Wir heißen euch hoffen
Johannes Mario Simmel
1980
Johannes Mario Simmel greift — wie stets in seinen Romanen — ein Thema auf, das uns allen auf den Nägeln brennt; »Wenn wir nicht sehr bald ein tatächlich wirksamens Mittel gegen die Suchtdrogen in die Hand bekommen, werden in den nächsten Jahrzehnten mehr Menschen an dem verfluchten Zeug verreckten als in den beiden Weltkriegen« — das läßt Simmel einen Spezialisten im weltweiten Kampf gegen die Drogensucht sagen.
Heroin, das ist die Drogen, bei der nahezu jeder Süchtige endet, und das heißt elendestes Krepieren im Dreck, Einsamkeit und Qualen.
Wer diesem tödlichen Suchtgift ein Ende bereitet, wird als einer der größten Wohltäter der Menschheit gleten. Ein Leben lang arbietet Adrian Lindhout, der stille Held dieses Romans, an einem Mittel, das die Wirkung des Heroins blockiert und damit die Heilung der Sucht einleitet.
Aus der Ruhe des Laboratoriums wird er hineingerissen nicht nur in menschliche Tragödien und verbrecherische Politik und um liebende Frauen, sondern mehr noch in das mörderische Treiben krimineller Organisationen des internationalen Rauschgifthandels.
Der Nobelpreis krönt seine Ringen. Aber im gleichen Augenblick muß er erkennen, daß überstarke Mächte hinter den Kulissen seinen Erfolg nicht wollen. Der große Forscher gibt resignierend auf. Doch Lindhouts Schüler führt sein Werk fort — entschlossen, hoffend zu handeln und handelnd zu hoffen.
Inhaltsverzeichnis
I Prolog
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II Die Kräfte des Guten
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III Und unten die Gräber
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IV Dringen wir vorwärts
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V Des Maurers Wandeln
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VI Sich wandelnde Schauer
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VII Wir heißen euch hoffen
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VIII Epilog
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4
Fritz Bolle,
dem Freund und Lektor,
zugeeignet
___________
Des Maurers Wandeln,
Es gleicht dem Leben,
Und sein Bestreben,
Es gleicht dem Handeln
Der Menschen auf Erden.
Die Zukunft decket
Schmerzen und Glücke.
Schrittweis dem Blicke,
Doch ungeschrecket
Dringen wir vorwärts.
Und schwer und ferne
Hängt eine Hülle
Mit Ehrfurcht. Stille
Ruhn oben die Sterne
Und unten die Gräber.
Betracht sie genauer!
Und siehe, so melden
Im Busen der Helden
Sich wandelnde Schauer
Und ernste Gefühle.
Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten!
Hier flechten sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen!
Wir heißen euch hoffen.
Goethe: Symbolum
Heroin-Süchtiger tot aufgefunden! Polizei: Er starb an Überdosis
Ein 17jähriger Junge wurde in der vergangenen Nacht tot auf dem Gelände der New York Central Station entdeckt. Bei sich trug er einen an seine Eltern adressierten Brief. Mit ihrer Erlaubnis drucken wir hier den Text dieses Briefes ab:
»Liebe Mom, lieber Dad!
Ich werde heute abend Schluß machen, weil ich gemerkt habe, daß ich vom Fixen nicht mehr wegkomme. Das Heroin hat mich total kaputtgemacht. Jetzt habe ich monatelang von ein paar Tüten Popcorn gelebt, die habe ich gestohlen. Alle meine Zähne sind verfault, ohne daß ich es bemerkt habe, denn das Heroin hat alle Schmerzen betäubt. Keinem Menschen kann ich mehr meine Arme zeigen, so zerstochen sind die. Wenn ich mittags aufgestanden bin, habe ich immer erst mal Tabletten schlucken müssen, damit ich es bis zum Spätnachmittag aushalten konnte, bevor ich neuen Stoff auftrieb. So ist das Tag für Tag gegangen. Ich habe gestohlen, alte Frauen niedergeschlagen, ich habe einfach alles getan, um Geld zu kriegen für Dope. Ich bin eine Null. Ich bin der Dreck vom letzten Dreck. Sagt bitte meinem Bruder Joey, er soll die Finger von dem Zeug lassen, denn wohin das führt, sieht er jetzt ja an mir. Es tut mir leid für Euch, aber ich kann nicht anders. Ich bitte Euch alle um Verzeihung. Tom.«
(Meldung aus der NEW YORK TIMES vom 13. März 1968.)
___________
Postsendung lag 28 Jahre im Gletscher
Die Bundespost wird einigen Bundesbürgern in nächster Zeit »tiefgefrorene« Post zustellen: Die französische Hochgebirgspolizei hat in der Nähe von Chamonix im Gebiet des Alpengletschers Bossons einen Postsack gefunden, der zur Ladung eines am 3. November 1950 am Montblanc in 4700 Meter Höhe zerschellten Flugzeugs gehörte. Wie das Bundespostministerium mitteilte, befand sich das Flugzeug auf dem Weg von Kalkutta nach Genf.
Der für Genf bestimmte Postsack enthielt zudem einige Sendungen für Empfänger in Österreich, die nun gleichfalls von der Post mit 28jähriger Verzögerung beliefert werden. (Meldung aus der Münchner ABENDZEITUNG VOM 31. August 1978.)
___________
Zwischen diesen beiden Meldungen liegen zehn Jahre. Toms Brief in der NEW YORK TIMES war seinerzeit Anstoß, Recherchen in der internationalen Rauschgiftszene aufzunehmen. Die Meldung der ABENDZEITUNG veranlaßte mich dann endlich, diesen Roman zu schreiben. Ich hatte Muße, mich zehn Jahre lang eingehend mit der Materie zu beschäftigen. Alle Personen (bis auf einen einzigen Menschen), alle Schauplätze und Ereignisse — mit Ausnahme jener der Zeitgeschichte, also zum Beispiel der in den beiden Zeitungsmeldungen geschilderten Vorfälle, der Morde und des Mörders im Ersten Chemischen Institut der Universität Wien, der weltweiten Drogen-Katastrophe — sind frei erfunden, auch die Verleihung des Nobelpreises. Auf Tatsachen hingegen beruht alles, was die chemisch-medizinischen Dinge betrifft. Die Fachsprache der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und eine durchaus berechtigte Geheimhaltung sind Gründe dafür, daß die Allgemeinheit von diesen Vorgängen nichts Detailliertes weiß. Allein die Endphase in der Entwicklung eines Präparates ist hier vorweggenommen worden — einer Substanz, von der man vermuten darf, daß sie in der Bekämpfung des grenzenlosen Unglücks der Drogensucht, bei der man bisher so wenig Positives erreicht hat, wesentliche Hilfe bringen wird. Es liegt mir ganz und gar fern, hier und jetzt verfrühten und deshalb falschen Erwartungen das Wort zu reden. Dennoch bin ich überzeugt, daß wir zumindest hoffen dürfen.
J. M. S.
Teil I
Prolog
1
Nachdem er den dritten Telefonanruf erhalten hatte, öffnete er eine versperrte Lade seines Schreibtischs, entnahm ihr eine Pistole, Modell Walther, Kaliber 7.65, zog den Verschluß zurück und ließ eine Patrone in die Kammer springen. Wie die kriminalpolizeiliche Untersuchung später ergab, war es zu diesem Zeitpunkt genau 16 Uhr und 45 Minuten. Bevor er aus der Waffe dann den tödlichen Schuß abfeuerte — auch das wurde anläßlich der Rekonstruktion des Falles zweifelsfrei geklärt —, vergingen noch zweiundfünfzig Minuten. Er schoß erst um 17 Uhr 37. Bei der Pistole handelte es sich um ein altes, aber hervorragend gepflegtes Stück, gereinigt und geölt, das Magazin gefüllt, jederzeit zu blitzschnellem Handeln bereit.
Der erste Anruf war eine halbe Stunde vor dem dritten gekommen. Außer Atem hatte er sich gemeldet. Eine helle Frauenstimme war aus dem Hörer an sein Ohr gedrungen.
»Herr Professor Lindhout?«
»Ja …« Er setzte sich, immer noch keuchend, an den mit Büchern, Manuskripten und Papieren überhäuften Schreibtisch. Grelle Wintersonne fiel in den Raum. Am Nachmittag dieses 23. Februar 1979 war der Himmel über Wien wolkenlos und von wässerig blauer Farbe. Trotz der Sonne herrschte eisige Kälte.
»Hier ist die Schwedische Botschaft. Ich verbinde mit Seiner Exzellenz dem Herrn Botschafter.«
Gleich darauf hörte er eine tiefe, ruhige Männerstimme.
»Adrian, mein Freund?«
»Ja … Krister … ja …«
»Was ist los mit dir?«
»Wieso?«
»Du kannst ja kaum sprechen!«
»Entschuldige … Ich war beim Packen … Mußte aus dem Ankleidezimmer herüberlaufen. Ich bin ein alter Mann, Krister …«
»Rede keinen solchen Unsinn!«
»Mein Lieber, im April werde ich fünfundsechzig.«
»Aber mit fünfundsechzig ist man doch nicht alt!«
»Ich fühle mich aber alt, Krister, sehr alt …« Lindhout stützte den Kopf mit dem ergrauten Haar und dem offenbar von ständiger Trauer geprägten Gesicht in die Hand des freien Armes, dessen Ellbogen auf der Schreibtischplatte ruhte.
Eine kurze Stille folgte.
Dann erklang wieder die ruhige, behutsame Stimme des Botschafters: »Du hast sehr viel erlebt und erlitten, Adrian, ich weiß …«
»Es ist nicht das.«
»Was denn? Du bist vollkommen gesund! Vor drei Wochen habe ich dich nach Rochester geschickt, in die Mayo-Klinik. Alle Befunde waren ausgezeichnet!«
»Ach, die Befunde …«
»Ich verstehe dich nicht, Adrian! Ist etwas geschehen? Du mußt es mir sagen, wenn etwas geschehen ist. Hörst du? Du mußt!«
Lindhouts Blick glitt ins Leere. Ich habe nie gut lügen können, dachte er, und log: »Gar nichts ist geschehen, Krister! Ich … ich bin einfach in keiner guten Verfassung heute. Das Wetter … dieser elende, verrückte Winter. Das ist alles. Wirklich. Wann geht unsere Maschine?«
»Um 19 Uhr 50, Adrian. Und was heißt das: Du warst beim Packen? Wo ist deine Haushälterin, diese Frau …«
»Kretschmar. Sie liegt mit Grippe im Bett. Seit gestern.«
»Ich schicke sofort jemanden, der dir hilft!«
»Unter keinen Umständen, Krister! Ich komme sehr gut zurecht.« Lindhout lachte kurz auf. Es war das Lachen eines Mannes, der unter schwierigsten Umständen versucht, seine Haltung nicht zu verlieren. »Also 19 Uhr 50, wie?« Ich muß mich noch viel mehr zusammennehmen, dachte er verzweifelt. Der Botschafter darf nichts merken. Kein Mensch darf etwas merken. Hier nicht, in Stockholm nicht, nirgends, sonst bin ich gleich ein toter Mann.
»Da ist noch etwas, Adrian …«
Er fühlte Schweiß auf der Stirn. Ich darf nicht so schreckhaft sein, dachte er, und fragte: »Noch etwas?«
»Jean-Claude …«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat mich eben angerufen.«
»Weshalb?«
»Du weißt, wie schüchtern er ist. Er hat nicht gewagt, dich zu fragen.«
»Was zu fragen?«
»Ob er wieder mitfliegen darf.«
»Zum Teufel, selbstverständlich darf er! Seit achtzehn Jahren ist er mein engster Mitarbeiter! Und da wagt er nicht … Ich werde Jean-Claude sofort anrufen und ihm sagen …«
»Nein, du mußt packen. Du hast zu tun. Ich informiere Jean-Claude, und ich denke, ich hole zuerst ihn ab, und so etwa ein Viertel vor sechs Uhr kommen Jean-Claude Collange und ich zu dir. Ist dir das recht? Da haben wir genügend Zeit für die Fahrt hinaus nach Schwechat zum Flughafen und alles andere — Fernsehen, Rundfunk, Journalisten. Und einen ordentlichen Whisky. Was dir fehlt, ist ein ordentlicher Whisky. Ich kenne doch deine Stimmungen. Wenn du einen anständigen Schluck getrunken hast, sieht die Welt gleich ganz anders aus!«
Aus nebelhaften Fernen kehrte Lindhouts Blick zurück, wurde klar, fiel auf die Zeitung, die vor ihm lag — den KURIER vom Tage. Er las die riesigen Schlagzeilen …
Jetzt droht Weltkrise!
Sowjets mobilisieren!
Eine Million Mann marschbereit an China-Grenze
Lindhout sagte lachend: »Ja, dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.«
Er dachte: Und es gibt keine Möglichkeit mehr, zu entkommen. Keine Möglichkeit mehr, nein.
»Ich freue mich auf die Reise, Adrian!«
»Ich mich auch«, sagte Lindhout. Guter Freund, dachte er, guter Freund Krister.
Adrian Lindhout kannte den Botschafter Schwedens in Wien erst seit dem 10. Dezember 1978. Da hatte Seine Exzellenz Krister Eijre angerufen und ihm, noch bevor die Massenmedien informiert waren, mitgeteilt, daß er den Nobelpreis für Medizin erhalten habe. Die Verkündung der Preise findet alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, statt. Dann, am 17. Januar 1979, hatte Krister Eijre in Begleitung des Dr. Jean-Claude Collange den Biochemiker Professor Dr. Adrian Lindhout nach Stockholm gebracht, wo dieser den Preis aus den Händen des schwedischen Königs Carl XVI. Gustaf entgegennahm. Alles war feierlich und den Statuten gemäß abgelaufen. Die Statuten besagten, daß jeder Preisträger innerhalb einer bestimmten Frist vor dem Auditorium der Schwedischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über seine Arbeiten und seine Entdeckung halten sollte. Adrian Lindhouts Vortrag nun war für den 24. Februar 1979 geplant. Er ist, da die Tragödie ihren unerbittlichen Lauf nahm, niemals gehalten worden.
2
In jenen nur rund zehn Wochen ihrer Bekanntschaft wurden der Botschafter und Adrian Lindhout Freunde. Adrian war tief beeindruckt von der Integrität des Diplomaten, und dieser verehrte ihn. Beinahe täglich trafen sie einander und redeten sich bald schon — ein Vorschlag Eijres — mit dem vertraulichen Du an. Nächte hindurch saßen sie vor dem großen Kamin in der Botschaft oder in Lindhouts Arbeitszimmer, zwischen riesigen Bücherwänden, in denen, vor der einzigen freien Stelle, eine farbige Lithographie von Marc Chagall hing: die Köpfe eines Liebespaares unter Geäst in den Farben Rot, Rosa, Gelb und Blau. Wie vor allen Gefahren dieser Welt geschützt, war das Paar eingebettet in eine schmale schwarze Sichel, die der des zunehmenden Mondes glich.
Stets sprachen die beiden Männer über Lindhouts Entdeckung. Eijre nannte seinen neuen Freund gern einen der ganz großen Wohltäter der Menschheit. Und natürlich ließ er es sich nicht nehmen, Lindhout auch auf dem zweiten Flug nach Stockholm zu begleiten.
Die Gespräche mit dem Botschafter hatten dem für einen nicht Informierten — und nicht informiert waren sie alle, ja alle! — völlig unverständlich von Tragik umwitterten Lindhout zum einen stets wohlgetan, zum andern ihm wieder und wieder jene Schlußsätze des Manuskripts ins Gedächtnis gerufen, das in einem Safe der nahen Länderbank lag. Es war das Manuskript von Lindhouts letztem Werk und durfte, dessen Testament zufolge, erst nach seinem Tode der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. So lauteten diese Sätze: »Dabei ist es nicht die Droge, die den Menschen gefährdet, sondern die menschliche Natur, die der Droge, wie vielem anderen auch, nicht gewachsen ist. Die Droge ist in dieser Hinsicht entfernt mit geistigen Dingen zu vergleichen, die in die Menschheit hineingetragen worden sind und hineingetragen werden: Welches politische Konzept, welche Ideologie, welches noch so überzeugend klingende Glaubensbekenntnis hat nicht auch Anlaß gegeben zu üblem Mißbrauch? In der psychischen Struktur des Menschen, in seinen Ängsten und Konflikten, in seinem Geltungsstreben, in seinen wohlverborgenen eigensüchtigen Motivationen ist es gelegen, daß selbst die edelsten Gedanken als Waffen gegen vermeintliche Gegner mißbraucht werden. In einer Epoche, in der, auf Grund der sozialen und der technischen Entwicklung, die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen zwangsläufig vermindert ist, wird die Zahl derer, die in der Bewältigung ihrer Situation über genügend Hemm- und Bremsmechanismen verfügen, klein sein …«
An diese Sätze hatte Lindhout bei seinen nächtlichen Gesprächen mit dem Schwedischen Botschafter immer wieder denken müssen. Und er mußte auch jetzt, da Krister Eijre ihn anrief, an sie denken. Vor zehn Jahren, überlegte er benommen, den Chagall betrachtend, hätte ich derlei noch nicht denken und schreiben können …
Er verabschiedete sich rasch und legte den Hörer in die Gabel. Danach stand er auf und trat, einem Schlafwandler gleich, an die hohe Glastür, die zu einem Balkon mit steinerner Balustrade hinausführte.
Lindhouts Wohnung befand sich im vierten Stock eines Hauses an der Berggasse im Wiener IX. Gemeindebezirk, nahe der Votivkirche, der Währingerstraße und dem Schottenring. Von der Währingerstraße fiel die Berggasse steil ab zur Rossauerlände. Dort unten befanden sich das Sicherheitsbüro und, anschließend, das Polizei-Gefangenenhaus. Das Gebäude, in dem Lindhout wohnte, war in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden, ein stattliches Haus in eklektischem Stil: Die Fassade gehörte in ihrem unteren Teil der Renaissance an, während sie oben mit neoklassizistischen Details verziert war. Neben zahlreichen großen Balkonen gab es grimmige Löwen und gewaltige Heroen aus Stuck zu betrachten.
Lindhout stand reglos. Die grellen Strahlen der Wintersonne blendeten ihn, seine Augen begannen zu tränen, aber er schloß sie nicht, er senkte nur den Blick und sah hinab auf die belebte Straße. Niemand, nicht einmal er selber mit all seinem Wissen und seiner entsetzlichen Angst, ahnte zu jenem Zeitpunkt, daß nicht einmal eineinhalb Stunden später dort unten auf der Straße, vor Lindhouts Haus, ein Mann liegen sollte, tot, die Glieder zerschmettert und im Schädel ein stählernes Geschoß, abgefeuert aus einer Pistole, Modell Walther, Kaliber 7.65.
3
Der zweite Anruf kam genau um 16 Uhr 30, und er traf Lindhout nicht unerwartet. Dieser Zeitpunkt war verabredet gewesen.
»Sie wissen, wer spricht, verehrter Herr Professor?« Die Stimme klang devot und sanft. Du verfluchter Hund, dachte Lindhout und sagte: »Natürlich, Herr Zoltan. Sie sind sehr pünktlich.«
»Ich bin immer sehr pünktlich, Herr Professor. Sie fliegen also heute abend nach Stockholm?«
»Ja.« Die Sonne war gesunken. Sie stand über den Weinbergen im Westen der Stadt, und ihre grellen, kalten Strahlen trafen plötzlich den Chagall in der Bücherwand und ließen ihn magisch aufleuchten. Lindhout starrte das Liebespaar an. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken: Zoltan redet wie immer. Vielleicht ahnt er nicht, was ich inzwischen weiß. Vielleicht ahnt er es aber doch? Vielleicht weiß er es gar, und dies hier stellt nur einen Test, eine Probe dar? Zoltan ist ein sehr kluger Mensch. Auch ich muß jetzt sehr klug sein, so klug, wie ich nur kann, denn wenn ich falsch reagiere, wenn Zoltan das Gefühl bekommt, daß ich weiß, was ich weiß, dann wird er nicht zögern, sofort zu handeln. Also muß ich Zoltan in Sicherheit wiegen. Nur so habe ich eine Chance, noch etwas länger zu leben — dieses mein elendes, verfluchtes Leben. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Lewin sagt, daß ich keine Chance mehr habe, nicht die kleinste …
Lindhout schloß kurz die müden Augen. Er lebte seit Wochen in einem Zustand abgrundtiefer Verzweiflung, doch da gab es noch kurze, jähe Momente des Aufbegehrens. Eben jetzt durchzuckte ihn wieder Hoffnung: Und wenn Lewin zu schwarz sieht? Und wenn es mir gelingt, Zoltan und seine Leute zu überlisten, den Beweis zu finden, daß ihre toten Zeugen falsche Zeugen sind, daß ihre abgesicherten Dokumentationen eben doch nicht abgesichert sind? Dann würde, dann könnte es mir am Ende doch noch gelingen, die Früchte meiner Arbeit, dieser Arbeit eines Lebens, zu retten und einen ungeheuerlichen internationalen Skandal aufzudecken: dieses maßlose Verbrechen zu verhindern, diese grenzenlose Infamie zu durchkreuzen, einer schaudernden Welt die Wahrheit zu sagen … Freundlich und harmlos also, um des Millionstel Prozentes einer Chance willen! Harmlos und freundlich fragte Lindhout: »Sie möchten wissen, wann ich zurückkomme, nicht wahr?«
»So ist es, verehrter Herr Professor.« Zoltan ahnt nicht, daß ich alles weiß. Ahnt er es wirklich nicht?
Lindhout fühlte sein Herz klopfen im schnellen Rhythmus des Hoffens, des Hoffens entgegen jeder Logik, jeder Tatsache, jedes Wortes, das Lewin gesagt hatte. Und wenn es nur ein Funken an Hoffnung war, er würde ihn zu loderndem Feuer bringen! »Sie haben mir bei unserem letzten Treffen versprochen, heute den Termin zu nennen. Heute kennen Sie ihn. Heute kennen Sie die Ergebnisse Ihrer Untersuchung in der Mayo-Klinik, das ist doch so, nicht wahr?«
»Genauso ist es.« Lindhout dachte: Ich fühle mich seit jenem Tag so elend, so sehr elend. Der gute, arglose Krister! Prompt hat er mich nach Rochester in die Mayo-Klinik fliegen lassen. Ich mußte hinfliegen, wie hätte ich meinen Zustand sonst erklären können? Und ich mußte Zoltan sagen, daß ich fliege. Natürlich weiß der genau, daß die Befunde des Check-ups allesamt exzellent gewesen sind. Es wird wohl kaum etwas geben, das Zoltan nicht weiß. Er traut mir nicht. Er hat in seinem ganzen Leben niemals einem einzigen Menschen eine einzige Sekunde lang vertraut, nicht einmal sich selbst … Lindhout sagte: »Ich bin kerngesund …«
»Wie schön!«
»… und ich werde spätestens am sechsundzwanzigsten Februar wieder in Wien sein … falls nichts passiert.« Jetzt prüfe ich ihn einmal, dachte Lindhout.
»Was sollte passieren, verehrter Herr Professor?«
»Nichts … eine Redensart.« Jählings war wieder die Verzweiflung da, die grauenvolle Verzweiflung der letzten Zeit. Vorbei der wilde Herzschlag des Hoffens. Nein, keine Chance, dachte Lindhout. Lewin hat recht. Es ist aus. Aber dann, dachte er trostlos, was soll aus dem Menschen schon werden können, wenn ihm nur eines gewiß ist: der Tod?
»Sie werden nicht ohne Schutz und Hilfe sein in Stockholm, verehrter Herr Professor«, erklang Zoltans Stimme.
»Lassen Sie mich überwachen? Spionieren Sie mir etwa nach?« Lindhout sprach plötzlich laut und wütend. Jetzt muß ich laut und wütend sprechen, dachte er. Muß ich? Ach, wozu noch?
»Ich bitte Sie um alles in der Welt, lieber Herr Professor — was für Worte? Wir sind ehrlich um Ihr Wohlergehen besorgt … das glauben Sie mir doch hoffentlich, nicht wahr?«
»Ja, das glaube ich in der Tat«, sagte Lindhout bitter. Und er dachte: Menschen. Was sind wir Menschen? Eine degenerierte Tierrasse. Das sinnvoll instinktgesteuerte Triebleben des Tieres ist bei uns Menschen durch die Entwicklung des Großhirns und damit des Geistes, ist durch den Verstand, auf den wir so stolz sind, ist durch unsere Handlungsfreiheit entartet — und unser Geist, unser Verstand ist zu schwach, unser Triebleben zu steuern. Daher wird bei den Menschen immer wieder das Animalische, und das heißt bei uns: das Nur-Degenerierte durchschlagen. Damit hätten wir eigentlich bereits die gesamte Menschheitsgeschichte und wissen, was uns noch erwartet.
Zoltans Stimme erklang: »Wenn Sie also spätestens am sechsundzwanzigsten nach Wien zurückkehren, können wir es bei dem vorgesehenen Termin belassen, ist das so?«
»So ist es, Herr Zoltan.«
»Na also! Da freue ich mich aber!« Ja, dachte Lindhout, wie sehr du dich freust, kann ich mir vorstellen. »Also bleibt mir, Ihnen einen ruhigen Flug, einen angenehmen Aufenthalt in Stockholm und eine frohe Heimkehr zu wünschen, Herr Professor. Wie glücklich bin ich, daß alles so glatt geht.«
»Nicht mehr als ich, Herr Zoltan, nicht mehr als ich. Guten Tag«, sagte Lindhout und legte den Hörer wieder in die Gabel.
Er stand auf, immer noch den Chagall betrachtend, und hielt einen Daumen gegen die Lippen. So verharrte er auf seinem Platz, ein großer schlanker Mann, das graue Haar verwirrt, das Gesicht von Falten und Furchen durchzogen, die Lippen voll und breit, die blauen Augen unter den schweren Lidern von beständiger Trauer erfüllt, dabei hellwach. Er hatte zarte, schöne Hände. Er trug einen Pullover von blauer Farbe, im Ausschnitt ein buntes Tuch, graue Flanellhosen, die aussahen, als hätten sie niemals Falten gehabt, und bequeme, weiche Pantoffeln. So stand er vor dem von Büchern, Manuskripten und Papieren jeder Art überquellenden Schreibtisch, als das Telefon gleich darauf wieder zu läuten begann. Es war der dritte Anruf an diesem Nachmittag, und Lindhout blieb die ganze Zeit über, die er nun sprach, stehen, während die Strahlen der untergehenden Sonne von dem Liebespaar fort auf die Gesammelten Werke des Baruch de Spinoza wanderten.
4
»Hier spricht Haberland!« Die Stimme, mit leichtem Wiener Akzent, war die eines Mannes etwa des gleichen Alters wie Lindhout.
»Es tut mir leid, ich kenne Sie nicht.«
»Das dachte ich mir. Ich bin Kaplan Haberland. Ich habe mich zuerst auch nicht an Sie erinnert. Es ist schon so lange her. Dann fiel es mir wieder ein. Es wird auch Ihnen wieder einfallen, gleich, wenn Sie mich sehen.«
»Was heißt das: gleich, wenn ich Sie sehe?«
»Ich kann in dreißig Minuten bei Ihnen sein.«
»Hören Sie, Herr Kaplan, hier muß ein Irrtum vorliegen.«
»Leider nein.«
»Wieso leider? Ich sage Ihnen, ich kenne Sie nicht, und ich bin im Begriff, zu verreisen. Nach Stockholm. Ich muß mich noch umziehen, ich werde in einer Stunde abgeholt.«
Plötzlich war die Stimme des andern sehr bestimmt. »Ich muß Sie vorher sprechen!«
»Was fällt Ihnen ein?« Lindhout räusperte sich ärgerlich. »Ich sagte Ihnen doch, ich kenne Sie nicht.«
»O doch.«
»Wenn das ein Spaß sein soll, dann ist es ein sehr dummer.«
»Es ist kein Spaß! Ich bestehe darauf, daß Sie mich jetzt empfangen! Sofort! Vor Ihrer Abreise!«
»Warum sollte ich Sie empfangen, Herr Kaplan?«
»Ich habe heute einen Brief von Fräulein Demut erhalten.«
»Von wem?«
»Von Fräulein Philine Demut, Herr Professor. An die müssen Sie sich erinnern!«
»Philine Demut … oh! Ja, natürlich! Aber was reden Sie da für Unsinn? Fräulein Demut ist seit dreißig Jahren tot!«
»Seit dreiunddreißigeinhalb Jahren.«
»Wer immer Sie sind, ich habe jetzt genug! Ich muß nach Stockholm …«
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Es steht auch in allen Zeitungen. Trotzdem: Ich muß sofort mit Ihnen reden!«
»Das geht nicht!«
»Das muß gehen!«
»Nein!« schrie Lindhout in jähem Ärger.
»Wenn Sie mich nicht empfangen«, sagte der Mann, der behauptete, Kaplan zu sein und Lindhout zu kennen, »kann aus Ihrem Stockholm-Flug nichts werden. Es geht nämlich um Mord!«
»Um … was?«
»Um Mord«, sagte die Stimme des Kaplans Haberland. »Herr Professor, Sie haben einen Menschen ermordet.«
5
Nach einem Fluch entschuldigte sich Lindhout bei dem Kaplan. Sein Gesicht war plötzlich bleich, fast weiß geworden. Seine Stimme versagte, als er sprechen wollte. Er mußte ein zweites Mal ansetzen, und auch da sprach er heiser.
»Gut. Kommen Sie.«
»Sie erinnern sich jetzt also wieder an alles?«
»Ja«, sagte Lindhout. »An alles erinnere ich mich. Ich erwarte Sie, Herr Kaplan. Und beeilen Sie sich.«
Zum dritten Mal ließ er den Hörer in die Gabel fallen. Eine jähe Verwandlung ging in ihm vor. Hart war sein Gesicht nun, entschlossen und gestrafft. Er öffnete eine versperrte Lade des Schreibtischs, entnahm ihr eine Pistole, zog den Verschluß zurück und ließ eine Patrone in die Kammer springen. Wie die kriminalpolizeiliche Untersuchung später ergab, war es zu diesem Zeitpunkt genau 16 Uhr und 45 Minuten. Bevor Lindhout aus der Waffe dann den tödlichen Schuß abfeuerte — auch das wurde anläßlich der Rekonstruktion des Falles zweifelsfrei geklärt —, vergingen noch zweiundfünfzig Minuten. Lindhout schoß erst um 17 Uhr 37. Bei der Pistole handelte es sich um ein altes, aber hervorragend gepflegtes Stück, gereinigt und geölt, das Magazin gefüllt, jederzeit zu blitzschnellem Handeln bereit.
Lindhout setzte sich. Seine Gedanken gingen weit, weit zurück in eine ferne Vergangenheit, die, wie er gedacht hatte, für immer verschwunden war im Sandmeer der Zeit. Spurlos. Sie war also nicht verschwunden, diese Vergangenheit. Wieso nicht? Was bedeutet das alles? Ein Trick? Eine neue Bedrohung? Zornig war Lindhout nun. Kaplan Haberland … Es schien ihm, als sei ihm vor langer, langer Zeit einmal, ein einziges Mal, ein Mann dieses Namens begegnet. Aber war dies derselbe, der eben angerufen und sich so genannt hatte? Oder war es ein anderer, vielleicht gar einer von Zoltans Kreaturen?
Lindhouts Finger preßten sich um die Pistole. Er war nicht unvorbereitet, wenn da einer von Zoltans Leuten kam. Notfalls, dachte Lindhout, nehme ich den Kerl, der sich Haberland nannte, mit, wenn es darauf ankommt.
Die letzten Sonnenstrahlen waren aus dem Zimmer gewichen. Der Himmel wurde dunkler. Lindhout saß reglos. Er erinnerte sich, erinnerte sich an alles, was geschehen war in langen, langen Jahren. Auf dem Schreibtisch lag ein mit Maschine getipptes Manuskript. Es enthielt den englischen Text des Vortrags, den er vor der Schwedischen Akademie der Wissenschaften halten wollte. Der Vortrag trug den Titel:
Die Behandlung der Morphin-Abhängigkeit durch antagonistisch wirkende Substanzen
Auf dieses Manuskript legte der Professor Dr. Adrian Lindhout die nunmehr geladene und entsicherte Pistole, Modell Walter, Kaliber 7.65 Millimeter.
Teil II
Die Kräfte des Guten
1
1938, im Juni, fragte Philine Demut den Kaplan Roman Haberland, ob es Gott dem Allmächtigen denn auch gewiß wohlgefällig wäre, wenn sie eine rote Fahne mit einem weißen, kreisrunden Feld und dem schwarzen Hakenkreuz darauf erwarb und diese am Balkon ihrer Wohnung im vierten Stock des Hauses an der Berggasse anbrachte.
Haberland, ein rotgesichtiger, großer, starker Bauernsohn aus der Nähe von Salzburg, fragte, wie sie denn auf diesen Gedanken gekommen sei.
»Unser Hausbesorger, Hochwürden, der Pangerl, Sie wissen schon. Er ist gestern erschienen und hat gesagt, daß ich so eine Fahne vom Balkon herunterhängen lassen muß. Schon längst hätte ich es tun müssen, wie alle anderen. Er ist sehr böse gewesen, wie ich ihm gesagt habe, daß ich so eine Fahne noch gar nicht gekauft habe und daß ich mich erst besprechen muß mit Ihnen, Hochwürden.«
Der zu diesem Zeitpunkt neunundzwanzigjährige Kaplan mit dem stets fröhlichen Gesicht, den lustigen Augen, dem braunen Haar und den prächtigen Zähnen hinter den vollen Lippen eines großen, empfindsam geschwungenen Mundes, dachte kurz darüber nach, ob Gott wohl einer hilflosen jungen Frau verzeihen würde, die unter dem Zwang eines rabiaten Hausbesorgers namens Pangerl eine Hakenkreuzfahne an ihrem Balkon befestigte, wenn der Kirchenfürst von Wien, Theodor Kardinal Innitzer, am Stephansdom gerade dasselbe getan hatte, und entschied, daß der Allmächtige da wohl nicht kleinlich sein dürfte.
»Es ist besser, Sie kaufen so eine Fahne«, sagte er.
Die attraktive, wenn auch etwas magere Philine Demut nickte erleichtert.
»Ich danke Ihnen, Hochwürden. Auf den Pangerl, auf den hätte ich nicht gehört, aber Ihnen vertraue ich! Ich bin sehr froh darüber, daß ich immer Sie fragen kann, wenn ich keine Antwort weiß.«
»Kommen Sie mit allen Ihren Fragen getrost zu mir, Fräulein Demut.«
Das achtundzwanzigjährige Fräulein sah ihn aus lebhaften dunklen Augen an.
»Ja, Hochwürden, mit Freuden! Trotzdem«, sagte sie, und ihr hübsches Gesicht verdüsterte sich, »gern tu ich es nicht.« Sie beugte sich vertraulich vor. »Wissen Sie was? Dieser Hitler — ich habe über ihn in den Zeitungen gelesen, und in der Wochenschau im Kino habe ich ihn natürlich auch gesehen … also ich glaube, dieser Hitler, das ist kein guter Mensch.«
O Gott, dachte Roman Haberland.
»Gestern haben SA-Leute die Silbermanns abgeholt, die unter mir gewohnt haben. Na, und vor ein paar Tagen ist der Herr Professor abgereist.« Sie standen auf dem breiten Balkon mit seiner schweren steinernen Brüstung. Es war ein heißer Tag.
»Das habe ich gehört«, sagte Haberland.
»Sie haben ihn auch gekannt, gelt?« Philine Demut lächelte kokett. Alles war zierlich an ihr: die Füße, die Hände, der Kopf, die Augen, der Mund, die Ohren. Ihre Stimme war von aggressivem Charme. »Da drüben hat er gewohnt. Nummer neunzehn!« Haberland blickte in die Richtung von Philines ausgestreckter, sehr kleiner und sehr weißer Hand. Er sah, schräg gegenüber, das Haus, in dem Sigmund Freud vom Sommer 1891 bis zum Sommer 1938 gelebt, gearbeitet, seine meisten Patienten behandelt und seine meisten Werke geschrieben hatte. Das Haus war im gleichen Stil der »Gründerzeit« erbaut worden wie jenes, in dem Philine wohnte. Haberland kannte Freud, und er kannte auch Philine Demut schon seit langer Zeit. In der Tat war es ihm zu danken, daß Philine von Freud behandelt worden war. Der Kaplan sah seitlich hinüber zum Haus dieses großen Mannes, der Österreich nun also auch verlassen hatte. Er sah zur ebenen Erde Siegmund Kornmehls Metzgerei links und den Ersten Wiener Konsum-Verein rechts von der Eingangstür. Er wußte, daß Freud im ersten Stock gelebt hatte — in einer nicht sehr großen Wohnung. An den Balkonen hingen überall Hakenkreuzfahnen, eine besonders lange war am Dachfirst befestigt worden.
»Der gute Herr Professor!« ließ sich Philine klagend vernehmen. »So vielen Menschen hat er geholfen! Und? Angefeindet und gehaßt haben ihn die Wiener und seine Kollegen, eine Schande ist das! Und auf seine alten Tage muß er jetzt auch noch weg! Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat, Hochwürden, wie ich zu ihm gegangen bin, um mich zu verabschieden und um ihm alles Gute zu wünschen?«
»Sie sind sich verabschieden gegangen?« Haberland betrachtete das Fräulein neugierig.
»No freilich! Das gehört sich doch so! ›Alles ist gut‹, hat der Herr Professor gesagt, ›weinen Sie nicht, liebes Fräulein Demut. Ich gehe nur fort von hier, weil ich in Freiheit sterben will …‹« Philines Stimme bebte vor Mitgefühl. Sie schwieg, überlegte angestrengt und fuhr dann fort: »Natürlich, er ist ein Jud, das weiß ich wohl, und die Silbermanns, die sie abgeholt haben, das sind auch Juden …« Sie flüsterte, hinter einer vorgehaltenen Hand: »Sie sind alle miteinander schuld daran, daß Unser Herr Jesus Christus gekreuzigt worden ist. Aber ich bitte Sie, Hochwürden, das ist doch schon so lange her! Die Leute im Haus sagen, der Hitler wird alle Juden umbringen lassen. Also, das ist nicht recht, meine ich, Hochwürden, wie?« Sie sah Haberland auf seltsame Weise hilflos lüstern an.
Er seufzte, denn er erinnerte sich an jene Zeit, da er Freud mehrmals aufgesucht hatte, um mit ihm über Fräulein Demut zu sprechen. Haberland war damals ganz junger Seelsorger im nahen Allgemeinen Krankenhaus gewesen, wo er auch schon das Fräulein betreute. Eines Tages, als Kaplan Haberland Freud aufgesucht hatte, war der Professor aus dem Zimmer gerufen worden, und Haberland hatte Philines Krankengeschichte gelesen, die Freud von der Klinik zugeschickt worden war, bevor er mit der Behandlung begann. Etwa so las sich diese Krankengeschichte:
»Die Patientin wurde am 15. September 1910 geboren. Es handelt sich um die einzige Tochter relativ alter Eltern; Mutter bei Geburt des Kindes 41, Vater 46 Jahre. Das Kind wuchs verwöhnt und verzärtelt auf, neigte sich später insbesondere dem Vater zu, dem es in großer Liebe verbunden war. Die Mutter, übervorsorglich dominierend, reagierte auf die Verbindung Vater und Tochter eifersüchtig. Auch noch zu Beginn der Pubertät wurden mit dem Vater Zärtlichkeiten ausgetauscht. Mit 16, verliebte sich die Patientin anläßlich eines Pfarrjugendtreffens — sie war katholisch erzogen und gläubig, ohne übertrieben religiös zu sein — in einen jungen Kaplan. Häufige Treffen, Wienerwald-Spaziergänge in der Gruppe, wahrscheinlich auch heimliches Treffen. Unmöglich, zu eruieren, wie weit diese Liebesbeziehung gegangen ist. Der Kaplan zog sich zurück. Daraufhin kam es bei der Patientin zu einer starken religiösen Fixierung mit Buß- und Fastenübungen, verbunden mit einer Abscheu vor aller Unmoral, insbesondere in sexueller Hinsicht. Die weibliche Rolle wurde abgelehnt, die Menstruation als etwas Abscheuliches empfunden. Zweite Liebesbeziehung zu einem Pfarrer. Die nunmehr höchst religiös fixierte Patientin entwickelte Liebe zu allen Geistlichen, die sie als Jünger Christi empfand. Über ihrem Bett hing ein Bild, das den fast unbekleideten Christus bei der Geißelung zeigt. Patientin wachte stunden- und nächtelang im Gebet und geriet in ekstatische Zustände, während derer sie kaum ansprechbar war. Eines Tages wurde sie von der Mutter dabei überrascht, wie sie vor dem Christusbild Selbstbefriedigung trieb. Der erwähnte zweite Pfarrer verliebte sich in die Patientin. Sie verriet ihn, was einen großen, mühsam unterdrückten Skandal zur Folge hatte. Daraufhin stellte Patientin Schulbesuch knapp vor der Matura ein, nahm bis auf 32 kg und einen lebensgefährlichen Zustand ab, so daß sie an unsere Klinik gebracht werden mußte …«
Und dort habe ich Philine Demut kennengelernt, dachte Kaplan Haberland, bemüht, den Rest der Krankengeschichte zu rekonstruieren …
»… Charakteristika: Äußerlich sehr attraktiv, etwas zu mager, Glanzauge, leicht erregbar, großes Interesse für erotische Themen, unter Ablehnung jeglicher tatsächlichen Sexualität. Bei jedem Mann, der ihr näherkommt, verwickelt Patientin sich in Konflikte, vermutet immer die Sünde, lockt den Mann an, stößt ihn abrupt zurück und glaubt, daß Unzucht, Unmoral und Sünde drohten. Die Sexualität ist gänzlich auf die Religiosität hin verschoben. Ein sehr rascher Wechsel von Stimmungen, Motivationen und Aktivitäten ist ebenso charakteristisch wie die letztlich vorhandene Eiseskälte gegen jedermann und ein daraus resultierendes Intrigantentum.
Diagnose: Hysterie mit wahnhaften Zügen in Richtung auf religiösen Wahn, beziehungsweise Liebeswahn.
Zusammenfassend: Patientin hat sich an unserer Klinik einigermaßen psychisch und körperlich erholt, das Gewicht ist auf 43 kg angestiegen.
Über Vorschlag des Klinik-Seelsorgers Haberland und auf Wunsch der Eltern wird die Patientin überwiesen an Herrn Professor Sigmund Freud, Wien IX., Berggasse 19, dem Kopie dieser Krankengeschichte zugeht …«
Ja, dachte Kaplan Roman Haberland, als er an diesem heißen Vormittag im Juni 1938 neben Philine Demut auf dem Balkon im vierten Stock ihres Wohnhauses stand und die vielen Hakenkreuzfahnen betrachtete, das ist nun auch schon wieder neun Jahre her. Die Zeit. Wie die Zeit vergeht … Damals war ich Seelsorger im Allgemeinen Krankenhaus, heute bin ich zwar noch immer Seelsorger, doch auch andere Aufgaben habe ich nun, ja ganz andere …
Es ist gut, dachte Haberland, daß ich mit meinem Beruf als Seelsorger in der Lage bin, diese anderen Aktivitäten zu verbergen. Professor Freud hat damals, als Philine Demut zu ihm kam, die psychoanalytische Behandlung unter Annahme einer sogenannten »Kachexia nervosa« begonnen. Da aber die Eltern wiederholt vorsprachen, in der Behandlung intervenieren wollten und die Tochter sich immer wieder auf die mütterlichen Ratschläge zurückzog, brach Freud seine Bemühungen nach einem knappen Jahr ab. Der seelisch abnorme Zustand des Fräuleins verstärkte sich daraufhin noch und schien nun ganz und gar versteinert.
Mit ihren achtundzwanzig Jahren war Philine immer noch Jungfrau, und als Jungfrau sollte sie sterben. Sie stand inzwischen ganz allein auf der Welt. Zuerst war die Mutter gestorben, an einer doppelseitigen Lungenentzündung, dann, ein Jahr später, der Vater einem Gehirnschlag erlegen. Er hatte als wohlhabender Kaufmann für den Fall seines Todes reichlich vorgesorgt; Philine brauchte nicht über finanzielle Sorgen zu klagen.
Zweimal, manchmal öfter, kam Roman Haberland zu Besuch in die große Wohnung, und so hatte Philine das, was man in Wien eine »Ansprache« nennt. Ansonsten war sie vollauf beschäftigt: In wochenlanger, monatelanger, selbstversunkener Arbeit stickte sie Kaffeedeckchen und Tischtücher mit den verschiedensten Sinnsprüchen wie: ISS, WAS GAR IST, TRINK, WAS KLAR IST oder UNSER TäGLICH BROT GIB UNS HEUTE oder MIT GOTT FANG AN, MIT GOTT HöR AUF! Einmal stickte sie einen prächtigen Hahn, der auf einem Küchentisch stand, hinter ihm eine Köchin, die ein riesenhaftes Messer wetzte. Darüber brachte Philine die Worte an: DU AHNST ES NICHT!
Dieses Deckchen verbrannte sie dann abends mit einem Gefühl größter Erleichterung. Denn sie hatte sogleich eingesehen, daß es einer guten Christin unwürdig war, Spott mit dem Leiden unschuldiger Kreaturen zu treiben.
Kaplan Haberland bewunderte ihre Werke. Wie stolz war Philine da! Wie viele Deckchen stickte sie nun! Und alle gingen den gleichen Weg: zu einem nahegelegenen Lokal, Treffpunkt der »Katholischen Katharinen-Vereinigung« in der Liechtensteinstraße, wohin der gute Kaplan Haberland Philine Demut brachte. Dies war ein Treffpunkt alter und junger Damen, allesamt einsam, wie es von derlei Art zahlreiche gibt. Die Begegnungen in der Liechtensteinstraße leitete, abwechselnd mit anderen Geistlichen, Roman Haberland.
Bald schon war dieses Lokal der »Katholischen Katharinen-Vereinigung« Philines zweites Zuhause. Hier fühlte sie sich stets glücklich. Hier kannte sie schon bald alle anderen Frauen und wußte sich verstanden, geborgen und unter Freundinnen. Die vielen Deckchen vermachte sie den Ärmsten der Armen Wiens, deren Elendswohnungen jeglichen Schmucks entbehrten.
Die allwöchentlichen Abende in der »Katharinen-Vereinigung« bildeten die Licht- und Höhepunkte in Philine Demuts Leben. Sie stellten Feststunden dar, auf die sich das hübsche Fräulein sorgsam vorbereitete. Sie badete, sie wusch ihr blondes Haar mit Essig, um es noch blonder und glänzender zu machen. Am Mittag eines solchen Tages aß sie auswärts. Es waren dies die einzigen Anlässe, zu denen Philine Demut bis zu ihrem frühzeitigen und gewaltsamen Tode auswärts aß, und sie hatte ein »Beisel« entdeckt, in dem nur Frauen bedienten. Nach dem Mahl wanderte sie langsam eine Weile durch den nahen Ersten Bezirk und betrachtete die Auslagen der Geschäfte, die angefüllt waren mit vielen Dingen, deren Zweck und Sinn sie nicht kannte und die sie samt und sonders als sündhaft empfand. Dann schlief sie bis 16 Uhr, und um 17 Uhr traf sie in der »Katharinen-Vereinigung« ein, überreichte Haberland ihre Deckchen, erhielt Worte des Dankes, des Lobes und der Anerkennung, und ihr Gesicht erhellte sich in einem Lächeln der Seligkeit. Hier war man gut zu ihr, hier war sie willkommen, hier war es schön!
In den niedrigen, dunklen, mit Bibelsprüchen und frommen Bildern gezierten Räumen verbrachte sie sodann den frühen Abend, gemeinsam mit etwa zwei Dutzend junger und alter Damen. Es wurde Kamillentee gereicht und billiger Lebkuchen. Haberland las ein wenig aus dem Buch der Bücher vor, aber man war auch ausgelassen, und dann spielten sie »Blinde Kuh«, »Berühmte Männer«, »Ich seh etwas, das du nicht siehst«. Im »Blinde-Kuh-Spiel« war Philine unschlagbar. Flink und geschickt wie ein Wiesel, spitze, erregte Schreie ausstoßend, huschte sie mit verbundenen Augen umher und fing jedermann, sosehr er es auch zu verhindern suchte. Bei den »Berühmten Männern« ging es weniger gut, aber da vertraute sie auf den Herrn Kaplan Haberland, der ihr einsagte, obwohl das eigentlich verboten und von den anderen nicht gerne gesehen wurde.
1937 kaufte Fräulein Demut in einer Anwandlung von beispiellosem Leichtsinn zu dem horrenden Preis von fünfundzwanzig Schilling eine große Bonbonniere und überraschte damit ihre Freundinnen, die in Jubel ausbrachen.
An diesem Abend saß das Fräulein still inmitten der anderen und sah zu, wie diese die Süßigkeiten hinunterschlangen. Philine selbst aß kein einziges Bonbon. Für einen kurzen sündigen Augenblick (sie bekreuzigte sich sofort erschrocken) dachte sie, daß es Unserem Herrn Jesus Christus ähnlich zumute gewesen sein mußte, als er, mit Brot und Wein, das gewisse Wunder vollbrachte. Um für diesen Gedanken, der gewiß vom Bösen Feind kam, Buße zu tun, machte Philine sich noch am gleichen Abend, in die Stille ihrer Wohnung zurückgekehrt, an die Herstellung der größten Decke, die sie jemals gestickt hatte. In unendlich mühevoller Arbeit produzierte sie eine Szene aus dem Neuen Testament sowie den Spruch: ICH BIN DER WEG, DIE WAHRHEIT UND DAS LEBEN.
Als sie fertig war mit diesem Unternehmen, gab sie die Decke, wohl verpackt, in der »Katharinen-Vereinigung« ab — für Hochwürden Haberland, der zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend war. Tags darauf kam der Kaplan zu Philine, um sich für das Geschenk zu bedanken. Sie habe ihm mit der Decke eine ganz besonders große Freude bereitet. Und eingedenk des Zustandes von Philine fügte er hinzu, daß sie damit sicherlich auch dem Herrn Jesus im Himmel eine ganz besonders große Freude gemacht habe.
Von diesem Augenblick an war Philine Demut dem Kaplan verfallen. Sie liebte ihn genauso absonderlich und krankhaft, wie sie lebte, aber es war, ohne Zweifel, eine reine Liebe.
Dem Kaplan Haberland tat die junge Frau leid. Gütig und klug, wie er war, wußte er, daß er es hier mit einem armen Wesen zu tun hatte, dem Natur und Erziehung übel mitgespielt hatten — mit einer verschreckten, wehrlosen Kreatur, die sich zur Kirche geflüchtet hatte wie ein Kind zur Mutter. Darum war er schon lange entschlossen, sich ganz besonders um Philine zu kümmern. So also dachte er auch an jenem heißen Vormittag im Juni 1938, als er neben dem Fräulein auf dem großen Balkon ihrer Wohnung stand und mit ihr über den Professor Freud, die Silbermanns und diesen Mann Hitler sprach. Auf seltsame Weise hilflos-lüstern sah Philine den Kaplan an und sagte leise: »Warum haßt der Hitler die Juden so? Wirklich nur, weil sie Unseren Herrn Jesus getötet haben? Ich glaub’s nicht so recht. Ich sage Ihnen, Hochwürden«, flüsterte sie vertraulich weiter und schmiegte sich an ihn, »es wird alles sehr bös werden jetzt, sehr, sehr bös …«
2
Für Philine Demut wurde es 1944 bös.
Das war am 5. August, als es klingelte. Philine saß auf dem Balkon und las dort in der Bibel (Die Geheime Offenbarung des hl. Apostels Johannes, 16. Kapitel, 18-19: »Nun folgten Blitze, Tosen, Donnerschläge, ein Beben, wie noch keines war, seitdem auf Erden Menschen leben; so furchtbar war dieses große Beben. Die große Stadt fiel in drei Teile auseinander, die Städte der Heiden stürzten ein. So ward vor Gott des großen Babylon gedacht und ihm der Becher Seines grimmen Zornweines dargereicht. Jede Insel schwand, und Berge waren nicht zu sehen …«). Auf das Läuten hin ging das Fräulein in den dunklen Flur und öffnete die Eingangstür. Von den drei Männern, die vor ihr standen, kannte sie nur einen: den Hausbesorger Pangerl, der sofort einen Ärm hochriß und brüllte: »Heil Hitler!«
»Guten Tag«, antwortete Philine mit Mühe — denn sie erschrak leicht und fürchtete sich vor fast allen Menschen, weil fast alle Menschen einem Böses tun konnten — und fragte: »Was gibt es denn, bittschön?«
»Die beiden Herren …«, begann der Hausbesorger, der auf seinem Hemd in Brusthöhe das Parteiabzeichen angebracht hatte. Er wurde aber unterbrochen von dem größeren der beiden Zivilisten, die gleichfalls keine Jacken trugen: »Fräulein Demut?«
»Ja …«
»Ich heiße Kiesler, das ist mein Kollege Hansen. Wir kommen vom Wohnungsamt. Erlauben Sie, daß wir eintreten.« Und mit diesen Worten schob er Philine auch schon zur Seite, und alle drei Männer polterten in die Wohnung.
»Aber meine Herren … meine Herren … ich bitte Sie, das geht doch nicht! Was fällt Ihnen ein … Also, wirklich, das ist eine Unverschämtheit … nein, nein, nein, das ist mein Schlafzimmer … Da ist doch noch nicht aufgeräumt!«
Allein die beiden Männer hörten überhaupt nicht auf Philine, nicht einen Augenblick lang. Von Zimmer zu Zimmer gingen sie, sahen es an, maßen es aus, sprachen halblaut miteinander, suchten auch noch Küche, Badezimmer und Klosett der altmodisch eingerichteten Wohnung, ohne sich um Philines weiteres Zetern zu kümmern, und machten Notizen auf großen Blocks. Philine mußte sich an eine Wand lehnen — eine ungeheuere Schwächewelle überflutete sie plötzlich.
… ein Beben, wie noch keines war, seitdem auf Erden Menschen leben, dachte sie, nach Atem ringend.
Die beiden Männer kamen mit dem Hausbesorger zurück. Wiederum sprach der größere, der sich Kiesler genannt hatte.
»Der Raum mit dem Balkon ist beschlagnahmt, Fräulein Demut.«
»Was heißt das?« flüsterte Philine bebend. »Beschlagnahmt? Von wem?«
»Von uns«, sagte der kleinere Hansen. »Sie leben allein hier?«
»Ja …«
»Vier Zimmer für eine Person. Das ist ja Wahnsinn«, behauptete Hansen mit greller Stimme, füllte ein Formular aus und sah Philine dabei rügend an.
… und ihm der Becher Seines Zornweines dargereicht …
»Unterschreiben Sie hier«, sagte Hansen und hielt Philine den Formularblock und einen Bleistift hin, mit dem Finger auf eine Zeile deutend. »Na also bitte, Fräulein Demut, wenn Sie so freundlich sein wollen, ja? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit für Sie!«
… die Städte der Heiden stürzen ein, dachte Philine und schrieb mit zitternder Hand ihren Namen auf das Formular, wie es gefordert worden war.
»Der Mieter wird in den nächsten Tagen eintreffen«, sagte nun Kiesler, der Große, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Räumen Sie die Möbel des Balkonzimmers aus, machen Sie sauber. Vermutlich werden wir wiederkommen. Vier Zimmer für eine einzige Person! Heil Hitler!«
»Heil Hitler!« krähte auch der kleinere Hansen. Dann waren die beiden wieder verschwunden. Philine hörte, wie sie mit schweren Schuhen die Treppe hinabpolterten.
… Jede Insel schwand, und Berge waren nicht zu sehen …
Dem Fräulein drehte sich der Kopf. Sie setzte sich schnell auf eine Truhe im Flur und sah, während schon die ersten Tränen flossen, zu dem Hausbesorger auf, der zurückgeblieben war.
»Ich flehe Sie an, was hat das zu bedeuten, Herr Pangerl?«
Herr Pangerl, Parteigenosse Franz Pangerl, war ein kleiner, verwachsener Mann mit einer schiefen Schulter, die ihn nötigte, alle Menschen von unten her mit verdrehtem Kopf anzuschauen. Philine, auf der Truhe sitzend, nötigte ihn ausnahmsweise einmal nicht dazu. Prompt war bei diesem unentwegt heimtückisch-bösartigen Mann eine noch größere Aggression die Folge.
»Mein liebes Fräulein Demut«, sagte er überlaut und — vergeblich — um ein halbwegs reines Hochdeutsch bemüht, »das wird Ihnen doch hoffentlich klar sein, was das bedeutet! Ihre Wohnung ist viel zu groß für Sie! Sie brauchen nicht vier Zimmer!«
»Aber sie gehören mir doch!« protestierte Philine.
»Wir haben Krieg, Fräulein Demut«, sagte der Hausbesorger und sah Philine grimmig an.
»Ich nicht!« Philine schlug mit ihren kleinen Fäusten auf das Holz der Truhe. »Ich habe keinen Krieg! Ich habe keinen angefangen! Sollen doch die ihre Zimmer hergeben, die angefangen haben!«
»Fräulein Demut, hüten Sie sich!« Franz Pangerl war NSDAP-Block- und zudem Luftschutzwart. Philine erinnerte sich plötzlich daran, daß Hochwürden Haberland ihr eingeschärft hatte, ihm gegenüber stets besonders vorsichtig mit all ihren Äußerungen zu sein.
»Ich habe es nicht so gemeint, Herr Pangerl«, erklärte sie mit einem verzerrten Lächeln.
»Dann ist es ja gut«, sagte der Hausbesorger und hob wieder den rechten Arm. »Heil Hitler, Fräulein Demut!«
»Grüß Gott«, antwortete diese.
Glücklicherweise fand an jenem Tag gerade wieder eine gesellige Zusammenkunft in der »Katharinen-Vereinigung« statt, die Haberland zu Beginn leitete. Es gelang Philine, den Kaplan beiseite zu ziehen und ihm mitzuteilen, was sich ereignet hatte.
Er zuckte die Schultern.
»Da kann ich Ihnen leider auch nicht helfen«, sagte er. »Am besten, Sie finden sich damit ab.«
»Aber Hochwürden, wenn sie mir nun einen Mann in die Wohnung einweisen!« Philines Hände begannen zu zittern, ihre Unterlippe bebte.
»Er wird Sie nicht stören«, behauptete Haberland. Der jetzt fünfunddreißig Jahre alte Pfarrer sah seit langer Zeit elend und überarbeitet aus. Philines Gejammer machte ihm schwer zu schaffen. Denn Haberland hatte größere, schwerere Sorgen: Diese geselligen Zusammenkünfte in der Liechtensteinstraße und seine Seelsorge bei einsamen Frauen waren in der Zwischenzeit zum Mittel der Tarnung geworden. Gereizt fuhr er fort: »Sie werden die Verbindungstür des Zimmers absperren und auf Ihrer Seite einen Schrank davorschieben. Und wenn es wirklich ein Mann sein sollte, dann wird er einen Beruf haben und den ganzen Tag nicht zu Hause sein!«
Das Fräulein begann zu weinen.
»Und das Badezimmer?« schluchzte sie. »Und das Kl …?«
Ich darf mich nicht gehenlassen, dachte Haberland, ich muß diese hübsche, psychisch kranke Frau beruhigen, bevor ihr Verhalten auffällt.
»Aber«, sagte er, einen Arm um sie legend, »das ist doch kein Grund zu weinen, meine Liebe.«
»Doch ist es das! Doch!« rief Philine in großer Erregung.
»Psst! Leise. Die anderen Damen sehen schon her. Fräulein Demut …« Er mußte tief Atem holen und seine ganze Kraft zusammennehmen, um sie nicht anzubrüllen. »… wir leben in einer entsetzlichen Zeit. Da werden sich Probleme wie die der gemeinsamen Benützung von Klo und Badezimmer zwischen vernünftigen Menschen gewiß noch regeln lassen. Und Sie sind doch vernünftig. Ganz bestimmt sind Sie vernünftig. Stimmt’s?« Er sah auf seine Armbanduhr, während er sprach.
17 Uhr 26.
Ich muß weg hier, dachte er, schleunigst weg. Daß die Kaplane an diesen Abenden häufig wechselten, waren die Damen schon seit langem gewöhnt.
Philine hob ihr bleiches, tränenverwüstetes Gesicht.
»Hochwürden«, flüsterte sie, »Sie wissen nicht, was das alles für mich bedeutet. Ich habe mein Lebtag niemals mit einem Mann zusammengewohnt. Nur mit meinem Vater, Gott hab ihn selig! Ich kann mir nicht helfen — ich habe Angst vor Männern, Sie wissen es, Hochwürden, wir haben so oft darüber gesprochen, es ist gewiß nicht richtig von mir, aber ich kann doch nichts dafür. Ich …« Und dann sagte Philine ein starkes Wort, für das sie sich schämte, als sie es aussprach, aber ein Wort, das exakt wiedergab, was sie empfand: »… ich ekle mich vor Männern!« Sie errötete heftig, als hätte sie etwas Unzüchtiges ausgesprochen.
Haberland versuchte sein Äußerstes.
»Liebes Fräulein Demut, und wenn das Wohnungsamt nun beispielsweise mich bei Ihnen einweisen würde — was wäre dann?«
»Sie?«
»Ja, mich.«
»Aber Sie wohnen doch …«
»Gewiß. Ich sage ja auch nur: Wenn es der Fall wäre — würden Sie mich dann auch nicht haben wollen?«
Augenblicklich wurde das Gesicht des Fräuleins von einem glücklichen Lächeln erhellt. Die Tränen versiegten.
»O doch, Hochwürden! Natürlich! Ach, wie schön wäre das!«
»Da haben Sie es«, sagte Haberland. »Und ich bin auch ein Mann.«
Philine betrachtete ihn verblüfft.
»Ja«, antwortete sie, »das ist richtig. Daran habe ich nicht gedacht.« Sie warf den Kopf zurück und sagte listig-neckisch: »Aber Sie sind anders als andere Männer!«
»Wieso?«
»Sie sind ein Kaplan!«
»Ein Kaplan ist auch ein Mann.«
»Ja, das stimmt schon, aber … aber …« Sie war nun ganz verwirrt. »Ich geniere mich so«, sagte sie und errötete wiederum tief.
Haberland, nach einem neuerlichen Blick auf seine Uhr, half ihr.
»Vielleicht«, sagte er (ich muß weg, schnellstens!) »ist der Mann, der bei Ihnen wohnen soll, auch ein Priester. Oder zumindest ein guter Katholik. Wäre das nicht schon eine große Beruhigung für Sie, Fräulein Demut? Zu wissen, daß dieser Mann ein guter Katholik ist?«
Sie nickte.
»Ja«, antwortete sie. »Das wäre natürlich eine große Beruhigung. Schön wäre es auch nicht. Aber es würde ganz gewiß helfen.« Sie sah ihn an. »Den Schrank werde ich auf alle Fälle vor die Verbindungstür schieben«, meinte sie kokett, »auch wenn es ein guter Katholik sein sollte.«
»Na, sehen Sie«, meinte Haberland erleichtert. Die Tür des Lokals war aufgegangen. Der Vikar, der ihn ablösen sollte, trat ein …
3
»Hier ist der Reichssender Wien! Beim Gongschlag war es zwanzig Uhr. Achtung! Zunächst eine Luftlagemeldung! Schwere feindliche Kampfverbände im Anflug auf die Deutsche Bucht und die Mark Brandenburg. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: ›An der Ostfront vereitelte die Heeresgruppe Nord erfolgreich großangelegte Versuche der Bolschewisten, die Rigaer Bucht zu erreichen …‹« Plötzlich war die Stimme des pathetisch sprechenden Ansagers wie fortgewischt, und es ertönte aus dem Lautsprecher eine andere, seltsam gedämpfte und dennoch klare Stimme: »Hier spricht Oskar Wilhelm Zwo! Hier spricht Oskar Wilhelm Zwo, die Stimme der Wahrheit …«
»Da ist er wieder«, sagte der Unteroffizier Werner Alt zu seinem Kameraden, dem Unteroffizier Alois Hinteregger, der neben ihm saß. Vor den beiden Soldaten stand ein Tisch mit zahlreichen elektronischen Meß- und Suchgeräten. Diese Stelle zum Orten von Feind- und Schwarzsendern befand sich in einer Baracke nahe dem geschlossenen Restaurant »Häuserl am Roan« auf dem Dreimarkstein, einer bewaldeten Erhöhung am nordwestlichen Rand des Wienerwaldes.
Die kräftige Stimme sprach weiter: »Die Wahrheit, Wiener und Wienerinnen, ist der von Radio London stündlich ausgestrahlte Bericht über die politische und militärische Lage. Wir bringen Ihnen nun in einer Zusammenfassung dieser Berichte eine neue Folge unserer ›Rundfunkwochenschau‹!« Die Stimme war nach wie vor sehr deutlich zu vernehmen. Während die beiden Soldaten schon begonnen hatten, an ihren Geräten zu arbeiten, läutete neben Unteroffizier Alt ein Feldfernsprecher. Er hob ab und meldete sich.
»Er spricht wieder!« erklang eine Stimme aus dem Hörer.
»Das höre ich selber, Karl. Wir sind schon dran!«
»Wir auch!«
»Wird nur wieder nix werden«, sagte Alt.
Eine weitere Stimme drang dröhnend an sein Ohr: »Was erlauben Sie sich, Mann! Ich stelle Sie vor ein Kriegsgericht! Ich lasse Sie erschießen! Sie sind wohl wahnsinnig geworden, was? Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden?«
»Keine Ahnung …«
»Major Racke!« brüllte die Stimme. »Hierher kommandiert, damit endlich etwas geschieht bei euch Lahmärschen und damit wir das Schwein kriegen!«
»Wir tun, was wir können, Herr Major«, antwortete Alt mürrisch.
»Einen Scheißdreck tut ihr, Schlappschwänze verfluchte! Aber jetzt werde ich euch Beine machen, verlaßt euch drauf!«
Der Mann, der solcherart tobte, stand, hochrot im Gesicht, neben zwei anderen Unteroffizieren in einer ebenso eingerichteten Baracke. Sie befand sich, weit jenseits der Donau, im XXII. Bezirk, in Neukagran auf dem Gelände des Sportplatzes, der im Norden an die Erzherzog-Karl-Straße und im Osten an die Geleise der Ostbahn stieß. Etwas weiter südlich lag der Bahnhof Stadlau. Major Racke war mittelgroß und hatte ein rundes Kleinbürger-Gesicht mit einer randlosen Brille darin.
Die kräftige Stimme des Mannes, die aus den Lautsprechern der Abhörstellen im Wienerwald und in Stadlau erklang, ertönte weiter: »Schon am zweiundzwanzigsten Juni, dem dritten Jahrestag des Überfalls der Hitlerverbrecher auf Rußland, hat die Rote Armee mit einem Großangriff gegen die Heeresgruppe Mitte begonnen. Weil der größte Mörder aller Zeiten, der sich den größten Feldherrn aller Zeiten nennt, weil dieser Gröfaz auf seinem starren Durchhaltebefehl bestanden hat, ist es den weit überlegenen sowjetischen Armeen gelungen, in wenigen Tagen die Masse der Heeresgruppe Mitte, insgesamt achtunddreißig Divisionen, aufzureiben und eine sehr große Lücke in die Front zu schlagen. Hunderttausende Landser sind dabei gefallen oder in Gefangenschaft geraten — vielleicht dein Mann, Frau, vielleicht dein Sohn, Mutter, vielleicht dein Verlobter, Mädchen … Der Blutsäufer Hitler wird nicht ruhen, solange noch ein Stein auf dem andern steht …«
»Neunzehn Süd, sechsunddreißig Ost«, sagte Unteroffizier Hinteregger in ein Mikrofon, während er an einem Rad drehte, das über einer Kompaßdarstellung angebracht war. Er drehte weiter. Oben, auf dem Dach der Hütte, bewegte sich gleichsinnig eine hohe Peilantenne.
»Kann nicht stimmen, Alois«, ertönte neben Hinteregger aus einem kleinen Lautsprecher die Stimme des Unteroffiziers Feldner, der, über seine Geräte gebeugt, in der anderen Peilstelle, jenseits des Stroms, nahe dem Bahnhof Stadlau, den fremden Sender zu orten suchte. »Ich habe zwoundsechzig Süd und siebzehn Ost.« Auch auf dem Dach der Sportplatzbaracke wanderte suchend eine Peilantenne.
»… schon am dritten Juli«, fuhr die ruhige Stimme fort, »hat die Rote Armee Minsk eingenommen, am dreizehnten Wilna, am sechzehnten Grodno, am vierundzwanzigsten Lublin, am achtundzwanzigsten Brest-Litowsk. Die Rote Armee ist aber auch hinter den rechten Flügel der im Baltikum haltenden deutschen Heeresgruppe Nord vorgedrungen und hat bereits am neunundzwanzigsten Juli die Rigaer Bucht bei Tukkum erreicht. Damit hat sie diese Heeresgruppe Nord von der neuen improvisierten deutschen Front abgeschnitten, die damals noch an der ostpreußischen Grenze sowie nördlich von Krakau verzweifelt festgehalten hat. Schon am dreizehnten Juli hat die Rote Armee ihren Angriff auch auf den ganzen Raum bis zu den Karpaten hin ausgeweitet. Am siebenundzwanzigsten Juli ist Lemberg von der Roten Armee erobert worden. Mutter, die du vielleicht nun deinen Sohn verloren hast, Frau, die du nun vielleicht deinen Mann verloren hast, Schwester, die du nun vielleicht deinen Bruder, Mädchen, das du nun vielleicht deinen Verlobten verloren hast, vergeßt nicht, zu sagen: Wir danken unserm Führer!«
»Achtzehn Süd, dreiunddreißig Ost …«
»Stimmt doch nicht, Mensch! Ich habe immer noch zwoundsechzig Süd, aber jetzt einundvierzig Ost!«
»… Hören Sie das Ticken der Uhr?« erklang fragend die kräftige Stimme. Ein Wecker tickte plötzlich laut. »Hören Sie in Ihrem Zimmer eine eigene Uhr ticken? Eins, zwei, drei … sechs, sieben … Jede siebente Sekunde stirbt ein deutscher Soldat in Rußland! Nach verläßlichen Berichten sind allein in den ersten vier Monaten des russischen Feldzuges über eine Million Deutsche gefallen. Jede Woche achtzigtausend. Jede Stunde fünfhundert. Wofür? Für verwüstete Erde? Für wen? Für Adolf Hitler? Wofür? Für Machtwahn? Jede siebente Sekunde … Stunde um Stunde … bei Tag und bei Nacht … jede siebente Sekunde. Ist es dein Sohn? Dein Mann? Dein Bruder? Jede siebente Sekunde … erschossen … ertrunken … erfroren … Wie lange noch? Jede siebente Sekunde. Wofür? Wofür? Wofür?«
Der Wecker des Senders tickte …
»Nicht zu orten … wie immer!«
»Scheiße, verdammte!«
»Verflucht, der Kerl muß zu orten sein! Das ist ja schließlich kein Weltwunder, einen Sender zu orten!« brüllte Major Racke.
Nein, ein Weltwunder ist so etwas nicht.
Es ist die einfachste Sache von der Welt. Man braucht mindestens zwei Peilstellen dazu, das ist alles. Dort werden Suchantennen so lange gedreht, bis man die Stimme aus dem Sender am lautesten und deutlichsten hört und auch die Geräte anzeigen, daß das Maximum erreicht ist. Die Männer von der Funkpeilung legen dann Lineale genau in die Richtung, in der ihre Richtantennen weisen, auf eine Karte, die sich, unter Kompaßzeichnung und Glas, auf dem Tisch vor ihnen befindet, oder sie halten eine Schnur, oder sie zeichnen die Richtung ein. Am Schnittpunkt der beiden Ortungslinien muß der gesuchte Sender liegen!
Die Landser — und andere —, die im Wienerwald und im XXII. Bezirk — und anderswo — seit über einem Jahr diesen Sender suchten, dessen Sprecher sich Oskar Wilhelm Zwo nannte, fanden den Schnittpunkt indessen nie. Das kam, weil Oskar Wilhelm Zwo kein feststehender Sender war, sondern ein beweglicher: auf einem Lastwagen montiert. Und dieser Lastwagen fuhr, während Oskar Wilhelm Zwo sendete, und er fuhr stets andere Strecken.
4
»… Westfront! Der Atlantikwall ist längst durchbrochen! Dreihundertsechsundzwanzigtausend Mann — Amerikaner, Engländer, Kanadier — haben ihre Landeköpfe in der Normandie vereint und sind in Richtung auf Cherbourg vorgestoßen, das sie am dreißigsten Juni eingenommen haben. Noch hält hier eine deutsche Abwehrfront. Doch sie wird nicht mehr lange halten. Allein gestern flogen alliierte Kampfflugzeuge neuntausendsiebenhundertundzweiundachtzig Einsätze. Die schwache deutsche Luftwaffe flog dreihundertundfünfzehn, davon neunundfünfzig bei Nacht. Den am siebzehnten Juli bei einem Tieffliegerangriff in der Normandie schwer verletzten Generalfeldmarschall Rommel, den einst gefeierten Helden von Afrika, der am Atlantikwall Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B unter dem Oberbefehlshaber West, General von Rundstedt, gewesen ist, hat man bis zum dreiundzwanzigsten Juli im Lazarett Bernay behandelt und ihn dann in das Lazarett Le Vésinet bei Paris verlegt. Es geht ihm gut, er wird bald entlassen werden. Aber der Gröfaz tobt und nennt Rommel, den großen Helden von gestern, heute einen Verräter, der den Alliierten die Landung in der Normandie ermöglicht hat, was natürlich nicht stimmt. Aus Hitlers Umgebung hören wir, daß dieser entschlossen ist, Rommel, sobald er Le Vésinet verlassen hat, vor die Wahl zu stellen: Entweder Rommel tötet sich selbst, oder er kommt vor den Volksgerichtshof. So, Wiener und Wienerinnen, sieht der Dank des Blutsäufers aus …« Kaplan Haberland holte Atem. Vor ihm baumelte ein Mikrofon von der Strebe des Lkw herab. Haberland hielt sein Taschentuch vor den Mund, während er sprach. Der Laster fuhr mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern durch die Eichelhofstraße in Nußdorf, einem Vorort nordöstlich von Grinzing, im XIX. Bezirk und nahe dem westlichen Donauufer gelegen, in Richtung Kahlenbergerdorf. Eine schwache Sturmlaterne erhellte den durch eine Verdeckplane geschlossenen Raum. Am Steuer des Lastwagens, der, wenn man den Aufschriften glaubte, einer bekannten Bierbrauerei gehörte, saß ein junger Arbeiter. Haberland hockte auf einer Kiste, auf einer zweiten ein alter, weißhaariger Arbeiter, der sich um das perfekte Funktionieren des kleinen Senders kümmerte. Alle drei trugen Overalls. Neben dem weißhaarigen Arbeiter lag eine Null-acht — die zuverlässige Neunmillimeter-Wehrmacht-Pistole.
Der weißhaarige Arbeiter war Kommunist, der Junge am Steuer Sozialdemokrat. Haberland kannte beide schon lange. Er kannte auch viele andere Arbeiter, die diesen Laster fuhren und diesen Sender zu bedienen verstanden — genauso, wie die Arbeiter manch andere Geistliche kannten, die mit ihnen fuhren und zu den abendlichen Hauptnachrichtenzeiten den Reichssender Wien mit eigenen Meldungen überlagerten. Zwei Gruppen dieser Art waren vor über einem Jahr den Peilstellen in die Falle gegangen, alle Beteiligten nach kurzer Verhandlung im Hof des sogenannten »Grauen Hauses« an der Lastenstraße geköpft worden. Sie hatten noch von Verstecken aus gesendet, die sich in den großen Blocks des Sozialen Wohnungsbaus befanden. Der feste Sendeort wurde ihnen zum Verhängnis — es war nicht sonderlich schwierig gewesen, sie auszumachen. Gleich nach ihrer Verhaftung hatten Arbeiter und Geistliche diesen Fehler erkannt. Sendete man von einem festen Platz aus, so mußte man damit rechnen, in fünfzehn, spätestens zwanzig Minuten geortet zu sein. Trotz scharfer Vorbeugungsmaßnahmen der Nazis entwickelten andere Gruppen eine neue Methode, die nämlich, während des Fahrens zu senden, und zwar auf immer anderen Routen mit möglichst vielen Richtungsänderungen während der Fahrt. So war Kaplan Haberland auch an diesem Abend des 5. August 1944 über verschlungene Wege hier herauf bis Nußdorf gekommen, wo der Lkw jetzt nach einigen scharfen Kurven abrupt rechts in die Nußberggasse einbog.
Dies also war eine der geheimen Unternehmungen Roman Haberlands. Es gab noch andere. Um sich und diese Unternehmungen zu tarnen, waren die »Katharinen-Vereinigung« und andere Gruppen organisiert worden, hatte man viele neue Gemeindetreffpunkte eingerichtet. Die Geistlichen, meist junge Leute, stammten aus dem gesamten deutschen Sprachraum, so daß mit der zusätzlichen Sicherung durch das Taschentuch vor dem Mund alle Dialekte vorhanden waren, um die Lauscher zu verwirren. Gesendet wurde in unregelmäßigen Abständen. Die Strecken besprach man stets erst unmittelbar vor dem Abfahren.
Jetzt bog — die ganze Zeit über hatte Haberland weitere Nachrichten verlesen — der Laster unvermittelt wieder scharf links ein, in die nach Süden führende Eroicagasse.
Der junge Arbeiter war ein hervorragender Fahrer. Der alte Arbeiter war ein hervorragender Techniker. Und Kaplan Roman Haberland war ein ausgezeichneter Sprecher. Nur solche Leute konnte man für diese Unternehmungen gebrauchen. Sie taten alles, was sie taten, aus tiefster Abscheu vor dem Gröfaz und seinen blutigen, grauenvollen Verbrechen. Kommunisten, Sozialdemokraten, Christlich-Soziale, Liberale, Konservative, Geistliche und Atheisten — in jenen Jahren waren sie, genau wie in Deutschland, verschworene Freunde, die Tag für Tag und Nacht für Nacht ihr Leben riskierten, weil sie auf den Sturz des Tyrannen und seiner Mordgesellen warteten und an eine neue, bessere und schönere Zeit glaubten, von der sie sagen konnten, sie hätten das Ihre getan, um diese Zukunft zu ermöglichen. Ja, alle waren sie Freunde damals.
Es gibt im Lande Österreich keine steinernen Gedenktafeln oder sonstige bleibende Erinnerungen an jene Geistlichen und an jene Arbeiter. Aber es gibt bis zu dem Tage, an dem diese Zeilen in Druck gehen, in Österreich ja auch keine noch so kleine Gasse, die den Namen des großen Sigmund Freud trägt. Seine Wohnung ist zum Museum erklärt worden. Lediglich eine bescheidene, von privater Seite sozusagen erzwungene Tafel beim Eingang des Hauses Berggasse 19 besagt seit dem Jahr 1953, daß Freud hier »lebte und wirkte«. Wenige nur empfinden den einen oder den anderen Tatbestand als Schande. Österreich hat jenen großen Seelenforscher, jene Pfarrer und jene Arbeiter des Widerstandes gegen Hitler, die den Sender Oskar Wilhelm Zwo mitschaffen halfen, gründlichst, um ein Wort aus Sigmund Freuds Sprachschatz zu wählen, »verdrängt«.
Der Lkw hatte die nächtliche Eroicagasse durchfahren, bog wie in einer Haarnadelkurve in die Hammerschmidtgasse ein und rollte nun in nordöstliche Richtung, der Heiligenstädterstraße entgegen, während Kaplan Haberland diese Worte in das Mikrofon sprach: »Hier ist der Sender Oskar Wilhelm Zwo! Hören Sie unseren Ruf: Die Freiheit marschiert! Mit den Heeren der Verbündeten in Europa und Afrika! Mit den alliierten Fliegern am Himmel Deutschlands und Italiens! Mit den Millionen Unterdrückten, die auf ihre Stunde warten! Mit den Heeren der Arbeiter, die aus freiem Willen ihre Waffen schmieden in der Alten und der Neuen Welt! Die Freiheit marschiert!« Eine Pause. Dann: »Und das ist das Ende dieser Radiowochenschau von Oskar Wilhelm Zwo! Vergessen Sie nicht: Wir kommen wieder! Zu einer der abendlichen Hauptnachrichtensendungen des sogenannten Reichssenders Wien! Hören Sie unseren Ruf: Es kommt der Tag! Der Tag ist nah! Denn England, Rußland und Amerika greifen an — und mit ihnen die jungen Völker!«
5
»O Gott, Du hast in dieser Nacht so väterlich für mich gewacht. Ich lob’ und preise Dich dafür«, betete Fräulein Philine Demut, vor ihrem Bett auf dem harten Boden kniend, die Handflächen aneinandergepreßt, den Blick gleichzeitig gebannt und seltsam verschwommen auf das große Kruzifix gerichtet, das über ihrem Bett hing und von dem der Gekreuzigte, nackt bis auf das Lendentuch, auf sie herabsah. »… und dank’ für alles Gute Dir. Bewahre mich auch diesen Tag vor Sünde, Tod und jeder Plag’ …« Das Fräulein sprach die Worte laut. Die Knie begannen zu schmerzen, so wie sie immer schmerzten, wenn Fräulein Demut auf dem harten Boden kniete. Sie kniete daselbst dennoch zweimal täglich, und es ist nicht vermessen zu sagen, daß sie diesen Schmerz herbeisehnte, hervorrufen wollte und ihn mit Freuden ertrug, denn er erzeugte in ihr noch andere höchst eigenartige Gefühle. »… und was ich denke, red’ und tu’, das segne, bester Vater, Du!« Die Klingel an der Wohnungstür schrillte. Versunken, selbstvergessen und wie in Trance, hörte das Fräulein nichts. Sie sprach, die Handflächen noch fester aneinanderpressend: »Beschütze auch, ich bitte Dich, o heil’ger Engel Gottes mich! Maria, bitt’ an Gottes Thron …« Wieder klingelte es, jetzt lange und anhaltend. Und das Fräulein hörte das Klingeln. Die Knie schmerzten — stark und süß. Ah nein, dachte Philine Demut, da soll warten, wer will, ich spreche zu meinem Schöpfer! Und sie sprach: »… für mich bei Jesus, Deinem Sohn, der hochgelobt sei alle Zeit …«
Jetzt schrillte die Klingel ununterbrochen. Philine kümmerte es nicht. »… von nun an bis in Ewigkeit«, betete sie, machte eine Pause und setzte mit einem Beugen des Kopfes hinzu: »Amen.«
Die Klingel schrillte …
Es war zehn Minuten nach neun Uhr früh und schon sehr heiß an diesem 13. August 1944. Philine erhob sich und eilte, angetan mit Nachthemd, Morgenmantel und Pantoffeln, aus ihrem Zimmer auf den dunklen Flur hinaus, in dem es immer kühl war, auch bei der größten Sommerhitze. Sie sah durch das Guckloch in der Eingangstür. Draußen stand ein hochgewachsener Mann mit schmalem Gesicht, schlank, blondhaarig und blauäugig. Schon auf den ersten Blick erkannte man, daß er einen erschöpften Eindruck machte.
»Ja, ja, ja, ich komm’ ja!« rief das Fräulein. »Hören Sie doch auf zu läuten!«
Philine Demuts Wohnungstür war mit vier Schlössern gesichert, von denen man drei drehen mußte, während es für das vierte einen Spezialschlüssel gab. Außerdem sorgte noch eine Sicherheitskette dafür, daß die Tür, selbst wenn geöffnet, nur einen Spalt aufging. Das war jetzt der Fall.
»Was ist?« fragte sie.
»Fräulein Demut?« fragte der blonde Mann deutsch mit einem fremden Akzent.
»Ja, das bin ich. Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Lindhout, Adrian Lindhout«, sagte der Mann auf dem Flur. »Es tut mir leid, wenn ich hier so einbreche. Aber das Wohnungsamt hat mir geschrieben. Ich soll bei Ihnen ein Zimmer bekommen.«
»Wer sagt mir, daß Sie der Herr sind?« fragte Philine angstvoll. Also ein Mann. Ein Mann! Und kein Priester!
»Mein Gott …« Lindhout brach ab und entnahm der Brusttasche seiner Jacke ein Schreiben, das er durch den Spalt reichte. »Hier, bitte, das ist die offizielle Einweisung.«
Philine nahm das Papier entgegen, las und dachte bitter: Tatsächlich, das Wohnungsamt. Nichts zu machen. Sie klinkte die Kette aus und sagte eisig: »Treten Sie ein.«
Philine sah, daß Lindhout zwischen zwei großen, schweren Koffern stand. Nun hob er sie ächzend auf und trat in den dämmrigen Flur. Das Fräulein ging vor ihm her und öffnete die Tür des großen Balkonzimmers.
»Bitte«, sagte sie. »Ich habe alles für Sie vorbereitet. Hier ist der Wohnungsschlüssel. Ein Sicherheitsschloß, Herr …«
»Lindhout.«
»Lindhout. Was ist das für ein Name?«
»Wieso?«
»Und Sie reden auch so sonderbar. Wo kommen Sie denn her?«
»Aus Berlin. Mit dem Nachtzug. Es gab keinen Platz im Schlafwagen. Ich bin ganz erschöpft. Ich muß jetzt gleich schlafen.«
»Nein, ich meine, woher stammen Sie?«
»Ach so!« Lindhout wuchtete die beiden Koffer auf einen großen Tisch. »Aus Rotterdam«
Sie sah ihn voller Widerwillen an. Ein Mann. Gräßlich. Ein Mann. Und noch dazu ein Ausländer aus … aus …
»Aus wo?«
»Aus Rotterdam, Frau Demut.«
»Fräulein, bitte!« rief sie scharf.
»Verzeihen Sie. Aus Rotterdam.« Lindhout seufzte leise. Er dachte: Das scheint ein sehr schwieriges Fräulein zu sein. Ach was, in diesen Zeiten muß man für alles dankbar sein. Für ein Dach über dem Kopf. Dafür, daß man überhaupt noch am Leben ist! Er bemerkte die verschreckten Blicke der schönen Augen, er sah in Philines verzerrtes Gesicht. Freundlich, dachte er, versuchen wir es mit Freundlichkeit. Er lächelte, während er sagte: »In Rotterdam wurde ich geboren, in Rotterdam bin ich aufgewachsen, in Rotterdam habe ich gearbeitet.«
»Als was?«
»Als Chemiker, Fräulein Demut.«
»Oh!« Philine war plötzlich geradezu neckisch. »Dann sind Sie also ein Wissenschaftler! Vielleicht sogar ein Herr Doktor?«
»Ja, Fräulein Demut.« Er lächelte breiter. »Ich werde keine Belastung für Sie sein und mich so rücksichtsvoll wie möglich betragen.« Philines Herz schlug schneller. Das ist nett, daß er das sagt, dachte sie. Ein guter Mann. Ich habe mich umsonst gefürchtet.
Sie fragte: »Rotterdam, wo ist das?«
»In Holland, Fräulein Demut. Es war die zweitgrößte Stadt Hollands mit einem gewaltigen Seehafen.«
»Was heißt: war?«
Das Lächeln schien jetzt wie weggewischt aus Lindhouts Gesicht.
»Das heißt, daß es die Stadt nicht mehr gibt.« Lindhout stockte. »Der Krieg, verstehen Sie?«
»Nein«, sagte das Fräulein.
Lindhout beschloß, sich vorsichtig auszudrücken: »In diesem Krieg ist Rotterdam zerstört worden. Durch Bomben.«
»Ah!« Das Fräulein nickte grimmig. »Wie unsere Städte, ja? Durch Terrorangriffe der Amerikaner, wie?«
»Nein, Fräulein Demut.«
»Engländer?«
»Nein.«
»Russen?«
Lindhout hatte genug. »Auch nicht durch Russen. Durch deutsche Flugzeuge und deutsche Bomben! Nichts steht mehr in der Innenstadt von Rotterdam, nur der Turm einer alten Kirche. Sonst nur Schutt und Trümmer.«
»Der schreckliche Krieg«, sagte Philine.
(Und ich habe Hochwürden Haberland doch schon 1938 gesagt, daß ich glaube, dieser Hitler ist kein guter Mensch. Da sieht man es wieder. Aber bitte, was ist stehengeblieben von einer ganzen großen Stadt wie durch ein Wunder? Der Turm einer Kirche!) Philine forschte: »Sie haben auch Ihr Haus verloren?«
»Nicht nur mein Haus!« Lindhout ließ sich ächzend auf ein altmodisches, aus schwerem schwarzem Holz geschnitztes Bett fallen. Eine Decke mit der gestickten Aufschrift SEI GESEGNET, GEH ZUR RUH! lag darauf. »Auch alle meine Verwandten und Freunde. Ich möchte aber nicht weiter darüber sprechen«, sagte er, sich in dem scheußlich eingerichteten Zimmer umblickend. Was für eine geschnitzte Anrichte, was für ein Ungetüm von Schrank! Was für abscheuliche Möbel! Und dieses grauenvolle Bild an der Wand! Was ist das? Auch das noch! Christus, der gegeißelt wird! Und überall Plüsch und Nippes. Hier also bin ich gelandet. Lindhouts Glieder waren wie aus Blei. Durch die geöffnete Balkontür drang das Lachen und Schreien spielender Kinder.
»Es ist furchtbar, Herr Doktor«, sagte Philine, ehrlich erschüttert. »Wieviel Leid geschieht! Wie viele Menschen sterben! An den Fronten! Bei den Bombenangriffen auf alle deutschen Städte … Hamburg, Berlin, Köln, München, Frankfurt … Ich lese immer in der Zeitung, was geschehen ist. Die armen Menschen …«
Ja, dachte er bitter. Und Coventry und Rotterdam und Warschau? Wer hat diese Städte zerstört? Wer hat den Luftkrieg überhaupt begonnen? Wer hat das Wort vom »Ausradieren« einer Stadt tobend herausgebrüllt? Ich muß mich zusammennehmen, dachte er, und sagte: »In Rotterdam konnte ich nicht mehr arbeiten. Man hat mich nach Berlin geschickt. Aber dort gibt es jetzt Tag und Nacht Angriffe, und mein Laboratorium im Kaiser-Wilhelm-Institut ist getroffen worden. Deshalb hat man mich nach Wien geschickt. Hier ist es ja noch ruhig.«
»Ja, wir haben nur ein paar Angriffe auf andere Städte in Österreich gehabt. Und der Kuckuck hat gerufen bei uns in Wien …«
»Wer?«
»Der Kuckuck, ah, das können Sie nicht wissen! Das ist immer so ein Vogelruf im Radio, bevor der Sender sich ausschaltet und die Sirenen heulen. Die haben schon oft geheult. Dann sind wir alle in den Keller gelaufen. Aber es ist noch keine Bombe auf Wien direkt gefallen. Nur auf Fabriken in den Außenbezirken. Gott der Allmächtige hat uns beschützt.«
»Möge er es weiter tun«, sagte Lindhout, auf den Boden starrend. Das Fräulein schöpfte Hoffnung.
»Ja, ja, ja! Ich bete morgens und abends dafür! Sie sind auch katholisch, Herr Doktor, nicht wahr?«
Adrian Lindhout ahnte nicht, was er anrichtete, als er, den Kopf schüttelnd, erwiderte: »Nein, ich bin Protestant.«
6
Eine Stunde später erlitt Philine Demut einen Herzanfall. Einen sehr kleinen. Immerhin fühlte sie sich nach dem Abklingen so elend und dem Tode nahe, daß sie zum Telefon wankte, einem alten schwarzen Kasten an der Wand im Flur, und ihren Hausarzt anrief.
Dieser kam, konstatierte, daß seiner Patientin nichts fehlte und gab ihr ein paar Pillen Bellergal. Philine legte sich wieder in ihr Bett. Nebenan war es ruhig. Auch der Ketzer schien zu Bett gegangen zu sein. Er hatte gesagt, er sei sehr müde, so müde, wie sie selber plötzlich.
Fräulein Demut schlief bis in den frühen Nachmittag hinein. Als sie erwachte, vernahm sie aus Lindhouts Zimmer unheimliche Geräusche. (Er packte seine Koffer aus.) Als Philine den Ketzer auch noch pfeifen hörte, begann sie zu weinen wie ein kleines Kind. Sie zog sich an — dann schlich sie wieder auf den dämmrigen Flur hinaus und wählte die Nummer des Priesterheims in Ober-St. Veit, wo Haberland wohnte. Er war zum Glück daheim.
Sobald sie seine Stimme vernahm, die müde und abgespannt klang, geriet sie in Hysterie.
»Ich bin krank, Hochwürden«, klagte sie, und voller Selbstmitleid begann sie wieder zu schluchzen, während sich jenes seltsame Gefühl in ihrem Leib zu verbreiten begann. »Sehr krank. Etwas Entsetzliches ist geschehen, Sie müssen sofort kommen.«
»Was heißt krank? Was fehlt Ihnen? Weshalb sofort kommen?«
Philine flüsterte: »Das kann ich nicht am Telefon sagen. Das muß ich Ihnen persönlich erzählen. Ich kann nicht lange sprechen. Bitte, Hochwürden, bitte, bitte, bitte, kommen Sie!«
»Aber ich habe heute sehr viel zu tun, Fräulein Demut.«
»Ich flehe Sie an, kommen Sie! Es ist zu entsetzlich!« Und das wollüstige, seltsame Schaudern …
Wer weiß, was da wirklich geschehen ist, dachte Haberland und sagte seufzend: »Also gut. Aber ich kann nicht vor dem späten Nachmittag bei Ihnen sein.«
»Danke, Hochwürden, ich danke Ihnen so sehr …«, stammelte Philine, doch Haberland hatte schon eingehängt. In Lindhouts Zimmer wurden Möbel verschoben, der Lärm war unerträglich.
Nein, dachte das Fräulein, rote Flecken auf den Wangen, nein und nein und nein, das lasse ich mir nicht gefallen!
7
»Was machen Sie da?«
Drei Minuten später stellte Philine Demut, immer noch in Morgenrock und Nachthemd, haßerfüllt diese Frage. Sie hatte nach kurzem Klopfen die Tür des Zimmers aufgerissen, darin der Ketzer rumorte, und sah ihn keuchend an.
Lindhout, in Hemdsärmeln, blickte sich erstaunt um. Die beiden Koffer lagen nun auf dem großen Schrank. Der Tisch — das Fräulein sah es mit Empörung — war von der Zimmermitte fort zu einem der Fenster neben der Balkontür gerückt worden. Auch andere Möbel waren verstellt. Und in der Hand hielt der Ketzer — Philine stockte der Atem — das große Bild, das Unseren Herrn Jesus Christus bei seiner so schrecklichen Geißelung darstellte.
»Was Sie da machen!« rief das Fräulein bebend, da Lindhout nicht antwortete, sondern sie nur verblüfft anstarrte.
»Ich nehme das Bild von der Wand, Fräulein Demut«, sagte er nun. »Das sehen Sie doch.«
»Ja«, kreischte sie plötzlich auf, »das sehe ich! Sie haben den Heiland von der Wand genommen! Sie haben auch alle anderen Möbel herumgeschoben!«
Eine Verrückte, dachte Lindhout und unterbrach sie heftig: »Es tut mir leid, aber ich werde in diesem Zimmer leben, schlafen, wohnen und arbeiten müssen! Einen Schreibtisch gibt es hier nicht. Also habe ich den Tisch da zum Fenster geschoben, weil es dort heller ist. Also habe ich auch die Kommode da hinübergestellt, denn irgendwo muß ich meine Papiere und Akten, meine ganzen Bücher und all das andere unterbringen.«
»Sie haben den Heiland von der Wand genommen!« Ihre Stimme überschlug sich. »Warum? Was haben Sie vor?«
»Nun beruhigen Sie sich doch endlich, was soll denn das?«
»Ich soll mich beruhigen? Aufregen muß ich mich! Mein Herz. O Gott, steh mir bei.« Sie ließ sich auf einen geschnitzten schwarzen Eichenholzsessel fallen und preßte theatralisch eine Hand gegen die Brust. »Was Sie mit dem Heiland vorhaben, habe ich Sie gefragt!« flüsterte sie.
»Er stört mich. Ich muß ihn hier raushaben.«
»Was?« Philine schwankte.
»Verflucht noch einmal, ist das denn hier ein Irrenhaus? Verzeihen Sie … ich habe es nicht so gemeint … Ich wollte sagen, ich kann das Bild an der Wand nicht brauchen, weil ich dahin die Kommode geschoben habe, und auf die muß ich viele Bücher legen. Sehr viele Bücher. Leider ist kein Regal hier. Also muß ich sie stapeln. Es wird schon gehen. Aber das Bild ist mir im Wege. Darum habe ich es abgenommen. Ich hätte Sie gebeten, es bei sich aufzubewahren. Um alles in der Welt, Fräulein Demut, das war der wirkliche und einzige Grund! Welchen anderen Grund sollte ich sonst haben? Sie wissen doch, wer ich bin. Ein Chemiker. Und ein Chemiker braucht viel Fachliteratur, und ich dachte mir …«
»Schweigen Sie!« schrie Philine bebend.
Er starrte sie, bis zur Sprachlosigkeit verblüfft, an, das Bild immer noch in den Händen.
»Sie haben gesagt, ich weiß, wer Sie sind!« Jetzt sprach das Fräulein leise und keuchend. »Ja, ja, ja, ich weiß es! Jetzt weiß ich es genau! Sie sind nicht Chemiker! Sie heißen nicht Lindhout! Sie haben mir einen falschen Namen genannt! Sie sind jemand ganz anderer! Jemand ganz anderer, jawohl!«
Das Bild glitt um ein Haar aus Lindhouts Händen, er konnte es im letzten Moment noch packen und legte es vorsichtig auf das Bett. Er sah aus, als sei er vor Stunden gestorben. Sein Gesicht hatte eine grünlichweiße Farbe angenommen. Seine Hände zitterten wie in einem Anfall von schwerstem Tremor. Auf seine Stirn trat Schweiß.
»Was … was … haben Sie … gesagt?«
»Daß Sie mir einen falschen Namen genannt haben!« schrie jetzt Philine. »Daß Sie gar nicht Doktor Lindhout sind!«
Lindhout ballte die Hände zu Fäusten. Und er trat schnell ganz dicht an Philine heran. Jetzt klang seine Stimme wie das Zischen einer Schlange.
»Wie kommen Sie auf den Unsinn?«
Von einer Sekunde zur anderen wechselten an diesem Tag Philines Stimmungen. Jetzt war sie weiß wie gestorben, jetzt zitterte sie am ganzen Körper. O Gott, dachte sie, o Gott im Himmel, hilf! Er bringt mich um! Er bringt mich um! Nein, ich weiß, Gott will mich nur prüfen. Ja, das ist es, eine Prüfung Gottes, und ich muß sie bestehen.
Diese grotesk falsche Überlegung ermöglichte es dem Fräulein Demut, plötzlich den Kopf zurückzuwerfen und mit völlig ruhiger Stimme zu sagen: »Mich können Sie eben nicht täuschen, Herr Doktor Lindhout! Ich weiß, wer Sie sind!«
Sie sah nicht, daß er eine Pistole des Modells Walther, Kaliber 7.65, aus der Hüfttasche seiner Hose gezogen hatte und sie versteckt auf dem Rücken hielt. Sie wußte nicht, daß er dachte: Eine Falle! Sie haben mich in eine Falle gelockt, die Hunde. Aber sie sollen mich nicht kriegen, nein. Nicht nach allem, was geschehen ist, nach allem, was ich getan habe. Wenn ich jetzt draufgehe, dann nehme ich ein paar von diesen Hunden mit, die hier irgendwo in der Wohnung warten, vielleicht über ein verstecktes Mikrofon alles mitanhören, die diese Person als Agent provocateur vorgeschickt haben. Na wartet, jetzt werdet ihr was erleben, ihr verfluchten Schweine. Ruhig, ruhig, dachte er, das ist doch alles Unsinn. Und Truus? Was wird aus ihr? Ich muß sie beschützen. Ich muß sehen, daß sie alles lebend übersteht. Zusammennehmen, zusammennehmen, das muß ich mich jetzt. Vielleicht ist diese Person doch nur wirklich verrückt und nicht vorgeschickt …
Er fragte: »Und wer bin ich, Fräulein Demut?«
Du siehst, Gott, ich weiche und ich schweige nicht, und wenn dies die Minute meines Ablebens ist. Ich sage es, ja, ich sage es. Sie sagte es: »Sie sind der Böse Feind.«
Lindhout erstarrte.
Er schluckte und forschte (während seine Hand die Pistole umklammerte): »Wer?«
Philines Herz klopfte bis zum Hals hinauf, vor ihren Augen drehten sich rote Schlieren. »Der Böse Feind sind Sie«, flüsterte sie und blickte dabei Lindhout fest in die Augen. »Gott der Allmächtige hat Sie mir geschickt, um mich zu prüfen. Sie sind Martin Luther!«
8
Daraufhin war es lange still in dem großen Zimmer; nur von unten herauf klang Straßenlärm. Langsam, unendlich langsam richtete Lindhout sich auf, langsam, unendlich langsam ließ er die Pistole wieder in die Tasche gleiten. Dann plötzlich konnte er nicht mehr. Er begann zu lachen. Lauter zu lachen. Noch lauter. Zuletzt brüllte er vor Lachen so, daß ihm die Tränen aus den Augen schossen. Es war, als könne er nie mehr aufhören zu lachen.
In Deine Hände, Gott, befehle ich meinen Geist, betete das Fräulein in Gedanken. Sie sah den Mann zu dem großen Tisch zurücktorkeln, sah, wie er dort, wo er eine Unmenge Dinge hingelegt hatte, eine Flasche hochhob. Er hielt sich mit einer Hand an der Tischkante fest, während er trank.
Schnaps!
Schnaps ist das, dachte Philine, ich kann es riechen.
Lindhout trank, bis ihm der Kognak über das Kinn lief und er sich verschluckte. Er hustete krampfhaft, während Philine Demut tapfer (meine letzten Worte, dachte sie) und laut wiederholte: »Sie sind Martin Luther!«
Der Hustenanfall war vorübergegangen.
Lindhout nahm noch einen großen Schluck, setzte die Flasche ab und stellte sie auf den Tisch zurück. Ich Idiot, dachte er, ich verfluchter Idiot.
»Ach«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über Kinn und Stirn, während ein freundlicher, fast zärtlicher Ausdruck in sein Gesicht zurückkehrte, »so ist das. Ja, wenn das so ist, gnädiges Fräulein, wenn Sie es also ohnehin gleich erkannt haben, dann muß ich wohl gestehen: Ich bin Martin Luther. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Er konnte.
Philine Demut war, als Folge einer plötzlichen Ohnmacht, in sich zusammengesunken und zu Boden geglitten. Er hob sie behutsam auf und trug sie aus dem Zimmer.
9
Dieser Tag war für das Fräulein Philine der schlimmste ihres bisherigen Lebens. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, wußte sie zuerst überhaupt nicht, wo sie war. Dann glaubte sie, wieder die Sinne verlieren zu müssen: Sie lag in ihrem Schlafzimmer im Bett.
Im Bett!
Wie war sie hierhergekommen? Blitzschnell setzte die Erinnerung ein. Sie war doch bei Martin Luther gewesen. Dort mußte sie ohnmächtig geworden sein. Aber … aber … aber wieso lag sie dann in ihrem Bett? Es gab nur eine Erklärung dafür: Der Ketzer hatte sie hierhergebracht, als sie ohne Sinne und reglos war. Er hatte sie angefaßt. Er hatte — voller Entsetzen stellte sie auch das fest — ihr den Morgenrock ausgezogen, bevor er sie ins Bett legte! Denn jetzt trug sie nur noch ihr langes Leinenhemd. (Im Hemd, niemals nackt, badete sie übrigens auch.) Philine schauderte es. Mit seinen schmutzigen, sündigen Händen hatte der Ketzer sie berührt! Hatte er, wer weiß was noch alles …
Auf gräßliche Weise senkte die Decke sich, schloß der ganze Raum Philine mehr und mehr ein, und sie verlor abermals jählings das Bewußtsein.
Als sie wieder zu sich kam, wußte sie nicht, wie lange sie so gelegen hatte. Eine Ewigkeit — so kam es ihr vor. Mit unendlicher Anstrengung richtete sie sich auf und wankte ins Badezimmer, wo sie das Gesicht lange mit eiskaltem Wasser wusch, denn plötzlich war ihr heiß, unerträglich heiß. Das kalte Wasser brachte sie wieder ganz zu sich. Etwas tun! Etwas tun! Sie mußte sofort etwas tun! Aber was? Hochwürden kam erst am Abend. Noch schien die Sonne. Der Arzt hatte gesagt, er werde morgen vorbeischauen. Wie spät war es eigentlich? Sie sah auf ihre schmale, altmodisch ziselierte goldene Armbanduhr. Das konnte doch nicht sein! Die Uhr zeigte vierzehn Minuten nach zwei. 2 Uhr 14 am Nachmittag. Wie viele Stunden waren vergangen, seitdem sie den Bösen erkannt hatte? Sie strengte ihr Gehirn an. Wie viele Stunden? Es gelang ihr nicht, sich richtig zu erinnern. Eine halbe Stunde saß sie, grau im Gesicht, auf dem Rand der emaillierten Badewanne. Dann fuhr sie hoch. So ging das nicht weiter! Wo war der Feind? Wo war er? Sie mußte es wissen, denn jede Minute, jede Sekunde konnte er kommen, wartete vielleicht nur darauf, daß sie aus dem Badezimmer trat, um …
Nein, entschied sie. Es ist die Prüfung. Es ist noch immer die Prüfung. Ich bin stark gewesen. Ich muß stark bleiben. Sonst komme ich niemals in die Ewige Seligkeit. Dieser Gedanke gab ihr so viel Kraft, daß sie das Badezimmer verlassen konnte. Im Flur blieb sie stehen und lauschte lange. Hatte er sich versteckt? Ja? Wo? In welchem Zimmer? Der feste Vorsatz, diese größte Prüfung ihres Lebens zu meistern, verlieh ihr Kräfte, über die sie noch nie verfügt hatte. Der Reihe nach sah sie in ihren Zimmern nach, zuletzt in der Küche. Nichts. Er war nicht da. Sie schlich auf bloßen Füßen zu seinem Zimmer. Sie lauschte wieder. Kein Laut. Mit dem Mut der Verzweiflung riß sie die Tür auf.
Auch in seinem Zimmer war niemand.
Aber dort!
An der Außenseite der Tür, sie hatte es übersehen, war mit einem Reißnagel ein Blatt Papier befestigt. In großen Buchstaben stand darauf:
ICH MUSSTE INS CHEMISCHE INSTITUT IN DER WäHRINGERSTRASSE. WENN SIE MICH BRAUCHEN ODER SUCHEN, RUFEN SIE BITTE DIE TELEFONNUMMER R 2 82 35 AN UND FRAGEN SIE NACH MIR.
L.
Er war fortgegangen!
Philine huschte zur Eingangstür und versperrte alle Schlösser. Dann lief sie zurück ins Schlafzimmer und fiel auf das Bett. Wieder blieb sie lange so liegen. Dann fiel ihr das Bellergal ein, das ihr der Hausarzt gegeben hatte. Zur Beruhigung, hatte er gesagt. Sie schluckte zwei Pillen. Eine dicke Fliege flog beharrlich gegen das geschlossene Fenster, das auf den Innenhof hinausging, in dem eine riesige, uralte Kastanie stand.
Fräulein Demut nahm mit bebenden Händen von einem Bord an der Wand ihr Meßbuch, sah zu dem Gekreuzigten auf, seufzte und begann mit zitternden Fingern die Seiten des kleinen schwarzen Buches zu wenden. Sie kannte fast alle Gebete auswendig, aber da war eines, das mußte sie jetzt laut lesen … da war es schon! »Zur göttlichen Vorsehung«! Mit schwacher Stimme sprach das Fräulein, bei dem nun das Beruhigungsmittel zu wirken begann. »Mein Herr und Heiland, Du hast mich bis auf diesen Tag geleitet. In Deinen Armen bin ich auch ferner geborgen. Wenn Du mich hältst, habe ich nichts zu fürchten …« Sie konnte nicht anders, sie mußte gähnen. Danach wiederholte sie, immer benommener: »… habe ich nichts zu fürchten. Wenn Du mich aufgibst, habe ich nichts zu hoffen. Ich weiß nicht, was mir bevorsteht, bis ich sterbe: Die Zukunft ist …« Neuerliches Gähnen. »… ist mir verborgen, aber ich vertraue auf Dich. Ich bete zu Dir. Gib mir, was mir zum Heile dient, nimm mir, was meiner Seele schadet …« Das seltsame Gefühl in Fräulein Demuts Leib, das sie so gut kannte und so oft herbeisehnte, wurde stärker und stärker, sie bewegte sich unruhig im Bett, ihr Atem ging hastiger. »… Ich überlasse alles Dir allein. Schickst Du mir Schmerzen und Kummer, so gib mir die Gnade, sie recht zu tragen, und bewahre mich vor Verdrossenheit und Selbstsucht …« Sie ächzte laut auf. »Schickst Du mir Wohlergehen …« Das Meßbuch fiel ihr aus den Händen und vom Bett auf den Boden. Das Fräulein war wieder eingeschlafen.
10
Die Türklingel schrillte.
Philine Demut fuhr im Bett hoch. Was war das? Wie konnte das möglich sein? Dunkel war es im Raum. Stunden mußten vergangen sein, seit sie sich hingelegt hatte. Was war geschehen mit ihr seitdem? Was?
Die Klingel schrillte, schrillte, schrillte.
Ihr war heiß. Sie griff sich an die Stirn. Die Stirn schien zu glühen. Sie hatte Fieber! Fieber!
Die Klingel. Unerbittlich. Wieder und wieder und wieder.
Der Frevler? Ich habe alle Schlösser versperrt, überlegte das Fräulein. Dann fiel es ihr ein: Das war Hochwürden! Sie sah auf die Armbanduhr, nachdem sie das elektrische Licht angeknipst hatte. Zehn Minuten nach neun!
Sie glitt aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe, zog den Morgenmantel wieder an und hastete zur Tür. Was für ein Tag …!
»Ich komme ja schon!« rief sie im Flur. Auch hier knipste sie das elektrische Licht an. Dann war sie bei der Eingangstür der Wohnung, die sie so sehr abgesichert hatte. Sie blickte durch das Guckloch. Draußen stand Kaplan Haberland. Der hatte einen langen und schweren Tag hinter sich, darunter drei Besuche bei zum Tode Verurteilten. Sein Gesicht war bleich, und seine Wangen waren eingefallen wie seine Schläfen. Aber das bemerkte Philine nicht.
»Hochwürden!« rief sie, während sie schon an den Schlössern drehte. »Hochwürden, dem Himmel sei Dank, Sie sind es!«
Endlich ließ sich die Tür öffnen. Philine riß sie auf. »Kommen Sie herein, Hochwürden, kommen Sie herein, oh, wie habe ich auf Sie gewartet!«
Haberland trat in den Flur.
»Ich bin krank, ach, ich bin ja so elend beisammen, Hochwürden. Ich habe das Läuten nicht gehört. Verzeihen Sie. Ich muß geschlafen haben. Ich liege den ganzen Tag im Bett.«
»Was haben Sie?«
Philine wies stumm mit dem Kinn auf die Tür des beschlagnahmten Zimmers.
»Er ist also gekommen?«
»Ja. Heute. Bevor ich Sie angerufen habe.«
»Wer ist es?«
»Das erzähle ich Ihnen alles … nicht hier auf dem Gang … Mir ist schwindlig … Ich habe Fieber … Bitte, folgen Sie mir …«
Sie hastete voraus.
Im Schlafzimmer angelangt, bat sie errötend: »Drehen Sie sich um, ich muß den Morgenrock ausziehen.«
Haberland, das grausige Schluchzen eines der zum Tode durch das Beil Verurteilten noch im Ohr, wandte sich ab. Gott, gib mir Geduld und Ruhe, bat er in Gedanken.
»Jetzt geht es schon!« rief Philine. Sie saß im Bett, über das graue Leinennachthemd hatte sie ein Strickjäckchen gezogen.
»Haben Sie ein Thermometer?«
»Wozu?«
»Sie sagten, Sie haben Fieber. Wieviel?«
»Ich habe noch nicht gemessen. Das Thermometer ist da drüben, auf dem Tischchen mit den Stricknadeln …« Er gab es ihr. »Danke vielmals.«
Sie steckte das Thermometer in eine Achselhöhle.
Haberland ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken.
»Ist er zu Hause?«
»Nein. Er ist fortgegangen. Wir können ohne Furcht reden.«
»Was heißt das? Wir könnten ganz gewiß auch ohne Furcht reden, wenn er da wäre.«
Philine schüttelte den Kopf.
»Nein, Hochwürden, das könnten wir nicht! Es ist ganz schrecklich, ich habe es Ihnen doch schon am Telefon gesagt und Sie angefleht, zu kommen …« Sie neigte sich vor, bedeutete ihm, das gleiche zu tun, und flüsterte in sein Ohr: »Er ist der Böse Feind!«
Haberland holte tief Atem. Gott, gib mir Stärke, bat er. Laß mich nicht die Nerven verlieren. Diese im Geiste arme Person ist eines Deiner Geschöpfe, daran muß ich denken, immer denken. Wenn nur die Schreie jenes zum Tode Verurteilten in meinem Schädel endlich verstummten!
»Wer ist es?« fragte Haberland. »Und wie heißt er überhaupt?« Er sah zu dem schweren, großen Schrank hin, den er längst mit Hilfe des Hausbesorgers Pangerl vor die Verbindungstür zu dem beschlagnahmten Zimmer geschoben hatte.
Philine lachte hysterisch auf.
»Er hat gesagt, er heißt Doktor Adrian Lindhout und ist Chemiker und stammt aus Ro … Rot … Roter …«
»Rotterdam?«
»Ja, von dort. Und da ist alles zerbombt, und so hat er in Berlin gearbeitet, und jetzt soll er hier arbeiten. Hier arbeiten! Bei mir! Hochwürden, liebe, liebe Hochwürden, ich brauche Ihre Hilfe! Das ist der Böse, und er ist zu mir gekommen! Gott will mich prüfen, aber dieser Prüfung bin ich auf die Dauer nicht gewachsen!«
»Ich verstehe nicht …«
»Hochwürden«, sagte Philine und schüttelte sich dabei vor Abscheu, »er ist evangelisch!«
Haberland unterdrückte einen Fluch.
»Fräulein Demut«, sagte er, »Sie wissen genau: Gott will, daß ein jeder den andern achtet. Wir sind alle mit den gleichen Rechten geboren und Gottes Kinder.«
Philine schlug mit einer kleinen Faust auf die Bettkante.
»Er nicht, Hochwürden! Er nicht! Er ist schuld am Zerfall der Christenheit! Er hat Zwietracht gesät in die Herzen der Gläubigen! Er ist ein Verräter und ein schlechter Mensch! Er hat sich gegen den Heiligen Vater empört, und er hat die Bauern gegen die Fürsten aufgehetzt! Er hat in Sünde gelebt und die furchtbaren fünfundneunzig Thesen angeschlagen!«
»Liebes Fräulein Demut«, sagte Haberland und schloß kurz die Augen, »Sie sprechen von Martin Luther.«
»Ja«, sagte das Fräulein und nickte. »Das tue ich!«
»Warum?«
»Er wohnt nebenan.«
Haberland schluckte.
»Martin Luther ist lange tot.«
»Er ist heute hier eingezogen«, sagte Philine Demut mit großer Würde. »Ich habe ihn gleich erkannt. Sie haben mir doch genug von ihm erzählt — von diesem eigensüchtigen, verdorbenen und verfluchten Mönch!«
»Fräulein Demut«, sagte Haberland in gelinder Verzweiflung, »Sie verwechseln da etwas. Sie sagen, Ihr neuer Mieter ist evangelisch …«
»Natürlich«, sagte sie, »sonst könnte er ja auch nicht Martin Luther sein!«
Haberland atmete mühsam, bevor er sagte: »Er kann nicht Martin Luther sein, Fräulein Demut. Martin Luther ist tot, ist lange tot. Herr Doktor Lindhout ist nur ein Anhänger der Lehre von Martin Luther!«
»Doktor Lindhout«, sagte Philine ironisch. »Doktor auch noch!« Sie kicherte. »Wer’s glaubt«, sagte sie.
»Fräulein Demut«, sagte der junge Kaplan, sich mit aller Kraft beherrschend, »der Herr heißt bestimmt Doktor Lindhout. Er ist nicht Martin Luther. Wie kann er Martin Luther sein, wenn er Doktor Lindhout heißt?«
»Ah«, sagte Philine triumphierend, »er verwendet einen falschen Namen! Damit man ihn nicht gleich erkennt. Was denn, das habe ich ihm ins Gesicht gesagt!«
»Sie haben …« Haberland vermochte nicht weiterzusprechen. Er stellte sich vor, wie dieser Empfang auf den neuen Mieter gewirkt haben mußte.
»Ja, auf den Kopf zu habe ich es ihm gesagt! Und er? Weiß wie die Wand ist er geworden, Hochwürden, und seine Hände haben gezittert — so!« Und Philine machte übertrieben nach, wie Lindhouts Hände gezittert hatten.
»Erzählen Sie mir alles«, sagte Haberland. »Wie ist das also gewesen?«
Und Philine Demut erzählte genau, wie das also gewesen war.
11
Als sie geendet hatte, suchte Haberland nervös nach Worten.
»Fräulein Demut«, sagte er zuletzt, »hören Sie mir gut zu: Sie haben diesen Doktor Lindhout wahrscheinlich sehr erschreckt.«
»Erschreckt! Er hat doch noch mit diesem teuflischen Grinsen gesagt, ja, wenn Sie mich doch gleich erkannt haben, natürlich bin ich Martin Luther!«
»Eben: Es ist möglich, daß er Sie für … für krank hält.«
»Ich bin krank«, klagte das Fräulein. »Jeder Knochen tut mir weh.«
»Nicht so krank. Anders.«
»Wie anders?«
»Geistig«, sagte Haberland brutal. Er hielt das nicht mehr aus. »Im Kopf.« Gott verzeih mir, dachte er.
»Oh!« Philine wandte entsetzt den Kopf zur Seite. Tränen quollen. »Das war nicht nett von Ihnen, Hochwürden!«
Haberland suchte gutzumachen, was er da eben unbedacht angerichtet hatte.
»Aber Sie sind doch nicht geistig krank, Fräulein Demut, nicht wahr?«
»Natürlich nicht«, murmelte sie und wischte ihre Tränen fort. »Ich bin ganz gesund. Geistig. Körperlich nicht. Wegen der Aufregung. Aber geistig natürlich!«
»Sehen Sie …« Haberland legte eine Hand auf die ihre. »Und ein geistig gesunder Mensch weiß, daß ein Mann, der seit vielen, vielen Jahren tot ist, nicht bei Ihnen einziehen kann!«
»Sie meinen, daß er nicht Martin Luther ist?« fragte das Fräulein konsterniert.
»Natürlich ist er das nicht, Fräulein Demut!« Haberland lachte weit fröhlicher, als ihm zumute war. »Er ist ein Chemiker, der Doktor Lindhout heißt, und Sie haben ihn sehr erschreckt! Stellen Sie sich vor, jemand kommt zu Ihnen und behauptet, Sie sind nicht Fräulein Demut, sondern Maria Magdalena.«
Sofort bekreuzigte sich Philine.
»Hochwürden!« sagte sie empört.
»Ja, ja, schon gut. Stellen Sie sich das nur einmal vor. Was würden Sie einem solchen Menschen antworten?«
»Ich würde ihm antworten, daß er verrückt sein muß!«
»Da haben Sie es«, sagte Haberland.
»Habe ich was?« fragte Philine. Dann weiteten sich ihre kleinen Augen. »Oh«, sagte sie erschrocken. »Sie glauben … Sie meinen wirklich …«
»Ja! Aber dieser Doktor Lindhout scheint ein taktvoller Mensch zu sein, und deshalb hat er Ihnen nicht widersprochen. Deshalb hat er Ihnen sofort recht gegeben.«
»Weil er mich für verrückt gehalten hat?«
Haberland nickte.
Philine starrte vor sich hin.
»Schrecklich«, sagte sie. »Schrecklich … und das gleich am ersten Tag. Sagen Sie selbst, ist das nicht schrecklich?«
»Es ist gar nicht schrecklich«, antwortete Haberland, »wenn Sie nur einsehen, daß Sie einen Fehler begangen haben. Dann können Sie alles ganz einfach wiedergutmachen. Zeigen Sie mal das Thermometer.« Sie gab es ihm. »Siebenunddreißigdrei. Sie haben kein Fieber.«
»Vielleicht ist das Thermometer kaputt. Ich fühle mich so, als hätte ich Fieber!«
»Sie haben keines, Fräulein Demut.« Haberland war am Ende seiner Kraft. »Sie sagen dem Herrn Doktor Lindhout, daß Sie nur Spaß gemacht haben, und daß er das entschuldigen soll.«
»Spaß gemacht … aber Hochwürden, auch, wenn er nicht Martin Luther ist, er ist doch evangelisch!«
Haberland stand auf. Er sagte laut: »Fräulein Demut, wir leben in einer schweren Zeit, in der es darum geht, ob in der Welt das Böse siegt oder das Gute. In einer solchen Zeit gibt es keine katholischen oder evangelischen oder jüdischen oder heidnischen Menschen. In einer solchen Zeit gibt es nur gute oder böse Menschen.«
»Und wenn er den Schrank umstürzt und herüberkommt in der Nacht und mich zwingt, … mich zwingt, mit ihm …« Brennende Röte bedeckte Philines bleiche Wangen. »Sie wissen schon, was ich meine, Hochwürden.«
»Fräulein Demut«, sagte Haberland, nachdem er sich auf die Unterlippe gebissen hatte. »Er wird den Schrank ganz bestimmt nicht umwerfen, und er wird Ihnen ganz bestimmt nicht zu nahe treten, da können Sie vollkommen beruhigt sein.«
Philine protestierte noch einmal: »Aber ich will nicht, daß ein Ketzer in meiner Wohnung wohnt!«
»Wenn Sie das nicht wollen«, sagte Haberland, »dann ist Ihr Herz zu klein, und ich fürchte, daß Gott keine Freude haben wird darüber. Und ich weiß, daß ich keine Freude an Ihnen mehr haben und nicht mehr zu Ihnen kommen werde.«
Philine fuhr im Bett hoch.
»Sie werden nicht mehr zu mir kommen?«
»Natürlich werde ich kommen, aber nur unter der Voraussetzung, daß Sie freundlich und liebenswürdig zu Herrn Doktor Lindhout sind!«
Philine senkte den Kopf.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Natürlich bin ich nicht verrückt. Ich verwechsle nur manchmal dies und das und weiß nicht, was recht ist und was unrecht. Aber Ihnen glaube ich, Hochwürden!« Sie strahlte ihn an, und da war wieder dieses seltsame Ziehen und Pochen in ihrem Körper. »Ihnen vertraue ich! Wenn Sie es sagen, Hochwürden, dann werde ich eben freundlich und liebenswürdig sein zu Herrn Doktor Lindhout.« Sie seufzte und fügte leise hinzu: »Auch wenn er ein Ketzer ist.«
12
»Phantastisch«, sagte wenige Stunden zuvor ein Mann namens Tolleck, Doktor Siegfried Tolleck. »Absolut phantastisch, Herr Kollege! Ein Mittel, das man im Labor herstellen kann und das die schmerzstillende Wirkung von Morphin hat. Und das doch kein Opiumderivat ist und das offenbar nicht süchtig macht! Es hat nicht die chemische Struktur von Morphin! Es hat überhaupt nichts mit Morphin zu tun! Aber es wirkt genauso stark — und allem Anschein nach ohne gefährliche Nebenerscheinungen!« Dr. Tolleck trug einen fleckigen weißen Mantel, ein am Hals offenes weißes Hemd, leichte Sommerhosen und Sandalen. Jetzt schüttelte er den schweren Schädel. »Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, Herr Kollege. Das erklärt, warum Sie in Ihren Forschungen von unserer Führung derart gefördert werden. Sie sind ein großer Mann!«
»Ach, hören Sie doch auf! Ich habe bloß Glück gehabt«, sagte Lindhout verlegen, während ihm Tolleck auf die Schulter schlug und danach die Hand schüttelte.
»Glück hat nur der Tüchtige, Herr Kollege! Es ist mir eine Ehre, daß Sie jetzt in diesen Räumen weiterarbeiten werden!«
Eine Zeitlang vorher noch hatte sich Tolleck — in Unkenntnis von Lindhouts wissenschaftlicher Leistung — allerdings sehr viel weniger geehrt gefühlt …
Der Vorstand des Chemischen Instituts in der Währingerstraße, Professor Dr. Hans Albrecht, hatte die beiden Männer miteinander bekannt gemacht. Lindhout war zuerst zu ihm gegangen, um seine Ankunft in Wien zu melden.
»Es ist Platz für Sie in der Abteilung von Herrn Kollegen Tolleck vorbereitet«, hatte Albrecht gesagt, ein großer, schlanker Mann mit Silberhaar, schmal geschnittenem Gesicht und schmalen Händen. Seine Stimme klang wohltuend ruhig, er strahlte Würde, Menschenfreundlichkeit und Sicherheit aus. Ein außerordentlich sympathischer Mann, fand Lindhout sogleich. »Wir haben uns das überlegt. Beim Kollegen Tolleck sind Sie am besten aufgehoben und haben die meiste Ruhe und den meisten Platz.« Und er war mit Lindhout aus dem zweiten Stock in den ersten Stock des Instituts hinuntergegangen, über eine sehr breite Treppe mit niedrigen Stufen.
Die Nachmittagssonne hatte das Treppenhaus erhellt. Es roch nach den verschiedensten Chemikalien. Das Gebäude war sehr groß, viele Menschen arbeiteten hier, lehrten und lernten. Lindhout sah auf seinem Weg in den ersten Stock hinunter einige Studenten, darunter ein paar auffallend schöne junge Mädchen. Sie alle trugen weiße Labormäntel. Dann war ihnen ein großer, schlanker Mann von etwa vierzig Jahren begegnet. Der Vorstand des Instituts hatte eine Hand auf Lindhouts Schulter gelegt.
»Das trifft sich gut! Da kann ich Sie gleich miteinander bekannt machen«, hatte er gesagt. »Herr Lindhout, das ist mein Stellvertreter, der Kollege Professor Jörn Lange, Leiter der Abteilung Physikalische Chemie. Herr Lange, das ist also der Herr Doktor Lindhout, den wir aus Berlin erwartet haben.«
»Freut mich, freut mich sehr, Herr Lindhout. Hoffentlich werden Sie sich bei uns wohl fühlen.« Er sah Lindhout forschend an. »Natürlich habe ich von Ihnen gehört. Großartig, was Sie da geleistet haben, Herr Kollege, wirklich großartig!« Was Lindhout an Lange auffiel, war dessen verbissenes Gesicht. Mit abgehackter Stimme sagte Lange: »Sie haben in Rotterdam alles verloren.«
»Ja.«
»Schlimm, schlimm … aber bitte: Der Führer hat diesen Krieg nie gewollt!«
»Hoffen wir, daß alles bald vorbei ist und wir in Ruhe arbeiten können«, sagte der Institutsvorstand Professor Albrecht.
Der zwielichtige Satz hatte Lange erstarren lassen.
»Alles Gute, Herr Lindhout! Heil Hitler!« Er eilte die Treppe hinauf.
»Sie haben ihn verärgert«, sagte Lindhout.
Albrecht faßte ihn am Ellbogen, während sie die Treppe hinabstiegen und sagte sehr leise: »Ja, es scheint so. Professor Lange …« Er unterbrach sich.
»Ja?«
»Ja, was?«
»Sie wollten etwas sagen. Über Herrn Lange …«
Albrecht blieb stehen und sah Lindhout lange an.
»Also?«
»Hm.« Albrecht betrachtete Lindhout noch immer.
»Herr Professor!«
»Unser Kollege Lange … er versieht seine Arbeit mit äußerster Präzision … mit ungeheurem Ehrgeiz … Er stammt aus dem Altreich … Er …«
»Ja?« fragte Lindhout.
Albrechts Gesicht war sorgenvoll. »Lange ist ein fanatischer …«, begann er und brach wieder ab.
»Ich verstehe«, sagte Lindhout.
»Es macht mich sehr glücklich, Sie nun im Institut zu haben«, sagte Albrecht. »Sie werden sich in acht nehmen, ja?«
»Ja«, sagte Lindhout.
Die beiden Männer waren weitergegangen. An der Tür, an welcher der Professor zuletzt klopfte, war eine kleine weiße Karte angebracht gewesen:
DR. SIEGFRIED TOLLECK
Dieser Doktor Tolleck fiel Lindhout sogleich durch eine übermäßig ausgeprägte Kieferpartie und eine tiefe, sehr kräftige Stimme auf. Er war groß, schwerknochig und etwa fünfunddreißig Jahre alt. »Heil Hitler, Herr Kollege«, sagte er, nachdem Albrecht die beiden Männer miteinander bekannt gemacht hatte. Erst nach diesen Worten schüttelte er Lindhout die Hand. Zu dritt gingen sie durch eine Reihe von Räumen. In einigen wurde gearbeitet, zwei Zimmer waren für Lindhout vorbereitet. Er sah das gewohnte Bild: Schränke mit Apparaturen, Tische mit chemischem Gerät, alles blitzsauber, und er sah kleine Käfige mit Kaninchen. Die Tiere bewegten sich raschelnd in dem Gemisch aus Sägemehl und Sägespänen, das die Käfigböden bedeckte. Albrecht hatte sich bald verabschiedet, er mußte zu einer Konferenz. Wieder schnarrte Tolleck sein »Heil Hitler!«
»Alles in Ordnung?« Tolleck sah Lindhout nicht eben freundlich an.
»Ja, gewiß«, sagte Lindhout. »Sogar die Versuchstiere sind schon da.«
»Die Versuchstiere, ja …« Tolleck betrachtete ihn verbissen. »Ich weiß ja nicht, woran Sie arbeiten, Herr Kollege, aber ich bin froh, daß ich diese Arbeit nicht tun muß!«
»Warum?« fragte Lindhout überrascht.
Tolleck wies mit dem Kinn auf die Käfige.
»Wegen der Versuchstiere?« fragte Lindhout erstaunt.
»Ja«, sagte Tolleck, »wegen der Versuchstiere.« Er rief in einen Nebenraum: »Die drei Minuten sind in zwanzig Sekunden um, Hermi, notieren Sie die Temperatur eine Weile, bitte!«
Eine Mädchenstimme erklang: »Sofort, Herr Doktor!«
»Was ist mit den Versuchstieren?« fragte Lindhout.
»Ich könnte das nicht aushalten«, sagte Tolleck.
»Was?«
»Mit Tieren zu experimentieren. Da hängen elektrische Drähte. Ich nehme an, Sie versetzen den Tieren Stromstöße.« Lindhout nickte. »Die Versuchstiere empfinden also Schmerzen, sie leiden.« Lindhout dachte: In euren KZs haltet ihr euch Versuchsmenschen und laßt sie leiden. Das hältst du aus, du Lumpenkerl, was? Beherrscht sagte er: »Ich arbeite an einem schmerzstillenden Medikament, Herr Kollege. Das kann man nur am Tier-Modell erforschen, wenn man nicht Selbstversuche anstellen oder zur Züchtung von Testmenschen übergehen will.«
Tollecks Gesicht rötete sich. Er hat mich verstanden, dachte Lindhout, während der andere sagte: »Gewiß, gewiß … ich kenne dieses Gebiet zu wenig. Aber könnte man Ihr schmerzstillendes Mittel nicht an schmerzfreier Materie erproben — sagen wir, an Zell- oder Organkulturen?«
»Nein«, antwortete Lindhout, »das kann man eben leider nicht. Ich habe sehr oft mit Kollegen darüber gesprochen. Sehen Sie: Descartes sprach von der ‘Maschine Tier’, also einer schmerzempfindlichen Materie. Die meisten Menschen heute sagen: Wenn das, was sich bei diesen Tieren äußert, gottgegebene Seele ist, dann ist auch im Umgang mit ihnen Humanität gefordert!« Und er dachte: Ausgerechnet vor einem Nazi muß ich mich verteidigen. Weil die ja soviel für Humanität übrig haben! Er fuhr fort: »Ist das Tier hingegen, auf uns bezogen, ›minderwertig‹« (so wie bei euch bestimmte Menschengruppen, dachte er), »ein Stück, nun, sagen wir: ›Zufall und Notwendigkeit‹, ob mit, ob ohne Schmerzempfinden, so wäre es nichts als sentimentale Wehleidigkeit und Inkonsequenz, es nicht zu nutzen und an unsere Stelle treten zu lassen!«
»Das stimmt«, sagte Tolleck und sah Lindhout überrascht an, »daran habe ich noch nicht gedacht.«
»Ist es aber«, fuhr Lindhout fort, »so etwas wie unser minderer Bruder, dann sind wir selbstverständlich für sein Leiden verantwortlich. Dann bleibt die schwer zu beantwortende Frage offen, ob wir Stellvertreter akzeptieren dürfen oder das Tier aus solchem Joch erlösen müssen.«
»Und wie lautet die Antwort?« fragte Tolleck aggressiv.
»Sie kann«, sagte Lindhout, »nur lauten: Es gibt kein Heil für den Bruder zur Rechten, also für den Menschen, ohne Elend für seinen Bruder zur Linken, also für das Tier. Und darauf kann die Frage nur lauten: Wieviel Elend muß es denn sein? Und die Antwort muß lauten: So wenig wie irgend möglich.« Lindhout dachte: Und um eines beneide ich die Tiere sogar! Sie wissen nicht, was ihnen Böses droht, und sie wissen nicht, was über sie geredet wird. Er sah Tolleck sehr ernst so lange an, bis dieser sich abwandte.
»Sie haben recht«, sagte er. »Ich habe nie so weit gedacht. Entschuldigen Sie.« Lindhout antwortete nicht. Tolleck wandte sich ab und ging zu seinem Zimmer zurück. »Folgen Sie mir bitte, Herr Kollege!«
Lindhout folgte. Tollecks Laboratorium war sehr groß und hoch, weiß gestrichen und angefüllt mit vielerlei Apparaturen und Geräten sowie Chemikalien aller Art. Zwei große, moderne Schiebefenster gingen zur Währingerstraße hinaus. Straßenbahnen und einige wenige Autos erblickte Lindhout. Auf den Gehsteigen sah er eilende Menschen. Die Währingerstraße war eine laute und sehr belebte Straße — im Gegensatz zur Berggasse. Die Doppelfenster hielten indessen jeden Lärm ab. Es war sehr still in dem Arbeitsraum des Dr. Tolleck, in dem ein Mädchen gerade eine Zahl auf einer Tabelle notierte.
»Danke, Hermi«, sagte Tolleck. »Jetzt mache ich wieder weiter.« Das Mädchen nickte und ging an ihren Arbeitsplatz nebenan zurück.
»Nehmen Sie doch Platz, Herr Kollege«, sagte Tolleck, die Tabelle nun in der Hand. »Tut mir leid, daß ich mich nicht zu Ihnen setzen kann. Aber diese Versuchsbatterie muß ständig beobachtet werden. Auch nachts.«
»Ich störe. Ich werde in meine Räume gehen«, sagte Lindhout.
»Sie stören überhaupt nicht, Herr Kollege. Ich bin froh, jemanden zu haben, mit dem ich mich ein bißchen unterhalten kann. Verflucht eintönig, diese Versuchsreihe.« Tolleck beschäftigte sich mit einer Destillationsapparatur, von deren Kolben er von Zeit zu Zeit (exakt: in Intervallen von drei Minuten) an einem dort angebrachten Thermometer die Wärmegrade ablas und auf dem Block notierte. »Eintönig, ja, das schon«, sagte er mit seiner lauten, kräftigen Stimme. »Aber wenn diese Sache klappt …«
»Woran arbeiten Sie?« fragte Lindhout.
»Tut mir leid.« Tolleck sah ihn an, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Schweigepflicht. Geheime Kommandosache. Wehrmacht. Bin auf Kriegsdauer vom Frontdienst zurückgestellt.«
»Da haben Sie Glück«, sagte Lindhout.
»Ich betrachte das nicht als Glück, Herr Kollege, sondern als heilige Verpflichtung. Ich kämpfe in der Heimat für den Sieg genauso wie der Soldat an der Front!«
»Natürlich«, sagte Lindhout.
Tolleck sah ihn plötzlich wieder unfreundlich an.
»Sie können das nicht verstehen, ich weiß.«
»O doch!«
»Nein. Holland wurde von uns unterworfen, es ist ein besiegtes Land. Ich verlange gar nicht, daß Sie mich verstehen.«
»Aber lieber Kollege!« Lindhout trat zu ihm. »Ich verstehe Sie wirklich vollkommen. Glauben Sie, ich bin mir nicht bewußt, welchen großen Vorzug es bedeutet, hier arbeiten zu dürfen, nachdem das Kaiser-Wilhelm-Institut von Bomben getroffen worden ist?«
»Bomben der Luftgangster«, sagte Tolleck laut.
»Von Bomben, gewiß. Glauben Sie, ich weiß die Großzügigkeit staatlicher Stellen nicht zu schätzen, die einen Ausländer wie mich derart freundschaftlich fördern? Ich versichere Ihnen, Sie haben meine ganze Sympathie in Ihrem Kampf um ein Neues Europa.«
»Danke«, sagte Tolleck mit einem kurzen Nicken des Kopfes. »Es war auch nicht bös gemeint. Aber Sie verstehen, wir müssen wachsam sein. Wir sind umgeben von Feinden.«
»Ich verstehe vollkommen«, sagte Lindhout, und es klang fast unterwürfig. »Es sind harte Zeiten.«
»Harte und große! Ich möchte in keiner anderen Zeit leben!« Tolleck gähnte und streckte sich.
»Wie lange arbeiten Sie schon?«
»Seit gestern abend.«
»Ohne Unterbrechung?«
»Ohne Unterbrechung.« Tolleck verstellte die Flamme eines Bunsenbrenners. »Ich darf diese Versuchsbatterie nicht unterbrechen. Das sagte ich ja schon.«
»Aber Sie müssen doch todmüde sein!«
»Reine Sache der Gewohnheit. Von unseren Männern an der Front wird hundertmal mehr gefordert.« Er bot Zigaretten an. Lindhout nahm eine. »Danke«, sagte er lächelnd. Auf der Währingerstraße wurde es dämmrig.
»Und Sie? Woran arbeiten Sie, Kollege? Oder ist das auch ›Geheime Kommandosache‹?«
»Durchaus nicht«, sagte Lindhout. »Niemand hat mich unter Schweigepflicht gestellt. Ich habe an dieser Geschichte schon in Rotterdam gearbeitet. Wir sind beide Biochemiker. Die meisten Entdeckungen werden heute von den Militärs gefördert.«
»Was soll das heißen?« Tolleck sah Lindhout mißtrauisch an.
»Die Ihre doch offenbar. Und meine bestimmt auch. Deutschland steht im Krieg. Viele Menschen — Soldaten und Zivilisten — werden schwer verwundet. Es gibt so viel Schmerz in unserer Zeit …« Lindhouts Stimme schwankte. »Sehen Sie … der Schmerz ist mein Beruf.« Tolleck zeichnete wieder einmal eine Temperatur ein. Seine Augen wanderten zwischen der Tabelle und Lindhout hin und her.
»Also, Sie arbeiten an Anti-Schmerzmitteln?«
»Das tue ich, ja. Lange Zeit schon. Ich arbeitete in Rotterdam daran. Und als ich in Paris studierte …«
»Sie haben in Paris studiert?«
»Ja. Am Institut Pasteur. Bei Professor Ronnier.« Tolleck pfiff anerkennend durch die Zähne. Jeder Chemiker in Deutschland kannte Professor Ronnier, diesen Mann, der geradezu verbissen versucht hatte, ebenso starke Schmerzstiller herzustellen wie Morphin, dieses klassische Analgetikum, oder noch stärkere …
Dämmriger und dämmriger wurde es auf der Straße. Tolleck knipste das elektrische Licht an und zog die Verdunklungsrollos vor den Fenstern herab.
»Natürlich war es auch für uns von größter Bedeutung, solche Stoffe zu finden«, sagte er, »denn die gesamte Schaffenskraft unseres Volkes auf allen Gebieten ist darauf eingestellt, das Reich unabhängig von ausländischen Rohstoffen zu machen. Sie sehen, wie klug unser Führer da vorausgeblickt hat. Jetzt haben wir seit fast fünf Jahren Krieg. Sind abgeschnitten und angefeindet von der ganzen Welt. Wie könnten wir da hoffen, Opium-Alkaloide, aus denen Morphin zu gewinnen wäre, hereinzubekommen, nicht wahr?«
Lindhout sagte: »Sie haben ja inzwischen das Dolantin und das Heptadon gefunden. Nicht Sie allein freilich. Auch Chemiker in Amerika …«
»Das Dolantin nicht!« Tolleck wurde immer erregter. »Das Dolantin hat ein Mann aus der Ostmark schon 1939 entwickelt, in Innsbruck, Schaumann heißt er!«
»Das weiß ich, Herr Kollege. Auch ein deutscher Chemiker bei Hoechst …«
»Eislep!« rief Tolleck.
»Richtig, Eislep, der mit der Synthese der Vier-Phenyl-Piperidin-Derivate, der hat neben der erwarteten atropin-ähnlichen krampflösenden Eigenschaft 1939 eine zentral schmerzstillende Substanz gefunden.«
Das Gespräch der beiden wurde immer eifriger …
Eislep in Hoechst hatte — im Tierversuch, bei Mäusen — regelmäßig eine eigenartige aufrechte Haltung des Schwanzes beobachtet. Weil die so sonderbar S-förmig-aufrechte Krümmung des Schweifes und dazu eine allgemeine Erregung bei den Versuchstieren auch stets die Folge von Morphingaben war, hatte man die neuen Substanzen auf eine mögliche Ähnlichkeit mit Morphin hin untersucht und dabei tatsächlich denselben stark schmerzstillenden Effekt entdeckt. Schaumann testete Hunderte von Verbindungen und schlug schließlich einige für den klinischen Gebrauch vor — darunter Dolantin und Heptadon: Nach ausgedehnten Untersuchungen hatte der Chemiker gefunden, daß alle seine Substanzen eine strukturell-sterische Ähnlichkeit mit Morphin besaßen.
Sterisch …
Die Formel des Morphins kann man niederschreiben — auf Papier, zweidimensional. Indessen ist alle Materie, ist jedes Molekül dreidimensional-räumlich! Den Studenten wird das am Beispiel eines Christbaums klargemacht: Der hat einen Stamm, und von dem gehen Äste aus. Diese werden mit Kugeln behängt. Setzt man den Christbaum einem Morphinmolekül gleich, dann braucht man — nach der Morphinformel — siebzehn Kohlenstoffatom-Kugeln, neunzehn Wasserstoffatom-Kugeln, drei Sauerstoffatom-Kugeln und eine Stickstoffatom-Kugel. Aber: Je nachdem, wie und wo man die einzelnen Kugeln anbringt, auf welchem Ast, an welcher Stelle, ändert die Substanz (bei immer gleichbleibender Gesamt-Formel) völlig ihre Wirkung! Die Kugeln »fördern« einander, »behindern« einander — sie lassen die Substanz in dieser oder jener Weise wirksam oder unwirksam werden …
Das bedeutete aber: Man war erstens unabhängig von den natürlichen Ausgangsstoffen, die der Schlafmohn lieferte, und konnte zum zweiten nun im Laboratorium starke Antischmerzmittel herstellen, die hinsichtlich ihrer Wirkung Unterschiede zum Morphin aufwiesen. Man könnte sogar drittens diese oder jene Substanz mit besserer Wirkung als Morphin finden! Und eben daran, so erzählte Lindhout, arbeite er seit langer Zeit …
»… meine ersten Präparate hatten noch negative Nebenerscheinungen — Übelkeit, Erbrechen, Atembeschwerden … Atembeschwerden genauso wie bei Morphin. Sie hatten eigentlich alle dieselben Wirkungen und Nebenwirkungen wie das Opium-Alkaloid Morphin — aber keine von ihnen war mehr ein Opium-Alkaloid! Und keine von ihnen scheint süchtig zu machen!«
»Und dennoch«, sagte Tolleck staunend, »haben alle Ihre Substanzen schmerzstillende Wirkung wie das Morphin?«
»Ja …« Lindhout sah durch einen Spalt auf die nachtdunkle Straße hinab, er hatte die Stirn gegen eine kühle schwarze Verdunkelungsfolie gepreßt. Da unten war es jetzt vollkommen finster. So ist es auch in Berlin nachts immer gewesen, dachte er. »Das hat natürlich jahrelang gedauert …«
»Natürlich …«
»Ich hatte eine gute Ausgangssubstanz. Ich nannte sie AL 1. AL 1 war in seiner schmerzstillenden Wirkung leider nicht annähernd so stark wie Morphin. AL 50, zum Beispiel, war es schon viel mehr. Im Tierversuch. An Kaninchen.«
»Sie haben den Tieren den Schmerz immer mit elektrischem Strom zugefügt, nehme ich an?«
»Mit Stromstößen, ja … die Elektroden am Zahnfleisch … Doch sie haben immer noch gelitten. Auch noch bei AL 100, auch noch bei AL 150 … Da hatte man mich schon nach Berlin eingeladen, weil doch Rotterdam vollkommen …«
»Ja, ich weiß. Und Sie haben immer weiter an Ihrer Substanz gearbeitet …«
»Immer weiter«, sagte Lindhout verlegen. »Das war bei mir nun schon eine richtige Besessenheit geworden, ich vermute, daß Sie das kennen …«
»Und ob ich das kenne!« Müdigkeit ließ die tiefen Ringe unter Tollecks Augen fast schwarz werden. »Mir geht es doch genauso! Es läßt einen nicht mehr los, das Problem, mit dem man sich plagt, das Ziel, das man vor sich hat, tags nicht und nachts nicht, es verfolgt einen in alle Träume — mich jedenfalls.«
»Auch mich verfolgt es. Ich konnte an nichts anderes mehr denken.« Lindhout nickte, mit seltsam verlorenem Blick. »Nun ja, und ich habe es erreicht, mein Ziel … in Berlin … mit der Substanz AL 203.«
Tolleck richtete sich auf und sah Lindhout bewundernd an.
»Zweihundertunddrei Substanzen haben Sie durchgetestet?«
»Ich hatte Glück, Herr Kollege, es hätten auch fünfhundert sein können. Mein AL 203 wirkt ohne jede Nebenerscheinung und ist dem Morphin im Dosis-Wirkungsbereich an Stärke überlegen!«
Und da sagte der Dr. Siegfried Tolleck dann diese Worte: »Phantastisch! Absolut phantastisch! Ein Mittel, das man im Labor herstellen kann und das die schmerzstillende Wirkung von Morphin hat! Und das doch kein Opiumderivat ist und das offenbar nicht süchtig macht. Es hat nicht die chemische Struktur von Morphin! Es hat überhaupt nichts mit Morphin zu tun! Aber es wirkt genauso stark — und allem Anschein nach ohne gefährliche Nebenerscheinungen!« Er schüttelte den schweren Schädel. »Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, Herr Kollege! Das erklärt, warum Sie in Ihren Forschungen von unserer Führung derart gefördert werden! Sie sind ein großer Mann!«
»Ach hören Sie auf«, sagte Lindhout, während Tolleck ihm auf die Schulter schlug und danach seine Hand schüttelte. »Ich habe bloß Glück gehabt.«
»Glück hat nur der Tüchtige, Herr Kollege! Es ist mir eine Ehre, daß Sie jetzt in diesen Räumen weiterarbeiten werden!«
»Weil ich eben Pech hatte.«
»Pech? Wie soll ich das verstehen?« Tollecks Augen wurden schmal, von einer Sekunde zur andern.
»Na ja, etwa drei Monate nach den ersten klinischen Erprobungen am Menschen fielen Bomben auf das Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Institut. Alle Präparate und Aufzeichnungen, alles, was ich nur hatte, ist verbrannt.«
»Meine Rede«, knurrte Tolleck. »Amerikanische Luftgangster!«
»Es waren englische Flugzeuge, bei einem Nachtangriff. Die Amerikaner kamen immer am Tag. Da hätte ich vielleicht noch etwas retten können. Aber ich war ja gar nicht im Institut, als es die Treffer bekam.«
»Engländer, Amerikaner — egal! Luftterror, das ist es. Bombenterror. In die Knie zwingen wollen sie uns damit. Doch es wird ihnen niemals gelingen! Wenn die Lage im Moment auch nicht sehr gut für uns aussieht — der Feind wird sich wundern! Er wundert sich schon!« Tolleck lachte böse. »Die V 1 und die V 2 auf London! Fliegende Bomben! Das hat niemand erwartet! Und das ist erst der Anfang! Glauben Sie mir, glauben Sie unserem Doktor Goebbels, der von den Wunderwaffen spricht! Die Wende steht unmittelbar bevor!« Tolleck wies auf den Destillierkolben, in dem eine schwarze Flüssigkeit Blasen warf. »Wenn das da funktioniert, zum Beispiel … und ich bin nur ein kleines Rädchen im Getriebe … Im ganzen Reich werden Vergeltungswaffen fabriziert und weitere vorbereitet, von denen der Feind keine Ahnung hat, die er sich nicht einmal vorstellen kann — genauso, wie Sie und ich es nicht können! Ja, schlottern und kriechen werden sie noch vor uns — diese Kulturträger des Westens!«
Hin und her gerissen zwischen Furcht vor diesem Fanatiker und Verachtung für ihn und das, was er sagte, fühlte Lindhout mit einem Gefühl des Glücks den Druck der Pistole, die in der Hüfttasche seiner Hose steckte und gegen den Körper drückte. »Forschungszentren, Krankenhäuser, Wohnblocks, alte Männer, Frauen und Kinder treffen, ja, das können sie! Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Kollege, die Augen aus den Höhlen fallen werden den Schweinen, wenn wir soweit sind — und das wird bald sein, sehr bald …« Er bemerkte, daß Lindhouts Gesicht erstarrt war, und seine Stimme bekam sofort einen herrischen Ton. »Tut mir aufrichtig leid, daß in Berlin alles verlorenging!«
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte Lindhout. »Ich werde eben alles rekonstruieren und neu testen, damit die Großproduktion von AL 203 beginnen kann.«
»Das ist der rechte Geist, verehrter Herr Kollege!« Tolleck wollte Lindhout wieder auf die Schulter schlagen, überlegte es sich indessen im letzten Moment. »Wir werden sehr schnell gute Freunde werden, lieber Lindhout«, sagte er statt dessen.
»Sicherlich«, sagte Adrian Lindhout und verabschiedete sich.
13
Eine Stunde später etwa — es war 22 Uhr 14, als er auf die Währingerstraße hinaustrat — atmete Lindhout befreit auf. Die frische Nachtluft tat ihm wohl. Er atmete weiter tief ein und aus, ein und aus … Tolleck hatte ihn noch lange über Einzelheiten seiner Forschungen befragt und dabei unsäglich dummes politisches Geschwätz von sich gegeben.
Geschwätz, ja, dummes Geschwätz, dachte Lindhout, während er das schwere Tor des Instituts absperrte (er hatte einen Schlüssel erhalten), aber kein harmloses Geschwätz! Dieser Siegfried Tolleck ist ein besessener Nazi, ein brauner Fanatiker, der unbeirrbar an den Endsieg glaubt, was ich mir auch noch habe sagen lassen müssen, und ich weiß nun, daß ich in der Höhle eines Löwen gelandet bin. Ich muß mich vorsehen, dachte er, jederzeit und sehr gründlich. Hoffentlich dauert dieser Alptraum nicht mehr allzu lange, dachte er. Komisch, ich bin gewiß kein Held, eher ein Feigling, wie alle Menschen, die genügend Phantasie besitzen. Und doch habe ich keine Angst. Und doch weiß ich, ich werde diese Pest überleben. I shall overcome, dachte er und erinnerte sich an das berühmte Spiritual der amerikanischen Neger, in dem sich der Widerstandswille des Schwarzen ausdrückt: I shall overcome, ich werde überstehen. Und ich werde weiterarbeiten können in Frieden nach dem Ende dieser Höllenbrut.
Die Nacht war warm.
Vor dem Institut standen zahlreiche Sträucher, und es roch betäubend nach Jasmin. Immer noch atmete Lindhout tief, als er nun zu gehen begann. Er hätte sich nach links wenden und die Währingerstraße entlang in Richtung Schottenring gehen müssen, um die Berggasse zu erreichen. Statt dessen wandte er sich, nachdem er ein paar Minuten lang gewartet hatte, um zu beobachten, ob ihm jemand folgte, nach rechts.
Kein Mensch war zu sehen.
Lindhout ging bis zum Ende des Gebäudes in Richtung Nußdorferstraße, dann bog er nach rechts in die bogenförmig verlaufende Strudlhofgasse ein. Jetzt hatte er die Seitenfront des Instituts zur Rechten; zur Linken erhob sich das große Gebäude eines Klosters. Lindhout ging langsam, vorsichtig, sehr leise in der Stille dieser Sommernacht. Er ging nur bis zur nächsten Kreuzung, dann verließ er die Strudlhofgasse und bog in die Boltzmanngasse ein.
Er erreichte das Haus Nummer 13. Hier blieb er vor dem großen, verglasten Tor aus Schmiedeeisen stehen und öffnete das versperrte Schloß mit einem Schlüssel, den er der linken Jackentasche entnahm. Es war ein großes und schönes Haus — schöner als das in der Berggasse, wenn auch zur etwa gleichen Zeit und im gleichen Stil entstanden. Es gab hier einen Lift. Lindhout benutzte ihn nicht.
So wenig Geräusch wie möglich!
Also begann er die Stufen emporzusteigen. Er wollte in den dritten Stock, und er hatte dabei die seltsame Einrichtung bei vielen Wiener Häusern zu beachten, daß es »Parterre«, »Hochparterre« und »Mezzanin« als eigene Stockwerke gab, bevor man den ersten Stock erreichte. Bei den älteren dieser Häuser — und das waren die meisten — befand sich an den Absätzen zwischen den Stockwerken, dort, wo sich die Treppe in die Gegenrichtung wendete, ein horizontales Schmiedeeisengitter in die Wand eingelassen, nicht sehr groß. Lindhout sah das zum ersten Mal. Er wußte nicht, daß bei diesen Häusern die Waschküchen durchweg im Keller waren und daß die hier angestellten »Bedienerinnen« die Wäsche ihrer »Herrschaft« von da unten bis unter das Dach schleppen mußten, zum »Trockenboden« mit den ständig ausgespannten Leinen. Die Wäsche, naß und schwer, wurde in Körben geschleppt. Selbst jungen »Bedienerinnen« ging spätestens beim zweiten Halbstock der Atem aus, und sie setzten dann, bis sie sich zum Weitertragen erholt hatten, ihre Körbe auf eben die erwähnten schmiedeeisernen Gitter.
Lindhout erreichte den dritten Stock. Hier lagen die Eingangstüren von zwei Wohnungen einander gegenüber. Fast lautlos ging der einsame Mann auf die Tür mit der Messingtafel zu, auf der MARIA PENNINGER stand. Er läutete auf seltsame Weise: dreimal kurz, einmal lang, dann noch einmal kurz.
Schritte näherten sich. Die Tür ging auf. Eine gut aussehende junge Frau öffnete.
»Guten Abend, Frau Penninger«, sagte Lindhout.
»Guten Abend«, sagte sie leise und zog ihn herein. Die Tür schloß sich. Das Licht im Treppenhaus erlosch.
Sie standen einander in einem Flur gegenüber, ähnlich dem bei Fräulein Demut.
»Verzeihen Sie, daß ich so spät noch komme, aber ich habe es Truus doch versprochen. Schläft sie etwa schon?«
»Nein, sie wartet geduldig auf Sie, Herr Lindhout.«
Lindhout sah Maria Penninger gerührt an.
»Ich hätte nicht gewußt, was ich tun soll, wenn ich in Berlin nicht Ihre Adresse bekommen hätte.«
»Wenn Sie nicht meine bekommen hätten, wäre es eine andere gewesen. Es gibt eine Gemeinschaft, die wie ein unsichtbares Netz über ganz Europa liegt — die Gemeinschaft von Menschen, die nichts als helfen wollen in dieser bestialischen Zeit.«
Er nickte stumm. Nach einer Weile sagte er: »Und die ihr Leben dabei riskieren … und es schon oft verloren haben, schrecklich oft, ich weiß es.«
»Ja, und?« Frau Penninger lächelte. »Ist dadurch das Netz zerstört worden? Ist es zerrissen? Vernichtet? Nein! Es ist da, wie es von Anfang an da war und wie es da sein wird bis zum Ende.«
Mit unsicherer Stimme antwortete er: »Sie haben recht. Noch immer ist ein Nachfolger an die Stelle eines Unglücklichen getreten, den sie verhaftet haben, und das Netz besteht weiter, dieses Netz der Hilfe, das wohl wirklich niemals vernichtet werden kann, weil es gespeist wird aus einer unversiegbaren und unzerstörbaren Quelle.«
»Hören Sie auf mit solchen Worten, Herr Lindhout! Dieses Netz ist nicht zu zerstören, weil es von Leuten gewebt ist, die die Nazis hassen wie Sie, wie mein Mann und ich diese Brut hassen, das ist alles.« Sie gingen Seite an Seite den Gang hinab.
»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte Lindhout.
»Ich habe am Nachmittag einen Brief bekommen, den ein Kamerad mir brachte. Er lebt.«
»Mein Gott.«
»Was heißt ›mein Gott‹! Das ist die Hauptsache, Herr Lindhout! Zu leben, diese Verbrecher zu überleben. Ich habe vorhin London gehört. Die Nachrichten sind wunderbar. Alles bricht zusammen. Die Russen und die Amerikaner treiben die deutschen Armeen vor sich her. Mein Mann hat für den Anstreicher Straßen und Brücken bauen müssen, beim Vormarsch, die ganze Zeit über, das hat man Ihnen in Berlin berichtet, nicht wahr?« Lindhout nickte. »Und er baut sie noch immer, schreibt er — aber wo baut er sie jetzt? Was heißt bauen? Wo bessert er sie jetzt aus, wieder und wieder? In Polen! Fast schon in Ostpommern! Und in immer größerer Eile muß er ausbessern und wiederum ausbessern, damit die deutschen Panzer und die schweren Kanonen nicht einbrechen, wenn sie mit den geschlagenen Divisionen zurück müssen. Hören Sie auf mich, Herr Lindhout: Es wird ein Ende haben, und bald schon, bald.«
»Hoffentlich«, sagte er. »Holland kam ganz zuerst dran, und ich habe Truus seit vielen Jahren verstecken müssen. Seit vielen Jahren, ja, und immer mußte ich neue Verstecke finden für sie …«
»Hier ist sie sicher, Herr Lindhout! Hier vermutet sie niemand. Die Lumpen brauchen meinen Mann gerade jetzt wie einen Bissen Brot! Darum setzen sie mir auch niemanden in die Wohnung! Darum lassen sie mich in Ruhe, keiner von den elenden Kerlen wagt es, auch nur herzukommen. Unser gemeinsamer Freund in Berlin ist ein kluger Mensch.« Sie öffnete eine Tür und ließ Lindhout in ein großes Zimmer treten. Die Verdunkelungsrollos waren herabgelassen, das Licht brannte. Frau Penninger ging zu einer Wand, die mit Tapete bespannt war. Dabei sagte sie: »Wirklich, Sie können beruhigt sein, Herr Lindhout. Die Kleine hat es gut bei mir. Sie hat mich schon akzeptiert! Die Braunen müssen mich erst dreimal totschlagen, bevor sie hier hereinkommen.« Sie tastete bei diesen Worten über die Wand und öffnete eine Tapetentür, die man niemals an dieser Stelle vermutet hätte. Hinter der Tür befand sich ein Abstellraum mit einer kleinen, dunkel verhängten Luke.
»Adrian!« rief eine helle Kinderstimme.
»Ja, Truus, ja«, sagte er. »Endlich komme ich.« Und er trat in die Kammer, indessen Frau Penninger sich zurückzog. In der Kammer stand ein Bett und ein Stuhl. Es war ein sehr kleines Bett. Darin saß ein zehnjähriges Mädchen mit langem blondem Haar, blauen Augen, hoher Stirn und Sommersprossen. Es trug ein mit kleinen bunten Blumen bedrucktes Nachthemd. Auf dem Bett lag aufgeschlagen ein Buch — »Alice im Wunderland«, sah Lindhout. Er neigte sich zu dem kleinen Mädchen herab, wobei er wieder den Griff der Pistole spürte, und umarmte das Kind. »Da bin ich. Siehst du, ich habe Wort gehalten, Truus. Es ist nur spät geworden, leider.«
Das kleine Mädchen preßte sich leidenschaftlich an ihn und bedeckte sein Gesicht mit vielen feuchten Küssen.
»Das macht doch nichts, das bin ich doch gewöhnt seit so langer Zeit. Adrian! Lieber, lieber Adrian.« Auch er küßte sie. Danach sah er sich um. »Eng hier, wie?«
»In Berlin war es auch nicht größer, Adrian«, sagte das Mädchen. »Und da hat es immer auch noch diese schrecklichen Luftangriffe gegeben, wo ich habe oben bleiben müssen, damit sie im Keller nicht fragen, wer ich bin. Glaubst du, hier gibt es auch Luftangriffe?«
Das Herz tat ihm weh, während er sie zärtlich streichelte.
»Bis jetzt hat es noch keinen gegeben, Truus. Und wenn es noch welche geben sollte — Frau Penninger hat mir, als wir heute früh ankamen, gesagt, in diesen Keller kannst du ruhig mit hinuntergehen. Sie ist deine Tante, wird sie sagen, wenn jemand fragt. Siehst du, wie viel besser das ist als in Berlin? Da hatten wir keine Tante. Da hatten wir überhaupt niemanden. Da habe ich dich nicht hinuntergehen lassen dürfen, wenn die Sirenen geheult haben.«
»Aber da bist du bei mir geblieben, oben, obwohl es doch verboten war.«
»Nur in der Nacht, Truus. Am Tag war ich weit weg, da mußte ich arbeiten, und du hast allein in deinem Versteck bleiben müssen. Das war schrecklich.«
»Nein, schön war es nicht«, sagte das Mädchen, das Truus hieß, sorgenvoll. Das kleine Gesicht erhellte sich. »Aber Claudio hat mich oft besucht, und wir haben miteinander gespielt.«
»Seine Eltern waren eingeweiht, Truus. Zu ihnen konnten wir Vertrauen haben. Und auch zu Claudio.«
»Er ist der liebste und beste Junge auf der Welt! Er hat geweint, als wir fortzogen. Glaubst du, daß ich ihn wiedersehen werde?«
»Ganz gewiß. Wenn der Krieg einmal zu Ende ist, Truus.« Lindhout machte ein ernstes Gesicht. Er hatte erwartet, daß Truus unter dem Verlust ihres Berliner Spielgefährten leiden würde, mit dem sie immer so glücklich gewesen war.
Truus, die ihn aufmerksam beobachtete, rief heiter: »Also, wenn der Krieg zu Ende ist, ja?«
»Ja, Truus.«
»Dann bin ich gar nicht traurig! Hier ist es so schön, Adrian! Das ist eine sehr liebe Tante, die Tante Maria! Sie hat den ganzen Tag mit mir gespielt, und wir haben zusammen gegessen, und am Nachmittag hat es Kaffee und Kuchen gegeben. Selbstgemachten! Eigens für mich, denke doch, Adrian!«
»Du mußt immer folgsam sein, Truus!«
»Bestimmt, Adrian! Tante Maria hat mir gesagt, wenn es dunkel ist, darf ich auch aus dieser Kammer herauskommen und mit ihr essen und Radio hören und alles! Und das ist ein so schönes Bett! Und durch das kleine Fenster hier sehe ich in den Himmel! Schau, Adrian, so viele Sterne.« Truus hatte das Licht gelöscht und den Verdunkelungsvorhang von der Luke entfernt.
»Ja, so viele Sterne«, sagte er, schob den Vorhang wieder vor und streichelte und liebkoste das Kind. Hab keine Angst, Truus, dachte er, wir haben es so lange geschafft, wir werden auch noch bis zum Ende durchhalten, du und ich, we shall overcome, wir werden es beide überleben, das Ende dieser Höllenzeit. Aber wichtiger ist, daß du überlebst, wenn es doch nur einer von uns sein soll. Lieber Gott, wenn es nur einer von uns ist, betete er stumm und knipste das Licht wieder an, dann laß es Truus sein, bitte. Sie muß weiterleben. Sie ist erst zehn Jahre alt. Sie wird sich schon zurechtfinden in der neuen, besseren Welt.
Er bemerkte, daß dem kleinen Mädchen die Augen zufielen vor Müdigkeit. »Mein Gott, über elf Uhr schon«, sagte er. »Da mußt du jetzt aber schlafen, Truus. Nach all den Anstrengungen! Denke doch, vorige Nacht saßen wir im Zug. Da hast du kaum geschlafen. Sei ein braves Mädchen.«
Sie lächelte.
»Ich habe gelesen, weißt du. Das ist ein herrliches Buch, das schönste, das ich kenne! Ich bin jetzt da, wo Alice den verrückten Hutmacher trifft. Kennst du die Stelle?« Er nickte. »Ist das nicht herrlich?« Truus lachte. »Der Hutmacher sagt zu Alice: Du bist verrückt. Und sie sagt: Wieso? Und der Hutmacher sagt: Weil hier alle verrückt sind. Ich bin verrückt, das weiße Kaninchen ist verrückt, alle hier sind verrückt. Und Alice sagt: Ich nicht! Ich bin nicht verrückt! Und da sagt der Hutmacher: Du mußt auch verrückt sein, sonst wärest du nicht hier!« Truus lachte wieder. Dann ließ sie sich auf das Kissen fallen. Er legte das Buch auf den Stuhl und sagte: »Ab morgen habe ich wieder viel mehr Zeit für dich, Truus. Wie in Berlin. Nur der erste Tag war so anstrengend.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Und nun schlaf schön, mein Lieb.«
»Nein«, protestierte sie, schon murmelnd, »nein! Erst noch das Symbolum! Du weißt doch! Jeden Abend sagst du mir einen Vers daraus! Bitte, Adrian!«
Er streichelte ihr Haar, während er das Licht löschte und in der Dunkelheit — nur aus dem Zimmer drang ein Lichtspalt — zu sprechen begann. Was er sprach, war ein Vers aus dem Gedicht SYMBOLUM von Johann Wolfgang Goethe.
Sechs Verse hatte dieses Gedicht aus der Sammlung »Loge«, es war eines der Freimaurergedichte Goethes. Ungewöhnlich mußte es jedem, der nicht Bescheid wußte, erscheinen, daß ein zehnjähriges Mädchen dieses Freimaurergedicht so liebte und bat, ihm einen Vers daraus vorzulesen vor dem Einschlafen, anstatt zu beten. Natürlich hatte dies seinen Grund, denn es gibt nichts, das zufällig oder grundlos geschieht auf unserer Welt.
»Was willst du denn heute hören, Truus?« fragte er.
»Das vom Guten, Adrian, heute das vom Guten!«
Er senkte den Kopf, und leise sprach er in der Abstellkammer am Bett des kleinen Mädchens diese Worte: »Doch rufen von drüben / die Stimmen der Geister / die Stimmen der Meister: / Versäumt nicht zu üben / die Kräfte des Guten …«
Er schwieg und saß reglos und hörte tiefe, regelmäßige Atemzüge. Das Kind war ganz schnell eingeschlafen. Er neigte sich über Truus und drückte behutsam einen Kuß auf ihre Stirn. Dann hob er den Verdunkelungsvorhang noch einmal und sah aus der Luke hinauf zu dem dunklen Nachthimmel, der über und über besät war mit unendlich vielen, unendlich weit entfernten, unendlich unbeteiligten Sternen.
Teil III
Und unten die Gräber
1
»Brüder und Schwestern!
Es gibt ein ewiges, außerhalb des menschlichen Willens liegendes, von Gott garantiertes Recht, eine klare, eindeutige Scheidung von Gut und Böse, Erlaubt und Unerlaubt.
Der einzelne Mensch kann und darf nicht völlig aufgehen im Staat oder im Volk oder in der Rasse. Wer immer er sei, er hat seine unsterbliche Seele, sein ewiges Schicksal.
Er ist und bleibt für sich und jede seiner Taten verantwortlich.
Gott hat ihm die Freiheit gegeben, und diese Freiheit muß ihm bleiben.
Keine Gewalt der Erde kann ihn zu Äußerungen oder Handlungen zwingen, die gegen sein Gewissen, die gegen die Wahrheit wären …«
___________
Der Mann, der reglos an seinem modernen, mit Büchern, Manuskripten und Berichten überhäuften Schreibtisch saß an diesem Nachmittag des 23. Februar 1979, der Nobelpreisträger für Medizin 1978, Professor Dr. Adrian Lindhout, schreckte auf. Eine elektrische Uhr auf einem Bücherbord des mit hellen Möbeln eingerichteten Arbeitsraumes, in dem er jene drei Telefonanrufe, einen nach dem andern, erhalten hatte, zeigte die Zeit: 16 Uhr 51. Nur sechs Minuten waren vergangen, seit er eine versperrte Lade seines Schreibtisches geöffnet und ihr eine Pistole, Modell Walther, Kaliber 7.65, entnommen und eine Patrone in die Kammer hatte springen lassen.
Nur sechs Minuten hatte er sich der Vergangenheit erinnert, während er die Chagall-Lithographie des Liebespaares, das umgeben war von lauter Sicherheit, ansah und doch nicht sah, weil seine Gedanken und Blicke durch das Bild, durch alle Mauern des Hauses hinausgewandert waren in das unendliche Sandmeer der Zeit, die hinter ihm lag.
Sechs Minuten bloß, seit er die geladene Pistole auf das Manuskript gelegt hatte, das Manuskript der Rede, die er morgen, am 24. Februar 1979, in Stockholm vor der Schwedischen Akademie der Wissenschaften zu halten gedachte, in englischer Sprache. Nur zu einem kleinen Teil verdeckte die Waffe, aus der er um genau 17 Uhr 37 dann jenen tödlichen Schuß abgab, den Titel dieser Rede.
Die Behandlung der Morphin-Abhängigkeit durch antagonistisch wirkende Substanzen
Fünfunddreißig Jahre war das her, woran er gerade gedacht, woran er sich gerade erinnert hatte — ein halbes Menschenleben, wenn dieses Menschenleben lang ist …
»Es gibt ein ewiges, außerhalb des menschlichen Willens liegendes, von Gott garantiertes Recht, eine klare, eindeutige Scheidung von Gut und Böse, Erlaubt und Unerlaubt …«
Bevor er aufgeschreckt war aus seinen Gedanken, hatte er an das Flugblatt gedacht mit dem Rundschreiben des Bischofs von Berlin, Graf Preysing, das dieser schon 1942 verfaßt und verbreitet hatte. Auf seinem Heimweg von Truus — Lindhout schluckte — in ihrem Versteck in der Wohnung der guten Maria Penninger war er auf ein solches Flugblatt getreten, ohne es zu beachten, dann noch auf ein zweites. Das dritte — es lagen mindestens hundert Stück verstreut auf dem Gehsteig zwischen Chemischem Institut und Berggasse — hatte er dann aufgehoben und den Text im Licht der Flamme seines Feuerzeuges gelesen, denn es war sehr dunkel, und Straßenbeleuchtung gab es nicht.
Ein Flugblatt des Widerstands!
Auch in Berlin hatte Lindhout derartige Blätter auf den Straßen gefunden — und dazu riesige Mengen anderer, nach Luftangriffen. Amerikanische und britische Bomber warfen sie ab.
Diese Zettel hier in Wien hatten keine Bomber gebracht. Sie waren von Menschen verteilt worden und würden von vielen Menschen gelesen, weitergegeben, eilends wieder weggeworfen werden. Oder auch gesammelt und mit bürokratischem Eifer bearbeitet im Hotel »Metropol«, das am Morzinplatz lag …
Das Hotel »Metropol«, beschlagnahmt, diente seit 1938 der Gestapo in Wien als Hauptquartier. Ja, hier gab es dicke Aktenordner voll solcher Flugblätter, mit präzisen Zeit- und Ortsangaben, wie denn auch im selben Gebäude alle Sendungen von Oskar Wilhelm Zwo auf Wachsplatten mitgeschnitten wurden …
So sehr Lindhout von jenem Blatt, das er 1944 nächtens in der Währingerstraße aufgelesen hatte, neuen Mut empfing, so sehr versetzte ihn nun, im Februar 1979, die Erinnerung an jene Nacht in Trauer.
1944 damals, 1979 heute.
Fünfunddreißig Jahre. Vergangen wie ein Hauch.
Die Stelle in der Bibel fiel ihm ein: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voller Unruhe; er wächst heran gleich einer Blume, er fliehet als wie ein Schatten, er stirbt, und der Wind kennt die Stätte nicht mehr …«
So wenig Zeit, dachte Lindhout. So wenig Zeit. Wie nahe ist mir all das noch, wie weit ist es in Wahrheit, und wie lange werde ich noch sein? Der Sommer kommt, der Winter kommt, wieder wird es Frühling — es ist dieselbe Sonne, die uns bescheint, heute wie alle Tage. Manchmal nur, und dann für Sekunden, glauben wir zu begreifen, daß wir »aus jenem Stoff wie Träume« sind und daß »unser kleines Sein von nichts umschlossen wird als einem tiefen Schlaf«.
Wie kurz ist eines Menschen Zeit! Wie schnell geht sie vorbei! Wenn man die Fünfzig überschritten hat, beginnt sie zu rasen, diese Zeit, man hat so viel erlebt und glaubt, gar nichts erlebt zu haben, und weiß, daß die Zeit ausrinnt im Stundenglas und das Ende näher kommt, näher, immer schneller. Und man fragt: Das war alles? Was bleibt? Die Erinnerung an so viele, die gestorben sind oder verdorben, die versagt oder ganz große Karrieren gemacht haben, die verschollen sind, verkommen, wer weiß, wo und wie und warum. Ich, ich bin noch da — für eine kleine Weile …
Die Zeit, dachte Lindhout, diese unheimliche, unbegreifliche Sache, Zeit genannt. Der große amerikanische Dichter Carl Sandburg hat einmal ein Gedicht über das Gras geschrieben, dachte Lindhout. Ich liebe dieses Gedicht … »Türme bei Waterloo die Leichen hoch, und türm sie hoch bei Ypern und Verdun — ich bin das Gras, ich schaff’ es doch. Drei Jahre, zehn Jahre — und die Fremden fragen den Führer: Wie heißt der Ort? Wo sind wir eigentlich?«
Das Gras der Zeit …
Hier sitze ich nun und warte auf den Kaplan Haberland. Ich weiß nicht, ob Haberland überhaupt noch lebt, oder ob da irgend jemand seinen Namen mißbraucht, um hier einzudringen, ich weiß es nicht.
Roman Haberland …
Als ich ihn traf, nach jener ersten Nacht, die ich 1944 in Wien verbracht habe und in der ich die Flugblätter fand, da dachte ich: Ob er sie wohl verstreut hat? Ist er das wohl gewesen?
Natürlich war Roman Haberland es gewesen. Immer wieder verteilten er und seine Mitbrüder derlei Blätter in den Hausfluren und auf den nächtlich leeren Straßen Wiens. Gegen Kriegsende gewöhnte er es sich sogar an, in leichtsinniger, ja geradezu lebensgefährlicher Weise fast stets solche Blätter bei sich zu tragen — genauso wie Lindhout seine Pistole.
2
Bereits am nächsten Tag entschuldigte sich Philine Demut bei Lindhout für ihr Verhalten — der Grund seien Übermüdung und Gereiztheit gewesen, erklärte sie stammelnd, purer Unfug selbstverständlich, und er möge ihr doch bitte diesen abscheulichen Empfang verzeihen. Sie schäme sich so. Am Ende könne er ja noch glauben, sie sei verrückt!
Lindhout, der genau das glaubte, beeilte sich, ihr zu versichern, ihm sei ein solcher Gedanke niemals auch nur im entferntesten gekommen — alle Menschen seien in dieser Zeit eben übermüdet und gereizt. Da war das Fräulein sogleich beruhigt, ja selig, denn sie hatte Hochwürden Haberland doch versprochen, sich zu entschuldigen. Bei dieser Gelegenheit einigte man sich dann auch gleich noch in freundschaftlicher und entgegenkommender Weise über die Benützung von Küche, Badezimmer und Toilette. Lindhout war der Charme in Person, und Fräulein Demut kam aus dem Kichern und Abwehren seiner Komplimente gar nicht mehr heraus. Der gegeißelte Christus wurde auf dem Speicher verwahrt. Beim nächsten Treffen in der »Katharinen-Vereinigung« konnte das Fräulein Haberland melden, daß alles in bester Ordnung sei.
»Da sehen Sie es«, sagte der Kaplan, mit seinen Gedanken weit, weit fort …
In den folgenden Wochen war Lindhout vollkommen damit beschäftigt, seine Arbeit im Chemischen Institut wiederaufzunehmen, die in Berlin vernichteten Protokolle der Versuchsreihen zu rekonstruieren, um möglichst bald in der Lage zu sein, seine Entdeckung weiter zu verbessern. Mindestens zweimal täglich besuchte er die kleine Truus in ihrem Versteck bei Frau Maria Penninger. Oft brachte er dem Kind Geschenke mit. Truus war sehr ruhig und zufrieden, und Frau Penninger war glücklich mit ihr.
»Sie ist ein so braves und gescheites und geduldiges Mädchen«, sagte sie einmal. »Man muß sie einfach liebhaben.«
»Ja«, sagte Lindhout, »das muß man.«
Es fiel ihm nicht schwer, das Kind zu besuchen — er benützte eine Arbeitspause dazu und die Abendstunden. Truus hatte »Alice im Wunderland« ausgelesen, und es war Lindhout gelungen, in einem Antiquariat den Folgeband »Durch einen Spiegel« zu besorgen.
Die Sirenen heulten jetzt häufiger — fast immer gegen elf Uhr vormittags; Bomben fielen weiterhin auf Industrieanlagen in den Außenbezirken, wobei allerdings auch Wohnhäuser zerstört wurden. Das alles spielte sich jedoch noch sehr weit vom Stadtkern entfernt ab. Rumänien mit seinen Ölfeldern war den Deutschen verlorengegangen, und damit gewann die Benzin- und Dieselproduktion in Österreich größte Bedeutung. Verbände der 15. Amerikanischen Luftflotte bombardierten die rund um Wien gelegenen Raffinerien häufig, stets bei Tag, niemals bei Nacht. Für das Gros der Zivilbevölkerung der Zweieinhalbmillionenstadt wurde — jedenfalls nach ihrer Ansicht — der 10. September 1944 zum ersten richtigen »Bombenangriff«, weil einige Verbände der amerikanischen »Fliegenden Festungen« auch die inneren Bezirke mit Bomben belegten.
Getroffen wurden viele Nobelgebäude im Bezirk Josefstadt und in den anschließenden Straßenzügen des I. Bezirks. Ganz besondere Aufregung rief die Zerstörung des Palais Harrach und einiger weiterer Kultur- und Kunststätten hervor. Anders als deutsche Städte, war Wien bislang weitgehend verschont worden, und man hatte sich in Bürgerkreisen in der Hoffnung gewiegt, daß Wien als die Hauptstadt eines von Hitler vergewaltigten Landes verschont bleiben würde von den gerechten und großmütigen Alliierten. Das tosende Jubeln der Österreicher beim Einmarsch deutscher Truppen im Jahre 1938 war ebenso vergessen wie jenes »Glücksgefühl der Befreiung«, das sich im ganzen Lande und insbesondere in Wien Luft gemacht hatte, wo viele deutsche Soldaten staunten ob des irren Freudengeheuls bei der Fahrt des »Führers« über die Ringstraße und bei seiner Rede vom Balkon der Hofburg auf dem riesigen Heldenplatz, als Hunderttausende mit erhobenem rechten Arm, sehr viele mit Tränen des Glücks in den Augen, sich an dem Ruf »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« heiser geschrien hatten.
Jetzt war der Krieg verloren, das wußte im Herbst 1944 jedermann in Österreich, und also gab es im Bürger- und Kleinbürgertum nun keinen Jubel mehr, sondern nichts als Selbstmitleid und das heimliche Schimpfen auf die »Piefkes«, die ein armes, schutzloses Land überfallen hatten. Bei denen, die inzwischen zu Amt und Würden gekommen waren (und das waren nicht wenige), wuchs allerdings auch die Angst vor dem, was da wohl kommen werde, und sie zeigten sich deshalb besonders rabiat und brutal — so der kleine, verwachsene Hausbesorger Franz Pangerl, der nun ein fürchterliches Schreckensregime als Block- und Luftschutzwart begann. Stets lief er mit Luftschutzhelm und in seiner kackbraunen Uniform herum, am linken Arm die rote Hakenkreuz-Binde.
Die Menschen reagierten im übrigen völlig unterschiedlich. Angst hatten alle — das war eine natürliche Reaktion. Im einzelnen wichen die Worte oder Gedanken, die sich ein jeder machte, allerdings voneinander ab.
Philine Demut, geborgen in Gottes Schutz, betete im Luftschutzkeller des Hauses an der Berggasse, wenn das Licht flackerte oder erlosch, wenn der Boden bei nahen Einschlägen schwankte und Panik im Keller auszubrechen drohte, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen still, stumm und sanft: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Auf grüner Aue läßt Er mich lagern, an wasserspendende Ruheplätze führet Er mich. Labsal spendet Er mir. Er führet mich den rechten Weg Seinem Namen zu Ehren. Und wenn ich auch wandle im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unheil. Denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Deine Stütze, sie sind mein Trost …«
Lindhout wiederum war Bombenangriffe von Rotterdam und Berlin her schon so gewöhnt, daß er häufig gar nicht in den Luftschutzkeller des Instituts hinabstieg, sondern im Laboratorium bei seinen Tieren blieb — ähnlich wie der nebenan arbeitende Chemiker Tolleck, der eine laufende Testreihe nicht unterbrechen wollte.
Der kleinen Truus, in Maria Penningers Armen im Keller des Hauses Boltzmanngasse 13, erging es wie Lindhout. Oft las sie während eines Angriffs sogar in einem Buch, solange das elektrische Licht nicht ausfiel. Sie kannte viel Ärgeres aus Rotterdam und Berlin (und in der Tat waren bis zum Kriegsende die Angriffe auf Wien nicht zu vergleichen mit den Angriffen auf Städte wie Düsseldorf, Köln, Hamburg, Berlin, München oder Frankfurt).
Frau Penninger wiederum mußte sich die Lippen blutig beißen, um nicht laut zu schreien, was sie empfand, sobald ringsum die Bomben detonierten: »Mehr! Mehr! Mehr! Weiter! Stärker! Damit es mit diesem verfluchten Nazikrieg schneller ein Ende hat!«
Und Pfarrer Haberland schließlich, der nachts oft kreuz und quer auf dem Lkw mit der Plane durch die Außenbezirke fuhr, sprach diese Worte in das Mikrofon des Senders Oskar Wilhelm Zwo: »Wenn die Sirenen jetzt in Wien heulen — denkt an Warschau! Wenn die Bomben eure Fabriken zerschmettern — denkt an Rotterdam! Wenn ihr über Nacht Hab und Gut verliert — denkt an Coventry! Wenn ihr über Nacht zu Witwen und Waisen werdet — denkt an Belgrad! Wenn euer Land in Blut und Tränen versinkt — sagt: Das danken wir unserem Führer!«
3
Tränenverheert war am Morgen des 17. November 1944 das Gesicht der Gabriele Holzner. Die neunzehnjährige hübsche Gabriele arbeitete als Lindhouts Assistentin; bald nach seinem Eintreffen im Institut war sie ihm zugeteilt worden. Lindhout vermied es, Gabriele anzusprechen oder möglichst auch nur anzuschauen. Vor zwei Tagen hatte sie die Nachricht erhalten, daß ihr Verlobter in Ungarn gefallen war. Seither hielt sie sich nur mit Mühe aufrecht, ging schleppenden Schrittes ihrer Arbeit nach und brach immer wieder in Tränen aus.
Lindhout hatte bereits wieder mit Tierversuchen begonnen, seine schon in Berlin erprobte Substanz AL 203 synthetisiert, vorgeführt und bewiesen, daß dieses AL 203, stark wie Morphin, eben kein Opiumderivat war, auch keine dem Morphin eigenen unangenehmen Nebenwirkungen besaß und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht süchtig machte! Er hatte bereits weitergearbeitet und gerade das Präparat AL 207 hergestellt in dem Bemühen, ein Mittel wie AL 203 zu finden, das jedoch noch stärker schmerzstillend wirken sollte.
Dieses AL 207 testete er, wie jede seiner neuen Substanzen, im Tierversuch. Gegen 10 Uhr an diesem 17. November 1944 hörte die Laborantin Gabriele Holzner aus dem Zimmer ihres Chefs einen lauten Fluch.
Erschrocken lief sie zu Lindhout. Der stand vor einer Reihe von Käfigen mit Kaninchen und starrte ein Tier an.
»Zum Verrücktwerden«, murmelte er, »zum Verrücktwerden ist das!« Er bemerkte Gabriele und wandte sich um, eine Metallscheibe mit drehbarer Skala in der Hand; mit ihr konnte er die Stärke der Stromstöße regeln, die er auf seine Versuchstiere wirken ließ. »Fräulein Gabriele, schauen Sie her!«
Die Laborantin trat neben Lindhout, bleich im Gesicht, unausgeschlafen, mit geröteten Augen. Nichts war ihr gleichgültiger als das, was Lindhout so aufregte.
»Wie ist das möglich?« Er wies auf ein Kaninchen. Es zuckte heftig vor Schmerz, während Lindhout an seiner Scheibe drehte. Am Zahnfleisch der Tiere waren die Elektroden angebracht, die bei den Versuchstieren den Schmerz auslösten. Von diesen Elektroden liefen Drähte zu Lindhouts Scheibe, die wiederum über ein langes Kabel mit dem Stromnetz verbunden war. »Wieso hat dieses Tier Schmerzen?« fragte Lindhout. »Wir haben ihm doch AL 203 gespritzt wie allen Tieren in dieser Test-Batterie!« Er wies über eine Wand des großen Raums. »Es kann doch also keine Schmerzen haben! Es darf keine Schmerzen empfinden! Ich habe alle anderen Tiere in dieser Batterie getestet — alle sind unempfindlich gegen Schmerz! Nur dieses eine Tier ist es nicht!«
Rede du nur, schreie du nur, dachte die Laborantin. Klaus ist tot. Jetzt, wo alles schon dem Ende zugeht, ist er gefallen. Sie zuckte die Achseln.
»Was soll das Achselzucken?«
»Ich will damit sagen, daß ich es auch nicht vergehe.«
Die Tür ging auf. Der große, bullige Doktor Tolleck kam herein, Lindhouts laute Stimme hatte ihn neugierig gemacht. Er ließ die Tür offen. Walzermusik ertönte. Bei Tolleck schien ein Radio zu laufen.
Aufgeregt berichtete Lindhout, was er gerade entdeckt hatte. ‘An der schönen blauen Donau’ — die Klänge dieses Walzers kamen verweht in das Laboratorium.
»Moment«, sagte Tolleck ruhig. »Die Tiere haben doch alle Erkennungsplomben in den Ohren!« Er öffnete das Maschengitter des Ställchens, in dem das Kaninchen zuckte und zitterte. »Welche Farben haben die Plomben der Tiere, die mit AL 203 gespritzt worden sind, Herr Kollege?«
»Rot.«
Die Walzermusik brach plötzlich ab. Eine Mädchenstimme war zu hören: »Hier ist der Reichssender Wien! Achtung, eine Luftlagemeldung! Starker feindlicher Kampfverband im Anflug auf Kärnten und Steiermark. Ich wiederhole …« Die Stimme wiederholte die Meldung, dann erklang neuerlich Walzermusik.
»Sie kommen!« schluchzte die Laborantin.
Die beiden Männer beachteten sie nicht. Tolleck war schon zur nächsten Batterie gegangen. »Plomben grün. Das sind also die Tiere, die Ihr neues Präparat, AL 207, gespritzt bekommen haben, ja?« Er kannte sich ein wenig aus, Lindhout hatte ihm ausführlich über seine Arbeit berichtet, und Tolleck war dem Kollegen beim Einrichten des Labors und der Beschaffung von wissenschaftlicher Literatur zur Hand gegangen.
»Ja«, sagte Lindhout nervös. »Und da drüben, die Tiere der dritten Batterie, die überhaupt noch kein Mittel bekommen haben, tragen weiße Plomben.« Systematisch und genau überprüfte Tolleck alle Tiere in allen Batterien, indessen Lindhout hilflos dastand. Die Laborantin begann neuerlich zu weinen.
»Weinen Sie nicht!« sagte Lindhout grob und fügte entschuldigend hinzu: »Verzeihen Sie bitte, Fräulein Gabriele, ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«
»Sie wissen es? Keine Ahnung haben Sie!« rief aufgebracht die Laborantin.
Drüben setzte die Walzermusik wieder aus, und die Stimme der Ansagerin meldete sich: »Achtung, Achtung, wir bringen eine Luftlagemeldung! Der starke feindliche Kampfverband hat den Bereich Eins-Null-Vier überflogen und befindet sich zur Zeit im Bereich Achtundachtzig im Anflug auf Graz. Zwei weitere Verbände kreisen über Villach.« Dann erklang wieder Walzermusik.
»Die Plomben bei allen Tieren, behandelten oder unbehandelten, sind in Ordnung«, sagte Tolleck.
»Dann stehe ich vor einem Rätsel«, sagte Lindhout.
4
»Wann haben die Tiere ihre Injektionen bekommen?« fragte Tolleck.
»Heute. Gerade eben. AL 203 oder AL 207.«
»Wer hat die Injektionen gegeben, Herr Kollege?«
»Wir beide — Fräulein Gabriele und ich.«
»Haben Sie die Tiere dazu aus ihren Käfigen genommen?«
»Natürlich. Jedes einzelne. Wir haben die Injektionen allesamt hier verabreicht, auf diesem Tisch. Danach kamen die Tiere wieder zurück in ihre Käfige.«
»Wer hat sie dahin gebracht?«
»Ich!« schluchzte Gabriele.
»Vielleicht«, sagte Tolleck ruhig und sachlich, »hat einer von Ihnen beiden diesem Tier AL 203 und auch noch AL 207 gegeben.«
»Unmöglich!« rief Lindhout.
»Es ist möglich …«, stammelte Gabriele.
»Was ist möglich?«
»Daß ich das getan habe …«
»Sie?«
»Ja, ich … Ich bin vollkommen durcheinander … Der Herr Doktor hat mir ein Beruhigungsmittel gegeben …«
Von nebenan erklang währenddessen die Mädchenstimme aus dem Radio. Lindhout hörte nur Worte und Satzfetzen. »… erste Verband … feindlicher Kampfflugzeuge hat den Bereich Sieben-Eins erreicht … weiter mit Nordkurs …« Wieder Walzermusik.
»Also schön«, sagte Lindhout heiser, »nehmen wir an, dieses Tier hat aus Versehen AL 203 und auch noch AL 207 bekommen. Zwei Injektionen mit schmerzstillenden Substanzen. Zwei! Und wie benimmt es sich? So als hätte es nicht eine einzige schmerzstillende Substanz erhalten! Verstehen Sie das, Herr Kollege?«
Tolleck schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte Lindhout.
Drei Minuten später heulten die Sirenen Vollalarm.
5
An diesem Tag griffen dreihundertfünfzig Bomber der 15. Amerikanischen Luftflotte konzentriert Wien an, auch den Stadtkern.
Die Luft erdröhnte vom Lärm einschlagender Bomben und von den Abschüssen der zahlreichen Flakbatterien, die rings um die Stadt errichtet worden waren, insbesondere auf den Höhen des Wienerwaldes. Sie Sonne schien, der Himmel war wolkenlos, und die Bomber zogen weiße Kondensstreifen hinter sich her. Weiß waren auch die Wölkchen der explodierenden Flakgeschosse.
In Lindhouts Laboratorium raschelten Tiere in den Käfigen. Die einem Nervenzusammenbruch nahe Laborantin Gabriele Holzner war beim Heulen der Sirenen in den Luftschutzkeller des Instituts gelaufen. Wie schon zuvor kümmerten sich Lindhout und Tolleck nicht um die Bomber und blieben in Lindhouts Laboratorium. Vor ihnen, auf dem Tisch, kauerte das Kaninchen, das Schmerz empfand.
Nachdem sie eine Weile die wildesten Vermutungen geäußert hatten, sagte Lindhout: »Also noch einmal — langsam. Logisch, systematisch und von vorn.« Das Dröhnen eines Bomberpulks ließ die Fensterscheiben erzittern. Ununterbrochen ertönten Explosionen. »Wir haben — das heißt, Gabriele hat — versehentlich diesem Tier AL 203 und AL 207 gespritzt. Davon wollen wir einmal ausgehen.«
Die beiden saßen auf dem weißen Arbeitstisch. Von nebenan, aus dem Radio, kam das Ticken einer Uhr, das nun abbrach. Ohne sie richtig wahrzunehmen, hörten die einsamen Männer eine helle Mädchenstimme: »Hier ist der Befehlsstand des Gauleiters für Wien. Achtung, eine Luftlagemeldung! Schwere Kampftätigkeit in den Bereichen Fünf, Sechs, Sieben und Acht. Weitere Bombenabwürfe in den Bereichen Elf, Dreizehn und Neunzehn. Neuer Anflug …«
»Es kann natürlich ein uns unerklärlicher Einzelfall sein«, sagte Tolleck.
»Das läßt sich feststellen«, meinte Lindhout, von der Tischkante gleitend.
»Wie?«
»Indem ich allen Tieren mit den roten Plomben im Ohr, die AL 203 bekommen haben, auch noch AL 207 gebe und dann die Schmerzempfindlichkeit teste.« Er eilte schon zu einem Regal.
Tolleck war ihm behilflich.
In der nächsten halben Stunde injizierten sie gemeinsam — während über der Stadt die Bomber ihre Last abwarfen, Häuser in Schutt und Asche versanken, Keller einstürzten und Menschen starben — den Tieren mit den roten Plomben im Ohr das AL 207.
In der folgenden halben Stunde — der Angriff nahm kein Ende — untersuchten die beiden Forscher sämtliche nun auch mit AL 207 geimpften Tiere auf ihre Schmerzempfindlichkeit. Immer wieder drehte Lindhout an seiner Scheibe und versetzte den Kaninchen Stromstöße. Und alle diese Tiere reagierten nun genauso wie jenes, das er bei seiner Überprüfung gefunden hatte: Sie zuckten unter dem Schmerz zusammen, wanden sich und preßten sich auf die Käfigböden!
Lindhout war fasziniert.
»Und jetzt versuchen wir es auch noch mit den völlig unbehandelten Tieren«, sagte er hastig und hielt einen Moment inne — mitten in seinem Satz platzte eine Fensterscheibe infolge des Luftdrucks nahe eingeschlagener Bomben, und die Scherben flogen klirrend in den Raum, wo auch eine Stellage mit Chemikalien umstürzte.
Sie spritzten sämtliche unbehandelten Tiere, und zwar verabreichten sie ihnen zuerst AL 203 und danach das neue AL 207. Die Ergebnisse waren dieselben: Auch diese Tiere zuckten unter den Stromstößen und empfanden Schmerz, obwohl sie gerade zwei erprobte Antischmerzmittel erhalten hatten!
6
Über der Stadt stand eine riesige schwarze Rauchwolke. Neuerlich dröhnten Detonationen. Die beiden Männer in Lindhouts Laboratorium hörten sie nicht. Sie betrachteten die Tiere in ihren Käfigen. Schließlich fragte Tolleck: »Warum sagen Sie nichts?«
»Was soll ich sagen?« Lindhout hob die Schultern. »Seit meiner Zeit in Paris beschäftige ich mich mit diesen Dingen. Seit Jahren habe ich an nichts anderem gearbeitet. Und nun so etwas …«
»Moment«, sagte Tolleck scharf, »drehen Sie nicht gleich durch! AL 203 allein ist eine schmerzstillende Substanz, nach wie vor, und zwar von der Kraft des Morphins! Es wird bereits in Lazaretten und Krankenhäusern mit bestem Erfolg angewendet. Das ist Ihre große Leistung, Herr Kollege! AL 207 ist gleichfalls schmerzhemmend — und stärker als AL 203! Sie werden Ihre Versuche fortsetzen und ein Mittel finden, das stärker ist als Morphin! Ich sehe keinen Grund, auch nur bedrückt zu sein.«
»Ich bin aber bedrückt«, sagte Lindhout. »Das bin ich immer, wenn ich eine Sache nicht verstehe. Und diese Sache hier verstehe ich überhaupt nicht. Wie soll ich jetzt weiterarbeiten? Zuerst muß ich mir hier Klarheit verschaffen!«
»Ich arbeite ja auf einem ganz anderen Gebiet«, sagte Tolleck, »aber soweit ich sehen kann, gibt es nur eine Erklärung …«
»… neuerliche Bombenabwürfe in den Bereichen Vier, Fünf, Sechs und Neun. Über Kaisermühlen kreist ein Einzelflugzeug …«
»Nämlich welche?« fragte Lindhout.
»Nämlich«, sagte Tolleck, »die eine schmerzstillende Substanz, die Sie gefunden haben, hebt die Wirkung der zweiten schmerzstillenden Substanz auf …«
»Dann dürfen also niemals beide Substanzen zugleich verabreicht werden«, schloß Lindhout.
Er sollte im Lauf der nächsten Jahrzehnte zu gründlichst anderen Ansichten kommen und eine der größten, wichtigsten und segensreichsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte machen. Und wie bei so manchen aufsehenerregenden Entdeckungen unserer Tage, insbesondere auf dem Gebiet der Chemie (und da bei der Entwicklung der sogenannten »Psychopharmaka«, welche die gesamte Behandlung von geistig Kranken revolutioniert hat) verdankte Adrian Lindhout dies dein rein zufälligen Zusammentreffen von Umständen — in seinem Fall einem jungen Mann, der in Ungarn gefallen war, dem Herzeleid der ihn liebenden Verlobten und einer durch diese verursachten Verwechslung.
7
Der Angriff dauerte bis gegen 14 Uhr. Es war der bislang schwerste auf die Stadt selbst gewesen. Von nun an sollte es schlimmer und schlimmer werden. Nachdem um 13 Uhr 57 die Sirenen Entwarnung geheult hatten, war es Lindhout gelungen, das Institut unbemerkt zu verlassen und in die Boltzmanngasse zu eilen. Im engsten Umkreis des Instituts waren keine Häuser getroffen worden, wie er zu seiner Erleichterung feststellte. Die wenigen Menschen, denen er begegnete, achteten nicht auf ihn, ein jeglicher ging gebeugt unter der Last der eigenen Sorgen, Ängste und Trauer.
Die kleine Truus fand Lindhout bei Frau Penninger im Wohnzimmer. Sie aß gerade Erbsensuppe. Maria Penninger, die entschlossen war, Truus vor jeglichem Schrecknis zu bewahren — wenn nötig unter Einsatz ihres Lebens —, aß gleichfalls.
Lindhout umarmte Truus, küßte und preßte sie an sich und nahm dann am Tisch Platz — mitzuessen lehnte er ab.
»Was ist denn mit Ihnen?« fragte Maria Penninger. »Wie sehen Sie bloß aus?«
»Wie sehe ich aus?«
»Nun«, sagte Maria Penninger, »völlig außer sich, von irgend etwas erschüttert. Ist etwa das Laboratorium getroffen worden?«
»Nein.«
»Was war es dann? Eine schlechte Neuigkeit?«
»Eine schlechte …« Lindhout brach ab. »Ich weiß nicht, ob es eine schlechte Neuigkeit ist, die ich erfahren habe, Frau Penninger. Auf jeden Fall stellt sie mich vor Probleme, von denen ich mir nichts habe träumen lassen …« Lindhout murmelte, ins Leere starrend: »So viele Jahre Arbeit … die Nazis … die Bomben auf Rotterdam … die Bomben in Berlin … diese Überraschung jetzt …«
Die kleine Truus sagte, ernst nickend und den Löffel senkend, in Erinnerung an einige Male, bei denen sie anwesend gewesen war, wenn Lindhout einem vertrauten Freund all seine Beschwernisse anvertraute, sorgenvoll: »Und dann auch noch das Kind!«
8
Am Morgen des 24. Dezember 1944 erwachte Philine Demut mit einem Gefühl von Erleichterung. Vor dem Bett kniend, sprach sie, wie jeden Tag, ihr Morgengebet und gedachte dankbar des Kaplans Haberland, der ihr am Abend des Tages, an dem der Doktor Lindhout in ihre Wohnung eingezogen war, und danach immer wieder den rechten Weg gewiesen hatte.
Fast, dachte sie, wäre sie über die Fallstricke des Bösen gestrauchelt und hätte in ihrer Verblendung einen armen Menschen gekränkt und mißachtet, dessen Vorfahren daran schuld waren, daß er nicht ein Kind der allein seligmachenden katholischen Kirche geworden war.
Seit jenem ersten Tag vertrug sie sich mit Lindhout — man behandelte einander höflich, wenn auch distanziert. Sie sahen sich selten, da Lindhout schon früh die Wohnung verließ und erst spät wiederkehrte. In die Küche wollte Lindhout gar nicht; falls er einmal etwas kochte — Tee oder Ersatzkaffee —, dann tat er dies stets in seinem Zimmer auf einer elektrischen Heizplatte. Er grüßte Philine, wenn er sie sah, sie grüßte zurück, und man verlor ein paar Worte über das Wetter oder die Luftangriffe. Damit hatte es sein Bewenden.
Eine letzte kleine Verwirrung hatte sich anläßlich Philines Einladung an Haberland ergeben, mit ihr gemeinsam den Heiligen Abend zu verbringen.
»Bei dieser Gelegenheit«, hatte Haberland gesagt, »können wir auch Herrn Doktor Lindhout einladen.«
Philine war hochgefahren.
»Nein!« rief sie. »Nicht an diesem Abend!«
»Warum nicht?«
»Weil … weil er doch ein Ketzer ist! Er feiert nicht die Geburt des Heilands!«
»Aber gewiß tut er das«, sagte Haberland.
»Der?« rief Philine. »Dem seine Leute haben den Heiland doch ans Kreuz geschlagen!«
»Fräulein Demut«, sagte Haberland nervös, »denken Sie doch richtig nach! Sie verwechseln schon wieder etwas!«
Philine nickte beschämt.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Jetzt habe ich ihn für einen Juden gehalten.« Aber sie protestierte dennoch ein letztes Mal. »Nein, ich will nicht, daß dieser Mensch mit uns zusammen feiert!«
»Fräulein Demut«, sagte Haberland, am Ende seiner Geduld, »wenn Sie das nicht wollen, dann komme auch ich nicht!«
Sie sah ihn entgeistert an.
»Sie werden nicht kommen, Hochwürden?«
»Nicht, wenn Sie nicht Herrn Doktor Lindhout einladen und ebenso freundlich zu ihm sind wie zu mir.«
Philine hatte den Kopf gesenkt.
»Gut«, hatte sie zögernd gesagt, »so will ich ihn also einladen, Hochwürden. Ich werde den Herrn Doktor herüberbitten am Heiligen Abend …«
Ja, dachte sie am Morgen des 24. Dezember 1944, nun ist alles gut, gelobt sei der Herr und gesegnet Sein Name! Mach, o Gott, daß dieser Abend nicht durch einen Bombenangriff gestört wird und daß die Gans, die ich auf dem Schwarzen Markt gekauft habe, weich ist. Amen.
Philine Demut hatte viel zu tun an diesem Tag. Die große Reinigung ihrer Zimmer war schon vorbei, die hatte sie zusammen mit der »Bedienerin«, wie man in Wien auch heute noch die Putzfrauen nennt (in Bayern nennt man sie »Zugehfrauen«), bereits hinter sich. Fräulein Demuts »Bedienerin« war eine kräftige, resolute Person, ungeheuer stark und mit einem ansehnlichen Schnurrbart auf der Oberlippe. Das war Frau Kaliwoda.
Aber es blieb noch genügend zu tun übrig für Philine. Sie mußte backen und braten, den Baum schmücken, ihr schönes schwarzes Kleid bügeln, die Schuhe putzen und zuletzt ein Bad nehmen, bevor sie sich anzog.
Adrian Lindhout war an diesem Tag zu Hause. Er arbeitete in seinem Zimmer. Dieser Doktor, Philine mußte es sich eingestehen, war eigentlich ein außerordentlich angenehmer Mieter.
Gegen elf Uhr vormittags (kein Alarm!) klingelte es. Philine ging zur Eingangstür. Draußen stand, verfroren, unrasiert, verschreckt und in schäbiger Kleidung, ein kleiner Mann, dessen Augen nicht einen Moment lang ruhig blicken konnten. Er drückte sich in die Ecke des Treppenabsatzes und sah Philine gehetzt an.
»Wohnt hier Herr Doktor Lindhout?« fragte er.
Philine erschrak. Was war das für eine Erscheinung? Der Mann sah aus wie ein Bettler, wie einer, der ein Verbrechen begangen hat.
»Ich … ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Ich meine, ja, er wohnt hier, aber ich weiß nicht, ob er zu Hause ist. Ich muß nachsehen. Wenn der Doktor da ist — wen darf ich melden?«
»Fred«, sagte der kleine Mann, der vor Kälte oder vor Angst oder aus beiden Gründen zitterte. »Sagen Sie nur, daß Fred da ist.«
»Fred und wie noch?«
»Fred genügt«, sagte der kleine Mann und sah sie flehend an.
Jemand kam die Stiege herunter. Der Fremde fuhr zusammen. Im gleichen Moment öffnete sich Lindhouts Zimmertür, und seine große Gestalt, im Gegenlicht als Silhouette sichtbar, erschien in ihrem Rahmen.
»Fred!« rief er, eilte dem kleinen Mann entgegen, schüttelte ihm die Hand und zog ihn in den Flur. Dabei schloß er schnell die Wohnungstür. »Ich danke Ihnen, Fräulein Demut«, sagte er freundlich. »Ich kenne den Herrn. Alles ist in Ordnung.«
Philine sah, wie die beiden in Lindhouts Zimmer verschwanden. Es war einer guten Christin unwürdig, an Türen zu horchen, sagte sie sich, und besonders unwürdig war es wohl am Heiligen Abend. Wenn es natürlich auch sehr interessant gewesen wäre, zu erfahren, was der sonderbare Besucher von Lindhout wollte … Nein, Philine ging in die Küche, um nach der Gans zu sehen.
Der Mann mit den flackernden Augen verließ die Wohnung höchstens fünf Minuten später. Lindhout brachte ihn zur Eingangstür. Philine sah die beiden nicht, sie hörte in der Küche nur Schritte und Stimmen. Danach wurde es still. Lindhout blieb den Tag über in seinem Zimmer.
Bald schon hatte Philine bei des Tages Arbeit den kleinen, ungepflegten Mann vergessen und war eigentlich reif für den Schlaf, als sie um 17 Uhr in die emaillierte Wanne ihres altmodisch eingerichteten Badezimmers stieg, im langen Leinenhemd, wie immer, und sich gewissenhaft mit einem Stück Lavendelseife (sie hatte es seit dem Jahr 1938 aufgehoben und benützte es nur zu feierlichen Anlässen) wusch. Nach dem Bade kleidete sie sich umsichtig an. Das Gefühl einer großen Durchwärmtheit und Ruhe überkam sie, als sie zuletzt, ganz in Schwarz, mit einer kleinen roten Granatbrosche an der Brust, vor das Fenster des Wohnzimmers trat und, durch einen Spalt des Rollos, in die Dunkelheit hinaussah, hinauf zur Währingerstraße und den vielen hastenden Menschen, den wenigen Autos, die geräuschlos, mit Lichtschlitzen an den schwarz verdeckten Scheinwerfern, vorbeiglitten, nach dieser oder jener Richtung. Philine hatte ein paar Tannenzweige angezündet und verglimmen lassen, es roch angenehm in ihrem Wohnzimmer. Nebenan war es ganz ruhig. Lindhout scheint weggegangen zu sein, dachte das Fräulein.
Weggegangen um 16 Uhr 30 war er in der Tat, sehr leise und hastig. Er wünschte nicht, daß Philine seine Tränen sah. Denn er wollte sie nicht erschrecken, und die Tränen kamen wieder und wieder, unter qualvollem Schluchzen, seit der kleine Mann, der sich Fred nannte, ihn besucht hatte.
9
»Räven raskar över isen …«, sang die kleine Truus und lachte dabei selig. Mit ihr tanzten, sich an den Händen haltend, Lindhout und Frau Penninger. Das war gegen 18 Uhr an diesem 24. Dezember 1944. Die Erwachsenen sangen mit.
Keine Spur von Erschütterung zeigte Lindhouts Gesicht mehr. Er nahm sich aufs äußerste zusammen. Truus darf es nicht wissen, niemand darf wissen, was geschehen ist. Dieser Gedanke füllte Lindhout voll aus.
»… Får jag lov, får lag jov …«
Truus trug ihr schönstes Kleid — aus blauem Samt mit weißem Kragen und weißen Manschetten. Das blonde Haar hatte Frau Penninger mit einem blauen Band hochgenommen. Auch die Erwachsenen waren festlich gekleidet. Frau Penninger trug ein Kleid aus Brokat und alten Familienschmuck, Lindhout hatte einen blauen Anzug an. Niemand darf etwas merken, dachte er, niemand!
»… att sjunga bagarens visa …«, sangen die drei.
Das war ein schwedisches Weihnachtslied für Kinder. Lindhout und Truus beherrschten diese Sprache, sie waren beide oft in Schweden gewesen, früher, vor 1939, Frau Penninger hatte das Lied auswendig gelernt und machte nun natürlich Fehler, worüber Truus glucksend lachte.
Sie tanzten um eine Krippe herum, eine Spielzeugkrippe, in der das Jesuskind lag. Die Krippe stand in der Mitte. Beim Jesuskind waren — sehr klein — der Vater Josef und die Mutter Maria und viele Tiere. Von fern nahten zwei alte Männer mit Bärten und ein Schwarzer mit buntem Turban — die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenlande. All dies war in einer flachen Wanne arrangiert worden — ein Puderdosenspiegel blinkte (er stellte einen See dar), und alles lag oder stand auf Sand, Löschsand, den Frau Penniger vom Gang geholt hatte, denn auf jedem Gang stand so ein Eimer mit Sand. Damit und mit sogenannten »Feuerpatschen« sollte man nach amtlicher Anordnung versuchen, ausbrechende Brände bei Bombeneinschlägen zu löschen — eine nahezu sinnlose Maßnahme, aber was war schon noch sinnvoll in diesen Tagen? Überleben, ja, das ist sinnvoll, dachte Lindhout, überleben müssen wir, we must overcome, und er preßte die Lider über die Augen, weil er fühlte, daß er wiederum den Tränen nahe war. Und voller Liebe zu Truus und voller grenzenloser Verzweiflung tanzte und sang er weiter dieses Weihnachtskinderlied, das beginnt mit den Worten »Der Fuchs rennt übers Eis, der Fuchs rennt übers Eis! Darf ich bitten, darf ich bitten, des Bäckers Lied mit mir zu singen …«
Oh, und wie lustig ging das Lied des Bäckers dann weiter!
Er bereitete den Teig, er walkte ihn, er klopfte ihn, und all das mußte man pantomimisch nachmachen, indem man sich zusammenkauerte und auf dem Fußboden die entsprechenden Handbewegungen ausführte. Das Klopfen war für Truus das allerschönste! Ihre Händchen klatschten auf das Parkett, und die beiden Erwachsenen klatschten mit.
Nach dem Bäckerlied sangen sie das Schornsteinfegerlied und tanzten dabei, und dann machte die kleine Truus, vor Lachen fast erstickend, nach, wie ein alter Mann Tabak schnupft — ach, war das ein wunderbares Weihnachtsfest für das kleine Mädchen!
Tagelang vorher schon hatte Truus Frau Penninger geholfen, Figuren aus Lebkuchenteig zu schneiden. Lebkuchen, sehr schlechte freilich, gab es noch im Dezember 1944. Viele Tiere schnitt Truus aus dem Teig, vor allem Schweinchen, wie das alle Kinder in Schweden tun. Der Grund dafür, daß hier eine kleine Holländerin das fröhliche Fest auf schwedische Art veranstaltete, lag eben darin, daß ihr das, was man in Schweden zu Weihnachten tut, besser gefallen hatte als das, was man daheim in Holland tat. Und so bat Truus immer um »Schwedische Weihnachten«. Frau Penninger hatte auch ein Lebkuchenhäuschen gebaut und mit Flitter, roten Papierblumen und goldenen Sternen geschmückt.
»Das Häuschen ist so klein und schön, ich kann es in mein Versteck mitnehmen und immer anschauen«, hatte Truus gesagt.
Und natürlich war da ein Wunschzettel gewesen. Einer? Drei hatte Truus geschrieben, und Lindhout mußte in der ganzen Stadt umherirren. Es war ihm zu dieser traurigen Kriegsweihnacht 1944 nicht gelungen, alle jene Dinge zu erhalten, von denen das kleine Mädchen träumte — aber doch viele.
Bevor Truus am 23. Dezember schlafen gegangen war, hatte sie ihre Strümpfe vor die Tapetentür des Verstecks gelegt, denn in Schweden feiert man das Fest anders als in Österreich oder Deutschland. Wenn man ein braves Kind gewesen ist, kommt der Weihnachtsmann schon in der Nacht zum 24. Dezember, und wenn man dann früh erwacht und nachsieht, sind die Strümpfe mit liebevoll verpackten Geschenken gefüllt.
Die Strümpfe der kleinen Truus waren spärlich gefüllt gewesen …
»Also bin ich ein braves Kind gewesen!« hatte Truus dennoch jubelnd gerufen, als sie — bereits um sieben Uhr früh — die Bescherung sah. Lindhout war anwesend und Frau Penninger, und sie hatten der kleinen Truus bestätigt, daß der Weihnachtsmann gesagt habe, sie sei wirklich ein ganz besonders braves Mädchen gewesen.
Lindhout hatte seine Bleibe in der Berggasse an diesem Morgen sehr früh verlassen, Fräulein Demut schlief noch. Es war dunkel, und es schneite heftig. Er war zur Boltzmanngasse hinuntergeeilt und so rechtzeitig eingetroffen, daß er miterleben konnte, wie die kleine Truus, sich schlaftrunken die Augen reibend, in einem weißen Nachthemd aus ihrem Versteck kam.
Wie es in Schweden Sitte ist, wurde es auch hier in Wien gehalten: Jedes der wenigen sorgsam verpackten Geschenke war mit einem Gedicht geschmückt, das auf einem kleinen Stück Papier geschrieben stand. Diese Gedichte waren alle sehr lustig, und Truus, in ihrer ungeheuren Aufregung, lachte immer wieder hoch und atemlos. Alle diese lustigen Gedichte hatte Lindhout verfaßt, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Besuch des Mannes mit Namen Fred gehabt hatte und darum sehr gerührt und glücklich war — wie Frau Penninger.
Ach, und dann das Öffnen der Päckchen! Und die Freudenschreie, die glänzenden Kinderaugen! Alles, was Truus sich gewünscht hatte — fast alles! —, war ihr vom Weihnachtsmann gebracht worden! Die Puppenküche, die Schachtel mit den vielen Buntstiften, die Zeichenblocks, die Puppe, die »Papa« und »Mama« sagen und die Augen öffnen und schließen konnte (um diese zu finden, hatte Lindhout drei Tage gebraucht und einen horrenden Preis bezahlt), und die vielen Bücher! Bücher vor allem hatte Truus sich gewünscht, und das war der am schwersten zu erfüllende Wunsch gewesen, denn die Bücher, die Truus sich ersehnte, waren zum größten Teil von Staats wegen verboten.
Lindhout kannte eine Buchhandlung in einem uralten Gewölbe an der Wollzeile im I. Bezirk, er kannte auch ihre Besitzerin über einen gemeinsamen Freund, der, wie er 1946 erfahren sollte, in Auschwitz ums Leben gekommen war, und diese Buchhändlerin, Frau Olga Wagner, hatte ihm geholfen. Weit hinten in dem Gewölbe gab es einen Raum, den Frau Olga die »Giftkammer« nannte. Darin lagen alle die Bücher, deren Verkauf ihr bei Androhung hoher Strafen verboten worden war. Lindhout brauchte jetzt keinen Thomas Mann, keinen Alfred Döblin, keinen Bertolt Brecht, keinen Lion Feuchtwanger, er brauchte »Pu der Bär« von dem Engländer Alan Alexander Milne und »Pünktchen und Anton« von Erich Kästner und »Die Jungens von der Paul-Straße« des weltberühmten ungarischen jüdischen Autors Ferenc Molnár. Alles fand er in der »Giftkammer« der Olga Wagner.
Und nun lagen sie vor der kleinen Truus! Die wußte vor Aufregung nicht, welches Buch sie zuerst aufschlagen sollte und geriet ganz außer Atem bei ihrer glücklichen Auspackerei. Und das Schottenröckchen! Und die winzigen Pantoffeln! Die beiden Erwachsenen hatten einander immer wieder angesehen, und alle waren sie glücklich gewesen, alle drei.
Dann war Lindhout wieder gegangen, denn er wollte nicht, daß Fräulein Demut etwas von seinem so frühen Verschwinden bemerkte, und sie hatte tatsächlich nichts bemerkt. Er war in sein Zimmer getreten und hatte zu arbeiten versucht.
Und so, voller Hoffnung, diesen Krieg zu überstehen und Truus zu bewahren vor jeglichem Übel, war er aus der Tür getreten, nachdem der kleine, verängstigte Mann gekommen war, der sich »Fred« nannte. Er hatte ihn in sein Zimmer gezogen. Und da war Lindhout dann, als »Fred« nur fünf Worte gesagt hatte, zusammengebrochen unter der schweren Last eines furchtbaren Unglücks.
10
Nein, Truus darf es nicht wissen, und auch Frau Penninger nicht, dachte Lindhout nun, am frühen Abend, verzweifelt. Wie durch Nebel sah er alles. Das lachende Kind, Frau Penninger, die Kerzenstummel, die da und dort brannten, das rote Papiertischtuch, die roten Papierblumen darauf, die Streifen aus Goldpapier, mit denen der Tisch geschmückt war.
Sie aßen Kartoffeln und Ersatz-Soße.
In der Mitte des Tisches stand eine Lichterpyramide aus goldglänzendem Messingblech. An einer kleinen Stange waren vier schräge Flügel angebracht. Die Kerzenstummel darunter erwärmten die Luft unter den Flügeln, daß sie sich drehten, immer schneller. Und an diesem Baum schwebten kleine Blechengel mit Posaunen, die stießen beim Drehen gegen eine winzige Glocke, und so ertönte schneller und schneller ein wunderbares Geläute, dem die kleine Truus andächtig lauschte.
Und dann kam das Herrlichste!
In Schwedisch heißt dieses Herrlichste »Risgrynsgröt med Mandel« — »Reisgrütze mit Mandel«. Es gab keinen Reis mehr im Dezember 1944, und es gab keine Mandeln, aber Frau Penninger hatte es fertiggebracht, ein Gericht herzustellen, das aus weiß der Himmel was bestand, aber so aussah und (beinahe) so gut schmeckte wie Risgrynsgröt, und statt der Mandel hatte Frau Penninger eine Haselnuß genommen.
Das verhielt sich nämlich so: Es war nur diese eine Haselnuß in der ganzen Grütze, und wer sie in seiner Portion fand, der sollte ganz, ganz glücklich werden im neuen Jahr!
Natürlich (dafür hatte schon Frau Penninger gesorgt) fand Truus die Haselnuß, die anstelle der Mandel versteckt worden war, und sie klatschte in die Hände und lief zu Lindhout und umarmte und küßte ihn, und sie lief zu Frau Penninger und umarmte und küßte diese, und dann stand sie mitten im Raum und warf die Arme in die Luft und rief: »Ich habe die Mandel gefunden! Ich werde ganz, ganz glücklich werden im neuen Jahr!« Sie sah sich mit strahlenden Augen um und fragte: »Kann ich noch glücklicher werden, als ich bin?« Und gab sich selber die Antwort: »Ein bißchen, ja, vielleicht. Wenn ich nicht mehr versteckt in der Kammer leben muß. Es ist eine sehr schöne Kammer, Tante Maria, ich habe sie sehr gern, aber manchmal möchte ich doch wieder auf die Straße hinuntergehen und andere Kinder sehen und mit ihnen spielen dürfen! Ich weiß, das geht jetzt nicht! Aber vielleicht geht es nächstes Jahr!«
»Nächstes Jahr geht es bestimmt, Truus, mein Herz«, sagte Lindhout. »Nächstes Jahr wirst du dich nicht mehr verstecken müssen, sondern du wirst wieder mit anderen Kindern spielen können.«
»Und werde ich auch Claudio wiedersehen?« fragte Truus.
»Sicherlich«, sagte Lindhout. »Vielleicht nicht gleich, denn Berlin ist weit weg von hier, aber du wirst deinen Claudio wiedersehen.« Hoffentlich, dachte er. Zu Frau Penninger sagte er: »Das ist ihr Freund aus Berlin.«
»Mein bester Freund!« rief Truus.
Lindhout nickte.
»Vier Jahre älter als Truus. Im Grunewald wohnte er mit den Eltern — Wegner heißen sie — ganz nahe der Bismarckallee 18, dem Haus, in dem wir lebten, bevor wir nach Wien kamen — in der Herthastraße. Claudio besuchte Truus immer, er spielte mit ihr, er lernte mit ihr — er ist ein so netter Junge …«
»Wenn wir groß sind, werden wir heiraten!« erklärte Truus feierlich. »Das haben wir uns versprochen, zum Abschied. Nicht wahr, ich werde Claudio heiraten, Adrian?«
»Wenn du es dann immer noch willst, mein Herz.«
»Gewiß werde ich wollen!« rief Truus. »Jetzt mußt du nur noch einen Vers sagen aus … du weißt schon was — dann kann gar nichts mehr geschehen, dann wird alles ganz, ganz gut gehen!«
Lindhout senkte den Kopf und schwieg.
»Bitte, Adrian, sag den Vers, bitte!«
Und immer noch schwieg er.
»Was haben Sie, Herr Lindhout?« fragte Frau Penninger besorgt. Sie darf nicht besorgt sein, dachte er erschrocken, und Truus auch nicht, ich muß den Vers sprechen.
»Welcher soll es denn sein, Truus?« fragte er.
»Der mit den Sternen!«
»Ach nein …«
»Bitte, bitte! Heute den mit den Sternen!« rief das Mädchen. »Heute ist doch Weihnachten, und wir haben so viele Sterne da!«
Ausgerechnet diesen Vers, dachte Lindhout bebend, und nickte. »Also gut, Truus.« Er räusperte sich und setzte zweimal zum Sprechen an, erst beim dritten Mal gelang es ihm. Er sprach: »Und schwer und ferne / Hängt eine Hülle / mit Ehrfurcht. Stille / Ruhn oben die Sterne / und unten …« Die Stimme brach.
»Was ist denn?« fragte Truus.
»Nichts. Gar nichts. Mir ist nur etwas in die falsche Kehle gekommen«, sagte Lindhout und dachte: Jetzt kann ich nicht mehr, jetzt bin ich am Ende meiner Beherrschung, jetzt muß ich schnell fortgehen von hier, aber den Vers muß ich noch zu Ende sprechen, und er sprach ihn zu Ende: »… Ruhn oben die Sterne / Und unten die Gräber.«
11
»Schschsch …«
Philine Demut hielt einen Finger vor den Mund und flüsterte: »Leise! Er ist wieder daheim! Ich habe ihn kommen hören vor einer halben Stunde! Aber er soll noch warten!«
Sie hatte dem Kaplan auf sein Läuten hin geöffnet. Haberland sah einen Lichtspalt unter der Tür von Lindhouts Zimmer. Er nickte Fräulein Demut zu wie ein Verschwörer, klopfte draußen auf der Matte den Schnee von den Schuhen und folgte Philine dann auf Zehenspitzen in ihr Wohnzimmer mit dem festlich geschmückten Baum. Unter dem Arm trug er ein paar kleine Pakete. Vor dem Tannenbaum erblickte er ein Paar feste Wollhandschuhe und eine Schachtel Zigarren. Während Philine dem Kaplan aus dem Mantel half, plapperte sie aufgeregt: »Die Zigarren habe ich für ihn gekauft … ein Vermögen, kann ich Ihnen sagen … und die Fäustlinge sind für Sie, Hochwürden, die habe ich selber ge …« Sie unterbrach sich entsetzt: »Oh, jetzt haben Sie sie schon gesehen, und ich habe von ihnen gesprochen!«
Haberland legte seine kleinen Pakete vor den Baum. »Das ist alles für Sie! Und ich habe gar nichts gesehen und gar nichts gehört!«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht.«
Philine lachte und holte schnell eine Zeitung, mit der sie ihre Geschenke bedeckte. Dann zündeten sie die Kerzen des Baumes gemeinsam an. Und dann weinte Philine ein bißchen, und Haberland mußte sie trösten.
»Nein, nein«, murmelte sie, »es ist das Glück, Hochwürden, weil ich … weil ich einen Protestanten bescheren darf!« Sie lächelte. »Er wird sehr erstaunt sein, glauben Sie nicht?«
»Bestimmt.«
»Er ist der erste Protestant, den ich beschenke!« sagte sie.
»Das ist schön«, sagte Haberland. »Und jetzt wollen wir ihn holen, ja?«
Sie wich zurück und lächelte verzerrt.
»Was ist denn?«
»Nichts … gar nichts … würden Sie … würden Sie ihn bitte allein holen und ihm das mit dem Martin Luther damals noch einmal erklären? Ich schäme mich so …« Haberland hatte Lindhout noch nie gesehen. Er nickte, ging auf den Gang hinaus und klopfte an Lindhouts Zimmertür.
Keine Antwort.
Haberland klopfte noch einmal.
Wieder blieb alles still.
Der Kaplan öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt. Lindhout saß beim Fenster und starrte die Verdunkelung an. Jetzt drehte er sich um. Neben ihm stand eine Flasche, halb geleert, und neben der Flasche stand ein Glas. Die Luft im Zimmer war schlecht.
»Ich habe nicht ›Herein‹ gerufen«, erklärte Lindhout mit schwerer Zunge.
»Ich weiß«, sagte der Kaplan. »Mein Name ist Haberland. Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, mit mir hinüber zu Fräulein Demut zu gehen. Sie erwartet uns. Sie wissen doch, wir sind beide eingeladen bei ihr heute abend.«
Lindhout stand auf.
Er schwankte.
»Scheren Sie sich zum Teufel!« sagte er laut und mühsam, der Mund stand halb offen, das Gesicht zeigte einen schlaffen, stumpfen Ausdruck. Haberland unterdrückte jäh hochschießenden Widerwillen gegen diesen Menschen und zwang sich zu einem Lächeln.
»Es ist Heiliger Abend, Herr Doktor. Ich will Ihnen gerne noch etwas über Fräulein Demut sagen, Ihnen etwas erklären, was Sie seinerzeit vielleicht verärgert oder verstört oder abgestoßen hat …«
»Lassen Sie mich in Ruhe!« Lindhout hielt sich an einer Sessellehne fest.
»Aber Fräulein Demut hat alles so schön für uns vorbereitet, Herr Doktor. Sie verderben dem Fräulein eine große Freude, wenn Sie nicht kommen!« Haberland fühlte eine Woge des Zorns in sich aufsteigen, während er sprach. Dieser Mann, dachte er, verdient nicht, daß man sich um ihn sorgt. Fräulein Demut ist gewiß verschroben. Aber bei diesem Mann braucht man wahrhaftig nicht verschroben zu sein, um ihn abstoßend zu finden. Schnaps, dachte Haberland, ein Säufer — und nebenan eine einsame junge Frau mit psychischen Störungen …
»Warum sollte ich ihr die Freude nicht verderben?« fragte Lindhout lallend. »Warum nicht, he? Können Sie mir das sagen? Warum ausgerechnet ihr nicht?«
»Sie sind ja völlig betrunken«, sagte Haberland angewidert.
»Natürlich«, sagte Lindhout. »Betrunken in dieser beschissenen Nacht. Warum sind Sie nicht betrunken?«
»Ich trinke nicht«, sagte Haberland, willens zu gehen. Lindhout hielt ihn an einer Schulter fest.
»Weil Sie ein Pfaffe sind, nicht wahr?« lallte er. »Pfaffen brauchen keinen Schnaps, um dieses elende Leben ertragen zu können. Pfaffen sind fein raus. Pfaffen haben ihr Vertrauen in Gott! Das genügt ihnen, genügt ihnen vollauf!«
»Sie sollten sich schämen«, sagte Haberland und riß Lindhouts Hand von seiner Schulter.
»Und Sie machen, daß Sie hier rauskommen, oder Sie kriegen eins über den Schädel!« Lindhout drehte sich um und ergriff die Flasche.
»Sie wissen ja nicht, was Sie reden«, sagte Haberland.
Lindhout hob die Flasche, wirbelte sie durch die Luft und ließ los. Die Flasche flog einen halben Meter neben Haberland, der zurückgewichen war, an die Wand und zerbrach. Der Schnaps bildete einen dunklen Fleck auf der Tapete und floß zu Boden. Lindhout lachte idiotisch. Dann gaben seine Beine nach, er fiel mit dem Gesicht auf einen Teppich, wo er liegenblieb.
Haberland drehte sich um und verließ das Zimmer Er ging zu Philine Demut zurück. Sie saß unter dem Baum mit den brennenden Kerzen, den Rücken dem Kaplan zugewandt. Haberland schloß langsam die Tür.
»Er möchte lieber nicht kommen«, sagte er, unendlich verlegen. »Er fühlt sich nicht gut … liegt schon im Bett.«
Haberland trat zu Philine und bemerkte, daß sie lautlos weinte. Ihre Schultern zuckten.
»Erzählen Sie mir nichts, Hochwürden«, flüsterte sie erstickt. »Ich bin Ihnen nachgegangen. Ich habe alles gehört. Oh, und ich habe mir alles so schön vorgestellt. Die Bescherung, und die Zigarren für ihn, und die Gans …« Sie schluchzte laut auf und sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. Haberland stand reglos neben ihr und starrte die brennenden Kerzen des Baumes an. Draußen begannen Kirchturmglocken zu läuten. Philine Demut weinte. Sie war so sehr unglücklich. Sie hatte völlig vergessen, daß Lindhout am Vormittag den Besuch eines völlig verängstigten, verwahrlosten Mannes erhalten hatte, der seinen Namen nicht nennen wollte und nur erklärte, er heiße »Fred«.
Fräulein Demut konnte sich nicht vorstellen, was dieser Mann Lindhout zu sagen gehabt hatte. Sie wußte nichts von Lindhout. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß auch er unglücklich war und daß er, von ihr und Haberland nur durch eine Wand getrennt, auf dem Boden des Nebenzimmers lag und gleichfalls weinte.
Nur weinte Lindhout nicht um ein verdorbenes Fest.
Lindhout weinte um seine geliebte Frau, die in ihrem holländischen Versteck entdeckt, verhaftet und von der Gestapo zu Tode gefoltert worden war, seine geliebte Frau, die ihn nicht verraten hatte und von deren schrecklichem Ende er durch den kleinen Mann mit den gehetzten Augen erfahren hatte, der sich »Fred« nannte, weil niemand wissen durfte, daß er Goldstein hieß.
12
Am nächsten Tag entschuldigte sich Lindhout bei Philine Demut für sein Betragen. Das heißt: Er versuchte sich zu entschuldigen. Es gelang ihm nicht. Er traf mit ihr im Flur zusammen und konnte gerade sagen: »Liebes Fräulein Demut, ich bedauere …«, da schrie sie schon in panischem Erschrecken über die unerwartete Begegnung auf und floh in ihr Wohnzimmer, dessen Tür sie hinter sich abschloß.
Lindhout stand verlegen da, dann seufzte er und verließ die Wohnung, um ins Institut zu gehen. Er arbeitete auch während der Feiertage — zum einen, um seine Haltung zu bewahren nach dem, was geschehen war da in Holland, zum andern, weil ihn das Geheimnis der beiden so ähnlichen Substanzen, die, zusammen verabreicht, eine wie die andere ihre schmerzstillende Wirkung verloren, bis in seine Träume verfolgte.
Er experimentierte nun wie ein Besessener, er brauchte immer neue Tiere, denen noch keine der beiden Substanzen AL 203 und AL 207 injiziert worden war. Zu Beginn des neuen Jahres sagte er zu Tolleck: »Ich stehe vor einem Rätsel. Jetzt, nach den Versuchen mit so vielen neuen Tieren, besteht kein Zweifel mehr: Das, was wir zusammen erlebt haben, erlebe ich seitdem ununterbrochen und ausnahmslos. Und es sind keine Verwechslungen mehr vorgekommen. Ich habe alle Injektionen selbst vorgenommen! Fräulein Gabriele hat nichts mehr angerührt.«
Damit ging er zu seinen Apparaturen zurück. Wie alle im Institut trug er seinen Wintermantel unter dem weißen Laborkittel, pelzgefütterte Schuhe und einen Schal, und wie alle war er trotzdem ständig erkältet — da halfen auch die wenigen kleinen elektrischen Öfen für die Tiere nichts.
Die gesamte Heizanlage des Instituts war ausgefallen. Der schwere Motor der Umwälzpumpe für das Heizwasser funktionierte nicht. Unbekannte hatten Glasstaub in die kleinen Öffnungen zum Einfüllen von Öl geschüttet und so die Kugellager zerstört. Der Motor stammte aus Berlin. Neue Kugellager mußten in Schweinfurt bestellt werden. Die Fabriken dort waren fast alle ausgebombt und produzierten nur noch einen Bruchteil ihrer Kapazität. Wochen, Monate konnte es dauern, bis neue Kugellager kamen, denn was sich da im Chemischen Institut ereignet hatte, war zu gleicher Zeit in mehr als hundert Wiener Betrieben passiert, und zwar Schlimmeres als im Chemischen Institut, wo nur die Heizung ausgefallen war: Schwere Werkzeugmaschinen standen still, so daß fast die gesamte kriegswichtige Produktion zum Erliegen gekommen war. Überall war ebenfalls Glasstaub in die Lager geschüttet worden und hatte die Kugellager zerfressen. Geschehen war dies, nachdem in Wiener Treppenhäusern, Luftschutzkellern und Fabriken plötzlich Tausende von Zetteln gelegen hatten, auf denen stand:
Die zehn Gebote der Selbstverteidigung!
1. Du sollst langsam und gewissenhaft arbeiten, denn auf deine Arbeit kommt es an. Der Feind hat Agenten in unser Land geschleust. Sie trachten, unseren Sieg zu gefährden. Das darfst du nicht zulassen, Volksgenosse!
2. Du sollst dich darum vergewissern, ob deine Maschine in Ordnung ist. Agenten streuen Glasstaub, wie man ihn durch feines Vermahlen von zerbrochenem Glas — und davon gibt es jetzt jede Menge — herstellen kann, in die Öllöcher von Kugellagern. Die Kugellager werden zerstört, und es dauert lange Zeit, bis Ersatzteile geliefert werden können …
Die weiteren acht Gebote waren ähnlicher Art.
Viele Zettel landeten natürlich bei der Gestapo im Hotel »Metropol« auf dem Morzinplatz — dort, wo auch die Worte des Sprechers in dem nicht zu ortenden Sender Oskar Wilhelm Zwo auf Wachsplatten mitgeschnitten wurden, wenn er diesen Aufruf verlas — und er verlas ihn nun bei jeder Sendung.
13
Der Morgen, an dem Philine Demut vor Lindhout geflohen war, wurde zum Wendepunkt in ihrem Leben. Das Gefühl der Abneigung gegen den ihr durch die Behörde aufgezwungenen Untermieter begann in Angst umzuschlagen und leitete eine Entwicklung ein, die niemand hatte voraussehen können: ein unaufhaltsames Versinken in Todesangst. Im Frühjahr 1945 schließlich war Philine Demut vollkommen davon überzeugt, daß Lindhout ihr nach dem Leben trachtete.
Dieser, in tiefer Trauer um seine Frau Rachel und überfordert durch mühselige Arbeit und durch die Sorge um die kleine Truus, nahm von der Veränderung, die mit dem Fräulein auch äußerlich vor sich ging, nicht das geringste zur Kenntnis und tat also auch nicht das geringste, um sie von ihren Wahnvorstellungen zu befreien. Im Gegenteil, er schämte sich, dachte, daß sie ihm sein Verhalten zu Weihnachten immer noch nachtrug, und ging ihr deshalb aus dem Wege, wo immer er konnte. Wochen, bevor der 12. März dann die Katastrophe brachte, wußte Philine Demut bereits mit absoluter Sicherheit: Meine Stunden sind gezählt. Und es gehört zu den hinterhältigen Scherzen, die das Leben offenbar so sehr liebt, daß dies durchaus stimmte.
In der ersten Zeit trug das Fräulein sich mit dem Gedanken, die Polizei um Hilfe zu rufen. Aber das ließ sie dann wieder sein, nachdem sie mit Haberland gesprochen hatte. Der kluge Kaplan ahnte längst, daß Lindhout bestimmt einen Grund gehabt hatte, sich am Weihnachtsabend 1944 so schändlich zu betragen. Hinzu kam, und das war das Entscheidende, daß sich auch Haberlands Verhältnis zu Philine änderte. Die wußte nichts davon, wie der Kaplan die Zeit der letzten Kriegsjahre von ihrer fürchterlichsten und gefährlichsten Seite her kennengelernt hatte — in Todeszellen, mit Verfolgten, Gequälten, Sterbenden, und zugleich bei der Verbreitung der Flugzettel und als Sprecher des Geheimsenders. Bei aller Langmut, bei aller christlichen Nächstenliebe konnte Haberland es nicht verhindern, daß eine schreckliche Ungeduld in ihm aufstieg, wann immer er Philines Jammern und Geschwätz zuhören mußte. Und eines Tages ertappte er sich entsetzt bei dem Gedanken, Gott täte ein gutes Werk, wenn er diese junge, verstörte Frau in der Tat sterben ließe.
Haberland redete Philine aus, zur Polizei zu gehen und Anzeige gegen Lindhout zu erstatten, weil er ihr nach dem Leben trachte. Er hatte keine persönliche Beziehung zu Lindhout, aber er sagte sich, daß dem schwer arbeitenden und ohne Zweifel unter eigenen Sorgen leidenden Menschen nicht zusätzliche Schwierigkeiten durch das Gestammel einer geistig sicherlich nicht gesunden Frau entstehen durften.
»Dieser Mann ist vielleicht nicht sympathisch«, sagte er. »Aber er würde keiner Fliege ein Bein krümmen. Er ist doch kein Mörder, Fräulein Demut, seien Sie ganz ohne Sorge, er ist doch kein Mörder!«
Das sagte er 1945.
Vierunddreißig Jahre später sollte er daran zurückdenken.
14
Philine Demuts Todesangst steigerte sich in drei Stadien: Das erste Stadium wurde ausgelöst durch die Affäre mit den Rasierklingen. Das zweite Stadium kam mit der Explosion in der Küche. Und das dritte Stadium endlich war erreicht, als sie Lindhout den Mord begehen sah.
Die Sache mit den Klingen ereignete sich unmittelbar nach Weihnachten. Lindhout rasierte sich selbst. Er verwendete einen Gillette-Apparat. Gleich nach seinem Einzug im Sommer 1944 suchte er im Badezimmer einen Behälter, in den er gebrauchte Klingen stecken konnte, ohne befürchten zu müssen, daß Philine sich an ihnen verletzte. Eine solche Vorrichtung gab es im Badezimmer aus einem sehr einfachen Grund nicht: Es hatte sich dort noch niemals zuvor ein Mann rasiert. Philines Vater war stets zum nahen Friseur gegangen.
In seiner Besorgnis um Fräulein Demuts Sicherheit holte Lindhout eine kleine Schachtel aus dem Chemischen Institut und verklebte sie an allen Seiten mit Leukoplast, so daß sie sich nicht länger öffnen ließ. Oben brachte er einen Schlitz an — ähnlich dem an Kindersparbüchsen —, und durch den Schlitz schob er fortan die gebrauchten Klingen.
Lindhout rechnete nicht mit Philines angeborener Neugier. Sie sah die seltsame Schachtel natürlich sofort auf dem Bord unter dem Spiegel und war verwundert, denn sie konnte sich nicht erklären, was das Ding zu bedeuten hatte. Der Versuchung, die Schachtel zu öffnen, widerstand sie heldenhaft viele Wochen lang, besonders, als nach dem allerersten Skandal eine Beruhigung des Verhältnisses zu Lindhout eingetreten war. Nun, nach der schrecklichen Geschichte zu Weihnachten und dem Aufkommen ihrer Angst vor Lindhout, wurde Philines Neugier übermächtig. Eines Morgens — Lindhout war schon fort — ging sie in das Badezimmer, entschlossen, der schrecklichen Ungewißheit ein Ende zu bereiten. Sie nahm die Schachtel und begann an dem Leukoplaststreifen herumzureißen — ohne jeden Erfolg. (Das hat er absichtlich getan, dachte sie. Wer weiß, was in der Schachtel ist?) Sie vermochte die Klebestreifen nicht zu entfernen. Infolgedessen bohrte sie zuletzt ihren schmalen Zeigefinger in den Schlitz und riß mit einem mächtigen Ruck den Deckel ab. Im nächsten Moment schrie sie gellend auf und starrte entsetzt auf ihren Finger, aus dessen Kuppe das Blut dunkelrot gegen den Spiegel spritzte. Philine wickelte ein Handtuch um den Finger, raste zur Tür und laut schreiend die Stufen hinab in den ersten Stock, wo ein praktischer Arzt ordinierte. Der verband die tiefe Schnittwunde sogleich ordentlich, allein Philine hatte erheblich Blut verloren und fühlte sich sehr schwach, als der Arzt sie nach oben führte.
»Am besten legen Sie sich jetzt ein wenig hin«, sagte er und interessierte sich dann für den Gegenstand, der den Unfall verursacht hatte. Als er ihn fand, nickte er und nahm die Schachtel voller Klingen an sich (nicht um sie wegzuwerfen, sondern, wie das 1944 üblich war, wieder zu schärfen). Während er noch einmal zu Philine ging, dachte er, wie erschreckend es war zu sehen, welchen Gefahren sich Menschen wie dieses Fräulein in ihrer Geistesarmut aussetzten. Philine bemerkte gar nicht, daß er sie verließ. Sie starrte auf den dick verbundenen Zeigefinger, fühlte das Blut pochen und konnte nur einen einzigen Gedanken fassen: Das hat Lindhout getan, um mich zu ermorden!
Am nächsten Tag kam nachmittags Haberland, um Philine zur »Katharinen-Vereinigung« abzuholen. Sie berichtete ihm, hysterisch schluchzend, was sich ereignet hatte. Haberland, der zuvor dem Arzt begegnet war, versuchte sie zu beruhigen und ihr die fixe Idee vom Mordversuch auszureden. Als er damit keinen Erfolg hatte, wurde er zum ersten Mal gereizt.
»Fräulein Demut«, sagte er, »ich habe weder Zeit noch Lust, mir solchen Unsinn anzuhören! Wenn Sie jetzt nicht endlich mit diesem Gerede aufhören, werde ich Sie nicht mehr besuchen kommen und auch bitten, die ›Katharinen-Vereinigung‹ nicht mehr zu besuchen.« Philine sah ihn so entsetzt an, daß er, mit einem Gefühl unendlichen Mitleids, hinzusetzte: »Aber ich sehe, Sie sind schon wieder ganz vernünftig und haben Ihre dummen Gedanken vergessen!«
»Ja«, antwortete Philine, »ich habe sie schon wieder vergessen.«
Sie hatte sie nicht vergessen.
Nachts träumte sie, Lindhout jage sie mit einem riesigen Messer das Stiegenhaus hinab, dessen Treppen und Wände blutverschmiert waren wie die eines Schlachthauses, und erwachte schweißgebadet. Aber um ihre Verbindung zu Hochwürden Haberland nicht aufs Spiel zu setzen, sprach sie nie mit ihm über ihre gräßlichen Träume.
Lindhout bemerkte das Fehlen der Schachtel, dachte, das Fräulein habe sie weggeworfen, weil sie voll gewesen war, und fertigte eine neue an, die er abermals unter den Spiegel stellte. Die neue Schachtel sah Philine am nächsten Tag. Zuerst blieb ihr fast das Herz stehen, dann aber nickte sie, freudlos, doch voller Genugtuung: Hier hatte sie den Beweis — was immer Hochwürden auch sagen mochte! Nach dem Mißlingen seines ersten Anschlags hatte Lindhout alles für einen zweiten vorbereitet. Philines Gesicht verzerrte sich zu einem listigen Grinsen. Da konnte der Teufel lange warten! Sie war ja nicht blöd! In diese Falle ging sie nicht mehr!
Zwei Wochen später ereignete sich dann die Explosion.
Lindhout hatte sogleich nach seinem Einzug Philine gebeten, die Bedienerin Kaliwoda, die zweimal wöchentlich kam, anzuweisen, keine Gegenstände in seinem Zimmer zu verlegen, zu verschieben oder gar wegzuwerfen — ganz gleich, worum es sich handelte. Mit den Monaten waren Bücherberge, Manuskripthaufen, Papiere und Chemikalien aller Art auf dem großen Speisetisch gelandet — wie er es prophezeit hatte. Immerhin, er arbeitete sehr viel daheim, besonders in letzter Zeit, denn zum einen vertrieb ihn die Kälte aus dem Institut, zum andern war er jetzt wie besessen, das Rätsel der zwei schmerzstillenden Substanzen zu lösen, die einander in ihrer Wirkung aufhoben, wenn man sie gemeinsam anwendete.
Geradezu manisch arbeitete Lindhout nun Tage und Nächte, sah Aufzeichnungen durch, entwickelte Theorien, impfte neue Tiere — und lag dann schlaflos, bis er wieder aufstand und sich an den Schreibtisch setzte, der eigentlich ein Eßtisch war. In solchen Nächten führte er genauestens Protokolle über seine Arbeiten.
Lindhout brachte auch Lösungen und Präparate in kleinen Fläschchen nach Hause in der Absicht, sie getrennt von allen anderen aufzuheben und nicht zu verwechseln. Die Kaliwoda nun, eine grobknochige, energische Person, die noch bei zwei anderen »Herrschaften« die »Bedienerin« war, hatte sich niemals auch nur einen Moment um Lindhouts Bitten, die Ermahnungen, das Flehen gekümmert. Resolut fuhrwerkte sie, stets in Eile, weil so viel Dreck zu beseitigen war bei ihren drei »Herrschaften« (und der Mann an der Front und drei kleine Kinder daheim!), in Philines Wohnung herum, sprach einen ungeheuerlichen Wiener Dialekt (sie stammte aus Ottakring, dem XV. Bezirk), hatte Schwierigkeiten bei der Benützung des Buchstaben L, der, phonetisch geschrieben, wie ein herrisches »Elllllll«! klang, und vor allem einen wahnsinnigen Zorn auf den Hund, den Hitler, die ganze Nazibrut und den Scheißkrieg. Das sagte sie jedem, selbst ihrem Todfeind, dem Hausbesorger, Block- und Luftschutzwart Franz Pangerl, der sie zwar mit Anzeigen bedrohte und brüllte, daß es durchs ganze Haus gellte, jedoch von einer solchen Anzeige absah, weil selbst er daran dachte, daß es so, wie es mit dem Dritten Reich ging, wohl nicht mehr lange weitergehen konnte, bevor der Zusammenbruch kam. Und dann war es immer gut, eine erklärte Kommunistin — die Kaliwoda — als Rückversicherung zu haben.
Gleich zu Beginn und späterhin erst recht, verschloß Lindhout — der sah, daß die Kaliwoda wiederum gewütet hatte, wenn er abends heimkam und dann stundenlang ein bestimmtes Buch, eine bestimmte Notiz suchen mußte — besonders wichtige Chemikalien und Präparate in dem Schrank, in dem seine Anzüge hingen. Denn nur den allein konnte er verschließen. Die Zimmertür mußte er leider offenlassen für die Bedienerin.
Der Zwischenfall ereignete sich allein durch das Wirken der Kaliwoda. Diese Frau, die aussah wie ein Kerl, mit Schnurrbart, Möbelpackerhänden und heiserer Baßstimme, hatte grundsätzlich nicht die geringste Achtung vor den Männern, die sie allesamt »spinnerte Klugscheißer« nannte, und so nahm sie denn am frühen Morgen des 2. März 1945 (»Um elf gibt’s eh an Alarm, da muß i längst fertig und daham sein bei meine Pamperletschn!«), nahm sie also am frühen Morgen des 2. März 1945 ohne jedes Bedenken ein Fläschchen mit einer wasserhellen Flüssigkeit als »Glump« von Lindhouts überladenem Tisch, trug es in die Küche und stellte es neben den Gasherd auf die »Abwasch« (den Spülstein), um es zu entleeren. Das vergaß sie jedoch infolge ihrer permanenten Arbeitsüberlastung. So blieb das Fläschchen auf der Abwasch stehen. Um elf Uhr war die Kaliwoda längst weg, und die Sirenen heulten.
Die 15. Amerikanische Luftflotte, die von dem italienischen Militärflughafen Foggia aus operierte, kam mit einer großen Zahl von Bombern samt Jagdschutz, und zwar in mehreren Wellen, so daß es gut 14 oder 15 Uhr bis zur Entwarnung werden konnte.
Dies war die größte Zeit im Leben des kleinen Luftschutzwarts, Parteigenossen und Blockwarts Franz Pangerl. Er führte sich, ganz besonders während solcher Angriffe, in »seinem« Hause an der Berggasse auf wie ein wahnwitzig gewordener Unteroffizier auf dem Exerzierplatz.
Der Angriff vom 2. März richtete schwere Schäden an, nicht jedoch in der Berggasse. Am Nachmittag machte sich Fräulein Demut an das Backen eines Streuselkuchens, wie sie ihn einmal im Monat für Hochwürden zubereitete, den sie am kommenden Tag erwartete. (Es war sehr schwer, die Zutaten zu diesem Kuchen, den Haberland besonders gerne aß, zu erhalten, fast schon unmöglich, aber mit Geld und »schwarzen« Beziehungen hatte Philine es bisher noch immer geschafft.) Das Backrohr des Gasherdes strahlte beträchtliche Hitze aus, und so wurde auch die Abwasch nebenan erwärmt. Dort aber stand das kleine, von der Kaliwoda vergessene und von Fräulein Demut nicht beachtete Fläschchen. Ein Etikett klebte an dem Glas. Darauf stand: C2H5-O-C2H5. Lindhout hatte die Substanz in dem Fläschchen mit heimgenommen, weil er einen durch Chemikalien verursachten und anders als mit Diäthyläther nicht wegzubekommenden Fleck auf einer Hose beseitigen wollte. Diäthyläther, gemeinhin einfach Äther genannt, ist hochexplosiv. Das alles wußte das Fräulein natürlich nicht.
Um so entsetzlicher muß es für sie gewesen sein, als der Äther sich durch die Wärme ausdehnte. Der gläserne geschliffene Stöpsel widerstand dieser Ausdehnung, der Druck im Innern des Fläschchens wurde schließlich größer als die Festigkeit des Glases: Die Flasche explodierte mit lautem Knall just in dem Moment, in dem das Fräulein sich vor das Backrohr gebeugt hatte, um nach dem Streuselkuchen zu sehen.
Glassplitter flogen durch die Küche, und im gleichen Moment entzündete sich der Äther. Es war, glücklicherweise, nur sehr wenig, und er verpuffte, ohne andere Gegenstände in Brand gesteckt zu haben.
Am nächsten Tag kam Haberland und aß den Kuchen, in dem sich, zu seiner Verwunderung, ein paar Glassplitter fanden. Philine war von hektischer Fröhlichkeit. Haberland ahnte nicht, daß sie die Nacht schluchzend und nach Atem ringend verbracht hatte, ringend mit den bleichen Polypenarmen der Angst: Das war Lindhouts zweiter Mordanschlag gewesen! Haberland konnte auch nicht ahnen, daß er nicht mehr das Vertrauen des Fräuleins besaß. Denn sie sprach nie mehr mit ihm über ihre Not, aus Angst, ihn zu verstimmen oder zu verlieren. Es war der Beginn ihrer wirklichen Psychose.
Und dann kam die Katastrophe …
Sie kam am 12. März 1945. Zu dieser Zeit war es schon sehr warm, die Menschen waren mutlos, gereizt und verängstigt durch die nun täglichen Angriffe, und Luftschutzwart Pangerl verbarg seine immer größer werdende Besorgnis um die nahe Zukunft hinter einem noch weiter gesteigerten Toben und Wüten. Er jagte alle Bewohner des Hauses bei jedem Angriff in den lächerlich flachen Keller, er bespitzelte und beargwöhnte jeden, redete von »Saboteuren«, »Feinden des Reichs«, vom »Endsieg« und von so schwierig auszusprechenden Wortverbindungen wie der »jüdisch-plutokratisch-kapitalistisch-bolschewistischen Weltverschwörung«.
Besonders abgesehen hatte er es auf die arme Philine, die er — ach, tragischer Irrtum! — für eine Monarchistin und deren psychotisches Verhalten er — ach, tragischerer Irrtum! — für Verstellung hielt.
Unter dem Eindruck der Luftangriffe — dem »Luftterror«, wie Pangerl das in getreuer Befolgung der Goebbelsschen Sprachregelung nannte — versagten Philines Nerven völlig. Was sie auch tat, es gelang ihr nicht, es so zu tun, daß Parteigenosse Pangerl Zufriedenheit äußerte. Einmal war — behauptete Pangerl — ihre Verdunkelung nicht in Ordnung, dann wieder vergaß sie, das Gas beim Haupthahn abzudrehen, wenn die Sirenen heulten, ein anderes Mal kam sie erst ein paar Minuten nach allen anderen in den Keller, und immer mußte sie es ertragen, daß der Herr Block- und Luftschutzwart, unter höhnischem Gelächter anderer Bewohner des Hauses, seinen ätzenden Spott über sie ergoß — oder auch seine finsteren Drohungen. Das arme Fräulein weinte viel in diesem Frühling, der so schön war und so voller Tod.
Anläßlich des Tagesangriffs am 12. März 1945 entdeckte Pangerl nun, daß Lindhout nicht in den Keller gekommen war.
»Ich weiß, der ist nicht im Institut, der arbeitet oben in seinem Zimmer. Ich hab’ ihm am Morgen die Zeitung gebracht! Natürlich«, tobte er, sich steigernd, weiter, »bei wem stimmt’s wieder nicht? Bei dem Fräulein Demut! Das Fräulein Demut muß eben ihre Extrawurst haben! Und wenn was passiert, wer ist dann schuld? Der Pangerl ist dann schuld!«
Philine Demut, in eine Kellernische gedrückt, auf dem Boden sitzend wie alle anderen, wußte zuerst gar nicht, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte.
»Dieser Herr Doktor Lindhout!« tobte Pangerl. »Dieser feine Herr, dieser Herr Ausländer! Der einzige Ausländer im Haus! Wo wohnt er natürlich? Bei dem Fräulein Demut wohnt er natürlich! Und wer kommt natürlich nicht in den Keller, obwohl ich es x-mal befohlen hab’?« Philine wollte etwas erwidern und schaffte es auch mit Mühe: »Der Herr Doktor wird die Sirenen überhört haben …«
»Überhört!« schrie Pangerl und rannte im Keller hin und her wie ein Irrer, während das Weckerticken aus einem Volksempfänger, den jemand mit in den Keller gebracht hatte, aufhörte und eine Frauenstimme mitteilte, daß ein feindlicher Kampfverband über der Stadt mit wechselnden Zielen kreise und es zu Bombenabwürfen im XVI., XVII., XIV., XV. und XIX. Bezirk gekommen sei und ein zweiter schwerer Kampfverband, von Westen her, das Stadtgebiet anfliege. »Überhört! Lächerlich! Alle andern haben die Sirenen gehört, nur der feine Herr Doktor nicht. Dieser feine Herr Doktor wird auch noch parieren lernen, Fräulein Demut!«
»Es war ein Herr bei ihm, bevor die Sirenen losgingen. Ich habe doch an seine Zimmertür geklopft und ihm gesagt, daß er herunterkommen muß, weil es Alarm ist. Er hat mit dem anderen Herrn gesprochen und gesagt, er kommt gleich.«
»Da sind zwei oben?« schrie Pangerl. »Das wird ja immer schöner!« Er schnaubte fürchterlich durch die Nase. »Der Herr Lindhout ist nicht gekommen und der andere Herr auch nicht? Sie sind verantwortlich für Ihre Mieter, Fräulein Demut, das habe ich Ihnen schon hundertmal gesagt!«
»Regen Sie sich doch nicht so auf«, sagte ein Mann. »Jetzt sitzen wir schon eine halbe Stunde hier, und es ist nichts passiert.«
»Nichts passiert?« Pangerl blitzte ihn mit halb geschlossenen Augen böse an. »Haben’S net eben den Radio gehört? Die sind über uns! Wollen Sie mir vielleicht sagen, was meine Pflichten sind?«
»Nu mach aber mal halblang, Männeken«, sagte ein Soldat, der an einem Pfeiler lehnte, angewidert. »Jeh doch an de Front, wennde dir so kriegerisch fühlst, Mensch!«
»Ich tue meine Pflicht in der Heimat!« schrie Pangerl. »Glauben’S, ich weiß net, was Krieg ist?«
»Scheiße weißte!« Der Soldat grinste ihn an.
»Sie!« bellte Pangerl. »Wenn Sie glauben, das lass’ ich mir gefallen, dann irren Sie sich! In diesem Keller befehle ich! Und auch Sie haben sich zu fügen!«
»Das wirste bald den Iwans sagen können, wenn die in Wien sind!«
»Russen in Wien?« kreischte Pangerl. »Das wird der Führer nie zulassen!«
»Ach, leck mir doch im Arsch«, sagte der Soldat gelassen, ging zur Kellertreppe, stieg sie hinauf und verschwand.
Pangerl sah ihm wutbebend nach, dann fiel er wieder über Philine her.
»Fräulein Demut, wenn dieser Mann in Ihrer Wohnung — oder diese beiden Männer, was weiß ich — net in drei Minuten hier herunten sind, melde ich es der Ortsgruppe, verstanden?«
»Ja, Herr Pangerl«, antwortete das Fräulein, zitternd vor Angst und hilflosem Zorn. Dieser Lindhout! Dieser entsetzliche, grauenhafte Mensch wird mich noch ins Grab bringen, dachte sie empört. Was habe ich schon zu leiden gehabt durch seine Schuld! Und jetzt auch das noch! Hinaufgehen muß ich bei Alarm! Philine schluchzte kurz, als sie die Stiegen (Parterre, Hochparterre, Mezzanin!) emporzuklettern begann. Im Keller war es ganz still geworden. Pangerl sah dem Fräulein böse nach.
15
Philine atmete schwer, während sie Stiege um Stiege erklomm.
Das ist das letzte Mal, versprach sie sich selbst. Wenn Hochwürden mir nicht helfen will, dann muß die Polizei mir helfen! Dieser Zustand ist unerträglich! Ich halte das nicht mehr aus!
Keuchend und hochrot im Gesicht erreichte sie schließlich den vierten Stock. Auch hier war es sehr still. Dann, als sie die Tür aufgesperrt und in den Flur getreten war, hörte sie schnell hintereinander dumpfe Geräusche. Sie beachtete den Lärm nicht. Das waren Flakgeschütze, die zu feuern begonnen hatten — mit der Zeit war ihr dieses Geräusch vertraut geworden. Sie schritt weiter auf Lindhouts Tür zu, und da hörte sie plötzlich erregte Stimmen.
»Seien Sie kein Idiot!« rief da jemand. Das Fräulein kannte die Stimme nicht. Das mußte der Besucher sein, den sie vor Alarmbeginn bei Lindhout gesehen hatte.
»Geben Sie mir das Papier oder ich schieße!« rief die zweite Stimme. Und die war Lindhouts Stimme. Mein Gott, dachte Fräulein Demut. Sie begann zu zittern. Wieder drangen dumpfe Detonationen an ihr Ohr.
Aus dem Zimmer erklang das Geräusch eiliger Schritte, die sich seltsamerweise zu entfernen schienen. Entfernen — wohin?
»Schießen Sie doch!« hörte Philine den Fremden rufen. »Schießen Sie doch, wenn Sie es wagen!«
In das Bellen der Flak mischte sich jetzt ein anderes Geräusch. Es klang drohend und wie ein Bienenschwarm, der zum Angriff ansetzt.
»Weg mit der Pistole oder ich schreie, so laut ich kann!« ertönte die Stimme des Fremden.
Philine riß Lindhouts Zimmertür auf. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Der fremde Mann war durch die geöffneten Glastüren hinausgelaufen auf den steinernen Balkon. In der rechten Hand hielt er etwas Weißes. Philine konnte nicht erkennen, was es war.
»Kommen Sie herein!« schrie Lindhout den Mann an. Er hielt eine Pistole in der Hand. Der fremde Mann auf dem Balkon öffnete den Mund, als wolle er schreien.
In diesem Augenblick schoß Lindhout. Er schoß das ganze Magazin leer.
Philine brachte keinen einzigen Laut hervor. Der Mann auf dem Balkon kippte hintenüber und fiel auf die Straße hinab.
Das Fräulein wollte vorstürzen, als sie ein neues Geräusch vernahm: ein dünnes Pfeifen, das schnell in ein gefährliches Trommeln überging, rapide an Stärke zunahm und zu einem ohrenbetäubenden Donnerschlag wurde.
Da wußte Philine: Das war eine Bombe! Sie hatte das Geräusch noch nie so klar gehört, aber nun wußte sie mit völliger Sicherheit: Bomben fielen, ganz in der Nähe!
Taumelnd rannte sie in den Flur hinaus, erreichte die Treppe und hatte den ersten Schritt auf die erste Stufe getan, als eine unsichtbare Riesenhand sie hochriß und hinabschleuderte, wo sie ohnmächtig auf die Fliesen des Halbstocks stürzte.
Sie sah nicht mehr, daß eine Bombe das Haus genau gegenüber getroffen hatte. Sie sah nicht mehr, wie Trümmer in einer riesigen Staubwolke auf die Gasse flogen und sich da zu einem mächtigen Gebirge türmten, just über jener Stelle, auf die der Chemiker Dr. Siegfried Tolleck gestürzt war, einen eng beschriebenen Briefbogen in der Hand und von sechs Stahlmantelgeschossen getroffen.
Teil IV
Dringen wir vorwärts
1
Ach ja, dachte Adrian Lindhout — während er sich schwerfällig vom Boden aufrichtete, wo er die Schlösser des vierten Koffers versperrt hatte —, das war der schwerste Angriff auf Wien, der an jenem 12. März 1945. Jetzt war es der 23. Februar 1979, 16 Uhr 55. Die Koffer standen da, er war fertig zur Abreise. Vorher war noch Kaplan Haberland zu empfangen, denn dieser hatte ja von Mord gesprochen und davon, daß er, falls er ihn nicht empfing, sofort die Polizei verständigen werde.
Haberland, ja, jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau an ihn, dachte Lindhout. Begegnet sind wir einander ein einziges Mal — an jenem schrecklichen Weihnachtsabend. Ich habe immer geglaubt, alt genug zu sein und genug erlebt zu haben, um mich durch nichts mehr verblüffen oder überraschen zu lassen. Das ist ein Irrtum gewesen. Ich bin überrascht, ich bin verblüfft über diesen Anruf eines Mannes, den ich vor vierunddreißig Jahren ein paar Minuten lang und danach nie wieder gesehen habe. Was soll das alles?
Er verließ den Ankleideraum, der einstmals Fräulein Demuts Schlafzimmer gewesen war, und ging durch die nun vollkommen anders, ganz modern eingerichtete Wohnung, in der er seit langem allein lebte, zurück in das Arbeitszimmer.
16 Uhr 55.
Erst vier weitere Minuten, insgesamt also zehn, waren vergangen seit dem Anruf des Kaplans, Lindhout mußte noch warten. Man kann sich wohl an ein ganzes Leben erinnern innerhalb einer Sekunde, dachte er, während er an einem der Bücherregale entlangschlurfte auf seinen Sandalen. Die Regale waren bis hinauf zur Decke gezogen, hier in diesem großen und in zwei anderen Räumen gab es wohl an die 9000 Bücher und Schriften.
Was will der Kaplan?
Was ist das für ein Brief einer Toten, den er erhalten zu haben behauptet? Er hat ihn gewiß erhalten, dachte grübelnd der alternde Mann in den ausgebeulten Hosen und dem bequemen Pullover, und nicht zufällig.
Es gibt keinen Zufall, daran glaubte Lindhout fest. Dies hatte ihn bewogen, sich mit den Jahren immer mehr so zu kleiden wie der geniale Einstein — geboren vor hundert Jahren, am 14. März 1879, in Ulm. Zufall? Der große Physiker Werner Heisenberg hatte vor vielen Jahren behauptet, er habe in der subatomaren Physik, also in jener der Elementarteilchen, folgendes festgestellt: Wenn man etwa ein Elektron beobachtet, dann »schießt« man sozusagen mit eben diesem beobachtenden Blick ein »Päckchen« Lichtenergie ab und beeinflußt solcherart bereits die Bahn des Elektrons! Dies aber bedeutet, daß man jeweils nur im »Augenblick« der Betrachtung den Platz des Elektrons festzustellen vermag, nicht aber mehr seine Bahn, von der es jetzt abgekommen war. Und diese Bahn ist »ungenau« — nicht vorhersehbar. Das nannte Heisenberg die »Ungenauigkeitsrelation«, die außerdem den Beobachter allein durch die Tatsache, daß er im Bereich der kleinsten Teilchen beobachtete, bereits in das Naturgeschehen einbezog. Heisenbergs Feststellung schien nun aber folgende Konsequenz zu haben: Die Kausalität, also der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, war im subatomaren Gebiet (und damit eigentlich überall, denn alles geht ja auf die Elementarteilchen zurück) aufgehoben. An seine Stelle war anscheinend der Zufall getreten.
Dagegen aber hatte sich Einstein gewehrt. Er sagte: »Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis, also die Kausalität, bleibt. Man kann alles in endlosen Kausalitätsketten … Wirkung — Ursache — Wirkung — Ursache … rückwärts gleichsam aufdröseln bis zum Anfang der Schöpfung!« Mit anderen Worten: Es gibt nichts, weder einen zu genau bestimmter Zeit ausbrechenden atomaren Weltkrieg noch den zu genau bestimmter Zeit erfolgenden Flügelschlag einer Mücke, die beide im Augenblick des Entstehens der Welt nicht bereits unverrückbar festgelegt gewesen wären.
Welch ein Gedanke! Es war Einsteins tiefste Überzeugung, und in diesem Zusammenhang sagte er den vielzitierten Satz: »Gott würfelt nicht.«
Nein, Gott würfelt nicht, es gibt keinen Zufall. In dieser Überzeugung fühlte sich Lindhout eins mit Einstein, ebenso wie mit dessen Worten: »Ein Leben nach dem Tode kann und mag ich mir nicht denken. Mir genügt das Mysterium der Ewigkeit des Lebens und das Bewußtsein und die Ahnung von dem wunderbaren Bau des Seienden sowie das ergebene Streben nach dem Begreifen eines noch so winzigen Teiles der in der Natur sich manifestierenden Vernunft.«
Dafür, daß er einen dieser »winzigen Teile« begriffen hatte, war Lindhout soeben der Nobelpreis verliehen worden …
2
Lindhout blieb stehen. Wie abwesend starrte der einsame Mann am Nachmittag dieses 23. Februar 1979 auf die grünen Rücken der Gesammelten Werke des Baruch de Spinoza und dachte: Einstein! Die Idee eines persönlichen Gottes hat er niemals ernstnehmen können. Er hielt es da mit jenem Freidenker des 17. Jahrhunderts, den die Jüdische Gemeinde von Amsterdam in Acht und Bann getan hatte — Baruch de Spinoza, dessen Werke Lindhout in letzter Zeit wieder und wieder las. Einsteins Überzeugungen, dachte er nun, waren denen Spinozas verwandt: Bewunderung für die Schönheit und Glaube an die logische Einfachheit der Ordnung und Harmonie, welche wir demütig und nur unvollkommen fassen können …
Er erschrak, als er weiter überlegte, daß dies auch seine Überzeugungen waren. Er — und Spinoza und Einstein! Wie kam er dazu, sich mit diesen Genies zu vergleichen, auch nur in Gedanken?
Brüsk zwang Lindhout sich, an etwas anderes zu denken.
Damals, ja, damals, das war der schwerste Luftangriff auf Wien, an diesem 12. März 1945. Die weltberühmte Oper ist dabei ebenso zerstört worden, dachte er, während er sich wieder in den Sessel vor seinem Schreibtisch sinken ließ und eine Pfeife stopfte, wie das Haus in der Berggasse, direkt gegenüber seiner Wohnung. Er sah durch die Balkonfenster. Ein Gebäude mit glatter Fassade stand jetzt dort. Auch die Oper hat man wieder aufgebaut, dachte er, schon vor vielen Jahren. Gestern ist der alljährliche Opernball gewesen, der Kanzler persönlich hat mich angerufen und in seine Loge eingeladen. Ich habe mich mit der Begründung entschuldigt, daß ich heute nach Stockholm fliegen muß, und, wie ich der Zeitung entnehme, ist auch Kreisky nicht beim Opernball gewesen — eine plötzliche Grippe …
Wie die Zeit vergangen ist! Das also war mein Leben! Ich erinnere mich noch genau an den 12. März 1945. Viele Menschen in Wien, die ihn erlebt haben und noch nicht gestorben sind, erinnern sich wohl. Oder nicht? Eher nicht, entschied er. Die Menschen vergessen so schnell …
Es war ein sehr warmer Tag gewesen, mit Sonnenschein und blauem Himmel. Manche sagten (und sagen noch immer), daß die Alliierten gerade diesen 12. März 1945 ausgewählt hatten, den Vorabend zu jenem 13. März, an dem im Jahre 1938 deutsche Truppen in Österreich eingezogen sind und der »Führer« den »Anschluß« vollzogen hat. Unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Kriegsführung spricht manches für diese Version. Andere freilich sagen, so dachte Lindhout, daß die schweren amerikanischen Verbände nachgewiesenermaßen zuerst Moosbierbaum angeflogen sind, wo große Ölraffinerien lagen. Jenes Ziel ist jedoch durch eine dichte Wolkendecke geschützt gewesen, und so hatten die Bomber das Ausweichziel attackiert, Wien, wo die Sonne schien. Diese Version, dachte Lindhout, hat ebensoviel für sich, wenn nicht mehr. Allerdings: Die amerikanischen Bomber besaßen alle hochentwickelte Bodenradar-Geräte! Man wird wohl nie wissen, welche Version stimmt. Und es ist auch so unendlich gleichgültig …
Jetzt droht Weltkrise!
Sowjets mobilisieren!
Eine Million Mann marschbereit an China-Grenze
Sein Blick war auf die Schlagzeile des KURIER gefallen. Sie haben nichts gelernt aus der Katastrophe, die Menschen, dachte Lindhout. Zu keiner Zeit haben die Menschen aus irgendeiner Katastrophe gelernt. Seit 1945 hat es keinen Tag gegeben, an dem nicht irgendwo in der Welt geschossen, gemordet, gebrandschatzt worden ist. Nicht einen einzigen Tag. Nein, sie sind unbelehrbar. Ergebnis eines Irrwegs der Evolution. Entartete Tiere …
Die Oper ist nur das berühmteste Ziel jenes Tages im März 1945 gewesen, überlegte er und war erstaunt über sein immer noch so intaktes Gedächtnis. Rings um die Oper war es sehr viel blutiger zugegangen. Schon im Eckblock Operngasse-Ring kamen mehr als hundert Menschen im unterirdischen Speisesaal des ehemaligen Restaurants »Dreher«, der als Luftschutzkeller diente, ums Leben, als eine Fünfhundert-Kilo-Bombe alle Stockwerke durchschlug und im Keller explodierte. Noch viel schrecklicher ist es unter dem brennenden »Philippshof« gewesen, wo mehr als zweihundert Menschen in den Kellern eingeschlossen waren. Herabstürzende Mauern, die Glut der Flammen und kopflose, unsinnige Rettungsmaßnahmen haben diesen Menschen ein gräßliches Ende bereitet. Überhaupt erst am Abend ist es den Rettungsmannschaften gelungen, in einen Teil der Keller einzudringen. Da haben sie zunächst an die dreißig Menschen gefunden, die im kochenden Löschwasser zu Tode gesotten worden waren …
Und richtig! Dieser Filmproduzent und dieser berühmte Schauspieler, die, ungeachtet aller Warnungen, mit ein paar Ballettmädchen in eine Luxuswohnung des »Philippshofs« hinaufgestiegen sind, um sich dort zu vergnügen. Im Keller waren alle tot. Aber die Tänzerinnen und die beiden Männer sind ohne jeden Schaden mit dem Leben davongekommen!
Und das bildhübsche Mädchen aus dem »Jockey-Club«! Bergungsmannschaften fanden es erst Tage später. Das Mädchen saß da mit erhobenen Armen, auf einem Tisch. Nur der Kopf konnte nicht mehr gefunden werden …
Es sind hauptsächlich schwere Fünfhundert-Kilo-Bomben geworfen worden, erinnerte sich Lindhout. Der Angriff erfolgte in zwei großen Wellen. Bei der ersten wurden die Oper, die Albertina, der »Philippshof« und das Burgtheater getroffen. Die zweite Bomberwelle zerstörte Häuser auf dem Franz-Josefs-Kai, Häuser auf dem Hohen Markt, die Sakristei des Stephansdoms, das Erzbischöfliche Palais, die Salvatorkirche, die Börse, die Häuser hinter Maria am Gestade und das Schönborn-Palais.
Ich weiß es noch genau, dachte der einsame Mann in dem Zimmer voller Bücher: Am Abend dieses Tages hat man über hundertfünfzig riesige Bombentrichter gezählt und daran zwei Phasen des Ausklinkens der Bomben feststellen können. Allein fünfundsiebzig Trichter lagen in der Nähe der Oper. Die Bergungsarbeiten haben bis Ende März gedauert. Immer wieder flammten Glutnester auf. Es hat alles so lange gedauert, weil ja sofort neue Angriffe gekommen sind, und vor allem, weil sich eine immer größere Erschöpfung und Gleichgültigkeit unter den Bergungsmannschaften verbreitet hat. Das Wegräumen der Trümmer hat noch viel länger gedauert, lange über das Kriegsende hinaus — wie zum Beispiel hier, in der Berggasse. Viele Wochen lang hat der Herr Doktor Siegfried Tolleck unter einem Gebirge aus Stein und Schutt gelegen, bevor man dann fand, was von ihm übriggeblieben war. Und feststellte, daß er ermordet worden war …
Wie seltsam ist dieses unser Leben, dachte Lindhout. Wie seltsam das jedes einzelnen Menschen. Auch meines. Auch das Tollecks. Er ist so siegesgewiß gewesen damals, an jenem 12. März 1945, so unerbittlich, als er kam, hierher in dieses Zimmer, in dem ich an jenem Vormittag arbeitete — es hatten noch keine Sirenen geheult. Ja, da war er hereingekommen, nachdem es draußen geklingelt und gleich danach an meiner Tür geklopft hatte.
»Herein!«
»Da ist ein Herr, der muß Sie unbedingt sprechen«, hatte Fräulein Philine Demut gesagt …
3
»Da ist ein Herr, der muß Sie unbedingt sprechen«, sagte Philine Demut und blinzelte Lindhout erschreckt an. »Wenn die Sirenen heulen«, fügte sie hinzu, »vergessen Sie nicht, in den Keller zu kommen. Ich habe schon ein paarmal sehr große Unannehmlichkeiten gehabt Ihretwegen.«
»Es ist gut, Fräulein Demut«, sagte Lindhout und schloß die Tür. »Guten Tag, Herr Kollege«, sagte er zu Tolleck, der nun vor ihm stand. Lindhout streckte die Hand aus, aber Tolleck ergriff sie nicht. Er trug keinen Mantel, sein Hemd war, wie oft, am Kragen offen. Jetzt wanderte er langsam durch Lindhouts Zimmer und sah sich um.
»Hier wohnen Sie also«, sagte er. Lindhout antwortete nicht. Tolleck öffnete die Glastüren, trat auf den Balkon hinaus und sah in die Tiefe. Es war schon sehr warm an diesem 12. März 1945, sehr warm für Mitte März. »Hübscher Balkon«, sagte Tolleck, sich halb umwendend. Lindhout antwortete nicht. »Wirklich sehr hübsch«, sagte Tolleck, immer noch draußen.
Lindhout setzte sich an den Schreibtisch.
»Wollen Sie nicht auch Platz nehmen, Herr Kollege?« fragte er.
Tolleck nickte, kam lächelnd ins Zimmer zurück, ließ die Balkontüren offen und setzte sich in einen Sessel. Er entdeckte ein Stäubchen auf seiner Jacke und putzte es sorgsam fort.
»Was führt Sie zu mir?« fragte Lindhout.
»Ich stehe im Begriff zu heiraten«, antwortete Tolleck.
Lindhout sagte lächelnd: »Meinen herzlichen Glückwunsch.«
»Danke«, sagte Tolleck. Er entdeckte noch ein Stäubchen und entfernte es. »Ich liebe Irmgard sehr«, erklärte er.
»Das steht zu vermuten«, sagte Lindhout. Etwas ließ ihn nervös werden.
»Leider Gottes ist die Sache nicht so einfach«, erklärte Tolleck. »Ich stehe vor großen Schwierigkeiten.«
»Wieso?«
»Irmgard kommt vom Land.« Tolleck blickte auf. »Die Eltern haben einen großen Hof in der Nähe von Amstetten. Der Hof ist total verschuldet. Die Eltern haben kein Geld. Ich habe auch keines. Wie gesagt: Ich stehe vor großen Schwierigkeiten.«
»Hypotheken?« fragte Lindhout abwesend. Er dachte an etwas ganz anderes als an Hypotheken.
»Bekommen wir keine mehr.«
»Und der Staat?«
»Der Staat hat schon geholfen. Er würde auch weiter helfen, aber dann käme der Hof in fremden Besitz, verstehen Sie, Herr Kollege?«
Lindhout lächelte noch immer.
»Vielleicht leiht Ihnen jemand das Geld, das Sie brauchen?«
Tolleck nickte.
»Ja«, sagte er. »Eben deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Zu mir?« Lindhout hob die Brauen.
»Zu Ihnen«, sagte Tolleck. »Ich bin sicher, Sie werden mir das Geld geben, das ich so nötig brauche.«
Lindhout stand auf, während er lächelnd sagte: »Lieber Herr Kollege, da muß ich Sie leider enttäuschen. Ich kann Ihnen kein Geld geben. Es handelt sich doch gewiß um eine große Summe …«
»Um eine sehr große.«
»Eben. Sie haben einen falschen Eindruck von mir. Ich bin kein reicher Mann. Ich kann Ihnen kein Geld leihen.«
Nun lächelte wiederum Tolleck, als er sagte: »Da gibt es ein Mißverständnis zwischen uns, lieber Herr Kollege. Sie sollen mir kein Geld leihen, Sie sollen mir etwas abkaufen.«
»Ach, aber ich kann doch nichts Teures kaufen!« rief Lindhout und lachte gekünstelt.
»Auch nicht, wenn es von größtem Wert für Sie ist?«
»Auch dann nicht. Ich sage Ihnen doch: Ich habe kein Geld!«
»Aber, aber!« Mit leisem Tadel schüttelte Tolleck den Quadratschädel. »So etwas sollen Sie wirklich nicht sagen, lieber Kollege. Jedermann in Rotterdam weiß, daß Ihre Familie zu den reichsten der Stadt gehörte!«
Lindhout setzte sich wieder an den Schreibtisch. Seine rechte Hand fuhr gedankenverloren über einen Gegenstand, der von Manuskripten verdeckt war. »Was wissen Sie von meiner Familie?« fragte er.
»Es ist eine kleine Welt, in der wir leben, lieber Herr Kollege«, sagte Tolleck. »Ich war doch in kriegswichtigen Aufträgen gerade auf Reisen, nicht wahr?«
»Aber wohl kaum in Rotterdam«, sagte Lindhout. »Das ist doch angesichts der Lage kaum ratsam, zumal dort für uns nicht mehr produziert wird.«
»Natürlich nicht in Rotterdam, lieber Herr Kollege.« Tolleck schüttelte abweisend den Kopf. »Sie dürfen mich nicht für einen Idioten halten. Nein, in Berlin war ich, das wissen Sie doch! Wegen meiner Arbeiten, nicht wahr? Nun, und in Berlin habe ich mich ein bißchen über Ihre Familie erkundigt.«
»Bei wem?«
»Oh, bei holländischen Freunden«, sagte Tolleck vage. »Ich habe eigentlich überall Freunde, und bei einigen von ihnen habe ich mich eben erkundigt.« Er machte eine kleine Pause. »Meine Freunde haben mir auch viel über die Familie de Keyser erzählt.«
»Ich kenne keine Familie mit dem Namen de Keyser«, sagte Lindhout. Die rechte Hand blieb auf dem Gegenstand unter den Manuskripten liegen.
»Ja, dann«, sagte Tolleck, »de Keyser ist ja auch ein sehr häufiger Name in Holland, nicht wahr?«
Irgendwo lief ein Volksempfänger, der Reichssender Wien hatte bereits abgeschaltet, das Weckerticken klang bis in Lindhouts stilles Zimmer.
»Ich dachte, ich sollte Ihnen vielleicht ein wenig über die Familie de Keyser aus Rotterdam erzählen. Und dann können wir sehen, ob diese Familie Sie interessiert. Und ob Sie nicht noch mehr über sie erfahren wollen. Und ob Sie nicht bereit wären, für Informationen über die Familie de Keyser zu zahlen. Viel Geld zu zahlen. Sehr viel Geld …« Tolleck lächelte und entdeckte abermals ein Stäubchen, das er entfernte.
Der Druck von Lindhouts rechter Hand auf den Berg von Manuskripten verstärkte sich — Tolleck konnte es nicht sehen.
»Ich weiß immer gern genau, wofür ich bezahle«, sagte Lindhout ruhig. »Vielleicht sind die de Keysers wirklich eine interessante Familie. Erzählen Sie mir ruhig von ihr, Kollege.«
Das Weckerticken aus dem Lautsprecher des Volksempfängers in der Nähe brach ab, und es meldete sich die Stimme einer Sprecherin. Sie teilte mit, daß ein schwerer feindlicher Kampfverband mit Jagdschutz über Moosbierbaum kreise. Ein zweiter Verband überflog gerade den Neusiedler See. Sollte er seinen Nordkurs beibehalten, so war in Kürze mit Fliegeralarm zu rechnen. Dann tickte wieder der Wecker.
Tolleck preßte die Innenseiten der Handflächen gegeneinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Die de Keysers waren eine alte Bankiersfamilie, seit Generationen«, sagte er träumerisch und betrachtete das Muster, das der Sonnenschein durch die geöffneten Balkontüren auf den Teppich warf. »Man kann allerdings nicht von der Familie de Keyser erzählen, ohne die Familie Lindhout zu erwähnen. Diese beiden Familien waren innig miteinander befreundet, ebenfalls schon seit Generationen, verstehen Sie, lieber Herr Kollege? Innig befreundet!«
»Soso«, sagte Lindhout. »Erzählen Sie weiter.«
Tolleck nickte.
»Ich dachte mir, daß es Sie interessieren wird. Also, wie gesagt: Die Lindhouts und die de Keysers waren seit Generationen miteinander befreundet. Sie wohnten nebeneinander in herrlichen Häusern, die aus dem achtzehnten Jahrhundert stammten — am Van-Hogendorfs-Plein in der Innenstadt. Am innigsten befreundet waren die Söhne der beiden Familien, Philip de Keyser und Adrian Lindhout. Sie sehen mich an, Herr Doktor Adrian Lindhout. Ja, da beginnt die Geschichte nun wirklich interessant zu werden!« Heiter fuhr er fort: »Philip und Adrian studierten zusammen in Paris Chemie. Das stimmt doch, Herr Kollege? Sie haben mit Philip de Keyser, Ihrem besten Freund, in Paris Chemie studiert, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Warum haben Sie mir nie etwas davon erzählt?«
»Es ist mir nie in den Sinn gekommen, Herr Kollege, daß Sie sich für meine Freunde und Studienkameraden interessieren könnten, nein, wirklich, daran habe ich nie gedacht. Das wird wohl die Erklärung sein«, sagte Lindhout.
»Es geht noch weiter«, sagte Tolleck. »Die beiden studierten in Paris, und beide arbeiteten am Institut Pasteur bei Professor Ronnier.«
»Gewiß«, sagte Lindhout. »Das habe ich Ihnen doch an dem Tag erzählt, als wir uns kennengelernt haben — erinnern Sie sich nicht?«
»Sie haben mir nur erzählt, daß Sie bei Professor Ronnier studiert und gearbeitet haben. Von Ihrem Freund Philip de Keyser haben Sie mir nichts erzählt.«
»Ich hatte doch wirklich keine Veranlassung, das zu tun — oder?«
»Sie werden schon Ihre Gründe gehabt haben, darüber zu schweigen, lieber Kollege.«
»Was soll das heißen? Gründe?«
»Aber Herr Kollege! Schauen Sie … ach, ich denke, es ist besser, ich erzähle noch ein wenig weiter …«
»Das denke ich auch«, sagte Lindhout.
»Adrian Lindhout und Philip de Keyser waren nicht nur die besten Freunde«, fuhr Tolleck fast fröhlich fort, »sie studierten nicht nur beide in Paris Chemie, sie arbeiteten nicht nur beide am Institut Pasteur, sie interessierten sich nicht nur gleichermaßen brennend für dasselbe Gebiet — für schmerzstillende Mittel, synthetisch hergestellt, mit Morphinwirkung —, sie waren einander auch äußerlich sehr ähnlich, so ähnlich wie, nun ja, wie Brüder!«
»Tatsächlich«, sagte Lindhout.
»Tatsächlich«, echote Tolleck. »Ich habe Ihnen ja versprochen, daß es eine interessante Geschichte werden wird. Und wissen Sie, was das Interessanteste ist? Es kommt selten genug vor, daß Männer, ohne verwandt zu sein, einander so ähnlich sehen wie Brüder. Im Falle von Adrian Lindhout und Philip de Keyser war die Sache jedoch so!« Er lachte kurz auf. »Sie hätten die ganze Rassentheorie über den Haufen werfen können! Die beiden nebeneinander — das war ein grotesker Scherz der Natur. Ein Fall für die Wissenschaft, wahrhaftig. Ein Phänomen, das auch mich fasziniert.«
»Nämlich?« fragte Lindhout.
»Nämlich«, sagte Tolleck, »die de Keysers waren Juden, hundertprozentige Juden. Und die Lindhouts waren Arier. Aus dem besten Stall. Vorfahren in Schweden und so weiter. Und der Judenbengel sah dem Arier ähnlich wie ein Bruder dem andern!«
»Was Sie nicht sagen.«
»Was ich nicht sage! Unglaublich, was? Diese beiden Freunde kehrten gemeinsam aus Paris nach Rotterdam zurück. Ach ja, einen Unterschied gab es doch, fast hätte ich es vergessen!« Tolleck lachte wieder kurz auf. »Lindhout war verheiratet und hatte ein Kind, ein kleines Mädchen namens Truus.«
Lindhout saß reglos.
»Truus wurde 1935 geboren. Sie ist jetzt also zehn Jahre alt. Nun ja, wie dem auch immer sei. Die beiden Freunde arbeiteten in einem großen Rotterdamer Laboratorium weiter bis zum 14. Mai 1940. Da bombardierte nämlich unsere Luftwaffe die Stadt.«
»Und zerstörte sie«, sagte Lindhout klanglos.
»So ist es, lieber Herr Kollege. Als die Sirenen heulten, da gingen die Menschen natürlich alle in die Keller. Das Haus der de Keysers hatte einen großen Keller — sie waren Weinkenner und -liebhaber, die de Keysers, und sehr viele Menschen wanderten dort hinab — auch die Familie Lindhout.«
»Erstaunlich, was Sie alles wissen«, sagte Lindhout.
»Nicht wahr, Herr Kollege?«
»Nun erzählen Sie mir bloß noch, daß diese beiden Freunde, Adrian und Philip, von derselben Bombe getötet worden sind.«
Tolleck lachte herzlich.
»Sehr gut!« rief er. »Nein, das werde ich Ihnen nicht erzählen! Hier versagte sozusagen nämlich die Eigenwilligkeit des Lebens, haha. Die Bombe kam, gewiß. Aber sie traf nur einen der Freunde und tötete ihn. Sie tötete den Doktor Adrian Lindhout!«
In diesem Augenblick begannen die Sirenen zu heulen.
4
»Sie wollen tatsächlich in den Keller?« fragte Tolleck.
»Keineswegs. Ich habe das nur gesagt, um das Fräulein loszuwerden. Wir sind doch auch im Institut bei Alarm sehr oft nicht in den Keller gegangen, nicht wahr?«
»Vielleicht langweile ich Sie, Herr Kollege«, sagte Tolleck. »Wollen Sie wirklich nicht in den Keller gehen?«
»Wirklich nicht«, sagte Lindhout. »Es sei denn, Sie wollen.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Tolleck. Er betonte das persönliche Fürwort.
Lindhout sagte: »Sie haben sich eben versprochen. Sie meinen: Die Bombe tötete den Doktor Philip de Keyser!«
Tolleck schüttelte den Kopf.
»Ich habe mich nicht versprochen. Glauben Sie, ich verkaufe Schund? Es sind erstklassige Informationen, die ich verkaufe. Die Bombe tötete den Arier Adrian Lindhout. Der Jude Philip de Keyser blieb am Leben.«
»Also bin ich tot!« Lindhout verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Ah, sehen Sie! Es wirkt schon!« Tolleck nickte zufrieden. »Ich vermag mich gut in Ihre Lage zu versetzen. Alle Menschen im Keller waren tot. Tot bis auf den Juden de Keyser. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen: und bis auf die kleine Truus Lindhout. Fünf Jahre war sie alt damals, nicht wahr?«
Er weiß tatsächlich alles, dieser Hund, dachte Lindhout und schauderte. Alles? Nicht alles! Von meiner Frau hat er nicht gesprochen, von Rachel. Darüber haben ihm seine Freunde wohl nichts erzählen können, denn Rachel ist damals schon seit ein paar Monaten nicht mehr in Rotterdam gewesen. Wir haben sie versteckt, auf dem Land. Aber sonst — was mache ich jetzt? Er will mich erpressen, das ist klar. Ich habe kein Geld. Also wird er mich bei der Gestapo anzeigen. Nicht nur mich. Er wird auch von der kleinen Truus erzählen. Man wird sie suchen. Und finden. Die Gestapo wird sie finden bei Frau Penninger. Was geschieht dann mit Frau Penninger und mit Truus? Und mit mir? Umbringen wird man uns — so knapp vor dem Ende des Schreckens. Nachdem so viele Jahre lang alles gutgegangen ist. Ich kann die Pistole genau spüren unter den Manuskripten. Alle sind im Luftschutzkeller. Wenn ich dieses Schwein gleich erschieße? Die beste Lösung! Die beste Lösung? Was mache ich mit der Leiche? Wo verstecke ich sie? Und Fräulein Demut hat diesen Schuft gesehen, sie wird erzählen, daß ein Mann bei mir war, sie hat ihm die Türe geöffnet, diesem Tolleck. Warten. Noch ein wenig warten. Was sagt das Schwein da?
Tolleck sagte gemütlich: »Tja, alle tot, und der Jude und Truus am Leben. Hübsch, nicht? Es kommt noch hübscher! Der Jude dachte, er ist mit dem kleinen Mädchen allein am Leben geblieben in dem Keller, ja, das dachte er, der dumme Jude. Aber da irrte er sich. Da war noch ein Mann.« Na also, dachte Lindhout. Ich wußte ja, daß ich noch warten muß. Natürlich war da noch ein anderer Mann, wer sollte dem Schwein sonst alles so genau erzählt haben? Verflucht, diesen anderen Mann habe ich übersehen. Wahrscheinlich hat er sich totgestellt und mich beobachtet, mich und Truus.
»Dieser andere Mann«, sagte inzwischen Tolleck lächelnd, »hat mir den wichtigsten Teil der Geschichte erzählt. Andere Leute haben mir andere Teile erzählt. Aber der wichtigste Teil stammt von dem Mann, der damals in dem Keller überlebte. Er lebt noch immer. Es war gar nicht so einfach, ihn zu bewegen, seine Geschichte zu erzählen. Ich hatte Unkosten. Ziemlich hohe Unkosten.« Tolleck sah aus dem Fenster. »Also kommen die Scheißer heute, oder kommen sie nicht?«
»Vielleicht kommen sie nicht«, sagte Lindhout. »Reden Sie weiter.«
»Weiter, ja«, sagte Tolleck. »Dieser Mann, den ich nun in Berlin traf, wurde damals durch den irrsinnigen Druck bei der Explosion der Bombe gegen eine Wand des Kellers geschleudert und war ohnmächtig geworden. Er kam erst nach einer Weile wieder zu sich …« Na also, dachte Lindhout. »Aber er hat alles gesehen, alles. Ich habe keinen Grund, seinen Bericht anzuzweifeln. Der Mann da in Berlin ist einer unserer besten Gefolgsleute! Die Partei schenkt ihm volles Vertrauen.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Lindhout. Aber Ironie, und sei es auch noch so plumpe, war an Tolleck verschwendet. »Was also hat er Ihnen im Detail erzählt?«
»Bis ins Detail hat er mir erzählt, daß der Jude de Keyser sich zwischen den Leichen in dem getroffenen Keller bis auf die Haut auszog und seine Sachen zu Boden warf …«
Ja, dachte Lindhout, das stimmt, das habe ich getan. Tollecks Stimme wurde plötzlich sehr leise für ihn, als die Erinnerung an diesen 14. Mai 1940 — den schlimmsten Tag seines Lebens, wenn das nicht der Tag gewesen war, an dem er von Rachels Tod erfahren hatte durch »Fred« am Vormittag des 24. Dezember 1944 —, als die Erinnerung an jene Stunden des Grauens nun vor ihm lebendig wurde. Genauso ist es gewesen. Der Keller voller Rauch und Staub und Qualm und voller Toter, vieler Toter, es war ein großer Keller, und die Eingänge alle zusammengestürzt, auch die Notausgänge, ich hörte, wie sie draußen hämmerten und gruben und klopften, um zu sehen, ob noch jemand im Keller am Leben war. Und es stimmt, ich habe mich bis auf die Haut ausgezogen …
5
… und meine Kleider zu Boden geworfen. Vollkommen nackt stand ich da — in dem großen Keller unseres Hauses. Ich, Philip de Keyser, der Jude.
Ich, der Jude Philip de Keyser, der seit langem wußte, was ihn, den Juden, erwartete, wenn die Deutschen nun Holland besetzten. Ich hatte mich schon abgefunden damit, daß ich nur noch ganz kurze Zeit zu leben hatte, daß ich niemals meine Arbeiten würde beenden können. Hatte ich mich damit abgefunden? Nein, ich hatte mich nicht damit abgefunden, voll Angst und Schrecken hatte ich der Zukunft entgegengesehen, denn ich wollte leben, ich wollte arbeiten, ich wollte meine Forschungen zu einem guten Ende und damit zum Erfolg bringen, gemeinsam mit meinem Freund Lindhout, meinem besten Freund Adrian, der, neben seiner Frau und zehn, zwölf anderen Menschen tot vor mir lag — der Luftdruck der Bombe, die unser Haus traf, hatte allen diesen Menschen die Lungen zerfetzt. Mir nicht. Es war ein Wunder, daß ich noch lebte — ich werde niemals begreifen können, warum der Luftdruck nicht auch meine Lunge zerriß, warum nicht auch ich tot dalag. Die Decke des Kellers war zum größten Teil heruntergebrochen. Unter den Trümmern lagen gewiß an die fünfzig Menschen. Kein Laut. Kein Schrei. Kein Ächzen. Kein Stöhnen. Totenstille. Die deutschen Bomber hatten abgedreht, der Angriff war vorüber, die Stadt Rotterdam war ein Trümmerhaufen. Meinen Freund Adrian gab es nicht mehr. Seine Frau Elisabeth gab es nicht mehr. Meine geliebte Frau Rachel hatte ich, in Voraussicht des Kommenden, schon vor Monaten aufs Land gebracht, zu guten Freunden, in der Nähe von Den Haag, in ein kleines Dorf. Darum lebte Rachel noch. Noch.
Und auch ich lebte noch, Gott allein weiß, warum. Ich mußte husten, der Keller war voller Rauch und Staub und Qualm.
Nun kam das Schlimmste. Ich zog auch meinen besten Freund Adrian vollkommen nackt aus. Ein Toter ist schwer auszuziehen, ich war in Schweiß gebadet, als ich es geschafft hatte. Das war aber noch lange nicht alles. Ich mußte Adrian wieder anziehen. Mit meinen Kleidungsstücken — mit Unterwäsche, Strümpfen, Hemd, Anzug, Schuhen. Das Ärgste war es, als ich ihm meine Krawatte knüpfen mußte, ihm, dem Toten, meine Krawatte. Das war der Moment, in dem ich dachte, ich könne es nicht länger ertragen, der Moment, in dem ich dachte: Ich lasse alles sein und lasse mich eben abschlachten wie Vieh, wenn die Deutschen nun kommen. Und das war der Moment, in dem ich die kleine Truus sah.
Die kleine Truus kauerte in einer Ecke des nicht eingestürzten Kellerteils, das Gesicht ausdruckslos, der Blick auf mich gerichtet. Ich fühlte mein Herz wie einen Hammer klopfen. Die kleine Truus hatte überlebt. Wie ich.
6
Von da an betrug ich mich wie ein Roboter. Ich hatte plötzlich keine Gefühle mehr. Ich hatte plötzlich kein Empfinden mehr für das Entsetzliche, das da geschehen war, für das Furchtbare, das ich tat, um mein Leben zu retten. Ich handelte im Zustand des absoluten Schocks.
Ich leerte alle Taschen meines Anzugs, den nun Adrian trug, und legte Geld, Brieftasche, Papiere, Schlüssel und alles, was ich fand, einfach auf den Boden. Und Truus sah mir dabei zu. Danach zog ich alle Kleidungsstücke meines toten Freundes Adrian Lindhout an. Und Truus sah mir dabei zu. Ich band Adrians Krawatte um meinen Hals, so wie ich meine Krawatte um Adrians Hals gewunden hatte. Und Truus sah mir dabei zu. Ich leerte alle Taschen von Adrians Anzug und paßte dabei genau auf, daß ich auch nicht eine Münze vergaß, und danach steckte ich alle Gegenstände, die dem toten Adrian gehört hatten, die Brieftasche, die Papiere, das Taschentuch, Banknoten und Kleingeld, sorgsam in meinen Anzug, der natürlich Adrians Anzug war. Und meine Brieftasche, alle meine Papiere, Geldnoten, Füllfeder und was es noch gab und was mir gehörte, verwahrte ich sorgsam in den Taschen meines Freundes Adrian, der mit weit geöffnetem Mund auf dem Rücken lag, direkt neben seiner toten Frau Elisabeth. Und die kleine Truus sah mir dabei zu.
So wurde aus mir, dem Juden Philip de Keyser, in weniger als zehn Minuten der Arier Adrian Lindhout. Ja, so war es. Ich verfügte — verständlich bei einem Biochemiker — über einige medizinische Kenntnisse und war fast hundertprozentig sicher, daß der Zustand der Starre bei der kleinen Truus noch lange anhalten würde. Ein fünfjähriges Kind weiß nicht, was das ist, der Tod. Sie zeigte nicht die geringste Reaktion. Sie schrie nicht, sie weinte nicht, sie warf sich nicht über die tote Mutter, den toten Vater. Sie saß da in der Ecke, reglos, ausdruckslos, wie eine Puppe. Die Reaktion würde natürlich noch kommen, das wußte ich. Aber später. Und anders, als man es sich vorstellt, das wußte ich auch. Und endlich wußte ich dies: Truus hatte Mutter und Vater, Großvater und Großmutter verloren in der letzten halben Stunde, alle ihre Verwandten. Sie stand nun allein da in dieser Welt des Grauens — ganze fünf Jahre alt. Es war mir sofort und absolut klar, daß nun ich mich um das Kind kümmern mußte. Es gab keinen anderen Weg.
Stunden später gruben sich die Rettungsmannschaften zu uns durch und befreiten Truus und mich. Ich nahm das Mädchen an der Hand. Finsternis herrschte unter der Sonne. Nacht am Tag war es in Rotterdam am 14. Mai 1940, als Rotterdam starb. Ich zog Truus hinter mir her ins Freie. Und da war Qualm, da waren Brände, da waren Trümmer, Verwüstung und Tod. Und da war ich, der Jude Philip de Keyser, in meinem neuen Leben kein Jude mehr, in meinem neuen Leben der »Arier« Adrian Lindhout …
7
»… und dieser Mann, der mir das alles erzählt hat, dieser Mann, der auch im Keller gewesen ist und mit dem Leben davonkam, hat das alles mitangesehen …« Von weit her drang eine Stimme an Lindhouts Ohr, der am Schreibtisch seines Zimmers in der Wohnung von Fräulein Philine Demut an der Berggasse, Neunter Wiener Gemeindebezirk, saß. Er fühlte heftigen Schwindel. Wer sprach da? Wo war er? Sein von Schlieren und Schleiern des Gedenkens an jenen entsetzlichen Tag verhängter Blick wurde langsam klar, faßte den Raum, erkannte den Mann, der da sprach, wahrscheinlich schon immer gesprochen hatte, während er wie in Hypnose versunken war. Da saß er, der Herr Doktor Siegfried Tolleck. Die Sonne schien durch die geöffneten Balkontüren. Von weither ertönten Explosionen, und endlich wußte der Jude Philip de Keyser, aller Welt seit jenem grauenvollen Tage als Adrian Lindhout bekannt, daß er mit der gnadenlosen Gegenwart konfrontiert wurde durch diesen Mann mit dem Quadratschädel und den mächtigen Kiefern, durch diesen Herrn Erpresser Doktor Siegfried Tolleck. Und er fühlte, unter seiner Hand, die harte, von Manuskripten verdeckte Pistole.
»Unglaublich, daß ich gerade diesen Menschen in Berlin gefunden habe und mit ihm reden konnte, nicht wahr? Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfachmann. Viele Holländer leben jetzt in Berlin. Schließlich sind Sie ja auch nach Berlin geholt worden, Herr Kollege, nicht wahr? Aber dieser eine, dieser besondere Mann … das war schon ein unheimlicher Zufall, wie?«
Und der Mann, der nun seit Jahren als Doktor Adrian Lindhout gelebt und gearbeitet hatte, schwieg und dachte: Nein, es war kein Zufall, und ein unheimlicher schon gar nicht. Es gibt keinen Zufall, davon bin ich als Wissenschaftler überzeugt. Im Augenblick der Entstehung dieser Welt ist bereits alles, alles vorausbestimmt gewesen …
»… er hat mir gesagt, daß ihm ganz schlecht geworden ist, als er mitangesehen hat, wie da der Jude den Arier aus- und wieder anzog, speiübel ist ihm geworden vor soviel jüdischer Skrupellosigkeit, Gemeinheit und Feigheit …«
Und der Mann, der nun seit Jahren als Doktor Adrian Lindhout gelebt und gearbeitet hatte, schwieg.
»… er hat gewußt, daß es der Jude war, der überlebt hatte, denn er hörte vor dem Bombeneinschlag, wie man diesen Juden ansprach — nämlich als Philip de Keyser — pardon: als Doktor de Keyser natürlich …«
Und immer noch schwieg der Mann, der seit Jahren als Doktor Adrian Lindhout gelebt und gearbeitet hatte.
»… Dieser Mann hat mir erzählt«, berichtete Tolleck unentwegt lächelnd, »daß er sich mit Absicht totstellte und nicht regte, denn er hatte Angst, der Jude, der sich da zum Arier ummontierte, würde ihn töten, sobald er entdeckte, daß dieser Mann noch lebte. Ich finde, es war sehr klug von diesem Mann, sich totzustellen, denn wenn er ein Zeichen des Lebens von sich gegeben hätte, wäre er bestimmt von dem Juden umgebracht worden.«
»Gewiß wäre er das«, sagte der Mann, der seit Jahren als Doktor Adrian Lindhout gelebt und gearbeitet hatte, und dachte: Vergib mir, mein Freund Adrian, vergib mir, was ich getan habe. Und Gott? Gott muß mir auch vergeben, das ist sein Beruf. Er sagte: »Trotz allem, ich denke, es wird sehr schwer sein, diese Geschichte zu beweisen.«
»Ich denke, es wird sehr leicht sein«, sagte Tolleck. »Der Jude de Keyser hatte nämlich, noch in Paris, einmal einen Autounfall und seitdem eine große Narbe am Oberschenkel. Der Mann im Keller hat diese Narbe gesehen.« Nach einer Pause fügte Tolleck hinzu: »Zum Kotzen, wie lange das heute dauert.« Er sah auf die Uhr. »Wollen wir nicht doch in den Keller gehen?« fragte er grinsend.
»Ich möchte Ihre Geschichte zu Ende hören«, sagte der Mann, der sich van Lindhout nannte, wir wissen nun, warum.
»Schön. Obwohl es da nicht mehr viel zu erzählen gibt. Der Mann, der als Jude den Keller betreten hatte, verließ ihn als Arier. Nichts konnte ihm nun mehr geschehen. Ein feiger Hund. Ein Jude eben. Nur auf die eigene Sicherheit bedacht. Zitterte, daß ihm etwas passierte. Nun, es passierte ihm nichts. Nicht das geringste. Im Gegenteil, er konnte seine Forschungen fortsetzen, wurde nach Berlin geholt, dann nach Wien geschickt.« Tolleck lachte. »Er sitzt mir jetzt gegenüber. Offenbar hat er die Tochter seines besten Freundes verschwinden lassen, denn Truus tauchte nicht mehr auf. Vielleicht hat er sie umgebracht, vielleicht versteckt er sie, damit sie ihn nicht verrät.« Tolleck neigte sich vor. »Sie müssen doch zugeben, daß Sie ein feiger Hund gewesen sind, Herr Doktor Philip de Keyser, nicht wahr?«
Lindhout sah ihn nachdenklich an. Das kleine Mädchen, dachte er. Meine geliebte Truus. Was habe ich mit ihr erlebt, was hat sie mitgemacht! Bei wie vielen Menschen war sie versteckt, bis ich Rotterdam verlassen mußte. Wie lange hat allein der gute Doktor Stok, unser Hausarzt, sie bei sich versteckt gehalten, als sie begann, nachts schreiend aus dem Schlaf zu fahren, als sie immer wieder krank war, weil sie plötzlich anfälliger wurde, als sie ihre Nägel zerbiß … all das kam erst später. Bei Doktor Stok. Er hat sie mir erklärt, diese Symptome, die mit dem Tod der Eltern nur scheinbar nicht direkt in Verbindung standen. Es war die Reaktion darauf. Ein fünfjähriges Kind kann sich den Zustand des Todes eben nicht vorstellen. Erst mit sieben Jahren, in Berlin, hat sie mich gefragt, wo denn ihre Eltern sind. Und ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Sie hat geweint, viele Tage und Nächte lang. Und sich zuletzt beruhigt und gesagt: »Nun bin ich ganz allein auf der Welt. Nun habe ich nur noch dich. Aber du sagst, wenn man daraufkommt, wer du in Wirklichkeit bist, verliere ich auch dich, denn man wird dich töten, weil du ein Jude bist. Was ist das, ein Jude?« — »Dazu bist du noch zu jung«, habe ich erwidert. »Du mußt mir jetzt alles glauben, dann wirst du mich auch nicht verlieren. Damit niemand daraufkommt, daß wir nicht miteinander verwandt sind, werden wir dich verstecken müssen, Truus.« — »Lange?« — »Eine ganze Weile. Aber es wird vorübergehen, Truus.« — »Dann lebe ich eben versteckt«, hat sie gesagt, »ich tue nur, was du sagst. Damit ich dich nicht auch noch verliere. Denn sonst habe ich niemanden mehr. Und dich, dich habe ich doch so lieb, Philip.« — »Nicht Philip«, habe ich gesagt, »nie mehr Philip, wirst du dir das merken?« — »Bestimmt, verzeih! Adrian muß ich natürlich sagen. Denn als Philip würden sie dich töten!« — Niemals wieder hat Truus mich Philip oder Vater genannt, immer nur Adrian. Und alles ist gutgegangen, denn immer sind da Menschen gewesen, die uns geholfen haben. Aber jetzt? dachte Lindhout in Panik. Aber jetzt, wo dieser Hund die Wahrheit herausgefunden hat? Jetzt wird man sie suchen, die kleine Truus, und man wird Frau Penninger zur Rechenschaft ziehen dafür, daß sie das Kind versteckt hält. Und wir werden zugrunde gehen, wir Erwachsenen, und weiß Gott, was mit Truus dann geschieht — fünf Minuten vor zwölf? Nein, dachte er verzweifelt, nein, das darf nicht sein. Ich muß Frau Penninger schützen. Und Truus. In all den Jahren habe ich sie liebgewonnen wie ein Vater, und sie liebt mich wie einen Vater …
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie nicht auch finden, daß Sie ein feiger Hund gewesen sind, Herr de Keyser«, sagte Tolleck lächelnd.
Danach hast du gefragt, ja, dachte Lindhout. Von Truus hast du nichts mehr gesagt. Die ist dir jetzt nicht so wichtig, wie ich es bin. Die kommt später dran, wenn ich nicht tue, was du verlangen wirst. Ein Kind kann man nicht um sehr viel Geld erpressen, das ist es. Lindhout stand auf.
Warm und mild war die Luft, die durch die offenen Balkontüren kam, hell schien die Sonne …
»Wissen Sie«, sagte er leise, »1938 habe ich damit begonnen, an meiner Aufgabe zu arbeiten — an der Aufgabe von mir und meinem Freund Adrian natürlich, heißt das. Aber Adrian wurde von einer Bombe getötet.« Adrian Lindhout ging im Zimmer auf und ab, langsam, er setzte Schritt vor Schritt. »Jetzt haben wir 1945. Sieben Jahre habe ich an dem Problem gearbeitet. Das ist eine lange Zeit. Man will da nicht plötzlich aufhören, weiterzuarbeiten. Ich denke, Sie werden das nicht verstehen, Tolleck, aber ich bin der Ansicht, daß es wichtiger ist, Mittel für das menschliche Leben zu entwickeln, als Mittel für den menschlichen Tod. Ich habe das Leben gerne, weil ich in ihm bislang arbeiten durfte, und ich habe zu lange gearbeitet, als daß ich mich nun von einem dreckigen Schwein unterbrechen ließe.«
»Sie haben mich ein dreckiges Schwein genannt, Keyser«, sagte Tolleck, immer weiter lächelnd, »aber das tut nichts. Das trifft mich nicht. Ein Jude kann mich nicht verletzen, überhaupt nicht, niemals. Zudem haben wir alle ein ethisches Mäntelchen für das, was wir tun, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Lindhout, »Sie auch, Sie selbstverständlich auch, Sie widerlicher Spitzel.«
»Wir wollen diese Charakterisierungsversuche doch lieber bleibenlassen, gelt«, sagte Tolleck, und nun war sein Lächeln weggewischt. »Ich möchte mich jetzt nur noch so kurz wie möglich mit Ihnen unterhalten.«
»Weil Sie ein Herrenmensch sind«, sagte Lindhout und nickte. »Ich bin ein Untermensch. Es ist nicht meine, es ist Ihre Rasse, die diese Welt in eine erleuchtete Zukunft führen wird.«
»Achtung, eine Luftlagemeldung«, klang die verwehte Frauenstimme aus irgendeinem Radio. »Der erste feindliche Kampfverband kreuzt mit wechselnden Zielen über der Stadt. Bombenabwürfe im Vierzehnten, Fünfzehnten, Sechzehnten und Neunzehnten Bezirk. Der zweite schwere feindliche Kampfverband fliegt vom Westen her das Stadtgebiet an …«
»Scheiß auf die Rasse«, sagte Tolleck, »was ist mit dem Geld?«
»Nichts.«
»Sie wollen nicht zahlen?«
»Ich kann nicht zahlen. Ich habe das Geld nicht.«
»Schön«, sagte Tolleck, »dann gehe ich eben nach dem Angriff zur Gestapo.«
Neue Detonationen, näher.
»Und die Gestapo wird Ihre Geschichte glauben?«
»O ja«, sagte Tolleck.
»O nein«, sagte Lindhout. »Sie vergessen, daß ich ein geachteter Wissenschaftler bin, der für das Großdeutsche Reich sehr wertvoll ist.«
»Sie vergessen, daß Sie ein beschissener holländischer Jude sind, der sich auf ekelerregende Weise einen neuen Namen und eine neue Identität zugelegt hat, um seine dunklen Geschäfte weiterverfolgen zu können.«
Das Krachen wurde lauter.
»Um weiterarbeiten zu können«, sagte Lindhout ruhig. »Aber das ist ganz nebensächlich. Gar nicht nebensächlich ist, daß Sie keinerlei Beweis für Ihre Behauptungen haben.«
»Habe ich die nicht?« Tolleck nahm einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Jacke und aus dem Umschlag einen engbeschriebenen Bogen weißes Papier. »Das hier«, sagte er, »ist die Aussage des Mannes im Keller, von dem ich Ihnen erzählte. Eine beeidete Aussage! Und wie gesagt, der Mann hat einen hohen Posten in Berlin.« Tolleck lächelte nun wieder. »Und wie steht es mit der wulstigen Narbe am Bein, die dem Juden Keyser von einem Autounfall blieb? Die Gestapo braucht Ihnen nur die Hosen auszuziehen.« Etwas fiel ihm ein. »Der Mann, von dem ich die Informationen habe, muß natürlich auch einen Teil des Geldes erhalten, das Sie für diesen Bogen bezahlen werden.«
»Ich glaube nicht, daß ich ihn kaufen werde.«
»Ich glaube schon.«
Nun waren die Detonationen und das Flakfeuer sehr stark geworden. Die beiden Männer standen einander gegenüber.
»Sie irren sich, Tolleck«, sagte Lindhout. »Ich werde dieses Papier nicht kaufen. Welchen Sinn hätte das? Wer weiß, ob Sie nicht Kopien dieses Briefes besitzen? Wer weiß, ob Sie mich weiter erpressen werden?«
»Das weiß natürlich niemand.«
»Eben.«
»Ich brauche Geld«, sagte Tolleck. »Wenn ich das Geld von Ihnen bekomme, werden Sie nichts mehr von mir hören. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»O ja?« sagte Lindhout und trat näher an den vollgeräumten Tisch heran, während die Serie von Explosionen ihren Fortgang nahm und plötzlich abriß. »Ihr großes deutsches Ehrenwort, ja?«
Tolleck schwieg.
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihr sanftes Gemüt verletzt habe«, sagte Lindhout.
»Sie wollen das Papier nicht?«
»Wieviel verlangen Sie dafür?«
»Ihre Familie hat immer noch Güter und Liegenschaften in Holland, auch wenn sie tot ist. Sie sind der Erbe, Herr de Keyser, pardon, ich meine natürlich Herr Lindhout. Sagen wir also hunderttausend Mark.«
»Nein«, antwortete Lindhout. Es ist ausgeschlossen, dachte er, es bleibt mir keine Wahl. Ich muß an Truus denken und an Frau Penninger und an meine Arbeit und an mich. Und ich habe das Geld nicht. Seine rechte Hand tastete nach der verborgenen Pistole. »Tolleck«, sagte er, »ich habe Ihnen bereits erklärt, daß man nach so vielen Jahren nicht eine Arbeit aufgeben kann, von der man besessen ist. Glauben Sie mir: Ich werde nicht aufhören! Es gibt nichts, was mich dazu bringen könnte. Wirklich nichts. Und Sie am wenigsten, Tolleck.«
Nun blaffte wieder die Flak, und die Bombendetonationen wurden sehr laut.
»Ich kann es versuchen«, sagte Tolleck. Plötzlich sah er die Pistole in Lindhouts Hand. »Seien Sie kein Idiot!« rief er.
»Geben Sie mir das Papier oder ich schieße!« sagte Lindhout.
Schnell trat Tolleck nach hinten, auf den Balkon hinaus.
»Schießen Sie doch!« rief er. »Schießen Sie doch, wenn Sie es wagen!« Den Briefbogen hielt er in einer ausgestreckten Hand.
Lindhout trat auf ihn zu.
In das Geräusch der Flak-Abschüsse mischte sich jetzt das Dröhnen eines anfliegenden Bomberverbandes.
»Weg mit der Pistole, oder ich schreie, so laut ich kann!« brüllte Tolleck draußen, auf dem Balkon.
»Kommen Sie herein«, schrie Lindhout.
Tolleck, auf dem Balkon, öffnete den Mund, um loszuschreien. In diesem Augenblick schoß Lindhout.
Und in diesem Moment, aber das wußte er nicht, hatte Fräulein Demut seine Zimmertür geöffnet und sah bebend vor Entsetzen mit an, was noch geschah — dies: Lindhout schoß das Magazin der Pistole leer. Tolleck, auf dem Balkon, wandte sich mit einem unendlich verwunderten Gesicht halb um — Philine Demut sah es ganz deutlich! —, dann kippte er über das steinerne Geländer nach hinten. Seine Hand hielt noch immer den Brief umklammert, als er auf die Straße stürzte.
Ein neues Geräusch erklang, ein dünnes Pfeifen (Lindhout kannte es wohl und duckte sich), das schnell in ein gefährliches Trommeln überging, rapide an Stärke zunahm und zu einem ohrenbetäubenden Donnerschlag wurde.
Obwohl er sich geduckt hatte, flog Lindhout durch den Luftdruck der explodierenden Bombe durch das ganze Zimmer und prallte mit dem Rücken schmerzhaft gegen eine Wand. Er keuchte. Er sah, daß die Bombe das Haus direkt gegenüber getroffen hatte. In einer riesigen Staubwolke waren die Trümmer auf die Gasse geflogen und türmten sich zu einem mächtigen Gebirge. Lindhout rannte auf den Balkon. Unter dem Schuttberg lag der Mann, den er soeben erschossen hatte, lag der Chemiker Dr. Siegfried Tolleck.
Lindhout wurde von einem wahnsinnigen Lachen geschüttelt.
Glück muß der Mensch haben, dachte er. Glück!
Dann hörte er ein neues Pfeifen und rannte so schnell er konnte aus dem Zimmer und aus der Wohnung.
8
Als Fräulein Philine Demut wieder zu sich kam, lag sie im Luftschutzkeller, den Kopf in Lindhouts Schoß gebettet. Verzweifelt versuchte sie, sich zu erheben — sie war zu schwach dazu.
»Da haben S’ noch amal Glück gehabt«, sagte eine böse Männerstimme. Philine blinzelte. In dem flackernden elektrischen Licht erkannte sie Franz Pangerl, Luftschutzwart, Parteigenosse und Blockwart, der sich über sie neigte. Philine wollte etwas erwidern, aber selbst dazu war sie zu schwach. So sank sie in Lindhouts Schoß zurück und schloß die Augen.
»Wo haben Sie sie gefunden?« fragte Pangerl.
»Auf der Treppe. Ich kam gerade herunter«, sagte Lindhout. Philine unterdrückte einen plötzlich aufsteigenden starken Brechreiz und würgte heftig.
»Nanana«, sagte Pangerl rügend.
Der Narr! Er weiß nicht, mit wem er spricht! Er weiß nicht, dachte Philine, daß ich im Schoße eines Mörders liege.
»Und Ihr Besuch?«
»Was für ein Besuch?« fragte Lindhout.
»Der Mann, der wo bei Ihnen war«, sagte Pangerl ungeduldig. »Das Fräulein Demut hat gesagt, ein Mann ist bei Ihnen gewesen. Ein Besucher. Sie hat ihn selber hereingelassen.«
Eine Pause folgte. Philine hörte, weit entfernt, Detonationen.
»Ach der!« Lindhout lachte kurz. »Der hat auch Glück gehabt! Er ist rechtzeitig fortgegangen!«
Wie dieser Mann lügt! dachte Philine in ohnmächtiger Empörung, wie der lügt!
»Hoffentlich hat’s ihn nicht auf der Straße erwischt«, sagte Pangerl.
»Ja, hoffentlich nicht. Ich glaube es nicht. Er ist ziemlich früh gegangen. Er hat sicherlich Zeit gehabt, sich in Sicherheit zu bringen.«
Hochwürden! dachte das Fräulein. Warum ist Hochwürden nicht da? Das schreit ja zum Himmel! Das ertrage ich nicht mehr …
»Ich …« Sie richtete sich mühsam auf und rang nach Luft.
»Ruhig, ruhig, nicht sprechen«, sagte Pangerl und drückte sie zurück. »Von nun an wenigstens werden S’ mir folgen, Fräulein Demut, wie?«
Philine blinzelte.
»Ich hoffe, das war Ihnen eine Lehre«, verkündete Pangerl mit strenger Stimme.
»Ganz bestimmt«, sagte Lindhout. Philine bewegte verzweifelt den Kopf. Danach verlor sie wieder das Bewußtsein.
Der Alarm war bald danach zu Ende. In der Umgebung waren ein paar Menschen durch den Luftdruck der in der Berggasse detonierenden Bombe ums Leben gekommen — und alle, die sich im Keller jenes getroffenen Hauses befunden hatten. Am Eck Währingerstraße brannte ein Dachgeschoß. Feuerwehren und Rettungsautos kamen zwischen Trümmern nur langsam voran. Als die Sirenen endlich ‘Entwarnung’ heulten, rannten viele Menschen schreiend ins Freie. Manche kletterten auf dem Schuttgebirge herum, das einmal das Haus in der Berggasse gewesen war.
Philine wußte von all dem nichts. Sie kam erst wieder zu sich, als sie, angezogen, auf ihrem Bett lag. Sie war allein. Ihr Zimmer hatte keine Fensterscheiben mehr, überall lagen Splitter herum, der eine Türflügel war herausgerissen. Philine fror. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Es war dämmrig, die Luft erfüllt von einem schweren Geruch nach schwelendem Holz und Staub. Philine hörte Männer schreien und Frauen weinen. Sie rief ein paarmal mit schwacher Stimme um Hilfe, doch niemand antwortete ihr. Die haben mich heraufgebracht aus dem Keller und dann einfach vergessen, dachte sie und begann zu weinen.
Sie weinte lange, leise und kraftlos, und dann betete sie ein Vaterunser. Nach dem Vaterunser betete sie drei Rosenkränze, und dann rief sie wieder um Hilfe. Es war inzwischen dunkel geworden. Das elektrische Licht funktionierte nicht, und durch die zerschlagenen Fensterscheiben kam kalter Abendwind.
Philine lag auf dem schmutzigen, von Mauerschutt befleckten Kissen und zitterte bei dem Gedanken, daß Lindhout kommen könnte. Er kam nicht. Einmal glaubte sie ganz deutlich seine Stimme zu hören. Er schien da unten bei den Bergungsarbeiten beschäftigt zu sein. Er war es nicht. Er befand sich zu dieser Zeit im Hause Boltzmanngasse 13, bei Frau Penninger, wohin er sofort geeilt war, um zu sehen, ob hier ein Unglück geschehen war. Nichts war geschehen, überhaupt nichts. Lindhout las der kleinen Truus aus »Doktor Doolittles schwimmende Insel« vor …
Fräulein Demut starrte zur Decke empor, von der große Flächen Stukkatur abgebrochen waren, und dachte angestrengt nach. Ihre Wohnung war beschädigt. Mit knapper Not war sie heute dem Tod entgangen. Morgen? Sie wußte nicht, was morgen sein würde. Sie wußte nur eins, und der Gedanke an das eine ließ sie nicht los: Sie hatte gesehen, wie Lindhout diesen Mann erschoß. Sie war Zeugin eines Mordes. Sie kannte den Mörder. Sie kannte ihn gut. Er lebte in ihrer Wohnung. Niemand wußte, daß er ein Mörder war. Nur sie …
Zuletzt erhob sie sich und schlich mühsam, die Wände entlang, in den Flur. Sie mußte eine Kerze anzünden, denn nun war es hier ganz finster. Beim Telefon angelangt, wählte das Fräulein mit zitternden Fingern eine Nummer. Hochwürden! Hochwürden mußte kommen! Sie mußte ihm sagen, was sie gesehen hatte, was geschehen war. Und er mußte sie anhören! Diesmal durfte er sie nicht zurechtweisen oder ihr den Mund verbieten! Diesmal mußte er beschämt einsehen, daß sie recht behalten hatte mit all ihren schrecklichen Befürchtungen. Lindhout war ein Mörder. Sie hatte es gleich gesagt, aber Hochwürden hatte sie ausgelacht. Weil er sie ausgelacht und nichts unternommen hatte, lag jetzt ein Mann unter den Trümmern des zusammengestürzten Hauses, niemand wußte davon, nur der Mörder Lindhout und sie, und wenn sie nun nicht sprach, dann würde diese furchtbare Tat keine Sühne finden, dann würde Lindhout, der Mörder, frei und straflos weiterleben …
Sie hielt eine lange Weile den Hörer ans Ohr, bevor sie begriff, daß auch das Telefon ausgefallen war. Sie wählte noch einige Male. Nichts. Der Apparat funktionierte nicht. Nun beschlich sie wiederum Todesangst.
Kraftlos kroch sie, auf Händen und Füßen, in ihr Zimmer zurück und schob sich auf das Bett. Ihre Zähne schlugen gegeneinander. Sie glaubte nicht, daß Lindhout sie bemerkt hatte, wie sie seine Zimmertür öffnete genau in dem Moment, als er schoß. Aber mit völliger Sicherheit wußte sie es nicht. Vielleicht hatte er sie doch bemerkt! Es ist klar, dachte das Fräulein, daß er nun mich aus dem Weg schaffen wird. Ein Mann, der einen Mord begangen hat, schreckt vor einem zweiten nicht zurück!
Auf der Straße zuckten zuweilen grelle Lichter auf, huschten über die Wände und die Decke ihres Zimmers und verschwanden wieder. Gespenstische Stimmen riefen einander undeutliche Befehle zu, und da war ein Klirren, Schlurfen, Schaufeln, Hacken und Klopfen, ein Holpern, Hämmern und Knarren zu hören — Hunderte von Menschen schienen da unten zu sein. Wenn ich bloß zu ihnen könnte, dachte sie verzweifelt. Wenn ich nur einem einzigen Menschen erzähle, was ich gesehen habe, dann wird er mich zur Polizei bringen oder selber hingehen und Anzeige erstatten, und alles ist gut.
»Hilfe!« rief sie mit zitternder Stimme. »Hilfe! Bitte, bitte, Hilfe! Im vierten Stock! Philine Demut! Hilfe, bitte!«
Doch es hörte sie niemand.
Vielleicht, dachte das Fräulein, ist es aber auch gefährlich, den ersten besten anzusprechen, wer weiß, vielleicht steckt er mit Lindhout unter einer Decke? Und es ist mein Ende, wenn ich an so einen gerate. Vielleicht schleppt er mich nicht zur Polizei, sondern zu Lindhout, und der tötet mich dann natürlich. Ach, wenn Hochwürden doch auf mich gehört hätte, als ich ihn warnte! Er ist der einzige, vor dem ich mich nicht fürchten muß, denn ich bin umgeben von Feinden wie von der Finsternis und den Stimmen, die aus der Finsternis zu mir klingen. Ich muß zu Hochwürden!
Mit äußerster Anstrengung stand Philine abermals auf und schwankte zur Tür. Hochwürden! Ich muß zu Hochwürden Haberland und ihm alles berichten! Ich muß es schaffen! Er wohnt sehr weit von hier, es ist dunkel, wer weiß, ob die Stadtbahn geht, egal, ich muß zu Hochwürden, ich muß! Sie erreichte die Wohnungstür. Dann fühlte sie, wie der Raum sich auf unerklärliche Weise um sie schloß und alles von ihr fortwich wie in einen starken Strudel hinein, der nun auch sie aufsog.
Sie stürzte. Zum dritten Mal an diesem Tage war Philine Demut ohnmächtig geworden.
9
Diesmal erwachte sie erst nach vielen Stunden.
Heller Morgen war es, konstatierte sie mit Verwunderung — und wieder lag sie auf ihrem Bett! Jemand mußte sie dorthin getragen haben. Jemand …!
Sie fuhr hoch.
Lindhout ist hiergewesen! Er hat mich überrascht, als ich ohne Besinnung war! Er hätte mich töten können. Er hätte …
Sie blickte um sich. Durch die geborstenen Fensterscheiben kam grelles Licht in den schmutzigen, beschädigten Raum. Philine bemerkte, daß sie selber vor Staub und Schmutz starrte. Ihre Hände waren schwarz, ihr Kleid zerrissen. Da! Neben dem Bett, auf dem Nachttisch, lehnte ein Bogen Papier. Sie nahm ihn und las:
Als ich aus dem Institut zurückkam, lagen Sie ohnmächtig im Flur. Bitte, bleiben Sie im Bett. Nachts konnte ich keinen Arzt mehr erreichen. Nun mußte ich zurück ins Institut, das auch getroffen worden ist. Ich habe aber einen Arzt gefunden. Er kommt schnellstens zu Ihnen. Herzlichst A. Lindhout (7 Uhr 15)
Ein Arzt!
Mit einem Satz war Philine aus dem Bett. Dieser Arzt war Lindhouts Verbündeter, ganz klar. Er würde sie durch eine einzige Injektion aus dem Wege räumen, damit sie Haberland nicht mehr sprechen konnte. Das durfte nicht geschehen! Er durfte sie nicht mehr vorfinden, wenn er kam, dieser »Arzt«. Sie mußte fort, auf der Stelle!
Stolpernd vor Aufregung lief sie ins Badezimmer, um sich zu waschen. Sie drehte die Hähne auf. Nur ein wenig schmutzig-gelbes Wasser floß aus ihnen, dann nichts mehr. Es gab auch kein Wasser. Philine lachte idiotisch, reinigte mit einem nassen Handtuch notdürftig Gesicht und Hände, holte frische Wäsche aus dem Schrank und kleidete sich in fliegender Hast an. Ihre zitternden Finger fanden nur schwer die Knöpfe und die richtigen Knopflöcher. Aber in acht Minuten war sie fertig. Sie trug ein reines Kleid und reine Schuhe. Hände, Haar und Gesicht zeigten Schmutzreste. Sie packte ihre alte Krokodilledertasche und lief fort. So aufgeregt war sie, daß sie sogar vergaß, die Wohnungstür abzuschließen.
Niemand im Stiegenhaus.
Vor dem Hauseingang schaufelten schmutzige Frauen mit Kopftüchern im Schutt herum. Keine achtete auf Philine. Mit größter Anstrengung kletterte sie über den riesigen Trümmerberg hinweg, stürzte, erhob sich, eilte weiter. Ihr Hütchen saß schief, ein Strumpf war zerrissen, das Unterkleid sah vor. Keuchend rannte Philine der Währingerstraße entgegen.
Sie brauchte, obwohl die Stadtbahn glücklicherweise fuhr, zwei Stunden für den Weg zu dem Priesterheim, in dem Kaplan Haberland wohnte. Bevor sie indessen die Station Währingerstraße erreicht und nachdem sie die weit im Westen liegende Station Ober-St. Veit wieder verlassen hatte, mußte sie viele Umwege machen durch andere Straßen, die nicht zugeschüttet waren mit zerstörten Häusern oder die man gesperrt hatte, weil in ihnen noch Zeitzünderbomben lagen.
Zehn Minuten nach zehn erreichte Philine Demut das Priesterheim in der Innocentiagasse. Das große Tor war versperrt. Sie klingelte Sturm. Sie bekam kaum noch Luft, sie schwankte. Wer jetzt gesagt hätte, sie sei verrückt, der hätte recht gehabt. Verfolgungswahn hielt sie in den Klauen. Paranoid hätte die Diagnose jedes Arztes gelautet.
Das Tor öffnete sich. Philine stand einem Geistlichen gegenüber.
»Ja?« fragte der Mann.
»Zu Hochwürden Haberland, bitte«, rief Philine und beleckte die gesprungenen, staubigen Lippen.
»Das geht leider nicht«, sagte der Geistliche.
»Ich muß ihn aber sprechen! Hören Sie? Ich muß!« schrie Philine.
Ein paar Menschen drehten sich nach ihr um.
»Leise. Bitte! Ich sage Ihnen: Das geht leider nicht!«
»Aber …« Philine bettelte jetzt geradezu. »Bitte, sagen Sie ihm, bitte, daß ich ihn sprechen muß! Bitte! Philine Demut heiße ich! Haben Sie verstanden? Fräulein Philine Demut! Er kennt mich gut. Er soll herauskommen zu mir, bitte!«
Der Geistliche antwortete: »Er kann nicht mit Ihnen sprechen. Er ist nicht hier.«
»Nicht hier?« Sie sah ihn entsetzt an. »Wo ist er denn?«
»Er mußte verreisen, ganz plötzlich.«
»Verreisen … o Gott … wie lange?«
»Das ist unbestimmt … einige Tage … oder länger … Wir wissen es nicht … Es ist eine sehr …«
10
»… wichtige Reise, verstehen Sie, Fräulein Demut?« erklang die Stimme am Tor aus einem Lautsprecher in einem Zimmer des Priesterheims, in dem drei ältere und drei jüngere Geistliche an einem großen Konferenztisch saßen. Am Tor nämlich war ein Mikrofon eingebaut — die Zeitläufe hatten diese Installation notwendig gemacht. Seit langem verhaftete die Gestapo Geistliche, Weltgeistliche genauso wie Ordensleute, verschleppte sie in das Konzentrationslager Mauthausen oder ließ sie irgendwo umbringen. In den letzten Monaten war es damit immer schlimmer geworden, und es sollte sich in Österreich noch bis zum 22. März 1945 weiter steigern. An diesem Tage wurde dem Gersthofer Kaplan Dr. Heinrich Maier im Wiener Landesgericht nach seinem letzten Ruf für Christus und Österreich der Kopf vom Rumpf getrennt. Gemeinsam mit den anderen Hingerichteten des Tages warf man seinen nackten Leib dann in ein Schachtgrab des Wiener Zentralfriedhofs.
Zu der Stunde, da Philine den Kaplan Haberland in Ober-St. Veit zu sprechen verlangte, saß dieser mit zerschlagenem Gesicht und blutenden Händen in einem Vernehmungszimmer der Gestapo in der riesigen Kaserne an der Rossauerlände. Das Hotel ‘Metropol’ am Morzinplatz, noch bis vor kurzem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei, war bei einem der letzten Angriffe so schwer getroffen worden, daß man die Dienststellen verlagern mußte. Die gesamte Verwaltung der Gestapo brachte man in der Aspernbrückengasse 2 im Zweiten Bezirk unter. (Es steht aktenkundig fest, daß die SS-Bürokratie dort das Kriegsende unangetastet überlebt hat. Die Verwaltung in der Aspernbrückengasse — heute befindet sich da ein Finanzamt — zahlte noch im Mai und im Juni 1945 den Wiener Vernehmungsbeamten und Folterknechten wie überhaupt allen Gestapoleuten die vollen Gehälter aus. »Mir ham uns halt geirrt«, erklärte später ein daraufhin zur Rede gestellter hoher Beamter. Diese Erklärung wurde dann auch als durchaus glaubwürdig und ausreichend anerkannt …)
In der Kaserne an der Rossauerlände Ecke Tandelmarkt aber befanden sich die Räume der »Spezialisten«. Hier saß Kaplan Haberland, zerschlagen und geschunden, in einem Vernehmungszimmer. Vor ihm lagen die vielen Flugzettel, welche die Gestapo gesammelt hatte, und von einer Wachsplatte hörte er seine eigene Stimme, Teil einer Sendung des so lange nicht zu ortenden Geheimsenders Oskar Wilhelm Zwo. Er war infolge einer Wagenpanne schließlich doch geortet worden, und neben den Vernehmungsbeamten stand, triumphierend die Arme über der Brust verschränkt, der hagere Major Racke mit dem runden Kleinbürgergesicht und der randlosen Brille, die ihn dem »Reichs-Heini«, Heinrich Himmler, so ähnlich erscheinen ließ.
Der Kaplan Roman Haberland war um vier Uhr früh von der Gestapo abgeholt worden, mit ihm zwei weitere Bewohner des von mehreren Geistlichen bewohnten Hauses. Die Männer um den Konferenztisch hatten bleiche, erschöpfte Gesichter. Sie wußten: Weder Haberland noch die anderen Geistlichen würden auch nur ein Wort über den organisierten Widerstand der Kirche in Österreich verraten. Oder? Unter der Folter? Wer kann für sich selber bürgen? Wer weiß, wieviel Schmerzen er auszuhalten imstande ist? Und nun diese verrückte, entsetzliche Person da unten auf der Straße! Sie stellte eine geradezu tödliche Gefahr für viele, für alle dar, denn das Priesterheim wurde rund um die Uhr von der Gestapo überwacht, das wußten die Insassen …
»Ist Ihnen nicht gut?« kam die Stimme des Geistlichen am Tor aus dem Lautsprecher. »Sie sind ja außer sich. Kommen Sie herein, ich rufe einen Arzt …«
Der älteste der am großen Tisch Sitzenden nickte. Allen im Raum war klar, was ihr Mitbruder da unten vorhatte. Er versuchte, das Fräulein von der Straße wegzubringen, herein in das Haus, bevor sie weiterschrie. Vier der Männer falteten die Hände, zwei ballten die Hände zu Fäusten.
»Kein Arzt!« Schrill kam der Schrei des Fräuleins aus dem Lautsprecher. Philine hatte sich an den Zettel Lindhouts erinnert, auf dem auch er ihr den Besuch eines Arztes in Aussicht stellte.
»Aber Sie brauchen einen … Sie können ja kaum stehen … Warten Sie … nur einen Moment … Sie können ja auch bei uns auf Hochwürden Haberland warten.«
»Nein! Ich will nicht! Die bringen mich um!«
»Wer bringt Sie um?«
»Alle … alle …« Aus dem Lautsprecher erklangen schnelle, trippelnde Schritte, die sich entfernten. Und dann die Stimme des Geistlichen am Tor: »Es tut mir leid … Diese Person ist weggerannt … Ich sehe sie nicht mehr … Soll ich versuchen …«
»Unter keinen Umständen«, sagte der älteste Priester. »Schließen Sie das Tor sofort wieder.«
»Ja … sofort … Was wird diese Wahnsinnige jetzt tun, um des Himmels willen?«
»Wir werden es sehr bald erfahren«, sagte der Älteste, der Superior dieses Priesterheims. Aber da irrte er sich.
11
Ich kann nicht mehr in meine Wohnung! Mein Mörder lauert dort auf mich! Ich kann nicht zu Hochwürden Haberland, er ist verreist! Fort! Ich kann nirgends mehr hin, mein Gott, o mein Gott im Himmel …
Tränen strömten über Philines Gesicht, während sie das dachte und stolpernd und taumelnd zurück zur Stadtbahnstation Ober-St. Veit eilte. Verlassen. Verlassen. Alle haben sie mich verlassen. Ich bin verloren, verloren …
Sie schluchzte laut auf. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sich nun wenden sollte. Sie kaufte eine Fahrkarte für die Stadtbahn und stolperte zum Bahnsteig hinunter. Ein Zug donnerte in die Station. Fräulein Demut sprang in einen der roten Wagen und lehnte sich an eine seiner Glaswände.
»Zurückbleiben! Zug fährt ab!« schrie draußen der Stationsvorstand mit der roten Kelle. Philine hörte ihn nicht. Der Zug ruckte an und schoß Sekunden später in einen Tunnel hinein. Alle Menschen im Waggon starrten Philine an. Sie bemerkte es nicht.
Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? betete das Fräulein stumm, während der Stadtbahnzug durch den langen Tunnel fuhr. — Warum bist Du fern meinem Schreien, wenn ich stöhnend Dich anflehe? …
Der Zug fuhr jetzt sehr rasch. Er hielt in der nächsten Station. Hielt wieder. Fuhr wieder an, immer häufiger unterirdisch, durch Tunnels, dem Stadtkern entgegen.
Unter-St. Veit.
Braunschweiggasse.
Hietzing.
… mein Gott, wenn ich rufe am Tag, so gibst Du keine Antwort …
Meidlinger Hauptstraße …
… Du beugest mich in Todesstaub. Fürwahr, es umgeben mich Hunde …
Margaretengürtel.
… eine Rotte von Frevlern umringt mich, die mir Hände und Füße durchbohren …
Pilgramgasse.
… all meine Gebeine kann ich zählen …
Kettenbrückengasse.
… sie aber haben ihre Lust an mir … Lust an mir …
Karlsplatz!
Im letzten Moment, gerade bevor der Zug wieder anfuhr, sprang Philine Demut tollkühn auf den Bahnsteig hinaus und rannte die Stiegen empor. Der Stationsvorstand fluchte hinter ihr her.
»Depperte Urschel, depperte!«
Fräulein Demut hörte ihn nicht. Sie hörte überhaupt nichts mehr. Sie stieß mit anderen Menschen zusammen im Bahnhof, auf der Straße. Ein Gedanke war ihr gekommen! Gott hatte ihr Flehen erhört! Sie hatte ja gewußt, daß Er ihr Flehen erhören würde! Nun wußte sie, was sie tun mußte, ja, nun wußte sie es!
Philine erreichte ein kleines, altes Kaffeehaus, betrat es schwankend und ließ sich auf den Sessel fallen, der an einem kleinen Tischchen mit fleckiger Marmorplatte stand. Hinter der Theke schlurfte ein greisenhafter Kellner hervor, speckig glänzend sein schwarzer Anzug. Mißtrauisch musterte er Philine, die schwer atmete, denn sie war sehr schnell gelaufen.
»Wünschen die Dame?«
»Tee, bitte.«
»Schale oder Portion?«
»Por … Schale! Und … und … So warten Sie doch! Rennen Sie nicht gleich weg!«
»Was noch?«
»Papier, bitte.«
»Was?«
»Papier und einen Umschlag und eine Feder und Tinte und eine Marke für Wien.«
»Sind Sie schon fertig, ja?«
»Ja.«
»Freut mich. Alles für eine Schale Tee … Leute gibt’s …« Er schlurfte fort, um das Gewünschte zu holen.
Ja, dachte Philine, und jetzt atmete sie ruhiger, jetzt weinte sie nicht mehr. Gott hat mich erleuchtet, gepriesen sei Sein Name!
12
PRIVAT UND PERSöNLICH!
Hochwürden
Herrn Kaplan Roman Haberland
WIEN XIII
Innocentiagasse 13
Wien, den 13. März 1945
Sehr verehrter, lieber Herr Hochwürden!
Es ist etwas Entsetzliches geschehen. Ich schwöre bei Gott und der Heiligen Jungfrau, daß ich die Wahrheit sage, die reine Wahrheit. Dieser Lindhout hat gestern in seinem Zimmer einen Mann erschossen. Ich bin vom Pangerl, dem Luftschutzwart, hinaufgeschickt worden, um den Lindhout zu holen, und ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er mehrere Schüsse abgefeuert hat auf diesen Mann, den ich nicht gekannt habe, und wie dieser, weil er draußen auf dem Balkon gestanden hat, hinuntergestürzt ist auf die Berggasse. Im gleichen Moment hat eine Bombe das Haus gegenüber getroffen, und das ganze Haus, alle seine Trümmer, sind auf den Toten geflogen und haben sich zu einem großen Berg gehäuft über dem Mann. Der Mann ist tot, und man wird ihn nicht finden, weil er unter diesem großen Trümmerberg liegt. Lindhout hat ihn erschossen, ich schwöre es beim Heiland am Kreuz. Ich weiß nun nicht mehr, was ich tun soll, denn ich habe Angst, daß der Lindhout auch mich ermordet, wie ich es Ihnen schon so oft in der Vergangenheit gesagt habe. Gerade bin ich bei Ihnen draußen in Ober-St. Veit gewesen, um Ihnen alles zu erzählen, aber ein geistlicher Herr bat mir gesagt, Sie sind verreist, und er weiß nicht, wann Sie wiederkommen. Ich habe so gehofft, daß Sie dasein werden. Ich glaube, ich werde in die Katharinen-Vereinigung gehen und bitten, daß sie mich dort schlafen lassen. Ich traue mich mit keinem Menschen über den Lindhout zu sprechen, denn wer weiß, vielleicht ist es ein Verbündeter von diesem Mörder, und dann tötet er mich. O bitte, lieber Hochwürden, tun Sie sofort etwas, wenn Sie von Ihrer Reise zurückkommen und diesen Brief erhalten. Helfen Sie mir, und machen Sie, daß dieser elende Mensch bestraft wird für sein Verbrechen. Wenn Sie es nicht tun, wird er niemals bestraft werden, obwohl er eine Todsünde begangen hat, und was für eine, und ein Mann unter den Trümmern liegt. Es ist gestern bei dem großen Angriff geschehen, ich habe es selber gesehen. Sie dürfen mich nicht im Stich lassen, liebe Hochwürden! Ich war immer eine gute Katholikin, das haben Sie selber gesagt, und auch, daß der Allmächtige sich über die Deckerin freut, und jetzt passiert so etwas. Ich bin ganz allein. O, bitte, liebste Hochwürden, kommen Sie mir gleich zu Hilfe, wenn Sie diesen Brief gelesen haben, und machen Sie, daß eine Gerechtigkeit geschieht, ich vertraue Ihnen doch so sehr, und ich traue mich nicht mehr in meine Wohnung.
Gelobt sei Jesus Christus und Sein Vater und der Heilige Geist, in Ewigkeit. Amen. Es grüßt Sie Ihre sehr verzweifelte
Philine Demut
P. S. Bitte, unternehmen Sie sofort etwas, wenn Sie diesen Brief gelesen haben!
13
Als das Fräulein Demut das alte Café verließ, war es zehn Minuten vor elf. Ich werde jetzt gleich in die »Katharinen-Vereinigung« gehen, beschloß sie. Aber zuerst noch diesen Brief aufgeben, den ich gerade geschrieben habe!
Philine überquerte den Ring, kam zur Fichtegasse und in die Annagasse, die zur Kärntnerstraße und der immer noch brennenden Oper führte. Sie wandte sich ostwärts und erreichte die Weihburggasse. Plötzlich blieb sie stehen. Da! Magisch rot leuchtete wenige Schritte vor ihr ein Briefkasten!
Das Fräulein hastete zu ihm. Unter der Aufschrift: NäCHSTE LEERUNG stand in einem runden Ausschnitt schwarz auf einer weißen Blechscheibe: 16 Uhr. Philine warf ihren Brief in den Kasten.
Im nächsten Moment heulten die Sirenen Vollalarm.
Unschlüssig stand Philine zwischen vorüberhastenden Menschen. Bis zur »Vereinigung« kam sie jetzt keinesfalls mehr. Mit trippelnden Schritten lief sie den vielen Menschen nach, die einem nahen »Öffentlichen Luftschutzraum« zueilten. Da war er schon — in einer Straße, die sie nicht kannte.
Plötzlich ganz ruhig und voller Zuversicht, stieg Philine mit vielen anderen die Treppe zu dem Keller hinab. Sie lächelte still. Es war, so schien es, die schönste Stunde ihres Lebens gekommen. Sie hatte wie eine gute Katholikin gehandelt und dafür gesorgt, daß ein verruchter Mörder bestraft wurde. Diese euphorische Stimmung steigerte sich in der nächsten halben Stunde noch. Knapp bevor die Bombe einschlug, spielte Fräulein Demut mit einem kleinen Mädchen und fand, daß sie alles aufs beste geregelt hatte.
Und so trug ihr Gesicht dann später einen erlösten und glücklichen Ausdruck, als sie mit einigen anderen tot auf dem Boden des Luftschutzkellers lag, weil dieser zum Teil eingestürzt war. Eine Eisentraverse war Philine Demut in die Schädeldecke gedrungen. Ihr letzter Gedanke hatte dem roten Briefkasten gegolten (Nächste Leerung: 16 Uhr), in dem, von Gott behütet und vom Zugriff des Schurken Lindhout bewahrt, ihre Botschaft an Hochwürden Roman Haberland lag.
In Seiner unendlichen Güte und Voraussicht hatte der Allmächtige es so eingerichtet, daß erst nach Philine Demuts Tod eine andere Bombe in jenes Haus der Weihburggasse einschlug, das demjenigen mit dem roten Briefkasten gegenüberlag. Die gesamte Vorderfront dieses Hauses stürzte auf die andere, und der rote Briefkasten verschwand unter Steinen, Holz und Eisen, denn wahrlich, Gottes des Allmächtigen Gedanken und Wege sind seltsam, und wir elenden Kreaturen, die wir auf dieser Erde hausen für eine kleine Weile, werden die Weisheit Seiner Entscheidungen niemals begreifen können.
14
Am 5. April 1945, gegen die Mittagsstunde, erschien der Professor Jörn Lange in der Dienstwohnung des Hausschlossers Johann Lukas. Die Wohnung befand sich im Chemischen Institut. Lukas war erschrocken, als Lange ihn anschrie: »Was ist mit der Tür zum Elektronenmikroskop los? Wieso ist die abgesperrt?«
»Herr … Herr Professor A … A … Albrecht hat mir … hat mir gesagt, ich soll sie … ab … absperren«, stotterte Lukas. »Ganz eindringlich hat er es mir gesagt, am Tag, an dem er abgereist ist!« Die Universitätsbehörden hatten schon vor einigen Monaten den Professor Albrecht aufgefordert, einen großen Teil des wissenschaftlich wichtigen Materials nach Oberösterreich zu verlagern. Dies war geschehen, und Albrecht hatte Wien mit einer Schar von Mitarbeitern und Studenten, darunter nicht wenigen Mädchen, verlassen. Zu seinem verantwortlichen Stellvertreter war Professor Lange bestimmt worden.
Der Professor Lange war, ebenso wie zahlreiche andere Chemiker und Physikochemiker, danach ständig im Institut geblieben. Sie hatten da geschlafen, gegessen, gearbeitet und versucht, ihre Forschungsergebnisse zu sichern — indem sie zum Beispiel schriftliche Unterlagen und Präparate in Kartons und Kisten verpackten und im Tiefkeller bargen. Dies hatte auch Lindhout getan.
Im Tiefkeller lebten zu jener Zeit aber auch Menschen, die heimlich, in der Nacht oder am Tage, während sowjetische Tiefflieger dicht über die Straßen jagten, hier eindrangen — desertierte Soldaten der Wehrmacht, entsprungene politische Gefangene, verschleppte Zwangsarbeiter aus Frankreich, Polen, der Ukraine und vielen anderen Ländern — oft abenteuerliche Gestalten, die jetzt über Gefangenenkluft, Wehrmachtsuniform oder Overall weiße Laborkittel trugen. Sie wurden versteckt und beschützt von einer Reihe junger Menschen, Männer und Mädchen, die alle den Anordnungen des Leiters dieses geheimen »Stützpunkts Chemisches Institut«, eines gewissen Dr. Kurt Horeischy, folgten. Lindhout kannte Horeischy flüchtig, denn dieser arbeitete in einer anderen Abteilung, und er war zuerst verblüfft gewesen, als er erfuhr, daß Horeischy und sein »Stützpunkt Chemisches Institut« zur österreichischen Widerstandsbewegung gehörten. Horeischys Braut, die technische Assistentin Ingeborg Dreher, ein Dr. Hans Vollmar — erster Mitarbeiter des Professors Lange (!) — und der Reservewachtmeister Max Slama zählten zu Horeischys Vertrauten. Slama war von der Polizei desertiert und von der Zentrale der Österreichischen Widerstandsbewegung zu Horeischys Unterstützung geschickt worden. Das alles erfuhr der staunende Lindhout nun, da er selber ständig im Institut weilte. Am 15. März war er noch daheim in der Berggasse gewesen, als der Hausbesorger Pangerl ihn aufsuchte und unsteten Blickes mitteilte: »Ihr Fräulein Demut hat’s erwischt, gerade war einer von der Polizei hier und hat es mir gesagt.«
»Erwischt? Was heißt das?«
»Futsch ist sie. Hin. Derschlagen von einer Bomben. Mit viele andere. In der Singerstraße. Da hat’s ein Haus getroffen, in dem war sie im Keller. Zum Glück hat sie ein’ Ausweis bei sich gehabt. Also haben s’ sie identifizieren und mit die andern zusammen begraben können, in einem Gemeinschaftsgrab. Wenn ich nur wüßt, was das Fräulein in der Singerstraße gemacht hat! Sonst ist sie doch immer in unserm Keller geblieben. Na ja! Sie sind jetzt also der provisorische Hauptmieter, soll ich Ihnen sagen von der Partei, aber es werden heut’ oder morgen zwei Familien kommen — Flüchtlinge, die müssen S’ aufnehmen in die anderen Zimmer. Hat doch keinen Verwandten mehr, das Fräulein. Soll ich also alles a bisserl herrichten und ihre Sachen zusammenpacken und zur Ortsgruppe bringen.«
Dies war Parteigenosse Pangerls Nekrolog für das gottesfürchtige Fräulein Philine Demut gewesen.
Die Flüchtlingsfamilien — eine aus Oberschlesien, eine aus der Gegend des Plattensees — trafen am nächsten Tag ein, Erwachsene und Kinder — acht Personen insgesamt, trostlos, am Ende ihrer Kräfte und deshalb aggressiv, streitsüchtig und bösartig. Sie hatten es Lindhout leichtgemacht, sein Zimmer zu verlassen. Er übersiedelte in das Laboratorium im Chemischen Institut, und es gelang ihm, sogar dieser Lage noch positive Seiten abzugewinnen: Nun war es, dank der Konfusion und der Furcht, welche die ganze Stadt ergriffen hatte, noch leichter, mehrmals am Tage Truus zu besuchen — und es gab keine amerikanischen Luftangriffe mehr: Sie hätten die militärischen Operationen der Sowjets gefährdet. Über die Lage war Frau Penninger genau informiert — sie hörte jeden Abend eine deutschsprachige Sendung der BBC und um Mitternacht noch eine des Moskauer Dienstes. Also wußte auch Truus, daß der Kampf um Wien in vollem Gange war.
»Die Mandel!« sagte sie einmal.
»Was für eine Mandel?«