, seine Pläne zu verwirklichen. Er konnte sein Ziel nicht erreichen ohne eine gewisse Summe für die Fahrt und die Ausrüstung. Er ging zur Bank, um sich nach einem Darlehen zu erkundigen, aber er hatte nichts, womit er es hätte decken können, und da er nun einmal wie ein armer Teufel aussah, wurde er eisig abgewiesen. Zum erstenmal dachte er daran, sich an die Verwandten seiner Mutter zu wenden, mit denen er bislang kein Wort gewechselt hatte, aber er verwarf den Gedanken augenblicklich, dazu war er doch zu stolz. Die Vision einer strahlenden Zukunft ließ ihm keine Ruhe, nur unter großer Anstrengung schaffte er seine Arbeit, die langen Stunden im Kontor wurden zur Strafe. Er saß da, die Feder in der Luft, starrte, ohne es zu sehen, auf das weiße Blatt Papier und sagte sich aus dem Gedächtnis die Namen der Schiffe vor, die ihn in den Norden bringen konnten. In seinen Nächten wechselten stürmisch bewegte Träume mit aufgeregten schlaflosen Phasen, morgens erwachte er erschöpft und zugleich aufgewühlt, und bei der Arbeit machte er Anfängerfehler. Rings um ihn erreichte die wilde Erregung hysterische Grade, alle wollten aufbrechen, und wer es nicht selber konnte, beauftragte Unternehmen, investierte in eilig gegründete Kompanien oder schickte einen vertrauenswürdigen Vertreter mit der Vereinbarung, sich die Gewinne zu teilen. Die ledigen Männer waren die ersten, die in See stachen; bald folgten ihnen die verheirateten, ließen ihre Kinder im Stich und schifften sich ein, ohne zurückzublicken, trotz der schaurigen Geschichten über unbekannte Krankheiten, verheerende Unfälle und brutale Verbrechen. Die friedlichsten Männer waren bereit, den Gefahren von Pistolenschüssen und Messerstichen zu trotzen, die vernünftigsten gaben die in mühevollen Jahren gewonnene Sicherheit auf und stürzten sich mit kaum mehr Gepäck als ihre fiebernde Begeisterung in das Abenteuer. Die einen gaben ihr Erspartes für die Fahrt aus, andere arbeiteten die Reisekosten als Matrosen ab oder verpfändeten ihre zukünftige Arbeit, aber es gab so viele Bewerber, daß Joaquín Andieta auf keinem Schiff einen Platz für sich finden konnte, obwohl er Tag für Tag am Kai nachfragte.

Im Dezember hielt er es nicht mehr aus. Als er die Einzelaufführung einer im Hafen eingelaufenen Fracht kopierte, wie er es täglich gewissenhaft tat, änderte er die Ziffern im Registerbuch und zerstörte dann die originalen Löschdokumente. Durch diesen Buchhaltertrick ließ er mehrere aus New York eingetroffene Kisten mit Revolvern und dazu passender Munition verschwinden. In drei aufeinanderfolgenden Nächten gelang es ihm, die Wachen zu umgehen, in den Speichern der British Trading Company einzubrechen und den Inhalt der Kisten zu stehlen. Dazu mußte er mehrmals gehen, denn es war eine schwere Last. Zuerst steckte er die Waffen in die Taschen oder band sie unter dem Anzug an Armen und Beinen fest; danach trug er die Munition in Beuteln fort. Fast wäre er dabei von den Wachen gesehen worden, die nachts ihre Runden gingen, aber das Glück war auf seiner Seite, und er konnte jedesmal rechtzeitig entwischen. Er wußte, es würden ein paar Wochen vergehen, ehe jemand die Kisten anfordern und der Raub entdeckt werden würde; er nahm aber auch an, daß es sehr leicht sein würde, der Spur von den verschwundenen Dokumenten und den geänderten Ziffern bis zum Schuldigen zu folgen, doch bis dahin, hoffte er, würde er längst auf hoher See sein. Und wenn er erst seinen eigenen Schatz besaß, würde er alles bis zum letzten Centavo mit Zinsen zurückzahlen, denn der einzige Grund, eine solche Schandtat zu begehen, das wiederholte er sich tausendmal, war die Verzweiflung gewesen. Es war eine Frage von Leben oder Tod: das Leben, wie er es verstand, war in Kalifornien; an Chile gefesselt zu bleiben glich einem langsamen Tod. Er verkaufte einen Teil seiner Beute billig in den Hafenvierteln und den anderen unter seinen Freunden von der Buchhandlung Santos Tornero, nachdem er sie hatte schwören lassen, daß sie nichts verraten würden. Diese glühenden Idealisten hatten noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, bereiteten sich aber schon seit Jahren mit Worten auf eine utopische Revolution gegen die konservative Regierung vor. Es wäre Verrat an den eigenen Vorsätzen gewesen, die Revolver aus der Hehlerware nicht zu kaufen, vor allem, wenn man den günstigen Preis bedachte. Joaquín Andieta behielt zwei Revolver für sich, und er war entschlossen, sie auch zu gebrauchen, falls er sich den Weg freischießen mußte, aber er erzählte den Kameraden nichts von seinen Plänen, nach Kalifornien zu gehen. In dieser Nacht mit ihnen im Hinterzimmer der Buchhandlung hob auch er die rechte Hand zum Herzen und schwor im Namen des Vaterlandes, er würde für Demokratie und Gerechtigkeit sein Leben hingeben. Am folgenden Morgen kaufte er eine Schiffskarte dritter Klasse auf dem ersten Schoner, der demnächst auslaufen würde, und erstand einige Beutel mit geröstetem Mehl, Bohnen, Reis, Zucker, gedörrtem Pferdefleisch und Speckstreifen, ein Vorrat, der, sparsamst verteilt, ihn während der Überfahrt mit knapper Not bei Kräften erhalten würde. Die wenigen Reales, die er übrigbehielt, versteckte er in einer engen Binde um den Leib.

In der Nacht des 22. Dezember verabschiedete er sich von Eliza und seiner Mutter, und am Tag darauf reiste er ab in Richtung Kalifornien.

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Mama Fresia entdeckte die Liebesbriefe durch puren Zufall, als sie in ihrem kleinen Gemüsegarten Zwiebeln ausgrub und ihre Hacke auf die Blechdose stieß. Sie konnte nicht lesen, aber ihr genügte ein Blick hinein, um zu begreifen, was das für Briefe waren. Sie war versucht, sie Miss Rose zu übergeben, denn sie brauchte sie nur in der Hand zu halten, um die Drohung zu spüren — sie hätte geschworen, daß das mit einer Schleife zusammengebundene Päckchen pulsierte wie ein lebendes Herz —, aber ihre Liebe zu Eliza war stärker als die Vernunft, und statt zu ihrer Herrschaft zu laufen, legte sie das Päckchen zurück in die Keksdose, versteckte sie unter ihrem weiten schwarzen Rock und ging seufzend zu dem Zimmer des Mädchens. Sie fand Eliza auf einem Stuhl sitzend, mit geradem Rücken und die Hände im Schoß, als säße sie in der Messe, und durch das Fenster aufs Meer blickend, so niedergeschlagen, daß der India die Luft ringsum wie verdichtet und voller Vorahnungen erschien. Sie legte dem Mädchen die Dose auf die Knie und wartete vergebens auf eine Erklärung.

»Dieser Mann ist ein Teufel. Er wird dir nur Unglück bringen«, sagte sie schließlich.

»Das Unglück hat schon angefangen. Er ist vor sechs Wochen nach Kalifornien gegangen, und mir ist die Regel ausgeblieben.«

Mama Fresia setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, wie sie es immer tat, wenn sie nicht weiterwußte, und begann leise wimmernd den Oberkörper vor und zurück zu wiegen.

»Sei doch still, Mamita, Miss Rose könnte uns hören«, flehte Eliza.

»Ein Kind aus der Gosse, ein uneheliches Kind, ein Bastard! Was sollen wir nur tun, meine Kleine, was sollen wir nur tun?« jammerte die India weiter.

»Ich werde ihn heiraten.«

»Und wie, wenn der Mann verschwunden ist?«

»Ich werde ihn suchen müssen.«

»Ach du ahnungsloses Kind Gottes! Bist du verrückt geworden? Ich werde dir ein Mittel machen, damit bist du in ein paar Tagen wieder wie neu.«

Die India bereitete einen Aufguß aus Borretsch zu und einen Trank aus Hühnerkot in Schwarzbier, das gab sie Eliza dreimal am Tag zu trinken, außerdem ließ sie sie Schwefelsitzbäder nehmen und legte ihr Senfkompressen auf den Bauch. Die Folge war, daß Eliza gelb wurde und ständig einen klebrigen Schweiß absonderte, der nach verwelkten Gardenien roch, aber nach einer Woche gab es noch immer kein Zeichen für einen Abort.

Mama Fresia entschied, daß das Ungeborene männlich und zweifellos verflucht sei, deshalb klammere es sich so an die Eingeweide seiner Mutter. Diese Schlappe war zuviel für sie, das Ungeborene war ein Werk des Teufels, und nur seine Meisterin, die Machi, würde ein so gewaltiges Unglück besiegen können. Noch am selben Nachmittag erbat sie sich Urlaub von ihrer Herrschaft und ging noch einmal zu Fuß den beschwerlichen Weg zu der Schlucht, um niedergeschlagen vor die blinde alte Zauberin zu treten. Als Geschenk brachte sie ihr zwei Formen mit Quittengeleekuchen und eine mit Estragon geschmorte Ente.

Die Machi hörte sie an und nickte mit grämlicher Miene, als hätte sie von Anfang an gewußt, was nun eingetreten war.

»Ich habe es ja gesagt, Versessenheit ist ein starkes Leiden: es befällt das Gehirn und zerreißt das Herz. Versessenheiten gibt es viele, aber die schlimmste ist die in der Liebe.«

»Können Sie etwas für meine Kleine tun, damit der Bastard abgeht?«

»Können könnte ich schon. Aber das wird sie nicht heilen. Sie wird ihrem Mann trotzdem folgen müssen.«

»Der ist weit weg, Gold suchen gegangen.«

»Nach der Versessenheit der Liebe ist die auf das Gold die zweitschlimmste«, stellte die Machi fest.

Mama Fresia begriff, daß es unmöglich sein würde, Eliza aus dem Haus und zur Schlucht der Machi zu bringen, dort die Abtreibung vorzunehmen und mit ihr heimzukehren, ohne daß Miss Rose es merkte. Die Zauberin war hundert Jahre alt und war fünfzig Jahre nicht aus ihrer elenden Bleibe herausgekommen, sie würde auch jetzt nicht in das Haus der Sommers gehen, um das junge Mädchen zu behandeln. Ihr blieb keine andere Lösung als die, es selbst zu tun. Die Machi gab ihr ein feines Rohr aus Colihuebambus und eine schwärzliche, übelriechende Salbe und erklärte ihr genau, wie sie dieses Rohr mit der Schmiere bestreichen und in Elizas Körper einführen sollte. Dann lehrte sie sie die Zauberworte, die das Kind des Teufels ausstoßen und gleichzeitig das Leben der Mutter beschützen würden. Dieser Eingriff mußte in der Freitagnacht vorgenommen werden, dem einzigen Tag der Woche, der dafür zugelassen sei, ermahnte die Machi sie. Mama Fresia kehrte sehr spät und sehr erschöpft heim, das Bambusröhrchen und die Salbe unter dem Umhang.

»Bete, Kind, denn in zwei Nächten werde ich dir helfen«, erklärte sie Eliza, als sie ihr die heiße Frühstücksschokolade ans Bett brachte.

Kapitän John Sommers landete in Valparaíso an dem von der Machi festgesetzten Tag. Es war der zweite Freitag im Februar eines verschwenderisch reichen Sommers. Die Bucht kochte vor Betriebsamkeit, ein halbes Hundert Schiffe lag hier verankert, während draußen auf See weitere darauf warteten, einlaufen zu können. Wie immer empfingen Jeremy, Rose und Eliza auf dem Kai diesen wunderbaren Seefahrer, der wieder mit Neuigkeiten und Geschenken beladen ankam. Die Bürger von Valparaíso, die sich hier trafen, um die Schiffe zu besichtigen und Schmuggelware zu kaufen, mischten sich mit Seeleuten, Reisenden, Stauern und Zollbeamten, während die in einer gewissen Entfernung postierten Prostituierten ihre Chancen ausrechneten. In den letzten Monaten, seit die Goldmeldung die Gier der Menschen an jedem Ufer der Erde anstachelte, kamen und gingen die Schiffe in einem aberwitzigen Tempo, und die Bordelle hatten alle Hände voll zu tun. Die verwegeneren Frauen jedoch gaben sich nicht zufrieden mit dem glänzend laufenden Geschäft in Valparaíso, sie bedachten, wieviel mehr sie in Kalifornien verdienen könnten, wo auf eine Frau zweihundert Männer kamen, wie man hörte. Im Hafen drängten sich die Menschen, stießen gegen Karren, Zugtiere und Frachtballen; man hörte Sprachen aus vieler Herren Länder, die Sirenen der Schiffe gellten, dazwischen schrillten die Pfeifen der Wachen. Miss Rose, ein mit Vanille parfümiertes Tüchlein vor der Nase, musterte die ankommenden Passagiere auf der Suche nach ihrem Lieblingsbruder, während Eliza sich eifrig schnüffelnd bemühte, die Gerüche zu trennen und zu erkennen. Der strenge Geruch der frisch angelandeten Fische mischte sich mit dem Gestank vom Kot der Lasttiere und dem Odeur von menschlichem Schweiß. Eliza war die erste, die Kapitän Sommers entdeckte, und ihre Erleichterung war so groß, daß sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Monatelang hatte sie auf ihn gewartet, denn sie war sicher, daß nur er den Kummer ihrer gefährdeten Liebe verstehen könne. Sie hatte zu Miss Rose oder gar zu Jeremy kein Wort über Joaquín Andieta gesagt, aber sie glaubte fest daran, daß ihr seefahrender Onkel, den nichts überraschen oder erschrecken konnte, ihr helfen werde.

Kaum hatte der Kapitän den Fuß auf festen Boden gesetzt, als Eliza und Miss Rose sich auf ihn stürzten; mit seinen kräftigen Korsarenarmen fing er beide um die Taille auf, hob sie gleichzeitig hoch und drehte sich mit ihnen wie ein Kreisel unter dem Jubelgekreisch von Miss Rose und dem Protestgeschrei von Eliza, die drauf und dran war, sich zu übergeben. Jeremy Sommers begrüßte ihn mit einem Händedruck und fragte sich, wie es nur möglich war, daß sein Bruder sich in den letzten zwanzig Jahren überhaupt nicht verändert hatte, er war und blieb immer der gleiche Possenreißer.

»Was ist mit dir, Kind? Du siehst gar nicht gut aus«, sagte der Kapitän und betrachtete Eliza prüfend.

»Ich habe unreifes Obst gegessen«, sagte sie und hielt sich an ihm fest, um nicht vor Übelkeit umzufallen.

»Ich weiß, warum ihr an den Hafen gekommen seid, mich abholen. Ihr wollt Parfüms kaufen, stimmt’s? Ich werde euch sagen, wer die besten hat, geradewegs aus dem Herzen von Paris mitgebracht.«

In diesem Augenblick ging ein Fremder an ihm vorbei und stieß ihn unabsichtlich mit dem Koffer an, den er auf der Schulter trug. John Sommers drehte sich entrüstet um, aber als er den Mann erkannte, stieß er einen seiner scherzhaft gemeinten Flüche aus und hielt ihn am Arm fest.

»He, Chinese, komm, laß dich meiner Familie vorstellen«, rief er herzlich.

Eliza musterte den Fremden ungeniert, sie hatte noch nie einen Asiaten von nahem gesehen, und nun hatte sie einen Menschen aus China vor sich, jenem märchenhaften Land, das in vielen Geschichten ihres Onkels eine Rolle spielte. Er war ein Mann unbestimmbaren Alters und verglichen mit den Chilenen eher groß, aber neben dem wuchtigen Kapitän wirkte er schmal wie ein Kind. Sein Gang war ohne Anmut, sein Gesicht war glatt und flach, und seine schrägen Augen hatten einen uralten Ausdruck. Seiner würdevollen Bedachtsamkeit widersprach das kindliche Gelächter, in das er ausbrach, als Sommers ihn ansprach. Seine Hose endete über den Waden, er trug einen lockeren Kittel aus rauhem Stoff und um die Taille eine breite Binde, in der ein Messer steckte, an den Füßen hatte er schmale Sandalen, auf seinem Kopf prangte ein recht schäbiger Strohhut, und ein langer Zopf hing ihm auf den Rücken. Er grüßte, indem er mehrmals den Kopf neigte, ohne seinen Koffer loszulassen und ohne jemandem ins Gesicht zu sehen. Miss Rose und Jeremy Sommers, verblüfft über die Vertraulichkeit, mit der ihr Bruder eine dem Rang nach zweifellos niedriger stehende Person behandelte, wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und erwiderten den Gruß mit einem kurzen, trockenen Nicken. Zu Miss Roses Entsetzen streckte Eliza dem Fremden die Hand hin, aber er tat, als sähe er sie nicht.

»Das ist Tao Chi’en, der schlechteste Koch, den ich jemals hatte, aber er kann fast alle Krankheiten heilen, deshalb habe ich ihn noch nicht über Bord geworfen«, sagte der Kapitän lachend.

Tao Chi’en antwortete mit einer neuen Serie von Verneigungen, lachte noch einmal fröhlich ohne ersichtlichen Grund und entfernte sich dann rückwärtsgehend.

Eliza fragte sich, ob er wohl Englisch verstünde. Im Rücken der beiden Frauen flüsterte John Sommers seinem Bruder zu, der Chinese könne ihm Opium erster Qualität verkaufen und Pulver aus dem Horn des Nashorns gegen die Impotenz, falls er sich eines Tages entschließen sollte, mit der schlechten Gewohnheit des Zölibats aufzuhören. Hinter ihrem Fächer versteckt lauschte Eliza hingerissen.

Am Nachmittag zu Hause verteilte der Kapitän zur Teestunde die Geschenke, die er mitgebracht hatte: englische Rasiercreme, einen Satz Toledaner Scheren und Havannas für seinen Bruder, Schildpattkämme und einen bestickten Seidenschal aus Manila für seine Schwester und, wie immer, ein Schmuckstück für Elizas Aussteuer. Diesmal war es eine Perlenkette, und das Mädchen bedankte sich artig und legte sie in ihre Schmuckschatulle, neben die anderen Schätze, die sie bislang schon erhalten hatte. Durch Miss Roses Hartnäckigkeit und Onkel Johns Großzügigkeit füllte die Hochzeitstruhe sich mit Kostbarkeiten.

»Die Sitte mit der Aussteuer finde ich blödsinnig, vor allem, wenn man noch gar keinen Bräutigam an der Hand hat«, sagte der Kapitän lächelnd. »Oder ist etwa schon einer am Horizont aufgetaucht?«

Das Mädchen wechselte einen erschrockenen Blick mit Mama Fresia, die eben mit dem Teetablett hereingekommen war. Der Kapitän sagte weiter nichts, aber er fragte sich, wieso seine Schwester die Veränderungen nicht bemerkt hatte, die ihm sofort an Eliza aufgefallen waren. Mit der weiblichen Intuition war es nicht weit her, wie man sah.

Der Abend verging mit den erstaunlichen Geschichten des Kapitäns über Kalifornien, wo er allerdings nach der unglaublichen Entdeckung noch nicht wieder gewesen war und über San Francisco nur sagen konnte, es sei ein eher elender Häuserhaufen, liege aber an der schönsten Bucht der Welt. Der Rummel um das Gold sei das einzige Thema in Europa und den Vereinigten Staaten und sogar bis an die fernen Ufer Asiens sei die Nachricht geschwappt. Sein Schiff war voll von Reisenden mit dem Ziel Kalifornien, die meisten ohne die elementarsten Kenntnisse vom Bergbau, viele, ohne je Gold gesehen zu haben, und sei es auch nur in einem Zahn. Es gab keine bequeme oder schnelle Art, nach San Francisco zu gelangen, die Schiffsreise dauerte Monate unter den mißlichsten Bedingungen, erklärte der Kapitän, aber quer durch den amerikanischen Kontinent, sofern man die unermeßliche Weite der Landschaft und die angriffslustigen Indianer nicht scheute, dauerte die Reise noch länger, und die Möglichkeiten, lebend durchzukommen, waren geringer. Die sich zu Schiff bis Panama wagten, überquerten die Landenge auf Kanus durch die von Ungeziefer verseuchten Flüsse und auf Maultieren durch den Urwald, und wenn sie an der Pazifikküste ankamen, nahmen sie ein Schiff hinauf zum Norden. Sie mußten teuflische Hitze, giftiges Gewürm, Moskitos, Cholera und Gelbfieber ertragen, abgesehen von der durch nichts zu übertreffenden menschlichen Schlechtigkeit. Die Reisenden, die mit heiler Haut davonkamen, den Absturz ihres Reittiers in eine Schlucht und die Gefahren der Sümpfe überlebten, sahen sich auf der anderen Seite als Opfer von Banditen, die sie restlos ausplünderten, oder von Schleppern, die ihnen ein Vermögen abverlangten, um sie wie Vieh zusammengepfercht auf halb verrotteten ausrangierten Schiffen nach San Francisco zu bringen.

»Ist Kalifornien sehr groß?« fragte Eliza, darauf bedacht, daß ihre Stimme nicht die Angst ihres Herzens verriet.

»Bring mir die Karte her, dann zeige ich es dir. Es ist viel größer als Chile.«

»Und wie kommt man zu dem Gold?«

»Es heißt ja, das Gold ist überall …«

»Aber wenn man, nur so zum Beispiel, eine bestimmte Person in Kalifornien finden will …«

»Das wäre ziemlich schwierig«, erwiderte der Kapitän und beobachtete neugierig Elizas Gesichtsausdruck.

»Segelst du auf deiner nächsten Reise da hinauf, Onkel?«

»Ich habe ein sehr verlockendes Angebot, und ich denke, ich werde es annehmen. Ein paar chilenische Investoren wollen einen regelmäßigen Fracht- und Passagierdienst nach Kalifornien einrichten. Sie brauchen einen Kapitän für ihr Dampfschiff.«

»Dann werden wir dich ja öfter sehen, John!« rief Rose aus.

»Du hast keinerlei Erfahrung mit Dampfschiffen«, bemerkte Jeremy.

»Nein, aber ich kenne das Meer besser als irgend jemand sonst.«

___________

In der Nacht des festgesetzten Freitag wartete Eliza, bis im Haus alles zur Ruhe war, um in die Hütte im letzten Patio zu ihrer Verabredung mit Mama Fresia zu gehen. Sie stand aus dem Bett auf und ging barfuß und nur mit einem Batistnachthemd bekleidet die Treppe hinunter. Sie ahnte nicht, welches Mittel sie bekommen würde, aber sie war sicher, daß ihr etwas sehr Unerfreuliches bevorstand; in ihrer Erfahrung waren alle Medikamente unangenehm, aber die der India waren außerdem noch widerwärtig. »Keine Angst, Kindchen, ich werde dir so viel Schnaps einflößen, daß du dich gar nicht mehr an den Schmerz erinnern wirst, wenn du aus deinem Rausch aufwachst. Allerdings werden wir eine Menge Tücher brauchen, um mit dem Blut fertig zu werden«, hatte sie zu ihr gesagt. Eliza hatte den Weg im Dunkeln durch das Haus oft genug gemacht, um ihren Geliebten einzulassen, und brauchte sich nicht besonders vorzusehen, aber in dieser Nacht ging sie sehr langsam, blieb oft stehen, wünschte sich, daß eins jener chilenischen Erdbeben ausbrechen möge, die alles um und um schütteln, damit sie einen guten Grund hätte, Mama Fresia zu versetzen. Ihre Füße waren eiskalt, und ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Sie wußte nicht, war es die Kälte oder die Angst vor dem, was da auf sie zukam, oder die letzte Mahnung ihres Gewissens. Schon als zum erstenmal der Verdacht sie aufgestört hatte, schwanger zu sein, und seither immer wieder hatte sie die Stimme rufen hören. Sie war sicher, es war die Stimme des Kindes tief in ihrem Leib, das um sein Recht auf Leben flehte. Sie bemühte sich, sie nicht zu hören und nicht nachzudenken, aber sie saß in der Falle, und wenn ihr Zustand erst einmal offenkundig war, würde es weder Hoffnung noch Verzeihung mehr für sie geben. Niemand würde ihren Fehltritt verstehen können; es gab keinen Weg, die verlorene Ehre zurückzugewinnen. Weder die Gebete noch die Kerzen Mama Fresias würden die Schande verhindern; ihr Geliebter würde nicht auf halbem Wege kehrtmachen und zu ihr zurückkommen, um sie zu heiraten, ehe die Schwangerschaft sichtbar wurde. Dazu war es schon zu spät. Die Vorstellung entsetzte sie, sie könnte enden wie Joaquíns Mutter, von einem schimpflichen Brandmal gezeichnet, ausgestoßen aus der Familie und mit einem unehelichen Sohn in Armut und Einsamkeit lebend; sie würde es nicht ertragen, eine Verstoßene zu sein, lieber würde sie sterben. Und sterben konnte sie noch in dieser Nacht in den Händen der guten Frau, die sie aufgezogen hatte und mehr liebte als sonst jemanden auf dieser Welt.

Jeremy hatte sich frühzeitig zurückgezogen, aber der Kapitän und Miss Rose saßen noch im Nähstübchen hinter verschlossener Tür und steckten seit Stunden die Köpfe zusammen. Von jeder Reise brachte John Sommers Bücher für seine Schwester mit, und wenn er wieder abreiste, hatte er geheimnisvolle Päckchen dabei, die, wie Eliza vermutete, Miss Roses Geschriebenes enthielten. Sie hatte gesehen, wie Miss Rose sorgfältig ihre Hefte einwickelte, eben die Hefte, die sie in ihren müßigen Abendstunden mit ihrer gedrängten Schönschrift füllte. Aus Respekt oder aus einer seltsamen Scham heraus erwähnte nie jemand die Hefte, ebenso wie keiner über Miss Roses blasse Aquarelle sprach. Das Schreiben und die Malerei wurden als Spleen behandelt, nichts, wessen man sich wirklich schämen müßte, aber auch nichts, womit man großtun sollte. Elizas Kochkünste wurden von den Sommers mit derselben Gleichgültigkeit aufgenommen, sie genossen ihre Gerichte schweigend und wechselten das Thema, wenn die Gäste sie lobten, dagegen erhielt sie unverdienten Beifall für ihre wackeren Bemühungen auf dem Klavier, obwohl sie kaum ausreichten, im Takt zu bleiben, wenn sie Gesangsstücke begleitete, die ihr neu waren. Ihr Leben lang hatte Eliza Miss Rose schreiben sehen und sie nie gefragt, was sie da schrieb, sie hatte auch nie gehört, daß Jeremy oder John das getan hätten. Sie hätte brennend gern gewußt, warum Onkel John ihr wie ein Verschwörer vorkam, wenn er stillschweigend Miss Roses Hefte mitnahm, aber ohne daß jemand es ihr gesagt hätte, wußte sie, daß dieses eines der grundlegenden Geheimnisse des Hauses Sommers war, und es verletzen könnte bedeuten, das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen, in dem sie alle lebten.

Inzwischen hatte sich auch Miss Rose in ihr Zimmer und ihr Bett begeben, und Onkel John hatte sich ein Pferd genommen und war noch einmal ausgeritten. Eliza stellte sich vor, wie der Kapitän mit seinen liederlichen Freundinnen herumzog, denselben, die ihn auf der Straße grüßten, wenn Miss Rose nicht dabei war. Sie nahm an, sie tanzten und tranken zusammen, und da sie kaum je von Prostituierten hatte reden hören, kam sie gar nicht auf den Gedanken, sie könnten etwas Häßliches treiben. Die Möglichkeit, für Geld oder aus Sport zu tun, was sie mit Joaquín aus Liebe getan hatte, war jenseits ihrer Vorstellungen. Nach ihrer Berechnung würde ihr Onkel nicht vor dem kommenden Morgen zurück sein, deshalb erschrak sie fürchterlich, als im Erdgeschoß jemand sie im Dunkeln am Arm packte. Sie spürte die Wärme eines großen Körpers neben dem ihren, den Atem nach Alkohol und Tabak in ihrem Gesicht und erkannte sofort ihren Onkel. Sie versuchte sich loszumachen und bastelte hastig an einer Erklärung, was sie um diese Zeit im Nachthemd hier unten zu suchen haben könnte, aber der Kapitän zog sie unnachgiebig in die Bibliothek, die von dem spärlich durchs Fenster einfallenden Mondlicht nur schwach erhellt wurde. Er nötigte sie, sich in Jeremys englischen Ledersessel zu setzen, und suchte nach Wachshölzern, um die Lampe anzuzünden.

»Also, Eliza, jetzt wirst du mir erzählen, was zum Teufel mit dir los ist!« befahl er in einem Ton, den er ihr gegenüber bisher nie angeschlagen hatte.

In plötzlich aufblitzender Klarheit erkannte Eliza, daß der Kapitän nicht ihr Verbündeter sein würde, wie sie doch gehofft hatte. Die Duldsamkeit, deren er sich gern rühmte, würde in diesem Fall gewiß nicht bemüht werden: wenn es um den guten Namen der Familie ging, würde seine Loyalität den Geschwistern gehören. Stumm, trotzig hielt das Mädchen seinem Blick stand.

»Rose sagt, du hast dich in einen Schwachkopf mit kaputten Schuhen verliebt, stimmt das?«

»Ich habe ihn zweimal gesehen, Onkel John. Und das ist Monate her. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«

»Aber du hast ihn nicht vergessen, oder? Die erste Liebe ist wie die Pocken, sie hinterläßt unauslöschliche Narben. Hast du ihn allein getroffen?«

»Nein.«

»Ich glaube dir nicht. Denkst du, ich bin blöde? Jeder kann sehen, wie sehr du dich verändert hast, Eliza.«

»Ich bin krank, Onkel. Ich habe unreifes Obst gegessen, und jetzt habe ich Bauchschmerzen, das ist alles. Ich wollte eben gerade aufs Klosett gehen.«

»Du hast Augen wie eine läufige Hündin!«

»Warum beleidigst du mich, Onkel!«

»Entschuldige, Kind. Siehst du nicht, daß ich dich sehr liebhabe und mir Sorgen mache? Ich kann nicht zulassen, daß du dir dein Leben ruinierst. Rose und ich haben einen großartigen Plan … Würdest du gern nach England gehen? Ich kann alles regeln, daß ihr beide euch in einem Monat einschifft, da habt ihr noch genug Zeit, alles zu kaufen, was ihr für die Reise braucht.«

»England?«

»Ihr werdet erster Klasse reisen wie Königinnen, und in London werdet ihr in einer bezaubernden Pension wohnen nur wenige Straßen vom Buckingham Palace entfernt.«

Eliza begriff, daß die Geschwister bereits über ihr Schicksal entschieden hatten. Das war nun allerdings das letzte, was sie wollte — nach Osten statt nach Norden zu reisen und so zwei Ozeane zwischen sich und Joaquín zu legen.

»Danke, Onkel. Es würde mich glücklich machen, England kennenzulernen«, sagte sie mit so viel Süßigkeit in der Stimme, wie sie nur aufbringen konnte.

Der Kapitän zündete seine Pfeife an und schenkte sich einen Brandy nach dem andern ein, während er die beiden folgenden Stunden damit verbrachte, ihr die Vorteile des Lebens in London aufzuzählen, wo eine junge Dame wie sie in der besten Gesellschaft verkehren, Bälle, Theater und Konzerte besuchen, die hübschesten Kleider kaufen und eine gute Ehe eingehen konnte. Sie war doch schon im passenden Alter dafür. Würde sie nicht auch gern nach Paris oder nach Italien fahren? Niemand dürfe sterben, ohne Venedig oder Florenz gesehen zu haben. Er werde es gern auf sich nehmen, ihr bei allen Einfällen entgegenzukommen, hatte er das nicht immer getan? Die Welt war voll von feschen, interessanten und wohlsituierten Männern, das würde sie selbst feststellen können, wenn sie sich erst einmal aus dieser Gruft, diesem gottvergessenen Hafen gelöst hatte. Valparaíso war kein Ort für ein so hübsches und guterzogenes junges Mädchen wie sie. Es war nicht ihre Schuld, wenn sie sich in den erstbesten verliebt hatte, der ihr über den Weg lief, so eingeschlossen, wie sie lebte … Und was diesen Burschen anging — wie hieß er doch noch, ein Angestellter von Jeremy, nicht wahr? —, den würde sie bald vergessen haben. Die Liebe, versicherte er ihr, stirbt unausweichlich an ihrem eigenen Feuer oder weil die Entfernung ihr die Wurzeln ausreißt. Niemand könne sie besser beraten als er, leider, der er ein Experte in Sachen Entfernung und zu Asche gewordener Liebe sei.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Onkel. Miss Rose hat sich da eine romantische Geschichte ausgedacht, nur wegen ein bißchen Orangensaft. Da kam ein Bursche, um Frachtstücke abzuliefern, ich bot ihm ein Glas zur Erfrischung an, er trank es aus, und dann ging er. Das ist alles. Es ist nichts passiert, und ich habe ihn nicht wiedergesehen.«

»Wenn es so ist, wie du sagst, hast du Glück: dann brauchst du dir diese Phantasterei erst gar nicht aus dem Kopf zu schlagen.«

John Sommers trank Brandy und redete bis zum Morgengrauen, während Eliza sich im Ledersessel zusammenkauerte, und bevor sie sich dem Schlaf überließ, dachte sie noch, ihre Bitten seien letztlich doch im Himmel erhört worden. Es war kein Erdbeben zur rechten Zeit gewesen, das sie vor Mama Fresias gräßlichem Mittel gerettet hatte, sondern ihr Onkel. In der Hütte im Patio wartete die India die ganze Nacht.

Der Abschied

Am Sonnabendnachmittag lud John Sommers seine Schwester ein, mit ihm das Schiff der Rodríguez de Santa Cruz anzusehen. Wenn mit den Geschäften in diesen Tagen alles gutging, würde er Kapitän darauf werden und sich endlich seinen Traum erfüllen, einen Dampfer zu führen. Später empfing Paulina sie beide im Salon des Hotel Inglés, wo sie abgestiegen war. Sie war aus dem Norden des Landes herabgekommen, um ihren Plan in Gang zu bringen; ihr Mann war schon seit mehreren Monaten in Kalifornien. Sie nutzten den ununterbrochenen Schiffsverkehr hin und zurück, um sich einander mitzuteilen in einem lebhaften Briefwechsel, in dem die Erklärungen ehelicher Zuneigung verflochten waren mit geschäftlichen Plänen. Paulina hatte John Sommers aus reiner Intuition ausgewählt und in ihr Unternehmen eingebaut. Sie erinnerte sich dunkel, daß er der Bruder von Jeremy und Rose Sommers war, zwei Gringos, die ihr Vater einige Male auf seine Hazienda eingeladen hatte, aber ihn hatte sie nur ein einziges Mal gesehen und kaum mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihm gewechselt. Seine einzige Empfehlung war die gemeinsame Freundschaft mit Jacob Todd gewesen, aber in den letzten Wochen hatte sie sich seinetwegen umgehört und war sehr zufrieden mit dem, was sie erfahren hatte. Der Kapitän genoß einen soliden Ruf unter den Seeleuten wie in Geschäftskreisen. Sie konnte auf seine Erfahrung und auf sein Wort vertrauen, und das ging weit über das Übliche hinaus in diesen Tagen des kollektiven Wahnsinns, in denen jeder ein Schiff mieten, einen Trupp Abenteurer zusammenstellen und lossegeln konnte. Im allgemeinen waren das ahnungslose Tröpfe, und die Schiffe fielen schon halb auseinander, aber das war nicht weiter wichtig, denn sowie sie in Kalifornien ankamen, zerbrachen diese Zweckbündnisse auf Zeit, die Schiffe wurden aufgegeben, und alle rannten davon zu den Goldlagerstätten. Paulinas Vision jedoch umfaßte größere Zeiträume. Zum ersten war sie nicht gezwungen, Forderungen von Fremden zu beachten, denn ihre einzigen Partner waren ihr Mann und ihr Schwager, zudem gehörte ihr der größte Teil des Kapitals, weshalb sie ihre Entschlüsse völlig frei fassen konnte. Ihr Dampfschiff, das sie »Fortuna« getauft hatte, war zwar eher klein und dampfte schon ein paar Jährchen übers Meer, befand sich aber in tadellosem Zustand. Sie war bereit, die Mannschaft gut zu bezahlen, damit sie wegen des glitzernden Goldes nicht desertierte, aber sie vermutete, daß ohne die eiserne Hand eines guten Kapitäns keine Heuer der Welt imstande sein würde, die Disziplin an Bord aufrechtzuerhalten. Der Plan ihres Mannes und ihres Schwagers bestand darin, Bergbauwerkzeuge, Holz für Unterkünfte, Arbeitskleidung, Haushaltsgeräte, Dörrfleisch, Getreide, Bohnen und andere nicht verderbliche Lebensmittel nach Kalifornien zu exportieren, aber kaum hatte sie in Valparaíso den Fuß auf den Boden gesetzt, begriff sie, daß vielen der gleiche Gedanke gekommen war und die Konkurrenz scharf sein würde. Sie blickte sich um und sah das unbändige Überquellen von Gemüsen und Früchten allüberall, das dieser großzügige Sommer beschert hatte. Es gab so viel von allem, daß es nicht verkauft werden konnte. Das Grünzeug wucherte in den Patios, und die Bäume drohten unter der Last der Früchte zu brechen; nur wenige Leute waren bereit, für etwas zu bezahlen, das sie umsonst bekommen konnten. Sie dachte an das Gut ihres Vaters, wo die Feldfrüchte im Boden verfaulten, weil keinem daran gelegen war, sie zu ernten. Man könnte sie nach Kalifornien schaffen, sie wären wertvoller als selbst das Gold, überlegte sie. Frische Lebensmittel, chilenischer Wein, Medikamente, Eier, gute Kleidung, Musikinstrumente und — warum nicht — Theateraufführungen, Operetten, Zarzuelas. San Francisco nahm täglich Hunderte Einwanderer auf. Gegenwärtig waren das Abenteurer und Banditen, aber sicherlich würden von der anderen Seite der Vereinigten Staaten auch Siedler kommen, ehrbare Farmer, Anwälte, Ärzte, Lehrer und alle möglichen anständigen Menschen, die bereit waren, sich mit ihren Familien hier niederzulassen. Wo Frauen sind, ist Zivilisation, und wenn die in San Francisco beginnt, wird mein Dampfer zur Stelle sein mit allem, was nötig ist, beschloß sie.

Paulina empfing den Kapitän John Sommers und seine Schwester Rose zur Teestunde, als sich die Mittagshitze schon etwas gelegt hatte und eine frische Brise vom Meer wehte. Für die nüchterne Gesellschaft Valparaísos war sie mit äußerstem Luxus gekleidet, von Kopf bis Fuß in butterfarbenen Musselin mit Spitzen, eine kunstvolle Kräuselfrisur über den Ohren und mehr Geschmeide, als um diese Tageszeit vertretbar. Ihr zweijähriger Sohn strampelte auf dem Arm eines Kindermädchens in Schwesterntracht, und ein wolliges Hündchen zu ihren Füßen wurde von ihr mit Kuchenbrocken gefüttert. Die erste halbe Stunde verging mit höflichen Präliminarien, mit Teetrinken und Erinnerungen an Jacob Todd.

»Was ist aus unserem guten Freund geworden?« wollte Paulina wissen, die niemals das Eingreifen des wunderlichen Engländers in ihre Liebesgeschichte mit Feliciano vergessen würde.

»Ich habe eine ganze Zeit nichts von ihm gehört«, erklärte der Kapitän. »Vor ein paar Jahren ist er mit mir nach England abgereist. Er war sehr niedergeschlagen, aber die Seeluft tat ihm gut, und als wir in London ankamen, hatte er seine gute Laune wiedergefunden. Als letzte Neuigkeit erfuhr ich, daß er vorhatte, eine utopische Kolonie zu gründen.«

»Eine was?« riefen Paulina und Miss Rose einstimmig aus.

»Eine Gruppe, um außerhalb der Gesellschaft zu leben, mit eigenen Gesetzen und mit eigener Regierung, geleitet von den Prinzipien der Gleichheit, der freien Liebe und gemeinnütziger Arbeit, glaube ich. Jedenfalls hat er es mir während der Fahrt tausendmal so erklärt.«

»Er ist noch verrückter, als wir alle dachten«, stellte Miss Rose fest mit ein wenig Bedauern um ihren treuen Verehrer.

»Leute mit originellen Ideen geraten letztlich immer in den Ruf, verrückt zu sein«, bemerkte Paulina. »Da brauchen wir gar nicht weit zu gehen. Ich zum Beispiel habe eine Idee, über die ich gern mit Ihnen reden würde, Kapitän Sommers. Sie haben ja die ›Fortuna‹ schon kennengelernt. Wie lange würde sie mit Volldampf von Valparaíso bis zum Golfo de Penas brauchen?«

»Golfo de Penas? Das ist ja der südlichste Süden!«

»Sicher. Noch südlicher als Puerto Aisén.«

»Und was wollen Sie da? Da gibt’s nur Inseln, Wald und Regen, Señora.«

»Kennen Sie sich in der Gegend aus?«

»Schon, aber ich dachte, es sollte nach San Francisco gehen …«

»Probieren Sie diese Blätterteigküchlein, sie sind köstlich«, sagte sie und streichelte ihren Hund.

___________

Während John und Rose Sommers sich im Salon des Hotel Inglés mit Paulina unterhielten, ging Eliza mit Mama Fresia durch das Vergnügungsviertel El Almendral. Um diese Stunde lud die Tanzschule Schüler und Gäste zum Tanztee ein, und Miss Rose hatte ihr ausnahmsweise gestattet, mit ihrer Kinderfrau als Schutz und Schirm für ein paar Stunden daran teilzunehmen. Gewöhnlich begleitete sie das Mädchen selbst, aber der Tanzlehrer bot alkoholische Getränke erst nach Sonnenuntergang an, das hielt in den Nachmittagsstunden allzu draufgängerische Jugendliche fern. Eliza war entschlossen, diese einzige Gelegenheit, bei der sie ohne Miss Rose auf die Straße durfte, zu nutzen, und überredete die India, ihr bei ihren Plänen zu helfen.

»Gib mir deinen Segen, Mamita. Ich muß nach Kalifornien, Joaquín suchen«, bat sie.

»Aber wie willst du da hinkommen, allein und schwanger noch dazu!« rief Mama Fresia entsetzt aus.

»Wenn du mir nicht hilfst, mache ich es trotzdem.«

»Ich werde alles Miss Rose sagen!«

»Wenn du das tust, bringe ich mich um. Und danach werde ich jede Nacht deines Lebens kommen und dich bestrafen. Das schwöre ich dir!« erwiderte das Mädchen mit wütender Bestimmtheit.

Am Tag davor, als sie Onkel John abholten, hatte sie am Hafen eine Gruppe Frauen gesehen, die offenbar verhandelten und sich einschiffen wollten. Weil sie so ganz anders aussahen als die Frauen, die man gewöhnlich auf der Straße traf und die sommers wie winters in schwarze Umhänge gehüllt waren, hatte sie angenommen, das seien die gleichen Herumtreiberinnen, mit denen Onkel John sich zu amüsieren pflegte. »Das sind schlechte Weiber, sie legen sich für Geld hin und werden alle in die Hölle kommen«, hatte Mama Fresia ihr einmal erklärt. Sie hatte ein paar Sätze des Kapitäns aufgeschnappt, als er Jeremy von den Chileninnen und Peruanerinnen erzählte, die sich nach Kalifornien aufmachten, um den Goldgräbern das Gold abzuknöpfen, aber sie konnte sich nicht denken, wie sie das wohl anstellten. Wenn diese Frauen es schafften, ganz allein die Fahrt zu machen und ohne Hilfe zu überleben, dann konnte sie das auch, entschied sie. Jetzt ging sie rasch, mit wild pochendem Herzen, vor Mama Fresia her, das Gesicht halb hinter dem Fächer verborgen, schwitzend in der Sommerhitze.

Die Juwelen aus der Aussteuer trug sie in einem kleinen Samtbeutel bei sich. Ihre neuen Schuhe bereiteten ihr wahre Qualen, und das Korsett preßte ihr die Taille zusammen; der Gestank aus den offenen Abflußgräben, die die Abwässer der Stadt aufnahmen, verschlimmerte ihre Übelkeit, aber sie ging so gerade, wie sie es gelernt hatte in den Jahren, als sie ein Buch auf dem Kopf balancierte und mit einem am Rücken befestigten Eisenstab Klavier spielte. Mama Fresia, keuchend und Bittgebete in ihrer Sprache wimmernd, konnte ihr kaum folgen mit ihren Krampfadern und ihrer Beleibtheit. »Wohin gehen wir, Kind, um Gottes willen«, aber Eliza konnte nicht antworten, weil sie es selbst nicht wußte. Nur eines war ihr ganz klar: Es kam nicht in Frage, ihre Juwelen zu verpfänden und eine Fahrt nach Kalifornien zu bezahlen, weil es keine Möglichkeit gab, es zu tun, ohne daß Onkel John es erfuhr. Obwohl täglich Dutzende von Schiffen Valparaíso anliefen, war es doch eine kleine Stadt, und im Hafen kannte jeder den Kapitän John Sommers. Sie konnte auch keinesfalls damit rechnen, einen Paß zu bekommen, denn dieser Tage war das Konsulat der Vereinigten Staaten in Chile wegen eines Falles von unschicklicher Liebe des nordamerikanischen Diplomaten mit einer chilenischen Dame geschlossen worden. Eliza kam zu dem Schluß, die einzige Form, Joaquín Andieta nach Kalifornien zu folgen, wäre, als blinder Passagier zu reisen. Onkel John hatte ihr erzählt, daß sich manchmal Fremde mit Hilfe eines Eingeweihten aus der Mannschaft heimlich an Bord schlichen. Vielleicht gelang es einigen, die ganze Fahrt hindurch unentdeckt zu bleiben, andere starben, und ihre Leichen wurden ins Meer geworfen, ohne daß er etwas erfuhr, aber wenn er einen blinden Passagier entdeckte, strafte er ihn genauso wie die, die ihm geholfen hatten. Dies war einer der Fälle, hatte er gesagt, in denen er mit äußerster Strenge seine unanfechtbare Autorität als Kapitän ausübte: auf hoher See galten kein Gesetz und kein Gericht außer dem seinen.

Die meisten illegalen Geschäfte im Hafen wurden, wie ihr Onkel sagte, in den Kneipen abgeschlossen. Eliza hatte noch nie einen derartigen Ort betreten, aber nun sah sie eine Frau in ein nahes Lokal gehen und erkannte sie als eine derjenigen wieder, die sich am Tag zuvor auf dem Kai nach Fahrtmöglichkeiten umgetan hatten. Sie war fast noch ein Mädchen, jung und rundlich, der das schwarze Haar in zwei Zöpfen auf dem Rücken hing, sie trug einen Baumwollrock, eine bestickte Bluse und ein kleines Dreieckstuch über den Schultern. Eliza folgte ihr, ohne nachzudenken, während Mama Fresia auf der Straße stehenblieb und Warnungen herunterbetete: »Hier gehen nur Huren rein, Kind, es ist Todsünde!« Sie stieß die Tür auf und brauchte einige Sekunden, um sich an die Dunkelheit und den Tabakqualm und den Geruch von verschüttetem Bier zu gewöhnen. Der Raum war gestopft voll von Männern, und aller Augen wandten sich den beiden Frauen zu. Einen Augenblick herrschte erwartungsvolle Stille, und dann setzte ein Chor von Pfiffen und anzüglichen Zurufen ein. Die andere Frau ging mit festem Schritt und offensichtlich gegen derlei abgehärtet zu einem Tisch im Hintergrund, wobei sie rechts und links kräftig zuschlug, wenn jemand sie anfassen wollte, aber Eliza wich entsetzt zurück, ohne zu begreifen, was eigentlich vor sich ging und weshalb diese Männer sie anschrien. Rücklings stieß sie mit einem eben eingetretenen Mann zusammen. Er rief etwas in einer fremden Sprache und konnte sie gerade noch auffangen, als sie auf dem rutschigen Boden ausglitt. Ihre Erscheinung verblüffte ihn: Eliza in ihrem mädchenhaften Kleid und mit dem Fächer in der Hand war hier völlig fehl am Platze. Sie sah ihn an und erkannte sofort den chinesischen Koch, den am Tag zuvor ihr Onkel ihnen vorgestellt hatte.

»Tao Chi’en?« fragte sie, dankbar für ihr gutes Gedächtnis.

Der Mann begrüßte sie, indem er die Hände vor dem Gesicht zusammenlegte und sich mehrmals verneigte, während in der Kneipe das Gepfeife weiterging. Zwei Matrosen standen auf und näherten sich schwankend. Tao Chi’en wies auf die Tür, und Eliza und er gingen hinaus.

»Miss Sommers?« fragte er draußen.

Eliza bejahte, aber weiter kam sie nicht, weil sie von den beiden Matrosen unterbrochen wurde, die jetzt in der Tür auftauchten, ganz augenscheinlich betrunken und auf Streit aus.

»Wie kannst du dich unterstehen, diese schnuckelige Señorita zu belästigen, Scheißchinese?« fragte der eine drohend.

Tao Chi’en beugte den Kopf, wandte sich um und schien gehen zu wollen, aber einer der beiden fing ihn beim Zopf und zerrte daran, während der andere schmierige Komplimente brabbelte und Eliza dabei seinen ekligen Bieratem ins Gesicht blies. Der Chinese drehte sich mit katzenhafter Schnelligkeit zu dem Angreifer um. Er hielt ein enormes Messer in der Hand, und die Klinge funkelte wie ein Spiegel in der Nachmittagssonne. Mama Fresia stieß einen Schrei aus, und ohne weiter nachzudenken, verpaßte sie dem Matrosen, der ihr am nächsten stand, einen Hieb so wuchtig wie ein Pferdetritt, griff Eliza beim Arm und setzte sich in Trab die Straße hinunter, und das mit einer Behendigkeit, wie man sie bei jemandem von ihrem Gewicht nie vermutet hätte. Sie rannten mehrere Häuserblocks weit, bis sie das Rotlichtviertel hinter sich hatten und auf dem kleinen San-Agustín-Platz ankamen, wo Mama Fresia zitternd auf die erste erreichbare Bank sank.

»O Kind! Wenn das die Herrschaften erfahren, bringen sie mich um! Komm, wir gehen jetzt sofort nach Haus«

»Ich habe noch nicht getan, was ich tun wollte, Mamita. Ich muß wieder zurück in diese Kneipe.«

Mama Fresia kreuzte die Arme vor der Brust und weigerte sich mit eiserner Stirn, sich von hier fortzurühren, während Eliza mit großen Schritten auf und ab marschierte und sich bemühte, in ihrer Verwirrung einen Plan zu fassen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Miss Roses Anweisungen waren ganz klar gewesen: Punkt sechs würde die Kutsche sie vor der Tanzschule aufnehmen und nach Hause bringen. Sie mußte sofort handeln, entschied sie, eine andere Gelegenheit würde sich nicht bieten. Und da erblickte sie den Chinesen, der mit seinem schaukelnden Schritt und dem unerschütterlichen Lächeln gelassen auf sie zukam. Er wiederholte die schon vertrauten Verneigungen zur Begrüßung und wandte sich dann an Eliza, um sie in gutem Englisch zu fragen, ob die ehrenwerte Tochter des Kapitäns John Sommers Hilfe brauche. Sie erklärte, daß sie nicht seine Tochter, sondern seine Nichte sei, und in plötzlich gefaßtem Vertrauen — und auch aus Verzweiflung — gestand sie ihm, daß sie tatsächlich seine Hilfe brauche, aber es sei eine sehr persönliche Angelegenheit.

»Etwas, was der Kapitän nicht wissen darf?«

»Niemand darf es wissen.«

Tao Chi’en bat um Verzeihung. Der Kapitän sei ein guter Mann, sagte er, gewiß, er habe ihn auf unfeine Art entführt, um ihn auf sein Schiff zu holen, das schon, aber er habe sich immer freundlich gegen ihn gezeigt und er, Tao Chi’en, denke nicht daran, ihn zu betrügen. Mutlos ließ Eliza sich auf die Bank sinken und verbarg das Gesicht in den Händen, während Mama Fresia sie beide beobachtete, zwar ohne ein Wort Englisch zu verstehen, aber sie erriet, worum es ging. Schließlich rückte sie an Eliza heran und zupfte ein paarmal an dem Samtbeutel mit den Juwelen.

»Glaubst du, daß auf dieser Welt irgend jemand etwas umsonst tut, Kind?« sagte sie.

Eliza begriff sofort. Sie trocknete sich die Tränen ab und lud den Mann mit einem Wink zur Bank ein, sich neben sie zu setzen. Sie griff in den Beutel, holte die Perlenkette heraus, die Onkel John ihr am Tag zuvor geschenkt hatte, und legte sie Tao Chi’en auf die Knie.

»Können Sie mich auf einem Schiff verstecken? Ich muß nach Kalifornien«, erklärte sie.

»Warum? Das ist kein Ort für Frauen, nur für Banditen.«

»Was ich suche, ist dort.«

»Gold?«

»Kostbarer als Gold.«

Tao Chi’en saß mit offenem Mund — eine Frau, die imstande war, derart bis zum Äußersten zu gehen, hatte er noch nie gesehen, nicht im wirklichen Leben, so etwas kannte er nur aus Romanen, wo die Heldinnen zum Schluß immer sterben.

»Mit dieser Kette können Sie sich eine Passage kaufen. Sie brauchen nicht im Versteck zu reisen«, sagte Tao Chi’en, der nicht daran dachte, sein Leben durcheinanderzubringen, indem er gegen das Gesetz verstieß.

»Kein Kapitän wird mich mitnehmen, ohne vorher meine Familie zu benachrichtigen.«

Tao Chi’ens anfängliche Verwunderung verwandelte sich in schieres Entsetzen: diese Frau hatte nichts weniger vor, als ihre Familie zu entehren, und hoffte, er werde ihr dabei helfen! Ihr war ein Dämon in den Leib gefahren, ohne jeden Zweifel. Eliza griff abermals in den Beutel, holte eine goldene, mit Türkisen besetzte Brosche heraus und legte sie dem Mann zu der Kette auf die Knie.

»Haben Sie jemals einen Menschen mehr geliebt als Ihr eigenes Leben, Mister?« fragte sie.

Tao Chi’en sah ihr zum erstenmal, seit sie sich kannten, in die Augen, und er muß wohl etwas darin gelesen haben, denn er nahm die Kette und versteckte sie unter seinem Hemd, die Brosche gab er ihr zurück. Er stand auf, rückte die Baumwollhose und das lange Messer in der Leibbinde zurecht und verneigte sich förmlich.

»Ich arbeite nicht mehr für Kapitän Sommers. Übermorgen läuft die Brigg ‘Emilia’ nach Kalifornien aus. Kommen Sie morgen abend um zehn Uhr, und ich bringe Sie an Bord.«

»Und wie?«

»Das weiß ich noch nicht. Wir werden sehen.«

Tao Chi’en verneigte sich noch einmal höflich zum Abschied und ging so geheimnisvoll schnell davon, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Eliza und Mama Fresia eilten zur Tanzschule, wo sie den Kutscher gerade noch rechtzeitig antrafen, der seit einer halben Stunde auf sie wartete und sich mit häufigen Zügen aus seiner Flasche die Zeit vertrieb.

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Die »Emilia« war ein Schiff französischer Herkunft, das einst schlank und flink gewesen war, aber sie hatte viele Meere durchpflügt und schon vor Ewigkeiten das Ungestüm der Jugend eingebüßt. Sie war narbenübersät, trug eine Last Mollusken inkrustiert an ihren Matronenhüften, ihre erschöpften Gelenke ächzten unter den Schlägen der Wellen, und ihr Segelwerk, fleckig und tausendmal ausgebessert, sah aus wie das Gespenst eines alten Unterrocks. Sie verließ Valparaíso am 18. Februar 1849, einem strahlend schönen Morgen, mit siebenundachtzig männlichen Passagieren, fünf Frauen, sechs Kühen, acht Schweinen, drei Katzen, achtzehn Matrosen, einem holländischen Kapitän, einem chilenischen Steuermann und einem chinesischen Koch an Bord. Auch Eliza fuhr mit, aber der einzige Mensch, der davon wußte, war Tao Chi’en.

Die besseren Passagiere drängten sich in den Kabinen des Vorschiffs zusammen, aber sie hatten es doch wesentlich bequemer als die übrigen Reisenden, die in winzigkleinen Kajüten mit jeweils vier Kojen untergebracht waren oder einfach auf dem Boden der Decks lagerten, nachdem sie um den besten Platz für ihre Bündel gewürfelt hatten. Eine Kabine unter der Wasserlinie war den fünf Chileninnen zugewiesen worden, die in Kalifornien ihr Glück versuchen wollten.

Im Hafen von Callao würden zwei Peruanerinnen zusteigen, die sich mit ihnen ohne große Umstände jeweils zu zweit eine Koje teilen würden. Kapitän Vincent Katz trichterte der Mannschaft wie den männlichen Reisenden ein, sie dürften nicht den geringsten Umgang mit den Damen haben, denn er war nicht bereit, unanständigen Verkehr auf seinem Schiff zu dulden, und in seinen Augen war es offensichtlich, daß diese Passagierinnen nicht zu den tugendhaftesten gehörten, aber natürlich wurden seine Befehle während der Fahrt ein übers andere Mal mißachtet. Die Männer verlangte es nach weiblicher Gesellschaft, und die Frauen, bescheidene Prostituierte, die sich ins Abenteuer stürzen wollten, hatten keinen Peso in der Tasche. Die Kühe und Schweine, in kleinen Gehegen auf dem zweiten Deck fest vertäut, mußten frische Milch und ab und an Fleisch für die Seefahrenden liefern, deren tägliche Nahrung hauptsächlich aus Bohnen, trockenem, schwarzem Schiffszwieback, gesalzenem Dörrfleisch und dem bestehen würde, was sie fischen konnten. Um solchem Mangel abzuhelfen, brachten die bessergestellten Passagiere ihren eigenen Proviant mit, vor allem Wein und Tabak, aber die meisten litten Hunger. Zwei der Katzen liefen frei herum, um die Ratten im Zaum zu halten, die sich sonst in der zwei Monate währenden Fahrt gewaltig vermehren würden. Die dritte Katze reiste mit Eliza.

Im Bauch der »Emilia« stapelte sich das vielfältige Gepäck der Reisenden und die für den Handel in Kalifornien bestimmte Fracht, alles so aufgebaut und geordnet, daß der enge Raum am besten genutzt werden konnte. Nichts von alldem wurde vor der Ankunft am Zielort angerührt, und niemand kam hier herunter außer dem Koch, der als einziger mit Genehmigung von oben Zugang zu den streng rationierten Trockenlebensmitteln hatte. Tao Chi’en trug die sorgsam gehüteten Schlüssel am Gürtel und war dem Kapitän persönlich für den Inhalt der Vorratsräume verantwortlich. Dort, im tiefsten, dunkelsten Winkel des Kielraums, in einem Loch von zwei mal zwei Metern, hauste Eliza. Die Wände und die Decke wurden von Koffern und Kisten gebildet, ihr Bett war ein Sack, und nur eine Kerze spendete ihr Licht. Sie verfügte über einen Napf für das Essen, einen Wasserkrug und einen Nachttopf. Sie konnte ein paar Schritte gehen, sich zwischen den Gepäckwänden strecken und konnte weinen und schreien, soviel sie mochte, denn der Schlag der Wellen gegen das Schiff verschluckte ihre Stimme. Ihre einzige Berührung mit der Außenwelt war Tao Chi’en, der unter allen möglichen Vorwänden zu ihr herunterkam, wenn er irgend konnte, um ihr Essen zu bringen und den Nachttopf zu leeren. Gesellschaft leistete ihr nur eine Katze, die hier eingeschlossen war, um die Ratten zu fangen, aber in den schrecklichen langen Wochen auf engem, schwankendem Raum wurde das arme Tier verrückt, und schließlich mußte Tao Chi’en ihm aus Mitleid mit seinem Messer die Kehle durchschneiden.

Eliza gelangte auf das Schiff in einem Sack auf dem Rücken eines Stauers, eines der vielen, die im Hafen von Valparaíso Fracht und Gepäck schleppten. Sie erfuhr nie, wie Tao Chi’en es angestellt hatte, sich den Mann zum Komplizen zu machen sowie die Wachsamkeit des Kapitäns und des Steuermanns zu täuschen, die beide an der Gangway standen und in einem Buch alles notierten, was an Bord kam. Sie war wenige Stunden zuvor entwischt mit Hilfe einer komplizierten List, die das Fälschen einer schriftlichen Einladung der Familie del Valle einschloß, sie für einige Tage auf ihrer Hazienda zu besuchen. Das war keine abwegige Idee, schon mehrmals zuvor hatten die Töchter von Agustín del Valle sie aufs Land eingeladen, und Miss Rose hatte ihr erlaubt zu gehen, aber immer in Begleitung von Mama Fresia. Sie verabschiedete sich von Jeremy, Miss Rose und Onkel John mit gespielter Fröhlichkeit, aber in ihrer Brust lastete ein Felsblock. Sie sah sie am Frühstückstisch sitzen, sie lasen englische Zeitungen und waren gänzlich ahnungslos, und eine peinigende Unschlüssigkeit überkam sie und drohte sie von ihrem Plan abzubringen. Dies war ihre einzige Familie, diese drei verkörperten Sicherheit und Wohlergehen, aber sie hatte die Linie des Anstands überschritten, und es gab kein Zurück. Die Sommers hatten sie nach den strikten Regeln guten Betragens erzogen, und ein Fehltritt wie der ihre beschmutzte ihrer aller Ansehen. Mit ihrer Flucht bekam der Ruf der Familie zwar auch Flecke, aber zumindest würde es den Zweifel geben: sie konnten immer noch sagen, sie sei gestorben. Welche Erklärung auch immer sie vor der Welt abgaben, sie würde nicht dasein, um sie unter der Schande leiden zu sehen. Auf eine Irrfahrt zu gehen, um ihren Geliebten zu suchen, schien ihr immer noch der einzig mögliche Weg, aber im Augenblick des schweigenden Abschieds stieg so viel Traurigkeit in ihr auf, daß sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre und alles gestanden hätte. Da überfiel sie das Gesicht Joaquíns in der Nacht seines Abschieds mit grausamer Klarheit und erinnerte sie an ihre Liebespflicht. Sie ordnete ein paar lose Haarsträhnen, setzte den italienischen Strohhut auf, sagte mit einem leichten Winken Lebwohl und ging.

Sie trug den Koffer, den Miss Rose mit ihren besten Sommerkleidern gepackt hatte, außerdem nahm sie ihre Juwelen mit und einige aus Jeremys Zimmer stibitzte Reales. Sie war versucht gewesen, sich auch Miss Roses Schmuck anzueignen, aber im letzten Augenblick siegte die Achtung vor dieser Frau, die ihr immer eine Mutter gewesen war. In ihrem eigenen Zimmer hinterließ sie in der leeren Schatulle ein kurzes Briefchen, in dem sie für alles dankte, was sie empfangen hatte, und mehrmals wiederholte, wie sehr sie sie alle liebte. Sie gestand, was sie an sich genommen hatte, um die Dienstboten vor Verdacht zu schützen. Mama Fresia hatte ihr noch ihre haltbarsten Stiefel in den Koffer gepackt, ebenso ihre Hefte und das Bündel Liebesbriefe von Joaquín. Außerdem nahm sie eine schwere Decke aus spanischer Wolle mit, die Onkel John ihr geschenkt hatte. Sie verließen das Haus, ohne Argwohn zu erregen. Der Kutscher setzte sie in der Straße ab, in der die Familie del Valle lebte, wartete aber nicht, bis ihnen die Tür geöffnet wurde, sondern fuhr davon. Mama Fresia und Eliza machten sich auf zum Hafen, um sich mit Tao Chi’en zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort zu treffen.

Der Chinese erwartete sie. Er nahm Mama Fresia den Koffer aus der Hand und bedeutete Eliza, ihm zu folgen. Das Mädchen und ihre Kinderfrau umarmten sich lange. Sie wußten mit Sicherheit, daß sie sich nie Wiedersehen würden, aber keine der beiden vergoß eine Träne.

»Was wirst du Miss Rose sagen, Mamita?«

»Nichts. Ich gehe auf der Stelle zu meinen Leuten im Süden, wo mich nie jemand finden wird.«

»Danke, Mamita. Ich werde mich immer an dich erinnern …«

»Und ich werde für dich beten, daß es dir wohl ergehen wird, meine Kleine«, war das letzte, was sie von Mama Fresia hörte, bevor sie hinter dem chinesischen Koch eine Fischerhütte betrat.

In dem dunklen, fensterlosen Raum, der nach nassen Netzen roch und nur durch die Tür Luft bekam, reichte Tao Chi’en ihr eine Hose und einen sehr abgetragenen Kittel und bedeutete ihr, sie anzuziehen. Er machte keine Anstalten, anstandshalber hinauszugehen oder sich wenigstens umzudrehen. Eliza schwankte, sie hatte sich noch nie vor einem Mann außer Joaquín ausgezogen, aber Tao Chi’en bemerkte ihre Verwirrung gar nicht, der Körper und seine Funktionen waren für ihn etwas Natürliches, und Schamhaftigkeit betrachtete er eher als Hindernis denn als eine Tugend. Sie begriff, daß dies kein guter Augenblick für Skrupel war, das Schiff würde in Kürze auslaufen, und die letzten Boote brachten bereits das Gepäck der Nachzügler zum Schiff. Sie nahm ihr Strohhütchen ab, knöpfte ihre korduanledernen Stiefelchen und das Kleid auf, löste die Bänder des Unterrocks und bat den Chinesen, rot vor Scham, ihr beim Ablegen des Korsetts zu helfen. Während das Häufchen ihrer englischen Jungmädchenkleidung auf dem Fußboden wuchs, verlor sie nach und nach jede Verbindung zu der Wirklichkeit, wie sie sie kannte, und geriet unwiderruflich in die seltsame Eigenwelt, die in den folgenden Jahren ihr Leben sein würde. Sie hatte ganz deutlich das Empfinden, eine neue Geschichte zu beginnen, in der sie Hauptdarstellerin und Erzählerin zugleich war.

Vierter Sohn

Tao Chi’en hatte nicht immer diesen Namen geführt. Tatsächlich hatte er bis zu seinem elften Lebensjahr überhaupt keinen Namen gehabt, seine Eltern waren zu arm, um sich mit derartigen Kleinigkeiten abzugeben: er hieß einfach Vierter Sohn. Er war neun Jahre früher als Eliza geboren in einem Dorf der Provinz Kuangtung anderthalb Tage Fußmarsch von der Stadt Kanton entfernt. Er stammte aus einer Familie von Heilern. Unzählige Generationen hindurch gaben die Männer seiner Familie vom Vater auf den Sohn ihr Wissen weiter: die Kenntnis von heilkräftigen Pflanzen, die Kunst, schlechte Säfte aus dem Körper abzuziehen, den Zauber, Dämonen zu vertreiben, und die Fähigkeit, die Energie, das Qi, zu regulieren. In dem Jahr, in dem Vierter Sohn geboren wurde, lebte seine Familie im tiefsten Elend, sie hatten nach und nach all ihr Land an Geldverleiher und Falschspieler verloren. Die Beamten des Kaiserreiches trieben Steuern ein, behielten das Geld für sich und erlegten dann neue Abgaben auf, um ihren Raub zu decken, außerdem bezogen sie Bestechungsgelder für dies und das. Die Familie des Vierten Sohnes konnte sie, wie die meisten Bauern, nicht bezahlen und mußte ein weiteres Stückchen Ackerland abgeben. Wenn sie ein paar Münzen von ihren mageren Einkünften vor den Mandarinen retten konnten, verloren sie umgehend beim Spiel, einer der wenigen Zerstreuungen, die sich den Armen boten. Man konnte bei Kröten oder Heuschreckenrennen wetten, bei Kakerlakenkämpfen oder beim fan tan, dem Höhepunkt unter vielen anderen beliebten Spielen.

Vierter Sohn war ein fröhliches Kind, das über alles und nichts lachen konnte, aber er besaß auch eine beachtliche Auffassungsgabe und unerschöpfliche Wißbegierde. Mit sieben Jahren wußte er, daß die Begabung eines guten Heilers darin besteht, das Gleichgewicht zwischen dem Yin und dem Yang zu halten; mit neun kannte er die Eigenschaften der Pflanzen, die in der Gegend wuchsen, und konnte seinem Vater und den älteren Brüdern helfen bei der verwickelten Zubereitung der Pflaster, Salben, Toniken, Balsamen, Sirupe, Pulver und Pillen der bäuerlichen Arzneimittelkunde. Sein Vater und Erster Sohn wanderten von Dorf zu Dorf und boten Heilungen und Arzneien an, während Zweiter und Dritter Sohn ein kümmerliches Stück Land bearbeiteten, das einzige Kapital der Familie. Vierter Sohn hatte die Aufgabe, Pflanzen zu sammeln, und er tat es gern, denn es erlaubte ihm, ohne Aufsicht durch die Umgebung zu streifen, Spiele zu erfinden und die Stimmen der Vögel nachzuahmen. Manchmal begleitete ihn seine Mutter, wenn sie nach den nie enden wollenden häuslichen Mühen noch die Kraft dazu fand. Die Familie hatte, immer tiefer verschuldet, mit knapper Not überlebt bis zu dem Unglücksjahr 1834, als die schlimmsten Dämonen sich auf sie stürzten. Als erstes kippte ein Topf voll heißem Wasser seinen Inhalt auf die jüngste, knapp zweijährige Tochter und verbrühte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Sie strichen Eiweiß auf die Verbrennungen und behandelten sie mit den dafür geeigneten Kräutern, aber in weniger als drei Tagen war die Leidensfähigkeit des Kindes erschöpft, und es starb. Die Mutter erholte sich nicht von dem Schlag. Sie hatte schon andere Kinder früh verloren, und jeder Tod hinterließ eine Wunde in ihrem Herzen, aber der Unfall der Kleinen war wie der letzte Tropfen, der den Krug zum Überlaufen bringt. Sie begann zusehends zu verfallen, wurde täglich matter, die Haut färbte sich grünlich, die Beine trugen sie kaum mehr, und alle Tränke, die ihr Mann für sie bereitete, konnten die unerbittlich fortschreitende Krankheit nicht aufhalten, bis sie sie eines Morgens fanden, mit einem Lächeln der Erleichterung auf den Zügen und Augen voller Frieden, denn endlich würde sie sich mit ihren toten Kindern wieder vereinen. Die Trauerriten waren sehr einfach, da es sich um eine Frau handelte. Sie konnten keinen Mönch bezahlen und hatten auch keinen Reis, den sie den Verwandten und den Nachbarn während der Zeremonie hätten anbieten können, aber wenigstens vergewisserten sie sich, daß ihr Geist nicht in das Dach, den Brunnen oder die Rattenhöhlen geflohen war, woher er später kommen könnte, um sie heimzusuchen. Ohne die Mutter, die mit ihrer Kraft und ihrer Geduld die Familie zusammengehalten hatte, war dem Unheil nicht mehr zu wehren. Es war ein Jahr der Taifune, der Mißernten und der Hungersnot, weite Gebiete Chinas waren von Bettlern und von Banditen überzogen. Die letzte Tochter der Familie wurde mit sieben Jahren an einen Vermittler verkauft, und man hörte nie wieder von ihr. Erster Sohn, dazu bestimmt, den Vater in seinem Amt als Wanderheiler zu ersetzen, wurde von einem kranken Hund gebissen und starb wenig später, den Körper gespannt wie ein Bogen, während ihm Schaum aus dem Munde quoll. Zweiter und Dritter Sohn waren schon im arbeitsfähigen Alter, und ihnen fiel die Aufgabe zu, für den Vater im Leben zu sorgen und bei seinem Hinscheiden die Totenriten zu vollziehen und sein Andenken und das ihrer männlichen Ahnen durch fünf Generationen aufwärts zu ehren. Vierter Sohn war zu nichts besonders nütze, und da ohnedies nicht genug Nahrung da war, verkaufte ihn sein Vater als Diener für zehn Jahre an Händler, die mit ihrer Karawane in der Nähe des Dorfes gelagert hatten. Der Junge war elf Jahre alt.

Es war ein Aufbruch in die Sklaverei, aber für den Jungen würde es eine Schule werden, wie er sie zu Hause nie hätte besuchen können. Zwei Maultiere zogen einen Karren, der mit der schwersten Fracht der Karawane beladen war. Ein ohrenbetäubendes Kreischen begleitete jede Umdrehung der Räder, die absichtlich nicht geschmiert wurden, um die Dämonen abzuschrecken. Damit Vierter Sohn, der untröstlich weinte, seit er von Vater und Brüdern getrennt worden war, nicht ausreißen konnte, wurde er mit einem Seil an eines der Tiere gebunden. Barfuß und durstig, den Beutel mit seiner spärlichen Habe auf dem Rücken, sah er die Dächer seines Dorfes und die gewohnte Umgebung verschwinden. Das Leben in jener Hütte war das einzige, das er kannte, und es war nicht schlecht gewesen, seine Eltern waren sanft mit ihm umgegangen, seine Mutter hatte ihm Geschichten erzählt, und es hatte immer einen Vorwand gegeben, zu lachen und zu feiern, selbst in den Zeiten der größten Armut. Er trottete hinter dem Maultier her und war überzeugt, daß jeder Schritt ihn immer tiefer in das Gebiet der bösen Geister führte, und fürchtete, daß das Quietschen der Räder und die am Wagen hängenden Glöckchen nicht ausreichen würden, ihn zu beschützen. Er konnte den Dialekt der Händler kaum verstehen, aber ein paar aufgeschnappte Worte jagten ihm schreckliche Angst ein. Sie redeten über die vielen unzufriedenen Geister, die sich in der Gegend herumtrieben, verlorene Seelen von Toten, die keine angemessene Bestattung erhalten hatten. Hungersnot, Typhus und Cholera hatten das Land mit Leichen übersät, und die Lebenden reichten nicht aus, um all die vielen Verstorbenen zu ehren. Zum Glück standen die Geister und die Dämonen in dem Ruf, schwerfällig zu sein: sie schafften es nicht, um eine Ecke zu biegen, und sie ließen sich auch leicht mit angebotenen Speisen oder Geschenken aus Papier ablenken. Manchmal jedoch konnte nichts sie fernhalten, und sie nahmen Gestalt an, indem sie jemanden umbrachten, um so frei zu werden, oder sie drangen in die Körper von Fremden ein, um sie zu zwingen, unvorstellbare Greueltaten zu begehen. Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen; die Hitze und der Durst waren überwältigend, das Kind stolperte alle zwei Schritte, und seine neuen Herren trieben es ungeduldig, wenn auch ohne wirkliche Bosheit mit Rutenstreichen um die Beine an. Als die Sonne unterging, beschlossen sie, zu rasten und ein Lager aufzuschlagen, machten Feuer, bereiteten Tee und teilten sich in kleine Gruppen, um fan tan oder Mah-Jongg zu spielen. Endlich erinnerte sich einer an Vierten Sohn und reichte ihm einen Napf mit Reis und einen Becher Tee, über die er mit der in monatelangem Hungern gewachsenen Gier sofort herfiel. Plötzlich wurden sie von wüstem Geheul aufgeschreckt und sahen sich von einer Staubwolke umgeben. Das Gebrüll der Angreifer mischte sich mit dem der Händler, und der Junge kroch unter den Karren, so weit das Seil reichte, mit dem er angebunden war. Es war keine höllische Schar, wie man sehr schnell erkannte, sondern eine Bande von Wegelagerern, eine der vielen, die in diesen Zeiten so großer Verzweiflung die Straßen unsicher machten und die unfähigen kaiserlichen Soldaten verlachten. Kaum waren die Händler nach dem ersten Schreck wieder zu sich gekommen, griffen sie zu den Waffen und stellten sich den Räubern in einem Getöse von Schreien, Drohungen und Schüssen, das nur wenige Minuten dauerte. Als sich Rauch und Staub legten, war einer der Banditen geflohen, und die anderen beiden lagen schlimm verwundet auf der Erde. Sie rissen ihnen die Lappen vom Gesicht und sahen, daß es zwei Jugendliche waren, in Lumpen gehüllt und mit Knüppeln und primitiven Lanzen bewaffnet. Darauf köpften sie sie schleunigst, damit sie die Demütigung erfuhren, diese Welt in Stücken zu verlassen und nicht vollständig, wie sie gekommen waren, und steckten die Köpfe auf Pfähle zu beiden Seiten des Weges. Als sich die Gemüter beruhigt hatten, sahen sie, daß ein Mitglied der Karawane sich mit einer ziemlich schweren Lanzenwunde am Oberschenkel auf dem Boden wälzte. Vierter Sohn, der gelähmt vor Entsetzen unter dem Karren gelegen hatte, kam aus seinem Versteck hervorgekrochen und bat die ehrenwerten Kaufleute, den Verletzten behandeln zu dürfen, und da es sonst niemand gekonnt hätte, erlaubten sie es ihm. Er bat um Tee, um das Blut abzuwaschen, dann öffnete er seinen Beutel und zog eine Dose mit bai yao heraus. Diese weiße Paste strich er auf die Wunde, verband das Bein so fest es ging und verkündete ohne zu zögern, daß die Wunde sich in weniger als drei Tagen geschlossen haben werde. Und so geschah es. Dieser Zwischenfall rettete ihn davor, die nächsten zehn Jahre als Sklave zu arbeiten und schlimmer als ein Hund behandelt zu werden, denn seiner Geschicklichkeit wegen verkauften ihn die Händler in Kanton an einen berühmten Arzt der traditionellen Medizin und zugleich Meister der Akupunktur — einen zhong yi —, der einen Gehilfen suchte. Bei diesem Weisen erwarb Vierter Sohn die Kenntnisse, die er bei seinem bäuerlichen Vater nie gefunden hätte.

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Der alte Meister war ein sanfter Mann mit einem Gesicht so rund wie der Mond, langsamer Sprache und kräftigen, empfindsamen Händen, seinen besten Instrumenten. Als erstes gab er seinem Diener einen Namen. Er befragte astrologische Bücher und solche von Wahrsagern, um den für den Jungen passenden Namen herauszufinden: Tao. Das Wort hatte mehrere Bedeutungen, wie Weg, Richtung, Sinn und Harmonie, vor allem aber bedeutete es die Reise des Lebens. Als Nachnamen gab der Meister ihm seinen eigenen.

»Du wirst Tao Chi’en heißen. Dieser Name führt dich auf den Weg der Heilkunst. Dein Schicksal wird es sein, fremden Schmerz zu lindern und Weisheit zu erlangen. Du wirst ein zhong yi sein wie ich.«

Tao Chi’en. Der junge Gehilfe nahm seinen Namen dankbar entgegen. Er küßte seinem Herrn die Hände und lächelte zum erstenmal, seit er sein Zuhause verlassen hatte. Die Fröhlichkeit, mit der er früher ohne jeden Anlaß vergnügt herumgetanzt war, kehrte zurück und pochte wieder in seiner Brust, und das Lächeln verwischte sich wochenlang nicht. Er hüpfte durchs Haus und genoß seinen Namen, ließ ihn wie ein Bonbon auf der Zunge zergehen, wiederholte ihn laut und träumte ihn, bis er ganz mit ihm eins geworden war. Sein Meister, ein Anhänger des Konfuzius in praktischen Dingen und Buddhas auf geistigem Gebiet, unterrichtete ihn mit fester Hand, aber mit großer Sanftmut in der Wissenschaft, die aus ihm einen guten Arzt machen sollte.

»Wenn es mir gelingt, dich all das zu lehren, was ich vorhabe, wirst du eines Tages ein berühmter Mann sein«, sagte er zu ihm.

Er betonte, die Riten und Zeremonien seien so notwendig wie die Regeln einer guten Erziehung und der Respekt vor der Rangordnung. Er sagte, Kenntnis ohne Weisheit sei nur wenig nütze, es gebe keine Weisheit ohne Geistigkeit und die wahre Geistigkeit schließe immer den Dienst am Nächsten ein. Das Wesen eines guten Arztes bestehe in der Fähigkeit zum Mitleiden und dem Sinn für Ethik, ohne diese beiden entarte die heilige Kunst des Heilens zu simpler Scharlatanerie. Er mochte das schnelle Lächeln seines Schülers.

»Du bist schon ein gutes Stück voran auf dem Wege zur Weisheit, Tao. Der Weise ist immer fröhlich«, sagte er.

Das ganze Jahr hindurch stand Tao Chi’en im Morgengrauen auf wie jeder Schüler der Weisheit, um eine Stunde mit Meditation, Gesängen und Gebeten zu verbringen.

Ihm war nur zur Feier des neuen Jahres ein Tag Ruhe beschieden, sonst waren Arbeit und Studium seine einzigen Beschäftigungen. Vor allem mußte er das Mandarin in Wort und Schrift vollendet beherrschen, das einzige allgemeine Verständigungsmittel in diesem riesigen Gebiet mit all seinen Völkern und Sprachen.

Sein Lehrer war unerbittlich, was Schönheit und Genauigkeit der Schrift anging, erst dann unterscheide sie den gebildeten Mann vom Betrüger. Er bestand auch darauf, in Tao Chi’en künstlerische Empfindungsfähigkeit zu entwickeln, die, so sagte er, das höhere Wesen kennzeichne. Wie jeder kultivierte Chinese empfand er tiefe Verachtung für den Krieg; was ihn anzog, waren die Künste, sei es die Musik, die Malerei oder die Literatur.

An seiner Seite lernte Tao Chi’en das feine Gewebe eines Spinnennetzes erfassen, auf dem im Licht der Morgensonne Tautropfen perlten, und sein Entzücken in begeisterten, in eleganter Schönschrift verfaßten Versen auszudrücken. Nach Meinung des Meisters war schlechte Poesie das einzige, was schlimmer war, als keine Poesie zu verfassen. In seinem Hause nahm der Junge an häufigen Zusammenkünften teil, auf denen die Gäste in der Inspiration des Augenblicks Verse schufen und den Garten bewunderten, während er Tee herumreichte und staunend lauschte. Man konnte die Unsterblichkeit gewinnen, wenn man ein Buch schrieb, vor allem wenn es Poesie war, sagte der Meister, der mehrere geschrieben hatte. Den praktischen bäuerlichen Heilkenntnissen, die Tao Chi’en sich angeeignet hatte, während er seinem Vater bei der Arbeit zuschaute, fügte er nun die Erkenntnisse aus dem dicken Buch über alte chinesische Medizin hinzu. Der Junge lernte, daß der menschliche Körper sich aus fünf Elementen zusammensetzt, Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser, die verbunden sind mit fünf Planeten, fünf atmosphärischen Zuständen, fünf Farben und fünf Noten. Durch die angemessene Anwendung der Heilpflanzen, der Akupunktur und der Schröpfkunst konnte ein guter Arzt etliche Krankheiten verhindern und heilen und die männliche helle Energie wie die weibliche passive, dunkle Energie — das Yin und das Yang — überwachen. Jedoch das Ziel dieser Kunst war es nicht so sehr, Krankheiten zu beheben, als vielmehr die Harmonie aufrechtzuerhalten. »Du mußt deine Nahrung auswählen, dein Bett aufstellen und deine Meditation halten nach der Jahreszeit und der Richtung des Windes. So wirst du immer im Einklang mit dem Universum sein«, belehrte ihn der Meister.

Der zhong yi war zufrieden mit seinem Schicksal, wenn auch das Fehlen von Nachkommen wie ein Schatten auf der heiteren Gelassenheit seines Geistes lag. Er hatte keine Kinder gehabt trotz der Wunderkräuter, die er ein ganzes Leben lang regelmäßig eingenommen hatte, um das Blut zu reinigen und das Glied zu stärken, und trotz der Tränke und Mittel, die er seinen beiden jung verstorbenen Ehefrauen ebenso verabfolgt hatte wie den zahlreichen Konkubinen, die ihnen folgten. Er hatte demütig hinnehmen müssen, daß nicht diese selbstlosen Frauen schuld waren, sondern die Trägheit seiner Samenflüssigkeit. Keines der fruchtbarkeitsfördernden Mittel, mit denen er andern helfen konnte, hatte bei ihm angeschlagen, und schließlich hatte er sich in die unleugbare Tatsache gefügt, daß seine Lenden trocken waren. Er plagte die Frauen nicht mehr mit nutzlosen Forderungen, er hatte sie ausgiebig genossen, nach den Geboten der schönen Kopfkissenbücher aus seiner Sammlung. Inzwischen aber war er alt geworden, Vergnügungen dieser Art lagen ihm seit langem fern, es fesselte ihn mehr, neue Kenntnisse zu erlangen und den schmalen Weg der Weisheit zu erforschen, er hatte auch eine Konkubine nach der anderen fortgeschickt, weil ihre Gegenwart ihn bei seinen geistigen Bemühungen störte. Er brauchte kein Mädchen vor sich zu haben, um es in feinziselierten Versen zu beschreiben, ihm genügte die Erinnerung. Wenn er keine eigenen Kinder haben konnte, so mußte er sich doch um die Zukunft Gedanken machen. Wer würde ihm auf der letzten Wegstrecke und in der Stunde seines Todes beistehen? Wer würde seine Grabstätte reinigen und sein Andenken verehren? Er hatte schon vorher Schüler gehabt und bei jedem den heimlichen Wunsch genährt, ihn zu adoptieren, aber keiner war der Ehre würdig gewesen. Tao Chi’en war weder klüger noch einfühlsamer als die andern, aber er trug in sich eine Lernbesessenheit, die der Meister sofort erkannte, denn sie glich seiner eigenen. Außerdem war er ein freundliches, lustiges Kind, das liebzugewinnen leichtfiel. In den Jahren des Zusammenlebens hatte er ihn so sehr schätzen gelernt, daß er sich oft fragte, wie es nur sein konnte, daß er kein Sohn aus seinem Blute war. Dennoch machte die Zuneigung zu seinem Schüler ihn nicht blind, seiner Erfahrung nach reichten die Veränderungen in der Reifezeit sehr tief, und er konnte nicht vorhersagen, was für ein Mann er sein würde. Wie das chinesische Sprichwort sagt: »Helles Köpfchen in der Kindheit schützt nicht vor spätrer Dumm- und Blindheit.« Er fürchtete, sich erneut zu irren, wie es ihm schon früher geschehen war, und er wollte lieber geduldig abwarten, bis die wahre Natur des Jungen zutage trat. Inzwischen würde er ihn erziehen, wie er die jungen Bäume in seinem Garten zog, um ihm zu helfen, gerade zu wachsen. Wenigstens denkt dieser schnell, dachte der alte Arzt und schätzte ab, wie viele Lebensjahre ihm noch blieben. Den Sternzeichen zufolge und dem, was die sorgfältige Beobachtung seines Körpers ihm sagte, würde er nicht die Zeit haben, einen weiteren Schüler anzulernen.

Tao Chi’en verstand sich bald darauf, auf dem Markt und in den Läden — tüchtig feilschend, wie es sich gehörte — die nötigen Substanzen auszuwählen und die Heilmittel ohne Hilfe zuzubereiten. Er hatte dem Arzt lange genug bei der Arbeit zugesehen und kannte inzwischen die verwickelten Wirkweisen des menschlichen Körpers, wußte, wie man die Fiebernden erfrischt und hitzige Temperamente abkühlt, wie man die an vorzeitiger Todeskälte Leidenden wärmt, wie man bei den Unfruchtbaren die Säfte in Bewegung bringt und wie man Ausflüsse oder Blutungen stillt. Er unternahm lange Ausflüge über Land und sammelte zum Zeitpunkt ihrer höchsten Wirksamkeit allerlei Pflanzen, die er in feuchte Tücher hüllte, damit sie auf dem Rückweg in die Stadt frisch blieben. Als er vierzehn wurde, hielt sein Lehrer ihn für reif genug, selbst zu praktizieren, und beauftragte ihn unverzüglich, Prostituierte zu betreuen, mit dem nachdrücklichen Gebot, sich jeden Verkehrs mit ihnen zu enthalten, denn Tao Chi’en werde selbst feststellen, wenn er sie untersuchte, daß sie den Tod in sich trugen.

»Die Krankheiten der Bordelle töten mehr Menschen als das Opium und der Typhus. Aber wenn du deine Pflichten erfüllst und gleichzeitig gut lernst, werde ich dir, wenn es soweit ist, ein jungfräuliches Mädchen kaufen«, versprach ihm der Meister.

Tao Chi’en hatte als Kind gehungert, aber sein Körper streckte sich, bis er größer war als irgendein anderes Mitglied seiner Familie. Mit vierzehn reizten ihn die käuflichen Mädchen nicht, sie erregten nur seine wissenschaftliche Neugier. Sie waren so verschieden von dem, was er kannte, lebten in einer so sonderbaren, geheimen Welt, daß er sie nicht als wirklich menschlich ansehen konnte. Später, als der plötzliche Ansturm der Natur ihn aus dem Gleichgewicht warf und er wie ein Betrunkener gegen seinen eigenen Schatten stolperte, beklagte es sein Lehrmeister, daß er sich von seinen Konkubinen getrennt hatte. Nichts zog einen guten Schüler so von seinen Pflichten ab wie der Ausbruch der Manneskraft. Eine Frau würde ihn beruhigen und ihm dazu noch praktische Kenntnisse beibringen, aber da der Gedanke, ihm eine zu kaufen, doch recht viel Lästiges mit sich brachte — es lebte sich so bequem in seinem ausschließlich männlichen Universum —, nötigte er Tao Tränke auf, die die Glut besänftigen sollten. Der zhong yi unterschätzte den längst vergessenen Orkan, den die fleischlichen Leidenschaften entfachen konnten, und gab seinem Schüler als theoretischen Teil der Erziehung die Kopfkissenbücher aus seiner Bibliothek zu lesen, ohne die erregende Wirkung abzuwägen, die sie auf den armen Jungen haben würden. Er ließ ihn jede einzelne der zweihundertzweiundzwanzig Stellungen der Liebe bei ihren poetischen Namen brav auswendig lernen, und er mußte sie ohne Zögern in den erlesenen Illustrationen der Bücher erkennen, was beträchtlich zur Zerstreuung des Jungen beitrug.

Tao Chi’en war mit Kanton schon so vertraut, wie er früher sein kleines Dorf gekannt hatte. Ihm gefiel diese alte ummauerte, chaotische Stadt mit ihren gewundenen Straßen und Kanälen, wo Paläste und Hütten sich in unübersehbarem Durcheinander mischten und wo es Menschen gab, die in Booten auf dem Fluß lebten und starben, ohne je einen Fuß auf festes Land gesetzt zu haben. Er hatte sich an das Klima gewöhnt, in dem langen Sommer war es heiß und feucht in der von Taifunen heimgesuchten Stadt, aber im Winter, der von Oktober bis März dauerte, lebte es sich angenehm. Kanton war den Fremden verschlossen, was Piraten nicht davon abhielt, gelegentlich in die Stadt einzufallen. Es gab einige Handelsposten, wo die Ausländer von November bis Mai Tauschhandel betreiben konnten, aber der Gebühren, Regelungen und Behinderungen waren so viele, daß internationale Kaufleute es vorzogen, sich in Makao niederzulassen. Wenn Tao früh am Morgen zum Markt ging, fand er immer wieder neugeborene Mädchen auf der Straße liegend oder in den Kanälen schwimmend, häufig von Hunden oder Ratten angefressen. Niemand wollte sie, also weg mit ihnen. Wozu eine Tochter großfüttern, die nichts wert war und doch nur als Dienstmagd in der Familie eines künftigen Ehemanns enden würde? »Lieber ein mißgebildeter Sohn als ein Dutzend Töchter, mögen sie auch so klug wie Buddha sein«, lautete die Redensart. Ohnehin gab es viel zu viele Kinder, und immer neue wurden geboren.

Kanton war eine dicht bevölkerte, reiche und muntere Stadt voller Tempel, Speise- und Spielhäuser, Bordelle und Opiumhöhlen wuchsen überall aus dem Boden, die Festtage des Kalenders wurden geräuschvoll gefeiert. Auch Züchtigungen und Hinrichtungen boten Anlaß zum Feiern. Die Massen strömten zusammen, um den Henkern zuzujubeln mit ihren blutigen Schürzen und der Sammlung von scharfgeschliffenen Messern, die den Kopf mit einem einzigen sicheren Hieb vom Körper trennten. Justiz wurde in ebenso schneller wie einfacher Form gehandhabt, ohne Berufungsmöglichkeit und ohne unnötige Grausamkeit, außer es handelte sich um Verrat am Kaiser, das schlimmste denkbare Verbrechen, das mit einem langsamen Tod geahndet wurde und der Verbannung sämtlicher Verwandten in die Leibeigenschaft. Die kleineren Vergehen wurden mit Auspeitschung bestraft, oder die Schuldigen mußten mehrere Tage lang ein Brett um den Hals tragen, mit dem sie weder schlafen noch die Hände zum Gesicht führen konnten, um zu essen oder sich zu kratzen. Auf Plätzen und Märkten traten Geschichtenerzähler auf, die wie die Bettelmönche durch das Land wanderten und eine jahrtausendealte mündliche Tradition bewahrten. Jongleure, Akrobaten, Schlangenbeschwörer, Transvestiten, wandernde Musiker, Zauberer und Schlangenmenschen gaben sich in den Straßen ein Stelldichein, während es um sie herum brodelte: da gab es Läden mit Seide, Tee, Jade, Gewürzen, Gold, Schildkrötenschalen, Porzellan, Elfenbein und Edelsteinen. Gemüse, Obst und Fleisch boten sich in buntem Mischmasch an: Kohlköpfe und zarte Bambussprossen neben Käfigen mit Katzen, Hunden und Waschbären, die der Metzger auf Bitten der Kunden mit einer einzigen Bewegung tötete und rasch abhäutete. Es gab lange Gassen nur mit Vögeln, die in keinem Haus fehlen durften, und mit Vogelkäfigen, von den einfachsten angefangen bis zu solchen aus feinem Holz, die mit Silber und Perlmutt eingelegt waren. Andere Passagen des Marktes waren bestimmten Fischen gewidmet, die das Glück anziehen. Der immer neugierige Tao Chi’en trieb sich dazwischen herum, beobachtete, schloß Freundschaften, und dann mußte er rennen, um seinen Auftrag in der Straße zu erfüllen, wo verkauft wurde, was er für seine Arbeit brauchte. Er konnte mit geschlossenen Augen den durchdringenden Geruch der Gewürze, Pflanzen und Heilrinden auseinanderhalten. Die getrockneten Schlangen stapelten sich zusammengerollt wie staubige Wollknäuel; Kröten, Salamander und fremdartiges Meergetier hingen an Schnüren aufgereiht wie Halsketten; Grillen und große Käfer mit harten, phosphoreszierenden Flügeldecken kümmerten in Kästen dahin; Affen verschiedener Arten warteten auf ihren Tod; Tatzen von Bären und Orang-Utans, Hörner von Antilopen und Nashörnern, Tigeraugen, Haifischflossen und Krallen von geheimnisvollen Nachtvögeln wurden nach Gewicht verkauft.

Für Tao Chi’en vergingen die ersten Jahre in Kanton mit Studium, Arbeit und Dienst für seinen alten Lehrmeister, den er wie einen Großvater achten lernte. Es waren glückliche Jahre. Die Erinnerung an seine eigene Familie verwischte sich, und schließlich vergaß er die Gesichter seines Vaters und seiner Brüder, aber nicht das seiner Mutter, denn sie erschien ihm oft. Das Studium war irgendwann keine Arbeit mehr, es war eine Leidenschaft geworden. Jedesmal, wenn er etwas Neues gelernt hatte, flog er zu seinem Lehrer und erzählte es ihm übersprudelnd. »Je mehr du lernst, um so eher wirst du wissen, wie wenig du weißt«, sagte der Alte lachend. Aus eigenem Antrieb beschloß Tao, das Kantonesische besser beherrschen zu lernen, denn mit dem Dialekt seines Heimatdorfes wurde er immer wieder belächelt. Er nahm die Kenntnisse seines Lehrers mit solcher Geschwindigkeit in sich auf, daß der Alte ihm scherzhaft vorwarf, er raube ihm sogar noch seine Träume, aber seine eigene Leidenschaft für das Unterrichten machte ihn großzügig. Gutherzig von Natur, war er dennoch streng in der Kritik und fordernd, wo es um Anstrengung ging, denn wie er sagte: »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und in die andere Welt kann ich nicht mitnehmen, was ich weiß, jemand muß es nach meinem Tod anzuwenden wissen.« Dennoch warnte er Tao auch davor, Kenntnisse in Massen herunterzuschlingen, eine solche Gefräßigkeit könne einen Mann in stärkere Fesseln legen als Völlerei oder Unzucht. »Der Weise verlangt nichts, richtet nicht, macht keine Pläne, er hält seinen Geist offen und sein Herz in Frieden«, sagte er. Er rügte Tao, wenn er einen Fehler gemacht hatte, mit so viel Traurigkeit, daß diesem eine kräftige Tracht Prügel lieber gewesen wäre, aber dieses Verfahren lief dem Temperament des zhong yi zuwider, der niemals zugelassen hatte, daß die Wut seine Handlungen bestimmte. Die einzigen Male, wo er ihn ganz förmlich mit einer Bambusrute schlug, ohne Unwillen, aber mit fester didaktischer Absicht, waren die, als er ohne jeden Zweifel feststellen mußte, daß sein Schüler der Versuchung des Spiels nachgegeben oder eine Frau bezahlt hatte. Tao Chi’en mogelte bei den Rechnungen vom Markt, um in den Spielhäusern, deren Anziehungskraft zu widerstehen ihm unmöglich schien, zu wetten oder um einen kurzen Trost mit Studentenrabatt in den Armen einer seiner Patientinnen in den Bordellen bezahlen zu können. Sein Herr merkte es nur zu bald, denn wenn er beim Spiel verlor, konnte er nicht erklären, wo das Wechselgeld geblieben war, und wenn er gewonnen hatte, war er außerstande, seine Freude zu verbergen. Die Frauen roch er an der Haut des Jungen.

»Zieh dein Hemd aus, ich muß dir ein paar Rutenschläge geben, vielleicht verstehst du dann endlich, Sohn. Wie oft habe ich dir gesagt, die schlimmsten Übel Chinas sind das Spiel und das Bordell? Im Spiel verlieren die Männer das Ergebnis ihrer Arbeit, und im Bordell verlieren sie Gesundheit und Leben. Mit diesen Lastern wirst du weder ein guter Arzt noch ein guter Dichter werden.«

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Tao Chi’en war sechzehn Jahre alt, als 1839 der Opiumkrieg zwischen China und Großbritannien ausbrach. Zu jener Zeit war das Land von Bettlern überschwemmt. In Massen verließen die Menschen die allzu kargen Felder und erschienen mit ihren Lumpen und ihren Pusteln in den Städten, aus denen sie gewaltsam vertrieben wurden, worauf sie wie Rudel hungriger Hunde über die Straßen des Kaiserreiches irrten. Räuberbanden und Aufständische kämpften gegen die Regierungstruppen in einem nie endenden Heckenschützenkrieg. Es war eine Zeit der Zerstörung und der Plünderungen. Die geschwächten kaiserlichen Truppen, die unter der Führung korrupter Offiziere standen und aus Peking widersprüchliche Befehle bekamen, konnten der mächtigen, disziplinierten englischen Flotte keinen Widerstand entgegensetzen. Mit der Unterstützung durch die Bevölkerung war nicht zu rechnen, denn die Bauern hatten es satt, ihre Saaten vernichtet, ihre Dörfer in Flammen und ihre Töchter von der Soldateska vergewaltigt zu sehen. Nach fast vier Jahren Krieg mußte China eine demütigende Niederlage hinnehmen und den Gegenwert von einundzwanzig Millionen Dollar an die Sieger bezahlen, ihnen Hongkong überlassen und ihnen das Recht einräumen, »Konzessionen« einzurichten — Wohnviertel, die durch extraterritoriale Gesetze geschützt waren. Hier wohnten die Ausländer mit ihrer Polizei, ihren Dienststellen, ihrer Verwaltung und ihren Gesetzen, geschützt von ihren eigenen Truppen; es waren richtige fremde Nationen auf dem chinesischen Territorium, von denen aus die Europäer den Handel kontrollierten, vor allem den Opiumhandel. In Kanton zogen sie erst fünf Jahre später ein, aber Tao Chi’ens Lehrmeister, der die entwürdigende Niederlage seines verehrten Kaisers miterlebt hatte und mit ansehen mußte, wie Wirtschaft und Moral seines Vaterlandes zusammenbrachen, entschied, daß es keinen Grund für ihn gab weiterzuleben.

In den Kriegsjahren hatte der Geist des alten zhong yi Schaden gelitten, zudem hatte er die heitere Gelassenheit verloren, die er im Laufe seines Lebens mühsam genug erlangt hatte. Seine Zerfahrenheit und Zerstreutheit, was materielle Dinge anging, verschlimmerten sich so sehr, daß Tao Chi’en ihn füttern mußte, wenn er tagelang nichts gegessen hatte. Seine Abrechnungen gerieten völlig durcheinander, und die Gläubiger klopften schon an die Tür, aber er schenkte ihnen keine sonderliche Beachtung, denn alles, was mit Geld zu tun hatte, schien ihm eine schändliche Belastung, von der Weise ihrer Natur nach befreit waren. In der senilen Verwirrung dieser letzten Jahre vergaß er seine Absichten, seinen Schüler zu adoptieren und ihm eine Frau zu kaufen; tatsächlich war sein Sinn so getrübt, daß er Tao Chi’en häufig fassungslos ansah, weil er sich weder an seinen Namen erinnern konnte noch wußte, wo er ihn unterbringen sollte in dem Labyrinth von Gesichtern und Geschehnissen, die seine geschwächte Erinnerung so ungeordnet wie zusammenhanglos bedrängten. Aber sein Verstand genügte ihm doch, um die Einzelheiten seiner Bestattung festzulegen, denn für einen vornehmen Chinesen war sein eigenes Leichenbegängnis das wichtigste Ereignis seines Lebens. Der Gedanke, mit Hilfe eines eleganten Todes seiner Mutlosigkeit ein Ende zu machen, beschäftigte ihn schon seit langem, aber er hatte bis zum Ende des Krieges gewartet in der heimlichen, irrationalen Hoffnung, die Heere des Himmlischen Kaiserreiches triumphieren zu sehen. Der Dünkel der Fremden war ihm unerträglich, er empfand tiefe Verachtung für diese brutalen fan gui, weiße Phantome, die sich nicht wuschen, Milch und Alkohol tranken, die Grundregeln der guten Erziehung nicht kannten und unfähig waren, ihre Vorfahren in gebührender Form zu ehren. Die Handelsvereinbarungen hielt er für eine diesen unverschämten Barbaren vom Kaiser gewährte Gunst, aber anstatt sich lobpreisend und dankbar tief zu verneigen, forderten sie immer noch mehr. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Nanking war der letzte Schlag für den zhong yi. Der Kaiser und mit ihm jeder Einwohner Chinas bis zum allergeringsten hatten die Ehre verloren. Wie sollte man nach einer solchen Schande je die Würde zurückgewinnen können?

Der alte Weise vergiftete sich, indem er Gold schluckte. Als sein Schüler von einem seiner Ausflüge aufs Land zurückkam, wo er Pflanzen gesammelt hatte, fand er ihn im Garten, in Seidenkissen lehnend und weiß gekleidet als Zeichen seiner eigenen Trauer. Neben ihm stand der noch warme Tee, und die Tusche im Pinsel war noch feucht. Auf seinem kleinen Schreibpult lag ein unvollendetes Gedicht, und eine Libelle zeichnete sich zart auf dem weichen Reispapier ab. Tao Chi’en küßte die Hände dieses Mannes, der ihm so viel gegeben hatte, dann blieb er einen Augenblick stehen, um die Zeichnung der durchsichtigen Flügel des Insekts im Licht des Sonnenuntergangs zu würdigen, wie sein Lehrer es gewünscht hätte.

Zur Bestattung des Weisen strömte eine große Menschenmenge herbei, denn in seinem langen Leben hatte er Tausenden Menschen geholfen, in Gesundheit zu leben und ohne Furcht zu sterben. Vertreter der Behörden und andere Würdenträger statteten ihren offiziellen Besuch ab, die Dichterkollegen rezitierten ihre feierlichsten Verse, und die Konkubinen präsentierten sich ganz in Seide. Ein Seher bestimmte den für die Beisetzung geeigneten Tag, und ein Künstler für Bestattungsgegenstände ging durch das Haus des Verstorbenen, um seine Besitztümer zu kopieren. Er betrachtete alles in Ruhe, ohne Maß zu nehmen oder Notizen zu machen, aber unter seinen weiten Ärmeln ritzte er mit dem Fingernagel Zeichen in eine Wachstafel; dann faltete er von dem Haus und seinen Räumen und Möbeln sowie von den Lieblingsgegenständen des Toten Miniaturen aus Papier, die alle zusammen mit ebenfalls papiernen Bündeln Geld verbrannt werden würden. Ihm sollte in der anderen Welt nichts von dem fehlen, woran er sich in dieser erfreut hatte. Der Sarg, riesig und geschmückt wie eine kaiserliche Kutsche, wurde durch die Straßen der Stadt gefahren zwischen zwei Reihen von Soldaten in Uniform, vor ihnen Berittene in strahlenden Farben und eine Musikkapelle mit Zimbeln, Trommeln, Flöten, Glocken, Triangeln und einer Reihe von Saiteninstrumenten. Das Getöse war unerträglich, wie es der Bedeutung des Dahingegangenen zukam. An der Grabstelle waren Blumen, Kleidung und Speisen angehäuft; Kerzen und Weihrauch wurden angezündet, und zum Schluß wurden das Papiergeld und die feingearbeiteten Gegenstände aus Papier verbrannt. In die vergoldete Ahnentafel aus Holz war der Name des Meisters eingraviert, und sie wurde nun auf das Grab gelegt, um den Geist aufzunehmen, während der Körper zur Erde zurückkehrte. Dem ältesten Sohn kam es zu, die Tafel in Empfang zu nehmen und ihr in seinem Heim einen Ehrenplatz zu geben neben denen seiner anderen männlichen Vorfahren, aber der Arzt hatte niemanden, der diese Pflicht erfüllen konnte. Tao Chi’en war nur ein Diener, und es wäre ein schlimmer Verstoß gegen die Etikette gewesen, wenn er sich dazu angeboten hätte. Er war ehrlich betrübt, in der Menge war sicherlich er der einzige, dessen Tränen und Seufzer einem echten Schmerz entsprachen, aber die Ahnentafel wurde einem entfernten Neffen des Toten überreicht, der die moralische Pflicht haben würde, alle zwei Wochen und an jedem Festtag des Jahres ihm Geschenke darzubringen und davor zu beten.

Als die feierlichen Bestattungsriten vorüber waren, fielen die Gläubiger wie Schakale über die Besitztümer des Meisters her. Sie schändeten die ehrwürdigen Schriften, wühlten in den Kräutern, verdarben die Präparate, zerstörten die sorgfältig gemalten Gedichte, nahmen die Möbel und Kunstgegenstände mit, zertrampelten den wunderschönen Garten und versteigerten das alte Haus. Kurz zuvor hatte Tao Chi’en die goldenen Nadeln für die Akupunktur, eine Kiste mit ärztlichen Instrumenten und einige wichtige Medikamente in Sicherheit gebracht, dazu etwas Geld, das er in den vergangenen drei Jahren nach und nach beiseite geschafft hatte, seit sein Herr begann, sich auf den verschlungenen Pfaden der Altersdemenz zu verirren. Dabei war es nicht seine Absicht gewesen, den verehrungswürdigen zhong yi, den er wie einen Großvater achtete, zu bestehlen, vielmehr wollte er ihn mit Hilfe dieses Geldes ernähren, denn Angst vor der Zukunft bewegte ihn, wenn er sah, wie sich die Schulden häuften. Der Freitod des Meisters veränderte alles, und Tao Chi’en sah sich nun im Besitz unerwarteter Mittel. Wenn er sich dieses Geld aneignete, konnte das den Kopf kosten, denn es wäre das Verbrechen eines Untergebenen an einem Höherstehenden, aber er war sicher, daß niemand es erfahren würde außer dem Geist des Verstorbenen, und der würde sein Handeln zweifellos billigen. Würde er nicht lieber seinen treuen Diener und Schüler belohnen, statt eine der zahlreichen Schulden an seine grausamen Gläubiger zu bezahlen? Mit diesem bescheidenen Schatz im Beutel und einem Satz sauberer Wäsche zum Wechseln machte Tao Chi’en sich davon, fort aus der Stadt. Flüchtig kam ihm der Gedanke, in sein Heimatdorf zurückzukehren, aber er verwarf ihn sofort wieder. Für seine Familie würde er immer Vierter Sohn sein und seinen älteren Brüdern Unterwerfung und Gehorsam schulden. Er würde für sie arbeiten müssen, die Frau annehmen, die sie für ihn aussuchten, und sich ins Elend ergeben. Nichts zog ihn in diese Gegend, nicht einmal die seinem Vater und seinen Vorfahren geschuldete Sohnespflicht. Er mußte weit fortgehen, so weit, daß ihn der lange Arm der chinesischen Justiz nicht mehr erreichen konnte. Er war zwanzig Jahre alt, eines fehlte ihm, um die zehn Dienstjahre zu vollenden, und jeder der Gläubiger konnte sich auf das Recht berufen, ihn für dieses eine Jahr als Sklaven zu verwenden.

Tao Chi’en

Tao Chi’en nahm einen Sampan nach Hongkong, um sein neues Leben zu beginnen. Nun war er ein zhong yi, in der traditionellen chinesischen Medizin geschult von dem besten Meister Kantons. Er schuldete den Geistern seiner verehrten Ahnen ewigen Dank, daß sie sein Karma so ruhmvoll gelenkt hatten. Das erste, entschied er, war, eine Frau zu finden, denn er war schon weit im heiratsfähigen Alter, und die Enthaltsamkeit drückte ihn gehörig. Die fehlende Ehefrau war ein eindeutiges Zeichen für Armut. Er hegte den sehnlichen Wunsch, ein liebliches junges Mädchen mit schönen Füßen zu erwerben. Ihre goldenen Lilien durften nicht mehr als drei, vier Daumenbreit in der Länge messen und mußten rundlich und zart anzufühlen sein wie bei einem wenige Monate alten Kind. Ihn begeisterte der Gang einer jungen Frau auf ihren winzigen Füßen, die sehr kurzen, schwankenden Schritte, als wäre sie ständig im Begriff, zu fallen, die Hüften, nach hinten geschoben, die sich wiegten wie die Binsen am Rand des Teiches im Garten seines Meisters. Er haßte die großen, muskulösen, kalten Füße, wie sie die Bäuerinnen hatten. Im Dorf hatte er von weitem ein paar Mädchen mit verbundenen Füßen gesehen, der Stolz ihrer Familien, die sie sicherlich gut verheiraten würden, aber erst als er in Kanton mit den Prostituierten in Berührung kam, hatte er ein Paar jener goldenen Lilien in den Händen gehalten und war in Entzücken geraten über die kleinen bestickten Pantöffelchen, die sie immer bedeckten, denn die verkrüppelten Knochen sonderten jahrelang eine übelriechende Substanz ab. Seit er sie berührt hatte, begriff er, daß ihre Eleganz die Frucht ständiger Schmerzen war, und das machte sie um so kostbarer. Danach wußte er die den weiblichen Füßen gewidmeten Bücher gebührend zu würdigen, die sein Meister sammelte und in denen fünf Klassen und achtzehn verschiedene Stile von goldenen Lilien aufgeführt wurden. Seine Frau mußte auch sehr jung sein, denn Schönheit ist von kurzer Dauer, sie beginnt etwa im zwölften Lebensjahr und endet kurz nach dem zwanzigsten. So hatte sein Meister erklärt. Es hatte schon seinen Grund, daß die gefeiertsten Heldinnen der chinesischen Literatur immer genau zur Zeit ihres größten Liebreizes starben; glücklich jene, die dahingingen, bevor sie sich vom Alter zerstört sehen mußten, und so in voller Jugendfrische in Erinnerung blieben. Außerdem gab es praktische Gründe, eine ganz Junge zu heiraten: sie würde ihm Söhne schenken und es würde leicht sein, ihren Charakter zu zähmen, um sie wirklich gehorsam zu machen. Nichts ist so unangenehm wie eine keifende Frau, er hatte welche gesehen, die vor ihrem Mann und ihren Söhnen ausspuckten und ihnen kräftige Ohrfeigen verpaßten, und das sogar auf der Straße vor den Nachbarn. Ein solcher von den Händen einer Frau zugefügter Schimpf war die schlimmste Entehrung für einen Mann. Auf dem Sampan, der ihn langsam die neunzig Seemeilen von Kanton nach Hongkong trug und ihn jede Minute mehr von seinem vergangenen Leben entfernte, träumte Tao Chi’en von dem schönen Mädchen und von der Lust und den Söhnen, die sie ihm schenken würde. Ein ums andere Mal zählte er das Geld in seiner Tasche, als könnte er es durch Nachrechnen vermehren, aber es ergab sich eindeutig, daß es für eine Ehefrau dieser Güte nicht reichen würde. Dennoch, mochte sein Bedürfnis auch noch so dringend sein, er dachte nicht daran, sich mit weniger zu begnügen und vielleicht für den Rest seiner Tage als Ehemann einer Frau mit großen Füßen und starkem Charakter zu