Unter dem Kreuz des Südens

Jann Turner

2002

1

Eine große Liebe zwischen Schwarz und Weiß unter den Sternen Südafrikas — eine bittere Wahrheit!

Nichts auf der Welt kann sie trennen — nicht einmal die Hautfarbe. Denn Paul ist weiß und Anna nicht. Doch dann wird Paul brutal ermordet. Zehn Jahre später, nach dem Ende der Apartheid in Südafrika, bringt Anna den Fall vor die Wahrheitskommission. Könnte Annas große Liebe ein Spion gewesen sein? Anna kann niemandem mehr trauen und so macht sie sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit…

Inhaltsverzeichnis

I  1. Teil (1987)

1

2

3

4

II  2. Teil (1997)

5

6

7

8

9

10

11

12

13

III  3 Teil

14

15

16

17

18

IV  4. Teil

19

20

21

22

V  5. Teil

23

24

25

26

27

28

VI  6. Teil

29

30

31

32

33

34

VII  7. Teil

35

36

37

38

39

VIII  8. Teil

40

41

Glossar

Mein Dank gilt

Für Anneliese

Zu Ehren einer Freundschaft,

die im Fener geschmiedet wurde.

Zur Erinnerung an eine Zeit,

die wir nicht vergessen sollten.

1996 ernannte Nelson Mandela ein Regierungsorgan, die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ihre Aufgabe war einfach und dennoch gewaltig: Sie sollte die Trümmer einer Vergangenheit durchforsten, die durch Rassismus zerstört wurde. Ihr Auftrag lautete, Gegenwart und Zukunft vor solchem Übel zu bewahren.

Unter dem Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Erzbischof Desmond Tutu führte die Kommission langjährige Untersuchungen der schweren Menschenrechtsverletzungen durch, die während des Kampfes für und gegen die Apartheid verübt worden waren. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden 1998 in einem ausführlichen, fünfbändigen Abschlussbericht dokumentiert. Dieser Bericht enthält Tausende Geschichten über Folterungen, Mord und Verschwinden. Er schildert den außsergewöhnlichen Mut und die Würde der Opfer und ihrer Familien und ihre Bereitschaft zu vergeben. Und er hält die Geständnisse, die Unbarmherzigkeit, aber auch die Reue der Täter fest.

Die folgende Geschichte wurde zwar nicht von der Wahrheitskommission dokumentiert, hätte aber sehr gut unter den vielen Fällen sein können.

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Ein Glossar umgangssprachlicher Ausdrücke und Begriffe aus dem Afrikaans findet sich am Ende des Buches.

Teil I

1. Teil (1987)

Lieben heißt vor allem,

sich selbst zu verschenken.

Jean Anouilh

1

An diesem Tag schien die Luft still zu stehen. Anna starrte durch das Fenster nach draußen auf die Stadt und gab sich ihren Tagträumen hin. Sie war ganz benommen von der Hitze, die in dem stickigen Konferenzraum herrschte, wo sie und ihre Genossen den Rahmen für die nahenden Gehaltsverhandlungen entwarfen. Draußen brannte die heifße Spätsommersonne unbarmherzig auf Johannesburg nieder und schien alles auszudörren.

Anna fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und lockerte es, in der Hoffnung, dann ein bisschen klarer sehen zu können. Auf der Tischplatte vor ihr waren Kaffeepfützen und Zuckerhäufchen. Zigarettenqualm schwebte durch die Luft, und die Aschenbecher quollen über. Alles wirkte wie von einer zähen Schmutzschicht überzogen.

Alles, wonach Anna sich sehnte, war ein ganz gewöhnliches Leben. Doch alles Sehnen der Welt, so dachte sie müde, würde ihr wohl nicht dazu verhelfen. Sie litt den Schmerz, den alle erleiden, die durch Zeit und Ort wie in einen Schraubstock eingespannt sind. In gewisser Weise werden wir alle durch unsere Zeit und unser Heimatland geprägt. Anna allerdings wurde durch ihres brutal in eine Form gezwängt. Sie hatte keine Wahl, jedenfalls schien es ihr so. Das Leben unter der Apartheid ließ ihr nur den schmalen Weg des Widerstands offen. Ihre Sehnsucht nach einem ganz gewöhnlichen Leben, einer Arbeit von neun bis fünf, nach Familie und Gartenwerkzeugen aus der Sonntagsbeilage, war die Sehnsucht, nicht mehr kämpfen zu müssen.

Sie seufzte müde und starrte das schwarze Gekrakel auf ihrem Notizblock an. Eine Hand, die ihr auf die Schulter klopfte, holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück. Anna wandte sich um und blickte in das gestresste Gesicht einer Kollegin.

»Telefon«, flüsterte die Kollegin. Anna runzelte fragend die Stirn. »Willem Swanepoel ist dran.« Zabeidas dunkle Augen glänzten — vielleicht aus Angst. Sie wirkte so aufgeregt, dass es Anna sofort unbehaglich wurde.

»Was ist denn passiert?«

Zabeida schüttelte den Kopf und das krause Haar hüpfte ihr ums Gesicht. »Keine Ahnung, aber er hat gesagt, es sei dringend.«

Anna erhob sich und folgte Zabeida aus dem Zimmer, eingehüllt in die Duftwolke aus Patschuli, die Zabeida umgab.

Ihr Mund fühlte sich wie ausgedörrt an, während sie sich der Rezeption näherte. Das Telefon auf dem Tresen mit seinem abgenommenen Hörer kam ihr vor wie eine Granate mit gezogenem Stift. Ihre Hände waren schweißnass, als sie nach dem Hörer griff und ihn ans Ohr legte.

»Willem?« Verborgen hinter Angst und banger Erwartung war die Frage. Sie brauchte sie gar nicht auszusprechen, er konnte sie an ihrem Tonfall erkennen — Ist mit Paul alles okay?

Swanepoels Stimme brüllte triumphierend durch die Leitung: »Heute Nachmittag lassen sie ihn frei!«

Augenblicklich überfiel Anna Erleichterung, so rasch und heftig, als würde ein Seil straff angezogen. Willem klang ganz trunken vor Begeisterung. Bald würde sie das auch sein — wenn sie Paul endlich wieder leibhaftig vor sich sah.

»Du fährst jetzt besser nach Hause. Warte dort.« Im Hintergrund herrschte eine Geräuschkulisse, die klang, als rufe Willem aus einer Bar an. »Bist du dir auch ganz sicher?«, flüsterte Anna.

»Hundertprozentig!«, rief er. »Hör zu, fahr nach Hause. Ich komme dann nachher bei euch vorbei, okay?«

»Okay«, stimmte sie zu und legte auf, während sie das seltene Gefühl eines Lächelns auf ihren Lippen spürte.

Sie hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet, dass sie nun, wo er endlich gekommen war, gar nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. In ihrer Vorstellung war Pauls Freilassung stets mit allen erdenklichen Wundern dieser Welt einhergegangen; sie hatte sie wie den Tag der Befreiung selbst gesehen — überall Schmetterlinge und Regenbogen und Glocken, die in den saphirblauen Himmel hinausläuteten. Doch nun, in Wirklichkeit, wurde ihr Triumphgefühl von einem Anflug von Sorge begleitet.

Lachend fiel Anna ihrer Kollegin um den Hals, die sie während ihres Telefonats besorgt beobachtet hatte. »Sie lassen ihn heute frei!«, rief sie, woraufhin Zabeida in begeistertes Kreischen ausbrach, Anna fest umarmte und mit Ihr über die Teppichfliesen wirbelte.

Dann stürmte Anna in den stickigen Konferenzraum und verkündete aufgeregt die gute Nachricht. Es war, als hätte sie unter ihren Kollegen ein Feuerwerk der Begeisterung entzündet. Plötzlich war sie umgeben von triumphierend geballten Fäusten, Küssen und Umarmungen. Ihr Lachen sprudelte hervor wie lang ersehntes Wasser, das sich endlich kaskadenartig über die ausgedörrte Erde ergießt.

Sie feierten die Neuigkeit, indem sie den ersten Beschluss des Tages fassten, nämlich ihre Besprechung fürs Erste zu beenden und sich frühzeitig in die Feiern zum Osterwochenende zu stürzen. Anna meinte, es sei unwahrscheinlich, dass sie später noch zu ihnen stoßen würde, und auch are Kollegen rieten ihr augenzwinkernd, lieber zu Hause zu bleiben, denn Paul würde sie in der kommenden Nacht ganz für sich haben wollen.

Anna holte Jacke und Tasche aus ihrem Büro, lief mit klappernden Absätzen die Treppe zum Parkplatz hinunter, sprang in ihren verrosteten Fiat und tuckerte in den schwülen Nachmittag hinaus. Es war Donnerstag, der 16. April 1987. Am nächsten Tag war Karfreitag, und Johannesburg leerte sich über das lange Wochenende.

Als sie in das gleißende Sonnenlicht auf der Jorissen Street einbog, kam ihr die Welt plötzlich ungeheuer farbintensiv vor, wie ein überbelichtetes Foto. Der Himmel war von einem grellen, Kopfschmerzen verursachenden Weiß. Anna fuhr in einem Rausch aus gespannter Erwartung, und ihre Hochstimmung milderte die zermürbenden Strapazen der überhitzten Stadt.

Paul war dreiundsiebzig Tage lang in Untersuchungshaft gewesen. Dreiundsiebzig nicht enden wollende Nächte, in denen sie mit brennender Sehnsucht auf ihn gewartet hatte. Diese Verhaftung war seine zweite gewesen. Schon die erste war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl er tatsächlich nur elf Tage inhaftiert gewesen war. Damals war er dünner, aber relativ unversehrt aus der Haft entlassen worden. Jedenfalls war es Anna so vorgekommen. Schließlich war er ein Weißer, und manchmal gingen sie mit ihren eigenen Leuten behutsamer um, sogar mit denen, die sie verraten hatten. Beim zweiten Mal waren Anna und Paul gemeinsam verhaftet worden. Das war am 2. Februar gewesen, vor ein paar Monaten erst, doch es kam ihr vor, als sei es schon Jahrzehnte her.

Anna war nach einer Woche wieder entlassen worden. Ohne Erklärung, ohne Anklage und ohne dass ein erkennbarer Grund für die Verhaftung vorgelegen hätte, denn sie war schon längere Zeit nicht an politischen Einsätzen beteiligt gewesen. Nach allem, was sie wusste, verhielt es sich bei Paul nicht anders, und daher war der Grund für seine Verhaftung unklar geblieben. Es war möglich, dass die Sicherheitskräfte aufgrund von falschen oder mangelhaften Informationen aktiv geworden waren. Möglicherweise war es auch bloß eine Einschüchterungstaktik gewesen. Es spielte auch gar keine Rolle, auf jeden Fall hatte die Verhaftung Angst geschürt und sie in ihrer Arbeit behindert — und genau das wollten die Sicherheitskräfte erreichen. Das Gesetz gab ihnen das Recht, jemanden ohne Erhebung einer Anklage unbegrenzt lange festzuhalten: es bestand auch keine Verpflichtung, bekannt zu geben, wo er festgehalten wurde. Der Inhaftierte hatte keinerlei Anspruch auf Besuche, Briefe oder Anrufe.

In den Nächten, als Paul nicht da war, hatte Anna einen Weg gefunden, sich seine Gegenwart herbeizubeschwören. Es war so einfach, dass sie bei ihrer Entdeckung vor Erleichterung fast geweint hätte. Sie hatte angefangen, sich mit ihm zu unterhalten. Es fiel ihr nicht schwer, sich jemanden zu vergegenwärtigen, dessen Körper ihr so vertraut war wie ihr eigener, dessen Stimme sie ebenso gut kannte wie ihre eigene. Und so war er in gewisser Weise bei ihr gewesen und hatte ihr die Kraft gegeben, durchzuhalten, jene Kraft, für die sie von den Familien und Freunden der zahllosen anderen Inhaftierten so bewundert und gelobt wurde.

Oft hatte sie sich gefragt, wie es wohl für ihn war, monatelang keinen Bekannten zu sehen, ja nicht einmal zu hören. Niemandem, noch nicht einmal seinem Anwalt Willem Swanepoel, war es erlaubt, ihn zu besuchen. Per Gesetz stand ihm zweimal monatlich der Besuch eines Richters und zweimal monatlich eine Untersuchung durch den Bezirksarzt zu. Das waren die einzigen Kontakte, die er mit der Außenwelt hatte, in seiner Zelle im Gefängnis oder auf einem Polizeirevier oder wo immer sie ihn festhielten.

Nun war das Warten so gut wie vorbei. Anna hätte am liebsten auf die Hupe gedrückt und die langsam dahinrollenden Autos angebrüllt, die ihr den Weg versperrten. Sie kurbelte das Fenster herunter, doch die Abgase des Feiertagsverkehrs waren schlimmer als die drückende Hitze im Auto, deshalb kurbelte sie das Fenster wieder hoch und biss die Zähne zusammen. Sie brauchte eine quälende halbe Stunde, bis sie endlich zu Hause war.

Ihr Zuhause war ein unauffälliges, massiv gebautes freistehendes Haus aus den Vierzigerjahren, das an der Valley View Road im Osten der Stadt lag. Kensington war ein vornehm dahinwelkender Vorort mit geräumigen Häusern, von denen man eine unglaubliche Aussicht über Johannesburg und die ockerglänzenden Abräumhalden hatte, die die Stadt umgeben und ihr zu ihrem Zweitnamen verholfen haben: Egoli — Stadt des Goldes.

Paul hatte das Haus vor ein paar Jahren entdeckt und auf der Stelle gemietet. Der Eigentümer hatte es kaum abwarten können, das Land zu verlassen und nach Australien zu emigrieren, um dem unvermeidlichen Verfall seines Landes hin zu einer Regierung der Schwarzen zu entgehen. Damals war Kensington eine ausschließlich weiße Zone gewesen. Eigentlich durften Schwarze oder »Nicht-Weißse«, wie der Staat sie lieber zu nennen pflegte, in einer solchen Zone nur über Nacht bleiben, wenn sie die Genehmigung hatten, dort als Hausangestellte zu arbeiten. Tatsächlich wurde die Durchsetzung des Group Areas Act aber schon zu jenem Zeitpunkt lax gehandhabt. Das war ein wichtiges Kriterium für Anna, die als »farbig« eingestuft war, was bedeutete, dass sie gemischtrassig war, und noch wichtiger war es für ihre Mitbewohner Rachel und Jacob Oliphant, die beide Schwarze waren.

Anna parkte ihr Auto auf dem Bürgersteig der Valley View Road. Sie stürmte durch das Gartentor und lief auf wackligen Beinen und mit klopfendem Herzen den Weg zum Haus hinauf. »Paul?« Ihre Stimme zitterte, als sie seinen Namen rief, doch das Haus hallte enttäuschend leer wider. Er war nicht da. Noch nicht. Verdammt! Anna ließ den Schlüsselbund laut klappernd auf den Flurtisch fallen. Sie hatte noch quälende Minuten, vielleicht sogar Stunden des Wartens vor sich.

In der Hoffnung, dass er sich inzwischen gemeldet hatte, drückte sie die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters, doch die erste Nachricht war ein Anruf von Jacob, der Rachel daran erinnern wollte, die Kinder an diesem Nachmittag vom Fußballtraining abzuholen, und die zweite und letzte war ein kurzes »Hallo? Hallo? Irgendjemand zu Hause?«, in der tiefen, aufgeregt klingenden Stimme von Willem Swanepoel. Er hatte wohl zuerst versucht, sie zu Hause zu erreichen, ehe er sie bei der Arbeit anrief.

Anna blickte sich um, unsicher, was sie nun anfangen sollte. Das Haus kam ihr bedrückend still und heiß vor. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, und als sie an der Spüle stand und einen kühlen Schluck trank, bemerkte sie eine Bewegung auf der Straße.

Ein hellblauer Opel Kadett hielt vor dem Haus. Der Beifahrer war nicht zu erkennen, aber der Fahrer war nur zu deutlich sichtbar: Frans Nel. Captain der Sicherheitspolizei am John Vorster Square. Captain Frans Nel. Das Schwein, das sie schon so oft vor Tagesanbruch aus dem Schlaf gerissen hatte, dass Anna aufgehört hatte mitzuzählen. Beim letzten Mal hatte er sie und dann Paul verhaftet.

Captain Nel war ein eitler Mann, der unter seinem steifen Schnurrbart ständig ein affektiertes Grinsen trug. Ein üntersetzter, vierschrötiger Sadist, der sich viel auf sein geschicktes Händchen und seine erschreckende Erfolgsquote einbildete. Er war ein Meister darin, den Gefangenen als Folter einen Plastikschlauch über Mund und Nase zu ziehen und sie dabei fast zu ersticken. Der Schlauch war zwar seine persönliche Lieblingsmethode, doch auch anderen Praktiken war er nicht abgeneigt. So war er zum Beispiel bekannt dafür, seine Opfer an den Füßen aus dem zehnten Stock des Polizeihauptquartiers baumeln zu lassen, Sonden in ihren After zu schieben oder sogar ab und zu ihren Genitalien einen kleinen elektrischen Schlag zu versetzen, der überraschend klärende Wirkung haben konnte.

Anna stellte das Glas ab und drehte den Wasserhahn zu.

Nel wand sich aus dem Auto wie eine Schlange, geschmeidig, selbstsicher und todbringend. Er hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum verändert; seine Haare, vorne kurz hinten lang, schienen ein bisschen gewachsen; seine Koteletten waren noch genau so ausgeprägt. Die langen Koteletten waren ein Markenzeichen der Sicherheitspolizei, genau wie die Patchwork-Lederjacke, die er zu seinen gebügelten Jeans und silbergrauen Slippern trug. Mit scharfem Blick musterte er die Vorderseite des Hauses, und als er Anna entdeckt hatte, kniff er die Lippen zusammen, ein winziges Zeichen, dass er sie erkannt hatte.

Mit klopfendem Herzen ging Anna zur Vordertür. Sie trat nach draußen auf die Veranda, wo seine kalten Augen sie schon erwarteten. Er wandte den Blick nicht von ihr ab, nicht einmal, als sich die Beifahrertür öffnete und Paul aus dem Auto stieg.

Pauls Anblick traf sie wie ein Tritt in den Magen, und sie hatte Mühe, ihren Atem zu kontrollieren. Das war nicht der Mann, den sie im Februar mitgenommen hatten. Das war nicht Paul. Hier stand ein schwacher, gebrechlicher Mann; so dünn, dass ihm die Kleider um den hoch gewachsenen Leib schlackerten. Die sonst so kräftigen Locken hingen ihm schlaff um das ausgemergelte Gesicht, das blonde Haar hatte einen schmutzig-stumpfen Braunton angenommen. Sein Gesicht hatte die Farbe von Haferschleim, unter den Augen hatte er dunkle Ringe der Erschöpfung. Als er sie anlächelte, war sein Blick leer.

In der Hand trug er eine gelbe Einkaufstüte, in der, wie Anna wusste, die wenigen Habseligkeiten waren, die man ihm in der Haft zugestanden hatte. Das wusste sie, weil sie selbst vor ein paar Monaten die Tüte mit einem Satz Wäsche zum Wechseln abgegeben hatte, ohne zu wissen, wo Paul war oder ob er die Sachen je erhalten würde.

Nel lehnte sich lässig an das Auto und starrte sie weiterhin ungerührt an, während Paul auf Anna zuging. Er überragte sie, als sie die Arme um seinen ungewohnt knochigen Körper schlang. Tränen brannten ihr in den Augen und ihre Lippen zitterten, während sie das Gesicht gegen seine Brust presste. Ein starker, ungewohnter Geruch drang auf sie ein. Ein Anstaltsgeruch nach Chlorbleiche und Bohnerwachs, nicht der vertraute Duft seines Körpers.

Paul ließ sie los und wandte sich wie betäubt zu dem Polizisten, der ihn nach Hause gebracht hatte. Sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als Nel ihnen in einer Art Gruß zunickte. Sein Lächeln war kaum mehr als eine winzige Grimasse.

Erst als der Opel Kadett außer Sichtweite war, schaute Anna Paul in die Augen, die sie so liebte und die nun von einem Tränenschleier überzogen waren. In seinem Blick lag etwas Verzweifeltes, das ihr Angst machte und das sie lieber nicht sehen wollte. Sie wandte sich um und führte ihn ins Haus.

Er blieb im Türrahmen ihres gemeinsamen Zimmers stehen und blickte sich so langsam und gründlich um, als sehe er diesen Ort zum ersten Mal. Dann endlich lächelte er — und sie erwiderte sein Lächeln, wenn auch mit klopfendem Herzen und viel zu schnellem Atem.

Sie leerte die Plastiktüte auf dem Zeichentisch an der Wand aus. Eine dürftige Sammlung von Besitztümern fiel auf die gelaugte Kiefernplatte. Die Schnürsenkel, die die Polizei ihm bei seiner Verhaftung abgenommen hatte, das zerrissene blaue Nylonarmband seiner Uhr, eine lila Zahnbürste und eine fast leere Tube Zahnpasta, ein grüner Plastikkamm und ein Deospray. Darauf fiel ein Satz Unterwäsche: graue Unterhosen und ein Unterhemd, gefolgt von der dunkelblauen Jogginghose, die er als Schlafanzug trug. Als Letztes fiel das Hemd heraus, das er getragen hatte, als sie ihn festgenommen hatten. Anna bemerkte, dass sämtliche Knöpfe abgerissen waren. Eine Kleinigkeit bloß, doch sie machte ihr deutlich, mit welcher Brutalität man ihn behandelt hatte. Sie wandte sich zu ihm, um nachzufragen, und sah, dass er sie beobachtete. In seinen braunen Augen lag ein düsterer Schimmer, und seine abweisende Miene verbot ihr, Fragen zu stellen; er wollte nichts erzählen. Sie legte das Hemd wieder hin und ging zu ihm.

Sie half ihm dabei, sich auszuziehen. Ihre Finger glitten über seine Haut und suchten sie nach Prellungen oder Schnittverletzung ab, nach Spuren der Gewalt und Folter : die er vermutlich hatte erdulden müssen, doch sie fand keine. Und dennoch war er nicht mehr er selbst. So dünn und schrecklich blass, die Haut so milchweiß, dass sie fast durchscheinend war. Seine matte, gebeugte Körperhaltung unterstrich noch, wie stark er abgemagert war, seine Schultern hingen nach vorn, die Hüftknochen ragten spitz hervor. »Hast du Hunger?«, murmelte sie und streichelte seinen eingefallenen Bauch. »Kann ich dir was zu essen bringen?«

Er schüttelte den Kopf und ließ sich aufs Bett fallen. Erleichtert sank er in die Kissen zurück und schloss die Augen. Anna hätte am liebsten geweint, als sie ihn so verändert sah, doch sie ermahnte sich, dass sie nicht weinen durfte. Nicht jetzt, nachdem er so viel überstanden hatte und endlich wieder in der sicheren Zuflucht ihres Zuhauses angekommen war.

Sie legte sich neben ihn, zog die Bettdecke über sie beide und umarmte seinen müden Körper. Er umklammerte sie fester als je zuvor.

»Ich habe Angst«, flüsterte er mit heiserer Stimme. Die ersten Worte, die er gesprochen hatte. Sie merkte sofort, dass er ihr leichtes Zurückzucken gespürt hatte, und umarmte ihn umso fester und legte ihm das Kinn auf die Schulter, damit er die Angst in ihren Augen nicht sah. Ihre Finger strichen über die winzigen Löckchen in seinem Nacken.

Angst lässt die Seele erstarren und lähmt den Geist. Wie oft hatte Anna Paul diese Worte sagen hören, nicht bloß zu ihr, sondern auch zu anderen Genossen und Mitkämpfern. Er hatte niemals Angst gezeigt. Sein Mut war unglaublich, ja manchmal geradezu erschreckend wegen der Risiken, die er ihn eingehen ließ. Paul ermutigte sie und stärkte sie mit seinem Beispiel. Sie hatte noch nie erlebt, dass er sich fürchtete, geschweige denn, darüber gesprochen hätte. Das entsprach nicht ihrer Rollenverteilung. Normalerweise war sie doch die Angstliche. Anna starrte an die Decke empor und fühlte sich schwach und ausgehöhlt.

Was hatte Nel ihm da drinnen bloß angetan? Das hätte sie Paul gern gefragt, doch er ließ sich nicht gern aushorchen, und würde sich bloß weiter verschließen, falls sie es versuchte.

»Es ist schon gut. Es ist gut«, flüsterte sie. »Alles wird wieder gut. Jetzt schlaf erst mal. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Und ich bin da. Ich bin für dich da, mein Liebling.« Sie hauchte die Worte in sein Haar, sanft wie ein Schlaflied, und streichelte mit ihren Lippen den weichen Flaum seiner Ohrläppchen. Allmählich veränderte sich sein Atem, wurde flacher und lauter, und bald merkte sie, dass er eingeschlafen war.

Schatten tanzten über die Zimmerdecke, die gewölbten Schutzgitter vor den Fensterscheiben, die immer sichtbar wurden, wenn sich die Vorhänge im Luftzug blähten. Dieser schattenhafte Mensch, der in ihren Armen schlief, würde wieder verschwinden. Paul würde wiederkehren. Ihre Liebe würde ihn wieder zum Leben erwecken.

Und plötzlich — ganz so, als könne er sie hören — entspannten sich seine Gesichtszüge und wurden weicher, sein Mund lockerte sich und nahm wieder die vertrauten, freundlichen Umrisse an. Während Anna ihn so betrachtete, wurde ihr Herz von Dankbarkeit erfüllt. Er war in Sicherheit. Egal, was auch passiert war, jetzt war er wieder zu Hause.

Undeutlich wurde sie sich der beruhigenden Geräusche von Menschen bewusst, die nach Hause kamen und sich durchs Haus bewegten. Geklapper von Schritten auf Holzdielen. Dumpf nahm sie wahr, dass das Telefon mehrmals klingelte, der Anrufbeantworter in der Diele ansprang und Freunde mit begeisterter Stimme irgendwelche Nachrichten hinterließen. Vielleicht war sie auch eingeschlafen, sie wusste es nicht mehr, jedenfalls schreckten Rachels lebhafte Rufe sie aus ihrem Halbschlaf oder Traum empor. »Wo ist er? Ist er schon da?«, rief Rachel, und gleich darauf erschien ihr Gesicht im Türrahmen, ihre Augen leuchteten begeistert. Anna nickte mit dem Kinn zum schlafenden Paul in ihren Armen hinüber, woraufhin Rachel sich schuldbewusst die Hand vor den Mund schlug und sich rasch wieder zurückzog. Danach schien es im Haus stiller zu werden, und Annas Atemzüge fielen wieder in einen Rhythmus mit Pauls.

Der Abend zeigte sich als silbriges Licht am Rand der Gardinen. Anna schob ihre Hüften an Pauls Körper. Seine Lider bebten, er öffnete die Augen und lächelte plötzlich wieder mit all der Fröhlichkeit und dem Übermut, den sie an ihm kannte.

Sie erwiderte sein Lächeln und spürte, wie seine Hand ihren Oberschenkel liebkoste und sich dann unter ihrem Hemd nach oben bewegte. Sie zog scharf die Luft ein, als sie den herrlichen Schauer seiner warmen Finger auf ihrem Bauch spürte. Verlangen sammelte sich in ihrem Mund und kräuselte sich zwischen ihren Beinen. Dann küsste er sie, und sie verlor sich in der samtigen Vertrautheit seines Körpers, der ungestümen Lust und Hitze seines drängenden, kundigen Liebesspiels. Sie kannte ihn so gut, sein Körper in ihrem, sein Körper, der sie umschlang, die plötzliche Kälte in seinem Mund kurz bevor er kam, dass sie plötzlich weinen musste. Dann weinte auch Paul, wie sie ihn nie zuvor weinen gesehen hatte.

Sie ließ Badewasser einlaufen, doch Paul wollte lieber duschen, wollte die Zeit der Haft von seinem Körper abwaschen, den Staub und das Gift abspülen. Also stieg Anna in das warme Badewasser, während Paul sie von der Badematte aus beobachtete, wo er mit übereinander geschlagenen Beinen saß.

Anna streckte den Arm aus und strich ihm mit einem seifigen Finger über das Kinn. Er grinste, in seinen Tigeraugen war wieder das alte Feuer. »Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich dich liebe?« Seine Stimme brannte vor Gefühl, so stark, dass sie wieder einen Kloß in der Kehle verspürte.

»Was ist passiert?«, fragte sie ohne Umschweite. Sie erwartete zwar keine Antwort, hoffte aber darauf. Sie musste ihm ein Stichwort geben, selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass er darauf ansprang.

Er blickte sie lange an, seine Augen wurden schmaler und sein Mund verhärtete sich. Dann befreite er sich von ihrer Hand, unter dem Vorwand, nach der Seife zu fischen, die irgendwo in der Nähe ihrer Füße lag. »Es war schlimm.« Das war alles, was er sagte, während er unter größerem Geplatsche das Wasser auf der Suche nach der Seife durchpflügte. Sein Gesicht war ernst und unnahbar, einen Moment lang wurde sie daraus nicht schlau, doch dann veränderte es sich plötzlich wieder, als er das Stück Lux-Seife so triumphierend aus der Badewanne hob wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht. Anna lächelte matt, während er sich hinter sie beugte und anfing, ihr den Rücken abzuseifen. Das war es dann wohl.

Doch zu ihrer Überraschung sprach er plötzlich weiter.

»Yussus!«, fing er an. »Ich kann dir sagen, diese Schweine machen wirklich Ernst.« Er sagte das so locker und prahlerisch, wie jemand, der die Leistungen seines Fußballteams nach einem gewonnenen Spiel kommentiert. Doch er redete nicht über Fußball. Er sprach von Captain Nel. Seine Unbeschwertheit war bloß aufgesetzt, eine Fassade, um die Grausamkeit der Geschehnisse zu verbergen, vielleicht sogar vor sich selbst. »Einmal habe ich wirklich gedacht, jetzt hätten sie mich erledigt. Ich hab wirklich geglaubt, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.«

Anna spürte, wie ihr die Kehle eng wurde.

»Ich glaube, es war Nacht, bin mir aber nicht sicher.« Er seufzte. »Irgendwas stimmte nicht mit ihnen, sie waren einfach viel zu aufgekratzt, als sie mich holen kamen. Ich konnte an Nels Atem riechen, dass er getrunken hatte, und mir war klar, dass sie sich einen Riesenspaß machen wollten, eine richtige Party.«

Er seufzte tief. »Sie haben mich in das Verhörzimmer geführt. Ein weißer Raum. Klein. Ohne Fenster.« Paul nahm seine Hand von ihrem Rücken und setzte sich auf die Fersen zurück. Sie versuchte, sich die kalte, Furcht einflößende Atmosphäre des Zimmers vorzustellen. »In der Mitte stand ein Tisch. Wie ein Schulpult, die Dinger, an denen man seine Klausuren schreibt. Dort haben sie mich hingesetzt und dabei übers ganze Gesicht gegrinst.« Er seufzte wieder.

»Ich hab an dich gedacht, und dass hat mich wieder beruhigt; ich musste mir bloß dein Gesicht vorstellen, das hat schon geholfen.« Sie lächelte ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln, doch seine Augen waren wie dunkle Tunnel.

»Dann sehe ich, wie Nel dieses Ding aus der Tasche zieht. Er knallt es vor mich auf den Tisch.« Paul legte die Seife in die Seifenschale neben ihr, wobei sein Arm an ihrer Schulter vorbeistrich. »Es ist ein Haftminenzünder.«

Anna fröstelte.

»Die ganze Zeit über behält er mich im Auge, und mir ist scheißkalt. Ich weiß genau, wenn das Ding losgeht, ist der Spaß vorbei. Und er weiß das auch, und will natürlich, dass ich genau daran denke. Er fragt mich, ob ich weiß, was das ist, und ich schüttele den Kopf. Ich sag ihm, ich habe so was noch nie gesehen. Er lacht, und dann stellt er den Zünder ein und verlässt den Raum. Und das war’s. Ich bin allein mit diesem Ding, und die Zeit läuft ab. Ich denke mir, ich zähle am besten gleich mit. Ich weiß, dass ich noch ganze fünfzehn Minuten vor mir habe, bis das Ding losgeht. Wenn ich es anfasse, bin ich ein toter Mann. Sie haben mich erledigt. Und wenn ich es nicht tue, bin ich erst recht tot — in einem kleinen Raum wie diesem bleibt nur Hackfleisch von mir übrig.«

Auf der Suche nach ein bisschen Wärme ließ Anna sich tiefer ins Badewasser gleiten. Paul schüttelte den Kopf, dann schmunzelte er tatsächlich angesichts der Erinnerung, so wie ein Jäger vielleicht wehmütig lacht beim Gedenken an ein Beutetier, das beinahe entkommen wäre. Dieses prahlerische Getue sah Paul überhaupt nicht ähnlich, dachte sie, es war bloß eine Maske. Und dennoch nahm sie allmählich von ihm Besitz.

»Puh, ich kann dir sagen! Ich hab vielleicht geschwitzt drin. Ich zähle also mit, was das Zeug hält, und frag mich natürlich die ganze Zeit, ob ich zu schnell oder zu langsam bin, und denk mir, diese Scheißkerle kümmert’s ohnehin nicht, sie lassen mich einfach krepieren.«

Mit der Hand zog er Strudel durch das Badewasser. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas sah.

»Dann bin ich bei zwölfeinhalb Minuten angekommen, und plötzlich reißt jemand die Tür auf. Nel. Schweißgebadet und mit knallrotem Gesicht. Mensch! Er stürmt auf den Tisch zu, reißt den Zünder an sich und entschärft das Ding innerhalb von Sekunden. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre ihm um den Hals gefallen. Dann schaut er mich total wütend an und sagt mir, ich solle rausgehen.«

Paul schob die Brust vor, während er Nels stark gefärbten Akzent nachahmte. Anna schlang die nassen Arme um ihn. »Yussus, in dieser Nacht hättest du mich mal sehen müssen. Noch nie im Leben war ich so schweißgebadet, das kann ich dir sagen!« Anna drückte ihn an sich, so fest sie konnte. Dann nahm Paul ihr Gesicht in seine Hände und küsste es. Anna fühlte sich von seiner Liebe mitgerissen, ihre Glieder schienen sich in der Hitze aufzulösen. »Die ganze Zeit über habe ich an dich gedacht«, flüsterte er. »Jeden Tag, jede Minute. Es war, als wärst du immer bei mir gewesen. Du hast mir die Kraft gegeben, durchzuhalten.« Anna zitterte, so stark war das Gefühl zwischen ihnen.

Dann stand Paul auf, sein Tonfall war wieder fröhlich und unbeschwert. »Eines Tages werden wir unseren Kindern davon erzählen. Und wahrscheinlich wird es sie einen Scheißdreck interessieren. Die verwöhnten kleinen Stinker.« Er trat in die Dusche und zog mit theatralischer Geste den Vorhang hinter sich zu. »Wenn sie dann an ihrem Swimmingpool im schicken Sandton sitzen, die Autos in der Einfahrt zählen und sich fragen, was das ganze Freiheitskampftheater überhaupt sollte. Wir bekommen bestimmt mal hübsche Kinder, du und ich. Ganz hübsche.«

Der Gedanke an gemeinsame Kinder gefiel Anna. Er ließ sie an Fahrgemeinschaften zur Schule, Pausenbrote und all die anderen einfachen Dinge des täglichen Lebens denken und barg die wunderbare Möglichkeit einer ganz gewöhnlichen, unkomplizierten Zukunft. Hoffnung. Das war das unerschöpfliche Geschenk, das er ihr gab. Er umgab sie mit so viel Hoffnung, dass sie sich schon gar nicht mehr an die Sorge, Erschöpfung und Furcht erinnern konnte, die sie an diesem Morgen begleitet hatten.

Glücklich ließ Anna sich in die Wanne zurückgleiten. Ihr war klar, dass dies bloß ein kleiner Aufschub war, eine kurze Pause, und dass bald wieder die Ereignisse über sie hereinbrechen würden, doch diesen Augenblick würde sie so lange genießen, wie sie konnte.

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Als sie aus dem Badezimmer kamen, wurden sie von Jacob, Rachel und ihren Söhnen mit Freudengeschrei und weit ausgebreiteten Armen empfangen. Und als sich die stürmische Begrüßung durch die Familie gelegt hatte, trat die kranichartige Gestalt Willem Swanepoels auf sie zu. Er hielt eine Bierflasche in den langen Fingern, und seine Augen leuchteten triumphierend. Er hatte jeden Hebel in Bewegung gesetzt, den das Gesetz zuließ, und egal ob Pauls Rückkehr nun ein Ergebnis seiner Bemühungen war oder nicht, sein Siegesgefühl war jedenfalls berechtigt.

Willem war ein weiser, alter Kopf auf jungen Schultern, ein verrückter, brillanter Anwalt Anfang Dreißig, der für die Gewerkschaft arbeitete. Ein Afrikaaner, der vor Jahren in ihr englischsprachiges Leben geplatzt war, getrieben von Entrüstung und einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn. Sein Engagement war überwältigend. Und das war wohl auch der Grund dafür, dass die reizende Mrs. Swanepoel immer ein wenig resigniert wirkte, so als ziehe sie beim Kampf um Willems Zeit ständig den Kürzeren, sei es gegenüber seiner Suche nach Gerechtigkeit oder auch gegenüber den zahllosen hübschen jungen Kellnerinnen und Journalistinnen, denen Willem begegnete.

Rika war ebenfalls gekommen, sie hielt sich matt lächelnd im Hintergrund, eine stille, ätherische Schönheit. Sie schien sich stets ein wenig unbehaglich zu fühlen; sie passte nicht recht in die linke Bewegung, aber Willem fühlte sich dort wohl, und deshalb war ihr Platz nun wohl oder übel auch dort. Im Allgemeinen hieß das, dass man sie in der Küche oder bei den Kindern im Garten finden konnte.

Essen wurde vorbereitet, Fleisch mariniert und der Grill für ein festliches Braai zu Ehren des Heimkehrers in Gang gesetzt. Laut knallend wurden Bierflaschen geöffnet, und die Gruppe begab sich nach draußen, während die Sonne hinter der ausgefransten Skyline der Stadt versank. Sie stellten sich ans Ende des Gartens, wo der Hügel jäh nach unten abfiel und sich ihnen ein spektakulärer Blick auf die Stadt vor dem fernen Horizont bot. Rika und Rachel badeten die Kinder und zogen ihnen Schlafanzüge an. Anna stand bei den Männern und starrte ins Feuer. Bald würde auch Joe vorbeikommen und ihre Familie vervollständigen. Wie eine zusammengerollte Katze ließ sich die Zufriedenheit auf ihr nieder.

Zerstreut hörte sie Willem und Jacob dabei zu, wie sie mit Paul die altbekannte Checkliste von Fragen durchgingen, sich die Namen seiner Vernehmungsbeamten notierten und sich erzählen ließen, welche Themen und Namen sie immer wieder umkreist und wie ihre Stimmungen und Schwerpunkte sich im Laufe der Wochen verändert hatten. Pauls Bericht vermittelte ihnen einen wertvollen Einblick in die augenblicklichen Interessen und Ziele der Sicherheitspolizei. Er lieferte interessante Hintergrundinformationen für Willem und unmittelbare geheimdienstliche Informationen für Jacob, die dieser Joe berichten würde, der sie seinerseits an das größere Netzwerk der Bewegung weitergab.

Die Bewegung arbeitete im Untergrund, in einzelnen operativen Zellen. Rachel, Jacob, Anna und Paul bildeten gemeinsam eine politische Zelle. Sie arbeiteten vor allem im Bereich von Ausbildung, Propaganda und dem Aufbau von Verbindungen. Ab und zu bildeten sie möglicherweise auch ein Verbindungsglied bei militärischen Operationen, auch wenn es ihnen nicht notwendigerweise immer bewusst war. Genau wie ihr Gegner arbeiteten sie nach dem Prinzip, dass der Einzelne nur das erfuhr, was unbedingt erforderlich war.

Jacob brachte Informationen und Ideen ein, Paul die Strategie, Rachel war der Politkommissar, hielt sie zusammen und sorgte dafür, dass sie emotional und politisch fit waren. Annas Stärke lag in der Organisation und Logistik, ja sogar der Verwaltung, sofern man von so etwas in einer Einheit reden konnte, wo nichts aufgezeichnet wurde und die Einzelheiten manchmal sogar vor den eigenen Mitgliedern geheim gehalten wurden.

Als Folge ihres politischen Engagements hatte ihr Leben eine besondere Qualität bekommen, eine Dringlichkeit, die ihnen zum Alltag geworden war, während sich ihre Beteiligung an der Bewegung verstärkt hatte und der Kampf im Land schärfer geworden war. Täglich lebten sie von neuem in der erregenden Angst, bald den Preis zahlen zu müssen, sei es in Form von Polizeischikanen, Festnahmen, Untersuchungshaft, Gerichtsverfahren, Gefängnisstrafe oder sogar Tod.

Soweit Anna wusste, hatten sie Willem nie von ihrer Zelle erzählt, doch er stellte keine Fragen, und sie nahmen das als Zeichen seines Vertrauens.

Jacob wunderte sich vor allem, warum Paul so lange in Untersuchungshaft gesessen hatte. Paul hatte jedoch wenig gesehen oder gehört, was Licht in diese Frage bringen konnte. Er führte seine Verhaftung darauf zurück, dass die Geheimpolizei entweder schlecht informiert gewesen war oder durch irgendjemanden gezielte Fehlinformationen erhalten hatte. Damit meinte er, dass irgendjemand der Polizei die Information gegeben haben musste, dass er, Paul, und die Zelle eine Aktion planten, was in Wahrheit gar nicht stimmte. Keiner von ihnen sprach es aus, doch allen war klar, was das bedeuten konnte. Es war möglich, dass sie in ihrem engsten Umkreis einen Spitzel hatten.

Rachel war überzeugt davon, dass Paul verhaftet worden war, weil irgendjemand aus ihrem Umfeld ihn bei der Sicherheitspolizei verpfiffen hatte. Argwöhnisch bestand sie darauf, Listen von Freunden und politischen Weggefährten aufzustellen, die das getan haben konnten. Anna hörte das nicht zum ersten Mal. Sie stellte ihr Bier ab und ging unter dem Vorwand, etwas zu essen zu holen, ins Haus. Sie hasste es, wenn die Unterhaltung eine solche Wendung nahm.

Verleumdungskampagnen waren eine beliebte Waffe der Gegenspionage. Die Polizisten unterwanderten nur zu gern eine Einheit, indem sie Informationen verbreiteten, die vermuten ließen, dass es einen Denunzianten in den eigenen Reihen gab. Es war eine altbewährte Taktik, die von beiden Seiten angewandt wurde. Anna wusste wohl, dass es tatsächlich Spitzel gab, üblicherweise Leute, die von der Polizei gefangen genommen und so schwer gefoltert worden waren, dass sie sich gegen ihre eigenen Leute wandten. Dann gab es natürlich noch diejenigen, die einfach nur gierig waren und für Geld alles tun würden, gebrochene Menschen, die keinerlei Prinzipien hatten und weder über Familie noch eine andere Art von Gemeinschaft verfügten, die sie lenken konnte. Doch Anna war sich sicher, dass es vor Pauls Verhaftung keinen Spion in ihrem unmittelbaren Umfeld gegeben hatte. Rachels Gerede war destruktiv. Angewidert von dem Gift, das solche Verdächtigungen ihre Welt ausstreuten, zog sich Anna unbemerkt ins Haus zurück.

In der Küche traf sie auf Rika, die am Tisch saß und eine Zigarette rauchte. Sie lächelte Anna zu, als sie eintrat. Sie war wirklich unglaublich schön, wie sie da saß, mit ihrem langen glatten Haar, das ihr wie Wildseide über die Schultern fiel. Aus der Zigarette in ihren perfekt manikürten Fingern stieg der Rauch in eleganten Kräuseln empor. »Alles in Ordnung mit dir, Anna?« Anna nickte, war aber selbst nicht überzeugt. »Es muss schwer sein, wenn man jemanden, den man liebt, so verletzt sieht«, meinte Rika sanft. Anna spürte, wie ihr die Tränen in die Kehle stiegen. In der freundlichen Stimme dieser Frau, in ihrer Anteilnahme, die keine großen Worte um Opferbereitschaft oder Tapferkeit machte, war etwas, das Anna weich werden ließ. Sie setzte sich an den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen, bis sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. Rika rauchte ruhig vor sich hin. »Puh. Manchmal weiß ich einfach nicht … Ich weiß einfach nicht … es ist schwer …« Rika nickte mitfühlend und erhob sich dann. »Sollen wir das Essen rausbringen?«

Beladen mit Salatschüsseln und einem Korb mit weichen Brötchen kehrten sie in den Garten zurück. Erleichtert stellte Anna fest, dass Jacob gerade dabei war, mit seiner angenehmen, kräftigen Stimme Rachels Spekulationen ein Ende zu setzen. »Wir wissen nicht, warum. Also lassen wir das besser auf sich beruhen, Liebling, und bewegen uns nach vorn. Mit der gebotenen Vorsicht, wie du sagst. Aber ohne diese giftigen Anschuldigungen und Verdächtigungen. Okay?« Er legte ihr den Arm um die Schulter.

Jacob, der Redegewandte. Jacob, der mit dem stählernen bis samtigen Repertoire seiner Stimme und seiner schönen, schlichten Ausdrucksweise eine Menge ebenso zum Kampf aufzustacheln wusste, wie er den wütenden Mob wieder bändigen konnte. Er bildete das perfekte Gegenstück zu Paul, dem stillen Taktiker.

Anna warf Rachel einen Blick zu, den diese mit einem Nicken des Einverständnisses erwiderte. Anna war immer wieder gerührt davon, wie stark das Vertrauen war, das zwischen ihnen herrschte. Dieses gegenseitige Vertrauen war es, was sie zu einer so wirkungsvollen Einheit machte.

Sie legte Paul die Arme um die Taille, und er beugte sich hinunter und küsste sie aufs Haar. Dann murmelte er ihr ins Ohr: »Hat sich Joe noch nicht gemeldet?« Anna schüttelte den Kopf. Als sie ihm ins Gesicht blickte, stellte sie überrascht fest, dass er ziemlich besorgt aussah.

»Ist da was, was ich wissen sollte?«, fragte sie ihn. Er schaute sie an und drückte die leere Bierdose in der Faust zu einer Blechkugel zusammen. Dann schüttelte er den Kopf, löste sich aus ihrer Umarmung und ging ins Haus. »Ich hol noch ein paar Bier«, sagte er ruhig.

Die Oliphant-Jungen und Swanepoel-Mädchen jagten einander kreischend durch den Garten, ganz vertieft in ein kompliziertes Spiel aus Fangen und Ringkampf. Paul öffnete ein Castle-Bier mit dem Genuss von jemandem, der es sich ehrlich verdient hatte, und trank einen großen Schluck. Die Sonne sank hinter der Stadt herab und tauchte den Himmel in leuchtendes Feuer. Lange, zornige Streifen aus Gold, Orange und Blutrot überzogen den dunstigen Himmel. Der Duft des Fleisches auf dem Grill war überwältigend.

Wie mild einem die Stadt bei Nacht vorkam. All der Schmutz und die Gewalt wurden von den funkelnden Lichtern verborgen. Annas Gesicht leuchtete, als sie sich in der kleinen Runde umschaute, ihre Freunde, die ihr zur Familie geworden waren. Sie spürte die Hoffnung, die jeden von ihnen durchströmte: sie konnte sie in Pauls Augen sehen, als er zum Horizont blickte und darauf wartete, dass das Kreuz des Südens auftauchte, jener magische Moment, wenn die ersten winzigen Diamanten aus Licht am samtblauen Himmel aufleuchten.

»Da ist es!«, rief er aus. Und da waren sie, die vier Sterne, die schon vor langer Zeit den Europäern bei ihrer Fahrt über die Meere auf der Suche nach Gewürzen und dem fernen Osten den Weg nach Süden gewiesen hatten.

»Siehst du die Staubwolke in der Mitte?«, fragte Willem und deutete in die Dunkelheit. Paul nickte, ohne den Blick von dem leuchtenden Sternbild abzuwenden. »Man nennt es den Kohlensack«, fuhr Willem fort. »Es ist eine Staubwolke, die so riesig ist, dass sie einen Teil der dahinter liegenden Milchstraße verdeckt.« Seufzend umfasste Paul Annas Schulter und murmelte vor sich hin: »Man kommt sich so klein dagegen vor.«

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Einige Zeit später — die Swanepoels waren schon nach Hause gegangen, Rachel und Jacob brachten ihre Söhne zu Bett, während Paul und Anna sich durch den Abwasch in der Küche kämpften — klopfte es an die Hintertür. An dem einmaligen, leisen und dringlichen Pochen erkannte Anna, dass es sich um Joe handelte.

Sie lächelte Paul zu, der sie an sich zog und ihr spielerisch in den Nacken biss. »Die Ruchlosen finden keinen Frieden«, flüsterte er und öffnete die Tür. Er wirkte erleichtert, als ob er den ganzen Abend nur auf diesen Besuch gewartet hätte.

Joe trat ein, gekleidet wie ein Handwerker in blauer Hose, Jacke und einem alten grauen T-Shirt. An den Füßen trug er schwere, farbbespritzte Stiefel, und er hatte auch eine gestrickte Rollmütze tief ins Gesicht gezogen. Anna grinste. »Gefällt mir, dein neues Outfit«, neckte sie ihn. In der Art, wie er sich bewegte, war Eleganz, und er strahlte eine Autorität aus, die keine Verkleidung verbergen konnte. Joe trat an ihr vorbei in die Küche und drückte ihr dabei zum Gruß kurz die Schulter.

Anna war an diesem Abend überglücklich und hätte von Joe eigentlich eine ähnliche Reaktion erwartet. Sie hatte damit gerechnet, dass seine Augen mit dem Feuer der Begeisterung leuchten würden, mit dem er sonst seine Umgebung so faszinieren konnte. Doch seine Augen waren kalt und leer — die Augen eines Verletzten, wie sie schon so viele andere gesehen hatte, genau wie Pauls Augen an diesem Nachmittag.

Anna sah zu, wie er Paul in seine riesigen Arme schloss. Joe war dünn, ein bisschen zu dünn für seine breiten Schultern. Ihr kam der Gedanke, dass er wohl so breit gebaut war, um seine Stoßdämpfer zu verbergen, die Auftriebskörper, die ihn so ruhig über Wasser hielten. Joe besaß eine innere Ruhe, um die sie ihn beneidete. Er war undurchsichtig, nur schwer zu deuten, ganz anders als Paul, dessen Gesicht so beweglich und schnell reagierte, dass man in ihm lesen konnte wie in einem Buch.

An diesem Abend war Joe mehr als sonst bestrebt, zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen. Er lehnte das Bier ab, das sie ihm anbot, und deutete mit einer Geste an, dass Paul ihm in den Garten folgen solle. Beide verschwanden nach draußen in die Dunkelheit, wo sie sicher vor neugierigen Blicken und Lauschangriffen durch Wanzen waren, wie sie die Sicherheitspolizei nur zu gern einsetzte.

Anna wandte sich wieder der Spüle und der befriedigend einfachen Aufgabe des Abwaschs zu. Sie fragte sich, was Joe auf dem Herzen hatte und ob dieses Treffen vielleicht mehr war als die routinemäßige Einsatzbesprechung, für die sie es gehalten hatte.

Joe war ihr Kommandant, ihr Verbindungsglied zur Bewegung. Er gehörte zum politischen und militärischen Führungskader ihrer Region und hatte zweifellos noch etliche weitere Posten und Aufgaben, über die sie nicht Bescheid wusste. Joe war es, der ihnen ihre Anweisungen gab und die Durchführung von Aufträgen und Einsätzen organisierte.

Anna ließ das Geschirr auf dem Abtropfgestell zum Trocknen stehen und machte sich bettfertig. Nach weniger als einer Stunde kam Paul wieder herein, allein.

Er stieg neben ihr ins Bett, schlang die Arme um ihre Taille und streichelte ihr den Bauch. Anna lehnte den Kopf an seinen Kopf und genoss es, seinen Körper wieder zu spüren und zu riechen. Ich frage mich, sprach sie ihn in Gedanken an, ob je der Tag kommen wird, an dem ich mal nicht mehr dafür dankbar sein werde, dass es dich gibt. Lächelnd schloss sie die Augen. Nein, so ein Tag würde niemals kommen.

2

Carlos, der unwirsche Besitzer des kleinen Eckcafés mit angeschlossenem Geschäft, rang sich ein für ihn ziemlich untypisches Wolfslächeln ab, als er Paul am nächsten Morgen in seinem Laden sah. »Hey, Alter! Lange nicht gesehen«, murmelte er. Paul grinste breit. »Wie steht’s, Carlos? Hätte nicht gedacht, dass ich mich mal freuen würde, deine hässliche Visage wiederzusehen!« In einer Art ironischem Gruß hob Paul die geballte Faust. Er sprühte geradezu vor Energie und Freude darüber, wieder zurück in der Welt zu sein. In seiner Welt, wo man Samstagmorgens warme, frisch gebackene Brötchen holte und wo einem der Besitzer des Cafes auch noch spät abends, wenn einem die heimischen Alkoholvorräte ausgegangen waren, Wein oder Bier aus einem besonderen Regal zuschob. Der Mann, mit dem man sich über Rugby- und Fußballergebnisse unterhielt, die jüngste Wahl eines Trainers oder Managers beklagte und manchmal auch in Andeutungen die Geschehnisse im Land diskutierte.

»Ja, ich hab gehört, sie haben dich eingebuchtet«, knurrte Carlos, den Blick auf Paul gerichtet, während sich seine Hände durch eine Palette mit Avocados arbeiteten und sie auf ihre Reife prüften.

»Ja«, seufzte Paul und blickte auf die grüne Frucht in Carlos’ Hand hinab.

Carlos schüttelte traurig den Kopf. »Aber jetzt bist du wieder okay, was?«

Paul nickte, hatte den Blick aber immer noch vage auf die Gemüsekisten gerichtet. Die Arme hielt er auf dem Rücken, die Finger in die Gesäßtaschen seiner Jeans eingehängt. »Es war kein Vergnügen, das kann ich dir sagen!«

Carlos nickte mitleidig mit seinem langen traurigen Gesicht. »Was uns nicht tötet, macht uns nur noch härter, was Junge?«

Paul lächelte dankbar und schlenderte nach hinten, um die Brötchen zu holen. Anna durchforstete die Gänge nach einem Glas Feigenmarmelade und etwas mildem Hartkäse, und der strahlende Morgen kam ihnen wunderbar vor.

Hand in Hand schlenderten sie durch den Sonnenschein nach Hause. Begrüßten Nachbarn, tätschelten Hunde, die ausgeführt wurden, und kickten Kindern Bälle zurück. Eine Nachbarin rief sie zu sich, und sie plauderten über die Gartenmauer hinweg mit ihr. Maggies Schwester war vor drei Wochen verhaftet worden; sie wollte wissen, ob Paul vielleicht etwas von ihr gesehen oder gehört hatte, während er im Gefängnis war. Er schüttelte den Kopf. Sie hätten sich auch über den Preis von Eiern unterhalten können, so alltäglich war ihr Gespräch. »Na, ist jedenfalls schön, dich wieder auf freiem Fuß zu sehen!«, zwitscherte Maggie und nahm ihre Gartenarbeit wieder auf.

Es war Karfreitag. Die Stadt war wie leergefegt, und die untypische Ruhe verstärkte die Feiertagsstimmung.

Sie bereiteten ein Riesenfrühstück vor, das sie in der Küche gemeinsam mit Rachel, Jacob und den Jungen aßen. Als sie fertig waren, kehrte Stille ein. In gemütlichem Chaos war jede freie Fläche mit Speisen oder Zeitungen bedeckt.

Rachel und Jacob saßen nebeneinander auf der Bank am Küchentisch, Rachels Hand lag ungezwungen auf dem Oberschenkel ihres Mannes, während sie die Wochenausgabe der Mail durchblätterte. Ihre beiden Söhne, Bram und Delarey, hatten es sich mit ihren Comics auf dem Fußboden bequem gemacht.

Paul hatte sich mit der für ihn typischen, alles andere verdrängenden Konzentration über die Zeitung gebeugt. An der Bewegung seiner Kiefermuskulatur, die sich spannte und wieder entspannte, konnte Anna sehen, wie vertieft er in seine Lektüre war.

Sie lächelte, während sie sich einen Becher Kaffee einschenkte. Dann setzte sie sich ins Esszimmer, um etwas Arbeit zu erledigen, und im Haus gingen alle ihren täglichen Pflichten nach.

Zum Lunch führte Paul sie ins Yard of Ale in der Stadt aus. Willem war ebenfalls dort, in Begleitung einer hübschen jungen Frau. Er stellte sie als eine Kollegin vor. Anna runzelte missbilligend die Stirn, was Willem furchtbar zu amüsieren schien. Der Rest der Gäste bestand aus der üblichen Schar von politischen Aktivisten und Journalisten, Freunden und Genossen.

Paul sah so glücklich aus, wenn er lachte und Geschichten aus der Haft zum Besten gab. Er war so schön, dass es ihr manchmal regelrecht den Atem verschlug.

Nachmittags gingen Paul und Jacob in den Garten. Anna setzte sich mit Rachel und Delarey an den Esstisch und half Delarey bei einem Projekt für die Schule. Das Thema war Jan van Riebeek, und Delarey wies den Großteil ihrer Vorschläge mit der Begründung ab, seine Lehrerin wolle vermutlich gar nichts davon hören, dass die Kapprovinz schon Jahrhunderte vor der vermeintlichen Entdeckung durch van Riebeek von Buschmännern bewohnt gewesen war. Ab und zu blickte Anna auf und beobachtete Jacob und Paul, die mit ernsten Gesichtern, die Köpfe dicht beieinander, in eine eifrige Diskussion vertieft waren.

Am Abend wirkte Paul sehr nachdenklich. Er brachte ihr Roiboostee mit einem Löffel Honig ans Bett, genau wie sie es gern hatte. Dann schlüpfte er neben sie unter die Decke und berichtete ihr die Neuigkeiten, die seine lange Besprechung mit Jacob erklärten. Er legte die Arme um sie, drückte sie an sich und flüsterte ihr die höchst unwillkommene Botschaft ins Haar: »Kleines, ich muss wegfahren, zusammen mit Jacob. Wir fahren morgen ganz früh los.«

Anna erwiderte nichts. Sie wusste, dass er ihr Zusammenzucken gespürt hatte, doch er umarmte sie nur noch fester. Auch wenn es sinnlos war — sie war enttäuscht und ärgerlich. Weniger auf ihn, als vielmehr auf die Situation, in der sie sich befanden. Ihr war klar, dass sie nichts daran ändern konnte, und dennoch verspürte sie bittere Enttäuschung. Konnte sie ihn denn nicht einmal für kurze Zeit für sich allein haben?

»Baby?«, murmelte er ihr ins Ohr, ein leises Flehen um ihre Zustimmung.

»Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet«, erwiderte sie säuerlich. »Ich dachte, wir hätten wenigstens ein bisschen Zeit … Ach, vergiss es …« Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch er zog sie nur noch fester an sich, und plötzlich brach die ganze Enttäuschung über die Ungerechtigkeit ihrer Situation aus ihr hervor. Sie setzte sich auf und schob ihn weg. »Eine Scheiße ist das!« Sie schüttelte den Kopf, und die langen Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Sie machte Anstalten, aus dem Bett zu steigen, doch er griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest. Sie wehrte sich nicht, blickte ihn aber auch nicht an. Er streichelte ihr den Nacken.

»Tut mir Leid, Liebes. Ich weiß, wie schwer es für dich war.«

»Aber warum schon so bald? Du bist doch noch keine zwei lage wieder draußen. Monatelang bist du weg gewesen. Warum kann das nicht mal jemand anders erledigen?« Sie schlug mit den Handflächen auf die Bettdecke und kam sich dabei bockig und kindisch vor. Sie mochte ihn nicht gern mit ihrer Missbilligung in die Enge treiben und sah es auch nicht gern, wenn er um ihre Zustimmung kämpfen musste, die sie ihm am Ende, wie sie wusste, ohnehin geben würde, doch sie fand, dass sie mehr verdient satte. Sie war es leid, sich ständig in Selbstbescheidung zu üben und tapfer Opfer zu bringen. Warum sollte es nicht auch ihr einmal erlaubt sein, ein bisschen was für sich zu haben?

Mit einem tiefen Seufzer nahm Paul die Hand von ihrem Haar und rollte sich zu einer Kugel zusammen, die Arme um die Beine geschlungen und die Knie zum Kinn emporgezogen. Sie blickte ihn anklagend an. »Ich habe dich das noch nie gebeten, aber jetzt bitte ich dich: Bitte lass jemand anderen gehen!«

Er schüttelte den Kopf. »Das kann niemand anderes erledigen.«

»Blödsinn!«

Traurig, fast flehentlich blickte er sie an. »Das musst du mir glauben!«

Unsicher suchte sie sein Gesicht nach irgendeinem Grund ab, ihm nicht zu vertrauen, doch es gab keinen. Sie hieß sich in die Kissen zurücksinken. Tränen liefen ihr über das Gesicht.

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte er und legte sein Gesicht an ihre Wange. »Ich verspreche dir, wenn das erst mal vorbei ist, wird alles anders. Wir werden mehr Zeit füreinander haben, du und ich. Und es wird keine lange Reise. Höchstens zweiundsiebzig Stunden. Sonntagnacht sind wir schon wieder zurück.«

Anna merkte, wie sie klein beigab. Sie wandte sich wieder zu ihm und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Er streichelte ihr über das Haar, und sie weinte bitterlich. »Nächstes Wochenende fahre ich mit dir nach Durban«, flüsterte er. »Wir gehen am Strand spazieren, schauen uns den Sonnenuntergang an und essen Bunny Chow.«

Während er das sagte, sah sie die Strandpromenade und den Sonnenuntergang über der Stadt vor sich. Sie erinnerte sich daran, wie sie das erste Mal einen Bunny Chow für ihn gekauft hatte und wie er erleichtert gelacht hatte, als er den halben ausgehöhlten Brotlaib sah, der mit Hammelfleisch gefüllt war. Er hatte schon befürchtet, sie würden tatsächlich Kaninchen essen.

Nach und nach versiegten ihre Tränen, und sie fühlte sich etwas besser. Sie trank ihren Tee und lächelte ihn an, als er eine Grimasse des Bedauerns schnitt. Dann nahm er ihr die Tasse aus der Hand, stellte sie auf den Boden und legte sich auf sie. Er drückte ihre Schultern in die weichen Kissen zurück und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

»Und wir finden raus, was als Matinee im Avalon Albert läuft, versprochen!« Sie grinste hilflos. Damit hatte er sie endgültig rumgekriegt. Sie liebte das Avalon, denn es war eines der wenigen Kinos im Land, in dem sie als »Gemischtrassiges Paar« nebeneinander sitzen und die Gesetze brechen konnten, die sonst nicht einmal die kleinste Zärtlichkeit zwischen den Rassen erlaubten. »Und wir setzen uns in die letzte Reihe und knutschen ganz wild! Genau wie jedes andere Liebespaar, das die Finger nicht voneinander lassen kann!«

Seine Hand schob sich an ihrem Bein empor, an ihrem Knie vorbei unter das Nachthemd. Der dicke Baumwollstoff glitt von ihren Schultern herab, und sie spürte noch einmal den köstlichen Schauer, wenn ihre Haut seine berührte. »Oh, Gott. Ich liebe dich, Paul.« Ein ganzes Leben mit ihm wäre nicht lang genug.

Er schlief noch vor ihr ein, seine Beine mit ihren verschlungen, die Brust und den Hals feucht von der Hitze des Liebesakts. Anna lag wach und lauschte den Wortfetzen der Auseinandersetzung, die von nebenan herüberdrangen. Sie hörte die beiden nicht zum ersten Mal streiten. Ihre Dissussion schwoll mit mehr Vehemenz an und ab, als Paul und sie aufbringen konnten. Jacob hatte in seiner Situation stärkere Schuldgefühle zu gehen, und Rachel empfand weniger Gewissensbisse, ihn zum Bleiben zu drängen. Doch am Ende würde ihr Auftrag Vorrang haben, das galt für sie alle. So auch für Anna, die den sechzigsten Geburtstag ihrer Mutter verpasst hatte, als eine kurzfristige Anweisung sie allein ins Karoo geschickt hatte, um eine Botschaft, die sie nicht verstand, an jemanden weiterzugeben, bei dem sie sich noch nicht einmal sicher sein konnte, ob sie ihn überhaupt treffen würde. Befehl ist Befehl. So war es, und so würde es immer sein.

Anna schloss die Augen und ließ sich vom Schlaf überwältigen.

Am nächsten Morgen, bevor Paul gehen musste, liebten sie sich noch einmal. Er weckte sie sanft auf, seine Zunge leckte an ihren Brustwarzen, sein Daumen glitt über die Innenseite ihrer Oberschenkel. Mit sanfter Dringlichkeit schob er sein Glied in sie hinein. Anna war noch ganz schlaftrunken, kaum richtig erwacht, und schlief wieder ein, sobald er weg war. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn beim Weggehen tatsächlich gesehen oder sich seinen Anblick bloß eingebildet hatte: ein verschwommener Umriss in Jeans und einem bunten Baumwollhemd, der ihr aus dem Türrahmen einen letzten Kuss zuwarf.

Stunden später fand sie im Badezimmer eine Mitteilung, die er ihr mit Tesafilm an den Duschvorhang geklebt hatte: »Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.« Sie lächelte, als sie das las, und liebte ihn in diesem Augenblick nicht nur wegen seiner Botschaft, sondern auch, weil er sie so gut kannte. Er wusste genau, dass sie immer als Erste aufstand, die Erste im Bad war und den Tag damit begann, unter der Dusche die Schatten der Nacht abzuspülen. Und er wusste auch, wie sehr sie dieser Satz trösten würde, denn sie hatte oft Angst, er dagegen war stets furchtlos.

Und trotzdem konnte sie das unbehagliche Gefühl nicht abspülen, das sie jedes Mal überkam, wenn er nicht da war.

Da Delareys Schulprojekt über van Riebeek den gesamten Küchentisch einnahm, aß Anna ihr Frühstück im Stehen. Rachel und Delarey wollten in die Bücherei gehen und schauen, ob sie dort etwas finden konnten, was dem Jungen zu einer anderen Einschätzung dieses aufgeblasenen, gepuderten Holländers verhelfen würde, der 1652 das Kap betreten hatte und — wenn man Delareys Lehrerin Glauben schenken wollte — der erste Einwohner der Kapregion gewesen war.

Anna beschloss, ihre Familie zu besuchen.

Ihre Mutter lebte in einem langen, engen Apartment im zweiten Stock eines Gebäudes in Fordsburg unweit des Stadtzentrums, zusammen mit zwei von Annas drei Schwestern — Nadia, Sonya und Natasha. Annas Vater, ein Schneider, hatte eine Leidenschaft für russische Romane gehabt. Er war schon vor Jahren gestorben; er war auf der Stelle tot gewesen, als sein Lieferwagen frontal mit einem Sportwagen zusammengeprallt war. Der Fahrer des anderen Wagens war betrunken gewesen. Keiner von beiden hatte mehr erfahren, was ihn eigentlich getroffen hatte.

Annas Vater war Inder gewesen, ihre Mutter Farbige. Anna war als Mischling aufgewachsen. Geprägt vom Protestantismus ihrer Mutter und dem Islam ihres Vaters gehörte sie nirgendwo richtig hin. Ihre Mutter, Yasmin Kriel, arbeitete immer noch als Lehrerin und kämpfte unermüdlich um das Wohl ihrer Schüler. Als Anna eintraf, arbeitete sie gerade auf dem Balkon still für sich an ihrer Nähmaschine, während nur zwei Stockwerke tiefer auf der Straße das pralle Leben tobte. Ihre Schwestern waren drinnen mit Hausaufgaben und Freunden beschäftigt.

Yasmin Kriel war eine winzige Frau, an diesem Tag wie so oft in leuchtendgrüne Nylonhosen und eine weite Bluse mit Blumenmuster gekleidet. Sie strotzte stets vor Energie und Betriebsamkeit. Während sie in der Küche stand und das Essen vorbereitete, ließ sie sich von Anna die letzten Neuigkeiten berichten und verfolgte gleichzeitig mit halbem Auge den Fernseher, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. »Tut mir Leid, dass ich Paul jetzt gar nicht sesen kann. Aber du bringst ihn doch Donnerstagabend mit, oder?« Anna nickte und fühlte sich merkwürdig verlassen. Es tat gut, in der Küche ihrer Mutter zu sein, umgeben von dem Lärm und den bunten Farben ihres Zuhauses. Ihre Mutter war glücklicherweise sehr verständnisvoll, was die ungewöhnliche Wahl ihres Freundes betraf. Ihr muslimischer Vater hätte einen weißen Atheisten sicherlich nicht so leicht akzeptiert, nicht als Partner für seine geliebte älteste Tochter. Doch was Yasmin anging, gehörte Paul bereits zur Familie, solange er Anna nur liebte und ihrer Arbeit nicht im Weg stand. Anna blieb zu einem späten Mittagessen, half ihrer Schwester bei den Hausaufgaben und machte sich dann mit besserer Laune und neuem Mut wieder auf den Heimweg nach Kensington.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte es noch kein Lebenszeichen von Paul oder Jacob gegeben. Anna wartete ungeduldig darauf und spürte, dass Rachel ebenfalls unruhig war. Keiner von ihnen sprach darüber, doch beide spitzten die Ohren und lauschten sehnsüchtig auf das Klingeln des Telefons, während sie ihrer Hausarbeit nachgingen, den Kindern Abendessen machten und sie zu Bett brachten.

In dieser Nacht schlief Anna nicht viel, doch Schlaflosigkeit war ihr nicht fremd. Sie nahm sich einen Roman von dem Stapel neben ihrem Bett, lehnte sich in die Kissen und las, während sie darauf wartete, dass irgendwann entweder der Schlaf kommen oder der Tag anbrechen würde.

Sie las immer noch, als sich das erste schwache Licht der Morgendämmerung an den Vorhängen vorbeistahl, und da endlich klingelte das Telefon. Sie sprang aus dem Bett, stürmte in den Korridor und hätte vor Erleichterung fast aufgeschrien.

Doch es war nicht Paul.

Die Stimme in der Leitung gehörte einer Journalistin, die Anna vor allem vom Hörensagen, aber nur flüchtig persönlich kannte.

Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass um diese Zeit ein solcher Telefonanruf kam. Panik überfiel sie, und sie bekam keinen Ton heraus. »Haben Sie jemanden bei sich?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung. Anna sagte überhaupt nichts. Dann sprach die Frau mit erschreckender Direktheit weiter: »Paul und Jacob sind erschossen worden. Sie sind tot.«

Nichts in ihrem kurzen, süßen Leben hätte Anna auf diesen Moment vorbereiten können. Es war, als stünde sie mitten in einem Maschinengewehrfeuer. Jedes Wort durchschlug sie mit der Wucht einer Kugel. Die ganze Welt schien in ihre Einzelteile zu zerfallen, so als würde ein Spiegel in Zeitlupe in tausend winzige Scherben zerspringen.

Sie sagte kein Wort. Die Stille der ersterbenden Nacht sauste ihr in den Ohren.

Rachel trat in den Flur und sah Anna fassungslos dort stehen, in Pauls viel zu weitem T-Shirt, das ihr um die Oberschenkel flatterte. »Hallo? Anna? Sind Sie noch da?«, rief die Journalistin am anderen Ende der Leitung mehrmals in Panik. Anna wollte etwas erwidern, brachte aber keinen Ton heraus. Dann griff Rachel nach dem Hörer. Der furchtbare Entsetzensschrei, den sie ausstieß, gab all den Schmerz und Unglauben wieder, die Anna selbst nicht ausdrücken konnte.

Die Leichen waren vor weniger als einer Stunde gefunden worden, an der Straße zwischen Mafikeng und Vryburg, ein paar Autostunden nordwestlich von Johannesburg. Auf Jacob war nur einmal geschossen worden, in den Hinterkopf. Paul hatte mindestens drei Kugeln abbekommen, so als sei es zu einem Kampf gekommen. Beide Leichen waren mit Benzin übergossen und angezündet worden.

Die nackten Tatsachen wurden wieder und wieder erzählt, erst von der Journalistin, dann von Anna selbst, als sie begann, ihre Familie und ihre Freunde telefonisch zu informieren, doch egal, wie oft sie auch wiederholt wurden — sie kamen Anna immer noch unwirklich vor. Nichts kam ihr mehr wirklich vor.

Vom furchtbaren Schrei ihrer Mutter geweckt, kamen Bram und Delarey aus ihrem Zimmer gestürzt, die Augen noch verschwollen vom Schlaf und angstvoll aufgerissen. Bram hielt immer noch den ausgefransten Plüschhasen umklammert, der sein ständiger Begleiter und Bettgenosse war. Sie rannten zu ihrer Mutter, gerade mal vier und sieben Jahre alt, umarmten sie und versuchten hilflos, sie zu trösten, als sie zu Boden sank.

Anna starrte die drei an, wie sie sich im Schock aneinander klammerten, und hatte keine Ahnung, wie sie das durchstehen sollte, doch sie musste es schaffen. Sie alle mussten das irgendwie durchstehen.

Es war Anna, die den Jungen erklärte, was passiert war, obwohl sie es selbst kaum verstand. Sie legte den Arm um die beiden und führte sie ins Wohnzimmer, an das Fenster, von dem man auf die erwachende Stadt hinausblicken konnte. Alle möglichen Phrasen kamen ihr in den Sinn, doch sie verwarf sie gleich wieder. Es gab nichts, was einen solchen Schlag hätte abmildern können. Die einzig angemessenen Worte hatte die Journalistin vor ein paar Minuten ausgesprochen. »Euer Daddy ist erschossen worden. Er ist tot.«, sagte Anna schließlich.

Und Jacobs Söhne blickten Anna mit den aufgeweckten Augen ihres Vaters an, aus denen der Mut der Unschuld leuchtete. Aus irgendeinem Grund nahmen sie die Nachricht viel ruhiger auf als sie selbst. »War es die Polizei?« Delarey schien vor ihren Augen zu reifen. Anna blickte hinaus auf die noch nächtlich glitzernde Stadt und die bläuliche Morgendämmerung, die die Gebäude in ihr Licht tauchte. Sie nickte. »Ja, es war die Polizei«, sagte sie wie betäubt. Dann zog sie die Jungen an sich und umarmte sie so fest sie konnte, während in ihr das Feuer des Zorns loderte. Und in diesem Moment fasste sie einen Entschluss, den Schlüssel zu der Tür, die sie durch diese Nacht in die Zukunft führen würde, »Aber wir werden sie kriegen. Wir werden nicht zulassen, dass die Schweine entkommen!«

Kurz danach trafen die Swanepoels ein, beide noch schlaftrunken und benommen von dem Schock. Willem trug ein Kind auf dem Arm, das andere hing an seinen Beinen.

Rachel weinte. Sie heulte und raste gegen die Ungerechtigkeit, den Schmerz und das Grauen an. Rika führte sie in ihr Schlafzimmer, gab ihr Tabletten aus der kleinen Dose, die sie mit sich herumtrug. Sie umarmte Rachel, die sich verzweifelt weinend vor und zurück wiegte.

Anna konnte die lautstarken Äußerungen von Rachels Trauer nicht ertragen. Sie fürchtete sich vor der Intensität von Gefühlen. Und Rachel war rasend vor Schmerz. Also schloss Anna sich mit Willem in der Küche ein und versuchte, sich mit Dingen zu beschäftigen, die das Einsetzen ihrer eigenen Trauer aufschieben würden. Delarey kam im Schlafanzug hereingetrottet und kochte eine Kanne Tee. Er brachte ihnen zwei Tassen an den Tisch, dabei war sein Gesicht so ernst, dass Willem wegschauen musste. Der Anblick dieses Kindes, das die Situation so tapfer bewältigte, gab ihm den Rest. Anna sah, wie er gegen den Schmerz ankämpfte, sah, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen, doch sie selbst weinte noch immer nicht. Sie konnte es nicht. Der tiefe Schock hatte alles abgedämpft. Obwohl sie die harte Wirklichkeit sah, konnte sie sich immer noch nicht zusammenreimen, was passiert war.

Willem zündete sich eine von Rikas Zigaretten an, dann zog er einen gelben Schreibblock aus seiner Aktentasche, schraubte die Kappe von seinem Federhalter ab und fing an, sich Notizen zu machen. »Ich will da rauf fahren, bevor die Kerle die Untersuchung an sich ziehen. Je eher wir fahren, desto besser. Kommst du mit?« Anna nickte, dann machten sie sich gemeinsam an die Arbeit. Willem saß neben ihr, unaufhörlich rauchend, während er einen Anruf nach dem anderen machte und versuchte, sich ein Bild von dem zu verschaffen, was eigentlich passiert war. Zwischendurch blockten sie Telefonanrufe von Freunden und Journalisten ab und begannen damit, die Bestattung zu organisieren.

Anna schickte Joe eine Nachricht über einen Kontakt, den sie vor langer Zeit einmal für Notfälle vereinbart, aber bisher nie genutzt hatten. Bis jetzt war es nie nötig gewesen. In weniger als einer halben Stunde erhielten sie eine Antwort, überbracht durch den Hausangestellten eines Nachbarn.

Die Nachricht war handgeschrieben, in einer krakeligen Schrift, die Anna fremd war. Eine Adresse in Parkview stand darauf, mehr nicht. Sie verstand sofort, dass sie ihn dort finden würde. Es wäre im Augenblick nicht sicher für Joe, zu ihrem Haus zu kommen, nicht wenn so viele Menschen dort waren und sie womöglich unter Beobachtung standen.

Anna war überrascht, als Rika Swanepoel ihr anbot, sie hinzufahren, doch sie nahm an, und beide fuhren sofort los. »Hast du was dagegen, wenn ich rauche?«, fragte Rika leise. Anna schüttelte den Kopf. Rika zündete sich eine Zigarette an, und Anna ließ sich in die bequemen Lederpolster zurücksinken. Sie war erschöpft, wie gerädert und fühlte sich wie das Opfer eines Flächenbrandes. Allein in der Einöde, im Mund den Geschmack von Asche, verkohlte Hoffnung im Haar und ringsum nichts als die kahlen, schwarzen Stämme eines einstmals üppig grünen Lebens.

Rika fuhr sie zu der Adresse in Parkview und meinte, sie würde im Auto warten. Anna solle sie einfach rufen, wenn sie irgendetwas brauchte. Joe erwartete sie auf einer Bank im dicht belaubten Garten des Hauses. Er wirkte gebrochen. Anna hatte ihn nie zuvor weinen sehen und war erschüttert. Stumme Tränen rollten ihm über die Wangen.

Anna wollte ihn umarmen, doch er winkte ab, so als sei es ihm unangenehm. »Es ist schon in Ordnung. Du kannst doch ruhig weinen«, flüsterte sie, während ihr selbst die Tränen in der Kehle festzusitzen schienen. Lange Zeit sagte er kein Wort. Anna wartete benommen, die Arme um die Knie geschlungen.

Als er schließlich sprach, geschah es weder, um ihr Trost zu spenden noch um ihr die Handlungsanweisungen mitzuteilen, auf die sie eigentlich gewartet hatte. Vielmehr wischte Joe sich geräuschvoll das Gesicht mit dem Ärmel ab, und plötzlich schien sich seine Trauer in Zorn, ja in rasende Wut zu verwandeln. »Was zum Teufel ist bloß passiert?«, stieß er hervor. »Was zum Teufel haben sie da gemacht, Anna?«

»Was?« Anna spürte ihre Verbindung mit der Wirklichkeit immer dünner werden.

»Wo sind sie hingefahren?«, wiederholte Joe zornig, als wisse sie darüber informiert sein.

Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wie meinst du das? Du hast sie doch selbst geschickt!«

Joe starrte sie ungläubig an, während ihnen beiden im gleichen Moment klar wurde, dass irgendetwas ganz und gar schief gelaufen war. Anna spürte, wie sie jeden Halt verlor, die Erschöpfung ließ ihren Körper zusammenbrechen. Sie sank auf der Bank zusammen, doch noch immer kamen seine Tränen. Sie blieben in einem brennenden Wirbel in ihrer Kehle stecken. Sie betrachtete den perfekt gepflegten Garten des ordentlichen Vorstadthauses und hatte plötzlich keine Ahnung mehr, wo sie eigentlich war oder was sie hier machte. Sie hatte das Gefühl, in einem seltsamen, grünen Traum zu schweben. Als ob sich ihr Anker gelöst hätte und die Welt davongetrieben wäre.

»Ich wusste nichts von diesem Auftrag«, wiederholte Joe.

Annas Gedanken waren schwer wie Blei. »Vielleicht haben sie den Befehl von einer anderen Gruppe bekommen?«

Joe zuckte die Achseln. »Möglich. Ziemlich ungewöhnlich zwar, aber möglich ist es. Ich werde mich erkundigen.«

»Bitte.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm, und er schien unter der Berührung zusammenzuzucken. »Wir können sie nicht ungestraft davonkommen lassen.«

Er nickte traurig, während ihm wieder die Tränen aus den Augen traten und über die Wangen liefen. Sie hatte ihn noch nie so resigniert gesehen. Einige Zeit saßen sie in fürchterlicher Stille da, Seite an Seite zusammengesackt aufder Bank. Es gab nichts weiter zu sagen.

Rika fuhr sie nach Hause zurück. Sie sprachen wenig. Trotzdem war Rikas Anwesenheit beruhigend. Anna betrachtete die kühle, schöne Frau in ihren teuren Kleidern und fragte sich, ob sie sie unterschätzt hatte. Vielleicht war genau das Rikas Stärke: Trost und süßen Tee zu spenden und gelassen praktische Hilfe zu leisten. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst schon mehr als flüchtige Bekanntschaft mit dem Kummer gemacht hatte.

Irgendjemand hatte den Gartenweg entlang bis hinauf zum Haus Kerzen aufgestellt. Anna hakte sich bei Rika unter, während sie schweigend an den ernsten Menschengruppen vorbeigingen, die sich auf der Wiese versammelt hatten, und über die Vordertreppe ins Haus traten.

Es war Ostersonntag, der 19. April 1987. Der Tag des Herrn, an dem sich die Architekten und Scharfrichter der Apartheid ihre Sonntagshüte aufsetzten und in die Kirche gingen, wo sie sich hinknieten und Gott inbrünstig dafür dankten, dass er ihre heilige Mission auf Erden guthieß.

Nie wieder sollte Anna einen 19. April erleben, ohne den ganzen Tag lang die bittere Süße ihres Abschieds und die widerliche Brutalität von Pauls Ermordung zu schmecken.

3

Am nächsten Tag fuhr Anna gemeinsam mit Willem Swanepoel Richtung Vryburg, auf demselben Weg, den Paul und Jacob vor erst achtundvierzig Stunden wohl genommen hatten. Willem entlud seine ganze Wut beim Fahren. »Es ist zu einfach«, tobte er. »Diesmal sind sie zu weit gegangen! Diesmal müssen sie dafür zahlen!« Und Anna war davon überzeugt, dass die Täter früher oder später ihre Tat büßen würden.

Ihr Plan war einfach. Sie würden so viel Beweismaterial wie möglich sammeln und die Polizei ihre Anwesenheit spüren lassen. Das Raub- und Morddezernat sollte wissen, dass es beobachtet wurde. Das Raub- und Morddezernat arbeitete oft Hand in Hand mit der Sicherheitspolizei, so dass man ihnen nicht über den Weg trauen konnte.

Im Laufe der Fahrt wurde Willem immer schweigsamer, und die drückende Stille lastete schwer auf Annas Nerven. Ihr ungutes Gefühl verstärkte sich immer mehr. Sie versuchte, ihre Gedanken anderen Dingen zuzuwenden. Paul, wie er gelebt hatte.

Ihre Geschichte hatte begonnen, wo sie nun auch enden würde: bei einer Beerdigung. Es war zu der Zeit gewesen, als Beerdigungen sich zum Mittelpunkt und Sprachrohr des Widerstands gegen die Apartheid entwickelten, da alle anderen Organisationen verboten worden waren und die Führungsriege entweder im Gefängnis oder im Exil festsaß.

Anna war unter den vielen Tausenden, die sechs jungen Aktivisten das letzte Geleit geben wollten. Sie waren mitten in der Nacht bei einer Straßenblockade der Polizei niedergemäht worden, als sie gerade von einem Treffen in der Stadt nach Hause fuhren. Am Tag der Beerdigung war es heiß gewesen, die Luft war geschwängert von Staub und Tränengas, das die Polizei einsetzte, um die wütenden Trauernden auseinander zu treiben. Inmitten des Chaos wurde Anna von der Studentengruppe getrennt, mit der sie zum Friedhof gefahren war. Plötzlich kam von überallher Polizei, bewaffnet mit Pistolen, Megaphonen und gefährlich aussehenden Hunden, die an ihren Leinen zerrten.

Die Rotorblätter eines Hubschraubers durchschnitten beängstigend nah den Himmel, jede Umdrehung klang wie das Knattern von Gewehrschüssen. Die Menschen stoben in alle Richtungen auseinander. Anna flüchtete auf den Friedhof zu.

Dann saß sie in der Falle; einer Kette von Polizisten war es gelungen, einen Teil der Menge auf den langen, hohen Zaun zuzutreiben, der den Friedhof umgab. Der Druck der Menschenmassen war schrecklich. Sie konnte die Füße nicht mehr von der Stelle bewegen, die Arme wurden ihr seitlich gegen den Körper gepresst und ihre Brust so stark gequetscht, dass sie kaum noch Luft bekam. Und um es noch schlimmer zu machen, kreischten die Leute um sie herum in Panik. Anna hob das Kinn und schnappte verzweifelt nach Luft, immer wieder, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Während der Druck der vorwärtsdrängenden Leiber immer stärker wurde, so dass ihre Füße zeitweise den Boden nicht mehr berührten, bemerkte Anna am Zaun plötzlich Bewegung, etwa fünfzehn Leute von ihr entfernt. Irgendjemand hatte den Zaun durchbrochen. Wie, konnte sie nicht sehen, doch als er hochkletterte, um die ersten Leute durch das Loch in die Freiheit zu schieben, wandte sich ein hoch gewachsener, weißer junger Mann um und blickte über das Meer von Gesichtern. Später sollte er es Schicksal nennen. Später sagte er, es könne gar keinen anderen Grund dafür geben, dass in eben jenem Moment sein Blick auf sie gefallen war. In eben jenem Moment waren Annas panikerfüllte Augen Pauls Blick begegnet, und er hatte gegrinst. Inmitten des ganzen Chaos, während sie noch nach Luft schnappte wie ein halbtoter Guppy, hatte Paul ihr zugegrinst.

Paul war schön. Er glühte vor jugendlicher Begeisterung, vor Idealismus. Nicht nur Anna empfand das so, sondern jeder, der ihm begegnete. Er hatte sie durch das Loch im Zaun gezerrt und sie in seinen Armen gehalten, während sie vor Erleichterung am ganzen Körper zitterte. Paul hatte ihr an jenem Tag das Leben gerettet, und deshalb hatte sie ihm ihr Leben geschenkt. So einfach war das.

Im Auto auf der Fahrt nach Vryburg spürte Anna, wie der Schmerz sie durchzuckte und mit seinem Gewicht alles andere niederdrückte. Er brannte ihr in den Augen und würgte sie in.der Kehle. Doch es kamen keine Tränen. Willem schaute sie an, sein Blick war von düsterer Entschlossenheit erfüllt. »Bist du okay?« Sie konnte nicht sprechen, nickte bloß und ballte im verzweifelten Versuch, die Kontrolle über sich zu bewahren, die Fäuste zusammen, bis ihre Knöchel ganz weiß wurden.

Etwa vierzig Stunden nach der Entdeckung der Leichen erreichten sie den Tatort. »Vierzig Stunden, in denen die Saubermänner alle Zeit der Welt hatten, um die Spuren zu verwischen und alles in ihrem Sinne zu arrangieren!«, murmelte Willem niedergeschlagen, während sie die schwarz verbrannte Grasnarbe und die gruseligen Überreste des Autos betrachteten. Es war totenstill. Anna blickte die menschenleere Landstraße entlang, ein langes schmales Band, das sich in beiden Richtungen in der Ferne verlor. Hitze flimmerte über dem Teer.

Willem fotografierte den Tatort aus jedem erdenklichen Winkel, während Anna wieder und wieder den Ort des Verbrechens abschritt. Es gab nur noch wenig Hinweise darauf, was eigentlich vorgefallen war. Nur ein paar Benzinspuren, die von der Straße herüberführten, und die schrecklichen Vertiefungen in der verbrannten Erde, wo die Leichen gelegen haben mussten. Keine leeren Patronenhülsen, keine Kugeln, keine Reifenspuren.

Während sie nach Vryburg weiterfuhren, versuchten sie, eine ungefähre Chronologie der Ereignisse aufzustellen. Doch schon bald wurde ihnen klar, dass sie so gut wie gar nichts wussten. Paul und Jacob mussten gegen drei oder vier Uhr aufgebrochen sein, ein paar Stunden vor Einbruch der Morgendämmerung. Welchen Auftrag sie gehabt hatten, war nicht klar. Joe arbeitete daran, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und Anna wollte Kontakt zur örtlichen Untergrundbewegung von Vryburg herstellen, um herauszufinden, ob dort vielleicht jemand Licht in die Sache bringen konnte. Über den Rest ließ sich nur spekulieren. Es bestand kein Zweifel, dass Paul und Jacob im Visier der Sicherheitspolizei gestanden hatten, die in ihrem Eifer, jeglichen Widerstand gegen die Regierung im Keim zu ersticken, immer blutrünstiger geworden war. Und es gab keinen Zweifel, dass Captain Nel seine Finger im Spiel hatte; er hatte Paul und Jacob und ihre Partner als sein ganz persönliches Projekt betrachtet. Doch darüber hinaus ließen sich keinerle; verlässliche Schlüsse aus dem Sumpf von Spekulationen ziehen, der die Morde umgab.

In Vryburg mieteten sie sich in einem Motel ein, wo sie auf eine kleine Schar von Fotografen und Journalisten trafen, die gekommen waren, um über die Geschichte zu berichten. Einige von ihnen kannte Anna aus Joburg, von anderen hatte sie schon gehört. Willem ging mit ihnen etwas trinken, während Anna sich auf ihr Zimmer zurückzog, ein Nest aus Holzfurnier und Nylon. Begleitet von zwei von Rikas Tabletten stieg sie ins Bett. Das Medikament tat bald seine Wirkung. In einer Mischung aus Schlaf and chemisch induzierter Bewusstlosigkeit glitt sie durch die Nacht.

Am nächsten Morgen war ihr Gesicht in allen Zeitungen, neben alten Fotos von Jacob und Paul. Sie war so früh auf, dass sie Willem Zeitungen und eine Tasse Kaffee aufs Zimmer brachte. Eine der Reporterinnen vom Vorabend, eine üppige Brünette, öffnete ihr die Tür, eingehüllt in ein zerknittertes Kunstfaserlaken. Willem sei unter der Dusche, sagte sie. Anna zog sich in den Speiseraum zurück und wollte lieber nicht mehr wissen.

Nach einer knappen halben Stunde erschien auch Willem, er wirkte aufgekratzt und energiegeladen. Von seiner Besucherin war keine Spur zu sehen, er bot Anna keinerlei Erklärung, und sie fragte ihn auch nicht. Gemeinsam überflogen sie die Zeitungen, und beim Lesen überfiel Anna erneut die alles erstickende Traurigkeit, die in Wellen des Schmerzes zu kommen schien. Willem sah, wie sie blass wurde, und legte seine Hand auf ihre.

Ihr erstes Ziel war, die Polizei zu sprechen. Doch die Polizisten zeigten sich unnahbar. Im Raub- und Morddezernat sagte ihnen eine mopsgesichtige junge Frau mit violettem Lidschatten, dass die Beamten, die mit dem Fall befasst seien, nicht vor dem folgenden Tag erreichbar wären. Also machten sie einen Termin aus.

Dann galt es, die Leichen zu identifizieren, eine Aufgabe, der Anna mit zwiespältigen Gefühlen entgegensah. Willem hätte das für sie erledigen können und hatte auch angeboten, es allein zu tun. Doch Anna musste Paul einach sehen.

Begleitet wurden sie von einem unabhängigen Pathologen, den Willem aus Kapstadt hatte einfliegen lassen. Ein weißhaariger alter Herr mit sanftem Gesicht und einer laufenden Nase. »Heuschnupfen«, erklärte er, obwohl gar nicht die Jahreszeit dafür war. Trotzdem hielt er sich die meiste Zeit über ein Taschentuch vor die Nase. Er sollte eine eigene Autopsie durchführen und einen zweiten Obduktionsbericht schreiben.

Schweigend betraten sie das Leichenschauhaus. Der scharfe Geruch von Chemikalien stieg ihr in die Nase. Anna konnte den Geruch des kalten, sterilisierten Metalls förmlich schmecken. Der Wärter führte sie an unzähligen Reihen von Schubladen vorbei, hinter denen sich die Leichen vom Boden bis zur Decke stapelten. »Im Augenblick herrscht hier ziemliches Gedränge«, erklärte er ihnen. »Wo jetzt die Unruhen sind — da müssen wir den Überschuss schon nach Mafikeng schicken.«

Er führte sie zu zwei Rollbahren aus Chrom, die nebeneinander geparkt waren. Auf den Bahren lagen, umhüllt von weißen Tüchern, zwei formlose Haufen. Anna bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor.

Regungslos stand sie neben Willem, dem Pathologen und dem Wärter in seinem Kittel und starrte die kleine rosafarbene Hand des Wärters an, während diese eines der Laken anhob. »Die sind noch nicht zurechtgemacht worden«, warnte er zögernd. »Das dürfen wir erst nach der Autopsie.« Der Pathologe nickte nüchtern, dann hob der Wärter das Laken und enthüllte Pauls Leiche.

Seine Augen standen offen. Alle vier traf es wie ein Schock, seinem wütenden Blick zu begegnen. Der Wärter streckte den Arm aus und wollte die Augenlider schließen, doch Anna hielt ihn auf. »Warten Sie. Noch nicht«, sagte sie leise. Gehorsam trat der junge Mann einen Schritt zurück.

Die Leiche vor ihr hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Mann, den sie geliebt hatte. Sein Haar war völlig versengt, sein Gesicht schmerzverzerrt, aber ansonsten unversehrt. Die Kugeln hatten seinen linken Oberschenkel durchschlagen, ein Loch unweit seiner rechten Hüfte gerissen und ihm sauber die Brust durchbohrt. Dort, über seinem Herzen, blühte eine purpurrote Rose, die Einschlagstelle der Kugel, die ihn getötet hatte.

Seltsamerweise sah Anna das Grauen seiner letzten Lebenssekunden gar nicht in den braunen Tiefen seiner Augen, sondern noch viel mehr brachte sie sein wütend verzogener, zu einer Grimasse erstarrter Mund aus der Fassung. Und dieses Bild sollte sie jahrelang nicht mehr verlassen. Irgendwie traf sie sein grimassenhaft erstarrtes Gesicht schlimmer als die verkohlten Arme, die sich ihr entgegenreckten. Flehend. Oder im Angriff. Sie fragte sich, wie es wohl gewesen war.

Die Kleidung an seinem Körper war verbrannt, die Armbanduhr mit dem Fleisch seines Handgelenks verschmolzen. Der Geruch war unbeschreiblich, doch Anna machte keinerlei Anstalten, sich davor zu schützen. Sie starrte die Leiche mit einer Mischung aus Grauen und Faszination an, während sie unaufhörlich den goldenen Ring an ihrem Finger drehte, den Ring, den Paul ihr geschenkt hatte.

Wieder musste sie an die Nachricht denken, die Paul an seinem letzten Morgen an den Duschvorhang geheftet hatte. Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Und plötzlich bekam diese Nachricht eine ganz neue Bedeutung für sie. Paul war es gewesen, der sich gefürchtet hatte. Aber wovor? Vor wem? Welche Angst war es, gegen die ihre Liebe ihm geholfen hatte — und die dann in so ungeheuerlicher Form wiederkehrte, in Gestalt seines Todes?

Wut brandete in ihr auf wie ein Wirbelsturm. Und an diesem Abend gab sie sich und ihm ein stilles Versprechen: Selbst wenn sie nichts anderes tat, sie würde denjenigen finden, der das getan hatte und ihn einer gerechten Strafe zuführen.

Mit zitternden Fingern streckte sie die Hand nach Paul aus, doch sie zögerte keinen Augenblick, als sie ihm die wächserne kalte Haut seiner Lider über die Augen zog und sie für immer schloss. Dann beugte sie sich zu ihm herab und küsste ihn. Ihre Lippen berührten seine Stirn zum letzten Mal. »Nie wird der Tag kommen, an dem ich nicht dankbar für dich und deine Liebe sein werde«, flüsterte sie. »Ich werde dich immer lieben, Paul.«

Keiner sprach ein Wort, während sie nach draußen zum Auto gingen.

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Von nun an wurde die Angst zu Annas Feind. Die Angst davor, allein zu sein, sich ohne ihn durch das Leben zu bewegen. Und die Angst, dass das Gute nicht immer über das Böse siegt; dass in der wirklichen Welt schließlich doch die Ungerechtigkeit den Sieg davonträgt. Vor allem aber fürchtete Anna ihre Gefühle. Und so baute sie sich Stück für Stück den Panzer aus Aktionismus und Zorn auf, der sie in den folgenden Jahren schützen würde.

Am nächsten Tag suchten sie die Polizei auf. Lieutenant Badenhorst und Warrant Officer Jeff Curry vom Raub- und Morddezernat in Vryburg stellten sich als die ermittelnden Beamten vor. Sie gaben die üblichen Beileidsbekundungen von sich, wofür Anna dankbar war, doch sie konnten nicht anders, als sie mit ihren hervorquellenden Augen von oben bis unten zu mustern.

Sie luden Willem und Anna ins Offizierskasino am Bahnhof ein. Es war ein fensterloser Raum, ganz Imitation eines englischen Pubs in burgunderrot und lachsfarben, sogar der Duft schien echt. Willem nahm einen Whisky, Anna eine Cola, und die Polizisten tranken Brandy und Sprite in größeren Mengen.

Badenhorst, der auf einem Hocker neben Anna saß, war groß und stark behaart; die Hosen saßen stramm an seinen kräftigen, baumstammdicken Oberschenkeln. Er trug einen Safarianzug — diese eigenartige Zurschaustellung des Burentums, die bald, zusammen mit Koteletten und Kniestrümpfen, in den Mülltonnen der Modegeschichte landen würde. Curry war ein mausgesichtiger Typ mit weinerlicher Stimme und offenkundiger Angst vor seinem Vorgesetzten.

Die polizeiliche Untersuchung hatte, was nicht weiter überraschend war, bisher erst eines ergeben: die allzu naheliegende und gern benutzte Theorie über interne Querelen in den Reihen der »Terroristen«. Das Beweismaterial war ebenfalls wenig überraschend: eine Makarov-Pistole, die am Tatort gefunden worden war. Badenhorst erklärte das für einen schlagenden Beweis. Willem lachte laut auf. Er wusste genau, dass die Makarov eine Waffe aus dem Ostblock war, die, wie es die Legende der Apartheid wollte, den »Terroristen« angeblich von ihren kommunistischen Förderern gegeben wurde und als Handwaffe das Gegenstück zum AK47-Maschinengewehr bildete.

Willems junges Alter, seine Eindringlichkeit und sein perfektes Afrikaans brachten Badenhorst ganz offensichtlich aus dem Konzept. Er trank einen großen Schluck Brandy, ehe er mit den Achseln zuckte, seine plumpe Hand hob und sie dann mit einem dumpfen Knall auf die Bar fallen ließ. »Daran gibt es meiner Meinung nach keinen Zweifel. Das ist genau der typische Hinrichtungsstil der Terroristen! Die Kugeln und Patronenhülsen, die am Tatort gefunden wurden, kommen aus der Makarov. Für uns ist der Fall damit abgeschlossen. Das Beweismaterial liegt oben auf meinem Schreibtisch. Sie können es sich gern ansehen.« Er blickte zu Curry hinüber, der ernst nickte, als sei das allein schon Beweis genug. »Es tut mir Leid, Miss Kriel«, murmelte Badenhorst barsch, doch es schien ihm ganz und gar nicht Leid zu tun.

Sie gingen nach oben, um einen Blick auf das vermeintliche Beweismaterial zu werfen, und natürlich lag es auch dort, eine Makarov-Pistole, leere Patronenhülsen und Kugeln, die sich bei ihrem Weg durch Pauls Körper verformt hatten. Für Willem und Anna war das der erste deutliche Hinweis darauf, dass die Sache vertuscht werden sollte. Die Polizei verfügte über Hunderte von Makarovs, AKs und anderen Waffen, die sie benutzten, um ihre schmutzige Arbeit wie das Werk der Gegenseite aussehen zu lassen.

Auch die regierungsfreundlichen Zeitungen berichteten in diesem Sinne über die Geschichte, von den Titelseiten schrien einem die widerlichen Einzelheiten entgegen; hier sei wieder ein neuer Beweis dafür, wie barbarisch diese Terroristen seien. Sie würden vor nichts Halt machen, ja sogar ihre eigenen Leute umbringen. Die oppositionelle Presse und sogar die gemäßigten englischsprachigen Zeitungen berichteten darüber in anderem Licht. Sie bezeichneten die Mafikeng-Morde als politische Attentate, und die Schuldigen waren aus ihrer Sicht bei der Polizei zu suchen.

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Eine Woche später wurden Paul und Jacob mit allen Ehren bestattet. Ihre Särge waren herausfordernd in die schwarz-grün-goldene Flagge des verbotenen African National Congress gehüllt. Anna führte den nicht genehmigten Trauerzug der Demonstranten an, verhöhnt von der Hitze und den Polizeihunden, die knurrend und schnappend an ihren Leinen zerrten. Die Straße flimmerte und schwankte von den zahllosen Trauernden bei ihren Toyi-Toyi-Tänzen, ein wogendes Meer des Widerstands. Es war, als sei der Tag der Befreiung selbst gekommen, überall Flaggen der Kommunistischen Partei und des ANC, und die Polizei stand bloß missmutig daneben, schüchterte die Leute durch ihre Präsenz ein, machte aber keinerlei Anstalten, die Demonstration zu zerschlagen. Anna stellte sich vor, dass Paul neben ihr wäre, getragen von der Woge aus Tatkraft und Auflehnung.

Die Tausenden von Trauernden hoben die geballten Fäuste in die Luft und boxten damit in den klaren Himmel des Highveld »Amandla!« Macht. » Awethu!« Dem Volk. An diesem Tag schrie die Menge nach Antworten, verlangte die Mörder, Gerechtigkeit und ein Ende des Systems, das diese Morde ermöglichte.

Am Grab nahm Anna den Spaten und attackierte die Erde mit all der Wut und dem Unverständnis über ihren Verlust. Sie hieb das Schaufelblatt in den roten Lehmboden und warf Schaufel um Schaufel des Erdreichs auf den Sarg. Die Totengräber sahen ihr zu, wie sie sich abmühte, das Gesicht von Kummer gezeichnet, während die Menge sang und ihr abwechselnd beim Schaufeln half. Schweiß lief ihr die Arme hinab und rieselte über ihren Bauch, ihr Kleid war mit Schmutz und Staub befleckt, doch sie hörte nicht eher auf,als bis der Sarg bedeckt und das Grab mit Erde gefüllt war.

4

Nach der Beerdigung war Annas Leben mehr denn je erfüllt von Aktivismus, und ihre Energie schien unerschöpflich. Sie schränkte ihre Verpflichtungen bei der Gewerkschaft ein und verbrachte die Abende und Wochenenden damit, gemeinsam mit Willem die gerichtliche Untersuchung vorzubereiten.

Für die Regierung waren die gerichtlichen Anhörungen im Großen und Ganzen eine reine Formalität, eine kurze Aufzählung von Argumenten — überwiegend spekulativer Art — und das Einreichen von Dokumenten beider Parteien. Üblicherweise blieben mehr Fragen als Antworten.

Für die Linke waren Anhörungen nützlich. Nicht nur, weil sie einen Fall ins Licht der Öffentlichkeit rückten, sondern mehr noch als eine Art Fischzug, der mitunter unerwartete Wahrheiten zutage förderte. Manchmal gingen die Anhörungen allerdings auch in makabrer Komik nach hinten los, wie die Untersuchung über den Tod eines Studentenführers, der erhängt in seiner Zelle aufgefunden worden war. Der Richter gab die Schuld einem Mithäftling, ebenfalls ein Student, der, wie die Polizei sagte, es verabsäumt habe, den Sicherheitskräften mitzuteilen, dass sein Kamerad suizidgefährdet sei.

Nichtsdestotrotz bereiteten Willem und Anna eine Strategie vor, die Nel und Badenhorst in den Zeugenstand bringen und sie zumindest dazu verdonnern würde, ihre Version der Ereignisse unter Eid auszusagen. Schlimmstenfalls würden sie mit dem leider viel zu üblichen Urteil »Es gibt keinen Schuldigen« daraus hervorgehen. Doch Anna hatte vor, nicht eher aufzugeben, als bis sie die Wahrheit erfuhr, egal, wie lange das dauern wurde.

Sie lebte in einem Zustand hoffnungsvoller Entschlossenheit. Sie bewahrte Pauls Kleider und Bücher genauso auf, wie er sie zurückgelassen hatte, so als könne er eines Tages wiederkehren und sie benutzen. Und sie verfiel wieder in die alte Gewohnheit, die sie während seiner letzten Verhaftung angenommen hatte, rief sich seine Gegenwart vor Augen, wenn sie ihn brauchte, und lebte von der Erinnerung an ihn.

Rachel war bestürzt, weil Anna sich weigerte, Pauls Abwesenheit als endgültig zu akzeptieren. Rachel hatte bis zum Äußersten gefühlt, die dunkelsten Extreme ihres Verlusts durchlitten. Nach der Beerdigung hatte sie Jacobs Kleidung eingepackt und weggegeben. Das Gleiche wollte sie auch mit Pauls Sachen tun, was zu einem seltenen Streit zwischen ihnen führte. »Aber er ist tot!«, hatte Rachel sie angefahren. Die Farbe wich aus Annas Gesicht. Plötzlich fiel es ihr schwer zu atmen, und das Gefühl, zu ersticken, wurde noch verstärkt durch das trockene Schluchzen, das sie eine ganze Zeit lang schüttelte. Rachel war erschrocken und es tat ihr Leid, doch nichts, was sie versuchte, konnte Annas verstörten Zustand lindern. Als hätte sie einen Anfall bekommen. Schließlich rief sie Rika Swanepoel und diese bekämpfte den Schmerz mit einer kleinen bunten Kapsel aus ihrem Pillendöschen.

Anna wurde dünn, zu dünn für ihre kräftige Statur. Als Rachel eines Morgens eine Bemerkung darüber machte, runzelte Anna bloß die Stirn und blickte überrascht an ihrem Körper hinunter, so als hätte sie dessen Existenz komplett vergessen.

Joe kam in diesen schweren Monaten häufig in die Valley View Road. Seine Nachforschungen hatten nichts zutage gebracht, was den rätselhaften Auftrag von Paul und Jacob erhellen konnte, und Anna lernte bald, ihn nicht weiter zu drängen, weil er sonst bloß in Schweigen verfiel. Aber dennoch wurmte es sie, dassJoe zu glauben schien, Paul und Jacob hätten auf eigene Initiative gehandelt. Darin lag die unausgesprochene Andeutung, dass die beiden sich unorganisiert und disziplinlos verhalten hatten und irgendeiner privaten Mission nachgegangen waren. Joe schüttelte den Kopf, als sie das Gespräch darauf brachte. »Nein, so ist es nicht. Sie sind heldenhaft für die Widerstandsbewegung gestorben. Das kann niemand je bezweifeln!«

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Im Frühjahr fuhren Willem und Anna wieder nach Vryburg, um an der gerichtlichen Untersuchung teilzunehmen, diesmal begleitet von Rachel und den Jungen und einer Kiste voller Papiere, in denen sich aber enttäuschend wenige Informationen fanden.

Es gab zwar etliche Indizien, die Captain Frans Nel nicht bloß mit Jacob und Paul, sondern auch mit den Beamten Badenhorst und Curry und ihrer so genannten Morduntersuchung verbanden. Doch das war alles, ein paar Indizien. Trotzdem waren Nel, Badenhorst und Curry als Zeugen vorgeladen worden. Das würde Willem die Gelegenheit geben, ein paar Vorstöße zu unternehmen.

Am Eingang zum Gerichtsgebäude wurden sie von einer kleinen, aber lautstarken Gruppe von Anhängern empfangen. Die Genossen umschwärmten Anna, Rachel und die Jungen und bildeten eine Toyi-Toyi tanzende Ehrengarde, während sie sich in den Gerichtssaal begaben. Die Sprechchöre und das Stampfen hallten vom polierten Boden und der hohen Zimmerdecke wider und dröhnten Anna in den Ohren. Sie war erleichtert, als die Gruppe endlich zurückfiel und ihre Plätze auf den langen Holzbänken einnahm und im Gerichtssaal nur noch erwartungsvolles Raunen zu hören war.

Captain Nel bedachte Anna zum Gruß mit einem kurzen Kopfnicken. Seine Gegenwart setzte sie unter Hochspannung. Das war der Mann, der sie umgebracht hatte, dessen war sie sich Sicher. Am liebsten wäre sie über ihn hergefallen, hätte ihm die Haut in Streifen abgezogen und sein Fleisch zerfetzt. Er sollte seine Vergehen mit Schmerz bezahlen, mit unermesslichen körperlichen und seelischen Qualen. Stattdessen konnte Anna ihn jedoch nur voller Ekel anstarren.

Die beiden anderen Polizisten schlurften vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Rachel stand mit hoch erhobenem Kopf da und blickte weder nach rechts noch nach links. Sie wollte diesen Schweinen gar nicht erst die Ehre geben, sie zur Kenntnis zu nehmen.

Der Vormittag zog in einem Strom von irritierenden juristischen Formalitäten vorüber. Schalk van Straaten vertrat den Staat. Gerade frisch von der Universität Stellenbosch graduiert, glühte er vor wilder Leidenschaft, die Regierung der Nationalpartei gegen jeglichen Protest zu verteidigen, selbst in einer so abgelegenen Stadt wie Vryburg.

Van Straaten argumentierte wie erwartet, es handele sich um eine interne Fehde innerhalb des ANC. Lieutenant Badenhorst war sein Hauptzeuge. Badenhorst saß im Zeugenstand und beantwortete die Fragen des Staatsanwalts mit der Gründlichkeit eines Roboters. Seine dicken Finger hatte er im Schoß verschränkt, dunkle, grobe Haarbüschel quollen aus seinem Kragen hervor.

Dann war Swanepoel an der Reihe. Es gelang ihm zwar, Badenhorst aus dem Konzept zu bringen, er konnte ihn aber nicht dazu bringen, von seiner Version abzuweichen. Auch Curry hielt hartnäckig an seiner Geschichte fest. Als der Captain schließlich den Zeugenstand betrat, hoffte Anna auf irgendeine Unstimmigkeit, irgendeinen Hinweis in seinem Gesicht oder einen Widerspruch in seiner Geschichte, die einer Art Geständnis gleichkommen würde, doch er verriet sich durch nichts.

Nel räumte ein, dass er sowohl mit Paul als auch Jacob bei mehr als einem Dutzend Gelegenheiten zu tun gehabt hatte, behauptete aber, mit ihrem Tod nichts zu tun zu haben. Erhabe am Nachmittag ihrer Ermordung mit Kollegen Golf gespielt, und am Samstagabend seien sie in Joburg etwas trinken gegangen. Eine Hand voll eidesstattlicher Erklärungen aus den Reihen seiner Kollegen bestätigten sein Alibi.

Die Titelseite der Mappe, die Nel bei sich trug, hatte einen schlichten Titel: »Verslag oor‘n resgeneeskundige lykskouing«. Bericht über eine gerichtsmedizinische Obduktion. Sie trug die Insignien der medizinischen Labore der Südafrikanischen Polizei. Anna kannte den Bericht beinahe in- und auswendig. Insbesondere die »lys waarnemings«, die Aufstellung der Obduktionsbefunde, ließen sie nicht mehr los: »Mageninhalt: enthält teilweise verdautes Essen.« Die Formulierungen entkleideten Paul seiner Persönlichkeit, reduzierten ihn auf eine Aufzählung von verwesender Materie und sezierter Körperteile. »Todesursache: Schusswunde in die Brust.«

Annas eigener Obduktionsbericht fiel erheblich deutlicher, einfacher und präziser aus. Todesursache: sein Gewissen.

Nel verließ den Zeugenstand, ohne dass sein Selbstbewusstsein auch nur im Mindesten angekratzt war. Das süffisante Grinsen auf seinem Gesicht und sein stolzierender Gang zeigten deutlich die selbstgefällige Zufriedenheit darüber, dass er ungestraft davongekommen, mit seinem Mord durchgekommen war.

Bis zur Teepause am Nachmittag hatte Anna die Nase voll. Willem hatte sie wiederholt vor der Enttäuschung gewarnt, die sie am Ende dieses Prozesses erleben würde, trotzdem war Sie nicht auf die Verzweiflung vorbereitet gewesen.

Auf dem Türschild des biederen Alt-Oma-Cafés mit den bauschigen Rüschenvorhängen gegenüber vom Gericht stand: »Nur für Europäer«. Rachel war trotzdem einfach hineinmarschiert und schob ihre Söhne vor sich her. Willem Swanepoel folgte ihr widerspruchslos, zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Doch Anna stand der Sinn nicht danach, ein Exempel zu statuieren und für ihr Recht einzutreten, Hühnchensandwiches mit Mayonnaise gemeinsam mit der Jahresversammlung des örtlichen, nur für Weiße zugelassenen Häkelvereins serviert zu bekommen. Deshalb überließ sie es Rachel und Willem, ihren Standpunkt kundzutun, und schlenderte weiter die Straße entlang, wo sie in einem Steers-Schnellrestaurant ein paar ruhige Minuten für sich fand.

Anna fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar, das sie normalerweise offen trug, so dass es ihr in einer Welle bis über die Schulterblätter hinabfiel. Heute hatte sie es mit einem Band zurückgebunden. Ohne seine übliche Umrahmung wirkte ihr schönes Gesicht ungewöhnlich streng. Ihre milchschokoladenbraune Haut war zu einem schlammigen Grau verblasst. Auch ihre Kleidung war von ungewöhnlicher Strenge. Anna trug eine konventionell geschnittene Bluse in dunklem Blau über einem locker sitzenden dunkel bedruckten Baumwollrock, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Mit ihrer eleganten Kleidung unterschied sie sich deutlich von der überwiegend weißen Bevölkerung, der sie auf der Straße begegnet war. Die ehrenwerten Bürger Vryburgs starrten die geschniegelte, großstädtisch angehauchte Gruppe aus Rechtanwälten, Polizisten und Journalisten, die wegen der gerichtlichen Untersuchung des »Terroristen-Falls« in ihre Stadt eingefallen waren, mit unverhohlenem Misstrauen an. Anna merkte, wie sie ihr hinterher starrten, verfolgt von ihren langen Schatten in der Spätnachmittagssonne.

Als sie schließlich aufstand, um in den Gerichtssaal zurückzukehren, hatte sie sich gegen ein enttäuschendes Urteil gewappnet. Das war nur die erste Runde, es würde ein langer, harter Kampf werden. Doch Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen waren auf ihrer Seite.

Anna fand Rachel und ihre Söhne an einem halb versteckten Ecktisch im Café. In stillem Triumph saßen sie vor den Überresten von Tee und Eisbechern. Inmitten des Durcheinanders studierte Willem mit gerunzelter Stirn die Akten. Mit lautem Knall schloss er den Ordner und stand dann abrupt auf. »Also los, bringen wir es hinter uns.«

Auf dem Weg zum Gerichtssaal legte er den Arm um sie. »Du weißt schon, was jetzt kommt, oder?«, murmelte er.

Anna blickte zu ihm auf, dankbar, dass er da war und so offen mit ihr sprach. Dann nickte sie. »Ja, ich weiß.«

Willem sah an diesem Tag großartig aus; die angespannte Konzentration hatte feine Fältchen in seine Augenwinkel gegraben, die seine jungenhaften Gesichtszüge hervortreten ließen. Anna war sich sicher, dass ihm die brünette Journalistin unter seinen Bewunderern im Gericht keineswegs entgangen war. Sie hatte den Verdacht, dass die Anwesenheit dieser Frau seiner Argumentation noch zusätzliches Feuer verlieh. Kein Wunder, dass Rika immer so traurig wirkte.

Sie gingen dicht nebeneinander her, Anna, Rachel, Willem und die Jungen. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, die sich vor dem Eingang zum Gerichtshof drängte. Journalisten, politische Anhänger und die üblichen Schaulustigen wichen auseinander und bildeten einen Durchgang. Begleitet von blitzenden Kameras und ernsten Gesichtern schoben sie sich langsam durch die Menge nach drinnen. Der Druck der vielen Menschenleiber war unangenehm, und als irgendjemand Anna am Ellbogen zupfte, riss sie gereizt den Arm weg. Sie wollte nicht noch einen Hagel von tröstenden Worten oder Fragen, auf die es keine Antwort gab, über sich ergehen lassen. Wieder ein leichter Druck auf ihren Oberarm, und sie fuhr ärgerlich herum und sah sich Joe gegenüber.

Er hatte sich das Haar ganz abrasiert, und seine Kopfhaut glänzte wie glatter, nasser Lehm. Seine großen Augen unter den Schlupflidern funkelten, während er mit der Menge hin und her schaukelte und Sprechchöre skandierte. Anna merkte, wie sie bei seinem Anblick ein Schauder des Glücks, eine Welle der Stärke durchzog, obwohl er sich nicht anmerken ließ, dass er sie kannte.

Der Gerichtsdiener forderte alle auf, sich zu erheben. Anna stand ruhig und gefasst da. Sie berührte den Zettel in ihrer Tasche: »Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.« Sie war sich des Treibens um sie herum gar nicht bewusst, achtete weder auf das Gedrängel der Presse und ihrer Fotografen, noch auf die geraunten Spekulationen der Journalisten oder das aufgeregte, eindringliche Schnattern der Genossen, die gekommen waren, um ein Exempel zu statuieren und dem weißen Richter, den Polizisten und all den anderen Lügnern zu zeigen, dass sie auf der Lauer lagen und abwarteten. Dass sie genau wussten, dass irgendwann die Zeit kommen würde, wo sich der Spieß umdrehen würde.

Anna sah, wie der Untersuchungsrichter mit schweren Schritten über den polierten Holzfußboden marschierte. Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendeinem Hinweis darauf, was jetzt kommen würde, irgendeine Andeutung, dass die Wahrheit vielleicht doch zu ihrem Recht käme. Rachel stand neben ihr, hilfesuchend an Annas geraden Rücken und ihre unnachgiebig gestrafften Schultern gelehnt. Bram und Delarey standen mit missmutigen Gesichtern vor ihrer Mutter.

Die Menge verstummte, als der Richter in seinem schroffen und von grammatikalischen Fehlern durchsetzten Englisch zu sprechen begann: »Im Fall Paul Alfred Lewis und Jacob Oliphant. Ob ihr Tod durch irgendeine Handlung oder Unterlassung einer Person herbeigeführt wurde, die eine Straftat einschloss oder auf selbige hinauslief.«

Der Richter hielt inne und räusperte sich, während er mit seinen wässrigen Augen kurz von dem vor ihm liegenden Schriftstück aufblickte.

»Das Gericht befindet, dass Mr. Lewis und Mr. Oliphant von einem oder mehreren Unbekannten getötet wurden.«

Es war vorbei. Der kleine Hammer schlug dumpf auf das gedrechselte Holz der Richterbank und begrub Spekulation, Wahrheit, und alles, was eine gerechte Welt bieten könnte, unter sich.

Anna stand reglos inmitten des Tumults, der um sie losbrach. Ihre Finger umklammerten die Rachels, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, die Ohren taub gegenüber dem Ansturm von Fragen, der Körper gewappnet gegen das Drängen ihrer Anhänger. In ihrem Kopf hallte es wider: »Getötet von einem oder mehreren Unbekannten.«

Es gab keinen Schuldigen.

Teil II

2. Teil (1997)

Wenn es die Hoffnung nicht gäbe,

würde das Herz zerbrechen.

Thomas Fuller M.D.

5

James hatte die Schläfe an den kühlen Fensterrahmen des schwarzen Taxis gelehnt, das durch Hatton Cross tuckerte. Er war auf dem Weg von Heathrow in die Londoner Innenstadt, und es war ein ziemlich komisches Gefühl für ihn, England nach seiner langen Abwesenheit wiederzusehen — fast wie durch die Augen eines Fremden.

Es war ein kühler Frühlingsmorgen. Die Bäume waren so fein mit Knospen besprenkelt, als seien sie mit einem Hauch Schnee oder Puderzucker überzogen, ganz zart und zerbrechlich. In Johannesburg sah man eine so zarte Schönheit nie. Dort war alles spröde und brüchig wie Streichhölzer oder gleißend hell wie Feuer. Hier schmeckte die Luft kühl und feucht, und das Grün leuchtete intensiv. Riesige weiße Blütenschleier überzogen die Kirschbäume, und selbst einige der Hecken blühten. Die Farben waren so unglaublich dunkel und frisch — feine Nuancen aus Grau und Blautönen, die Farben des Wassers. James lächelte. Nebel ist bei weitem nicht so geheimnisvoll wie Hitzedunst, dachte er.

Er erinnerte sich daran, wie sie vor dreißig Jahren an einem regennassen Aprilmorgen hier angekommen waren — er und seine verängstigte Familie. Verletzlich wie Babys. Der Schmerz, ihre Heimat verlassen zu müssen, saß ihnen immer noch in den Knochen. Sie waren Verbannte, Einwanderer im Exil. Fremde in einem kalten Land, das ihnen wenig Trost zu bieten hatte, als sie ihn so nötig brauchten. Und dennoch hat dieses Land uns aufgenommen, dachte er. Wir haben es zu unserem Zuhause gemacht, und nach und nach hat es sich uns geöffnet. Bis Südafrika uns nur noch wie ein weit entfernter Traum vorkam.

Heute war seine Familie hier etabliert. James ging sogar als Brite durch — mit seinem abgeschliffenen Londoner Akzent und dem scharfen, selbstkritischen Humor. Doch an diesem Morgen fühlte er sich hier nicht wohl. Es lag an dem fehlenden Licht. Es lag an Alison.

Alison und Alan. Wie traut ihre beiden Namen zusammen klangen.

James schauderte schon beim bloßen Gedanken an Alan Richter, seinen Chef bei der Zeitung. Alan, der puddinggesichtige König der Auslandsredaktion. Alison arbeitete ebenfalls dort, sie gab das Lifestyle-Magazin heraus. Sie hatte sich rasch an die Spitze emporgearbeitet. Als James sich in sie verliebte, hatte Alison noch Tee gekocht und Telefondienst geschoben,doch schon damals quoll der Leistungswille aus ihren engen, geknöpften Tops, die sich stramm an ihre unglaublichen Brüste schmiegten.

Und jetzt Alan, der Mann, wegen dem sie ihn sitzen gelassen hatte — auch er spielte natürlich in der Topliga. James musste beinahe lachen, wie banal das Ganze war. Der feige Mistkerl. Der widerliche, fette, teiggesichtige Scheißer.

Als James von London nach Südafrika versetzt wurde, hatten Alan und seine Frau Fiona die Abschiedsparty für ihn gegeben, und Alan hatte noch auf James Zukunft mit der bemerkenswerten Alison angestoßen, die ihm in Kürze nach Afrika folgen sollte. Nicht lange danach hatte Richter Frau und Kinder in ihrer perfekten Reihenhausidylle in Islington sitzen lassen und kühn den Fluss überquert, um in spektakulärer Sünde mit Alison zu leben, die doch eigentlich für Johannesburg und James bestimmt war.

Diese Bombe war schon vor etlichen Monaten eingeschlagen. Obwohl James zu diesem Zeitpunkt Tausende von Meilen entfernt war, wurde ihre vernichtende, alles in Bedeutungslosigkeit ziehende Wirkung durch die große Entfernung keineswegs gemildert. Tagelang hatte er zwischen den Trümmern seines Lebens gelegen, wie gelähmt durch den Schock. Dann hatte er sich irgendwie wieder aufgerappelt, war durch die Bars der Johannesburger Single-Szene getaumelt und hatte versucht, sich mit Alkohol, Kokain und verbissenem Hauruck-Sex zu betäuben. Es schien ihm das Naheliegende zu sein, wenn einem das Herz gebrochen worden war. Doch in Wahrheit war es vor allem schmuddelig, öde und teuer, und deshalb dauerte es nicht allzu lange, bis es ihn wieder zurück ins Licht und an die Arbeit zog — seine Stütze, die ihn vor dem Schlimmsten bewahrte.

Und nun, an diesem Frühlingsmorgen, reiste er zum ersten Mal seit dem Ende ihrer Beziehung wieder nach London. Ihm war kalt, und er fühlte sich von aller Welt abgeschnitten.

Als Erstes steuerte er das Haus seiner Eltern in Battersea an, lud dort sein Gepäck ab und schaute kurz bei seinem Vater vorbei. Seine Mutter war bei der Arbeit. Sie saßen zusammen in der gemütlichen Küche im Untergeschoss. Seinem Vater lagen Gefühlsduseleien nicht besonders, und er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Offen gesagt, hat mir Alisons Geschreibsel sowieso nie besonders gefallen«, bemerkte er plötzlich. »Hab ich das eigentlich je erwähnt?« James kicherte. Für seinen Vater gab es auf der Welt kaum ein größeres Übel als ein schlechter Schreibstil. »Nein, Dad, hast du nicht. Aber das zu hören freut mich!«

Gegen Mittag lieh er sich das Auto seines Vaters und fuhr zum Haus. Seinem Haus. Inzwischen allerdings nicht mehr. Er hatte es ihr verkauft, mit Gewinn natürlich. Nicht ganz so viel Gewinn, wie er damit auf dem freien Wohnungsmarkt erzielt hätte, aber immer noch annehmbar. Wenigstens hatte er in seinem Leben eine gute Investition getätigt. Obwohl das Geld wahrscheinlich von Alan kam. Alison hätte es sich allein nicht leisten können. Er hatte ihr auch einen Großteil der Möbel verkauft. Das meiste waren ohnehin Sachen von Habitat; nichts Altes oder Dinge, an denen sein Herz hing.

Vielleicht würde er sich ja eine Wohnung in London kaufen, wenn sein Auslandseinsatz beendet war. Vielleicht würde er aber auch gar nicht mehr zurückkehren. Vielleicht würde er kündigen. Eigentlich hatte er keine große Lust, bei der Zeitung zu bleiben und weiter mit dem selbstgefälligen Richter zusammenzuarbeiten. Vielleicht würde er sich einfach aus dem Staub machen. Inzwischen hätte er das nötige Geld beisammen, um eine Zeit lang zu pausieren.

Während der Autofahrt nach Brixton quälten ihn Erinnerungen an die zahlreichen Sonntagnachmittage, die sie, vertieft in eifrige Diskussionen über die Zeitung, Politik und das Weltgeschehen, am Esstisch der Richters verbracht hatten. Diskussionen mit Alan und Fiona — dem dünnen, nervösen Wesen, das Alans beiden Eliteschul-Söhnchen eine hingebungsvolle Mutter war. Bei diesen Gelegenheiten hatte Richter Alison stets Komplimente über ihre wunderbaren Kochkünste und ihre ach so außergewöhnlichen Artikel gemacht — in Wahrheit hatte er es aber wohl die ganze Zeit bloß auf ihren langen Hals, die breiten, einladenden Hüften und den fülligen, auf und ab wippenden Busen abgesehen. Bei der Vorstellung, dass Alans feiste Finger ihre dunklen Brustwarzen kneteten und seine dreckigen Fingernägel den Saum ihrer Seidenhöschen entlangfuhren, dass Alison den Rock hob und die Beine für ihn auf Richters Schreibtisch breit machte — wo sie sich zum ersten Mal »geliebt hatten«, wie Alison ihn netterweise informiert hatte — wurde James ganz schlecht.

Als James sich seine Gedanken einmal eingestanden hatte, hatten ihn endlose Fantasien über die beiden wie ein Virus in immer neuen Ausprägungen heimgesucht, Fantasien, wie sie sich eng umschlungen in einem geilen Wirbel aus Ehrgeiz und Selbstüberhebung suhlten. Während all der Nachmittage, Abende und Wochenenden, an denen er immer wieder versucht hatte, sie anzurufen, aber niemand zu Hause gewesen war, war ihm der Kopf fast geplatzt vor Eifersucht. Sie hatte seine Fragen lachend abgetan und ihm erzählt, sie sei in einer Besprechung gewesen, geschäftlich unterwegs oder bei Freundinnen oder lange im Büro oder sonst wo. Und in Wahrheit hatte sie die ganze Zeit über ihre heißen Schenkel um den verschwitzten, unförmig fetten und kalkbleichen Körper des Auslandsressortleiters geschlungen. Ihr neues Leben. Ihre, wie sie meinte, wahre Liebe. Nun schliefen sie zusammen in dem Bett, das James ihnen bereitet hatte.

Und nun blieb ihm nur noch die lästige Pflicht, seine Sachen abzuholen. Das genaue Gegenteil von ihrem ursprünglichen Plan.

Und so steuerte James mittags um halb zwei an diesem verhangenen Samstag durch die engen Straßen auf dem Brixton Hill mit ihren massiven, alten Reihenhäusern. Er parkte den betagten Volvo seines Vaters auf der Helix Road, auf einem Anwohnerparkplatz direkt vor der knallroten Eingangstür.

Er blickte zu dem kleinen Fenster im Dachgiebel empor, hinter dem einmal ihr gemeinsames Schlafzimmer gewesen war, und fragte sich, ob sie im Haus etwas verändert hatte. Er hoffte es, denn er verspürte kein Verlangen, eine Umgebung wiederzubetreten, die einmal so viel Glück Raum geboten hatte, inzwischen aber für ihn bloß noch ein Hort des Schmerzes war.

Zuerst hatte James sich geweigert, zu akzeptieren, dass sie ihm so etwas antun konnte. Doch nach einem lächerlichen Telefonanruf, bei dem ausgerechnet Richter ihn »von Mann zu Mann« sprechen wollte, war sein Unglaube schnell abgeklungen. Richter hatte einen auf zerknirscht gemacht, war aber gleichzeitig widerwärtig herablassend gewesen. »Mensch, du bist unser bester Mitarbeiter«, hatte er gelabert. »Wir dürfen doch nicht zulassen, dass diese Geschichte Auswirkungen auf unsere Arbeit hat.« Was für ein Psychopath musste man sein, um so etwas zu denken, geschweige denn, es auszusprechen. James hatte ihm knapp gedankt, und dann das Telefon so heftig gegen die Wand geschleudert, dass die Plastiksplitter quer durch sein Büro flogen.

In der ganzen Geschichte lag so viel tragische Ironie, dass er es kaum glauben konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich an einen Ort und einen Menschen gebunden. Hatte sein Leben ganz bewusst Schritt für Schritt geändert und war kurz davor, ein ganz gewöhnliches Leben zu führen. Ihr zuliebe hatte er sich wirklich bemüht, hatte sich sein Leben einengen lassen, um als Mensch reicher zu werden. Hatte sich auf eine Einzige konzentriert, statt sich von einer Geliebten zur nächsten, von Begegnung zu Begegnung treiben zu lassen und alles um seine Arbeit herum zu arrangieren. Auf seine Weise war er Alison auch treu gewesen. Sicher, es hatte den ein oder anderen One-Night-Stand gegeben — in Bangkok oder Kabul —, doch das war stets weit entfernt und in diskreter Heimlichkeit geschehen, unverbindlich und sofort wieder vergessen. Welch bittere Ironie, dass ausgerechnet sie, die so erpicht auf eine konventionelle Bindung mit all ihren Verpflichtungen gewesen war, sie als Erste gebrochen hatte. Das hatte er ihr auch ohne Zögern vorgeworfen.

Alisons Reaktion auf seine Wut reichte von kindischem Trotz bis hin zu einer Art boshafter Grausamkeit, bei der sie ihm kein einziges der unnötigen Details ersparte. In der Hauptsache führte sie zu ihrer Verteidigung das Liebesargument an: Die Liebe überwindet alles, die Liebe steht über allem. Man weiß gar nicht, was die Liebe ist, bis man ihr wirklich begegnet, obwohl man doch eigentlich geglaubt hat, sie zu kennen. Und die Menschen, von denen man geglaubt hat, dass man in sie verliebt gewesen sei, müssten doch einsehen, dass man es gar nicht war. Erst durch Alan habe sie wahre Liebe kennen gelernt. Es musste erst ein »richtiger« Mann kommen, um ihr zu zeigen, was »echte« Liebe war. Ihre Grausamkeit war so verletzend, dass sie fast wieder naiv war.

Wenigstens hatte ihm diese Reise einen Vorwand gegeben, sich mit einem Informanten zu treffen, dem er schon eine Zeit lang nachgespürt hatte. Und die Zeitung bezahlte die Reise. Kleine Almosen, dachte er, seufzte tief und stieg aus dem Auto.

Reiß dich zusammen! Das Warnsignal klang ihm in den Ohren, merkwürdigerweise ausgerechnet in einem australischen Akzent, eine bizarre Erinnerung an einen schwindelerregenden Flug von Sydney nach Gladstone anlässlich eines lange zurückliegenden Auftrags.

Und da stand sie plötzlich vor ihm im Türrahmen und betrachtete ihn mit dem wohlbekannten Ausdruck von aufrichtiger Besorgnis in den Augen. Auch ihre Selbstsicherheit war noch da, dieses Vertrauen, das sie in ihre sexuelle Wirkung hatte, in die Fähigkeit, Blicke auf sich zu ziehen und allein durch ihr bloßes Vorübergehen den Männern einen Ständer zu verursachen. Sie tat es ganz bewusst.

Sie hatte sich das Haar superkurz schneiden lassen, ein niedlicher Bubikopf für die zukünftige Braut. Denn Alan und sie hatten vor zu heiraten.

James lächelte nicht. Er brachte es nicht über sich. »Hallooo!«, hauchte sie, als wären sie gute alte Freunde, die sich nach einer Ewigkeit wiedertrafen. »Hallo«, brummte er. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und starrte ihm bedeutungsvoll in die Augen. Er vermutete, dass sie sich vergewissern wollte, ob er auch in friedlicher Absicht gekommen war. Alison hasste Auseinandersetzungen. Sie trat zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen, und tätschelte ihm den Po, als er vorbeiging. »Du siehst toll aus, James!«, kicherte sie atemlos und schloss die Haustür hinter ihm. »Ich hatte schon fast vergessen, wie umwerfend diese Mischung aus blauen Augen und schwarzen Haaren ist.« James erwiderte nichts. Steifbeinig, mit gesenktem Kopf, ging er den Flur entlang, die Hände tief in die Taschen geschoben.

Das Haus sah noch genauso aus wie früher.

In der Küche zeigte sie ihm, wo sie die Umzugskartons hingestellt hatte, und gab ihm einen Stapel Listen, die er sich anschauen sollte, bevor sie anfingen. Angewidert von ihrer Höflichkeit, setzte er sich auf den Hocker an der Küchenbar. Da ihm etliche Erinnerungen übel aufstießen, zu denen ihr neuer Tonfall überhaupt nicht passen wollte, fand er ihre aufgesetzte Fröhlichkeit gefühllos. Sie hätte wenigstens ein bisschen mit den Händen ringen, sich nervös durch das Haar fahren oder sich die Kleider zerreißen können — irgendetwas, um ein wenig Reue oder Bedauern zu demonstrieren. Aber sie schien seine Gefühle überhaupt nicht zu bemerken, ihr Gesicht war ein einziges Lächeln, und ihr geschäftiger »Lass-uns-das-hinter-uns-bringen-wie-Erwachsene«-Tonfall war von aufreizender Hartnäckigkeit — lass uns bloß nicht so tun, als hätten wir einander nie geliebt, als wären wir nie Freunde gewesen.

Es hätte eine willkommene Veränderung gegenüber ihrem verdrossenen Tonfall am anderen Ende der Leitung sein sollen, einem Tonfall, der ihn hatte spüren lassen, dass es bei ihr keinerlei zärtliche Gefühle mehr gab, nur noch trotzige Bekenntnisse und den Wunsch, ihn so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Aber dem war nicht so. Irgendwie war diese aufreizende Munterkeit noch schlimmer.

Er machte sich unverzüglich ans Einpacken. Sie folgte ihm fröhlich von Zimmer zu Zimmer, hockte sich dicht neben ihn, um ihm in die Augen zu schauen, und quoll geradezu über vor Freigebigkeit, wenn es strittig war, wem irgendein Buch, eine CD oder ein einst gemeinsam besessener Dekorationsgegenstand gehörte, und wollte, ganz Großzügigkeit, dass er es bekam.

Und dann, als der Abend hereinbrach und der unangenehmste Teil der Aufgabe — die Aufteilung der Beutestücke — so gut wie erledigt war, hätte sie ihn fast rumgekriegt. Viel war dazu nicht nötig, ein Glas Wein, ein gemütliches Feuer im Kamin, ein paar süße Worte und die unverhoffte Zurschaustellung von Traurigkeit. »Ich werde dich immer lieb haben, James«, sagte sie, während ihr die Tränen unter den langen Wimpern hervorflossen und stumm über die liebliche Rundung ihrer Wangen kullerten.

»Blödsinn«, knurrte er verächtlich.

Sie wirkte aufrichtig verletzt. »Wie kannst du das sagen?«

»Es ist vorbei, Alison. Schnee von gestern«, fuhr er sie an, auch wenn ihm die Worte in der Kehle kratzten.

Ein stilles Schluchzen entfuhr ihr, und irgendwie gelang es ihr, diesen Ton zugleich wissend, tief empfunden und tragisch klingen zu lassen. Und auf einmal war er hilflos.

»Ali…«, die Stimme versagte ihm, und als sie merkte, dass seine Gegenwehr in sich zusammenbrach, kam sie zu ihm und schlang ihre Zarten Arme um ihn. Und einen verrückten Moment lang ließ er sie gewähren und beugte sich zu ihr hin. Dann war ihr Gesicht ganz nah, ihre Lippen waren auf seinen, ihr Bein umschlang ihn und zog ihn fest an sich. Sie presste ihm ihr Becken entgegen, und ihre heiße Zunge glitt über seine Lippen. Und beinahe wäre James ihr erlegen.

Doch dann überkam ihn plötzlich ein inneres Widerstreben, und er fuhr zurück. Sie schwankte einen Moment lang, erholte sich jedoch rasch wieder. Ihre feuchten Lippen standen verblüfft auseinander, und Empörung brannte in ihrem Blick. »Was ist denn jetzt los?«

James merkte, wie sich sein Mund in gekränktem Abscheu verzog. »Lass mich in Ruhe, Ali. Bitte lass mich einfach in Ruhe.« Aus seinem Blick sprach Verachtung. Sie sah es. Scharf zog sie die Luft ein, ihre Augen verdüsterten sich, aber sie war zäh. Sie konnte alles aushalten, sogar ihn.

Am nächsten Tag war Alison nicht mehr da. Sie hatte mit einem Nachbarn abgesprochen, dass er James und die Spediteure einließ, um die Umzugskartons abzuholen. Einerseits war er froh darüber, andererseits sehnte er sich aber immer noch nach einem anderen Abschluss.

Nachdem all seine Sachen abtransportiert waren, brannte James darauf, ihnen zu folgen, um endlich den Gedanken an Alison zu entkommen, die ihn durch die Stadt verfolgten, ihm in dunklen Restaurantnischen auflauerten oder ihn unverhofft an irgendwelchen Straßenecken überfielen.

Er mied das Büro, obwohl ihm klar war, dass er irgendwann dort vorbeischauen musste. Er verbrachte Zeit mit seiner Familie, besuchte mit seinem Vater Galerien oder traf sich mit seiner Mutter zum Lunch, wenn sie zwischen ihren Kursen Zeit dazu fand. Er sah sich ein paar Kinofilme an, und es gelang ihm, den Typen ausfindig zu machen, der ihm möglicherweise als wertvoller Informant in einer Story dienen konnte, der er in Südafrika nachging. Er hatte keine Ahnung, ob etwas Wahres an der Sache dran war, aber es war zumindest einen Versuch wert.

Während er in der U-Bahn dem Treffen mit dem Informanten in Earl’s Court entgegenschaukelte und in die vorbeirauschende Dunkelheit des Schachtes starrte, wollte ihm Alison nicht aus dem Kopf gehen. Sie hatte ihn an diesem Morgen angerufen und ziemlich verletzt geklungen. Sie wolle ihn sprechen. Könnten sie sich irgendwo treffen? Ein letztes Mal nur? Zu einem richtigen Abschluss finden, einem Abschied in Würde? Er wisse nicht, wieso nicht, hatte er gebrummelt und dabei gleichgültiger geklungen als er sich gefühlt hatte. Doch nachdem es einmal heraus war, konnte er es auch nicht mehr zurücknehmen. Sie sagte, es sei schwierig für sie, Zeit zu finden; Alan gefalle es nicht, wenn sie ihn traf, aber ein kurzes Essen wäre vielleicht möglich. »Kann nicht«, hatte er erwidert. »Ich treffe mich mit einem Informanten.« Am anderen Ende der Leitung herrschte langes Schweigen. »Es ist doch immer dasselbe mit dir, James«, sagte sie schließlich leise. Das saß. Ihr alter Vorwurf — dass seine Arbeit immer Vorrang vor ihr und ihrem gemeinsamen Leben hätte. »Es tut mir Leid, dass ich dich mit dem, was ich getan habe, So verletzt habe«, fuhr sie ruhig fort, ohne jede Spur von Bosheit oder Selbstmitleid. »Aber es reicht nicht, zu glauben, dass ich als Einzige dafür verantwortlich bin, wie sich die Dinge entwickelt haben. Für dich habe ich nie an erster Stelle gestanden. Eines Tages wirst du das auch noch begreifen. Ich hoffe bloß, dass es dann nicht zu spät für dich ist.« Er schwieg fassungslos. Sie wartete einen Moment, dann legte sie ohne ein Wort des Abschieds auf.

Ihr Anruf hatte bei James ein ziemlich unbehagliches Gefühl hinterlassen. Womöglich war sie ja so weit gegangen, sich auf eine Affäre mit Richter einzulassen, um ihn aus der Reserve zu locken, dachte er.. Falls das ihr Plan gewesen war, hatte er zweifellos funktioniert, aber so berechnend konnte doch sicher nicht einmal sie sein.

Es stimmte schon, er hatte eine ziemlich kompromisslose Haltung, was seine Arbeit betraf; für eine gute Story ließ er alles andere stehen und liegen, und nichts und niemand durfte zwischen ihn und seine Aufträge und Abgabetermine treten.

Hatte er womöglich einen Fehler begangen? Hatte er zu viel von ihr verlangt? Er hatte immer geglaubt, dass er in Alison jemand Ebenbürtiges gefunden hätte, dass sie genauso vom Ehrgeiz getrieben war, wenn nicht sogar härter als er. Und er hatte viel für sie aufgegeben, hatte sein unabhängiges, entwurzeltes Leben der Behaglichkeit einer Zweierbeziehung und der hübschen kleinen Doppelhaushälfte in Süd-London geopfert. Konnte sie das denn nicht verstehen? Das musste sie doch sehen. Nein, es war wohl bloß ihre eigene Weigerung, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen, und der Versuch, ihm den Schwarzen Peter weiterzureichen. Hexe.

Plötzlich merkte er, dass er zusammengesunken auf dem Sitz im U-Bahn-Waggon saß, den Kopf zwischen die Knie gesenkt und die Fäuste vor dem Bauch geballt. Ihm wurde bewusst, wie merkwürdig seine Haltung auf die anderen Leute wirken musste, und er setzte sich wieder aufrecht hin. Er fühlte sich ein bisschen benommen; er hatte gar nicht bemerkt, wie tief er in Gedanken versunken war. Er betrachtete seine Hände, die geöffnet auf seinem Schoß lagen; rote Streifen überzogen die Handflächen, wo er die Fingernägel zu fest in die Haut gebohrt hatte.

Dann hielt die U-Bahn schlingernd an. Er stand auf und wollte aussteigen, aber die Station war nicht die, mit der er gerechnet hatte. Verdammt! Er hatte seine Station verpasst. Nun stand er in der Einöde von Ravenscourt Park im Nieselregen auf dem Bahnsteig und verfluchte seine Dummheit. Er durfte Groenewald auf keinen Fall verpassen.

Er fiel in Laufschritt, stürmte verzweifelt aus der U-Bahn-Station und lief eine unbekannte, leere Straße entlang. Ein oder zwei Autos kamen vorbeigefahren, jedoch kein Taxi. An einer Straßenecke hielt James an und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während sein Blick von einem Ende der leeren Straße zum anderen wanderte. Mist! Dann hörte er aus der Straße hinter sich das vertraute Tuckern eines Dieselmotors. Kaum zu glauben, aber das Taxi war sogar frei!

Auf den letzten Drücker erreichte er die Earl’s Court Road, reichte dem Taxifahrer eine Hand voll Scheine, stürzte nach draußen und schlängelte sich gefährlich dicht zwischen den fahrenden Autos hindurch, um die Straße zu überqueren. Pünktlich auf die Minute betrat er atemlos das Nando’s.

Im Schnellrestaurant herrschte Betrieb, aber es war nicht übermäßig voll. Er hatte eine ungefähre Vorstellung, nach wem er Ausschau halten musste. Der Mann, der sich Mr. Groenewald nannte, musste Ende vierzig, Anfang fünfzig sein. Nach ihren Gesprächen am Telefon stellte James sich einen bulligen Typen vor. Einen typischen Farmer aus dem Lowveld, groß und vierschrötig. Aus Beschreibungen von anderen hatte James ebenfalls herausgehört, dass Mr. Groenewald nicht gerade eine Schönheit war und man ihn unschwer an seinen ungewöhnlich großen, schmalen Ohren erkennen konnte.

Bis jetzt war noch kein Mann in Sicht, auf den diese Beschreibung passte.

James holte sich einen Kaffee und ließ sich auf einer Sitzbank am Rand nieder, von wo aus er das Kommen und Gehen gut im Auge hatte und wo man ihn auch sofort sehen würde. Der vereinbarte Treffpunkt kam James ein bisschen albern vor. Der Informant hatte so viel Wert darauf gelegt, getarnt zu bleiben, da er sein Leben in ernsthafter Gefahr wähnte — bloß um dann schließlich die Londoner Filiale einer südafrikanischen Fast-Food-Kette als Treffpunkt vorzuschlagen. Wahrscheinlich das einzige, was Groenewald gut kannte, vermutete James, während er an seinem Kaffee nippte.

Die Geschichte, der James nachjagte, konnte sich zu einer interessanten Story entwickeln — oder auch nicht. Wahrscheinlich interessanter für die lokale Presse in Südafrika als für die internationalen Zeitungen, aber eine große Story allemal, falls das herauskam, was er erwartete. Alles hatte begonnen mit seiner Recherche zu einer Reihe von Überfällen auf Geldtransporter, bei denen es etliche Tote gegeben hatte. Die drei Wachleute, die bei dem letzten Überfall ums Leben kamen, waren von Leuchtspurgeschossen getötet worden, wie sie von Scharfschützen benutzt wurden; das war kaum das werk schießwütiger Amateure gewesen. Beim ihrem letzten Einsatz hatten die Täter die stattliche Summe von zwölf Millionen erbeutet. Sie hatten bei ihren Raubüberfällen nichts dem Zufall überlassen, alles war mit militärischer Präzision geplant worden.

James war davon überzeugt, dass die Diebe nicht nur bestens ausgebildet waren, sondern auch Verbindungen in die höchsten Kreise hatten. Möglicherweise waren es Polizisten oder Militärs oder ehemalige Polizisten, die sich mit ehemaligen Soldaten zusammengetan hatten.

Mr. Groenewald hatte versprochen, Informationen zu liefern, die zeigen würden, in welche Ebenen ihre Verbindungen tatsächlich reichten. Groenewald war früher bei der Geheimpolizei gewesen. Bevor er — aus Angst vor wem oder was auch immer — das Land verlassen hatte, war er ein strammer Rechter und seine Spezialität die Bombenentschärfung gewesen. Man hatte ihn mit einer verdeckten Ermittlung beauftragt und ihn in einen Ring von Autodieben eingeschleust, der von einer Gruppe uniformierter Polizisten geführt wurde. Einige Monate später wurde für beide Seiten offensichtlich, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegte und nicht mehr wusste, auf welcher Seite er eigentlich stand. Die Gangster ließen ihn auffliegen, er floh, setzte sich über die Grenze nach Simbabwe ab und landete schließlich in England, wo er nun auf der Flucht lebte, stets in Angst um sein Leben. James hatte den Eindruck, dass Groenewalds Verfolgungswahn übertrieben war. Es schien ihm mehr als unwahrscheinlich, dass irgendjemand so weit reisen würde, um einen verkniffenen Ex-Polizisten zum Schweigen zu bringen, aber beschwören wollte er es nicht. Es gab schon ein paar komische und furchteinflößende Gestalten.

Als eine halbe Stunde verstrichen war, kam James zu dem Schluss, dass ihr Treffen geplatzt war, dass Groenewald ihn hereingelegt hatte. Der einzige andere Kunde, der die ganze Zeit über mit ihm im Restaurant gesessen hatte, war eine extrem dünne Frau um die Fünfzig. Sie saß auf der gegenüberliegenden Seite und behielt, wie es James schien, die Tür und die Straße unnatürlich wachsam im Auge. Aber weit und breit kein Mr. Groenewald.

James erhob sich und wollte gehen. Es gab schließlich noch andere Groenewalds, dachte er sich, während er die Tür aufzog und nach draußen in den Regen trat. Er war noch keine drei Schritte gegangen, als ihn eine Hand beim Arm griff. Er drehte sich um und stand der besorgt aussehenden Frau gegenüber. »Sind Sie Mr. Kay?«, fragte sie mit heiserer Stimme. Er musterte die knochigen Finger, die seinen Ärmel umfasst hielten, und blickte dann in ihre müden Augen. Er nickte. »Kommen Sie mit«, sagte sie.

James folgte ihr in einen Buchladen, der ein Stück die Straße hinunter lag. Hektisch lief sie durch die Gänge zwischen den Regalen hin und her, bis sie eine ruhige Ecke gefunden hatte. James stellte belustigt fest, dass sie die Ratgeber-Abteilung gewählt hatte.

Endlich wandte sie sich ihm zu. Sie wirkte blass und spielte nervös mit den Fingern am Lederriemen ihrer Tasche herum. Sie blickte sich immer wieder ängstlich um, doch niemand achtete auf sie. »Mein Mann lässt sich entschuldigen«, murmelte sie, während sie ihre Finger über eine Reihe Buchrücken gleiten ließ. »Aha«, meinte James und strich sich über das Kinn. Er fragte sich, was das bedeuten mochte. Würde es nun mehr Informationen geben, als ihm versprochen worden waren, oder eher weniger? Und er dachte daran, dass er an diesem Nachmittag noch ins Kino gehen wollte, vielleicht sogar doch noch im Büro vorbeischauen würde. Wie auch immer, James meinte die Nähe von Mr. Groenewald zu spüren. Ein nervöses Prickeln zwischen den Schulterblättern sagte ihm, dass er sie aus nicht allzu weiter Ferne beobachtete. Er schaute sich um und suchte den Buchladen mit Blicken ab, doch niemand fiel ihm ins Auge. Dann wandte er sich wieder der Frau zu. Es spielte gar keine Rolle, wo der Kerl sich verborgen hielt; inmitten des gleichgültigen Treibens, das an einem Frühlingsmorgen auf der Earl’s Court Road herrschte, war sein Versteckspiel ohnehin absurd und überflüssig.

»Vor wem hat ihr Mann Angst?«, fragte er leise.

»Er hat keine …«, ihre Stimme zitterte, und sie hielt kurz inne, »… Angst — er ist bloß vorsichtig.«

James zuckte mit den Achseln, er wollte die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.

»Mein Mann ist kein gewalttätiger Mensch, nicht von seinem Charakter her«, stammelte sie.

Wenn das stimmte, bräuchte sie es gar nicht zu erwähnen, dachte er. James war ohnehin der Meinung, dass jedes menschliche Wesen die Blutrünstigkeit in sich trug. Blutgier und das Verlangen nach Macht, Sex, Schmeicheleien — was immer einen high machte.

»Hat er Ihnen irgendwas für mich mitgegeben?«

Sie nickte kurz und griff in den unförmigen Beutel, den sie als Tasche dicht am Körper trug. Sie zog eine dicke Aktenmappe hervor, die vom häufigen Gebrauch schon Eselsohren hatte und von ausgeleierten rosa Gummibändern zusammengehalten wurde. Einen Moment lang hielt sie die Mappe fest umklammert. Scheinbar desinteressiert schob James die Hände in die Hosentaschen.

Sie bemerkte sein Verhalten, und da wurde ihr wohl bewusst, dass er womöglich einfach fortgehen und nichts und niemand ihn aufhalten könnte. Sie wollte nicht umsonst hierher gekommen sein. Es ging hier nicht um Weltverbesserung oder das Wohl ihres Landes. Bei dieser Transaktion ging es um Geld.

»Wo haben Sie das her, Mrs. Groenewald?«

Sie blickte ihn an, und ein leichtes Lächeln glitt um ihre Mundwinkel. Vielleicht Erleichterung darüber, dass er das Interesse nicht völlig verloren hatte.

»Mein Mann hat es an sich genommen, als er die Polizei verlassen hat. Eine Art Versicherung.«

»Und nun ist es Zeit, sie einzulösen?«

Sie nickte, während ihre Finger an den Gummibändern der Mappe herumspielten und ihr Blick nervös durch den Laden glitt. »Er hat gesagt, Sie würden auch was mitbringen.«

James nickte. Er hatte keine Ahnung, ob er womöglich eine Niete ziehen würde, und ließ sie noch ein bisschen schwitzen, während er sie taxierte.

Dann zog er einen Umschlag aus der Tasche und gab ihn ihr. Sie riss ihm den Umschlag förmlich aus der Hand. Er nahm die Aktenmappe entgegen und wollte sie gerade öffnen, doch sie hielt ihn davon ab und umklammerte seinen Arm. »Sie müssen verschwinden, Mr. Kay. Wir dürfen hier nicht rumstehen. Es ist nicht sicher.«

James runzelte die Stirn, keineswegs überzeugt. »Woher soll ich wissen, dass hier auch die Informationen drin sind, die er mir versprochen hat?«

»Er hat gesagt, Sie müssen ihm vertrauen. Was Sie brauchen, steht da drin.«

James seufzte achselzuckend und schob sich die Mappe unter den Arm.

Hastig verließ er den Buchladen und trat nach draußen, um die frische Frühlingsluft einzuatmen und die klaustrophobische, alberne Begegnung rasch hinter sich zu lassen. Früher hätte er vermutlich hinter der nächsten Ecke gewartet, wäre ihr gefolgt und hätte neugierig versucht herauszufinden, was als Nächstes passieren würde, doch diese Spielchen interessierten ihn nicht mehr.

Von der Earl’s Court Road fuhr James schnurstracks in die Redaktion. Es gab nicht viel zusammenzupacken, sein Büro hatte ihm in letzter Zeit immer nur für Zwischenstopps gedient, kurze Trips nach London, um wieder Kontakt mit der Heimatredaktion herzustellen.

Er ließ sich von Janet, der Empfangsdame, einen Karton geben. Wenigstens besaß sie genügend Takt, ihn genauso schnippisch zu begrüßen wie sonst auch und nicht das mitleidige, verlegene Gesicht aufzusetzen, das etliche andere Kollegen an den Tag gelegt hatten. Er hatte gerade die letzte Schublade mit Büroüberbleibseln und anderem Abfall in den Papierkorb geleert, als er aufblickte und Richter sah. Die verschwitzten kleinen Hände des Mannes trommelten nervös auf der Tischplatte herum.

»Alan«, seufzte James, erleichtert, dass sie sich nun endlich begegneten, und entschlossen, das unvermeidliche Gespräch schnell hinter sich zu bringen und zu neuen Ufern aufzubrechen.

Richter wirkte belämmert und panisch zugleich. Sein Mund verzog sich zu einem albernen Grinsen. »Tut mir echt Leid, Alter, wie sich die Dinge entwickelt haben.«

James konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich bin eh weg.«

Richters Lächeln erlosch. Verwirrung breitete sich auf seinem dicken Gesicht aus.

»Hier. Meine Kündigung.«

James drückte ihm den überquellenden Papierkorb in die Hand. Überrumpelt hielt Richter den Papierkorb fest und umklammerte ihn wie eine Rettungsboje. Dann warf James sich sein Jackett über die Schulter und marschierte in Richtung Tür. Der Chef der Auslandsredaktion folgte ihm, den Papierkorb in den fetten Pranken, und zog dabei eine Spur aus Büroklammern und zusammengeknüllten Post-its hinter sich her. »James! Das kannst du doch nicht machen! Ich meine: Das darfst du doch nicht tun! Wegen einer Frau …«

James drehte sich zu ihm um. »Das mache ich für mich, Richter. Ich bin hier fertig! Viel Spaß mit Alison.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Gebäude. Plötzlich verspürte er ein verrücktes Gefühl von Freiheit. Die Freiheit, die mit zerstörten Gewissheiten einhergeht.

Stunden später, als der feuchte Abend hereinbrach, saß James dumpf vor sich hin brütend am Schreibtisch in seinem alten Mansardenzimmer im Haus seiner Eltern.

Überall lagen Papiere aus der kürzlich erstandenen Mappe ausgebreitet. Ihr Inhalt war niederschmetternd uninteressant. Mr. Groenewald hatte sich als schäbiger Opportunist erwiesen, der offenbar gewittert hatte, wie er aus ein paar nutzlosen, zufällig aufgelesenen Papieren Geld schlagen konnte.

Das bisschen Information, das da war, hatte absolut nichts mit den Überfällen auf die Geldtransporter zu tun. Es gab ein, zwei interessante Bruchstücke, aber nichts, was wirklich von Bedeutung gewesen wäre. Na ja, man kann nicht immer gewinnen, dachte James. Die Begegnung mit dem Informanten war ohnehin in den Schatten gestellt worden von seinem Besuch im Büro und dem Hochgefühl, das er verspürt hatte, als er aus dem Gebäude marschiert war.

Ein Klopfen an seiner Zimmertür brachte ihn wieder in die Gegenwart nach Battersea zurück. Seine Mutter stand im Türrahmen, die Augen besorgt zusammengekniffen. »Kommst du runter zum Abendessen?« Sie lächelte fragend und suchte sein Gesicht ab, obwohl sie wusste, dass ihr Sohn seinen Schmerz nie mitteilen würde, egal, wie sehr er ihn auch quälte. »Dad hat gekocht«, fügte sie noch aufmunternd hinzu. James betrachtete sie zärtlich, und die winzigen Fältchen um seine Augen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Sie neckten sie immer wegen ihrer fehlenden Kochkünste, obwohl sie in Wahrheit eine durchaus annehmbare Köchin war. Sein Dad dagegen hatte ein glückliches Händchen und nahm sich gern viel Zeit zum Kochen. Für seine Mutter war es nur eine Notwendigkeit.

»Ich habe bei der Zeitung gekündigt.«

Sie hob überrascht die Augenbrauen, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Missbilligung.

»Was hast du denn vor?«

»Wieder nach Joburg zurückgehen. Mir da eine Arbeit suchen. Ein bisschen abhängen. Ich habe genug Geld, mich eine Zeit lang treiben zu lassen.«

»Das brauchst du gar nicht. Man wird dich sofort überall mit Kusshand nehmen.« Dann lächelte sie, und ihre Augen glänzten — vielleicht doch ein paar Tränen?

»Was ist denn?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist schon eigenartig. Eigentlich war ich es ja, die all die Jahre wieder nach Hause zurückkehren wollte. Und jetzt gehst du zurück.«

Er nickte und lächelte ebenfalls. »Eine Zeit lang jedenfalls …«

»Ich freue mich. Es kommt mir irgendwie richtig vor«, sagte sie, wandte sich dann um und verließ das Zimmer. »Bis gleich …«

Während James die Papiere zusammensuchte, fiel sein Blick auf eine Namensliste, die zusammen mit einer Reihe Zahlen auf die Rückseite eines maschinengeschriebenen Blattes gekritzelt war. Es waren fünf Namen, vier davon sagten ihm nichts. Aber der letzte war ihm bekannt. Paul Lewis. Er runzelte die Stirn, plötzlich war sein Interesse geweckt. Paul Lewis? Was hatte denn sein Name hier zu suchen? Vielleicht handelte es sich ja um einen anderen Paul Lewis, der nichts mit dem heldenhaften Märtyrer der Südafrikanischen Befreiungsbewegung zu tun hatte. Vielleicht war es aber auch derselbe. Merkwürdig, dachte James. Lewis’ Tod war einer der berüchtigten und bis heute nicht aufgeklärten Morde aus der Zeit der Apartheid. Er würde der Sache mal nachgehen, sobald er zurückgekehrt war. Er schob die Papiere zurück in die Mappe, klappte sie zu und ging nach unten.

6

Langsam glitt Anna aus der sanften Umarmung ihres Traumes und wurde sich des schwachen Lichts bewusst, das durch die Gardinen gedämpft in ihr Zimmer fiel. Neben sich auf dein Nachttisch hörte sie das energische Ticken ihrer Uhr. Ihre Augen zitterten unter der zarten Haut ihrer Lider. Vage verspürte sie den Wunsch, für immer in diesem köstlichen, aber viel zu kurzen Schwebezustand zwischen Traum und Tag verharren zu können. Und genauso verschwommen verspürte sie den kommenden Tag betreffend ein noch formloses, aber gespanntes Gefühl der Erwartung. Sie hatte eine Nacht voller unruhiger Träume und süßer Erinnerungen hinter sich, und eine wohlige Süße begleitete sie noch, während sie benommen dem Erwachen entgegentrieb.

Seltsam, dachte sie, dass sich das Leben dreht wie eine Spirale. Dass man sich von einem Ereignis so lange fortwindet, und dann — plötzlich und ohne Vorwarnung — lässt das Leben einen wieder zurückschnellen, und im Grunde kreist man immer um den gleichen Punkt.

Anna stand auf und trottete über den Teppich. Aus den hohen Spiegeltüren des Kleiderschranks blickte ihr eine auffällige Frau entgegen, nicht schön im herkömmlichen Sinne, aber durchaus attraktiv. Sie hatte sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Ihr ehedem ungebärdiges Haar hatte sie in einer eleganten, lockeren Frisur gezähmt, die sich auf Höhe ihres Schlüsselbeins nach innen wellte. Ihre großen Augen hatten immer noch dieselbe neugierige, trügerische Ruhe; ihre Nase war klein und unauffällig, ihre Lippen dagegen voll und sanft geschwungen. Ihr Gesicht gehörte zu denen, die mit dem Altern gewannen. Doch Anna hatte auch etwas Verwundetes an sich; irgendetwas in den dunklen Tiefen ihrer Augenließ ihre Narben erahnen, verschwommen, wie man die Umrisse von Steinen in einem Flussbett unter dem aufgewühlten Wasser erahnen kann.

Anna ging ins Badezimmer, drehte die Dusche an und stieg unter den heißen Wasserstrahl. Sie reckte ihr Gesicht dem Wasser entgegen und genoss das Gefühl des perlenden, heißen Wassers auf ihrer Haut.

Während Sie unter der Dusche stand, spürte sie plötzlich wieder Geruch und Atmosphäre des Traums, den sie von Paul geträumt hatte. Sie hatte diesen Traum schon oft gehabt, allerdings seit längerer Zeit nicht mehr. Es war, als habe Paul sie in der letzten Nacht absichtlich wieder besucht, um ihr für den Tag Mut zu geben, an dem sie ihn bitter nötig hatte. Nun kehrte der Traum mit lebhafter Deutlichkeit in ihr Bewusstsein zurück, so als hinge der Geruch von Paul immer noch an ihr.

Sie hatten einander auf dem Meer wiedergetroffen, in einem Sturm, der so heftig war, dass Anna kaum mehr zwischen Wasser und Luft unterscheiden konnte. Irgendwann befand Anna sich auf ihrem Weg zu Paul in einer Rettungsinsel, die hauptsächlich unter den Wellen war, und musste durch ein Röhrchen atmen, das durch die Plastikumhüllung nach draußen ragte. Sie hatte keine Angst — sie war zu sehr auf ihr Ziel konzentriert, um sich durch die Fahrt in Panik versetzen zu lassen. Paul wartete auf einem größeren Schiff, auf das Anna trotz der hohen Wellen ohne Schwierigkeiten steigen konnte. Er saß auf einem Stuhl, eingewickelt in eine Art Schlafsack, den er jedoch zu Boden gleiten ließ, als er aufstand, um sie zu begrüßen. Darunter trug er einen weiten roten Pullover. Anna fiel auf, dass sein Haar dünner und feiner war als bei ihrer letzten Begegnung, aber immer noch lockig und blond. Er umarmte sie, und sie presste ihr Gesicht in seinen Pullover, an seine Brust. Sein Körper fühlte sich fest und stark an, gar nicht wie der Körper eines Toten. Er hatte gelacht, als sie eine Bemerkung darüber machte. Und dann setzten sie sich hin und unterhielten sich so ungezwungen wie gute alte Freunde.

Während ihr Gespräch dahinfloss und die Zeit verstrich, schien er immer zerbrechlicher zu werden, und irgendwann bemerkte Anna, dass einzelne Knochen aus seinem Körper hervorragten. Als Paul mit einer ausladenden Geste seinen Standpunkt unterstreichen wollte, brach plötzlich knackend ein Teil seines Skeletts ab. Er blickte flüchtig zu Boden, an die Stelle, wohin der Knochen gefallen war, und schnalzte irritiert, machte aber keine Anstalten, ihn wieder aufzuheben. Es lenkte ihn nur kurz ab, er schien es gar nicht wichtig zu finden. Anna allerdings war sehr beunruhigt und hob den Knochen auf. Daran festgebunden war ein Anhänger mit einem Etikett, doch sie konnte nicht feststellen, was darauf stand, weil sie die Schrift nicht lesen konnte.

Wasser schlug gegen Annas Stirn und trommelte auf ihren Schädel. Sie trat aus dem Strahl der Dusche und lehnte sich an die kühlen, glatten Fliesen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, worüber sie miteinander geredet hatten,nur an das Gefühl, dass er bei ihr gewesen war. Ein bittersüßes Gefühl, da sie genau wusste, dass ihre Zeit miteinander begrenzt war und er in sich zusammenfiel.

Anna stellte sich vor den Spiegel im Schlafzimmer und rieb ihr Haar langsam mit einem Handtuch trocken. An Paul zu denken beruhigte sie. Es brachte ihn wieder in ihre Nähe, wo er hingehörte.

Anna zog sich das Handtuch vom Kopf. Sie stand allein im Schlafzimmer ihres neuen Zuhauses in Johannesburg. Pauls Tod lag schon ein Jahrzehnt zurück, doch sie sah ihn immer noch genauso deutlich, als stünde er genau in diesem Moment vor ihr, und sie musste lächeln, als ihr wieder einfiel, was Paul einmal in einem imaginären Gespräch zu ihren zukünftigen Kindern gesagt hatte, nachdem sie und Paul sich zum ersten Mal geliebt hatten: »Unsere Blicke sind einander mitten im Gedränge einer Beerdigung begegnet. Und es kam, wie es kommen musste …« Es kam, wie es kommen musste, dachte sie, und sprach den Satz halblaut vor sich hin.

In ihre Trauer mischte sich plötzlich ein Hauch von Lust. Wie Sand mit Zucker. Anna hätte gern geweint, doch sie konnte nicht. Wie immer blieben ihr die Tränen in der Kehle stecken. Sie wandte sich vom Spiegel ab und warf das Handtuch aufs Bett, während sie das Zimmer durchquerte. Sie öffnete eine der Kleiderschranktüren und ließ eine Hand über die maßgeschneiderten Hosenanzüge und eleganten Blusen ihres neuen Lebens gleiten.

Dann zog sie einen hellbraunen Hosenanzug und ein cremefarbenes T-Shirt heraus. Sie zog sich rasch an, ließ dann den Blick über das Tablett mit Make-up-Utensilien auf ihrer Kommode schweifen und wählte einen Lippenstift aus, den sie zusammen mit einer Haarbürste in eine kleine Handtasche steckte. Schließlich wandte sie sich wie jeden Morgen dem langen Regalbord unter dem Fenster zu, wandte sich Paul zu. Sie musterte die in der Zeit erstarrten Augenblicke seines Lebens, die, in Bilderrahmen gebannt, vor ihr standen, und lächelte ihn an, dankbar und traurig zugleich. Selbst nach so langer Zeit konnte er ihr immer noch Stärke geben. Die Vergangenheit war alles, was ihr noch geblieben war, jetzt, wo ihre Zukunft mit ihm gestorben war. Das gemeinsame Zuhause, das sie sich geschaffen hätten, die Arbeit, die sie zusammen geleistet hätten, die Kinder, über die Sie scherzhaft geredet und die beide gewollt hatten — all ihre Hoffnungen und Möglichkeiten waren mit ihm getötet worden.

Anna wusste, dass es nicht gut war, in der Vergangenheit zu verharren. Wer in der Vergangenheit verharrt, dem nehmen Schattenbilder die Luft zum Atmen. Ein Leben in der Vergangenheit bedeutet, in einer dunklen Zelle zu leben, wo die Echos längst verloschener Stimmen widerhallen, hohl vor Einsamkeit, düster vom Geheul des Moments, als die Zeit anhielt und das Leben zu beunruhigend wurde, um Bewegung in irgendeiner Form von Zukunft zu erlauben. Für diejenigen, die niemals aus der Vergangenheit erwachen, ist das Leben ein Koma, aus dem die Gegenwart sich immer weiter entfernt, wie es eigentlich die Vergangenheit sollte; die Vergangenheit dagegen ist schmerzvolle, beklemmende Gegenwart. Manchen, einigen wenigen bloß, gelingt es schließlich, wieder aufzutauchen, und sich — nach einem langen, erstickenden Tauchgang durch die Dunkelheit — an dem unglaublichen Licht zu freuen.

Anna ging in die Küche, schaltete die Nachrichten auf Radio SAFM an und füllte den Wasserkocher. Sie fand es beruhigend, sich in ihrem Haus umzuschauen und aus dem Fenster in den Garten hinauszublicken. Dahinter leuchteten die Vorstadtsiedlungen in der Wintersonne, und die Stadt ragte empor wie ein Ameisenhügel aus Beton. Sie hatte das Haus wegen der Aussicht gekauft und das hässliche kleine Cottage nach und nach in einen angenehmen, hellen Ort verwandelt. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet, in neutralen Farben und mit einigen wenigen Möbelstücken, die auf einen gewissen asketischen Geschmack hindeuteten. Das Einzige, was im Überfluss vorhanden war, waren Bücher, die die Wände vom Boden bis zur Decke füllten.

Sie nahm ihren Kaffee mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das tiefe, bequeme Sofa, um sich für den bevorstehenden Tag zu sammeln. An diesem Vormittag sollte sie ihre Zeugenaussage vor der lange erwarteten, viel gerühmten, aber auch viel kritisierten Wahrheits- und Versöhnungskommission machen. Anna war sich nur zu gut bewusst, dass es bei den Versammlungen der Wahrheitskommission mehr um Bekenntnisse, um das Aufrütteln des kollektiven schlechten Gewissens ging, als darum, gründliche Aufklärung zu leisten. Aber vielleicht würde die Wahrheitskommission trotzdem irgendjemandem den Anstoß geben, mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu treten, vielleicht würde einer der Mörder einen Amnestieantrag stellen — oder wenigstens jemand, der wusste, wer die Mörder waren. Der Untersuchungsausschuss der Wahrheitskommission hatte einfach nicht die Möglichkeit, die Art von gründlicher Untersuchung einzuleiten, die im Falle von Paul und Jacob erforderlich war. Deshalb erwartete sie sich auch keine neue Ermittlung, sondern hoffte vielmehr, dass die öffentliche Anerkennung von Pauls und Jacobs Tod bei irgendjemandem, der Licht in das Geheimnis bringen könnte, ein schlechtes Gewissen auslösen oder Erinnerungen wecken könnte.

Ihr Bedürfnis, unbedingt zu erfahren, wer Pauls Mörder war, ihm ein Gesicht zu verleihen, war nur schwer zu erklären. Es ging ihr nicht um Rache, sie hatte nicht vor, das Leben des Mörders so empfindlich zu stören wie er ihr Leben gestört hatte. Es ging ihr vielmehr um ein Versprechen, das sie Paul gegeben hatte. Und es ging darum, das vermeintlich Unerklärliche zu verstehen, erklären zu können; darum, dem Chaos und dem Wahnsinn des Geschehenen einen gewissen Sinn zu verleihen. Das Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, war überwältigend, alles verzehrend, es hatte sie sogar von ihren Freunden und ihrer Familie entfremdet, die die Vergangenheit hinter sich lassen und in der Gegenwart leben wollten. Doch Anna konnte nicht loslassen.

Trotz ihrer Fixierung und trotz der Befürchtungen und Kritik ihrer Freunde wusste Anna selbst, dass sie sehr wohl allmählich in der Gegenwart angekommen war. Das Leben dort war unsicher — ein Leben auf Widerruf, doch sie war zufriedener als seit langem.

Rachel kam, wie erwartet, eine Viertelstunde zu spät. Wie immer war sie in Hektik und erfüllte Annas Haus mit Energie und stürmischem Gelächter. »Schicker Hosenanzug, Schätzchen. Du siehst großartig aus!«

»Überrascht dich das etwa?«, neckte Anna sie.

Rachel legte ihr die reich beringten Finger auf die Schultern und blickte ihr in die Augen. »Bist du wirklich darauf vorbereitet?«, fragte sie ernst. Anna blinzelte und bemühte sich um einen ungezwungenen Tonfall. »Du bist spät dran. Trink lieber schnell deinen Kaffee.« Rachel kniff die Augen zusammen und betrachtete ihre Freundin mit unverhohlener Besorgnis.

Anna blickte weg und war sich bewusst, dass Rachel ihr ausweichendes Verhalten sehr wohl bemerkte und nicht zulassen würde. »Wo ist Joe?«, fragte sie. Es gelang ihr nicht, den sorglosen Tonfall anzuschlagen, den sie beabsichtigt hatte.

»Er hat sein Auto mit einem Fahrer geschickt und lässt dir ausrichten, dass es ihm Leid tut, aber er kann uns erst dort treffen. Ich hab ihm gesagt, dass ich das erst glauben würde, wenn er wirklich vor mir steht.« Rachels harscher Tonfall klang wie die Karikatur der Schuldirektorin, die sie inzwischen tatsächlich geworden war.

Unerwarteterweise war Anna enttäuscht und runzelte die Stirn. »Wo steckt er denn?«

Rachel zuckte mit den Achseln. »Das fragst du mich?«

Anna seufzte und schob sich die Haarsträhnen hinter die Ohren. In mancher Hinsicht waren sich Joe und Paul nur allzu ähnlich, immer einen Schritt voraus auf dem Weg in eine viel versprechende Zukunft. Es war unmöglich, mit ihnen Schritt zu halten. Doch Joe würde kommen; das tat er immer. Dann, wenn es ihm passte.

Rachels Leben war auf eine Art unkompliziert, für die Anna sie bewunderte. Anders als Anna ließ Rachel sich von den großen Dingen des Lebens überwältigen: von den gewaltigen Ausmaßen des Internets, von Informationsüberflutung und Technologie, Globalisierung und all den Problemen ihres Volks und ihres Landes. Sie richtete den Blick nach unten, konzentrierte sich auf ihren Weg; war sich der alten Ideologien ganz und gar nicht mehr sicher, die einmal ihre Überzeugungen ausgemacht hatten, und hielt sich lieber an einige Werte wie Offenheit, Anständigkeit und Dienst am Mitmenschen. Alles andere war ihr zu groß. Und Rachel hatte Beistand durch Temba. Durch ihn, ihre Familie und ihre Pläne, zu heiraten und noch mehr Kinder zu bekommen, fand sie eine Stabilität, um die Anna sie nur beneiden konnte.

Rachel trug die Kaffeebecher in die Küche, spülte sie und stellte sie auf das Abtropfgestell. Sie schüttelte ihre Hände ab, dass die Wassertröpfchen in alle Richtungen flogen, und dann lächelte sie ihr schönes, breites Lächeln, bei dem die Lücken zwischen ihren Vorderzähnen sichtbar wurden. »Ich hab auch Angst«, sagte sie, und mit diesen Worten griff sie nach ihrer Handtasche, gab Anna einen aufmunternden Kuss auf die Wange und stürmte nach draußen zum Auto.

Wie sich das Leben für sie verändert hatte, dachte Anna, während Rachel ihrem nervösen Fahrer zurief, wie er fahren sollte, ein pickliger weißer Teenager, der frisch von der Schule kam und noch nie in Soweto war. Hier saßen sie, in einem Auto der Regierung, und ließen sich zu einer Anhörung einer vom Präsidenten eingesetzten Kommission chauffieren. Ein ziemlicher Unterschied zu ihrem früheren Leben als Aussätzige, Staatsfeinde, ja sogar Terroristen. Wie Paul gelacht hätte — Anna als höhere Verwaltungsbamtin und Rachel, die für die Gewerkschaften arbeitete, aber gleichzeitig eine Berufsschule leitete. Und Joe Polizist, ja sogar stellvertretender Polizeichef.

Anna war direkt von der Gewerkschaft in das Ministerium für Sicherheit aufgestiegen, gefördert durch den neuen Minister, der ein langjähriger Genosse und Mitkämpfer war. Als sie mit ihrer Arbeit im Wachthuis, dem Hauptquartier der SAPS in Pretoria, begann, hatte sie die Polizei gehasst. Das Wachthuis selbst roch nach der jüngsten Vergangenheit, als die Polizisten die Stiefelknechte der Apartheid gewesen waren. Anna hatte, genau wie viele andere der ehemaligen Untergrundkämpfer, die ihren Weg in die höheren Verwaltungsebenen gefunden hatten, die gesamte Polizei als korrupt, unfähig und politisch fragwürdig betrachtet. Vier Jahre später war sie sich ihres Urteils längst nicht mehr so sicher. Inzwischen verteidigte sie die Polizei, manchmal sogar die ehemals schlechten Kerle, die den politischen Wechsel überdauert hatten. Nun fühlte Anna sich durch die negative Wahrnehmung der Polizei in Presse und Öffentlichkeit in ihrer Arbeit behindert und ärgerte sich über die Art und Weise, in der die Presse übersah, wie viel gute Arbeit tatsächlich geleistet wurde. Es war eine enorme Aufgabe, den gesamten Polizeiapparat umzukrempeln, und genau wie viele andere war Anna enttäuscht von der miserablen Unterstützung, die den Beamten zuteil wurde.

Sie war mit den ehrbarsten Absichten gekommen — eine Kultur zu schaffen, in der Menschenrechte eingehalten wurden, die Arbeit der Regierung transparenter zu machen, die öffentlichen Einrichtungen zu verbessern und so weiter. Doch die Trägheit der Behörde, von der sie nun ein Teil war, hatte ihre hehren Erwartungen allmählich gedämpft. Trotzdem ließ Anna sich von Frustrationen und Enttäuschungen nicht unterkriegen. Sie war entschlossen, jedes Problem als Herausforderung anzusehen und aus jedem Rückschlag zu lernen. Dieser unermüdliche Enthusiasmus bescherte ihr natürlich unweigerlich eine Menge zusätzlicher Verantwortung.

Sie leitete die Personalabteilung, doch neben den Hauptaufgaben der Personalrekrutierung und -verwaltung fiel es Anna auch zu, für den Minister ein Auge auf den laufenden Betrieb zu haben, ihn zu informieren, Reden für ihn zu schreiben und sich mit allen Verwaltungsangelegenheiten zu befassen, die in seinen Bereich fielen. Sie war bis an ihre Grenzen ausgelastet. Ihr Privatleben war zu einem Nichts geschrumpft und beschränkte sich auf zwei oder drei Stunden pro Woche, in denen sie in meditativer Selbstvergessenheit im Fitness-Studio trainierte und, wenn sie Glück hatte, einen weiteren Abend pro Woche, an dem sie sich mit Rachel traf. Ihre Treffen mit Joe waren durch größere Unterbrechungen gekennzeichnet. Oft sahen sie einander während eines Arbeitstages, da ihre Büros im gleichen Gebäude lagen, doch die Zeit, die sie allein miteinander verbrachten, war knapp bemessen. Und wenn sie ehrlich war, kam ihr das sogar ganz gelegen. Anna war zu beschäftigt, als dass sie sich hätte erlauben können, viel über ihre Beziehung zu Joe nachzudenken.

Während sie aus dem Autofenster die erschreckende Eintönigkeit der Vorstadtsiedlungen Johannesburgs betrachtete, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie wenig sich die Stadt selbst verändert hatte. Die Menschen lebten immer noch an ruhigen Straßen hinter hohen Mauern in Häusern, die »Aloe Brae« oder »Jacaranda Haven« hießen. Bald würden sie durch das Niemandsland gleiten, das die Stadtplaner der Apartheid als Pufferzone zwischen den ehemals weißen und schwarzen Zonen der Stadt geschaffen hatten, und schließlich die Vororte erreichen.

Anna lehnte sich in den Sitz zurück. Schatten glitten durch das Innere des Autos wie die Spiegelungen von Wellen, die man unter Wasser sieht. Das Sonnenlicht brach sich auf dem Chromgriff der Tür und wirbelte im Kreis herum wie eine dieser Discokugeln im Kleinformat; es faszinierte sie und zog sie in einen Strudel der Erinnerungen. Wie sie sich doch danach sehnte, sich endlich von der Vergangenheit zu lösen, die Bürde der Erinnerungen fallen zu lassen. Und dennoch war die Erinnerung ihr Rettungsanker. Die Vergangenheit loszulassen hätte bedeutet, Paul loszulassen, und das konnte sie nicht. Und so bewahrte Anna sich den Schmerz in einem Kämmerchen ihrer Seele, wo sie ihn berühren konnte, wann immer sie es brauchte, nur um zu wissen, dass Paul noch da war.

7

Kurz vor neun hatte ihr Auto die Regina-Mundi-Kathedrale in Rockville, Soweto, erreicht. Der Dunstschleier aus dem Qualm von Holz- und Kohlefeuern, der nachts über den Dächern hing, überzog immer noch den Himmel. Auf dem letzten Stück holperten sie über eine zerfurchte, lehmige Straße und wichen Kindern aus, die mit einem alten BMX-Rad spielten. Ohne Zweifel war es von einer der weißen Familien aus den Vorstädten ausrangiert worden, für die eine der schwarzen Mütter arbeitete. Sie bogen um eine Ecke, die sich in keiner Weise von den anderen größeren Kreuzungen unterschied: Männer und Frauen saßen neben ihren Verkaufsständen und boten alles von gebrauchten Auspuffrohren über Haarschnitte, Drogen, Waffen, CD-Spielern und Zahnbehandlungen feil.

Anna stieg aus dem Auto und atmete den vertrauten Geruch der winterlichen Feuer ein. Obwohl es in der Sonne warm war, zog sie ihren Mantel enger um sich. Sie schaute an der spitzen Fassade der Kathedrale empor, die sich in den schmutziggrauen Himmel bohrte. Regina Mundi fehlen die Ausmaße und die Erhabenheit einer großen Kathedrale. Das Gebäude ist nicht alt, und die Schlichtheit und unvollkommene Ausführung lassen die Armut der Gemeinde erkennen, die sie gebaut hatte.

Und trotzdem war die Kathedrale in ihrem kurzen Leben bereits Zeugin der furchtbarsten, aber auch hervorragendsten Werke des menschlichen Geistes — hierin stand sie ihren älteren und imposanteren Schwestern in Europa in nichts nach. Sie war eine heilige Stätte, ein Ort der Trauer und des Feierns. An diesem besonderen Tag verkündeten die Transparente der Wahrheits— und Versöhnungskommission, die über dem Eingang flatterten, dass sie auch ein Ort des Gedenkens war.

Heute fand hier eine Anhörung über Menschenrechtsverletzungen statt. Opfer oder ihre Hinterbliebenen kamen, um ihre Geschichten zu erzählen und die Kommission um Aufklärung der Wahrheit und um Wiedergutmachung zu bitten. Die Kommission war zu einer Art Wanderzirkus geworden, der wöchentlich, ja manchmal täglich von einem Ort zum andern zog und in Rathäusern, Kirchen und Turnhallen sein Lager aufschlug, bis in die entlegendsten Flecken des Landes. Die Kommission trat jeden Tag zusammen und sammelte die Geschichten von Opfern grober Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der Apartheid begangen worden waren — sowohl für als auch gegen das verheerende rassistische Regime. Bei diesen Versammlungen gab es noch keine Gegenüberstellungen von Opfern und Tätern; diese würden erst später in den Amnestieverhandlungen folgen.

Bis jetzt hatte noch niemand Amnestie für die Morde an der Mafikeng Road beantragt.

Annas Herz schlug höher, als sie Joe entdeckte. Er stand vor dem wuchtigen Portal, vertieft ins Gespräch mit einer jungen Frau, die Anna nicht kannte. Wie immer strotzte er vor Energie und wippte von einem Fuß auf den anderen, während er sprach, die Hände tief in die Taschen seines langen, maßgeschneiderten anthrazitgrauen Mantels gesteckt. Er wirkte beeindruckend stattlich, obwohl er gar nicht besonders groß war, gerade knapp einen Meter achtzig. Es waren die breiten Schultern, wie die eines Footballspielers, über den schmalen Hüften und schlanken Beinen, die ihm den Anschein mühsam gebändigter Kraft verliehen, der den Leuten so viel Respekt einflößte. Man hatte den Eindruck, er könne die ganze Welt auf seinen Schultern tragen und alles in seiner weiten Umarmung festhalten.

Mit seinen schönen Tswana-Gesichtszügen und dem glänzenden, kahl rasierten Kopf wirkte er jünger als siebenunddreißig. Manchmal beobachtete Anna ihn frühmorgens dabei, wie er eine Zeitung auf dem Boden ausbreitete, während er sich mit ihr unterhielt. Dann neigte er den Kopf vornüber und rasierte sich in lockeren Kreisbewegungen vorsichtig die Kopfhaut, während die winzigen Haarstoppeln wie Eisenspäne auf das Zeitungspapier herabfielen.

»Heita!«, rief Rachel ihm zu. Joe drehte sich mit elegant schwingendem Mantel in ihre Richtung, und seine Augen leuchteten, als er sie erblickte. Anna lächelte ihn an und lief in seine ausgebreiteten Arme.

Seine Umarmung und der vertraute Druck seiner Hand auf ihrem Rücken hatten eine unerwartet starke Wirkung auf sie. Sie blickte beiseite, kämpfte mit ihren Gefühlen und versuchte, die plötzlich aufsteigenden Tränen zu verbergen. »Weinst du etwa, Schatz?« Er klang genauso überrascht wie sie sich fühlte, hob mit dem Daumen ihr Kinn an und schaute ihr ins Gesicht. Anna schüttelte den Kopf. »Weiß auch nicht. Aber ich bin froh, dass du da bist.«

»Natürlich bin ich da!« Er streichelte ihr mit den Fingerspitzen die Tränen weg, und sie presste ihr Gesicht an seinen Mantel.

Anna kannte sich selbst gut genug und wusste, dass ihre Verteidigungsmechanismen so stark waren, dass sie ihre Verletzlichkeit sogar vor sich selbstverbergen konnte. Sie hasste es, wenn doch einmal Gefühle. hervorbrachen und hatte dann gleich Angst, die Selbstkontrolle zu verlieren. Sie drückte das Gesicht in die-weiche Wolle und atmete Joes beruhigenden Geruch ein.

Joe bildete den dritten Eckpunkt des Dreiecks, aus dem Annas Leben nach Paul bestand. Und nun hielten diese drei einander fest und gedachten der beiden anderen, die eigentlich bei ihnen hätten sein sollen. Ihre enge Umarmung auf den Treppen der Regina-Mundi-Kathedrale umschloss ein Jahrzehnt der Schmerzen, des Verlusts und des Triumphs. Sie waren die drei Überlebenden.

Irgendwo in der Nähe surrte eine Kamera, und das Klacken eines Blitzlichts schreckte Anna aus der Umarmung auf. Ein paar Pressefotografen und ein Kameramann des Fernsehens waren neben ihnen im kühlen Schatten aufgetaucht. Anna löste sich aus Joes Umarmung und kaschierte ihre Gefühle mit einem schwachen Lächeln. »Scharfer Anzug! Nicht schlecht für einen Polizisten«, neckte sie Joe leise, tätschelte seinen Mantel und legte den weichen Kragen um. »In dieser Hinsicht habe ich dich doch wirklich noch nie enttäuscht, oder?«, erwiderte Joe grinsend. Er hatte bereits wieder sein Lächeln für die Kameras aufgesetzt. »Morgen, die Herrschaften!«

Begeistert stürzten sich die Journalisten auf ihn. Kamera und Radiomikrofone rückten näher, und ein Blitzlichtgewitter brach los.

»Joe! Der Uberfall auf den Geldtransporter gestern? Irgendein Kommentar?«

Anna und Rachel zogen sich in den schattigen Eingangsbereich zurück.

Dann entdeckten sie Temba, der vom Parkplatz herübergelaufen kam. Kameras und Objektive baumelten um seinen Körper, und er joggte auf die spontane Pressekonferenz zu, die sich um Joe gebildet hatte. Rachel winkte ihm zu, und Temba grinste flüchtig zurück, dann spannte er seine Kamera und machte sich an die Arbeit. Anna überlief ein Schauer, als sie die elektrische Spannung zwischen den beiden spürte. Temba war groß und dünn, das genaue Gegenteil von der kleinen und gut gepolsterten Rachel. Er hatte kurz geschnittenes Haar und umrahmte seinen hübschen Mund mit einem kleinen, ordentlich getrimmten Ziegenbärtchen. Seine Vorderzähne standen leicht übereinander, doch er hatte stets ein Lächeln auf den Lippen, und verfügte über eine übersprudelnde, ansteckende Fröhlichkeit.

Anna betrachtete ihre Freundin, die vor Liebe förmlich zu glühen schien, und musste wegschauen. Die Vertrautheit zwischen den beiden war zu stark, zu ausschließend und erinnerte Anna zu sehr an eine andere, längst verlorene Vertrautheit. Lieber wandte sie ihren Blick wieder der Gruppe der Journalisten zu, die sich um Joe drängte.

»Stimmt es, dass schwere Munition abgefeuert wurde?« »Legt der Gebrauch von AK47—Maschinengewehren nicht nahe, dass eine mögliche Verbindung zu ehemaligen MK-Kämpfern besteht?«

»Ist es wahr, dass auch Sturmgewehre aus Heeres- und Polizeibeständen benutzt wurden?«

Joe hob die Hände und wartete darauf, dass Ruhe einkehrte. Er lächelte, während die Fragen verebbten. In Momenten wie diesen erlebte er seine große Stunde, seine Augen blitzten in einer mitreißenden Mischung aus Humor und Ernst, und seine Stimme traf genau den richtigen Tonfall, um seine Hörer gefangen zu nehmen. Er war der vollendete Politiker, und genau wie alle anderen hatte Anna gar keinen Zweifel daran, dass er zu Großem bestimmt war. Stolz und Liebe wallten in ihr auf.

Ganz anders als die Art von Liebe allerdings, die sie zwischen Rachel und Temba sah, und auch anders als die Art von Liebe, die sie mit Paul erlebt hatte. Ihre Liebe zu Joe war die Liebe, die eine Schwester für einen Bruder empfindet, mit einer zusätzlichen sexuellen Note. Eine ganz andere Kategorie, ein vollkommen anderes Universum. Bei dieser Liebe ging es darum, Trost und Gemeinschaft in einer ansonsten einsamen Welt zu finden.

»Ich möchte bloß das eine sagen: Wir bedauern den Tod der beiden Wachleute bei dem gestrigen Überfall auf den Geldtransporter wirklich zutiefst. Wir möchten den Familien der Opfer unser Beileid aussprechen — und ihnen versichern, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, um die Täter dieser entsetzlichen Gräueltat zu finden. Natürlich darf ich keinerlei Details zum gegenwärtigen Stand unserer Ermittlungen bekannt geben, aber eines kann ich wohl sagen …«

An dieser Stelle legte er eine dramatische Pause ein, richtete den Blick in die Ferne und schob die Hände zurück in die Taschen seines eleganten Mantels. Er wählte seine Worte mit Bedacht und sprach in ruhigem Tonfall. »Wir haben tatsächlich Informationen, dass eine Gruppe ehemaliger Armeeangehöriger beteiligt ist — verärgerte und frustrierte Männer, deren Spezialeinheiten aufgelöst wurden, da man sie nun nicht länger braucht, um die schmutzige Arbeit der Apartheid zu verrichten. Ich meine hier Männer aus den Battalionen 121 und 32 genauso wie Angehörige der Antiterroreinheit der südafrikanischen Sicherheitspolizei oder des geheimen Verbandes derselben.«

Die Pressejournalisten kritzelten eifrig mit und kamen kaum hinterher.

»… Das sind Menschen, denen ihre Zahlmeister unter der früheren Regierung Unmögliches versprochen haben und die sich nun vom Schicksal betrogen fühlen. Und wir vermuten, dass sie über die Nachschubverbindungen, die während der Grenzkriege entstanden sind, Waffen ins Land bringen, aus Mosambik und Angola, wo diese ehemaligen Soldaten Zugang zu gewaltigen Waffenverstecken haben.«

Dann winkte er einem Journalisten zu, einem gammelig gekleideten jungen Weißen, der gerade erst angekommen war und verzweifelt nach seinem Notizblock suchte.

Was die Überfälle auf die Geldtransporte anging, wusste Anna nur zu gut, dass die Gangster der Polizei überlegen waren, sowohl was Personenzahl als auch Waffen und intelligente Planung betraf. Während Joe der Presse erzählte, was sie gern hören wollte, war Anna sehr wohl bewusst, dass die Polizei meilenweit von irgendwelchen Verhaftungen entfernt war. Die Überfälle auf der Schnellstraße, mit denen sich die Operation »King-Size« beschäftigte, waren mit militärischer Präzision ausgeführt worden, die Schüsse waren genau platziert, die Planung fehlerlos und die Raubüberfälle in weniger als fünf Minuten beendet gewesen. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass die Täter wirklich ehemalige Armeeangehörige waren. Die verärgerten und frustrierten ehemaligen Soldaten waren lediglich eine Theorie Joes, sie entsprangen seiner Fantasie, so wie seine Erklärung bei der improvisierten Pressekonferenz ausschließlich politischen Motiven entsprang, um die Polizei gut dastehen zu lassen. Anna wusste, wie wichtig es war, den Journalisten etwas an die Hand zu geben, mit dem sie arbeiten konnten, und Joes Behauptung konnte man nicht wirklich eine Lüge zu nennen. Nichts davon war gelogen. Tatsächlich war Joes Theorie sogar recht plausibel. Doch mehr war es nicht, nur eine plausible Theorie.

Trotzdem: Wenn es einer mit diesen Gangs aufnehmen konnte, dann Joe.

Joe war der jüngste stellvertretende Polizeichef des Landes. Anders als die meisten ehemaligen Kämpfer des ANC oder der MK, die in den Inlandsgeheimdienst oder den Auslandsgeheimdienst aufgenommen worden waren, hatte Joe um Einsatz in der Polizeiführung ersucht, die in zwei Gruppen aufgeteilt war: Verbrechensbekämpfung und Innere Sicherheit. Joe war in die Verbrechensbekämpfung geschickt worden. Er führte eine Sondereinheit, zu deren Aufgabe es gehörte, das organisierte Verbrechen zu zerschlagen — unter anderem Ringe von Autodieben, Waffenschmuggler und Drogengangs. Es war eine harte, hässliche Arbeit, aber voll von den komplizierten Netzwerken, die Joe so gern entwirrte.

»Die Waffen, mit denen die frühere Regierung ihre Stellvertreterarmeen während der Destabilisierung der Region versorgt hat, werden nun nach innen gerichtet, gegen unsere eigene innere Sicherheit. Mehr kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen, aber ich versichere Ihnen, dass die Polizei sich nicht irreführen lässt. Wir stehen kurz vor den ersten Verhaftungen.«

Mit einem schwachen Lächeln beendete Joe seine Ansprache. Die Reporter schnatterten los und bestürmten ihn mit weiteren Fragen, Blitzlichter leuchteten, aber Joe entfernte sich bereits mit leuchtenden Augen und majestätisch erhobenen Armen aus dem Gedränge.

Die Journalisten hielten sich respektvoll im Hintergrund, als Joe sich Anna und Rachel zuwandte. »Alles in Ordnung?«, fragte er die beiden leise. Sie nickten; es war offensichtlich, wie stolz sie auf ihn waren. Dann öffnete er die Arme weit, zog die beiden an sich, und gemeinsam betraten sie die Kathedrale.

8

James stand an seiner Haustür, gelähmt von dem ganzen Kram, den er in den Händen hielt: Kaffeetasse und Notizblock in der einen, Haus- und Autoschlüssel in der anderen. Okay, jetzt reiß dich mal am Riemen. Er kippte den Rest des kalten Kaffees hinunter und stellte die Tasse auf dem Bügelbrett ab, schob sich dann den Notizblock in die tiefe Seitentasche seiner Hose und hatte endlich die Hände frei, um die Tür aufzuschließen. Kaum war er auf die Veranda getreten, stolperte er schon über eine zersplitterte Holzleiste und verfluchte sich selbst für die Nachlässigkeit, mit der er sein Zuhause behandelte. Die zerbröckelnde Doppelhaushälfte stand an einer mit Jakarandabäumen bewachsenen Allee im Stadtteil Melville, ein Schandfleck zwischen den hellen, hübsch renovierten Häusern seiner Nachbarn.

Er war immer zu beschäftigt, die Arbeiten zu erledigen, die nötig gewesen wären, um das Haus bewohnbar zu machen, und in der Zwischenzeit verfiel das Haus immer weiter. Mist, irgendwas muss ich wohl demnächst mal unternehmen, sagte er sich, während er dem Schlagloch im Gartenweg auswich. Wie um seinen Vorsatz noch zu unterstreichen, ließ sich das Gartentor einfach nicht bewegen, als er es öffnen wollte. Das Schloss hing traurig an einer einzigen Schraube herab, allerdings schon seit Monaten, daran konnte es also nicht liegen. Mit einem Blick nach unten stellte James fest, dass das Hindernis in einem Haufen aus Postwurfsendungen und Zeitungen bestand, die durch den Briefschlitz gefallen und nie äufgehoben worden waren. Er sammelte den ganzen Kram auf und erkannte mit einem Blick, dass es sich überwiegend um Werbemüll handelte.

Offenbar hatte ihn die florierende Sicherheits- und Selbstverteidigungsindustrie ins Visier genommen. Ermutigt durch das skandalöse Nichtvorhandensein von Stacheldrahtzäunen oder hohen Mauern um sein Haus, überhäuften sie ihn mit Broschüren, in denen er aufgefordert wurde, nicht als eines der zahllosen Opfer in die Kriminalstatistik einzugehen. Man drängte ihn, stattdessen lieber in die neuesten Apparaturen zu investieren, um sich vor den Raubüberfällen, Hijackings aus Autos, vor Vergewaltigungen und Einbrüchen zu schützen, die das Leben in Johannesburg bestimmten. »Das Leben ist gefährlich. Jeder kann der Nächste sein«, schrie es ihm aus einer Broschüre entgegen, und dann wurde ein ganzer Katalog von Sicherheitsartikeln angeboten, die von Elektroschockern über Flammenwerfer, die man an die Unterseite seines Autos montieren konnte, bis hin zu Elektrozäunen und Laserwaffen reichten. James schmiss den ganzen Stapel auf den Boden vor den Beifahrersitz seines Autos, einem Mercedes Roadster aus dem Jahre 1964, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber nichtsdestotrotz von James heiß geliebt wurde.

Sein Schätzchen hatte die Farbe von Vanilleeis, graue Lederpolster und ein prächtiges Armaturenbrett aus Nussbaumholz. Abgesehen vom Fahrersitz wurde jede freie Fläche von alten Zeitungen, leeren Mineralwasserflaschen und allem möglichen anderen Müll bedeckt. James gefiel es, dass er hier selbst im Winter das Schiebedach tagelang offen lassen und durch diese verrückte Stadt fahren konnte, während ihm der Wind ins Gesicht schlug und die heiße Sonne auf den Kopf brannte.

Es war ein herrlicher Wintermorgen, die Sonne glitzerte auf den gläsernen und stählernen Wolkenkratzern der Innenstadt, aus den Luftschächten stiegen Kondensationswolken in den klaren Himmel auf. Während er über die Schnellstraße brauste, sah er auf der linken Seite eine Reihe  Frauen, fünf an der Zahl, die bunt leuchtende Wasserbehälter auf den Köpfen trugen und langsam über das Niemandsland beim Market Theatre schritten. Wunderschön anzusehen. Es bereitete ihm immer wieder Vergnügen, wie dicht Anarchie und Ordnung in dieser Stadt beieinander lagen. Lächelnd bog er Richtung Süden ab und fädelte sich auf die Straße nach Soweto ein.

Er fand das Medienzentrum auf der Rückseite der Regina-Mundi-Kathedrale, ein paar kalte Räume, die vom Hauptsaal der Kirche durch eine schalldichte Glasscheibe abgetrennt waren. Als James das Pressezimmer betrat, herrschte gedämpftes Stimmengewirr. Man drehte sich um und schaute hoch, um ihn zu grüßen, einige Leute mit einem Lächeln, andere mit spöttischem Stirnrunzeln. Und James erwiderte die Begrüßungen mit einem durchtriebenen Grinsen, denn er wusste nur zu gut, dass alle Welt sich fragte, was er, der frisch eingeflogene leitende Investigativ-Reporter des Sunday Chronicle bei einer ziemlich alltäglichen Anhörung der Wahrheitskommission zu suchen hatte.

Mit Interesse bemerkte er, dass einige der internationalen Zeitungen wieder da waren. In der letzten Zeit waren sie nur durch eine Minimalbesetzung von ein oder, zwei Journalisten vertreten gewesen, die lediglich über die eine oder andere sensationelle Horrorgeschichte berichtet hatten. Vielleicht jagten sie der gleichen Story hinterher wie er, obwohl er das bezweifelte. Wahrscheinlich hatten sie bloß eine ereignislose Woche gehabt.

Die Lokalpresse dagegen war wie immer in voller Besetzung erschienen, ein bunter Trupp, der vom abgeschlafften alten Hasen bis hin zum eifrigen, energiegeladenen Nachwuchsreporter reichte. Sie hatten schon mehr Zeit gemeinsam in verrauchten, mit Zigarettenstummeln übersäten Anhörungsräumen verbracht, als ihnen lieb war.

Er winkte einem befreundeten Radioreporter zu, der an einem langen Zeichentisch am hinteren Ende des Raumes saß, halb versteckt hinter Computern, Aufnahmetechnik und Kabeln. »Hey, Darren!«, rief er ihm zu.

»Wie isses, Alter!«, rief dieser zurück und grinste schwach zwischen seinen Kopfhörern hervor, bereit, sich auf den nächsten Leckerbissen für die stündlichen Kurznachrichten zu stürzen.

Die Vorgänge im Saal wurden den Medien von einer provisorischen Regiekabine übermittelt, die in der vorderen Ecke aufgebaut war. Die einzigen Lebenszeichen, die hinter diesem Turm aus silbernen Kästen hervordrangen, waren eine nicht enden wollende dünne Fahne aus Zigarettenrauch und die gemurmelten Anweisungen und anschaulichen Kommentare des Bildmischers.

Das Fernsehen schickte genau wie der Hörfunk die Redakteure im Wechsel zu den Anhörungen. James freute sich, als er feststellte, dass an diesem Tag Ilse McLean als Reporterin gekommen war, ein gut gebauter, hübscher Rotschopf mit Igelhaarschnitt und einem ebenso stachligen Humor. Ilse war nicht wirklich eine enge Freundin, doch sie hingen in ihrer Freizeit mit denselben Leuten zusammen und kannten einander daher recht gut. Beide gehörten zu einer lockeren Truppe von Leuten, die alle in Melville wohnten, flippige Singles, Junkies und Journalisten, deren Leben aus Arbeit, Saufen und Drogen bestand und die den Abend gern in einem fremden Bett beschlossen.

In der einen. Hand hielt Ilse eine Zigarette, mit der anderen schaltete sie zwischen den beiden Kameras hin und her, die im Saal rechts und links der Bühne aufgestellt waren, und überprüfte ihre Einstellungen. Ihr Blick wanderte zwischen den vor ihr hängenden Monitoren hin und her, und dabei sprach sie beinahe pausenlos durch das Mikrofon an ihrem Kopfhörer mit dem Kameramann.

Als James in dem engen Raum einen Stuhl neben sie rückte, blickte Ilse auf.

»Alles klar?«, flüsterte er.

Sie zog kurz die schmal gezupften Augenbrauen hoch, dann ging ihr Blick wieder zu den Monitoren zurück. »Na, das nenn ich eine Überraschung«, schnurrte sie mit rauer Stimme. »Sieh mal an, wer da von seinem Elfenbeinturm herabgestiegen ist und sich unter das Fußvolk gemischt hat! Hier muss heute ja wohl was Wichtiges los sein. Und ich dachte, wir hätten bloß wieder die übliche Runde Mord und Totschlag vor uns.«

James zuckte mit den Achseln und kippelte auf seinem Stuhl zurück, während er in seiner Hosentasche nach dem Notizblock und einem abgekauten Kugelschreiber suchte. »Ziemlich flaue Woche im Büro. Du weißt schon. Hab dich schon eine ganze Weile nicht gesehen. Ich dachte, ich schau mal nach, was du so treibst.«

Ilse hob eine Augenbraue, während sie ihre Zigarette ausdrückte und sich eine neue zwischen die grell geschminkten Lippen schob. Die Zigarette wackelte hin und her, während sie sprach. »Ja, ja, James Kay! Und das soll ich dir glauben!«

Sich in Ilses Nähe aufzuhalten war, als spazierte man durch einen Hormonsturm. Sie trug ihren Sex-Appeal so offen zur Schau, dass es unmöglich war, nicht darauf zu reagieren. James seufzte, wandte den Blick ab und strich sich mit den Fingern über die Unterlippe. Er war in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen, die er vor der Zeit mit Alison gehabt hatte. Viele Begegnungen, viele Möglichkeiten, aber nichts, was er weiter verfolgen wollte. Doch darüber wollte er im Moment lieber nicht nachdenken.

»Ehrlich gesagt wurde es mir in der Redaktion ein bisschen zu gemütlich. Ich brauchte mal eine ordentliche Prise Zynismus.« James zwinkerte ihr zu und hielt ihr ein Streichholz hin.

Ilse funkelte ihn verführerisch an, Während sie sich vorbeugte und sich Feuer geben ließ. »Pff! Es ist doch genau anders rum, mein Lieber«, murmelte sie ihm zu. »Was du brauchst, ist eine ordentliche Prise von was Süßem!«

James grinste sie an, aus seinen Augen blitzte unverkennbar Erregung. »Dann bin ich ja hier richtig gelandet.«

Ilse grinste frech und wandte sich wieder ihren Monitoren zu.

___________

Die Anhörung begann mit einem Lied. Der Gesang schien aus der Menge hervorzuströmen: »Senzenina, senzenina, senzeni-na, senzeni-naa. Senzeehhni—naaa …« Was haben wir getan, was haben wir getan, um das zu verdienen? Es war das herzzerreißendste und bewegendste Lied der Freiheitsbewegung, und sogar James wurde die Kehle eng, als er es hörte.

Während der Klagegesang anschwoll, betraten die Mitglieder der Wahrheitskommission nacheinander den Saal, angeführt von ihrem Vorsitzenden, dem ehrwürdigen Erzbischof in seinem wallenden purpurroten Ornat. Er zündete eine einzige schlichte hohe Kerze an, die auf halber Höhe der Stufen zum Altar stand, und stand mit geschlossenen Augen da, während das Lied endete. Dann legte er die Hände aneinander und verbeugte sich, um die Versammlung zu begrüßen. Die Erschöpfung in seinen Augen und die Trauer, die sich in seine Mundwinkel eingegraben hatte, ließen erahnen, dass niemand, nicht einmal dieser unerschütterliche Bote Gottes, gefeit war gegen den Schmerz, der Tag für Tag von neuem vor dieser Kommission ausgebreitet wurde.

»Okay, Jungens, los geht’s, haltet die Taschentücher bereit«, säuselte Ilse.

James überflog die Liste, die er von Mdu, dem unermüdlichen Medienreferenten der Kommission, bekommen hatte. Ein gutes Dutzend Zeugen, überwiegend Frauen, sollten an diesem Tag ihre Aussage machen. Die Witwen von Paul Lewis und Jacob Oliphant würden kurz vor der Mittagspause aussagen.

Als die erste Zeugin zum Ende ihrer Geschichte kam, fragte eines der Kommissionsmitglieder sie, wie sie sich fühle. Sophie Thema erwiderte, dass ihre Wunden niemals verheilt seien.

»Sie sind immer offen geblieben. Ich habe die Geschichte schon hundert Mal erzählt. Ich bin froh, dass ich meine Geschichte heute anderen mitteilen kann, doch meine Wunden sind nicht geheilt.« James blickte auf seine Hände hinab. Seine Finger zwirbelten an einem Wollfaden herum, der sich vom Saum seines Jacketts gelöst hatte. Er seufzte und steckte sich eine Zigarette an.

Die Stimme eines Kommissionsmitglieds knisterte durch die Lautsprecher. »Was bedeutet es denn ganz konkret für sie, gelähmt zu sein?«

Ilse stöhnte lauter als alle anderen im Presseraum. Sie hatte schon zu viele Anhörungen besucht, und ihre Geduld und ihr Mitleid waren auf eine harte Probe gestellt worden.

»Du lieber Himmel!«, keifte sie. »Was glauben Sie wohl, was das heißt? Oder können Sie das durch ihr verdammtes Haar nicht mehr sehen?« Ilse schnitt Von Kamera Eins mit dem Bild des weiblichen Kommissionsmitglieds auf die Zwei, die langsam unter dem Tisch entlang schwenkte und die Füße der anderen Kommissionsmitglieder zeigte, die in bequemen flachen Schuhen, engen Klerikerstiefeln oder Weichen Wildlederslippern auf und ab wippten.

Der Vormittag zog sich schleppend dahin. Unbarmherzig drangen die Stimmen auf ihn ein. James spielte jedes Gedankenspiel, das er kannte, doch nicht einmal er war immun gegenüber den Schicksalen. Man konnte dem Schmerz nicht ausweichen, es gab zu viel davon.

Da war die Geschichte eines Mannes, der von der Polizei blind geschossen worden war, das Schicksal eines ANC-Führers, der im Exil von seinen Kameraden in den Lagern gefoltert worden war, ein weißer Farmer, dessen letzte Erinnerung an seine Frau darin bestand, dass er sie aus einem zerbombten Auto gezogen hatte und feststellen musste, dass er in der Eile ihr Bein auf dem Vordersitz vergessen hatte.

Jedes Mal, wenn Ilse Bilder aus dem Publikum zwischenschnitt, suchte James unter den Gesichtern nach Anna Kriel, doch er hatte sie noch nicht gesehen. Die Fotos, die er von ihr besaß, waren zehn Jahre alt. Sie stammten überwiegend aus der Zeit der gerichtlichen Untersuchung, als sie ausgemergelt, grau und angespannt ausgesehen hatte. Bis jetzt hatte er noch niemanden gesehen, der ihr ähnelte.

James merkte, wie er vom Gewicht der schrecklichen Zeugenaussagen niedergedrückt wurde, die aus dem gemurmelten Staccato der Übersetzerstimmen hervordrangen.

Eine Mrs. Nkosi berichtete von ihrem einzigen Sohn, der nach den Studentenunruhen von 1976 ins Exil nach Botswana gegangen war. Dort war er bei einem Bombenanschlag in den Achtzigern getötet worden. »Ich hab ihn zum letzten Mal 1983 in Gamborone gesehen«, sagte sie ruhig, doch dann verlor sie plötzlich die Kontrolle. Der Schmerz ihres Verlustes zerriss sie von neuem, und sie stieß einen Schrei aus, der aus einer so tiefen Trauer zu kommen schien, dass er die Herzen aller Anwesenden durchbohrte. Selbst Ilse wurde still und blickte starr vor sich hin, in der Hoffnung, dass niemand die Tränen bemerkte, die ihr in den Augen standen. James hatte einen Kloß in der Kehle, und eine heiße Träne lief ihm über die Wange, doch er wischte das belastende Beweisstück rasch beiseite und zündete sich eine neue Zigarette an.

Als Mrs. Nkosi sich wieder gefangen hatte, fragte ein Kommissionsmitglied sie, was sie sich von der Kommission erwartete. »Ich könnte wieder froh werden«, sagte sie einfach, »wenn ich bloß die Leiche meines Sohnes wiederbekäme. Gebt mir die Gebeine meines Sohnes. Unserem Brauch entsprechend. Ich will seine Gebeine nach Hause bringen und ordentlich bestatten, damit seine Seele Ruhe finden kann.«

9

Im Saal der Kathedrale saß Joe zwischen Anna und Rachel und hatte die Arme wie ein Schutzengel über ihre Stuhllehnen gebreitet. Neben Anna saßen Rika und Willem Swanepoel. Rika war elegant und distanziert wie eh und je. Seit sie ihre seidigen langen Haare abgeschnitten hatte und keinen Ehering mehr trug, wirkte sie lockerer und aufregender als früher. Seit ihrer Scheidung schienen die beiden häufig zusammen auszugehen, trotzdem blieb Rika ein überzeugter Single. Nichts und niemand würde sie dazu bewegen, wieder das Leben aufzunehmen, das Willem und sie als Eheleute geführt hatten.

Willem war bis in seine Grundfesten erschüttert worden, als sie ihn verlassen hatte. Niedergeschmettert und herabgesetzt durch ihre »Völlig unerwartete« Trennung, war er geschmmpft, während sie aufgeblüht war. Anna und Rachel konnten sich nicht vorstellen, dass er Rikas Trennung nicht hatte kommen sehen, doch Joe sympathisierte mit Willem und nannte Rikas Abgang eine »Katastrophe«. Das war wohl der Unterschied zwischen Männern und Frauen, vermutete Anna. Wie auch immer, beiden schien die Trennung jedenfalls ganz gut bekommen zu sein. Willem war endlich ein bisschen erwachsener geworden, und Rika hatte etwas von dem Spaß, den sie sich redlich verdient hatte. Anna freute sich für sie.

Sie beobachtete die Gerichtshelfer, die sich ruhig durch die Menge bewegten und hier ein paar Taschentücher, dort ein Glas Wasser oder ein paar tröstliche Worte verteilten. Dann betrachtete sie die Dolmetscher in ihren grauen Glaskabinen neben der Bühne. Ihre Münder öffneten und schlossen sich geräuschlos, und ihre Worte bluteten aus den Kopfhörern, die man all denen zur Verfügung gestellt hatte, die sie brauchten. Die Stimmen sprachen Englisch und Afrikaans, Xhosa und Sotho und all die anderen Sprachen der Südafrikaner, die in dieser Kirche oder vor ihren Radios, zu Hause, im Auto oder in Schulen im ganzen Land die Verhandlung verfolgten.

Anna war in einer Weise bewegt, die sie nur schwer ertragen konnte. Sie fühlte sich so empfindlich und schmerzhaft berührt, dass sie fürchtete zu zerreißen. Das Licht, das durch die hohen bunten Glasfenster hereinfiel, warf einen seltsam bläulichen und gelben Schimmer auf die Gesichter der Anwesenden.

Es fiel ihr schwer, sich in aller Deutlichkeit daran zu erinnern, wie schrecklich die Zeiten gewesen waren, und sich die Anmaßung, Bosheit und den ungesunden, menschenverachtenden Ehrgeiz der Vollstrecker der Apartheid wieder zu vergegenwärtigen. Anna war froh, dass ihr Gedächtnis über einen Mechanismus verfügte, der die schlechten von den guten Erinnerungen trennte und gnädig heraüskürzte. In ihrem neuen, bequemen Leben fiel es ihr leichter, die täglichen Demütigungen von damals zu vergessen. Die vielen entwürdigenden Kleinigkeiten. Die getrennten Zugabteile, Busse, Parkbänke; die Strände, die gekennzeichnet waren für »Europäer«, »Asiaten« und »Nicht-Weiße«. Schwarze wurden noch nicht einmal als solche bezeichnet. Sie waren eine Verneinung, eine negative Größe: »Nicht-Europäer«. Noch schwieriger war es, sich wieder in das Höllenfeuer der wirklich schlimmen Dinge zurückzubegeben. Das hatte Anna am heutigen Tag gefürchtet: das Wiederaufreißen der Narben und erneute Aufplatzen der Wunden.

Nun saß sie auf ihrem Stuhl wie festgenagelt durch die helle Singsangstimme einer Frau, die erzählte, wie sie ihren Nachbarn am Morgen nach einer Polizeirazzia tot in ihrem Haus aufgefunden hatte. »Uberall war Blut. Auf dem Boden, auf den Möbeln, bis an die Wände gespritzt. Am Abend vorher hatte ich noch bei ihm auf dem Sofa gesessen, wir haben uns unterhalten und gelacht. Und am nächsten Morgen lag er da, die Füße auf diesem Teppich, die Arme ausgestreckt, und sein Blut war überall auf den Boden gelaufen. Er trug Unterhosen. Das werde ich nie vergessen. Es waren blaue, die einfachen, die man bei Woolworth kaufen kann.«

Anna drehte die Reifen an ihrem Arm herum und starrte mit leerem Blick auf die silbernen Windungen aus Spiraldraht, doch es gelang ihr nicht, die Aussage der Zeugin ganz auszublenden. »Er war immer so ein zurückhaltender Mann gewesen, und jetzt lag er da, so unverhüllt und ausgeliefert. Es sah aus wie in einem Schlachthaus …«

Und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Pauls Körper im Leichenschauhaus, sein versengtes Haar und die wachsartige Haut, die mit blutigen Granatsplittern bespritzt war. »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass das der Mensch sein soll, den man liebt«, sagte die Zeugin. »Dieser wunderbare Mensch liegt plötzlich da vor einem, zerstört. Tot. Ich wollte ihn berühren, aber da bin ich wohl zusammengebrochen. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Auto saß und keine Ahnung hatte, wie ich dahingekommen war.« Anna bedeckte das Gesicht mit den Händen und presste die Fäuste in die Augenhöhlen. Ihr Mund war trocken, und sie hatte einen bitteren Gallegeschmack auf der Zunge. Sie wurde Pauls Bild einfach nicht los.

Schließlich blickte die Frau das Publikum mit einem merkwürdigen Lächeln an und beendete ihre Aussage mit den Worten: »An jenem Morgen hätte ich niemals für möglich gehalten, dass einmal ein Tag wie dieser kommen würde. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich eines Tages sagen würde: Ich bin frei.«

Anna presste die Hand vor den Mund. Ihr war klar, dass sie sich gleich übergeben würde. Während sie aufstand, schoss ihr das Blut in die Füße, so als ob die Welt unter ihr wegglitt. Ihr Kopf wurde leicht und schien weit über ihrem Körper zu schweben. Joe griff nach ihr, als sie schwankte, und hielt sie fest, bevor sie fallen konnte. Anna spürte stützende Hände und hörte beruhigende Stimmen, während die Leute Joe halfen, sie aus der Kathedrale in die Sonne zu tragen.

Draußen fing sie sofort an zu weinen. Sie konnte nicht wieder aufhören. Je mehr sie sich bemühte, desto mehr schluchzte sie. Verlegen vergrub sie ihrGesicht in den Händen. »Siehst du, das kommt davon, wenn du versuchst, alles runterzuschlucken«, schalt Rachel. Rika sagte nichts, sie trug inzwischen kein Pillendöschen mehr bei sich, doch sie nahm Annas Hand und drückte sie tröstend.

»Was runterzuschlucken?«, fragte Anna mit schwacher Stimme.

Rachel schüttelte den Kopf. Joe legte den Finger an die Lippen. »Psst«, meinte er beschwichtigend. »Es liegt bloß an der Hitze da drinnen. Ich hab mich auch schon ein bisschen komisch gefühlt.«

»Was? Es ist eiskalt da drinnen!«, schnappte Rachel.

»Hast du was gefrühstückt?«, fragte Joe Anna und ignorierte Rachel. Anna schüttelte den Kopf. Sie hatte seit fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen.

»Daran wird es wohl liegen. Ich besorge dir was zu essen.« Er wandte sich an einen der psychologischen Betreuer der Wahrheitskommission. »Chef! Bringen Sie ihr bitte was zu essen, einen Keks oder irgendwas Süßes, okay?«

Der Mann nickte und lief los. Joe hielt Anna fest, und die ganze Zeit über hörten die Tränen nicht auf. Die Trauer wallte empor, drängte aus ihr hervor, selbst als sie dachte, dass gar keine Tränen mehr übrig sein konnten.

Für Anna war dieser Gefühlsausbruch erschreckend. Sie versuchte, ihn vor sich herunterzuspielen, zu rationalisieren und eine Erklärung dafür zu finden. Pauls Mord war ein grausames, folgenschweres Ereignis gewesen, und sie hatte sich irgendwie darauf eingestellt, sich angepasst, aber mehr nicht. Sie konnte sich niemals mit seinem Tod abfinden oder darüber hinwegkommen oder ihn je hinter sich lassen. Theoretisch war ihr klar, warum sie so reagierte. Sie wusste, dass man sehr wohl ruhig über ein furchtbares Ereignis reden und es beschreiben kann, wenn man sich einmal darauf eingestellt hat. Man kann sich sogar irgendwie erinnern, ohne dass diese Art von erdbebenartigen Gefühlen hervorgerufen wird. Doch manchmal reicht schon die winzigste, unerwartete Kleinigkeit, um eine echte Gefühlsreaktion auszulösen. Und mehr war dieser Ausbruch nicht: eine Gefühlsreaktion.

Der Betreuer kam mit einem Becher Orangensaft und einem Keks zurück. Sie trank den Saft und aß den Keks, konnte aber nichts drinnen behalten. Sie würgte, bis ihre Kehle rau war und schließlich das Weinen aufhörte.

Sie fühlte sich grässlich und war sicher, dass sie auch so aussah. Rachel und Rika starrten sie ängstlich besorgt an. »Tut mir Leid«, murmelte Anna. Dann brach sie in hysterisches Gekicher aus. »Scheiße, schaut mich bloß an. Es ist doch einfach zum Heulen mit mir!« Rachel und Rika ließen sich anstecken und kicherten ebenfalls. Joe brachte nur ein dünnes Lächeln Zustande, er fand die Sache gar nicht komisch.

Rachel drückte ihr einen Stapel Papiertücher in die Hand, die sie aus den unerschöpflichen Tiefen ihrer Handtasche gezogen hatte. Anna tupfte sich den Mund ab. »Das war ja klar, dass du Taschentücher mitbringen würdest«, murmelte sie.

»Ja. Und du hast natürlich wieder keine mitgebracht«, erwiderte Rachel leise, in ihrem typischen, liebevoll tadelnden Tonfall.

Anna blinzelte und schob die durchweichten Papiertücher in ihre Tasche. Und als sie um sich blickte und sah, wie auf der Straße das Leben einfach weiterging, fühlte sie sich wieder besser.

»Ich warte hier draußen, bis wir an der Reihe sind.«

»Wir bleiben bei dir«, erwiderte Rachel diktatorisch. Und so warteten sie in der Wintersonne, während die Geräusche von drinnen lautlos auf sie eindrangen. Die Litanei des Schmerzes tönte aus der Kirche und schallte in die Welt hinaus.

10

Das Bild auf dem Monitor schwankte schwindelerregend, als die Kamera über das Publikum glitt. »Scheiße!«, fluchte Ilse, während sie auf die Eins zurückschnitt, die auf drei der Kommissionsmitglieder gerichtet war.

»Was zum Teufel machst du denn da, Simon? Sag mir wenigstens vorher Bescheid.«, fauchte sie. Simons Kamera kam zum Stillstand. »Okay, danke.« Ilses Tonfall veränderte sich, während Kamera Zwei sich auf Anna Kriel und Rachel Oliphant richtete, die durch den Mittelgang zu ihren Plätzen gingen. »Bleib dran. Ich bin wieder auf der Zwei. Danke, Simon.«

James setzte sich wieder gerade hin, die vorderen Beine seines Stuhls schlugen dumpf auf den Boden. Ilses Blick wanderte zwischen den drei Monitoren hin und her, die vor ihr standen, den beiden Kamerabildern und dem Sendebild. Sie war jetzt ganz konzentriert. Kamera Zwei folgte Anna, während sie sich setzte, und das Bild zoomte in eine Nahaufnahine ihres Gesichts.

»Anna Kriel. Die Story der Woche.« Ilse kramte eine neue Zigarette hervor und zündete sie an, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

James hob die Augenbrauen. »Hmm.« Er blickte auf den Notizblock hinunter, den er auf seinen Knien balancierte, schlug eine neue Seite auf und schrieb zum ersten Mal an diesem Morgen etwas auf. Ilse blickte ihn scharf an und bedeckte mit der Hand das Mikrofon. »Hmm?«, wiederholte sie fragend in gespielter Eifersucht.

James zwinkerte ihr zu, dann betrachtete er wieder das Bild auf dem Monitor. Gerade fiel Anna das Haar ins Gesicht, während sie sich zu Joe Dladla wandte, der neben ihr saß. Dieser flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie lächelte. Dann fiel der glänzend schwarze Vorhang ihres Haares wieder zur Seite und enthüllte ihr Gesicht. Mit ihren leuchtenden Augen hatte sie nicht viel Ähnlichkeit mit der Frau auf den alten Pressefotos. Auf diesen Bildern sah sie streng aus, doch die Frau, auf die er jetzt sah, hatte etwas Zartes, ja Verletzliches an sich. Sie ist schön, dachte er.

Noch mehr als ihre Schönheit beeindruckte ihn jedoch die Stärke, die sie ausstrahlte. Sie war ein Mensch, der einen unweigerlich anzog. Und er vermutete,dass sie sich ihrer Anziehungskraft gar nicht bewusst war.

»Eine hübsche Geschichte«, plapperte Ilse. »Eine von den richtig großen, süßen Liebesgeschichten. Paul und Anna, Romeo und Julia der Freiheitsbewegung. Eine echte Tragödie für die Regenbogenpresse. Und auch ziemlich einfach. Jeder weiß, dass Frans Nel der Mörder ist — es ist bloß ein Frage der Zeit, wann der Scheißkerl einen Amnestieantrag stellt.«

James nahm sich noch eine Zigarette aus Ilses Päckchen und zündete sie mit ihrem Feuerzeug an. Rauchwölkchen stiegen ihm ms Gesicht, und er blinzelte. »Ich hab gehort, er sei ziemlich eifersüchtig gewesen.«

»Wer?«

»Paul.«

Ilse schnitt ihm eine Grimasse. James zuckte mit den Achseln.

»Das erzählt man sich jedenfalls. Er hat auf Partys regelrechte Eifersuchtsanfälle bekommen. Und die Leute blöd angemacht.«

Mit erhobenen Augenbrauen wandte Ilse sich wieder ihren Bildschirmen zu. »Sieh mal an, das hab ich gar nicht gewusst.«

»Muss ziemlich unangenehm für sie gewesen sein«, fügte James hinzu.

»Du kannst dir doch vorstellen, warum. Sie sieht doch auch wirklich Klasse aus.«

James nickte zustimmend, während er an seiner Zigarette zog.

»Leider ist sie schon vergeben, Schätzchen«, fügte Ilse bissig hinzu.

James lachte leise. »Das sind sie doch immer, Baby. Das sind sie doch immer …«

Plötzlich entstand Bewegung im Saal. »Okay, Jungens, haltet euch bereit für den großen Einlauf! Kamera Zwei, auf den Erzbischof. Ich bin jetzt auf der Eins, gib mir bitte einen Dreier von Dladla und den beiden Witwen. Ja, super, ein bisschen aufziehen noch. Passt.«

James klopfte sich mit dem Stift gegen die Zähne, blickte zwischen den Monitoren hin und her und beobachtete, wie sich die Szene entwickelte. Der Erzbischof erhob sich lächelnd, um die Frauen zu begrüßen, die auf den Zeugenstand zutraten. An der Wärme, mit der er die Frauen umarmte, konnte man deutlich sehen, dass sie alte Bekannte waren. Im Saal stürmten die Kameramänner nach vorn, um die Szene einzufangen. Pressefotografen verdeckten das Bild auf dem Monitor; ihre Kameras blitzten, während der Geistliche Rachel und Anna in die Arme schloss. Ilse ging auf die zwei, die gerade in eine Nahaufnahme von Joe Dladla zoomte. Joe lächelte sein präsidiales Lächeln und schüttelte den Kommissionsmitgliedern herzlich die Hände, während diese vor Freude über seine Anwesenheit gleichfalls strahlten.

»Und wer ist ihr Freund?«, fragte James.

Ilse grinste. Ganz offensichtlich genoss sie es, über Informationen zu verfügen, die James nicht hatte. Dann deutete sie zur Antwort mit ihrer Zigarette auf Joe und wartete auf James’ Reaktion. Er versuchte gar nicht erst seine Uberraschung zu verbergen!

»Ja, ja, ja. Hat er nicht einfach alles, was man sich wünscht?«, imitierte James das schnelle, schrille Geplapper eines Fußballreporters. »Joe Dladla. Noch nicht zufrieden nach seinem meteorgleichen Aufstieg in der Polizei, hat dieser junge und ganz außergewöhnlich ehrgeizige Mann öffentlich erklärt, er wolle in die Politik gehen. Und da ist er, schüttelt Wählerhände bei der Wahrheitskommissiom an der Seite seiner Partnerin, der attraktiven Kriegerwitwe Anna Kriel.« James beugte sich vor und wandte sich an den Monitor, der nur ein paar Meter von seinem Gesicht entfernt war. »Schon an der Brust seiner Aktivistenmutter auf Erfolg getrimmt, hat Dladla jetzt ein Auge auf das Ministeramt geworfen, und danach strebt er zweifellos keinen geringeren Posten als den des Präsidenten selbst an. Und da er so charmant wie skrupellos ist, besteht auch kein Zweifel daran, dass der charismatische Joe, ein Mann des Volkes, auch das bekommen wird, was er anstrebt.«

Ilse blickte finster, während sie von Joe auf Anna und Rachel schnitt.

»Du solltest dir klar machen, dass du hier von einem Helden meines Volkes sprichst!«

»Meinst du denn, ich gehöre nicht zu deinem Volk?« James lehnte sich nachdenklich zurück.

Sie schüttelte den Kopf. »Du gehörst nirgendwohin, James Kay.«

James warf Ilse einen kurzen Blick zu und war für einen Augenblick abgelenkt von der intensiven Betrachtung der Vorgänge im Kirchensaal. Ilses grüne Augen flackerten triumphierend. Sie hatte den Anflug von Schmerz in seinem Blick gesehen und schien es zu genießen, ihn so gereizt zu haben.

Wieso bloß bringe ich das in den Frauen zum Vorschein?, fragte er sich. Doch dann legte Ilse die Hand auf sein Knie und drückte es beruhigend und versöhnlich. Er betrachtete ihre leuchtend orangeroten Fingernägel auf dem dunkelgrauen Baumwolltwill seiner Cargohose. Und auch das, sinnierte er düster.

Dann kehrten seine Gedanken wieder zu Joe Dladla zurück. Aus allem, was er über den jungen Mann gehört und gelesen hatte, wusste er, dass dieser dem Ruhm nicht abgeneigt war, obwohl er ihn nicht suchte. Er war ein Einzelgänger. Seine Augen hatten jene Intensität, jene ausdruckslose Tiefe, die er bei vielen ehemaligen Aktivisten gesehen hatte, der einen wie der anderen Seite. Diese Typen waren süchtig nach Adrenalin, sie suchten ständig das Risiko. Dennoch hatte Joe Dladla etwas Glattes an sich, was ihn von den anderen abhob. Der Kerl schien sich in seiner Haut enorm wohl zu fühlen. Man kann alles, was man will, wenn man nur daran glaubt, und Joe war einer, der wirklich daran glaubte. Diese Überzeugung war es auch, die die Menschen zu ihm hinzog. Seine Überzeugungskraft und sein Aussehen — von den protzigen Klamotten gar nicht zu reden. Wo hatte ein Junge aus Meadowlands bloß solchen Geschmack gelernt?, fragte James sich. Doch andererseits — warum sollte ein Junge aus Meadowlands eigentlich keinen Geschmack haben, rügte er sich dann.

James hatte seit Wochen vergeblich versucht, einen Interviewtermin mit dem stellvertretenden Polizeichef zu bekommen. Joes Einheit war verantwortlich für die Untersuchungen der Überfälle auf die Geldtransporter, an denen James so interessiert war. Und über die er eine Story schreiben wollte, obwohl er bisher kaum geeignetes Material hatte.

Die Kamera folgte Joe bis an seinen Platz. Dann schnitt Ilse auf eine Einstellung des Erzbischofs. »Was hast du gegen Dladla?«, fragte sie.

James zuckte mit den Achseln und erwiderte scherzhaft: »Er hat das Mädchen, er hat die Klamotten…Er ist der Mann der Stunde. Was soll man daran mögen?«

Nun blickte Ilse ihn geradezu wütend an, ihr lila und grüner Lidschatten glitzerte bedrohlich. »Du hättest ihn mal bei der Pressekonferenz heute Morgen hören sollen. Dann wärst du vielleicht nicht so verdammt geringschätzig.«

»Was für eine Pressekonferenz?«

Ilse lächelte verschmitzt und zuckte triumphierend mit den Achseln. »Wow, du bist aber ganz schön nachlässig geworden, Schätzchen. Das ist schon.das zweite Mal heute Vormittag, dass ich was weiß und du nicht!«

»Was für eine Pressekonferenz, Ilse?«

»Er ist auf die Kritik an der Polizei eingegangen, du weißt schon, wegen der Aufklärung des Überfalls auf der Schnellstraße vor ein paar Tagen.«

James schlug sich mit dem Notizblock auf den Oberschenkel. »So eine Scheiße! Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Das wird dich lehren, demnächst pünktlicher zu kommen«, trällerte Ilse.

James schüttelte frustriert den Kopf.

»Ach, mach dir nichts draus. Ich hab alles auf Band. Wenn du ganz, ganz lieb zu mir bist, spiel ich’s dir vielleicht in der Mittagspause vor.«

James kniff die Augen zusammen und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Wann war ich denn jemals nicht ganz, ganz lieb zu dir, Ilse?«

Ilse starrte ihn in gespieltem Zorn an.

»Okay, ich bin dir noch was schuldig«, knurrte er.

»Das will ich meinen, Freundchen.«

Dann wurde sie still, denn Anna Kriel und Rachel Oliphant betraten den Zeugenstand. James beugte sich konzentriert vor.

11

»Sind hier inmitten von Freunden«, sprach der Erzbischof mit warmer Stimme. Rachel drückte Anna die Hand, und Anna versuchte em Lächeln, doch der Kopf schmertzte ihr vor lauterAnspannung. »Ihr Name?«, hallte die weiche, besonnene Stimme eines Kommissionsmitglieds durch die Lautsprecher.

»Anna Kriel.«

Ein Schwarm Fotografen brachte die Kameras in Anschlag.

»Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«

Es war ein Moment äußerster Anspannung. Dann hob Anna die rechte Hand, und ein Blitzlichtgewitter schlug ihr entgegen. Sie blinzelte in das Licht. »Ich schwöre.«

»Danke, Anna.«

Sie nickte kurz zur Bestätigung.

»Sie leben in Johannesburg, ist das richtig?« Die Stimme des Kommissionsmitglieds klang kühl und beruhigend.

»Das stimmt. Ich arbeite in Pretoria. Ich bin Ministerialrätin im Ministerium für Sicherheit.«

»Und Sie haben eine Aussage vorbereitet?«

»Ja. Danke«, murmelte sie und strich über die Knickfalten ihrer Unterlagen, um sie zu glätten. Sie brauchte nichts zu lesen; sie wusste genau, was sie heute hier sagen wollte. Trotzdem lag die Aussage in Schriftform vor ihr. Sicherheitshalber.

Sie schloss die Augen und sprach in die erwartungsvolle Stille hinein. Zuerst die Fakten. »In den frühen Morgenstunden des Ostersonntags 1987 fuhr mein Lebensgefährte Paul Lewis zusammen mit unserem Freund und Genossen Jacob Oliphant in seinem Auto los. Wir, das heißt Rachel Oliphant und ich, kannten ihr Ziel nicht. Wir wussten weder, wo sie hinfuhren, noch, was sie vorhatten. Wir vier bildeten damals eine Zelle, eine politische Einheit des verbotenen African National Congress. Wir arbeiteten im Untergrund, und Geheimhaltung war bei unserer Arbeit von größter Bedeutung. Wir wussten nur, dass wir innerhalb der nächsten zweiundsiebzig Stunden mit ihrer Rückkehr rechnen konnten. Mehr brauchten wir nicht zu wissen.«

Anna hörte ihre eigene Stimme durch die Lautsprecher; sie klang fest und deutlich.

»Paul und Jacob haben ihren Bestimmungsort nie erreicht. Am Morgen des 19. April 1987 fand ein Priester die verkohlten Leichen neben ihrem ausgebrannten Auto auf der Schnellstraße zwischen Mafikeng und Vryburg. Was genau in jener Nacht auf dieser langen Teerstraße passiert ist, wissen wir bis heute nicht. Sie sind erschossen worden. Jacob mit nur einem Schuss in den Hinterkopf, Paul mit drei Schüssen. Eine Kugel hat ihn mitten ins Herz getroffen. Ihre Mörder hat man nie gefunden.«

Anna hielt einen Augenblick inne und griff nach dem Wasserglas, das einer der Betreuer vor sie hingestellt hatte. Sie trank einen großen Schluck kühles Wasser und fuhr dann fort: »Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich brauche die Kommission nicht daran zu erinnern, dass damals der Ausnahmezustand herrschte, an den Aufruhr in den Townships, an die Gewalt, die unser tägliches Leben bestimmte. Ganz zu schweigen von den Schikanen, der ständigen Bedrohung durch Gefängnis oder Tod, denen sich jene ausgesetzt sahen, die gegen das Regime kämpften.«

Anna bhckte uber den Zuschauerraum hinweg zu den Scheiben im hinteren Teil der Kirche, hinter denen die Journalisten sie betrachteten.

»Seitdem hat mich die Frage gequält: Warum? Und das bringt mich unweigerlich zur Frage: Wer? Wer hat Paul und Jacob ermordet? Heute, zehn Jahre später, weiß ich immer noch nichts über den Auftrag, der Paul und Jacob auf ihre tödliche Reise führte. Ich bin seit langem davon überzeugt, dass der Mörder, oder jedenfalls der Mann, der den Auftrag zu ihrem Mord gab, Frans Nel ist.

Früher nannten wir ihn nur den Captain. Er war damals Offizier der Sicherheitspolizei. Heute ist er Brigadier in einer Polizeieinheit in Pietermaritzburg.«

Im Saal erhob sich missbilligendes Gemurmel. Rachel drückte Anna das Bein, um ihr zu zeigen, dass sie ihre Sache gut machte. Die Kommissionsmitglieder notierten sich etwas.

»In dieser Hinsicht ist Frans Nel keineswegs ein seltenes Beispiel — viele ehemalige Sicherheitspolizisten sind bei der Polizei geblieben. Es fällt einem zwar schwer, sich damit abzufinden, doch es ist eine wichtige Geste der Versöhnung. Eine Geste, die, so hoffe ich, erwidert wird, obwohl der Brigadier bisher so schweigsam geblieben ist wie eh und je, was die Morde auf der Mafikeng Road betrifft.«

Anna räusperte sich und wendete ein Blatt ihrer Aussage um. »Ich habe mich mit dem Brigadier getroffen, um über den Vorfall zu sprechen, doch trotz seiner angeblichen Bereitwilligkeit, sich mit mir zusammenzusetzen, hat er sich so ausweichend gezeigt wie immer. Er ist von seiner Geschichte nicht abgerückt.

Badenhorst und Warrant Officer Curry vom Vryburger Raub- und Morddezernat waren schwieriger aufzuspüren. Curry kam 1993 bei einem Autounfall in der Nähe von Kapstadt ums Leben. Badenhorst ist schlicht und einfach von der Bildfläche verschwunden.

Im Laufe meiner Nachforschungen habe ich die Archive von Polizei und Militär um alle Akten gebeten, die mit Paul und Jacob zu tun haben und ihre Überwachung und die Zeiträume ihrer Haft dokumentieren. Die Polizei hat eine dünne Akte herausgegeben, die lediglich ein paar Details enthielt, die mir schon bekannt waren. Pauls Geburtsdatum, seine Adresse und Aktennummer bei der Sicherheitspolizei und das Datum seines Todes, dazu ein paar Presseausschnitte aus der Zeit der gerichtlichen Untersuchung. Beim Militär ist meine vor drei Jahren gestellte Anfrage immer noch ›in Bearbeitung‹.

Bis jetzt sind alle meine Nachforschungen nur auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, mit der sich die Sicherheitspolizei umgibt. Die Wahrheitskommission ist nun meine letzte Hoffnung, dass das Attentat auf Paul und Jacob endlich vollständig und von offizieller Seite untersucht wird. Wir wollen wissen, wer Paul Lewis und Jacob Oliphant ermordet hat — und warum.«

Kaum hatte Anna diese Frage ausgesprochen, verspürte sie eine unerwartet starke Gefühlswallung. Sie zitterte wie ein Drahtseilakrobat, der in den atemlosen Sekunden nach einem Schwanken, das beinahe tödlich geendet hätte, erst mal eine Pause einlegt und sich sammelt. Erst als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sprach sie weiter.

»Ich bitte die Wahrheitskommission, Brigadier Nel und Badenhorst vorzuladen und zu befragen, was sie über die Morde auf der Mafikeng Road wissen. Im Namen von Rachel, Bram, Delarey und mir selbst bitte ich sie — und auch jeden anderen, der irgendwelche Informationen hat — sich zu melden und wahrheitsgemäß zu erzählen, was mit Paul und Jacob passiert ist. Damit unsere Seelen endlich Ruhe finden.«

Zustimmendes Gemurmel ging durch die Zuschauermenge.

»Es ist schon so oft gesagt worden, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und das Leben Teil des Todes. Und ich glaube wirklich, dass der Tod leichter zu akzeptieren ist, wenn man sein Leben lang für einen guten und gerechten Zweck gekämpft hat. Und dass man weiterlebt, in und durch die Menschen, die überlebt haben und den Kampf weiterführen. So setzt sich auch das Leben von Paul und Jacob in mir, in Rachel, in Jacobs Söhnen Bram und Delarey und in unseren Genossen fort.

Aber — und jetzt spreche ich nur für mich — ich werde nie akzeptieren können, mit welcher Brutalität Pauls Leben viel zu früh beendet wurde. An jenem Apriltag im Jahre 1987 habe ich nicht nur meinen Geliebten verloren, sondern auch die Zukunft, die wir gemeinsam erlebt hätten. Seitdem habe ich gelernt, dass man seinen Schmerz nicht ablegen kann. Er reist mit einem. Er wird Teil von einem. Die Kunst besteht darin, dass man lernt, ihn zu tragen.«

Annas Stimme zitterte verräterisch. Sie hielt inne, räusperte sich und starrte auf den Text, den sie am Vorabend so sorgfältig komponiert hatte. Dann schloss sie die Augen, ein Beben ihrer Schultern zeigte, wie sehr sie kämpfte, um ein Aufwallen der Gefühle zu unterdrücken. Sie erhob die Stimme.

»Doch auch Südafrika hat etwas verloren. Südafrika hat für immer eine entscheidende Kraft verloren, einen brillanten Strategen, einen Mann der Tat, der heute so viel zu unserem neuen Kampf hätte beitragen können. Er hätte jetzt dazu beitragen können, das neue Südafrika in das Land zu verwandeln, das wir unserem Volk versprochen haben.

Und am schlimmsten hat Paul verloren.« Nun sank Annas Stimme. Sie hielt inne und hob dann den Blick wieder zum Publikum. »Er hat so vieles verpasst.« Anna spürte, wie ihr die Kehle eng wurde und Tränen in die Augen stiegen. »So vieles ist ihm verwehrt worden. Die Freude daran, mit anzusehen, wie Madiba aus dem Gefängnis freikam, das Lachen und Singen mit seinen Freunden, als wir stundenlang angestanden haben, um endlich in einem freien Südafrika zu wählen, die Freudentänze beim Amtsantritt unseres Präsidenten, Nelson Mandela. Paul ist sein eigener Sieg verwehrt worden. Man hat ihm das Leben verwehrt.

Vor langer Zeit habe ich ihm einmal etwas versprochen. Dass ich seine Mörder finden und vor Gericht bringen würde. Nicht aus Hass oder Rache. Diese Motive gehören zum Repertoire des Mörders. Aber um der Gerechtigkeit willen.« Annas Stimme wurde lauter.

»Es ist an mir und an uns allen, unsere Pflicht gegenüber Paul und Jacob und den Hunderten anderen zu erfüllen, die beim Kampf gegen die Apartheid gestorben sind. Es ist unsere Pflicht, die Wahrheit aufzudecken, herauszufinden, was passiert ist, die Täter auszumachen und die Menschen, die sie mit Waffen versorgt und zum Töten ausgesandt haben. Nicht weil wir unsere geliebten Menschen mit noch mehr Blut rächen wollen. Sondern um sicherzustellen, dass ein solches Blutvergießen niemals wieder geschieht.«

Ihre Stimme zitterte von der Heftigkeit ihrer Gefühle.

»Ich schließe mit den Worten von Maya Angelou, die einmal geschrieben hat, dass ›Geschichte, auch wenn sie noch so schmerzlich ist, nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Aber wenn man ihr mutig gegenübertritt, braucht sie nicht noch mal durchlebt zu werden‹.«

Einen Augenblick blieb Anna ruhig stehen, ihre Finger balancierten auf der Tischkante vor ihr. Im Saal war es vollkommen still. Dann blickte sie in die ernsten, nachdenklichen Gesichter der Kommissionsmitglieder. »Danke. Das ist alles.«

Applaus entlud sich wie eine Gewitterwolke. Der Erzbischof erhob sich und hat das Publikum, aufzustehen und sich an den Händen zu fassen. »Lasst uns nun schweigen und all derer gedenken, über die heute Vormittag gesprochen wurde.«

Und als die Stille endete, hob im Saal ein Lied an, zuerst die Stimmen der Frauen, dann fielen die der Männer ein. »Hambaaa gahle m’khonto.« Anna schloss die Augen, während die schöne, feierliche Hymne um sie herum erklang. Hamba gahle. Lebwohl, sangen sie, Lebwohl, unser gefallener Soldat.

12

Tief bewegt durch das Lied, aber mehr noch durch Anna Kriels Rede, erhob sich James von seinem Platz. Auch die anderen Journalisten standen auf, während der Klagegesang aus dem Saal brandete. Ilse beugte sich nach vorn und spannte dabei das straffe Kabel ihrer Intercom noch weiter. »Ich komm jetzt zu dir, Simon«, flüsterte sie. Ein Schnitt auf Rachel, die mit hoch erhobenem Kopf dastand, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Dann eine Nahaufnahme von Anna, ohne die Spur einer Träne in den Augen, blass und auf geradezu unheimliche Weise schön.

James war wie gebannt. Ganz offensichtlich zog sie ihre . Stärke aus ihrer Liebe zu diesem Kerl. Sie glühte geradezu aus ihr hervor. Das konnte doch nicht gesund sein.

Nachdem das Lied vorbei war, wurde die Mittagspause angekündigt, und im Presseraum begann aufgeregtes Geschnatter und Stühlerücken. »Mensch, das war einfach irre!«, meinte Ilse, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rieb sich über die feuchte Nasenspitze.

»Du hast geweint!«, stellte James trocken fest.

Ilse warf ihm einen gereizten Blick zu, als wolle sie sagen: »Gut erkannt, du Schlauberger«.

»Glaubst du, dass ihr ruhiges Auftreten wirklich innere Fassung widerspiegelt, oder ist sie genauso aus dem Ruder wie wir anderen auch?«, überlegte er laut, mit einer guten Portion Ironie in der Stimme.

»Keine Ahnung, James. Das ist eine Frage, die man sich eigentlich sonst oft über dich stellt«, erwiderte Ilse bissig, während sie das letzte Band herausnahm und es mit einem Etikett versah.

James hob die Augenbrauen und wollte gerade eine ebenso bissige Antwort geben, doch Ilse stand noch zu sehr unter der gefühlsgeladenen Stimmung des Vormittags und war nicht zu Scherzen aufgelegt. Im Übrigen war er sich gar nicht sicher, ob ihr Wortwechsel Spaß oder Ernst war. Deshalb begab er sich ohne eine Erwiderung in Richtung Saal, um Anna Kriel zu suchen.

Offen gestanden, fand er die Aussicht, sie zu treffen, ziemlich einschüchternd. Nicht nur ihr Auftritt an diesem Morgen hatte ihn beeindruckt. Anna ging der Ruf voraus, dass sie sich unermüdlich für ihre Arbeit engagierte. Sie überwand Zynismus und Uberdruss mit schier unendlicher Energie und Hoffnung, entschlossen, die gerechte Gesellschaft aufzubauen, für die ihr Geliebter gestorben war. Keiner der Leute, die James über sie befragt hatte, hatte ein schlechtes Wort über sie verloren. Er hatte begonnen, sie für die Art und Weise zu bewundern, in der sie sich, wie man ihr nachsagte, das Außerste abverlangte, und nichts in ihrem Verhalten an diesem Morgen widersprach den Gerüchten.

Vor dem Podium beantwortete Joe Dladla die Fragen von Reportern, die sich um die Witwen drängten. James sah, dass Anna sich wegdrehte und suchend über die Köpfe der Journalisten blickte, als wolle sie ein Schlupfloch ausfindig machen. Ihre Blicke trafen sich, und sie starrte ihn einen Moment lang an. Er war wie elektrisiert. Er hatte keine Ahnung, was sie über ihn dachte; ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Dann schob sie sich durch die Menge, zufälligerweise in seine Richtung. Sie wollte an ihm vorbei durch den seitlichen Ausgang gehen, doch er hielt sie am Arm fest.

Anna schreckte vor der Berührung zurück. Obwohl sie nur ganz leicht zuckte, war ihm die Bewegung nicht entgangen. Und wieder fühlte er sich von ihren unergründlichen braunen Augen gefesselt. Er lächelte verlegen und kam sich plump und unbeholfen vor.

»Kann ich mit Ihnen reden? Bitte? James Kay. Vom Sunday Chronicle.«

Sie riss die Augen auf. War es Anerkennung? Oder Verärgerung? Schwer zu sagen. Sie antwortete nicht. Doch immerhin erwiderte sie seinen Blick. James wiederholte seine Bitte, und nach kurzer Überlegung nickte sie, doch ihr Blick blieb ausdruckslos, so dass James sich nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. »Mrs. Kriel?«

Dann sprach sie endlich. Dabei reckte sie das Kinn entschlossen in die Höhe; ihre Stimme klang allerdings zart wie Eiskrem. »Gut, einverstanden. Aber bitte nicht gerade jetzt. Okay?« Ihre langen Haare zitterten und fielen ihr ins Gesicht, während sie sich nach einem Weg nach draußen umschaute.

James wurde klar, dass die Frau sich in einem Zustand großer Unruhe und Verwirrung befand. Ihr Blick flehte um Gnade, um eine Atempause, eine Flucht vor den unablässigen Fragen und dicht gedrängten Leibern. James trat auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Rücken und lenkte sie sanft in Richtung Tür.

Als sie endlich draußen waren, lächelte sie ihn dankbar an und wich auf einen sicheren Abstand von zwei Armlängen zurück.

»Danke«, flüsterte sie.

»Äh, was ich gerade sagen wollte…Ich würde mich gern mal mit Ihnen unterhalten. Über Paul.«

Sie blickte sich hilfesuchend in dem kleinen Innenhof um, in dem sie gelandet waren.

»Es braucht ja nicht jetzt gleich zu sein«, fuhr er hastig fort, entschlossen, diese Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. »Ich könnte in Ihr Büro kommen oder mit Ihnen zu Mittag essen — wie es Ihnen am besten passt …«

Anna zögerte wieder und erwiderte dann leise: »Können Sie in meinem Büro anrufen und einen Termin mit meiner Sekretärin vereinbaren?«

»Super. Mach ich.« James grinste. »Danke.«

Anna nickte, dann wandte sie sich ab und trat aus dem Schatten des Hofes in die Arme einer kühlen Blondine, die froh schien, sie endlich gefunden zu haben.

James schlenderte nachdenklich zurück in den Presseraum.

»Oh, Gott. Die Katze lässt das Mausen nicht«, neckte Ilse sofort.

»Kannst du mir jetzt diese Pressekonferenz vorspielen?«, erwiderte er ungewöhnlich ernst.

Ilse salutierte und drückte auf die Play-Taste des Rekorders. Sie zog die Schuhe aus, und legte dann die Füße auf James’ Oberschenkel, während er sich Joe Dladlas improvisirten morgendlichen Auftritt auf der Treppe der Kathedrale anschaute.

Nach allem, was James sich zusammengereimt hatte, hatte Dladla ein interessantes Leben geführt, das sich allerdings auch nicht großartig von dem anderer bekannter Aktivisten unterschied. Aufgewachsen bei Mutter und Großmutter in Meadowlands, Zone 9, Soweto. Aufgrund seines Umfelds politisches Bewusstsem entwickelt. Auslöser für seinen Kampf für die Freiheitsbewegung war wohl letztlich der Tod seiner Mutter gewesen, die als Haushilfe in einer weißen Vorstadtsiedlung gearbeitet hatte. Es hieß, der Ehemann der weißen Hausfrau, für die sie arbeitete, habe sie wiederholt vergewaltigt. Als die Dame des Hauses das herausfand, jagte sie Mrs. Dladla in ihrer Wut auf die Straße und überfuhr sie mit ihrem Auto. Der BMW überstand den Zusammenstoß ohne größere Kratzer, Mrs. Dladla war tot. Die Dame des Hauses erhielt eine richterliche Verwarnung, und der kleine Joe bekam tausend Rand Schmerzensgeld.

Dladla war ungefähr dreizehn, als er im Gefolge zahlreicher anderer junger Männer und Frauen Südafrika verließ, um sich der Befreiungsbewegung anzuschließen. In Tansania schloss er sich dem ANC an und ertrug drei oder vier Jahre lang die furchtbaren Bedingungen in den Ausbildungslagern, ehe er wieder nach Südafrika zurückgeschickt wurde, um dort im Untergrund zu operieren. Über seine Zeit im Untergrund war nicht viel bekannt. Während der Verfassungsverhandlungen in den frühen Neunzigern tauchte Dladla wieder an die Oberfläche. Von diesem Zeitpunkt an war sein Aufstieg kometenhaft. Und es bestand kein Zweifel, dass er immer noch auf dem Weg nach oben war.

James interessierte sich hauptsächlich für Dladla, weil er die Überfälle auf die Geldtransporter untersuchte. Nach allem, was James bisher wusste, lag Dladla mit seinen Vermutungen über die Zusammensetzung der Banden vollkommen richtig. Sie bestanden vor allem aus ehemaligen Kämpfern, die gut ausgebildet, bestens ausgerüstet und schwer zu schlagen waren. James hatte auch herausgefunden, dass diese Banden enge Verbindungen zur Polizei unterhielten. Nun versuchte er verzweifelt zu ergründen, welcher Natur diese Verbindungen waren und bis in welche Ebenen sie tatsächlich reichten. Versuchte die Polizei, die Banden zu unterwandern, um sie auffliegen zu lassen, oder führte sie die Banden womöglich zu ihrer eigenen Bereicherung?

James notierte sich ein paar Zitate aus dem Interview, doch es gab nicht viel Interessantes für ihn. Als das Band zu Ende war, erhob er sich, und Uses Füße glitten elegant zu Boden. »Danke. Bis bald mal«, sagte er und suchte seine Sachen zusammen.

»Vergiss nicht, du bist mir noch einen Drink schuldig!«, neckte Ilse in flirtendem Tonfall.

»Ja.« James war mit seinen Gedanken ganz woanders.

»Heute Abend im Ant — da kannst du mir einen ausgeben«, rief sie ihm noch hinterher. Er drehte sich nicht einmal um.

»Klar, mach ich. Super. Ich treff dich dann da.«

Er schob sich den Notizblock in seine Hosentasche und machte sich auf und davon.

Ilse schüttelte in wollüstigem Erstaunen den Kopf. Dabei fiel ihr Blick auf einen anderen Journalisten, der ebenso fasziniert zu sein schien.

»Ich glaube, der Kerl hat selbst überhaupt keine Ahnung, wie irre geil er ist«, seufzte Ilse.

13

Joe hatte neuerdings eine Vorliebe für Restaurants entwickelt. Rachel neckte ihn gnadenlos wegen seines Yuppiegehabes, leistete ihm aber nichtsdestotrotz immer gern Gesellschaft. Zurzeit war sein Lieblingsziel ein Lokal in Melville mit dem Namen »Sam’s Café«. Es verfügte über alle Eigenschaften, die Joe schätzte: großartiges Essen, guter Wein, eine angenehme Umgebung und Gäste, die Joe entweder kannte oder gern kennen lernen wollte. Das Lokal war nicht ganz Annas Welt, aber ihr gefiel die schlichte Eleganz der Einrichtung, und das Essen war ausgezeichnet — wenn auch ziemlich teuer.

Und bei Sams’s aßen sie auch nach der Anhörung zu Abend, gemeinsam mit Rachel, Temba und den geschiedenen Swanepoels. Es war ein langer Tag gewesen. Anstrengend, aber auch aufregend. Anna war überrascht, wie leicht sie sich fühlte.

»Es war ein guter Tag, Bokkie. Du hast deine Sache gut gemacht«, meinte Rachel und gab Anna einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ehe sie nach der Speisekarte griff. »Aber ich bin verdammt froh, dass es vorbei ist!«

»Darauf will ich gern anstoßen!«, knurrte Joe und schlug die Weinkarte auf.

»Ja«, seufzte Anna. »Jetzt kann der Alltag wieder einkehren!«

»Nein, nein, Schätzchen — noch ist kein Alltag angesagt«, erinnerte Rachel sie. »Erst musst du mir noch bei meiner Hochzeit helfen!«

»Hey, ist das nicht schon bald?«

Rachel riss die Augen weit auf, spitzte die Lippen und nickte energisch, während Temba sich grinsend eine Serviette als Schleier über den Kopf drapierte.

Von den Hochzeitsplänen plätscherte das Gespräch hin zu alltäglicheren Themen und kam dann wieder zurück auf die Planung der Hochzeitsfeier. Anna hörte zu, gab ihre Meinung kund, wenn sie gefragt wurde, saß aber die meiste Zeit über nur entspannt zurückgelehnt da und freute sich an den vertrauten Stimmen und der Gesellschaft ihrer Freunde.

Als das Essen etwa zur Hälfte vorbei war, bemerkte Anna den Mann mit den eisblauen Augen, die sie am Vormittag so aus der Ruhe gebracht hatten. Er saß allein an einem Tisch am Fenster. In der rechten Hand hielt er ein Schriftstük, das wie eine Polizeiakte aussah, und las darin, augenscheinlich mehr an dem Inhalt der Akte als an dem vor ihm stehenden Essen interessiert. Anna nippte an ihrem Wein und beobachtete ihn über den Rand des Glases hinweg.

Er war ein beeindruckender Mann. Mittelgroß mit widerspenstigen schwarzen Locken. Hätte er mehr Sorgfalt auf sein Außeres verwendet, wäre er ein wirklich gut aussehender Mann, aber wahrscheinlich wäre das des Guten zu viel gewesen. Er hatte eine unbekümmerte Nachlässigkeit an sich, die Anna anziehend fand. Sie verspürte Neugier. Joburg war eine so kleine Stadt, wie kam es, dass sie ihm noch nie begegnet war?

Temba folgte ihrem Blick. »Kennst du ihn?«, fragte er.

Anna schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat mich heute bei der Anhörung angesprochen, aber irgendwie war ich nicht ganz bei mir.« Sie machte eine hektische Bewegung mit dem Weinglas, während sie sprach, und fühlte sich plötzich unangenehm befangen.

Temba beugte sich vor und erklärte: »Er heißt James Kay. Er ist der neue Investigativ-Reporter beim Chronicle. Unglaublicher Typ. Hat hier früher als Auslandskorrespondent für die Londoner Times gearbeitet. Vor ein paar Wochen hat er dann das Pferd gewechselt, ist zurückgekommen und hat sich hier um eine Stelle bemüht.«

»Um wen geht’s?«, mischte sich Joe ins Gespräch. Rachel deutete mit einer Bewegung ihres Glases in James’ Richtung. »James Kay«, sagte sie und lächelte ihren Lebensgefährten zuckersüß an. »Tembas neues Idol!« ‘

»Der ist ja auch wirklich süß«, schnurrte Rika. Willem schaute verstohlen zu James hinüber, und sein Mund verzog sich voller Abscheu. »Ich finde, er sieht aus wie eine Schwuchtel«, meinte er. Daraufhin brachen alle in Gelächter aus, und nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte, brachte selbst Willem ein Lächeln zustande.

»Er hat ein paar Jahre in Russland gelebt, glaub ich«, fuhr Temba fort. »Hat da das Auslandsbüro geleitet. Sein großer Coup war eine Reportage über die Russische Mafia, dafür hat er auch ein paar Preise gewonnen, hat ziemlich viel Wind gegeben damals. Dann ist er nach London zurück und hat dort einige Zeit in der Redaktion gearbeitet — stellvertretender Leiter der Auslandsredaktion oder so was.«

»Und was macht er jetzt hier?«, wollte Anna wissen.

»Hier ist sein Zuhause. Er ist Südafrikaner. Seine Mutter ist Diane Kay?« Tembas Stimme hob sich am Ende des Satzes, so dass es wie eine Frage klang.

»Wer?« Anna hatte noch nie von ihr gehört.

»Weißt du das denn nicht? Eine aus dieser weißen Studentengruppe, die Ende der Sechziger aktiv war — eine von diesen African Resistance-Leuten.«

Anna nickte, plötzlich erinnerte sie sich vage.

»Sie wurde wegen Sabotage vor Gericht gestellt, 1969, glaube ich. Du musst doch von dieser dramatischen Fluchtgeschichte gehört haben? Sie ist den Bullen entwischt, als sie sie zur Gerichtsverhandlung gebracht haben; ist dann nach England geflüchtet. Das war eine ganz große Geschichte. Eine Zeit lang war sie Volksfeind Nummer Eins. Weißt du nicht mehr?«

Jetzt nickte Anna mit größerer Überzeugung. Nun fiel es ihr tatsächlich wieder ein. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Foto auf: Eine ziemlich gut aussehende, dunkelhaarige Frau in einer elegant geschnittenen Bluse, die eine ultracoole Sonnenbrille trug und die Arme um zwei kleine Jungen gelegt hatte. Einer von ihnen musste James gewesen sein.

»Er ist absolute Spitze, das kannst du mir glauben«, fuhr Temba begeistert fort. »James Kay ist der Mann der Stunde! Yussus, ich liebe den Typen. Aber er gehört zu den ganz Harten. Da gibt’s so eine Geschichte, wie er mal seine eigene Mutter umgebracht hat, um an eine gute Story zu kommen — hat ihren Totenschein gefälscht, bloß damit er bei irgend so einem Flug in einer Militärmaschine dabei sein konnte, vom Iran aus, glaub ich.« Tembas Schultern bebten vor Vergnügen.

Anna blickte zu James Kay hinüber. Er hatte sich zu ihnen umgedreht, als er das Lachen hörte, und starrte Anna direkt an. Der Schreck über den plötzlichen Augenkontakt ließ sie erröten. James lächelte und hob grüßend die Hand. Anna warf ihren Freunden einen kurzen Blick zu, doch keiner schien es bemerkt zu haben. Sie blickte wieder zu Kay hinüber und neigte ihr Glas in seine Richtung, die kleinstmögliche Geste. Dann blickte sie wieder weg.

Als Anna das nächste Mal zu seinem Tisch hinüberschaute, war niemand mehr da.

Sie verließen das Restaurant zu später Stunde und in aufgeräumter Stimmung. »Komm, bleib heute Nacht bei mir«, flüsterte Joe. Sie kicherte und umarmte ihn. »Joe, du weißt doch, wie ich es hasse, wenn ich am nächsten Morgen dieselben Klamotten noch mal anziehen muss.« Es war eine halbherzige Ausrede. Er schob seine Hand unter ihren Mantel und streichelte ihr den Rücken. »Komm, Baby. Es ist schon wieder viel zu lange her!« Dann küsste er sie, und Anna spürte, dass sie ihn in dieser Nacht genauso sehr brauchte wie er sie.

»Er wäre heute so stolz auf dich gewesen«, murmelte Joe während der Autofahrt und streichelte ihr mit den Fingern über den Handrücken. Sie blickte hinunter auf ihre Hände, die sich ineinander verschränkten und wieder lösten. Eine solche Gefühlsäußerung von Joe war selten, und sie war ihm dafür dankbar und drückte ihm fest die Hand.

Sie führten eine eigenartige Beziehung, die sie selten diskutierten, aber stillschweigend akzeptierten. Ihre Art von Beziehung kam Anna sehr gelegen, weil Joe niemals zwischen sie und Paul treten würde. Er würde es gar nicht wollen.

Es hatte auch andere Männer gegeben, aber nicht besonders viele. Anna konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen. Ein Radioreporter, dem sie auf einer Reise nach Amerika begegnet war, ein holländischer Reiseschriftsteller, den sie im Foyer eines Kapstädter Hotels kennen gelernt hatte, und der Pilot einer Österreichischen Fluggesellschaft. Sie war ihnen auf Dienstreisen begegnet; in ihrem Alltag hätte sie sich diese Begegnungen niemals gestattet. Und alle hatten die Heimlichkeit von Affären gehabt. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, Paul zu betrügen, und hatte sich aus diesem Grund zweifellos stets Männer gewählt, die aus dem Ausland kamen und unerreichbar waren. Zwar war keiner von ihnen ein One-Night-Stand im engen Sinne gewesen, aber sehr viel tiefer waren ihre Beziehungen auch nicht gegangen.

Mit Joe war Anna das erste Mal an dem Tag ins Bett gegangen, als die Wahlergebnisse verkündet wurden. Und genau das war es auch gewesen: Sie waren zu Bett gegangen und hatten Seite an Seite geschlafen. Beide waren sie an diesem Tag so glücklich und zugleich so überaus traurig gewesen. Der Tag der Befreiung. Sie hatten zurückgeblickt, um zu sehen, was nach so vielen Jahren der Opfer und der Arbeit von ihrem Leben übrig geblieben war, und festgestellt, dass sie einander hatten. Und von da an hatte es nur Joe gegeben.

Er wohnte jetzt im vierten Stock eines Apartmenthauses in Killarney. Die Wohnung war nur spärlich möbliert und für Annas Geschmack ein bisschen steril. Es war ein Ort, den er fast ausschließlich zum Schlafen nutzte.

Anna gähnte, während sie sich auf das Sofa sinken ließ. Joe setzte sich neben sie und schaltete den Fernseher ein. Dann legte er ihr die Hand aufs Knie. Seine Finger wanderten zwischen ihren Beinen empor und umfassten ihren Schritt, während er sich vorbeugte, um sie zu küssen. Sein Kuss war kurz, aber warm. Dann schob er die Hand unter ihre Bluse, seine Finger bewegten sich an ihrem Rücken hinauf, um ihren BH zu öffnen, während sie seinen Gürtel aufmachte. Langsam zogen sie einander aus, ein Kleidungsstück nach dem anderen. Joe hielt dabei die Augen geschlossen und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

So begann ihr Liebesspiel immer. Sie liebten sich nie in seinem Bett, es geschah immer auf diesem Sofa, während im Hintergrund der Fernseher lief. Anna nannte das Sofa seinen »Liebessitz«. Das war eines der Dinge, die sie an ihm merkwürdig fand, genau wie die Tatsache, dass er niemals ihren ganzen Körper liebte, sondern immer nur ganz bestimmte Teile mit Liebkosungen bedachte. Dann war da noch seine Angewohnheit, sich im Bett von ihr wegzudrehen und sie niemals im Arm zu halten, während sie schlief. Und morgens konnte er ihr nichts zu trinken anbieten, denn er hatte nie Kaffee im Haus, obwohl er genau wusste, wie sehr sie ihren Morgenkaffee brauchte. Sie machten sich zwar immer wieder gemeinsam darüber lustig, doch trotzdem änderte er nichts daran.

Und dennoch liebte er sie, obwohl sie ihn gar nicht brauchte. Es reichte ihm wohl, zu wissen, dass sie ihn auf ihre Weise liebte, auch wenn sie immer mit Paul zusammen sein würde.

Anna lag auf der Seite und beobachtete den schlafenden Joe, beobachtete, wie sich seine Schultern beim Atmen hoben und senkten. Die Haut zwischen seinen Schultern war vernarbt von den langen, scharf hervorstehenden Spuren, die der Sjambok dort hinterlassen hatte. Sie fand die Narben schön. Was ihr weniger gefiel, war die Falte am unteren Teil seines Hinterkopfs. Eine Hautwulst, fast wie, eine Nacktschnecke, die sie missmutig anzublicken schien.

Anna rollte sich auf die andere Seite und schlief ein, während sie dem leisen Rasseln seines Atems lauschte.

Teil III

3 Teil

Es ist nicht schwer, die Wahrheit

umzubringen, und eine gut erzählte

Lüge ist unsterblich.

Mark Twain

14

Noch vor dem Morgengrauen wachte Anna auf und war sich undeutlich bewusst, dass ein Telefon klingelte; dann hörte sie Joe im Nebenzimmer reden. Kurz darauf war Bewegung im Zimmer, Schranktüren wurden geöffnet, und geschlossen. Sie vergrub das Gesicht im Kopfkissen und wollte am liebsten gar nicht richtig wach werden, doch aus irgendeinem Grund war Joe schon auf. Anna rollte sich auf den Rücken, reckte die Arme über den Kopf und schlug die Augen auf.

Er saß halb angezogen am Fußende des Bettes. Verschlafen lächelte sie ihn an. »Was hast du denn vor?«

Er bückte sich, um sich die Schuhe anzuziehen, und band sich die Schnürsenkel zu. »Muss mich mit jemandem treffen.«

Als Annas Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass er schicke, dunkle Hosen und ein dunkles T-Shirt trug. Sie spürte irgendetwas auf ihrem Fuß liegen; es war ein Schulterhalfter. Er hob es hoch und legte es sich an. »Kommst du mit?«

Anna hatte keine Ahnung, worum es ging, doch wie sie Joe kannte, hatte es auch keinen Zweck zu fragen. »Soll ich das denn?«

»Das überlass ich dir.« Achselzuckend steckte er die schwere, kalte Waffe in die Lederhalterung unterhalb seines Arms.

Joe trug die typische Polizeiwaffe, eine 9-mm-Beretta. Stumpfes Metall mit einem Holzgriff. Eine große, wenig elegante Waffe, die schwer zu verbergen war, aber aus der Nähe eine einschüchternde Wirkung hatte.

»Wo ist denn deine?«, fragte er.

Anna kicherte und schüttelte den Kopf. Er war unverbesserlich. »Zu Hause, im Safe, wo sie immer ist.«

»Warum trägst du sie nicht?«

Anna erwiderte nichts. Hatte er sie etwa gerade angefahren? Falls ja, würde sie sich das nicht gefallen lassen. Er betrachtete sie aufrichtig besorgt. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie immer bei dir tragen!«

»Und ich habe dir gesagt, dass ich Waffen nicht ausstehen kann«, erwiderte sie und äffte dabei seinen übertrieben geduldigen Tonfall nach. Er wandte sich kopfschüttelnd ab, als sei sie ein unartiges Kind.

Joe hatte ihr die Waffe gegeben, als sie in ihr neues Haus in Melville gezogen war. Das erste Mal, dass sie überhaupt allein wohnte. Auf einem Schießstand in Wonderboom bei Pretoria hatte er ihr beigebracht, wie man sie benutzte. Zu ihrer beider Überraschung hatte sich Anna als exzellente Schützin entpuppt. Sie benutzte keineswegs die kleine 22er, die eine beliebte »Damenwaffe« war, sondern eine 38er Special, einen Browning Revolver. Eine hässliche, aber wirkungsvolle Waffe. Sie brauchte beide Hände, um sie abzufeuern, so heftig war der Rückstoß.

Joe erhob sich. »Du hast noch drei Minuten.«

»Du denkst wohl, ich kann dir nicht widerstehen, was?« Sie grinste.

»Ich weiß, dass du das nicht kannst«, gab er zurück.

Anna blickte auf ihre Armbanduhr. Es war fast fünf. Da konnte sie auch aufstehen. Sie hatte keine Lust, sich tatenlos in Joes Bett herumzuwälzen und auf den Schlaf zu warten, der sich ohnehin nicht mehr einstellen würde.

»Gibt’s da auch Frühstück?«, erkundigte sie sich.

Er nickte. »Ja.«

Anna schob die Decke ein kleines Stück herunter, zog sie aber sofort wieder über sich. »Ach, es ist viel zu kalt!«, jammerte sie und wickelte sich in die Bettdecke ein wie ein Würstchen im Schlafrock. Joe grinste, dann riss er ihr die Decke in einem Ruck herunter. Anna japste, als die kalte Morgenluft ihre Haut berührte. »Ja, ja, schon gut!«, schrie sie, sprang aus dem Bett und zog sich an, so schnell ihr schläfriges Gehirn und die benommenen Glieder es erlaubten.

Es war ein frischer Wintermorgen. Die Straße war noch menschenleer, als sie mit dem Auto in die Dämmerung aufbrachen, Anna am Steuer, Joe auf dem Beifahrersitz. So wollte er es gern.

»Wo soll’s denn hingehen?«, erkundigte sie sich, inzwischen ganz angetan von dem geheimnisvollen Ausflug und der frühen Stunde.

»Zum Flughafen«, erwiderte er.

»Aha, das erklärt natürlich alles«, murmelte Anna fröhlich und bog auf die Autobahn ab.

Sein Handy klingelte mehrmals. Die Gespräche waren kurz. Inzwischen wirkte er ein bisschen angespannt.

Der Mond hing wie eine riesige Perle gleich neben der Betonspitze des Auckland Park Tower. Sie glitten in Richtung Süden an der glas- und stahlglänzenden Stadt vorbei. Unsichtbare Luftschächte bliesen ihre Dampfsäulen in die kalte Luft hinaus. Gerade als sie am Top Star-Drive In vorüberfuhren, ging die Straßenbeleuchtung aus.

Anna liebte die frühen Morgenstunden mit ihrer sauberen Luft. An diesem Morgen war sogar die Autobahn leer, eine willkommene Abwechslung zu dem entnervenden Verkehrsstau, den sie sonst täglich auf ihrem Weg nach Pretoria erlebte.

Direkt vor ihnen stieg die Sonne auf, ein riesiger blutroter Himmelskörper, der sich langsam über die ausgefranste Skyline von Edenvale erhob. Joe schwieg immer noch. Die Anspannung im Auto stieg, bis die Luft beinahe knisterte. Genau wie früher vor einem Auftrag, dachte Anna, und fragte sich, wo sie da hineingeraten war, aber es wäre sinnlos, Joe jetzt zu fragen. Sie kannte ihn gut genug, um diesen Fehler nicht zu machen.

Kurz vor sechs fuhr sie auf den Parkplatz des Holiday Inn Hotels am Flughafen. Der Platz war leer, bis auf einen weißen, holzverkleideten Lieferwagen, der neben dem Eingang zur Hotelhalle parkte. Anna hielt es für eines ihrer Überwachungsfahrzeuge. Joe marschierte an dem Fahrzeug vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen, und betrat das Hotel. Anna beeilte sich, ihn einzuholen.

»Wen treffen wir hier, Joe?«, fragte sie und versuchte, nicht allzu besorgt zu klingen. Sie musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Willie Mkhize«, erwiderte Joe zerstreut, während er a die Hotelhalle mit Blicken absuchte.

Annas Herz schlug schneller. »Hat das was mit Bazooka Rabopane zu tun?«

Joe nickte.

»Na prima«, murmelte Anna düster. »Und was zum Teufel mache ich dann hier?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Joe antwortete nicht.

Bazooka Rabopane galt als Hauptverdächtiger bei den Überfällen auf die Geldtransporter. Er führte eine Bande an, die unter dem Namen »Mozambicans« bekannt war, ein Name, der wohl irgendwie durch Bazookas früheres Exil geprägt worden war. Genau wie Joe hatte er zur MK gehört. Doch irgendwann war er auf die schiefe Bahn geraten. Er war raffiniert, bestens ausgebildet, bis an die Zähne bewaffnet und extrem gefährlich.

Der Mann, den Joe hier treffen wollte, Willie Mkhize, war dagegen nur ein kleiner Fisch, eine armselige Kreatur. Er schwebte irgendwo in der Halbwelt zwischen Polizei und Verbrechern und bestritt seinen Lebensunterhalt damit, Informationen weiterzuverkaufen. Keiner traute ihm doch beide Seiten benutzten ihn. Anna fühlte sich immer regelrecht besudelt, wenn sie solchen Typen begegnete.

Doch in der Hotelhalle des Holiday Inn war von Wilie nichts zu sehen. Entweder kamer zu spät oder würde gar nicht erst aufkreuzen. Joe rief von der Rezeption aus in seinem Hotelzimmer an, aber niemand ging ans Telefon. Er versuchte es noch ein paar Mal, doch vergebens Joe lauschte in den Hörer und klimperte unruhig mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche.

Fünf Minuten verstrichen, dann zehn. Anna knurrte der Magen, als sie den Duft von frisch gerüstetem Kaffee aus dem Hotelrestaurant roch. Plötzlich setzte sich Joe in Bewegung und marschierte auf die Fahrstühle zu, seine metallbeschlagenen Absätze klapperten über den Marmorboden. Anna hastete hinterher und schaffte es gerade noch in den Aufzug, der sie in den vierten Stock hinaufbrachte.

Willies Zimmer war leer. Die Tür stand offen, und ein Zimmermädchen zog bereits das Bett ab.

»Verflucht!« Joe hieb mit der Faust gegen den Türrahmen. Anna lehnte sich an die Wand, während Joe mit wütendem Blick in den langen Korridor starrte.

»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte Anna ruhig.

Joe fuhr sich mit den Fingern über die Glatze. »Wir glauben, dass er uns zu Bazooka führen kann. Vorausgesetzt natürlich, wir kriegen das Schwein erst mal in die Finger!«

Er marschierte zum Fahrstuhl zurück und schlug auf den Knopf.

Kurz darauf öffneten sich die Aufzugtüren und zeigten das verschlagene, ziemlich überrascht wirkende Gesicht eines großen, dünnen Schwarzen, in dessen millimeterkurzes Haar verschiedene Muster rasiert waren. Sofort fiel alle Spannung von Joe ab, und ein drohendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus: »Na, hast du etwa was vergessen, Freundchen?«, höhnte er.

Willie sah völlig verängstigt aus, rührte sich aber nicht von der Stelle und hielt die Hände starr in den Taschen. Joe trat einen Schritt vor und stützte sich mit der Hand gegen die Fahrstuhltür. »Wie steht’s, Willie, Alter?« Willie wich an die Spiegelwand zurück, während Joe und Anna rechts und links von ihm in den Fahrstuhl traten. Joe drückte auf »Erdgeschoss«.

»Mensch, Leute! Könnt ihr mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Was wollt ihr denn von mir, eh? Lasst mich doch einfach in Ruhe!«, jammerte Willie. Joe würdigte ihn keines Blickes, während sie hinunterfuhren.

»Nichts lieber als das, Willie«, erwiderte er bloß. »Du sagst uns, was wir hören wollen, und dann verschwinden wir wieder.« Er sprach ganz ruhig und vernünftig, hatte jedoch sein unheilvolles Lächeln aufgesetzt. Plötzlich wirkte die Situation gefährlich.

Unten angekommen folgte Willie Anna nach draußen, Joe war ihm dicht auf den Fersen. Willie Mkhize war größer als Joe, aber diesem an Stärke nicht gewachsen, und das wusste er auch.

Mit festem Griff führte Joe Willie durch die Hotelhalle und nach draußen in einen Innenhof. »Hör mal zu, Junge«, knurrte Joe. »Verschwende hier nicht meine Zeit. Alles was ich will, ist Bazooka. Wir erledigen’s hier, oder du kommst mit zu mir. Was meinst du, Willie?« Sie hielten auf der breiten Vortreppe an, flankiert von weißem Springkraut, das über die Rabatten quoll.

Der Hof, der den Swimmingpool umgab, war ganz in cremefarbenem Rauputz und roten Ziegeln gehalten, im Einklang mit dem spanischen Hazienda-Stil, in dem auch der Rest des Hotels gehalten war. »Nett hier«, sagte Joe sanft und knöpfte sich den Mantel auf.

Mkhizes Augen wurden schmaler, sein Blick glitt nervös zwischen Joe und Anna hin und her. Anna lächelte. In Wahrheit gefiel ihr das Ganze gar nicht. Joe war von einer gefährlichen Ruhe, während er sein Verhör fortführte.

»Wo steckt er, Willie?«

Willie schüttelte den Kopf wie ein Kind, das bei irgendetwas Verbotenem erwischt worden war. »Das kann ich vor der Dame nicht sagen«, kicherte er und warf ihr ein anzügliches Grinsen zu.

»Aber natürlich nicht!«, seufzte Joe ironisch. Seine Augen waren schwarz. »Natürlich kannst du das nicht.«

»Ich bin keine Dame, Willie«, sagte Anna lachend.

»Ja, das sehe ich auch«, kicherte er.

Plötzlich kam Joes Hand aus dem Nirgendwo und schlug Willie fest ins Gesicht. Er stolperte einen Schritt zurück, fing sich aber gleich wieder. Und die Hände behielt er in den Taschen. Ängstlich und ungläubig blickte er Joe an. Joe lächelte.

»Er ist im Clit Club«, knurrte Willie schließlich widerwillig. »In Rosebank. Den Club kennen Sie doch bestimmt, oder?« Er warf Joe und Anna einen anzüglichen Blick zu.

»Ich kenne ihn«, erwiderte Joe scharf. »Und jetzt gib mir die Handynummer.«

Anna hielt den Blick starr auf Willies Hände gerichtet, während er sie langsam aus den Taschen zog. Joe blickte derweil gleichgültig in den klaren Winterhimmel, als hätte er alle Zeit der Welt. Doch alles, was Willie aus den Taschen zog, waren ein paar zusammengeknüllte Kaugummipapiere und eine leere Zigarettenschachtel. Er gab Joe die Schachtel; eine Nummer war auf den Rand gekritzelt. Dann zuckte er mit den Achseln und ließ den Blick über den Pool schweifen, als sei gar nichts gewesen.

Joe holte sein Handy heraus, wählte eine Nummer, und nach einer kurzen Pause von nur ein oder zwei Sekunden gab er ein Kommando, das Anna nicht verstehen konnte. Willie zündete sich eine Zigarette an und blickte ebenfalls in den Himmel empor, ein Bild einstudierter Gleichgültigkeit.

Anna spürte, wie ihr der kalte Winterwind ins Gesicht schlug und ihr Haar zerzauste. Willie sprach plötzlich wieder in seinem leisen, monotonen Gejammer vor sich hin: »Ich wünschte, ich hätte Bazooka gestern Abend erledigt. Hätte ich das Schwein doch bloß erschossen — und dann hätte ich mich selbst erschossen. Dann hätte ich wenigstens was Vernünftiges gemacht.«

Joe schob das Handy zurück in seine Tasche und schenkte Willie sein breitestes Lächeln. »Danke, Kumpel. Man sieht sich.« Er warf Willie eine Kusshand zu und marschierte los.

Anna rannte hinterher. »Und was ist mit dem Informanten?«, fragte sie außer Atem, als sie ihn in der Lobby endlich eingeholt hatte.

»Was soll mit ihm sein?« Diese Frage kümmerte Joe offensichtlich einen Scheißdreck.

Anna schüttelte den Kopf. Das war Polizeiarbeit im Stile Joe Dladlas. Die Ärmel hochgekrempelt, mitten ins Getümmel, immer als Erster vorneweg, wenn nötig auch unter Umgehung der Vorschriften. Anna tolerierte das notgedrungen, genau wie seine Vorgesetzten, weil er mit seiner Arbeit Erfolg hatte, doch wenn sie es aus der Nähe mitbekam, verursachte es ihr ein beklemmendes Gefühl.

»Er hat keinen Schutz. Sie werden ihn umbringen, Joe.«

»Könnte keinem Besseren passieren, wenn du mich fragst.« Er grinste und marschierte am Türsteher vorbei auf den Vorplatz. Ihr war klar, dass er jetzt zunächst Bazooka erwischen wollte, und so lange würde Willie erst mal in Sicherheit sein — aber was, wenn Joe es nicht schaffte? Doch Anna blieb keine Zeit, die Sache weiter mit ihm zu besprechen.

Sie wurde unterbrochen dureh die quietschenden Reifen des Überwachungsautos, das gleich neben ihnen vor dem Hoteleingang eine Vollbremsung machte. Die Tür des Transporters ging auf. Drinnen saß die Überwachungsmannschaft, vier uniformierte, kugelsicher gekleidete Polizisten. Joe übergab ihnen die Zigarettenschachtel mit der Telefonnummer, und sie machten sich an die Arbeit, noch während die Tür zuging und der Transporter losfuhr.

Alles geschah so schnell und unerwartet, dass Anna gar keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Ein Hubschrauber, der über der Autobahn heranschwebte, landete auf dem Parkplatz. Joe drückte ihr die Hand, brüllte ihr irgendetwas Unverständliches zu, und lief dann auf den wartenden Hubschrauber zu.

Anna starrte ihm hinterher, während der Wind der sich drehenden Rotorblätter ihr das Haar ins Gesicht peitschte. Sekunden später war der Hubschrauberin der Luft und entschwand in den strahlend blauen Himmel.

Anna blieb allein vor dem Hotel stehen; sie trug noch die Kleider vom Vortag, hatte Hunger, und ihr Kopf drehte sich von den Ereignissen des frühen Morgens.

Die Überwachungsmannschaft im Transporter benutzte eine Ausrüstung, die erst seit kurzem von der Polizei eingesetzt wurde. Im digitalen südafrikanischen Mobilfunknetz konnten Telefonanrufe zwar nicht mitgehört werden, wie Anna wusste, doch sie konnten sehr wohl geortet werden anhand der Funkzelle, in der das Telefon benutzt wurde, selbst wenn gar nicht telefoniert wurde. Wenn Bazookas Telefon also angeschaltet war und er es tatsächlich selbst benutzte, war es nur eine Sache von Minuten, ihn ausfindig zu machen. Ob er sich einer Verhaftung willig unterwerfen würde, stand auf einem anderen Blatt, doch wenn es Joe gelang, ihn zu fassen, wäre das ein großer Erfolg für seine Abteilung und ein gewaltiger Schlag gegen das organisierte Verbrechen.

Da Anna nicht an Gott glaubte, war sie sich auch nicht sicher, ob ihre Gebete Erfolg haben würden. Trotzdem betete Sie dafür, dass Joe vorsichtig war. und seinen Einsatz wohlbehalten überstand. Sie holte sich einen Kaffee für unterwegs aus dem Restaurant, stieg in ihr Auto und fuhr nach Johannesburg zurück.

Die Verkehrsnachrichten im Radio gaben ihr eine ungefähre Vorstellung davon, wie das Unternehmen ablief. »Ein Start auf der Oxford Road. Autofahrer sollten Rosebank großräumig umfahren, Teile des Viertels sind von der Polizei abgeriegelt worden.« Anna schaltete das Radio aus und steuerte Richtung Rosebank; sie war jetzt viel zu neugierig und aufgeregt, um sich diesen Einsatz entgehen zu lassen.

Als sie nach Rosebank kam und die gigantische Einkaufspassage, eines der Haupteinkaufszentren Johannesburgs, erreicht hatte, wimmelte es dort von Polizisten und Rettungswagen. Annas Herz klopfte schneller, als sie sich der Absperrung näherte. Ein junger Uniformierter mit schwerer Akne im Gesicht hielt ihr Auto an. Anna zeigte ihren Ausweis aus dem Ministerium vor, wohl wissend, dass er sie keineswegs berechtigte, hier zu sein, doch sie hoffte, dass der Polizist zu jung und unerfahren war, um den Unterschied zwischen einem Polizisten und einem Verwaltungsbeamten zu kennen. Er winkte sie tatsächlich durch, und sie parkte ihr Auto in einer Lücke zwischen einem Krankenwagen und einem Streifenwagen, der eher zurückgelassen als geparkt worden war. Alle Türen standen offen und zeigten, in welcher Eile man ihn verlassen hatte. Anna lief auf die dichte Ansammlung von Polizisten zu, die hinter der Absperrung stand. Der Clit Club lag am Ende einer schmalen Zufahrtsstraße für Lieferfahrzeuge, die jetzt vollständig von einer Wand aus blauen Uniformen abgeriegelt war. Beim Näherkommen hörte sie einen Schuss krachen, und eine Welle der Unruhe durchfuhr die Polizisten. Nach einem Moment stiller Panik setzte hektische Betriebsamkeit ein, Funkgeräte knisterten, und Befehle wurden gebellt.

Joe konnte sie nirgendwo entdecken, er musste in dem Durchgang sein, beim Club. Da wo die Schießerei war.

Anna nutzte das Durcheinander um sie herum aus, drängte sich durch die Wand aus Uniformen und folgte zwei Scharfschützen, die man herbeigerufen hatte, in die Gasse. Als man sie entdeckte, war es zu spät; sie ignorierte die Schreie und rannte einfach weiter. Bitte sei okay, Joe. Bitte sei okay, beschwor sie sich wieder und wieder.

Dann knallte ein weiterer Schuss. Anna warf sich auf den Boden. Ihre Knie schabten über den Schotter, während sie das Gewicht ihres Körpers mit den Händen abfing. »Scheiße!« Ein stechender Schmerz, der aber gleich vom Schock verdrängt wurde. Auf den Schuss folgte vollkommene Stille. Sie blickte empor zu dem weißen Rechteck des Himmels, das sich zwischen den fensterlosen Häuserfronten auftat. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Dann hörte sie, wie jemand lang und keuchend atmete, und ihr wurde dumpf bewusst, dass sie selbst es war.

Nach einer Zeit, die ihr vorkam wie Minuten, standen die Polizisten vor ihr wieder auf, und Anna folgte ihnen auf Puddingbeinen. Dann zeriss ein dritter Schuss die Stille. Und diesmal rannte sie weiter.

Sie bog um die Ecke am Ende der Schmalen Straße und fand sich in einer gerammelt vollen Sackgasse wieder. Sie endete vor einer kurzen Treppe, die zu einer schweren Feuerschutztür hinaufführte. Vor der Tür stand Bazooka mit wutglühendem Blick, die Beine angriffslustig gespreizt, und hielt mit beiden Händen eine 9-mm-Waffe umklammert. Wer zum Teufel hatte geschossen? War er es gewesen oder die Polizisten?

Anna musterte die Rücken der Männer, die ihm gegenüberstanden und bemerkte, dass die Waffe auf Joe gerichtet war. Und Anna sah, dass er getroffen worden war. Blut sickerte aus seiner linken Schulter. Die freie Hand presste er auf die Wunde, und das Blut lief ihm über die Finger. In der anderen Hand hielt er die Beretta und zielte auf Bazooka.

Es war eine verrückte, ausweglose Situation. Der Mann war eingekreist, von überallher waren Waffen auf ihn gerichtet. Was machte er da bloß?

Angst schwebte in der Luft.

»Gee my die twa, Bazooka.« Gib mir die Waffe, befahl Joe gelassen. Der Gangster ließ den Blick über die Gasse gleiten und musterte die geballte Feuermacht, die ihm gegenüberstand. Anna folgte seinem Blick zu den Dächern, wo rundherum Scharfschützen der Polizei hockten. Dann blickte er Joe wieder an.

»So treffen wir uns also wieder, Genosse«, stieß er hervor, und seine Stimme schallte von den dreckigen Wänden der Häuser wider. Joe nickte. Annas Blut geriet in Wallung. Wie konnte er es wagen, dieses Wort zu gebrauchen, Genosse, ausgerechnet er, der dieselben Leute verriet, für die er vorher gekämpft hatte, und sie ausraubte, um sich selbst zu bereichern?

In diesem Augenblick stürzte sich Joe auf die Pistole, doch Bazooka war schneller als er. Er ließ die Waffe fallen, bevor Joe sie fassen konnte, und warf die Hände in die Luft. Klappernd fiel die Pistole zu Boden. Dann war Joe über ihm. Bazooka ging das Gesicht voran zu Boden, und Joes Stiefel traf ihn im Gesicht. Anna wendete den Blick ab.

Das war typisch Joe, unorthodox, aber wirkungsvoll. Bazooka hatte zweifellos einen Tritt ins Gesicht verdient, doch das machte Joes Verhalten noch lange nicht besser. Es war genau die Art von Verhalten, für das Polizisten sonst zum Vorgesetzten zitiert wurden, die Art von Vergehen, mit denen sie sich beinahe wöchentlich in Disziplinarverfahren beschäftigen musste. Allerdings hatte auch keiner der Betroffenen einen Kriminellen von Bazookas Kaliber zur Strecke gebracht.

Bazooka wurde in Handschellen gelegt, vom Boden hochgezogen und weggetragen. Sein Gesicht war eine breiige, blutige Masse. Joe sah schweigend zu, wie er abgeführt wurde. Er blinzelte in die Morgensonne, aus seinem Blick sprach keinerlei Gefühlsregung. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, wenn sie ihn so sah, genau wie so viele andere, die unter der Gewalt Schaden genommenhatten. Das Elend meiner Generation, dachte sie, oder jedenfalls derjenigen unter uns, die gekämpft haben.

Dann fiel sein Blick auf Anna, er lächelte sie an und hob die blutverschmierte Hand zum Gruß. Kameras surrten und klickten. Anna winkte zurück, ohne zu lächeln, dann drängten sich die Sanitäter um ihn herum.

Am nächsten Morgen prangte sein Bild auf den Titelseiten aller südafrikanischen Zeitungen, und Joe Dladla war der Held der Nation.

15

James sah seiner Verabredung mit gespannter Erwartung entgegen. Es war unkompliziert gewesen, ein Treffen zu vereinbaren. Er hatte in Anna Kriels Büro angerufen, eine freundlich klingende Dame, vermutlich ihre Assistentin, hatte ihn mit höflichen Worten in die Warteschleife gesetzt und ihm dann eine Auswahl von möglichen Terminen angeboten. Er hatte Samstagmittag gewählt, in der Hoffnung, dass sie dann mehr Zeit für das Gespräch haben würde.

James ging zu Fuß zum Restaurant. Es war ein herrlicher Morgen, auf dem Bürgersteig standen dicht gedrängt die Kaffeetische, und die Markisen vor den Geschäften leuchteten bunt. Der Winter in Johannesburg bereitete James immer wieder Freude. Tagsüber war das Licht so hell und die Sonne schien so heiß, dass es einem nicht schwer fiel, die Kälte zu vergessen, die im Schatten lauerte und nachts vom gefrorenen Erdboden aufstieg.

Der Weg von James’ Haus zu Nuno’s Restaurant war nicht der Rede wert, nur ein halber Block die Third Avenue hinunter, vorbei an den vielen selbst ernannten »Beschützern«, die gegen eine kleine Gebühr Autos wuschen und anboten, darauf aufzupassen. Dann nach links auf die Seventh Avenue, vorbei am esoterischen Geschenkladen, dem Full Stop Café und der Apotheke, die nie Medikamente auf Lager hatte, und dann auf die andere Straßenseite zu seinem Lieblingsrestaurant.

Er hatte vor, schon früh dort einzutreffen. Eine alte Gewohnheit, die ihm Zeit gab, seine Zielpersonen genau unter die Lupe zu nehmen, wenn sie schutzlos und nichtsahnend ankamen. Deshalb schlenderte James schon um zehn vor eins ins Nuno’s und suchte drinnen den Raum nach dem Tisch ab, von dem man den besten Blick hatte. Dabei begegnete er einem braunen Augenpaar, das ihn unverwandt anblickte. Sie war schon da.

Er grinste. Sie hat mich ausgetrickst. Schon jetzt einen Schritt voraus. Das wird kein Kinderspiel.

Er schlängelte sich um die Tische herum bis zu der Ecke am Fenster, die sie in Beschlag genommen hatte. Anna stand auf und schüttelte ihm fest die Hand. Ihre offene Ungezwungenheit wirkte sowohl kollegial als auch sexy. Feminin, aber auf eine robuste Art, wie eine Rose in voller Blüte. Sie trug Cargohosen und ein modisches, eng anliegendes T-Shirt. Ohne ihre düstere Bürokleidung wirkte sie jünger und unbeschwerter. Gut sah sie aus.

»Danke, dass Sie gekommen sind.«

Sie zuckte mit den Achseln und lächelte, dann verschränkte sie die Arme unter der Brust. »Tut mir Leid wegen neulich, ich war etwas mitgenommen.«

Er schüttelte ein bisschen zu heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich sollte mich lieber entschuldigen. Es muss ja auch schrecklich für Sie gewesen sein. An Ihrer Stelle hätte ich bestimmt auch keine Horde Journalisten um mich herum haben wollen.«

Sie nickte, setzte sich wieder und lud ihn ein, das ebenfalls zu tun.

James zündete sich eine Zigarette an, und eine Kellnerin brachte ihnen die Speisekarten. »Nehmen Sie auch einen Wein?«, fragte er.

Anna nickte »Ja, danke.«

Er bestellte zwei Gläser Sauvignon Blanc, und die Kellnerin verschwand wieder.

Anna eröffnete das Gespräch.

»Ehrlich gesagt bin ich ziemlich überrascht, dass wir uns noch nie begegnet sind, dies ist eine so kleine Stadt. Aber wahrscheinlich sind Sie noch nicht lange hier?«

Es war eine Frage, keine Feststellung. Oh je, jetzt führt sie das Interview. James klopfte die Asche seiner Zigarette am Aschenbecher ab. »Nein, noch nicht lange. Ich bin von einer britischen Zeitung hierher geschickt worden, hab dort aber gekündigt. Jetzt bin ich beim Sunday Chronicle.«

Sie nickte, als ob sie im Geiste etwas von einer Liste abhakte. »Was sind Sie denn eigentlich — Brite oder Südafrikaner?«

»Wahrscheinlich von beidem ein bisschen«, erwiderte er nachdenklich.

»Wo ist Ihr Zuhause?«

»Oh, keine Ahnung. Überall?« James lachte heiser.

Sie schien von seiner Antwort überrascht und vielleicht auch etwas unangenehm berührt zu sein. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er ziemlich entwurzelt, verantwortungslos und dilettantisch geklungen hatte. Er drückte sein Zigarette aus. Unter ihrer intensiven Überprüfung fühlte er sich unbehaglich. Sie rückte auf ihrem Stuhl nach vorn, stützte das Kinn in die Hände und wartete darauf, dass er weitersprach.

»Ich habe schon an ziemlich vielen Orten gelebt. Und ich werde bestimmt noch an vielen anderen leben. Aber wissen Sie, was mir an diesem Land so gefällt?« James griff nach einer neuen Zigarette und suchte in seiner Tasche nach Streichhölzern, während er fortfuhr: »Südafrika ist wie ein einziges riesengroßes Rätsel. Und das gefällt mir. Ich liebe Geheimnisse, alle Geheimnisse. Die Menschen sind ein Geheimnis. Es ist, als ob man jeden Tag jemand Neues und Aufregendes kennen lernt, jeden Tag ein neues Abenteuer erlebt. Verstehen Sie, was ich meine?«

Anna beobachte James, wie er das Streichholz anzündete. »Mmhmm, ich verstehe«, erwiderte sie freundlich. »Aber es dauert nie lange, bis ihre Geheimnisse enthüllt werden und die enttäuschende Wahrheit dahinter zu Tage tritt.«

»Das passiert doch keineswegs immer«, sagte James lahm.

»Doch, immer«, beteuerte sie.

Er legte den Kopf auf die Seite und zog an seiner Zigarette, während er sie beobachtete.

»Enttäusche ich Sie etwa auch schon?«, fragte er dann in flirtendem Tonfall.

»Noch nicht.« Sie lächelte ihn an. Ihr direkter Blick elektrisierte ihn und brachte ihn zugleich durcheinander. Machte sie das absichtlich? Er vermochte es nicht zu sagen. James war nicht unbedingt daran interessiert, die Magie der Anziehungskraft zu enträtseln. Dafür spürte er sie umso lieber.

Sie war schwer zu deuten. Anna Kriel schaute einen nicht so flüchtig an, wie es die meisten Leute taten. Ihr durchdringender, prüfender Blick war geradezu beunruhigend.

»Aber Sie rechnen anscheinend schon damit. Dass ich Sie enttäusche, meine ich«, sagte er schließlich.

Anna lachte herzlich. James zog an seiner Zigarette, während er auf ihre Antwort wartete, doch sie sagte nichts. In gespielter Enttäuschung runzelte er die Stirn, blickte sie aber weiter neugierig an.

»Arme Anna. Ein Leben ganz ohne Geheimnisse. Wie überaus kommunistisch von Ihnen!«

»Oh, aber ich war nie Kommunistin«, mimte sie die Entrüstete.

»Da habe ich aber anderes gehört, auch wenn man sich erzählt, dass Ihre Umwandlung von der Bolschewikin zur Bürokratin gar nicht so lange gedauert hat.«

»Tja, leider bin ich wohl auch nicht die beste Bürokratin. Mir fällt es immer noch schwer, gehorsam ›Ja, Herr Minister‹ zu sagen.«

»Auch das ist mir zu Ohren gekommen.«

Sie wirkte überrascht, aber keineswegs verärgert, als sie erfuhr, dass er Erkundigungen über sie eingezogen hatte. »Und was haben Sie noch so gehört?«, fragte sie und führte das Weinglas zum Mund.

»Oh, überwiegend belastende Aussagen über Ihre geistige Unabhängigkeit, die Sie in den Augen unseres großen Führers von Natur aus unzuverlässig erscheinen lässt.«

»Kein Kommentar«, sagte sie mit ironischem Lächeln.

Sie wurden von der Kellnerin unterbrochen, die ihre Bestellung aufnehmen wollte. Anna hatte noch gar keinen Blick auf die Karte geworfen. In der Zeit, die sie brauchte, um die Karte aufzuschlagen, hatte James schon bestellt.

»Essen Sie oft hier?«

Er nickte und war ein bisschen verlegen. Noch ein Anhaltspunkt, der ihn als ungehundenen, entwurzelten und wenig häuslichen Menschen dastehen ließ.

»Hier oder bei Sam’s«, meinte sie lächelnd und studierte die Menüauswahl.

»Ja, das haben Sie gut beobachtet. Mir fehlt die Zeit; zum Kochen.«

Anna hob eine Augenbraue, während sie der Kellnerin die Speisekarte zurückgab. »Bringen Sie mir das Gleiche, was meine Begleitung bestellt hat.«

»Kein Problem.« Die Kellnerin nahm die Speisekarten und ging. James lehnte sich zurück und balancierte auf den hinteren beiden Stuhlbeinen, so dass er sie aus größerer Entfernung betrachten konnte.

James fühlte sich in seiner Haut so wohl wie in einem perfekt sitzenden Maßanzug. Seine Umgebung spielte für ihn nur eine unwesentliche Rolle. Er war eins mit seinem Schreiben und darin gänzlich selbstgenügsam. Und er war in allem so eigenständig und unabhängig, dass er manchmal fürchtete, sich dadurch selbst zu isolieren. Anna dagegen war das krasse Gegenteil: vollkommen integriert, so sehr Teil der sie umgebenden Welt, dass sie Gefahr lief, sich darin aufzulösen. Und das war nicht der einzige Unterschied zwischen ihnen, dachte James. Sie bestand ganz aus Winkeln, Geraden und Koordinaten. Er dagegen war ein Mäander aus Spiralen, verqueren Windungen und zufälligen Schnittpunkten.

»Ja, nun zu Paul«, begann er endlich.

»Ja, nun zu Paul«, seufzte sie. Sie trank noch einen Schluck Wein und richtete den Blick in die Ferne. In ihrem Blick war eine solche Sehnsucht und Distanz, dass er sich fragte, was sie vor sich sah.

Das Restaurant hatte sich inzwischen gefüllt; Leute, die sich bei ihrem Einkaufsbummel eine Pause gönnten, Liebespaare und tratschende Freundinnen waren eingekehrt.

»Manchmal wünschte ich, ich könnte so sein wie sie«, murmelte sie. »Ganz gewöhnlich. Zum Mittagessen ausgehen und die neuesten Gerüchte austauschen. Stattdessen kreise ich immer bloß um diesen Mord.« Sie blickte ihn wieder an und lächelte ihr irritierendes Lächeln.

»Aber das müssen Sie doch gar nicht, oder?«, fragte er unverblümt. Sie schien innerlich zusammenzuzucken.

»Das ist wohl Ansichtssache«, erwiderte sie ein bisschen spitz.

»Ja, das ist es wohl«, murmelte er entschuldigend. »Aber zurück zu Paul.«

Anna senkte zustimmend ihr Kinn, eine Bewegung, die ihm inzwischen schon richtig vertraut vorkam.

»Ich habe gehört, dass er mehrmals wegen Drogengeschichten verurteilt worden ist, ehe er zur Wits University ging.«

Sie kniff die Augen zusammen und taxierte ihn, ehe sie kurz nickte.

»Hat er darüber mal gesprochen?«

Annas Blick war fest auf ihn gerichtet. Ohne mit der Wimper zu zucken erwiderte sie: »Paul ist immer sehr ehrlich gewesen, was seine Fehler betraf, und er hat sie auch sehr bereut. Er hatte eine schwere Kindheit. Seine Mutter ist mit einem Nachbarn durchgebrannt und hat sich wohl entweder aus eigenem Willen oder aus Angst vor ihrem Ex neun Jahre lang nicht blicken lassen. Neun volle Jahre gab es keinerlei Kontakt zwischen Mutter und Sohn.«

Sie trank einen Schluck Wein, hielt dabei aber immer noch Augenkontakt. »Pauls Vater war ein schwieriger, grausamer Mensch. Er hat seine Söhne geschlagen. Mit sechzehn ist Paul nicht mehr zur Schule gegangen und hat mit dem Dagga-Rauchen angefangen. Er ist dann von der Schule geflogen, sein Vater hat ihn rausgeschmissen, und irgendwie ist er abgerutscht und ans Dealen geraten. Mit siebzehn hat man ihn wegen Marihuana-Besitzes verhaftet, und er hat ein paar Monate gesessen. Mit achtzehn ist er fürs Dealen verurteilt worden und war länger im Gefängnis. Während seiner zweiten Haftstrafe hat er sich dann zusammengerissen. Hat per Fernunterricht seinen Schulabschluss nachgeholt und ein Bewusstsein für die vielen Dinge um ihn herum entwickelt, die er für falsch hielt.«

James rauchte und hörte ihr zu. Ihre Stimme klang klar und bestimmt. »Es war eines der ersten Dinge, die Paul mir erzählt hat. Er hat allerdings nicht viel darüber gesprochen. Wie haben Sie es herausgefunden?«

James zuckte die Achseln. »Ich bin, Journalist. Das ist mein Job.« Es war auch nicht besonders schwierig gewesen. Eine schnelle Suche im Strafregister, und er hatte eine dicke Mappe mit Informationen. Nichts, was in seiner Bedeutung vergleichbar gewesen wäre mit dem Blatt, das ihm in London in die Hände gefallen war, doch viele interessante Details, die normalerweise in den Berichten über den Volkshelden Paul ausgelassen wurden.

»Und dann hat er sich für ein Teilzeitstudium an der Wits University eingeschrieben, sich in der studentischen Politik engagiert und ist für die Untergrundbewegung rekrutiert worden. Haben Sie eine Ahnung durch wen?«

»Oh ja, das ist kein Geheimnis. Joe hat ihn ausgesucht. Er hat zu der Zeit Beziehungen zu den Joburger Universitäten aufgebaut. Joe hat auch mich rekrutiert.«

»Und Ihre militärische Ausbildung?«

Sie schüttelte den Kopf, ihr Haar glänzte dunkel. »Ich hatte keine, aber Paul hat eine Art Grundausbildung gemacht. Ihm hat der ganze Kram gefallen. Diese Spiele, die sie da treiben — mit verbundenen Augen Maschinengewehre auseinander bauen und wieder zusammensetzen, mit Haftminen rumspielen undso weiter. Aber Paul war kein Soldat.«

»Und Joe Dladla?«

»Joe?« Anna drehte am Stiel ihres leeren Weinglases und blickte nachdenklich an James vorbei auf die belebte Straße hinaus. Dann zuckte sie mit den Achseln und blickte ihn wieder an. »Er hatte ein paar Verbindungen zum Militär, aber darüber weiß ich so gut wie nichts. Wir sprechen eigentlich nicht viel über diese Zeit, Joe schon gar nicht.« Sie beugte sich vor und stützte sich auf die Ellbogen. »Die Gegenwart ist viel zu anstrengend und aufregend, er hat kein Interesse mehr an der Vergangenheit.«

»Und wo ist er ausgebildet worden?«

»In Angola und der Sowjetunion.« Sie winkte der Kellnerin, ihr noch Wein zu bringen. »Ich weiß, dass er irgendwann mal in den Lagern in Angola stationiert war, aber er hat es vorgezogen, im Inland zu operieren. Das Exil war für viele unserer Genossen ähnlich schlimm wie der Tod. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich besser als ich.«

James rutschte auf seinem Stuhl hm und her und dachte über das Exil nach. Vielleicht war es für seine Mutter wie ein Tod gewesen. Fürihn nicht. Die Kellnerin brachte eine Flasche, und James wartete, bis sie die Gläser nachgefüllt hatte, ehe er fortfuhr.

»Und in der Nacht, als Paul und Jacob umgebracht wurden. An was können Sie sich noch erinnern?«

Anna winkte geringschätzig ab. »Ach, über den ganzen Kram ist doch schon bis zum Erbrechen geschrieben worden. Können Sie das denn nicht in den Archiven nachlesen?«

»Ich könnte schon«, meinte er herausfordernd. Doch Anna war nicht bereit, sich darauf einzulassen. Sie nippte an ihrem Wein und stellte dann das Glas sehr bestimmt auf den Tisch.

»Ach wissen Sie, es ist schon komisch, an was ich mich erinnern kann Es ist geradeso, als ob mein Gedächtnis absichtlich einen Bogen um die grauenvollen Erlebnisse macht. Nehmen Sie zum Beispiel die Leichenhalle, als wir die Toten identifizieren sollten. Am lebhaftesten ist mir noch in Erinnerung, dass die Luft dort so ganz anders war. Es war noch nicht mal so sehr der Geruch als vielmehr die Beschaffenheit — irgendwie scharf und metallisch.«

James blickte sie fragend an. Anna fuhr fort: »So ist es jetzt auch: Wenn ich Ihnen etwas über seinen Tod erzählen soll, wird mein Gedachtnis plötzlich ganz leer. Und ich habe auch nicht vor, tiefer zu graben, bloß um ihnen ein paar Tränen aus erster Hand zu liefern.«

James hob die Augenbrauen und nickte. Ihre Aufrichtigkeit musste man einfach akzeptieren.

»Wissen Sie«, sagte sie und beugte sich vor, als ob Sie sich wieder für ihn erwärmte, »was mich fertig macht, ist die Frage, warum alles immer noch so ungeklärt ist. Diese Mauer aus Schweigen ist doch seit der Einführung der Wahrheitskommission in den meisten Fällen zusammengebrochen — jedenfalls, was die Polizei betrifft — aber im Fall von Paul und Jacob gibt es immer noch absolut nichts Neues.«

»Vielleicht ist es ja so undurchsichtig, weil niemand Klarheit haben will. Vielleicht war die Sache ja komplizierter und nicht bloß ein Anschlag der Sicherheitspolizei auf die Widerstandskämpfer.«

»Möglich ist natürlich alles.« Anna nahm ihr Glas und trank einen Schluck. »Lange Zeit war ich fest davon überzeugt, alles würde ans Licht kommen. Dann habe ich beinahe ebenso lange geglaubt, ich müsse mich mit der Möglichkeit abfinden, nie zu erfahren, was eigentlich passiert ist. Aber inzwischen habe ich wieder Hoffnung. Ja, ich bin mir sogar ganz sicher. Das Geheimnis wird sich aufklären!«

»Und wenn nicht?«

Anna runzelte die Stirn, dann verzog sie den Mund zu einem halben Lächeln und schüttelte den Kopf.

»Was?« James sah verwirrt aus.

»Wie lange sind Sie schon Journalist?«

»Was…Wie meinen Sie das?«

»Ich will damit sagen, das war eine dumme Frage.«

»Tut mir Leid. Ich versuche …« Einen Augenblick lang rang er um Worte. »Ich versuche bloß zu verstehen, was Sie…Sie zu verstehen. Mehr nicht.«

Annas Gesicht war seinem nun näher gekommen, ihre Arme ruhten vor ihr auf dem Tisch, die gefalteten Hände waren nur Zentimeter von seinen entfernt. »Ich muss es einfach wissen.« Sie flüsterte beinahe. »Ich will es viel dringender wissen, als Sie in Ihrem Leben je etwas herausfinden wollten. Jede Sekunde will ich es wissen, mit jeder Faser meines Seins. Es ist so, als ob man seine genetische Herkunft wissen will. Warum man so ist, wie man ist.«

Er war gefesselt von ihrer Intensität. Unfähig sich zu bewegen oder zu reagieren, konnte er ihr nur zuhören.

»Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich einfach loslassen könnte. Ich könnte loslassen, wenn endlich irgend jemand diesen einen dunklen Teil meines Lebens erhellen würde. Wenn bloß irgendjemand sagen würde, was passiert ist, das Unerklärliche erklären könnte.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. »Ich glaube, dann würde ich endlich frei sein.«

James hatte es regelrecht den Atem verschlagen. Er lehnte sich zurück und starrte sie mit unverhohlener Faszination an.

Was ihn so fesselte, war ihre Selbstkontrolle und die Leidenschaft, die so dicht unter der Oberfläche pulsierte.

»Und wenn etwas herauskäme, was Sie lieber gar nicht erfahren wollten?«, fragte er leise.

»Aber dann würde ich wenigstens Gewissheit haben!«, erklärte sie. Ihre Stimme hatte wieder normale Lautstärke angenommen.

»Aber würden Sie damit wirklich klarkommen?«

Anna dachte einen Augenblick nach. »Na ja, schließlich bin ich ja auch mit allem anderen klargekommen«, sagte sie, und dann lächelte sie mit funkelnden Augen.

James erwiderte ihr Lächeln. »Ja, das kann man wohl sagen.«

In diesem Moment wurde das Essen serviert, und das ermöglichte ihnen eine willkommene Pause. Nachdem die Kellnerin gegangen war, herrschte kurze Zeit Schweigen, und Anna fing an zu essen.

»Glauben Sie denn jetzt, dass all diese Erlebnisse sie zu einem verkorksten Menschen gemacht haben?«, fragte James nicht ganz ernst. Anna lachte.

»Nein, glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, glaube ich sogar, dass ich sehr viel weniger verkorkst bin als die meisten anderen Menschen, wahrscheinlich sogar weniger als Sie!«

»Hmm, dann müssen meine Informationen über Sie wohl falsch gewesen sein …«, konterte er scherzhaft.

»Wie meinen Sie das?«

»Man hat mir berichtet, dass Sie ein Workaholic sind, dass Sie nicht ausgehen, nicht viel reden — und schon gar keine Interviews geben.«

»Ist das denn ein Interview?« Sie ging auf sein Spiel ein.

James lächelte. »Oh nein, das ist bloß eine Unterhaltung.«

»Tja, die meisten Unterhaltungen sind überflüssig«, sagte sie, während ihr Tonfall wieder ernst wurde. »Es sind bloß Worte, mit denen man Freude oder Unzufriedenheit, Abneigung oder Nicht-Gefallen zeigt — oder Drohung, Dominanz oder Unterwürfigkeit.« Während Sie sprach, schienen ihre Hände jedes einzelne Wort abzuwägen.

»Oder Anziehung«, fügte er hinzu.

Sie blickte ihn scharf an. »Oder Anziehung«, pflichtete sie ihm bei.

»Und Sie halten sich für weniger verkorkst als mich«, meinte er grinsend.

»Ja. Und in meinem Leben gibt es auch erheblich weniger Unruhe.«

Sie beendeten das Essen in wohltuender Stille. James rauchte noch eine Zigarette.

»Sie sind also ein stilles Wasser«, meinte er und atmete den Rauch aus. »Nein, nicht still, bloß sparsam mit Ihren Worten. Aber das ist ja sowieso alles überflüssige Unterhaltung.«

Sie beugte sich vor, ihre Augen leuchteten leicht belustigt, aber vielleicht war es auch bloß die Wirkung des Weins. »Sie wollten mir doch etwas über Paul sagen«, meinte sie.

»Ja. Ja, das wollte ich.«

James spürte, wie er mit einem Donnerschlag auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte. Er hatte keine Ahnung, wie er das Thema platzieren sollte, und wusste auch gar nicht, ob er das überhaupt noch wollte. Wer zum Teufel war er denn, ihr das anzutun?

»Also los, dann lassen Sie mal hören!«

»Okay.« Er holte tief Luft und wagte einen Vorstoß. »Haben Sie je als Spitzel gearbeitet?«, fragte er und deutete dabei mit seiner Zigarette auf sie, eine scherzhaft übertriebene Geste der Einschüchterung, die, wie er hoffte, den Schlag etwas abmildern würde.

Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er sie schon. Ihr Blick verschloss sich so schlagartig, dass man das Knallen der unsichtbaren Fensterläden beinahe hören konnte. Das verbale Tänzchen war beendet, die Musik hielt abrupt an, als wäre die Nadel kreischend von einer Platte gesprungen, und ein unangenehmer Missklang blieb in der Luft zurück.

»Wie bitte?«

James rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her, öffnete den Mund, um zu sprechen, und schloss ihn dann wieder. Er beugte sich vor und drückte seine Zigarette aus. Blickte sie wieder an. Die Kälte in ihren Augen war erschreckend; es war schwer, ihrem Blick standzuhalten.

»Anna, diese Geschichte wird Ihnen nicht gefallen.«

»Nun, das wissen wir wohl erst, wenn ich sie gehört habe.« Sie sprach ruhig, doch ihr Ton war wie ein scharfes Messer.

»Sehen Sie…«, sprach er widerwillig und mit sanfterer Stimme. »Wussten Sie, dass Paul Lewis eine Informantennummer der Sicherheitspolizei hatte?«

Anna runzelte die Stirn. »Sie meinen eine Aktennummer?«

»Nein, ich meine eine Informantennummer. Ich habe eine Quelle, in der seine Informantennummer steht.« Er wiederholte das ganz langsam. »Daraus geht hervor, dass Paul«, James legte eine Pause ein und räusperte sich vorsichtig, ehe er weitersprach, »… dass Paul für die Gegenseite gearbeitet hat.«

Als er das ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er ebenso gut die Zigarette auf ihrer Hand hätte ausdrücken können.

»Wollen Sie damit sagen, dass er ein Spitzel war?«, fragte Anna ungläubig.

»Ja, das will ich damit sagen.«

»Aber wer erzählt denn solchen Scheiß?« Sie rang nach Worten, während ihre Empörung von Sekunde zu Sekunde größer wurde. »Ich meine, die Tatsache, dass die beiden umgebracht wurden — und wie sie umgebracht wurden —, sollte doch reichen, um das zu widerlegen! Warum sollten die Bullen einen der ihren umbringen?«

»Es wäre nicht das erste Mal«, entgegnete James.

Sie nickte. »Das stimmt. Das stimmt wohl. Aber das beantwortet nicht die Frage, warum gerade Paul und Jacob?« Ihr Tonfall war nicht mehr ganz so scharf wie zu Anfang. Sie holte tiefLuft. »Also, Sie haben da diese Geschichte gehört. Und wo sind die Beweise?«, verlangte sie, als ob das die Sache ein für allemal klären würde.

»Okay«, seufzte er. »Ich habe hier ein Blatt Papier aus einer alten Akte und ein paar Informantenberichte, die ich mit den Nummern in der Akte verglichen habe.« James griff in die Brusttasche seines Hemds und zog das einzig brauchbare Stück Papier hervor, das er aus der in London erworbenen Akte gerettet hatte. Dabei waren auch drei zusammengefaltete maschinengeschriebene Blätter aus Informantenberichten. Er faltete sie auseinander und breitete sie auf dem Tisch vor ihr aus. Sie rührte sie nicht an.

»Ich bin durch Zufall darauf gestoßen«, fuhr er fort. »Eigentlich habe ich an einer ganz anderen Geschichte gearbeitet.«

James kam sich schäbig vor, als er ihre Reaktion beobachtete. Sie atmete schnell und flach, ihre Brust hob und senkte sich. Er betrachtete das erste Blatt und wünschte sich, er wäre Mrs. Groenewald nie begegnete und hätte diese unselige Spur nie weiterverfolgt, doch nun war es zu spät.

»Es ist eine Aufstellung von vier Namen und Nummern. Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen, doch als ich genauer hingeschaut habe, ist mir aufgegangen, dass es sich um eine Art Schlüsselcode handelt. Drei der Namen hatte ich noch nie gesehen. Ich habe Nachforschungen angestellt und dabei festgestellt, dass sie kleine Fische waren, nicht der Mühe wert, sie weiterzuverfolgen, doch es waren alles Männer, die als Informanten für die Polizei gearbeitet hatten. Der vierte Name ist der von Paul.« James senkte die Stimme. »Die Nummer neben seinem Namen stimmt überein mit der Nummer eines Informanten, der an Captain Frans Nel von der Sicherheitspolizei berichtet hat.« Er drehte das oberste Blatt um und brachte das darunter liegende zum Vorschein. »Das hier ist einer seiner Berichte. Das ist das Original, in Afrikaans.« Anna überflog die Seite mit professioneller Gründlichkeit. James hatte sich den Bericht übersetzen lassen, und wusste daher, dass er nur Banalitäten enthielt und weder Ereignisse noch Personen erwähnt wurden, die einen eindeutigen Rückschluss auf Paul Lewis erlaubten. Ihm war klar gewesen, dass sie das sofort sehen würde.

»Gibt es noch mehr?«

Er nickte und schob ihr die anderen beiden Berichte zu. Auch dort gab es allerdings nichts, was eindeutig belegen konnte, dass tatsächlich Paul Lewis diese Berichte getippt hatte.

Während Anna die Blätter las, massierte sie sich die Stirn mit den Fingerspitzen und hinterließ dabei rötliche Abdrücke auf ihrer Haut. James hätte sie am liebsten berührt und getröstet, doch als er ihren Arm berührte, zog sie ihn weg. Als sie mit den Papieren fertig war, blickte sie ihn an. Aus ihren Augen leuchtete Verachtung.

»Wissen Sie eigentlich, über wen wir hier reden? Wissen Sie, wer Paul ist?«

James entgegnete ruhig: »Genau deshalb wollte ich zuerst mit Ihnen sprechen.«

Sie schien ihn gar nicht zu hören.

»Pauls Hingabe an die Widerstandsbewegung war absolut, seine Integrität untadelig. Er hat sein Leben für den Kampf geopfert!«

»Und was sind dann diese Dokumente?«

Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß genau, dass Paul kein Spitzel war. Ich kenne Paul.«, erklärte sie bestimmt, die Stimme ganz heiser vor Erregung.

James fragte sich, ob sie absichtlich die Gegenwartsform gewählt hatte. Sie hatte es schon zum zweiten Mal getan.

»Wie können Sie sich daso sicher sein, Anna? Wie kann man sich sicher sein, dass man irgendjemanden so gut kennt?«

Sie starrte ihn verständnislos an. Die Antwort erschien ihr überwältigend einfach. »Man weiß es einfach. Man weiß doch, wenn jemand einen anlügt.«

James starrte auf das weiße Tischtuch. Das war es, ging ihm auf. Das war Anna Kriel. Eine wahre Gläubige, ein Mensch, der anderen unbesehen glaubte, der anderen Vertrauen schenkte, weil sie selbst vertrauenswürdig war und sich nichts anderes vorstellen konnte.

Plötzlich drängte sich ihm die Erinnerung an Alison auf. Hatte er von ihr und Alan gewusst? Er hatte es wohl gleichzeitig gewusst und nicht gewusst. Im Rückblick passte alles zusammen, doch damals hatte er ihr vertraut und deshalb nur gesehen, was er sehen wollte.

»Woher wollen Sie wissen, dass man Sie nicht übers Ohr gehauen hat?«, fragte Anna ihn etwas ruhiger, obwohl er ihren Zorn noch immer spüren konnte. »Diese Berichte und der Schlüsselcode — woher wollen Sie wissen, dass man Ihnen das nicht einfach untergeschoben hat?«

»Es ist möglich. Alles ist möglich«, sagte James leise. »Aber ich glaube es nicht.«

Anna schüttelte den Kopf, ihr Gesicht verzerrte sich voller Bitterkeit. »Und das ist alles, was Sie haben? Nichts, um es gegenzuchecken?«

James betrachtete wieder das Tischtuch, auf dem seine Finger unsichtbare Kreise zogen. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe — die anderen drei Namen haben sich tatsächlich als registrierte Polizeiinformanten erwiesen. Das ist Beweis genug für eine Veröffentlichung.«

Anna wandte heftig den Kopf ab und dann wieder zu ihm hin, als sei sie kurz davor, auszuspucken, zu schreien oder ihn zu schlagen.

»Und Sie werden das veröffentlichen?« Sie brachte die Frage kaum heraus.

James biss sich auf die Lippen; es fiel ihm schwer, ihrem Blick standzuhalten.

»Ja.« Er würde die Sache veröffentlichen. Es war eine große Story. Und es sah aus, als ob sie wahr wäre. Was sollte er sonst tun? Sie blickte ihn so entrüstet und verstört an, dass er ihr gern weitere Erklärungen gegeben hätte, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Außerdem war sie gar nicht bereit, ihm weiter zuzuhören. Anna stand auf, griff nach ihrer Handtasche und marschierte nach draußen, und James blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzuschauen.

16

Anna glaubte keinen Augenblick lang, dass auch nur ein Körnchen Wahrheit in James Kays Behauptungen war. Seine angeblichen »Beweise« waren viel zu sehr an den Haaren herbeigezogen, um Pauls Ruf auch nur anzukratzen. Es war bloß eine Schmutzkampagne von dem Stil, zu dem nur Journalisten in ihrer unersättlichen Sensationsgier fähig sind.

Trotzdem hatte die Begegnung mit James sie bis in ihre Grundfesten erschüttert. Während sie sich schlaflos hin und her wälzte, wurde ihr bewusst, dass ihre Unruhe auf das Gefühl des Wiedererkennens zurückzuführen war. Sie hatte das Gefühl gehabt, James zu kennen. Es war der gleiche Schauder der Vertrautheit, den sie erlebt hatte, als sie Paul zum ersten Mal begegnet war, eine Art innere Aufregung, die sie aufleuchten ließ. Die Symptome waren die gleichen — dieses Kribbeln im Bauch, die Befangenheit, die es ihr so schwer machte, ihm in die Augen zu schauen, die beängstigende und zugleich erregende Herausforderung, ihm nahe zu sein.

Sie ärgerte sich über sich selbst und hatte auch Schuldgefühle, so als ob sie den Schlag irgendwie verdient hätte, weil sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt, weil sie so offen mit ihm geredet hatte. Kay war Reporter; es gehörte zu seinem Job, ein Gefühl der Vertrautheit zu schaffen. Und dazu gehörte wohl auch, ein bisschen zu flirten und Charme zu versprühen. Der Zweck heiligte immer die Mittel.

Und sie hatte sich ihm nur allzu bereitwillig geöffnet und ihm Einblick in ihre Einsamkeit und Sehnsucht gewährt.

So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt; das war nicht das Leben, das Paul ihr versprochen hatte. Ihre Trauer hatte sie so gelähmt, dass sie sich nicht mehr nach vorn bewegen, sich nicht von der Tragödie lösen konnte, um wieder neu anzufangen, denn das hätte bedeutet, ihn aufzugeben. Es hätten er und sie und ihre Kinder sein sollen und ihr gemeinsames Leben im neuen Südafrika. Stattdessen hockte sie hier in ihrem Häuschen und teilte ihr Leben mit Geistern. Eine traurige, arbeitswütige Beamtin, die keine Zukunft, sondern nur eine Vergangenheit hatte.

James hatte den Schleier heruntergerissen und die wahre Anna enthüllt. Sie fühlte sich geschändet, bloßgestellt und schrecklich allein.

Am nächsten Morgen zog Anna sich an und ging los, um auf der Fourth Avenue Frühstück und die Sonntagszeitungen zu holen. Eine geliebte Wochenendroutine, die heute von Furcht überschattet war.

Es war noch früh. Die Straßen Melvilles waren leer und, wie immer an einem Sonntagmorgen, übersät mit den Spuren der vergangenen feuchtfröhlichen Nacht. Sie ging die Seventh Avenue entlang, den Kopf geneigt und die Hände zu Fäusten geballt, und hoffte inständig, dass James Kay seine Geschichte nicht veröffentlich hatte.

Doch das hatte er.

Anna konnte die Schlagzeile schon von weitem sehen. Es traf sie Wie ein Schlag. Fassungslosigkeit nagelte ihre Füße am Bürgersteig fest. Da, auf dem Zeitungsständer, zwischen duftenden Kisten mit Koriander und Mangos, stand es; in riesigen schwarzen Lettern, die ihr finster entgegenleuchteten:

WIDERSTANDSHELD IN WAHRHEIT SPITZEL DER SICHERHEITSPOLIZEI

Irgendwie gelang es Anna, ihren Körper über die Straße zu schleppen. j Unter der fetten Überschrift stand ein Untertitel:

Das Rätsel um Paul Lewis’ Ermordung verdichtet sich —

Exklusivbericht des Sunday Chronicle.

Ein Foto von Paul aus seiner Gewerkschaftszeit blickte ihr entgegen, mit trotzig erhobener Faust und entschlossenem Blick. Daneben befand sich eine Vergrößerung der handgeschriebenen Schlüsselcodes der Informanten — eine aufwändige Grafik, die Pauls Heroismus in den Dreck zog.

James Kays Unterton machte Anna so wütend, dass sie am liebsten geschrien hätte. Er schrieb so, als ob es sich tatsächlich um die Wahrheit handelte. Und genauso würden es die Leute auch lesen — oder jedenfalls viel zu viele Leute.

Es ist gut möglich, dass Jacob Oliphant in Unkenntnis der wahren Natur der Mission starb, auf die er und Lewis sich in jener Nacht begeben hatten. Denn Paul Lewis war der Verräter mitten unter ihnen.

Hektisch überflog Anna die Seite und versuchte, alles auf einmal aufzunehmen, während ihr Blick hier und da an einzelnen Sätzen hängen blieb.

Wann und durch wen wurde Lewis als Polizeispitzel rekrutiert? Wer war Lewis’ Betreuer bei der Sicherheitspolizei? War es Frans Nel, der Captain, an den er berichtete? Oder sind noch andere Gestalten hinter diesem düsteren Geheimnis verborgen? Und nicht zuletzt: Wer aus Lewis’ Umgebung und seiner Zelle wusste von seiner Tätigkeit als Spitzel? Seine Lebensgefährtin Annn Kriel bestreitet hartnäckig, dass Lewis ein Spion gewesen sei.

Anna stopfte die Zeitung wieder in den Ständer zurück und stolperte weiter. Ihr drehte sich alles im Kopf herum.

Dieses Schwein! Wie konnte jemand so etwas tun? Warum tat jemand bloß so etwas?

Zu Hause schaltete Anna ihr Handy ein. Es gab eine Reihe Nachrichten auf ihrer Mailbox, aber nur eine stammte von diesem Morgen. Erstaunlicherweise war sie auch noch von James Kay, der mit stockender, zaghafter Stimme sagte: »Hallo Anna. Ich denke die ganze Zeit über an Sie. Rufen Sie mich bitte zurück, wenn Sie können.« Scher dich zum Teufel, murmelte sie und löschte den Anruf.

Nun blieb ihr nur noch eins übrig. Anna stieg in ihr Auto und fuhr nach Fordsburg zu ihrer Mutter.

Yasmin Kriel wohnte immer noch im gleichen Apartment, obwohl es mit den Jahren immer enger zu werden schien, während die Schwiegersöhne, Möbel und Enkelkinder immer mehr wurden. Als Anna kam, stand Yasmin gerade im Morgenmantel in der Küche und fütterte Natashas jüngstes Kind.

»Teufel noch mal!«, rief ihre Mutter, während sie mit den Riegeln am Sicherheitsschloss kämpfte. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?« Anna fiel ihrer Mutter in die Arme, ein schwieriges Unterfangen, da Yasmin verglichen mit ihren Töchtern winzig war. Diese hatten alle den kräftigen Körperbau des Vaters geerbt. Anna zitterte, während sie sich an den zarten Körper ihrer Mutter sinken ließ und ihre tröstenden Koalaarme sie umklammerten.

Das Baby, das Annas Zustand zu spüren schien, fing an zu weinen. Yasmin machte sich aus der Umarmung ihrer Tochter los und nahm das Baby auf den Arm. »Was ist denn passiert?«, fragte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme, während sie dem Baby die Flasche gab.

Anna sank auf einen der Küchenstühle und vergrub den Kopf in den Händen. »Du hast die Zeitung also noch nicht gelesen?«

Yasmin schüttelte den Kopf, während sie sich das Kind auf der Hüfte zurechtrückte und den Wasserkocher anstellte.

Anna murmelte durch ihre Finger: »Es steht auf der Titelseite des Chronicle. Paul Lewis war ein Spitzel.«

»Was?«, kreischte Yasmin.

»Das steht da, Mama!«

Yasmin brach in Gelächter aus. Anna nahm die Hände vom Gesicht und sah, wie ihre Mutter kichernd und kopfschüttelnd mit der Teekanne hantierte. »Aber das ist doch lächerlich!«, meinte sie empört. »Komm, ich mach dir erst mal einen schönen süßen Tee, und dann legst du dich ins Bett.«

Willig fügte Anna sich der Fürsorge ihrer Mutter, ließ sich in ihr großes, weiches Bett verfrachten und mit Tee und scharfem Essen verwöhnen. Sie fühlte sich schon viel besser. Ihre Mutter hatte Recht, es war einfach lächerlich, dass irgendjemand Paul verdächtigte, ein Spitzel gewesen zu sein. Die ganze Stadt würde über James Kay und seinen Artikel lachen.

Dann klingelte ihr Handy.

Rachels Wut war geradezu beruhigend. Sie wetterte etwas über Verleumdungsklagen und ganz allgemein darüber, James Kay und seine Zeitung fertig zu machen.

Willem Swanepoel schien es nicht für nötig zu halten, den Sunday Chronicle zu verklagen, sondern meinte sogar, das könne sich als kontraproduktiv erweisen. »Es bringt nichts, der Geschichte auch noch Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem man sie vor Gericht bringt.« Er glaubte nicht, dass Pauls Ruf Schaden erleiden könne. »Das sind doch alte Kamellen, eine typische Verleumdungskampagne, all dieses Gerede über Gegenspionage. Sie haben es bloß auf die Titelseite gesetzt, weil sie diese Woche keine anderen Sensationsmeldungen haben.« Seiner tiefen Stimme mit dem wohlklingenden afrikaansen Akzent gelang es, sie zu beruhigen.

Joe war unbeeindruckt von den Vorwürfen, fragte sich allerdings besorgt, welche Motive zu dem Artikel geführt haben konnten. Anna sprach nicht lange mit ihm. Statt sich auszuruhen und seinem Körper die Gelegenheit zu geben, sich von der Schusswunde zu erholen, die Bazooka ihm zugefügt hatte, hatte Joe den Großteil der Woche auf einer Polizeiwache verbracht und Bazooka Rabopanes Verhör geleitet. Als er anrief, war er die halbe Nacht dort gewesen und klang müde. »Es ist keine Katastrophe, aber wir müssen diesen Kay ernst nehmen und herausfinden, was er vorhat. Ich kümmere mich diese Woche darum.« Anna dankte ihm und riet ihm, sich ein bisschen Schlaf zu gönnen. »Dafür habe ich später noch genug Zeit«, scherzte er und legte auf.

Doch es gab auch andere, die anriefen und besorgt und zweifelnd klangen. In diesen Fällen versuchte Anna, sie zu beruhigen und wiederholte immer wieder, dass an der Geschichte nichts wahr sei. Sie merkte zwar, dass sie die Anrufer durch ihre Gewissheit beruhigen konnte, doch trotzdem war deutlich, dass von dem Dreck etwas hängen geblieben war.

»Warum gönnen wir uns nicht eine kleine Erholung und fahren zusammen nach Durban?«, schlug ihre Mutter aufmunternd vor. »Und kommen wieder, wenn die ganze Aufregung sich gelegt hat?«

Anna lächelte. »Das hat Paul mir auch vorgeschlagen, am Tag, bevor er ermordet wurde. Er wollte mit mir nach Durban fahren, sobald sie zurückkämen.«

Ihre Mutter strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Ein paar Tage Ferien wären doch schön. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann wir das letzte Mal Urlaub hatten«, murmelte sie.

Anna lehnte sich in den Kissenberg zurück, den ihre Mutter in ihrem Rücken aufgeschichtet hatte. Nach Durban war ihr Vater jedes Jahr mit ihnen während der Schulferien gefahren. Es waren schöne Tage mit der ganzen Familie gewesen, obwohl ihr an diesem Morgen seltsamerweise nur die traurige Erinnerung an ein enttäuschendes Erlebnis in den Sinn kam.

Sie war sieben Jahre alt gewesen, und sie und ihre Schwestern trugen die gleichen Kleidchen, die ihre Mutter ihnen genäht hatte. Ihre Haut war von der Sonne dunkler geworden und hatte ein glänzendes Kaffeebraun angenommen. Das Haar hatten sie sich zu Zöpfchen geflochten und mit Pompons und Schleifen in passendem Rosa geschmückt. Sie standen an der Strandpromenade, pressten die Gesichter zwischen die Zaunlatten, die Newtons Vergnügungspark umgaben, und starrten sehnsüchtig den glücklichen Gesichtern der weißen Kinder hinterher, die hoch oben in der Gondel schaukelten, auf der Krake im Kreis herumsausten oder sich beim Autoskooter jagten. »Warum«, hatte sie gequengelt, »warum können wir da nicht rein, Papa?«

»Weil es nur für Weiße ist.«

»Aber WARUM, Papa?«

Es war eine der wenigen Fragen gewesen, die ihr Vater nicht beantworten konnte.

Anna ging es besser, als sie sich von ihrer Mutter verabschiedete, doch Unruhe und Beklemmung hatten sie noch nicht ganz verlassen. Es kam ihr so vor, als ob irgendetwas Wichtiges sich verändert hätte, aber was es war, wusste sie nicht.

Einen Vorgeschmack erhielt sie jedoch noch spät an diesem Abend, als sie einen Anruf von der Sekretärin des Ministers bekam. Er wolle sie gleich morgen Früh in seinem Büro sprechen. Das schien nichts Gutes zu verheißen. Warum rief er sie nicht selbst an? Schließlich war er ein alter Freund, Anna kannte seine Frau, war sogar schon manchmal als Babysitter für seine Kinder eingesprungen. Es war offensichtlich, was hier geschah. Die Vorwürfe gegen Paul, zogen, falls etwas Wahres daran war, auch ihre Integrität in Zweifel. Wie konnten zwei Menschen sich so nahe stehen, ohne über die tiefsten, dunkelsten Geheimnisse des Partners Bescheid zu wissen?

Auch in dieser Nacht schlief Anna kaum. Sie war nervös und fühlte sich in Gefahr. Irgendwann nahm sie ihre Pistole aus dem Safe, lud sie und legte sie neben sich in die Nachttischschublade.

17

James kämpfte mit seiner Konzentration. Es lag nicht nur an Bara, einem Krankenhaus, das selbst die härtesten Nerven erschüttern konnte. Er hatte das Krankenhaus schon oft besucht, doch mit jedem Mal schockierte es ihn eher mehr als weniger. Es war eine einzige, riesige blutende Unfallstation, deren Betrieb die überlasteten Ärzte kaum aufrechterhalten konnten. Sie machten sich nicht länger die Mühe, zu dokumentieren, ob ein Patient HIV-positiv war. Positiv war der Normalfall, nicht die Ausnahme, und nur der Status der negativen Patienten wurde festgehalten, doch ihre Zahl wurde immer geringer.

James fand den Gestank und die riesigen Ausmaße des Krankenhauses unerträglich. Er musste dieses Interview schnell hinter sich bringen.

Refiloe, die Frau, die vor ihm auf einem Krankenhausbett lag, war einunddreißig Jahre alt, eine Hausangestellte, die täglich mit dem Taxi von ihrem Zuhause in Meadowlands zu ihrer Arbeit in Sandton fuhr. Vor vier Monaten war sie vergewaltigt worden. »Ich hatte Schmerzen im Unterleib«, erklärte sie mit leiser Stimme, »deshalb hab ich einen Arzt gesucht, der mir helfen kann. Der Arzt hat mir Blut abgenommen und mir dann gesagt, dass ich diese Sache habe. Dieses HIV.« Sie blickte James nicht in die Augen, während sie sprach, lag nur regungslos da, die Hände auf dem Bauch gefaltet. »Wenigstens weiß ich, dass er auch sterben muss«, murmelte sie. »Das ist mein einziger Trost!«

James konnte das Krankenhaus gar nicht schnell genug verlassen. Auf seiner Flucht zum Ausgang eilte er durch Korridore, wich Krankenschwestern, Rollstühlen und verwirrten Angehörigen aus. Willkommen in Südafrika, dachte er wütend. Willkommen in der Hölle, die es bedeutete, schwarz und arm zu sein und in einer Township zu leben. Willkommen zu nächtlichen Stimmen und Eindringlingen mit Taschenlampen. Diese junge Frau war auf die Straße gezerrt worden und hatte sich die Lunge vergeblich aus dem Leib geschrien. Niemand war ihr zur Hilfe gekommen — die Nachbarn hatten hinter ihren geschlossenen Fenstern und verriegelten Türen gehockt und bloß den Schreien einer weiteren verzweifelten Frau gelauscht.

Er zündete sich eine Zigarette an, noch ehe er den Ausgang erreicht hatte. Niemand hielt ihn davon ab.

Vergewaltigung ekelte ihn an. Es war ein Verbrechen, das er einfach nicht begreifen konnte. Er konnte sich zwar vorstellen, zu stehlen, jemanden umzubringen oder das Gesetz auf tausenderlei andere Art und Weise zu übertreten, falls er dazu gezwungen wäre, doch Vergewaltigung war ihm schlichtweg unvorstellbar. Und jetzt starb diese junge Frau wegen eines Schweins, das ihr keine andere Wahl gelassen hatte. Er musste sich diese Geschichte so schnell wie möglich von der Seele schreiben.

Er sprang in sein Auto, ließ den Motor an, schaltete die Stereoanlage ein und fuhr los.

Die Autos auf der Stadtautobahn glitzerten wie stählerne Wanzen. Die Nachmittagssonne hämmerte auf seinen Kopf, während er fuhr. Er holte eine Zigarette aus dem Päckchen, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, und zündete sie an. Alles in allem hätte er sich eigentlich prima fühlen müssen. Die Arbeit war toll, die Storys unglaublich gut. Seine Recherche der Überfälle auf die Geldtransporter köchelte schön im Hintergrund vor sich hin. Er hatte keinerlei Bindungen und auch keine Komplikationen. Doch die Wahrheit war, dass Anna Kriel ihm nicht aus dem Kopf ging.

Sie war so merkwürdig unnahbar, auf geradezu angriffslustige Weise allein. Er fragte sich, ob es Angst war, die sie von anderen Menschen fern hielt, es konnte doch nicht allein an der Trauer liegen. Doch nicht nach einer so langen Zeit. Oder vielleicht doch? Wenn jemand aus Angst oder Zurückhaltung nie sein Herz riskiert, muss doch sein Leben auf Dauer unweigerlich verarmen — zu einem Nichts werden. Das Leben käme einem zwar bestimmt sicherer vor — niemand griff nach einem und auch man selber streckte die Hände nie aus — doch so musste es bestimmt nicht sein.

Seit diesem verheerenden Mittagessen kehrten seine Gedanken gegen seinen Willen immer wieder zu ihr zurück. Die aufrichtige, schöne Anna, die die große Liebe ihres Lebens verloren hatte, sich ihren Geliebten aber im Geist lebendig hielt, um mit der Gegenwart klar zu kommen. Die sich Joe als Freund gewählt hatte, weil er nicht an einer festen Beziehung interessiert war und vielleicht auch, weil er Paul so nahe gestanden hatte.

James hätte sich in den Hintern treten können, weil er so grob und zynisch in ihr Leben geplatzt war und geglaubt hatte, sie würde sich für seine kleine Entdeckung interessieren. Er hatte zwar keinen journalistischen Ehrenkodex gebrochen, doch sein Vorgehen wurmte ihn trotzdem. Vielleicht lag es ja bloß daran, dass er eine Schwäche für seinen Gegenstand entwickelt hatte. Das darf mir nicht wieder passieren, erteilte er sich einen Verweis.

Er hatte die Situation mehrfach mit seinem Chefredakteur Chris diskutiert, der über den Riesenknüller und die Reaktionen darauf mehr als erfreut war. Die Tageszeitungen waren geradezu explodiert. Der Star hatte Bilder von Anna gebracht, wie sie ihr Büro verließ, die Hand erhoben, um Fotografen abzuwehren. Es gab Gerüchte über eine Überprüfung ihrer Vergangenheit, darüber, dass sie »bis auf weiteres« suspendiert sei, was James nicht nur absurd, sondern auch noch völlig ungerechtfertigt fand.

Er hatte nicht geahnt, was er da auslösen würde, und es war ziemlich deutlich, dass sie an seiner Entschuldigung nicht interessiert war, denn sie hatte keinen seiner Anrufe erwidert. Er musste seine Versuche der Schadensbegrenzung wohl oder übel einstellen. Schade, dachte er, während er nach Hause fuhr.

Das Telefon klingelte. Eine willkommene Ablenkung. Sogar noch willkommener war die Singsangstimme der Anruferin, Ilse, die verlangte, dass er sie sofort abholen solle. Sie hatte gerade ein Interview im Parktonian Hotel in Braamfontein gedreht und sehnte sich nach einem Drink.

»Dein Befehl sei mir Wunsch!«, erklärte er fröhlich und bog an der Smit Street nach links von der Autobahn ab.

Er sah sie schon, als er erst die Hälfte des Hügels hinaufgefahren war. Ilse sah großartig aus, ihr Haar leuchtete in frisch gefärbtem Hennarot, und sie trug ein kurzes limettengrünes Kleid mit einem sexy Reißverschluss auf der Vorderseite. In einer Hand hielt sie eine grellrosa Kunststoffhandtasche, in der anderen eine brennende Zigarette. Sie grinste und hüpfte vergnügt wie ein Kind auf und ab, als sie sein Cabrio erspähte.

Sie kletterte über die Beifahrertür hinein und enthüllte dabei ein Stück ihrer lila Spitzenunterhose. »Heiße Kiste!«, hauchte sie mit rauer Stimme, während sie sich in den weichen Ledersitz neben ihn sinken ließ. James grinste, er freute sich, sie zu sehen und war stolz, ein so cooles Auto zu fahren. Das beklemmende Gefühl des Nachmittags wurde durch Ilses verruchtes Lippenstiftlächeln sofort beiseite gefegt, und auf einmal erschien ihm die Stadt im goldenen Licht regelrecht magisch.

An der Kreuzung zwischen Empire und Jan Smuts Avenue musste er an einer roten Ampel halten und drehte sich zu ihr. Er lächelte hilflos, während er sie ganz auf sich wirken ließ. Sie grinste ihn kokett an und befeuchtete sich mit der rosa Zungenspitze die Lippe.

Gerade wollte er ihr die Zigarette aus der Hand nehmen, als er plötzlich eine Bewegung bemerkte. Ein Mann war aus dem Nichts aufgetaucht, rannte an den Autos vorbei und steuerte auf die Beifahrerseite des senffarbenen VW-Käfers zu, der vor ihnen stand. Das schreckliche Geräusch von splitterndem Glas erklang, als er mit seinen umhüllten Händen die Scheibe einschlug. Der Mann griff zu und war im nächsten Moment schon auf und davon, eine braune Handtasche schwang von seiner Schulter herab. Er sprintete über die Kreuzung auf den Grünstreifen Richtung Autobahn und war in wenigen Sekunden aus dem Blickfeld verschwunden. Alles war so schnell gegangen, dass James sich einen Moment lang gar nicht sicher war, ob es tatsächlich geschehen war.

»Hast du das gesehen?«, fragte er wie vor den Kopf geschlagen und starrte fassungslos die Lücke im Gebüsch an, in der der Dieb verschwunden war.

Ilse zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Ja.«

Die Fahrerin des Autos vor ihnen schien erstarrt zu sein, ihre Hände klebten am Lenkrad, und sie starrte mit weit aufgerissenem Mund die gefährlichen Glasscherben an, die noch aus dem Fensterrahmen ragten. James öffnete die Tür und wollte aussteigen, um ihr zu helfen.

»Was hast du denn vor?«, kreischte Ilse.

Sie klang so entsetzt, dass er wie angewurzelt sitzen blieb, einen Fuß noch im Auto, den anderen schon auf der Straße.

»Ich will bloß sehen, ob mit der Frau alles in Ordnung ist.«

»Natürlich ist alles mit ihr in Ordnung! Komm jetzt zurück ins Auto!«

Ilse lachte halb, halb kreischte sie. James starrte sie entsetzt an. In der Zwischenzeit hatte sich der Verkehr wieder in Bewegung gesetzt, die Autofahrer hinter ihm hupten und schimpften wütend, und die Frau, die gerade erst ihre Handtasche eingebüßt hatte, fuhr schon wieder zitternd weiter.

»Willkommen in der Provinz Gauteng«, kicherte Ilse, während James einen Gang einlegte.

Eine Zeit lang fuhren sie schweigend weiter. Es war weniger der Zwischenfall selbst, der ihn erschüttert hatte, als vielmehr die Reaktionen von Ilse und den anderen Autofahrern, so als sei der Raubüberfall so unbedeutend und alltäglich, dass man kaum darüber nachdenken musste. Und noch viel schlimmer war, dass es offenbar als ganz selbstverständlich hingenommen wurde, dass das Opfer irgendwie allein klarkommen musste.

»Ich kann dieses Wort nie ohne Schwierigkeiten aussprechen«, meinte James schließlich. »Gauteng. Es klingt immer so, als ob man ausspuckt. Beim ’Gau‘ rollt man den Schleim im Mund herum, und dann beim ’teng‘ spuckt man ihn aus.«

»Igitt!«, schrie Ilse in genüsslichem Ekel.

James ließ das Auto langsam durch Melville rollen und betrachtete die Leute in den vollbesetzten Restaurants und Bars, die das Treiben im sanften Abendlicht genossen. Er parkte vor der Ant Bar, einem von Kerzen erleuchteten Lokal, wo die anderen Mitarbeiter aus Ilses Team schon seit dem Mittagessen versumpft waren.

Das Gespräch drehte sich um die Wahrheitskommission, um Gewalt und Verbrechen. Die Wortfetzen flogen in einem harten und schnellen Schlagabtausch hin und her, an diesem Tisch gab es keine zart besaiteten Gemüter. Sie waren abgebrüht genug, alles zu ertragen, mit dem das Leben sie konfrontierte. Und sie schafften es auch, diesen Eindruck erfolgreich aufrechtzuerhalten; niemand gestattete es sich an diesem Abend, Risse in seinem Panzer sichtbar werden zu lassen.

Ilse saß neben James, versprühte ihre Funken und lief zur Höchstform auf, während der Abend zur Nacht wurde und sich immer mehr leere Gläser vor ihnen türmten. James machte das Spiel allmählich Spaß, er genoss die Aufmerksamkeit und das gedankenlose Flirten, obwohl er noch nicht bereit war, es auch bis ins Letzte durchzuziehen.

Und irgendwann, unterstützt von der hormongeschwängerten Luft, wandte sich das Gespräch auch auf unumwundene Weise dem Thema Sex zu.

Ilse blinzelte durch den Zigarettenrauch und zeigte auf einen großen, bärtigen Mann, der gerade den Raum betreten hatte, am Arm ein Mädchen, das jung genug war, seine Tochter zu sein. »Mein Ex!«, erklärte sie.

James war nicht besonders interessiert. »Üble Geschichte?«, erkundigte er sich.

Ilse nickte. »Ein Scheißkerl.«

James wusste nicht, was er sagen sollte. Er trank noch einen Schluck von seinem Drink. Er fühlte sich ausgesprochen beschwipst.

»Aber ich bin längst drüber weg«, erklärte Ilse. »Wie meine Mutter immer zu sagen pflegte: Die einzige Methode, über einen Mann hinwegzukommen, ist, sich unter den nächsten zu legen!«

»Und unter wen hast du dich gelegt?«

Ilse lachte mit offenem Mund, die feuchten Lippen dicht an seinen.

»Oh, unter alle, mein Schatz«, sagte sie gedehnt. »Einfach alle.«

Achselzuckend leerte James sein Glas. »Also ist die Liebe tatsächlich tot«, murmelte er dann mit düsterer Stimme und gab den grübelnden Dichter.

Ilses Augen schimmerten, während sie mit großartiger Geste, aber schon etwas lallender Aussprache deklamierte: »Ja, mein Schatz. ›Was wir Liebe nennen, ist bloß das Verlangen, in Körper, Herz und Verstand eines anderen Menschen unserem eigenen, unsicheren Selbst zu schmeicheln, es zu erwecken und am Leben zu halten.‹« Sie beendete ihren Vortrag mit einem kühnen Herumschwenken ihres Weinglases, dann hob sie es zum Mund und leerte es in einem Zug.

»Ich wette, du hast keine Ahnung, wo das her ist, Mr. Oxford und Cambridge, was?« Sie stellte das Glas mit einem triumphierenden Knall auf den Tisch.

James sah sie grinsend an. »Stimmt, ich habe keine Ahnung.«

Ilse neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn einen Augenblick, ehe sie selbstzufrieden erwiderte: »Paul Gerardy, L’homme et l’amour.«

»Sehr beeindruckend«, meinte er. »Ich muss wohl mal wieder mein Zitatenlexikon wälzen! Man weiß nie, wann man mal ein passendes Zitat gebrauchen kann!«

Diese Antwort gefiel Ilse gar nicht. »Sie ist dir wohl wirklich nahe gegangen, was?«, fragte Sie scharf.

»Wer?«

»Die Frau, die du in London gelassen hast«, sagte Ilse und wischte sich mit den Fingerspitzen über den Mund. »Die, über die du nie sprichst.«

»Ach so«, meinte er langsam. »Die, über die ich nie spreche.«

Ilse legte ihre Hand auf sein Bein, und ihre Ringe bohrten sich durch seine Jeans. Er fühlte sich betrunken und high. Die warme Bar und das lockere Geplänkel rissen ihn mit.

»Und wie steht’s mit dir und der Eiskönigin?« Ilse sprach das Wort »Eis« mit einer Betonung aus, die es noch kälter und schärfer erscheinen ließ, als es ohnehin schon klang.

»Wer könnte denn wohl damit gemeint sein?«

»Anna Kriel«, sagte sie und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar.

»Ja, das ist jetzt mal eine Geschichte«, seufzte er, wich aber ihrem Blick aus.

Ilse stand unvermittelt auf und streckte ihm die Hand entgegen. James ergriff sie und folgte ihr. Sie führte ihn zu den Toiletten, ihre Hand fühlte sich klein und heiß an. Sie drängte ihn vor sich her in die Kabine, auf der »Damen« stand, und lächelte dem Mädchen zu, das aus der benachbarten Herrentoilette kam. Das Mädchen zuckte nicht mal mit der Wimper. Reges Kommen und Gehen auf den Toiletten war hier gang und gäbe. Tausende von koksseligen Nächten hinterließen ihre Spuren auf den Toilettendeckeln Melvilles.

Ilse kauerte sich vor die Toilette, und ihr Kleid rutschte hoch. Sie holte etwa ein Viertelgramm aus dem kleinen Origami-Umschlag, den sie aus ihrer Handtasche gefischt hatte. Dann schob sie das Pulver mit ihrer Vielfliegerkarte zu zwei langen Startbahnen zusammen. James lehnte an der Tür, starrte zum Deckenventilator empor und betrachtete die Fliegen, die sich um die Lampe scharten. Er fühlte sich betrunken und war sich nicht ganz sicher, was er hier eigentlich machte. Er erlebte das zwar nicht zum ersten Mal, doch der Kick war inzwischen Schwächer geworden.

Er schaute Ilse an, die mit geneigtem Kopf neben der Toilette kauerte und sich darauf konzentrierte, den Geldschein zu rollen. Ihr Rock war so weit hoch gerutscht, dass er wieder ihren lilafarbenen Slip sehen konnte. Das ganze Bild deprimierte ihn irgendwie. Trotzdem beugte er sich herunter, um sich die Line reinzuziehen. Wo sie schon einmal da war.

Es traf ihn sofort wie ein Schlag. Eis ins Gesicht, Sturm im Gehirn, und ein poch poch pochendes Herz. Er fühlte sich super. Sie legte ihm die Hand in den Nacken und zog sein Gesicht zu sich heran. Ihr Mund war heiß und feucht, sie biss ihn in die Unterlippe, ließ ihre Zunge in seinen Mund gleiten,und es war einfach geil. »Komm, wir gehen«, flüsterte sie.

James fuhr leichtsinnig, eine Hand am Steuer, während er sich den lippenstiftverschmierten Mund mit der anderen abwischte. Die Straße war eine einzige verschwomme Ansammlung von Lichtern und Musik.

Im Haus angekommen, holte er eine fast leere Flasche Jack Daniels und zwei Becher aus dem Küchenschrank. Er gab ihr den Whisky, während sie durch die nahezu leeren Zimmer schlenderte. Dann schaltete er die einzige Neuerwerbung im Haus ein, die Stereoanlage, und ließ Musik laufen. Sie setzte sich auf das einzige Möbelstück, das einen solchen Komfort erlaubte, sein Bett. Dann zog sie einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, legte eine neue Line und bot ihm den Spiegel an wie das Mädchen aus der Martiniwerbung ihr Tablett. Er lächelte und zog sie sich in Sekundenschnelle rein.

Das Telefon klingelte. James ignorierte es, denn er wollte sie eigentlich küssen, doch Ilse stand zerstreut auf und ging zum Fenster, von wo aus sie den Garten zu betrachten schien. James beobachtete sie. Ilse hatte etwas Wildes, Animalisches an sich. Und es lag etwas Geheimnisvolles in dem Lächeln, das sich auf ihren Lippen ausbreitete, als sie sich vom Fenster abwandte und ihn durch das Zimmer hinweg ansah.

»Weißt du, bei dir habe ich immer das Gefühl, dass du nicht ganz bei der Sache bist.«

James legte sich auf das Bett zurück, stützte sich auf die Ellenbogen und wartete. Er war sich nicht sicher, ob er das wollte. Aber es war auch nicht so, dass er es nicht wollte. Wieder klingelte das Telefon. Nun konnte er nicht drangehen, ohne damit zu bestätigen, was sie gesagt hatte, deshalb ignorierte er das Klingeln.

»So als ob du zerstreut bist. Oder dir jemand anders im Kopf rumgeht.«

Ihr Gesichtsausdruck war neckend, halb vorwurfsvoll, halb Komm-doch-her-zu mir.

»Oh?« Diese Mischung aus Neugier und Koketterie war ihm zuwider. Er wusste nicht recht, was sie damit bezweckte und was er darauf erwidern sollte. »Willst du mich aushorchen?«

»Vielleicht?«

»Lass es lieber«, sagte er schroff.

Das Telefon hörte auf zu klingeln. Ilse fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann stellte sie ihren Becher auf die Fensterbank und kickte ihre Schuhe weg. Sie zog den Reißverschluss ihres Kleides auf.

»Eines Tages wirst du mir schon erzählen, was dich so hardegat gemacht hat.«

»Was ist das denn?«

»Hardegat ist ein afrikaanses Wort, das dich ganz treffend beschreibt, James.«

Sie grinste, zog sich in einer einzigen selbstsicheren Bewegung das Kleid über den Kopf und ließ es dann langsam auf den Boden gleiten. Sie wartete einen Augenblick, ehe sie das Zimmer durchquerte, und gab ihm so genügend Zeit, ihre milchweiße Haut und die lila Spitzenwäsche auf sich wirken zu lassen.

»Ich weiß nicht, ob mir der Klang gefällt«, antwortete er mit schwacher Stimme.

»Kann ich dir nicht verübeln, Kay, aber jetzt ist dieses Interview erst mal beendet!«

Sie kletterte auf das Bett und stieg mit gespreizten Beinen über ihn. Er lag auf dem Rücken und beobachtete sie, während sie sich hinabbeugte, um ihn Zu küssen. Er schloss die Augen. Ilse schmeckte nach Zigaretten und Kaugummi und roch nach Schweiß und einem süßlichen, zimtartigen Parfüm. Er schob die Hände um ihre weichen Hüften und zog sie zu sich herunter.

Dann klingelte das Telefon wieder.

Ilse kicherte albern und beugte sich zur Seite, um nach dem Hörer zu greifen. In diesem Moment war sie schön, mit geröteten Wangen, der Mund feucht vom Küssen. Sie nahm den Hörer ab und wollte gerade hineinsprechen, doch James, der nicht ganz so zu Scherzen aufgelegt war wie sie, riss ihn ihr aus der Hand.

»Kay!«, bellte er, während Ilse begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

Es war Chris, sein Chefredakteur. James stöhnte innerlich auf, weil er ahnte, dass es sich nur um einen Notfall handeln konnte und er ins Büro müsste. Im gleichen Moment durchlief ihn ein wohliger Schauder, als Ilse mit den Lippen seine linke Brustwarze berührte. Ihr seidiges Haar streifte seine Brust, während sie sich mit ihren Küssen langsam abwärts bewegte und die Zunge in seinem Bauchnabel versinken ließ.

»Entschuldige, Chris, kannst du das noch mal wiederholen?«

James drehte sich auf die Seite und schirmte mit der Hand den Hörer ab, um besser verstehen zu können. Ilses Erkundung seines Körpers wurde immer stürmischer.

»Ich sagte, Bazooka Rabopane ist aus der Untersuchungshaft entkommen!«, schrie Chris.

»Scheiße!«

James fuhr hoch und schubste Ilse dabei fast aus dem Weg. Im ersten Moment wirkte sie überrascht, dann verletzt, aber das hielt nur kurz an.

»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte er. Jetzt war eine andere Art von Leidenschaft in seinem Blick.

Ilse saß sehr still da und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, eine Art vorgetäuschte Arroganz, die ihre Enttäuschung nur schlecht verbarg.

»Hör mal, Ilse, es tut mir wirklich …«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s ja gesagt. Du bist mit den Gedanken immer ganz woanders …«

Er kam sich wie ein Schuft vor, aber nur einen Moment lang. Es stimmte, er war mit den Gedanken bereits woanders.

Achselzuckend zog Ilse das Kleid über den Kopf und schlängelte sich wieder hinein. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie mit dem strassverzierten Feuerzeug an, das an einer rosa Plastikschnur um ihren Hals hing. »So ist das eben«, murmelte sie und angelte sich ihre Schuhe vom Boden.

18

Anna hörte die Nachricht von Bazookas Flucht im Autoradio, als sie auf dem Weg zur Arbeit war. Sie konnte es erst gar nicht glauben. Konnte die plötzliche Ungerechtigkeit der Welt einfach nicht verstehen. Warum ging bloß alles schief? Joe war noch weniger daran gewöhnt zu scheitern als sie, und Bazookas Flucht so kurz nach dem öffentlichen Feiern seiner Verhaftung bedeutete eine Katastrophe — nicht nur für Joes Einheit, sondern für die Polizei insgesamt.

Sogar die Landschaft erschien ihr an diesem Morgen feindselig. Das Highveld war zu einem ungesunden, bleichen Gelb verdorrt. Schwarze Brandflecken schlängelten sich über die Hügel und zeigten, wo Feuer das staubtrockene Gras versengt hatten. In Midrand brannte ein gewaltiges Feuer, Flammen züngelten über das Veld, und orangeroter Rauch trieb in Schwaden bis über die Autobahn. Der Verkehr hatte sich zu einem Kriechen verlangsamt. Anna biss die Zähne zusammen, während sie mit brennenden Augen den vor ihr fahrenden Autos dicht an dicht durch den Rauch folgte, die Hände fest um das Lenkrad geklammert.

Doch selbst als der Rauch sich aufgelöst hatte, staute sich der Verkehr immer noch. Bald darauf passierte Anna eine Unfallstelle. Sie wandte den Blick von den zerquetschten Fahrzeugen am Straßenrand ab, doch dabei sah sie einen Körper, der ausgestreckt an der Fahrbahnmarkierung lag. Ein schlankes Paar Füße in schicken Schlangenlederpumps ragte unter einer Decke hervor, die nur notdürftig die Leiche bedeckte. Anna schlug die Hand vor den Mund und schauderte. Es war nur ein ganz kurzer Blick gewesen, doch das unerfreuliche Bild hatte sich ihr lebhaft eingeprägt. Sie schüttelte den Kopf, konnte den Anblick jedoch nicht aus ihren Gedanken verjagen.

Willkommen in Südafrika. Willkommen beim täglichen; Gemetzel auf den Straßen und dem unkontrollierten Verbrechen.

Nein. So darf ich gar nicht anfangen. Ich will ja nicht klingen, wie die typischen Miesmacher, ermahnte Anna sich. Doch eine trübe Stimmung hatte sich über sie gelegt. Am Horizont ragte düster das Voortrekker-Denkmal auf wie ein riesiges gemauertes Scheißhaus. Dann, kurz bevor man in die Stadt selbst fuhr, tauchte das Gefängnis zwischen den Hügelketten auf. Irgendwo in den Tiefen dieses hässlichen bleichgelben Gebäudes residierte der berüchtigte Colonel Ig Du Preez. Anna konnte sich keinen besseren Aufenthaltsort für ihn vorstellen. Ein grausiges, unwirtliches Gebäude für den grausigen Sensenmann, dachte sie, während sie nach Pretoria hineinfuhr.

Doch als sie an Colonel Ig Du Preez dachte, kam ihr eine Idee.

Der Colonel war Südafrikas berüchtigster Gefangener, einer der skrupellosesten und fähigsten Mörder des Apartheidregimes. Zurzeit verbüßte er eine Haftstrafe von viermal lebenslänglich plus einhundertachtzig Jahre, weil er einige der brutalsten Morde in der Geschichte des Landes begangen hatte. Er hatte mit allem getötet, was ihm zur Hand gewesen war, mit Schusswaffen, Granaten, einer Heugabel; einmal hatte er sogar einen Mann mit einem Billardstock zu Tode geprügelt.

Er war der heimliche Held der Folterknechte aus den Hinterzimmern der Polizeiwachen. Sein Wirken hatte allerdings nichts mit dem simplen Schlägertum zu tun gehabt, das nur ausgeübt wurde, um sich selbst zu bereichern oder das eigene Ansehen zu erhöhen. Die politischen Führer, die darauf aus waren, ihre Macht um jeden Preis zu erhalten, hatten überhaupt erst die patriotische Begeisterung in Männern wie Du Preez geschürt, hatten sie bis an die Zähne bewaffnet und auf den Feind gehetzt wie Hunde. Stationiert auf einer Farm vor Pretoria, ausgestattet mit den skrupellosesten Männern, die zu haben waren, und Geld und Waffen im Überfluss, hatte sich Du Preez’ Todesschwadron einen legendären Ruf erworben.

Als die Verhandlungen über das neue Südafrika begannen, hatte man sich seiner entledigen wollen. Plötzlich wollten die Politiker nichts mehr mit der Folter und Ermordung ihrer früheren politischen Gegner zu tun haben, und der Colonel und sein Kommando wurden kaltgestellt. Wenn man den früheren politischen Führern glauben wollte, war Du Preez’ Tun und Treiben auf der Farm bestenfalls eine Fehlinterpretation der politischen Grundsätze und schlimmstenfalls eine rein privat angezettelte Mission, die zu Mord und Totschlag geführt hatte.

Als der politische Wind sich drehte, hatte dem Colonel die Klugheit gefehlt, sich rechtzeitig auf die andere Seite zu schlagen, wie es so viele andere getan hatten. Stattdessen war er verhaftet worden, man hatte ihm den Prozess gemacht, ihn in unzähligen Fällen für schuldig befunden und verurteilt.

Man erzählte sich das Gerücht, dass er in den Monaten seit seiner Inhaftierung eine Art Sinneswandel durchlaufen habe. Nach Jahren der Lüge und der Verschleierung sei er jetzt angeblich bereit auszupacken — jedem gegenüber, der es hören wollte. Erstaunlich, wie die Aussicht auf ein Leben im Kerker das moralische Empfinden eines Mannes verändern konnte.

Es gab mal eine Zeit, als die bloße Erwähnung seines Namens reichte, um Anna einen Schauer über den Rücken zu jagen. Der Gedanke, ihn zu treffen, war eine vollkommen andere Sache. Anna hatte schon vor längerer Zeit herausgefunden, dass Du Preez und seine Einheit nichts mit dem Mord an Paul und Jacob zu tun haben konnten. Trotzdem war es aber gut möglich, dass Du Preez ein paar wichtige Lücken in der Geschichte füllen konnte. Vielleicht wusste er sogar irgendwelche Details, die die Unterstellung, Paul sei ein Spion gewesen, ein für allemal widerlegen konnten. Vielleicht konnte er Pauls guten Ruf wiederherstellen.

Der Ermittlungsausschuss der Wahrheitskommission hatte sich als nutzlos erwiesen. Sie hatten zwar den Artikel im Chronicle gelesen, hatten ihr aber gesagt, sie seien so überlastet mit anderen Fällen, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie sich vor Ende des Jahres mit ihrem Fall beschäftigen könnten. Sie würde also auf eigene Faust Nachforschungen anstellen müssen.

Sie beschloss, einen Besuch beim Colonel zu vereinbaren.

Noch ganz angetan von dieser Idee betrat Anna den Hauptsitz des Ministeriums im Wachthuis und fragte sich gerade, wie sie vorgehen sollte, als sie plötzlich ihrem Minister gegenüberstand. Er krümmte sich fast vor Verlegenheit, denn es war ihre erste Begegnung, seit er die Überprüfung ihrer Person angeordnet hatte. Er hatte es abgelehnt, sie zu treffen, und ihre Anrufe nicht erwidert. Doch nun gab es kein Ausweichen mehr.

»Anna!«, grüßte er verlegen.

Anna lächelte, nicht etwa, weil sie sich freute, ihn zu sehen, sondern weil sie die Gelegenheit beim Schopfe packen wollte.

Sie kam sofort auf den Punkt. »Sie schulden mir eine Erklärung.«

Er errötete so tief wie ein Schwarzer nur erröten kann und legte ihr nervös die Hand auf die Schulter. »Hören Sie, Sie wissen doch selbst, wie das ist«, erwiderte er lahm.

»Ich fürchte, das weiß ich nicht!«

»Wir müssen doch die Form wahren. Es muss wenigstens so aussehen, als ob wir alle notwendigen Schritte einleiten. Der öffentliche Dienst darf doch nicht wahrgenommen werden als Zufluchtstätte für für für …« Er kam ins Stottern und suchte nach Worten. Sie sah, wie er sich abmühte. »… Ähemm ich meine, es darf doch nicht so aussehen, als ob es lauter Schlupflöcher gäbe. Verstehen Sie?« Er wand sich geradezu vor Unbehaglichkeit.

»Und das erzählen Sie mir ausgerechnet am Tag, nachdem ein Verdächtiger aus einer Hochsicherheitszelle geflohen ist? Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen, Sir!«

Gequält verzog er das Gesicht. Ertappt. Er konnte ihr keine bessere Erklärurig geben, das war ihnen beiden klar, doch das änderte nichts an der unangenehmen Situation. Er klopfte ihr mehrmals auf die Schulter, eine Geste der Nervosität, die Anna äußerst irritierend fand. Überdruss, Wut und eine hemmende Unsicherheit, die ihr fremd war, stiegen in ihr auf.

»Aber Sie wissen doch, dass es nicht wahr ist! Sie haben Paul doch schließlich gekannt!«, platzte sie zornig heraus. Diese Reaktion gefiel ihm ganz und gar nicht. Sofort fiel er zurück in ein höchst ministerielles Auftreten und verbarg sich hinter seiner Position.

»Ich mache mir mehr Sorgen darüber, in welchem Licht Sie jetzt dastehen. In Ihrer Position sieht das gar nicht gut aus, Anna.«

Er konnte ihr zwar dabei nicht in die Augen blicken, doch er sprach es aus. Ihr alter Genosse, ihr Freund sprach zu ihr mit der Stimme des Zweifels und der Distanziertheit.

»Sie scheinen vergessen zu haben, dass Sie hier mit mir reden, Chief!«. Anna schlug sich mit den Händen vor die Brust. »Mit mir! Wie können Sie sich unterstehen, auch nur anzudeuten …mich zu beschuldigen, dass …«

Doch der Minister fiel ihr mit einer letzten, schroffen Äußerung ins Wort. ’»Niemand ist über jeglichen Verdacht erhaben, Anna. Niemand!«, fuhr er sie an. Und dann war er verschwunden.

Es hatte keinen Sinn, dass sie sich auf einen Kampf einließ, es würde den Prozess nur verwirren und unnötig in die Länge ziehen, doch es war extrem demütigend, so etwas zu erleben. Schlimmer noch: Das tief gehende Vertrauen, das zwischen Anna und dem Minister bestanden hatte, war zerstört, von den Kollegen im Ministerium ganz zu schweigen. Anna konnte unmöglich darüber hinwegsehen, wie vorsichtig die Leute in ihrer Gegenwart geworden waren, wie sie ihr auf den Korridoren und in der Kantine auswichen. Es war ihr unmöglich, sich darüber nicht aufzuregen.

Allein in ihrem Büro lief Anna aufgeregt auf dem Teppich vor ihrem Schreibtisch auf und ab. In der letzten Woche hatte sie einige Momente wie diesen erlebt, in denen sie das Gefühl hatte, Paul habe sie im Stich gelassen und sie sei allein. Eine Welt ohne ihn — das war ihre größte Angst. Der Tod hatte ihn ihr nicht wegnehmen können, doch in der letzten Zeit konnte sie seine Nähe manchmal nicht mehr spüren, und das verwirrte sie. Es war wie ein Schwindelgefühl, in dem sie plötzlich nur noch ihre Zerbrechlichkeit empfand.

Kein Weg führte um diese Nebelschwaden herum, sie musste mitten hindurch. Tu was, ermahnte sie sich. Fang einfach irgendwo an.

Sie wollte gerade nach dem Telefon greifen, als es klingelte. Sie nahm ab.

»Anna Kriel«, meldete sie sich mit ruhiger Stimme.

»Anna? Hallo, hier ist Prudence Hopa.«

Anna konnte den Namen zunächst nicht einordnen.

»Ich weiß. Es ist schon ziemlich lange her«, sagte die Anruferin mit leiser Stimme und hob zu einer Erklärung an. Doch es dauerte nicht lange, bis Anna sich erinnerte.

Prudence sprach mit dünner, hoher Stimme, die manchmal fast zu einem Flüstern verebbte. Früher war sie in der studentischen Widerstandsbewegung aktiv gewesen, und sie hatte eine lange, schreckliche Haft hinter sich, in der sie von ihren Peinigern gefoltert und missbraucht worden war.

»Ich rufe an, weil ich gern wissen würde, ob du eine Ahnung hast, ob Paul irgendwie an meiner Verhaftung beteiligt gewesen sein könnte.«

Oh Gott. Anna lehnte sich an ihren Stuhl. Es war leider nicht das erste Mal nach der Veröffentlichung des Artikels, dass ihr eine solche Frage gestellt wurde.

Prudences Verhaftung lag mindestens fünfzehn Jahre zurück. Anna hatte sie jahrelang nicht mehr gesehen, genau genommen seit dem Tag ihrer Verhaftung nicht mehr. Nicht seit der wilden Party, zu der sie und Paul in Prudences Haus in Yeoville eingeladen waren.

Es war eine feuchtfröhliche, marihuanaselige linke Studentenfete gewesen. Anna konnte sich noch gut daran erinnern, weil sie danach einen heftigen Streit mit Paul gehabt hatte. Er war irgendwann gegen Mitternacht einfach verschwunden, länger als eine Stunde, Obwohl er genau wusste, wie sehr sie es verabscheute, irgendwo allein sitzen gelassen zu werden, und wie wenig sie solchen Partys abgewinnen konnte. Er war die Stimmungskanone, gesellig und kommunikativ, tanzte und trank gern. Anna war immer schon eher ruhig gewesen und hatte sich unsicher gefühlt, sobald Gespräche nicht mehr so ernst waren, dass sie sich hinter den Themen verstecken konnte.

Die Stimmung stieg, und Annawäre gern nach Hause gegangen. Ihr Auto stand draußen, doch Paul war nirgendwo zu finden. Als er schließlich wieder auftauchte, war sie außer sich, erleichtert und wütend zugleich. Ihr Streit steigerte sich während der Heimfahrt schnell zu einer heftigen Grundsatzdiskussion, bei der sie sich gegenseitig anschrien. Anna war empört über seine Geheimnistuerei, und er regte sich über ihr Misstrauen auf. Er hatte sie aufgefordert, doch auszusteigen, wenn sie ihm nicht traute, und sie hatte es auch versucht, doch als sie gerade die Tür öffnete, hatte er wild beschleunigt und sie damit so erschreckt, dass sie für den Rest der Fahrt verstummte. Er war in düsterer Stimmung ins Bett gekrochen, doch beim Liebesspiel hatten sie sich schnell wieder versöhnt, und als sie ihn nachher im Schlaf beobachtete, nahm Anna sich vor, ihm nie wieder zu misstrauen.

Am nächsten Morgen war Prudence in ihrem Haus verhaftet worden.

Als Anna an diese Nacht zurückdachte, wurde ihr klar, dass sie sich nicht mit letzter Sicherheit dafür verbürgen konnte, wo Paul an diesem Abend gewesen war. Er hätte überall sein können. Obwohl es natürlich am wahrscheinlichsten war, dass er irgendeinen geheimen Auftrag für die Freiheitsbewegung erledigt hatte. Schließlich war hier die Rede von Paul.

Anna lenkte so plötzlich von dem Zweifel weg, wie sie vorher darauf zugesteuert war. »Wir dürfen nicht vergessen, über wen wir hier sprechen, Prudence. Über den gleichen Paul, der sich bei der Polizei für dich eingesetzt hat — für uns alle, bei unzähligen Gelegenheiten. Wenn du dich erinnerst, wenn du wirklich dein Herz befragst, weißt du die Antwort. Er kann dich einfach nicht verraten haben und auch keinen anderen von uns.«

Für den Rest des Gesprächs war Prudence ziemlich still, doch sie entschuldigte sich, ehe sie aufhängte. »Es ist so unheimlich, wenn etwas einfach keinen Sinn ergibt. Manchmal glaube ich, das Grausamste, was sie getan haben, war, all diese Fragen und Zweifel zu säen. Und die Unsicherheit, die einen bis ans Ende des Lebens begleiten wird. Am Ende kann man wirklich jeden verdächtigen.«

»Ja. Ich weiß.«

___________

An diesem Abend kochte Anna bei sich zu Hause ein Abendessen für Joe. Er hatte am Spätnachmittag angerufen und am Boden zerstört geklungen. Er müsse etwas essen, brauche Gesellschaft, die nicht wütend, enttäuscht oder vorwurfsvoll sei, sagte er.

Anna kochte nicht besonders oft und machte deshalb immer ein großes Ereignis daraus. Sie schaltete den Fernseher im Wohnzimmer an, schenkte sich ein Glas Wein ein, legte in der Küche alles bereit, was sie brauchte, und begab sich dann an die angenehme, methodische Aufgabe, ein Essen vorzubereiten.

Die Sieben-Uhr-Nachrichten berichteten über Bazookas sensationelle Flucht. Gezeigt wurde ein Interview mit dem wütenden Joe am Ort des Geschehens. Es gäbe keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen oder einen gewaltsamen Ausbruch, erklärte er, es sehe vielmehr danach aus, als habe Bazooka eine leichte Flucht gehabt. Doch da es sich um eine Hochsicherheitszelle handelte, musste er wohl Unterstützung von Innen gehabt haben. Es gibt jede Menge Möglichkeiten, Leute zu bestechen, dachte Anna, und viele Menschen sind nur zu gern bereit, eine Bestechung anzunehmen. Die südafrikanischen Gefängnisse und Polizeistationen gehören zu den durchlässigsten der Welt. Doch diese Geschichte war schlimm. Sie warf wirklich kein gutes Licht auf Joes Einheit, auf keinen von ihnen.

Joe kam spät, doch es störte sie nicht. In Momenten wie diesen zog er sich einfach in sich selbst zurück. Es hatte keinen Zweck, ihn hervorzulocken. Als er in den Lichtstreifen trat, der durch die geöffnete Tür fiel, bemerkte sie, wie abgespannt und krank er aussah. Er drückte sie kurz an sich, dann ging er zum Tisch und schenkte sich etwas zu trinken ein. »Prost«, meinte er grimmig, hob das Glas und trank einen großen Schluck Wein. Anna schaltete den Fernseher aus und stellte einen Teller mit Essen vor ihn hin. Sie hatte schon gegessen, doch sie setzte sich an den Tisch, um ihm Gesellschaft zu leisten. Hungrig machte er sich über das Essen her.

Anna schenkte sich noch ein Glas Wein ein.

»Ich hab dich in den Nachrichten gesehen«, sagte sie. »Du warst toll.«

Zur Bestätigung ließ er lediglich eine Art Grunzen hören.

»Hast du irgendeine Ahnung, wen er bestochen haben könnte?«, fragte sie vorsichtig.

Joe seufzte, schüttelte den Kopf und lachte bitter.

Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ach, ich weiß nicht, was ich sagen soll!«

»Ja, es ist wirklich eine Katastrophe. Anders kann man es nicht nennen.«

»Du siehst furchtbar aus.«

»Ich hab schon bessere Tage erlebt«, knurrte er. »Aber wie steht’s mit dir? Wie geht es dir?«

Sie zuckte mit den Achseln und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Es ist schon verrückt. Die Leute gehen mir aus dem Weg, Joe.«

Er schwieg.

»Was soll ich bloß machen?«

»Pauls Ruf ist untadelig. Man kann ihn nicht in den Dreck ziehen«, sagte Joe ruhig. »Du brauchst überhaupt nichts zu machen.«

»Nein«, widersprach sie ihm mit scharfer Stimme. »Es ist schon genug Dreck hängen geblieben. Und sein Ruf wird erst wieder rein sein, wenn ich die Wahrheit über die Morde herausgefunden habe.«

Joe blickte sie resigniert an. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Müdigkeit.

»Tu dir das nicht an, Anna. Du musst einfach loslassen. Glaub mir, jeder wird das binnen einer Woche wieder vergessen haben.«

»Ich wünschte, ich könnte es.«

»Was soll es bringen, die alten Steine wieder umzudrehen?« Joe senkte den Kopf und stocherte in seinem Essen herum. Anna lehnte sich in ihren Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich will damit bloß sagen — warum machst du das? Die Vergangenheit ist vorbei.«

»Nicht für mich«, sagte sie zornig.

Er ließ klappernd seine Gabel auf den Teller fallen.

»Hör mal. Wir wissen doch alle, wer sie umgebracht hat. Es war das System. Es waren die Nationalisten, die Sicherheitspolizei und die Weißen, die hinter ihren hohen Mauern in ihren riesigen Häusern gesessen Und eine Regierung gewählt haben, die Mörder angeheuert hat, um ihre privilegierte Stellung zu schützen. Sie alle waren es — sie haben genauso Schuld wie die Nazis. Warum willst du jetzt unbedingt ein Gesicht zu dem Finger, der den Abzug gezogen hat?«

Anna schüttelte den Kopf, sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte, und fand auch nicht, dass Erklärungen nötig waren. Er sollte es eigentlich besser wissen.

»Und was, wenn du sie findest? Was passiert dann?«, fuhr er sie an.

»Ich weiß es nicht.« Sie war den Tränen nahe, aber viel zu stolz und wütend, um ihnen nachzugeben. »Vielleicht mir seine Erklärung anhören? Ihm eine Kugel durch den Kopf jagen? Ihm eine Tasse Tee kochen? Ich habe keine Ahnung!«

Joe schüttelte resigniert den Kopf.

»Ich muss irgendwas tun, Joe. Ich kann einfach nicht zulassen, dass die Leute seinen Namen in den Schmutz ziehen.«

»Okay, was willst du also machen?«

»Morgen treffe ich erst mal Ig Du Preez.«

»Was?« Joe schob das Kinn hoch. »Warum denn das?«

»Ich will mir anhören, was er zu den Attentaten zu sagen hat.«

Joe legte den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. Er sagte nichts, und sie hatte keine Ahnung, was er dachte, obwohl es so aussah, als könne er jeden Moment in die Luft gehen. Dann griff er über den Tisch und legte seine Hand auf ihre. »Das ist doch ungesund«, sagte er sanft. »Es ist ungesund, so von der Vergangenheit besessen zu sein. Du musst etwas dagegen tun. Verlass Johannesburg für eine Weile, halt dich fern von der Polizei und der ganzen Brutalität. Ich glaube, du bist schon richtig süchtig danach!«

Seine Zärtlichkeit rührte sie und brach endlich den Damm. Heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass es schwer ist, dass es auch dir viel abverlangt. Aber du und Rachel, ihr seid die einzigen, die mich verstehen können Es tut mir Leid.« Sie nahm eine Ecke des Tischtuchs, wischte sich damit die Augen trocken und kam sich dabei ganz klein und elend vor.

Joe drückte ihre Hand fester. »Ich verstehe dich doch, Baby. Ich wünschte nur, ich könnte dir dabei helfen, das alles endlich hinter dir zu lassen. Verstehst du?«

Anna schwieg. Joe hatte fertig gegessen und legte klirrend Messer und Gabel nieder. In dieser Nacht fuhr er allein nach Hause.

Teil IV

4. Teil

Schön sucht muss Wahrheit blenden,

Blind wird sonst alle Welt.

Emily Dickinson

19

Kurz vor zwei Uhr fuhr Anna auf den Besucherparkplatz des Zentralgefängnisses von Pretoria. Der Platz war wie ausgestorben. Sie war angespannt und wollte diese Begegnung schnell hinter sich bringen. Es hatte eine Zeit gegeben, als die abschreckenden Menschen, denen sie bei ihrer Suche nach den Mördern von Paul und Jacob begegnet war, ihr eine Art Nervenkitzel verursacht hatten, doch inzwischen fühlte sie sich von ihnen nur noch beschmutzt.

Während sie im Auto auf den Anwalt wartete, der sie ins Gefängnis begleiten sollte, kamen ihr Zweifel. Hatte Joe vielleicht Recht gehabt? Konnte der Colonel ihr wirklich helfen? Würde er es überhaupt wollen? Sie hatte keine Ahnung, was sie sich von dem Treffen erwarten durfte.

Das erste Mal hatte sie 1988 mit Du Preez zu tun gehabt, als er und seine Leute die Gewerkschaftszentrale in die Luft gejagt hatten. Das war ein Jahr nach Pauls Tod gewesen. Die Bombe war in der Nacht losgegangen. Obwohl niemand verletzt worden war, waren die Auswirkungen auf ihre Arbeit und die Moral der Kollegen erheblich gewesen. Ihr Büro war bei der Explosion völlig zerstört worden. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie über die Scherben balanciert war, in der Hoffnung, noch etwas von ihren Sachen zu retten, doch nichts war mehr so intakt, dass es sich mitzunehmen lohnte.

Leibhaftig war sie dem Colonel zum ersten und einzigen Mal begegnet, als sie während seines Prozesses eine der Verhandlungen besucht hatte. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, mit welchem Abscheu sie den riesigen, sehr ruhigen Mann mit den kalten Augen betrachtet hatte, der düster auf der Anklagebank gesessen hatte. Er hatte ausgesehen wie eine erwachsene Ausgabe des typischen Außenseiters aus der letzten Bank. Der Junge mit der dicken Brille, der keine Freunde hat, und sich nur dadurch hervortut, dass er im Biologieunterricht beim Sezieren besonders sorgfältig ist.

Sie hatte ihn voller Wut, Ekel und Hass angeschaut, und als er die Zuschauer musterte, war sein Blick flüchtig dem ihren begegnet. Als er schließlich verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde, hatte sie nur ein Triumphgefühl verspürt. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt. Und nun würde sie ihm Auge in Auge gegenüberstehen.

Eine stahlgraue Mercedeslimousine fuhr auf den Parkplatz und hielt neben ihrem Auto. Der Mann, der ausstieg, war keineswegs der typische schnauzbärtige, bierbäuchige Verteidiger der Ultrarechten, mit dem sie gerechnet hatte. Henk Steyn entsprach nicht dem Bild, das man sich vom Rechtsanwalt eines ehemaligen Sicherheitspolizisten machte. Er war groß und schlank, sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, vielleicht auch ein bisschen älter. Er trug eine elegante austernfarbene Seidenkrawatte, die perfekt zu seinem Hemd passte. Sein dunkler Anzug war gut geschnitten, ein bisschen zu warm für Pretoria, dachte Anna, wo es immer noch ein paar Grad heißer ist als in Johannesburg. Dennoch schien es ihm nicht warm zu sein.

Mit freundlicher Gleichgültigkeit schüttelte er ihr die Hand und hatte es eilig, sie zu ihrem Treffen zu führen. »Es ist besser, wenn wir gemeinsam in den Hochsicherheitsbereich fahren«, erklärte er, während er ihr die Beifahrertür seines Autos aufhielt. Anna lächelte unsicher, sie war an solch ungekünsteltes Gentleman-Gebaren nicht gewöhnt. Sie stieg ein. Im Auto roch es nach Leder.

Vorbei an mehreren Kontrollpunkten, an denen es vor bewaffneten Wärtern in khakifarbener Schutzkleidung nur so wimmelte, fuhren sie in den düsteren Komplex des Pretoria-Zentralgefängnisses. Von dort war es nur noch ein kurzer Weg bis zu der wuchtigen Festung des Hochsicherheitstrakts.

Während der Fahrt ließ Anna im Geiste eine Liste von Du Preez’ Leistungen Revue passieren. Er war bekannt für seine Unerschrockenheit, hatte immer die Spitze angeführt und die Initiative ergriffen, wo andere, unbedeutendere Männer zurückgeschreckt waren. Einmal hatte er einen Informanten mit einem Gewehr zu Tode geprügelt. Er hatte stillgelegte Minen benutzt, um Leichen verschwinden zu lassen, oder sich ihrer mit Handgranaten entledigt. Diesen Service hatte die Sicherheitspolizei gern in Anspruch genommen, wenn sie wieder mal ein Verhör verpfuscht und einen toten Häftling am Hals hatte.

Das Gefängnis ist der richtige Ort für einen solchen Menschen, dachte sie.

Nachdem sie geparkt hatten, dauerte es einige Zeit, bis sie die zusätzlichen Kontrollen für den Hochsicherheitstrakt hinter sich gebracht hatten. Anna musste ihr Handy abgeben. Ihre Tasche wurde nach Schusswaffen durchsucht, während Steyn einen Bodycheck über sich ergehen lassen musste. Doch er war offensichtlich daran gewöhnt. Er plauderte in aller Ruhe mit den Wärtern, während sie ihn von Kopf bis Fuß abklopften. Dann wurden sie aus dem Wachhaus nach draußen in einen breiten, ausgetrockneten Wassergraben aus Beton geführt, wo Ziegen und eine Schar Gänse umherstreiften, was der Szenerie einen unpassenden Anstrich verlieh.

»Ziegen?«, fragte Anna überrascht.

»Die gehören den Häftlingen«, erwiderte Henk Steyn mit einem Grinsen. Offensichtlich war auch ihm die groteske Ironie des Ganzen nicht entgangen.

Vor ihnen lag der Hochsicherheitsbereich, ein düsteres, gedrungenes Gebäude mit schmalen Fenstern, zu schmal, als dass irgendjemand sich hätte hindurchzwängen können, aber sicherheitshalber dennoch vergittert.

Sie betraten den Eingangsbereich, der durch dicke Stahlgitter von einem riesigen, widerhallenden Korridor abgetrennt war. Sofort fielen ihr die typischen Gefängnisklänge auf, körperlose Stimmen, das Auf- und Zuschlagen von Metalltoren, das Klirren von Schlüsseln. Sie folgte Steyn durch das erste von vielen Toren in die Besucheranmeldung.

Auf Steyns Bitte gab sie ihren Personalausweis ab und setzte sich auf eine Bank und wartete, während er die notwendigen Formulare ausfüllte. Die Vollzugsbeamten gaben sich keine besondere Mühe, sich zu beeilen, und schienen sich ungeheuer zu langweilen.

Auf der staubigen Fensterbank stand eine hohes Glasbecken. Das Sonnenlicht fiel auf das Wasser und ließ die beiden Fische, die darin schwammen, in strahlenden Farben leuchten. Anna war fasziniert von so viel Schönheit an einem so düsteren Ort. Ein Wärter mit einem Babygesicht kam mit verschlagenem Grinsen auf sie zu. »Das sind Oskars«, erklärte er. »Richtige Jagdfische. Wenn man einen anderen Fisch da hineintut, hätten die Oskars ihn innerhalb einer Minute erledigt! Sie sind sehr aggressiv.« Er blickte von Anna zu dem Fischglas und lächelte dabei die ganze Zeit selig. »Sehr aggressiv!«

Steyn setzte sich neben sie auf die schmale Besucherbank. Er schwieg, hatte die Beine selbstsicher übereinander geschlagen und stützte das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Hand. Anna fand es merkwürdig, dass er sie so wenig fragte und anscheinend gar nicht daran interessiert war, weshalb sie seinen Mandanten treffen wollte.

»Wie kommen Sie mit ihm zurecht?«, erkundigte sie sich.

Er blickte sie kurz an und schien von ihrer Frage überrascht zu sein, so als sei die Antwort darauf ganz offensichtlich. »Ich mag ihn«, sagte er einfach nur. Anna konnte den Abscheu, der in ihrem Blick auffleimmte, nicht ganz verhehlen. Steyn wandte den Blick ab. »Sie werden ihn auch mögen«, meinte er.

Anna biss sich auf die Lippe. Ja, ganz bestimmt. Das kann ich mir kaum vorstellen.

Ihr war ganz flau vor Angst. Wie begrüßte man einen Menschen, der so in Blut gebadet war, dass weder Reue noch Absolution ihn je wieder reinwaschen könnten? War es überhaupt richtig, bei einem solchen Monster Hilfe zu suchen und ihn dadurch auch noch zu einer Autorität zu erheben?

In einem Interview, das siekürzlich gelesen hatte, hatte er sich selbst als »Veteran vergangener Ideologien« beschrieben. Sein Krieg sei vorbei, beharrte er. »Bevor sie anfangen können zu verhandeln, müssen sie erst mal die ganzen Schweinereien verschwinden lassen, die sie in ihrem Keller verborgen haben. Deshalb bin ich jetzt auch nicht jedermanns Liebling, der auf den nächsten freien Generalsposten hoffen darf, sondern der Aussätzige, den sie unbedingt loswerden müssen.«

Steyn berührte sie am Arm und erhob sich. »Da ist er ja«, murmelte er.

»Wo?«, fragte Anna und ließ den Blick durch den von Gittern gesäumten Korridor gleiten.

»Da«, zeigte Steyn.

Er war von riesiger Statur und ließ die Gefängniswärter, die rechts und links von ihm standen, wie Zwerge aussehen. Er trug Hosen im typischen Gefängnisgrün, Hemd und Pullover mit grünen Twill-Epauletten. Unter den Arm hatte er eine Pappmappe geklemmt und stand so steif und undurchschaubar da wie die Leibwache des Präsidenten.

Quietschend wurden die Tore aufgemacht und wieder zugeschlagen. Eins, zwei, drei Tore insgesamt. Während der ganzen Zeit hielt der Colonel den Blick auf sie gerichtet. Anna folgte Steyn, und irgendwie trugen ihre Füße sie über das abgetretene Linoleum auf den Killer zu, der sie erwartete.

Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Anna Kriel«, sagte sie mit fester Stimme. Seine Antwort war nur ein Murmeln, so als sei er schüchtern. Doch der Handschlag des Colonels war kräftig, Anna konnte seine Kraft in dem flüchtigen Druck auf ihre Hand spüren, als er sie schüttelte.

»Ich habe Sie schon in der Zeitung gesehen«, sagte er mit rauer Stimme und starkem afrikaansen Akzent.

»Oh, Sie dürfen hier Zeitungen lesen?« Kaum waren ihr die unüberlegten Worte herausgerutscht, zuckte Anna innerlich zusammen.

»Nicht immer. Im Augenblick lässt die Lektüre etwas zu wünschen übrig. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie langweilig die Bibel werden kann, wenn man sie zum fünften Mal liest.«

Anna lächelte bemüht und wusste erst nicht recht, was sie erwidern sollte, doch dann schienen die Worte von selbst zu kommen: »Ich weiß es nicht, ich hab schon beim ersten Mal nicht bis zum Ende durchgehalten!«

»Na, dann werde ich Ihnen lieber nicht erzählen, was noch passiert. Ich will Ihnen ja die Spannung nicht verderben!« Seine Mundwinkel bogen sich zu einem unsicheren Lächeln empor. Schon jetzt fühlte Anna sich entwaffnet — ein denkbar schlechter Start.

Die Wärter führten sie in ein Besprechungszimmer, das von einem langen kalkfarbenen Flur abging. Das Zimmer war ebenfalls gekalkt und ausgestattet mit verschiedenen, nicht zueinander passenden Stühlen, die an den Tischbeinen festgekettet waren, welche ihrerseits an den Boden geschraubt waren. Der Colonel bat einen der Wärter, Kaffee für die Dame zu bringen, und gab Anna dann ein Zeichen, sich zu setzen.

»Wenn wir vielleicht erst mal ein paar geschäftliche Dinge erledigen könnten«, murmelte Henk Steyn, während er eine Reihe Dokumente auf den Tisch legte.

»Aber ja doch. Machen Sie das«, meinte Anna und rückte auf dem harten Holzstuhl hin und her.

Steyn leitete seinen Mandanten durch eine Reihe von Anträgen, die er beim Ammestiekomitee der Wahrheitskommission einreichen wollte. Er hat bestimmt Hunderte von Amnestieanträgen laufen, dachte Anna. Es war seine einzige Chance, je wieder aus diesem Gefängnis zu marschieren, und er hörte konzentriert zu. Es war seltsam, zu beobachten, wie kindlich er sich Steyns Anweisungen fügte und zustimmend zu allem nickte, was der Anwalt sagte. Er unterschrieb jedes der Dokumente mit schwungvoller, flüssiger Schrift.

Nachdem die Papiere unterschrieben und wieder in Steyns dicker Aktentasche verschwunden waren, brachte der Wärter ein Tablett mit Kaffee. Er schien Ehrfurcht vor seinem Gefangenen zu empfinden und verhielt sich mehr wie sein Diener als sein Gefängniswärter. Du Preez blickte scheu in Annas Richtung, während er ihr eine Tasse reichte und ihr Milch und Zucker anbot.

Sie betrachtete seine Hände, während er vier Stück Zucker in seinen Kaffee rührte, und ihr fiel wieder die Beschreibung eines Häftlings ein, der berichtet hatte, wie sich eben jene Hände um seinen Hals gelegt und ihm die »Röhre«, eine Plastiktüte, über den Kopf gezogen hatten, um seine Atmung zu ersticken.

»Wenn ich gewusste hätte, dass Sie kommen, hätte ich mich rasiert«, sagte er.

Wieder fiel Anna keine Erwiderung ein.

»Ich werde den Leuten hier eine ganze Menge Fragen beantworten müssen. Ich bekomme nicht so oft Besuch von attraktiven Damen.«

Es war ein ungelenkes, kindliches Kompliment. Sie hatte erwartet, dass er kalt, bitter, vielleicht sogar ein bisschen verrückt sein würde. Mit dieser entwaffnenden Höflichkeit hatte sie nicht gerechnet.

»Mr. Du Preez, ich bin gekommen, um mit Ihnen über die Morde auf der Mafikeng Road zu sprechen.«

Er lächelte. »Sie brauchen mich doch nicht Mr. Du Preez zu nennen. Nennen Sie mich Ignatius oder Ig.« Dann hielt er peinlich berührt inne, als schäme er sich für seine Direktheit. »Ach, nennen Sie mich, wie Sie möchten.« Er errötete, während er den Kopf neigte, in seine Kaffeetasse starrte und noch einmal mit unnötigem Eifer umrührte.

Anna räusperte sich. »Sie kennen die Geschichte?«

»Natürlich.« Der Colonel blickte auf, den Löffel noch in den Fingern. »Ich war ziemlich überrascht, als ich diesen Artikel in der Sonntagszeitung gelesen habe. Sind Sie deshalb hier?«

»Ja.«

Henk Steyn lehnte sich auf seinem Stuhl in einer Ecke des Zimmers zurück, schlug die langen Beine übereinander, faltete die Hände im Schoß und richtete den Blick auf den Boden.

»Und Sie wissen immer noch nicht, wer sie umgebracht hat?«, fuhr der Colonel fort.

Anna schüttelte den Kopf. Es kam ihr so vor, als sei seine Äußerung sowohl Feststellung als auch Frage gewesen. Sie blickte ihm in die Augen, die tief hinter dicken Brillengläsern verborgen lagen.

»Nach allem, was ich bisher von der Wahrheitskommission mitbekommen habe, werden Sie nicht weit kommen, wenn Sie sich ausschließlich auf die verlassen.«

»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, erwiderte sie.

»Eins kann ich Ihnen sagen«, begann Du Preez. »Selbst wenn Lewis kein Spion war, stand er ganz sicher im Visier der Sicherheitspolizei. Ihre Zelle war gut bekannt und wurde beobachtet — mehr als Ihnen wahrscheinlich je bewusst war, glauben Sie mir. Ihr wart sehr kompetent, und dass machte euch automatisch zu gefragten Leuten. Doch was den Artikel im Chronicle betrifft, nun, das war mir neu. Aber das muss natürlich nicht heißen, dass es nicht stimmt«, fügte er hastig hinzu. Dann lehnte er sich zurück und streckte die Beine nach einer Seite aus. »Nein, aber diese Morde an Oliphant und Lewis — darüber habe ich mich oft gewundert, das kann ich Ihnen sagen. Das war schon eine komische Sache. Eine komische Sache.«

Anna fröstelte vor Anspannung.

»Sie verstehen doch das Prinzip, nach dem wir gearbeitet haben: immer nur das Nötigste zu wissen?«

»Oh ja.«

Nur das Nötigste wissen. Diese Phrase, die einem wie ein Stück Knorpel in der Kehle stecken blieb. Es war die Standardausrede, die Verdächtige immer gebrauchten, um ihre angebliche Unwissenheit zu erklären. Es war die erste Antwort auf dem Fluchtweg, der dann zu einem »Es gibt keinen Schuldigen« führte.

»Ihnen ist also klar, dass wir vieles bloß gerüchteweise mitbekamen?«

Anna nickte wieder. »Aber diese Gerüchte waren doch ziemlich zuverlässig, oder?«

»Ja, die Sachen, die die Männer sich so erzählt haben, da war schon viel Wahres dran.« Der Colonel legte die Hände auf den Tisch, beugte sich nach vorn und stützte sich auf die olivgrünen Twillflicken auf seinen Ellbogen. »Und wenn sich spät nachts die Zungen lösten, dann hat man sich immer erzählt, dass es Nel war, der die beiden erledigt hat. Lewis und Oliphant.« Er seufzte tief. Anna hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, doch es klang müde und schwermütig. »Aber was ich mich immer gefragt habe — warum tauchte immer bloß sein Name auf? Und warum kamen nie irgendwelche Details raus? Wissen Sie, normalerweise wurde doch bei diesen Sachen genickt und gezwinkert, man stieß sich mit den Ellbogen im Flur verschwörerisch an, und man hat eine ganz gute Vorstellung davon bekommen, was eigentlich passiert ist. Doch in diesem Fall war es anders. Ich habe mich immer gefragt, warum alles so …«, er suchte nach dem treffenden englischen Wort, »…so vage blieb.« Er faltete die Hände. »Es kann unmöglich bloß ein einziger Mann diesen Anschlag verübt haben — da muss man kein Astrophysiker sein, um sich das zu denken.«

»Aber Colonel«, fiel Anna ihm taktlos ins Wort, »Sie glauben doch auch, dass Frans Nel daran beteiligt war, oder?«

Du Preez blickte ihr in die Augen und lächelte ganz leicht. »Oh ja. Und der alte Frans ist nicht gerade für sein Mitgefühl bekannt«, meinte er trocken. »Wenn man diese Art von Arbeit ausüben will, darf man sich nicht zu viele Gedanken über das Leiden und die zehn Gebote machen.« Er lachte bitter auf.

»Nel leugnet natürlich seine Beteiligung.«

»Nun, Sie wissen wahrscheinlich auch, wo der alte Frans inzwischen gelandet ist, oder?«

Anna nickte. »Ja, ich habe ihn ein paar Mal getroffen, aber er bleibt bei seiner Geschichte.«

Du Preez rieb sich nachdenklich die Hände und kniff die Augen zusammen. »Ja, sehen Sie, 1987, da hatten wir auf der Farm gerade angefangen, und damals hatten wir noch überwiegend mit Sachen zu tun, die jenseits der Grenze passierten. Erst ein oder zwei Jahre später haben wir uns auch mit inneren Angelegenheiten beschäftigt und begonnen, mit Leuten wie Nel aus Joburg zu arbeiten …« Der Colonel verstummte und schüttelte den Kopf.

»Colonel, es gibt da eine Reihe anderer Polizisten, die vielleicht …«

Er beugte sich vor und unterbrach sie: »Verzeihung?«

»Entschuldigung«, sagte sie lauter. »Es gibt noch andere Polizisten, die vielleicht beteiligt waren. Die meisten konnte ich mit Hilfe der ganz gewöhnlichen Akten ausfindig machen. Manche, wie Jeff Curry, leben nicht mehr, aber da ist vor allem ein Mann, den ich nicht ausfindig machen konnte. Badenhorst. Badenhorst vom Raub- und Morddezernat in Vryburg. Haben Sie je mit ihm zu tun gehabt?«

Der Colonel runzelte die Stirn. »Ein großer Mann, schwer gebaut. Und ziemlich behaart, wenn ich mich recht erinnere?«

Anna nickte.

»Ja, den kenne ich, hatte ein paar Mal mit ihm zu tun. Wir haben uns nicht besonders verstanden. Er war ein ziemlich stiller Typ. Ein kalter Fisch, hab ich damals gedacht.«

Anna entfuhr ein kurzes Lachen. Immer noch über seine Beobachtung grinsend fuhr sie fort: »Er ist 1992 aus dem Polizeidienst ausgeschieden, kurz nach Mandelas Freilassung. Dann ist er verschwunden, mitsamt Frau und Kindern. Danach findet sich nichts mehr in den Akten, so als würde er gar nicht mehr existieren.«

»Wollen Sie, dass ich mal die Fühler ausstrecke?«, fragte er leise, beinahe verschwörerisch.

»Wenn Sie das können. Ja«, erwiderte sie.

»Ich kann nicht viel tun, aber ich werde es versuchen«, erklärte er, offensichtlich froh darüber, dass er sich nützlich machen konnte. »Aber ich glaube, ich weiß jemanden«, fuhr er bedächtig fort, »der Ihnen vielleicht in der Zwischenzeit weiterhelfen könnte. Ein Kerl namens Shane Fourie.« Der Colonel sprach den Namen ganz langsam aus. Anna schüttelte den Kopf, sie hörte diesen Namen zum ersten Mal.

»Wenn irgendeiner über diese Spionagegeschichte Bescheid weiß, dann er. Ist ein komischer Kauz, dieser Shane. Hat den Polizeidienst 1986 verlassen, hat dem ganzen Druck wohl nicht mehr standgehalten und hat ein bisschen verrückt gespielt.«

Anna schluckte und versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. »Wo ist er jetzt?«

»In der Provinz Nord-Kap. Ich glaube, er lebt auf einer Farm, Bulletrap oder so ähnlich. Komischer Name. Ziemlich weit weg — so weit wie man nur weggehen kann, ohne das Land zu verlassen.«

Anna holte einen Notizblock aus ihrer Tasche und notierte sich die Namen. »Danke.«

»Ob er mit Ihnen sprechen wird, steht auf einem anderen Blatt. Aber wer kann das heutzutage schon sagen?« Er lächelte ironisch. »Heute reden ja die verschiedensten Leute miteinander!« Dann lachte er und tätschelte ihr den Handrücken.

Anna hatte wieder das Gefühl, durch die Dunkelheit zu treiben, als sei die Luft dick und zähflüssig und zu warm. Sie blickte zu Boden, versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren und die Fassung wieder zu gewinnen. Sie konnte den Abdruck seiner Finger auf ihrer Haut spüren, als hätten sie sich dort eingebrannt.

»Danke, Colonel«, murmelte sie.

Er winkte verlegen ab. »Ach, nicht der Rede wert. Das ist doch das Wenigste.«

Sonnenlicht strömte durch die schmalen Fenster in den Raum. Anna blickte zu Henk Steyn hinüber, der nickte. Das Gespräch war zu Ende. Es war Zeit zu gehen.

Du Preez erhob sich als Erster, zog sich mit einer linkischen Geste den Pullover über den Hosenbund, und statt einer monströsen Bestie sah Anna plötzlich einen eifrigen kleinen Jungen vor sich, der gefallen wollte. »Lassen Sie mich wissen, was in Sachen Shane passiert. Und wenn ich noch irgendwas für Sie tun kann — Sie wissen ja, wo sie mich finden können.« Der Colonel lachte wieder, und Henk Steyn hinter ihm kicherte verhalten.

An der Tür legte Du Preez ihr die Hand auf den Arm. Sie bemühte sich, nicht zurückzuzucken. »Noch etwas«, sagte er plötzlich, als sei es ihm gerade erst eingefallen. »Diese Verhaftung wegen der Überfälle auf die Geldtransporter. Hatten Sie damit was zu tun?« Er rückte ein bisschen zu nah, und Anna trat einen Schritt zurück. »Ja, ja, hatte ich«, erwiderte sie. »Ich meine, nicht ich persönlich, aber …«

»Dieser Typ, der ausgebrochen ist«, erzählte der Colonel mit erregter Stimme, »dieser Bazooka. Er war einer von uns, von der Farm. Er war ein Polizist. Wussten Sie das?«

Anna war völlig perplex. »Nein. Nein, das wusste ich nieht. Wie seltsam. Gibt es darüber irgendwelche Aufzeichnungen?«

Der Colonel zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich. Ich wüsste nicht, wo Sie die heute finden könnten, aber er hat viele Jahre auf der Gehaltsliste gestanden. Irgendwo muss es darüber bestimmt Aufzeichnungen geben.«

»Und wären Sie bereit, das auch vor Gericht auszusagen? Wenn es nötig würde, meine ich?«

Er hob die Hände und ließ sie klatschend gegen seine Hosenbeine fallen. »Kein Problem«, erwiderte er.

Sie blickte ihn zweifelnd an und fragte sich, ob sie dieser Information Glauben schenken konnte oder ob er ihr nicht womöglich absichtlich einen Knüppel zwischen die Beine warf. Wenn seine Aussage stimmte, hatte das ernste Konsequenzen, zwar nicht unbedingt für die polizeiliche Untersuchung, doch es würde bedeuten, dass die Bewegung auf sehr hoher Ebene unterwandert gewesen war. Sie würde mit Joe darüber sprechen müssen.

»Ja, die Welt ist schon komisch, was?«, witzelte der Colonel, schlug die Hacken zusammen und marschierte hinter den Wärtern her, die gekommen waren, um ihn hinauszubegleiten.

Im Eingangsbereich des Hochsicherheitstrakts drehte Anna sich um und wollte einen letzten Blick auf die vergitterten Korridore des Gefängnisses werfen. Überrascht stellte sie fest, dass der Colonel ihr noch nachblickte. Er lächelte und hob den Arm zu einem Abschiedsgruß. Anna winkte flüchtig zurück und folgte dann Henk Steyn hinaus, wo ein paar Wärter an einem Tisch im Sonnenschein Karten spielten.

»Danke«, sagte sie zu Steyn, als sie wieder auf dem Parkplatz angekommen waren. »Wenn ich darf, könnte ich vielleicht wiederkommen?«

Steyn nickte. »Ja. Rufen Sie mich einfach an. Er mag Sie.«

Anna erwiderte nichts. Steyn lachte leise. Sie ging zu ihrem Auto, verstört von der ganzen Begegnung. Sie konnte noch nicht einmal sagen, dass sie Du Preez nicht leiden konnte.

Doch dann musste Anna an Leila denken, eine schlaksige Zwölfjährige aus ihrem Bekanntenkreis, intelligent, lustig und hübsch. Du Preez hatte ihre Eltern umgebracht, sie mit einer halbautomati3chen Waffe niedergemäht. Leila war noch keine zwei Jahre alt gewesen. Als das Massaker Stunden später entdeckt wurde, hatte man das Kleinkind gefunden, das durch das Blut seiner Eltern kroch.

Das Böse kommt in den schlichtesten Gewändem daher, dachte sie.

20

ES wurde gerade hell, als Anna die erwachende Stadt verließ und auf die Autobahn fuhr. Sie war an diesem Freitag früh aufgebrochen, um das Wochenende für sich zu haben und niemandem wegen ihrer Abwesenheit Rede und Antwort stehen zu müssen.

Ihre Untersuchungen über Shane Fouries Hintergrund wichen bis jetzt nicht von der Geschichte ab, die der Colonel ihr erzählt hatte. Fourie hatte zur südafrikanischen Polizei gehört und tatsächlich in den Siebzigern für Frans Nel gearbeitet. 1986 war er freiwillig aus dem Polizeidienst geschieden. Nach allem, was Anna sich zusammenreimen konnte, war er dabei erwischt worden, dass er mit beschlagnahmten Drogen gehandelt hatte. Er war mit einer Verwarnung davongekommen, hatte sich aber entschieden, mit einer entsprechenden Abfindung in den Ruhestand zu treten.

Anna fragte sich, wie Fourie auf ihr Auftauchen reagieren würde und was er ihr erzählen konnte. Sie sah der Begegnung mit angespannter Erwartung entgegen. Es war ihre erste richtige Spur seit Jahren.

Die Fahrt war lang, aber erholsam. Anna flog an winzigen Ortschaften vorbei, zersiedelte Gebäudeansammlungen längs der Straße — ein Fleischer, ein Gemischtwarenladen, eine Tankstelle, eine Karosseriewerkstatt und das obligatorische Spirituosengeschäft. Nach und nach gab es immer weniger Siedlungen, die Landschaft wurde flacher und die Vegetation spärlicher. Am späten Vormittag befand sie sich in einer trockenen, kargen Ebene und kam nur noch ungefähr alle fünfzig Kilometer an einer Rinderfarm vorbei.

Die Einsamkeit nahm Zu, während die Stunden vergingen und die Telegrafenmasten vorüberflogen. Am frühen Nachmittag erreichte Anna Kuruman, eine kleine Stadt am Ostrand der Kalahari. Ihr war heiß, und sie hatte Durst, deshalb legte sie einen Zwischenstopp beim »Eye« ein, eine Sehenswürdigkeit, weil es die größte natürliche Süßwasserquelle der südlichen Hemisphäre ist. Es war ein ziemlich trostloser Ort, an diesem Tag waren nur einige wenige Besucher gekommen, halbherzige Liebespaare, die auf den Bänken herumsaßen. Um einen kleinen Schnellimbiss namens »Burger Box« türmten sich die Abfälle. Die Cafeteria bot Außenplätze mit Aussicht auf das brackige Wasser, wirkte jedoch nicht besonders ansprechend.

Deshalb fuhr Anna lieber zur nächsten Tankstelle weiter, tankte und suchte das angeschlossene Fast-Food-Restaurant auf. Sie trank heißen, schlammfarbenen Kaffee und starrte auf die Tankstelle hinaus. Am Tisch neben ihr jammerte ein altes, in Kunstfaserstoffe gekleidetes Tantchen auf eine jüngere Frau mit fettigem Pferdeschwanz und teigigem Gesicht ein. Die Alte erzählte mit schriller Stimme von einem Mord, von dem sie entweder gehört oder gelesen hatte. Nach allem, was Anna verstehen konnte, war ein Mann in seinem Bett mit einer Axt erschlagen worden. Seine Frau, die neben ihm gelegen hatte, hatte auch ein paar Hiebe abbekommen, aber überlebt. »Es war aber kein Kaffer!«, verkündete die alte Dame und reckte ihren vogelartigen Hals. »Es hat nicht gerochen, verstehst du?« Die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion, woraufhin die Alte ihre Stimme verschwörerisch senkte, um ihre Theorie weiter auszuführen. »Wenn es ein Schwarzer gewesen wäre, hätte es doch bestimmt komisch gerochen, oder?«

Nach einiger Zeit fuhr Anna weiter, eine Hand am Steuer, die andere im Haar. Und sie dachte an Paul. In letzter Zeit war sie von einer ganzen Reihe beunruhigender Erinnerungen heimgesucht worden, die unangenehmen Seiten ihrer Zeit mit ihm, die ihr Gedächtnis zuvor ignoriert hatte.

Sie legte die Arme um das Lenkrad, stützte das Kinn in die Hände und starrte auf die endlose, schnurgerade Straße und das flache Feld. Im Radio lief ein Song mit dem Text: »And I miss you, like the deserts miss the rain.« Die Trauer und Sehnsucht des Lieds berührten Anna tief; heiße Tränen stiegen empor und rollten ihr über die Wangen. Die Straße und das Lied erinnerten sie an eine lange Reise, die sie einmal mit Paul unternommen hatte.

Sie waren in der alten Rostlaube aufgebrochen, die er als Student besessen hatte, und durch die endlose, schöne Weite der Karoo gefahren. Die Straße führte schnurgerade durch die karge, klare Landschaft, die sich Meile um Meile erstreckte, genau wie die Straße, auf der Anna heute fuhr. Keinerlei Möglichkeit, sich zu verstecken. Höchstens einmal pro Stunde kam ihnen ein Auto entgegen. Dann hatte Pauls Auto den Geist aufgegeben. Ohne Vorwarnung schepperte es und blieb zitternd stehen. Paul öffnete die Motorhaube, und Dampf stieg auf, eine schmutzigrostbraune Wolke, die aus dem Kühlerverschlussdeckel zischte.

Es war Spätnachmittag, und eine halbe Ewigkeit schien kein Auto in Sicht zu kommen. Schließlich tauchte in der Ferne aus dem Hitzedunst ein Fahrzeug auf, und sie fragten sich bang, ob es wohl anhalten würde. Als der Kleinbus dann endlich mit quietschenden Reifen stoppte, kletterten sie mit all ihren Taschen hinein.

Der Fahrer war ein schlaksiger Weißer, blass mit pechschwarzem Haar, das ihm in dicken langen Strähnen bis auf die Schultern hing. Er wollte zwar nicht nach Johannesburg, bot aber an, sie zum nächsten Bahnhof zu bringen, und fuhr sie fast eine Stunde lang über Lehmpisten bis nach Merriman, einer ausgestorbenen Bahnstation am Ende der Welt.

Sie waren ganz allein auf dem Bahnhof. Auf den Schienen graste eine Herde Springböcke. Kein einziger Zug kam vorbei. Sie setzten sich in den uralten Warteraum und sahen zu, wie der Himmel immer dunkler wurde. Die Nacht brach an, und irgendwann konnten sie in der Dunkelheit nur noch die Schienen und die leuchtend roten Signallichter nördlich und südlich des Bahnhofs sehen. Die Leuchtstoffröhren im Warteraum summten laut, doch Anna war glücklich. Gemeinsam würden Paul und sie ihr Schicksal schon meistern. In seiner Gegenwart kam sie sich unbesiegbar vor.

Irgendwann in der Nacht, lange vor Mitternacht, fuhr plötzlich ein.Frachtzug kreischend durch den Bahnhof. Die Lokomotive kam aus der Dunkelheit geschossen, wild und furchterregend, und verschwand wieder in der schwarzen Nacht, während Paul und Anna sprachlos und zerzaust zurückblieben. Paul legte den Arm um sie, und sie gingen zurück in den Warteraum und schauten sich in dem kahlen, staubigen Raum um, der wohl in dieser Nacht ihr Unterschlupf sein würde.

Es war kaum zu glauben, doch Schlag Mitternacht tuckerte ein zweiter Zug langsam in den Bahnhof ein und kam quietschend zum Stehen. Wie eine überirdische Erscheinung starrten Anna und Paul ungläubig die Lichter und die Passagiere an, die sich aus den Fernstern lehnten. Dann fingen die Leute an zu rufen und wild in ihre Richtung zu gestikulieren: »Maak gou! Maak gou!« Schnell, beeilt euch! Anna sprang auf den Zug, Paul warf ihre Taschen hinauf und sprang hinterher, und dann standen sie keuchend im feuchtkalten Gang, während der Zug sich in Bewegung setzte und weiter durch die Halbwüste Karoo ratterte. Es dauerte nicht lange, bis der betrunkene Schaffner sie gefunden hatte und ihnen lallend zu verstehen gab, sie hätten Glück. Es gäbe noch einen Schlafwagen, den sie ganz für sich haben könnten.

In dieser Nacht liebte Paul sie im Zug, zart und vorsichtig auf der schmalen oberen Liege des Schlafwagens.

Sex mit Paul war eine Offenbarung für Anna gewesen. Es war so unbeschreiblich schön, wie er mit den zärtlichsten aller Küsse begann und sich dann langsam über ihren Hals hinabbewegte, die Haut an ihrer Kehle liebkoste, während er sie auszog, und sie dann so sanft und erfahren streichelte, ehe er in sie eindrang, dass sie das Gefühl hatte, gleich zu explodieren.

Sex mit Paul war genauso gewesen, wie Anna sich den idealen Sex immer vorgestellt hatte. Die Harmonie zweier Seelen und zweier Körper, umgeben vom Hauchdes Geheimnisvollen. Selbst in der schmalen Schlafkoje in einem : Zug, der durch die heiße Nacht ratterte, war ihre Welt grenzenlos.

Und eine zusätzliche Würze bekam das Ganze durch die Rebellion, die ihr Akt ausdrückte. Damals war es verboten, dass ein Weißer und eine Farbige gemeinsam im selben Abteil fuhren, und der »Immorality Act« stellte unter Strafe, Zärtlichkeiten auszutauschen, geschweige denn Sex miteinander zu haben.

Mit der Erinnerung kamen die Tränen. Und Annas Zweifel lösten sich auf.

Als die Sonne gerade anfing unterzugehen, fuhr Anna ‘ durch Upington. Obwohl alles in goldenes Licht getaucht war, nahm Anna niedergeschlagen Hässlichkeit und Verschmutzung war. Durch ihre Lage an den saftigen Ufern des Orange River hätte die Stadt eigentlich eine Art Oase sein sollen, und dennoch waren die Straßen mit zerfetzten Plastiktüten, leeren Konservenbüchsen und all dem anderen Abfall des modernen Lebens übersät.

Unsere Nationalkrankheit, dachte sie. Die Plastiktüte ist zu unserer Landesblume geworden!

Sie fuhr weiter, während der Himmel ein leuchtendes Blutrot annahm und die Nacht hereinbrach. Die Pension, in der sie ein Zimmer reserviert hatte, war ein einfaches altes Farmhaus mit tiefen Veranden und kalten Steinmauern. Sie wurde von einer ruhigen und sehr herzlichen Afrikaaner-Familie geführt, den Van Dyks, Mutter, Vater und einem erwachsenen Sohn.

Anna kam zum Essen, als die anderen Gäste, eine muntere Großfamilie aus England, gerade das Tischgebet sprechen wollten. Der Vater begrüßte sie herzlich und ergriff ihre Hand.

»Leisten Sie uns beim Tischgebet Gesellschaft?« Anna sah wohl ziemlich verblüfft aus, denn er fuhr zur Erklärung fort: »Unsere Familie spricht immer gemeinsam das Tischgebet.« Eine Art verlegenes Gurgeln entfuhr Annas Kehle, doch es wurde schnell von der dröhnenden Stimme des Engländers übertönt.

»O Gott, von dem wir alles haben, wir preisen dich für deine Gaben. Du speisest uns, weil du uns liebst; o segne auch, was du uns gibst.« Die Familie saß mit geschlossenen Augen da und hielt sich an den Händen, während sie gemeinsam beteten. Anna stand neben ihrem Stuhl, die Hand immer noch fest von der des Vaters umschlossen, und starrte auf das Sonnenblumenmuster der Plastiktischdecke auf dem langen Esstisch.

Anna aß wenig, obwohl es reichlich gab. Zu Beginn wurde eine mehlige Gemüsesuppe serviert, begleitet von überraschend guten Brötchen. Dann gab es Steak in brauner Sauce mit gelbem Reis und Kürbis und etwas, das wie überbackener Blumenkohl aussäh, tatsächlich aber mehr nach Weißkohl in Mehlschwitze schmeckte. Anna blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören, wie der vergnügte Engländer mit Mr. Van Dyk plauderte.

»Wir kommen aus Sussex«, erzählte er mit dröhnender Stimme. »Vor fünfundzwanzig Jahren haben meine Frau und ich geheiratet und wir sind hier in Afrika auf Hochzeitsreise gewesen. Jetzt sind wir noch mal wiedergekommen — zusammen mit unseren vier Kindern und meiner Schwiegermutter.«

Er war unscheinbar, mit Nickelbrille und zerzaustem schwarzen Haar, doch seine Frau war recht hübsch. Sie hatte lange dunkle Haare, die nur ein paar silberne Strähnchen aufwiesen. Sie trug ein Jeans-Trägerkleid über einem weißen T-Shirt und war kaum geschminkt, gerade genug, um ihre großen braunen Augen hervorzuheben. Sie sprach viel langsamer und mit tieferer Stimme und erklärte, dass sie Südafrikanerin sei und ihr Mann Engländer. »Ich habe die ganzen Jahre in England gelebt, doch mein Herz ist immer noch in Südafrika.«

Als sie Anna nach ihren Reiseplänen fragten, war sie kurzzeitig aus dem Konzept gebracht. Sie wollte ihnen den wahren Grund für ihre Übernachtung hier nicht erzählen. Ihr Vorhaben hatte nichts mit der Welt dieser Leute zu tun. »Ich arbeite für die Regierung«, sagte sie schließlich. »Ich muss eine Befragung bei einem Farmer aus der Gegend durchführen.«

»Oh, wie interessant!«, meinte die Frau. »Ich bin immer so fasziniert von Erauen, die in die Welt hinausziehen, ich finde das so mutig!«

Anna lächelte schwach. .

»Hat Ihr Mann denn nichts dagegen, wenn Sie unterwegs sind?«

Anna blickte sie verwirrt an und merkte dann, dass die Frau ihre Hand anstarrte. Anna schaute auf den Ring, den sie immer noch am Ringfinger trug.

»Oh, nein!«, stotterte sie. »Nein, ich bin nicht verheiratet. Den habe ich von einem guten alten Freund bekommen!«

Das Lächeln der Frau schien zu erstarren, so als sei sie von der Antwort enttäuscht. Dann wandte sie sich Mrs. Van Dyk zu, und Anna war erleichtert, dass sie sich allein mit ihrem Essen und der Betrachtung ihres Rings beschäftigen konnte.

Als sie an den Abend zurückdachte, an dem Paul ihr den Ring geschenkt hatte, besserte sich ihre Stimmung. Er war fast zwei Wochen in Swaziland gewesen, bei einem Einsatz, den er mit Mitgliedern einer anderen Zelle ausgeführt hatte. Ursprünglich hätten sie nur sieben Tage weg sein sollen, doch dann wurde der Plan geändert, und er hatte keine Möglichkeit, sie zu benachrichtigen. Also hatte Anna gewartet, ohne zu wissen, wo er war oder ob ihm womöglich etwas zugestoßen war. Dann war sie eines Nachts davon wach geworden, dass er neben ihr ins Bett kroch. Seine Haut war kalt, sein Atem roch schal nach Zigaretten und Alkohol, die Augen waren vor Müdigkeit geschwollen. Sie hatte ihn gewärmt und ihn mit ihrem Körper zu Hause willkommen geheißen, und danach hatte er ihre Hand genommen und ihr den Ring an den Finger gesteckt, und sie hatte geweint vor Freude und Erleichterung darüber, dass er wieder da war und sie liebte.

___________

Anna stand vom Abendessen auf, holte sich eine Tasse Kaffee und ging nach draußen, um sich auf die Veranda zu setzen. Der Himmel war klar und von hell leuchtenden Sternen überzogen. Sie konnte hören, wie sich die englische Familie zu einem Kartenspiel versammelte; ihre fröhlichen Stimmen drangen in die warme Nachtluft hinaus. Anna vergaß oft, dass es auf der Welt auch Menschen gab, deren Leben harmonisch und unkompliziert verlief.

Sie ertappte sich dabei, wie sie zynisch dachte, dass diese Leute Engländer waren und an Engländern ganz und gar nichts so unkompliziert war, wie es einem vorkam. An der Oberfläche sind sie so frisch und interessiert, schlagfertig und witzig. Doch das ist bloß Fassade; man kann es daran sehen, wie schnell ihre Blicke abwandern und ihre Gespräche zu einem anderen Thema übergehen. Eine ansprechende Fassade zwar, doch trotzdem verbirgt sie die Wahrheit. Vielleicht hätte sie ihnen lieber den wirklichen Grund ihrer Reise erzählen sollen; vielleicht hätte sie sie in ihrem wohlgefälligen Leben ein bisschen aufrütteln sollen.

Dann kam sie sich schäbig vor. Warum ärgerte sie sich so über diese freundlichen Menschen? Es war bloß der Neid auf ihre Unschuld und Zufriedenheit mit ihrem Leben. Es soll wohl so sein, sagte sie sich, lass ihnen ihre schöne, unbeschwerte Welt.

Anna nippte an ihrem Kaffee und versuchte, den Kopf wieder klar zu bekommen, während sie in der Dunkelheit saß und den Geräuschen der Nacht lauschte. Sie erinnerte sich daran, was James Kay zu ihr gesagt hatte. Und angesichts der gewaltigen Dunkelheit dieser Landschaft, unter dem unendlichen, sternenüberzogenen Himmel, gab es einen Augenblick, in dem sie sich fragte, ob sie sich vielleicht in Paul getäuscht hatte. Das kann nicht sein, flüsterte sie in die Dunkelheit. Mein Leben ist keine Lüge gewesen.

Anna schickte die Worte zu den Sternen empor wie ein Gebet. Und drinnen lachten die Van Dyks und ihre englischen Gäste und klatschten ihre Spielkarten auf den Tisch, die Grillen zirpten im Mondlicht, und die Erde drehte sich. Ich kann mich nicht getäuscht haben.

21

Am nächsten Morgen war Anna früh auf den Beinen. Das Licht draußen war noch trüb, und Schatten tanzten durch den Garten. Sie holte sich eine Tasse Kaffee aus dem Esszimmer und wich dabei einem Blickkontakt mit der englischen Horde aus, die ebenfalls schon wach war, frühstückte und aufgeregt über den vor ihnen liegenden Tag schwatzte. Sie nahm den Kaffee mit nach draußen und setzte sich auf die Terrasse, um sich den Sonnenaufgang anzuschauen.

Die Sonne stieg schnell empor, ein unheimlicher, leuchtend orangeroter Ball, der sich hinter dem schwarzen Gestrüpp aus Akazien erhob.

Die Luft war feuchtschwül, und um sieben war es bereits heiß. Mittags würde es unerträglich werden. Doch dann wäre sie schon kilometerweit entfernt in ihrem klimatisierten Auto auf dem Weg zurück nach Johannesburg. Das Gespräch wäre vorbei, und — dessen war sie sich sicher — sie hätte eine neue Spur, die sie in ihren Nachforschungen endlich weiterbringen würde.

Ein Rasensprinkler schickte zischend seine Wasserspritzer über das Gras. Ein Hahn mit leuchtend rotem Kamm kam aus einem Gebüsch hervorstolziert, gefolgt von einer schwarzen Henne und einer trippelnden Schar winziger schwarzgelber Küken. Die Luft war erfüllt vom schrillen, sägenden Ton der Sonbesies.

Gegen halb acht machte Anna sich auf den Weg nach Bulletrap. Der Weg war nicht weit, führte aber größtenteils über unbefestigte Lehmpisten und erlaubte kein schnelles Fahren. Nach etwa einer Stunde hielt sie vor der kleinen ländlichen Polizeiwache, wo ein gewisser Constable Jan Koekemoor sie erwartete. Als sie das klimatisierte Auto verließ, kam es ihr so vor, als trete sie direkt in ein Feuer. Die Luft tanzte und flimmerte in der Hitze.

Koekemoor schien über ihr Auftauchen regelrecht aus dem Häuschen zu sein und übte begeistert sein Englisch mit einem Akzent, der so zäh war wie Stywepap. »Wir bekommen ja nicht viel Besuch hier draußen, doch Besuch l aus der Zentrale — das hat es noch nie gegeben! Wir fühlen uns sehr geehrt, Miss Kriel, und ich hoffe, Sie werden hier alles zu Ihrer Zufriedenheit vorfinden!«

Anna hatte am Telefon erklärt, sie arbeite für das Ministerium für Sicherheit und müsse im Zusammenhang mit einer lange zurückliegenden Morduntersuchung eine Routinebefragung bei einem gewissen Mr. Shane Fourie durchführen. Nun wurde Anna klar, dass ihr Besuch für Koekemoor eine sehr viel größere Bedeutung hatte als erwartet. Also musste sie sich wohl oder übel die makellose kleine Wache zeigen lassen und Interesse für seine Arbeit vortäuschen, indem sie sich die Dienstbücher, Protokolle und anderen Aufzeichnungen anschaute.

Hier war eine andere Welt, wo man ein gemächliches Tempo anschlug, und jeder Versuch, die Dinge zu beschleunigen, würde sie wahrscheinlich nur verzögern. Also trank Anna den Tee, den Koekemoor ihr anbot, und hörte sich aufmerksam seine Anliegen an, die sie, wie er hoffte, nach Pretoria weitertragen würde. Seine Gründlichkeit und sein Engagement rührten sie. Es wäre unhöflich gewesen, ihn zur Eile zu drängen. Also wartete Anna geduldig ab, bis der Constable endlich von selbst zum eigentlichen Thema kam.

»Ich muss schon sagen — ich hab noch nie gehört, dass jemand die Fouries da draußen besucht hat«, meinte er und fügte dann hastig hinzu: »Ich will damit natürlich nicht sagen, dass da draußen irgendwas faul ist. Sie sind bloß einfach nicht der Typ, der viel mit Leuten zu tun hat. Niemand geht rein. Niemand kommt raus. Ich selbst habe Shane schon seit letztem Silvester nicht mehr gesehen.«

Anna verzog das Gesicht. Was sie da hörte, klang nicht besonders verlockend. Koekemoor spürte ihre Beunruhigung und zog prompt den falschen Schluss. »Ich werde Sie natürlich begleiten!« Anna zögerte. Ihr Instinkt verriet ihr, dass die Begleitung eines uniformierten Polizisten bloß eine einschüchternde Wirkung hätte. Schon sie allein würde Argwohn und Verwunderung auslösen, und sie wollte keinesfalls bedrohlich wirken. Anna richtete sich in ihrem Stuhl auf und hoffte, dass Koekemoor sich schließlich ihrem Dienstgrad fügen würde.

»Offen gesagt wäre es mir lieber, wenn Sie nicht mitkämen. Doch ich kann Ihnen anbieten, dass ich auf dem Rückweg wieder hier vorbeikomme. Sagen wir: Wenn ich in vier Stunden nicht wieder zurück bin, dann kommen Sie nach dem Rechten schauen?«

Koekemoor schien enttäuscht zu sein. Er kippte den Rest seines süßen Tees hinunter und schüttelte dann energisch den Kopf, während er sich die Tropfen aus dem Schnurrbart wischte. »Nein, ich fürchte, in diesem Fall muss ich mich Ihren Anordnungen widersetzen, Miss Kriel. Ich werde Sie zum Tor bringen und dort auf Sie warten!«

»Wunderbar!« Mit diesem Kompromiss war Anna zufrieden. »Aber passen Sie auf, dass man Sie nicht sieht«, fügte sie hinzu, während sie sich erhoben. Koekemoor lachte heiser, das ausgelassene Gelächter eines Hinterwäldlers über die Dummheit der Großstädten »Das Tor ist mindestens drei Kilometer vom Haus entfernt. Ausgeschlossen, dass die mich sehen!«

Sie mussten sich noch eine weitere halbe Stunde auf Lehmpisten durchschütteln lassen, ehe sie den Eingang zur Farm erreicht hatten. Ein viereckiges Stück Blech, auf dem in schlampiger roter Schrift »Fourie« stand, zeigte ihnen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Koekemoor parkte seinen Geländewagen im Schatten einer Akazie. »Wenn Sie nicht in genau zwei Stunden wieder hier sind, komme ich rein!«

Anna hatte das Gefühl, dass der Constable sich schon darauf freute, zu ihrer Rettung zu eilen. Das wollte sie jedoch auf jeden Fall vermeiden und versprach ihm deshalb, pünktlich wieder zurück zu sein. Trotzdem vermisste sie seine bemühte Art, kaum dass sein Bakkie nicht mehr in Sicht war und sie allein auf dem schmalen, holprigen Weg weiterfuhr.

Die Stille war drückend, und die Hitze machte es auch nicht besser. Es dauerte ein paar Minuten, bis auf einer sandigen Lichtung zwischen schlaff herabhängenden Eukalyptusbäumen die Farmgebäude auftauchten. Die Farm bot ein düsteres Bild der Armut. Das Haus selbst war kaum mehr als eine baufällige Schachtel mit einem Blechdach und einer Veranda, die um das ganze Gebäude herumführte. Die Wände zeigten noch Spuren eines hübschen hellblauen Anstrichs, der jedoch lange abgeblättert oder verblichen war. An der Wäscheleine, die zwischen der rostigen Regenrinne über der Veranda und einem gemauerten Wasserturm gespannt war, hing altersgraue Wäsche. Das Gras war gelb und spröde, längst verwelkt, genau wie der Eukalyptusbaum in der Mitte des Hofs. Seine schütteren schwarzen Äste ragten empor, als wollten sie die unbarmherzige Sonne um Gnade anflehen. Kaum hatte Anna den Motor abgestellt, brach eine geisterhafte Stille herein.

Zu ihrem Schrecken entdeckte sie plötzlich, dass eine Frau sie von einer Ecke der Veranda anstarrte.

Das Gesicht der Frau war von tiefen Falten gezeichnet, die Augen hatte sie gegen das Sonnenlicht zu Schlitzen zusammengekniffen. Ihr aschblondes Haar war zu einem nachlässigen Knoten zusammengebunden, aus dem sich einzelne Haarsträhnen gelöst hatten und ihr wie eine Art Heiligenschein um den Kopf standen. Sie trug einen weiten beigefarbenen Baumwollkittel, blaue Plastiklatschen an den schmutzigen Füßen und hatte die Arme abweisend vor den herabhängenden Brüsten verschränkt. Ihre Beine waren von violetten Blutergüssen überzogen. Sie machte keinerlei Anstalten, zu grüßen, und rührte sich auch nicht von der Stelle. Sie starrte Anna bloß an.

Anna öffnete die Autotür und hatte schon einen Fuß auf die Erde gesetzt, als plötzlich drei riesige Hunde aus dem Haus gestürmt kamen und gifernd mit gefletschten Zähnen über die Veranda auf den lehmigen Hof hinausflitzten. Anna fuhr zusammen und schlug die Autotür zu, als die Hunde sich knurrend und sabbernd gegen das Auto warfen und an den Scheiben kratzten.

Dann setzte sich die Frau in Bewegung und trottete langsam die Treppe hinunter über den Hof auf das Auto zu. Ein einziges leises Wort von ihr rief die Hunde wieder zur Ordnung. Sie zitterten und schlichen hechelnd in den Schatten, den das Hausdach warf. Die Frau blickte Anna ohne jede Neugier an, so als könne das Leben für sie keinerlei Überraschungen mehr bereithalten.

Anna kurbelte das Fenster ein kleines Stück herunter. »Guten Morgen. Wie geht’s?«, fragte sie lächelnd auf Afrikaans und brachte ihre Johannesburger Begrüßung mit so viel Wärme hervor, wie sie unter diesen Umständen aufbringen konnte. Die Frau nickte bloß müde, sagte aber kein Wort.

»Ich bin auf der Suche nach Shane Fourie«, fuhr Anna tapfer fort. Diesmal bekam sie eine Antwort.

Die Frau deutete mit dem Kopf über die Schulter in Richtung Haus. »Shane is’ hinten.«

»Kann ich ihn sprechen?«

Die Frau zuckte mit den Achseln, als sei ihr das vollkommen gleichgültig. »Der is’ hinten«, wiederholte sie unbeirrt.

Dann bedeutete sie Anna mit einer kaum wahrnehmbaren Geste, ihr zu folgen. Anna zögerte; es widerstrebte ihr, das sichere Auto zu verlassen.

»Keine Sorge wegen der Hunde, die werden Sie nicht anrühren.«

Nicht ganz überzeugt öffnete Anna vorsichtig die Autotür und stieg zögernd aus, während Sie die riesigen Köter fest im Blick behielt, falls sie auch nur die kleinste Bewegung in ihre Richtung machen sollten. Doch genau wie es die gespenstische Frau gesagt hatte, rührten sich die Hunde nicht von der Stelle.

Anna folgte ihr über die Veranda in das dunkle Haus. Das Erste, was ihr unangenehm auffiel, war der modrige Geruch nach Schimmel, Fäulnis und menschlichem Verfall. Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bot sich ihr ein einziges Durcheinander aus kaputten Möbelstücken und gesprungenen Fensterscheiben. Dem wenigen, was die Fouries besaßen, ließen sie offenbar wenig Sorgfalt angedeihen — mit einer einzigen aufschlussreichen Ausnahme: Auf einem Ständer im Flur gleich neben der Küchentür hingen ein paar gut geölte Schrotflinten und eine gefährlich aussehende Armbrust.

In der Küche traf Anna dann auch auf Shane Fourie. Er saß mit dem Rücken zu ihr, als sie eintrat. Von draußen fiel die Sonne herein und tauchte sein Gesicht und seinen nackten Oberkörper in helles Licht. Bei ihm waren noch zwei weitere Personen, ein Mann und eine Frau. Alle saßen um einen Plastiktisch versammelt, auf dem die Überreste einer Mahlzeit aus Spiegeleiern, Corned Beef und gebackenen Bohnen standen.

»Shane, da is’ ’ne Dame, die will dich sprechen«, sagte die geisterhafte Frau gelassen und legte eine Hand auf die Schulter des riesigen Mannes, der am Kopfende des Tisches saß. Shane drehte sich um und starrte Anna gleichgültig an. Sein Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Weder Überraschung noch Freude, ja noch nicht einmal Unruhe. Er war groß und muskulös, aber dennoch schlank, hatte stechende grüne Augen und struppiges braunes Haar, vorne kurz geschnitten und hinten lang. Er drückte seelenruhig seine Zigarette in der Tomatensauce auf seinem Teller aus und stand ohne Eile auf. Dann streckte er Anna die Hand entgegen, und Anna ergriff sie und sagte mit fester Stimme: »Hallo, ich bin Anna Kriel. Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Sie sprach Afrikaans, in der Hoffnung, diese Leute damit für sich einzunehmen. Ihr war klar, dass sie gegenüber einer gut gekleideten Farbigen, die aus unersichtlichen Gründen in einem schicken Auto bei ihnen vorgefahren war, ziemlich misstrauisch Sein mussten. Und trotzdem hatten sie den lethargischen Gesichtsausdruck von Menschen, die sich über nichts mehr wunderten und durch nichts mehr zu erschüttern waren.

Unterdrückte Gewalt lag in der Luft. Dann deutete Shane auf die Frau, die sie hereingeführt hatte. »Meine Frau Shawna. Ihre Schwester Nerice und ihr Mann Dillon.« Alle sahen mit ihrer von der Sonne ausgedörrten Haut älter aus, als sie vermutlich waren. Nerice war breit gebaut und trug ein durchgeknöpftes Kleid mit grellem Blumenmuster, aus dem ihre nackten wabbeligen Arme hervorragten. Sie hatte gewelltes aschblondes Haar und trug eine dicke Brille, die zu groß für ihr Gesicht War. Anna sah, dass Dillon statt Händen ein Paar Greifhaken aus Stahl trug. Nerice hatte sofort bemerkt, dass Anna zurückgezuckt war, und sagte in anklagendem Tonfall: »Kein schöner Anblick, was? Das ist die Belohnung für jahrelange harte Arbeit bei einem beschissenen Chef! Ein Starkstromschlag hat ihm die Hände weggebrannt. Elftausend Volt. Betriebsunfall, haben sie gesagt. Als Entschädigung hat er von der Mine die Prothesen bekommen. Sonst nichts.« Anna murmelte ein paar Worte des Bedauerns.

Shane holte einen Stuhl aus einer Ecke und stellte ihn vor Anna hin. Sie setzte sich, er ebenfalls, dann schüttelte er eine Zigarette aus einem Päckchen Chesterfields, das auf dem Tisch lag, und zündete sie an.

»Also, Anna Kriel, was kann ich für Sie tun?«

Sie holte tief Luft. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir ein paar Informationen über einen Freund von mir geben könnten. Er hieß Paul Lewis.«

Shane rauchte unbeeindruckt weiter.

»Vielleicht sind Sie mit dem Fall nicht vertraut.« Sie legte wieder eine Pause ein, doch er zeigte immer noch keine Regung. »Paul wurde in der Nacht vom 18. April 1987 getötet. Er und ein Genosse, Jacob Oliphant, wurden an der Straße zwischen Mafikeng und Vryburg erschossen. Wir glauben, dass die Mörder Sicherheitspolizisten waren, aus der Einheit eines gewissen Captain Frans Nel.«

Fourie reagierte lediglich mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken und stieß eine lange Rauchwolke zwischen den Lippen hervor. Anna konnte immer noch nicht abschätzen, ob er überhaupt irgendeine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Doch ehe sie weitersprechen konnte, wurde sie von einem unerwarteten Gefühlsausbruch Nerices unterbrochen.

»Es war nicht bloß eure Seite, die geliebte Menschen verloren hat, wissen Sie!«, stieß Nerice bitter hervor, während ihr Tränen in die Augen traten. »Das versuchen sie uns jetzt weiszumachen«, jammerte sie. »Dass nur unsere Leute die Mörder waren! Aber eure Leute waren noch viel schlimmer!«

Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Anna blickte hilfesuchend zu Shane and Shawna hinüber, doch beide wandten den Blick ab. Shane hatte den Mund zu einem verächtlichen Grinsen verzogen. Dann sprach Dillon, die einzigen Worte, die Anna ihn während der ganzen Zeit sagen hörte.

»Ihr Kind ist bei einem Terroranschlag auf eine Disco in Vryburg gestorben. 93, bei einer Party zum Valentinstag.«

Seine Stimme klang wie Sandpapier. Nerice schluchzte heftig. Anna saß regungslos da und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, versuchte aber verzweifelt, Mitgefühl zu zeigen.

Shane Fourie hatte genug. Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ach, reg dich ab, Nerice! Sie is’ nich’ hergekommen, um sich deine beschissene Lebensgeschichte anzuhören!«

Shawha schaltete sich ein, um zu helfen, zog ihre weinende Schwester vom Stuhl empor und führte sie aus der Küche. Dillon nahm sich mit seinen Stahlklauen noch eine Zigarette und Zündete sie an. Nerices Schluchzen wurde leiser und verschwand in einem Nachbarzimmer. Es dauerte nicht lange, bis sich wieder drückende Stille über das Haus legte.

»Ich bin zu Ihnen gekommen«, fuhr Anna vorsichtig fort, »weil Colonel lg Du Preez mir erzählt hat, dass Sie Paul möglicherweise gekannt haben.« Aus irgendeinem Grund zitterte Anna die Stimme, als sie Pauls Namen aussprach.

Shane Fourie musterte die hervorstehenden Adern auf seinem Unterarm. »Sind Sie Journalistin?« Sein Tonfall klang nun beinahe feindselig. Anna schüttelte den Kopf. »Nein, ich arbeite für das Ministerium für Sicherheit in Pretoria.« Sie suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Dienstausweis und zeigte ihn Fourie.

Er musterte ihn und gab ihn dann an Dillon weiter, der wichtigtuerisch die Stirn runzelte und das Foto auf dem Ausweis mit der vor ihnen sitzenden Frau verglich. »Haben Sie ein verstecktes Mikrofon dabei?«, fragte Fourie herausfordernd.

Anna schüttelte den Kopf und hob die Arme empor. Sie trug ein einfaches Baumwoll-T-Shirt über dünnen Twillhosen; es war offensichtlich, dass zwischen Kleidung und Körper kein Platz für ein verstecktes Abhörgerät blieb.

Fourie griff über den Tisch und klopfte Annas Tasche ab, die weit geöffnet auf dem Tisch stand und zu einer Überprüfung einlud, schien sich jedoch mit ihrer Antwort zufrieden zu geben.

Dann zündete er sich noch eine Zigarette an, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schien Anna eine Weile prüfend anzublicken, ehe er den Kopf schüttelte, müde seufzte und schließlich sprach:

»Ja, ich kann mich an Paul Lewis erinnern.«

Endlich. Anna schien das Herz stehen zu bleiben, während sie gespannt darauf wartete, was er ihr mitzuteilen hatte.

»Es war schrecklich, was sie mit ihm gemacht haben. Schließlich hätt’s genauso gut mich treffen können!« Er sprach voller Abscheu, die Lippen aufeinander gepresst und der Blick durchdringend und wild.

»Sie?«

»Ja, ich sagte, es hätt’ genauso gut mich treffen können«, wiederholte Shane.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Anna verwirrt.

»Dieser junge Kerl. Paul. Er war einer von uns. Und Sie haben ihn umgebracht.«

Die Worte trafen Anna wie Kugeln und bohrten sich in ihr Fleisch. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich; ihre Zunge fühlte sich trocken an wie zermahlenes Glas, und die Luft schmeckte nach Asche.

Der Rest seiner Äußerung drang nur noch wie durch einen Dunstschleier zu ihr. Seine Lippen formten Worte, sein Mund schloss sich um den schmutziggelben Filter seiner Zigarette, sog das Feuer ein und atmete Asche aus, während er sie mit seinen stechenden grünen Augen ausdruckslos anschaute und wieder wegblickte.

»Immer wenn Sie denken, Sie hätten diese Leute durchschaut, wissen Sie in Wahrheit einen Scheißdreck über sie. Deshalb bin ich auch ausgestiegen. Paul hat das nicht gemerkt. Oder wahrscheinlich erst, als es zu spät war.«

Anna umklammerte die Sitzfläche ihres Stuhls. Irgendwie meldete sich eine Stimme aus ihrem Innern und formte Worte, die sie selbst nur wie ein entferntes Echo hörte.

»Paul gehörte zu Ihren Leuten?«

Shane kratzte sich am Kinn. »Ja, er war ein Bulle.«

Es war eine vergiftende Wahrheit, die hier, in diesem dreckigen Zimmer des weißen Abschaums, ans Tageslicht drang. Shane Fouries Worte zerstörten das Gebäude ihrer Seele, Stein für Stein zerfiel es zu Staub, bis nichts mehr übrig war.

»Ich sage Ihnen«, fuhr Fourie fort, »Paul Lewis war Polizist. So gewiss wie Gott kleine Kaffer geschaffen hat!« Er lachte heiser. Anna stieß die Luft so langsam aus, wie sie konnte, und atmete dann wieder tief ein. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, um sich zu beruhigen.

»Aber warum haben sie ihn umgebracht?«

Fourie blickte Anna an und schüttelte den Kopf, während er die glühende Zigarettenspitze über den Rand seines Tellers rollte. »Keine Ahnung«, meinte er achselzuckend. »Vielleicht wegen seiner Frau.«

Anna konnte ihm nicht folgen.

»Ja.« Shane blickte sie an, als wolle er sie abschätzen, so als ob er gerade erst anfing zu verstehen, wie die Grausamkeiten, die er ihr mitzuteilen hatte, auf sie wirken mussten. Sie fragte sich, ob er Genugtuung dabei empfand.

»Wessen Frau?«, flüsterte Anna.

»Paul hat Nels Frau gebumst, diese Sherry.«

Anna schluckte trocken.

»Ach, fast alle haben sie gebumst. Sie konnte gar nicht genug kriegen. Doch unser Fränschen hat das nicht gewusst. Als er sie mit Paul erwischt hat, ist er einfach ausgerastet.«

Annas Herz hämmerte.

Shane schnipste Asche auf den Boden. »Ja, er hat die Alte vom Captain gevögelt. Und der hat sie zusammen auf der Motorhaube seines Autos erwischt, in seiner verfluchten Garage.« Er kicherte wollüstig angesichts dieser Vorstellung, doch seine Augen lachten nicht mit, sie wirkten vollkommen tot. »Auf Nels Auto. Ganz schön dreist, was? Ich glaub, daran lag’s vor allem, dass der Alte total ausgeflippt ist. Weil sie’s auf seinem geliebten Benz getrieben haben!« An dieser Stelle brach Shane in heiseres Gelächter aus, und selbst der wortkarge Dillon grinste.

Zweifel überkamen sie und verschwanden dann wieder. Wie ein Fieberschub.

»Das klingt gar nicht nach Ich finde es wirklich schwer zu glauben«, war alles, was sie herausbrachte.

»Sie müssen’s auch nicht glauben, Lady.«

Achselzuckend drückte er die Zigarette aus und verstreute dabei Asche über die Reste seines Essens. »Ist aber nun mal passiert. Was Sie denken oder glauben, ändert nichts dran.« Das Licht ließ die groben Haare auf seinen Armen golden schimmern, während er die Hände öffnete, so als wolle er sagen: »Glauben Sie doch, was Sie wollen.«

Anna wand sich auf ihrem Stuhl, der Schweiß sammelte sich in ihren Kniekehlen, und ein kribbelndes Jucken überzog ihre Haut.

»Ach, das war schon ’ne komische Geschichte.«

Fourie erwärmte sich langsam für sein Thema, und aus dem Schwung und der Leichtigkeit, mit der er seine Geschichte erzählte, wurde deutlich, dass es sich dabei keineswegs um eine Erfindung handelte.

»Ich wurde auch mit reingezogen. Ich bin nämlich eines Nachts rüber zu Nels Haus gerufen worden. Sie hatten dieses riesengroße Haus in Brooklyn, Pretoria. Unser Nel hatte seine Frau ziemlich schlimm verprügelt und drohte damit, sie zu erschießen. Sie hat auf der Wache angerufen, und weil ich zufällig grade Dienst hatte, wurde ich rausgeschickt. Ich komm also da an und finde erst mal die Kinder im Garten, total hysterisch. Sherry und Frans sind in der Garage, ein einziges Geschrei und Gekloppe! Jesus, so was hab ich noch nie gesehen! Sie hatte schon die Windschutzscheibe von seinem geliebten Auto zertrümmert, eine Beule in eine der Türen geschlagen, und er feuerte Schüsse in alle Richtungen ab. Aber er wollte sie nicht umbringen. Wollte ihr bloß gehörig Angst einjagen. Und das ist ihm auch gelungen. Ein paar Monate später hat sie ihn dann verlassen.«

Er hielt inne, um sich noch eine Chesterfield anzuzünden. Anna sah, wie die orangerote Glut am Zigarettenende sich ausdehnte und wieder schrumpfte.

»Und wo war Paul?«

»Der war da schon längst Weg.« Shane winkte mit der Hand ab und zog dabei einen Bogen aus Rauch hinter sich her.

Anna nickte matt.

»Sherry Nel«, wiederholte Fourie und starrte hinaus in den hellen Tag. »Die war ein richtiger Knaller! Heißes Püppchen, immer geil auf ’ne Nummer. Trug immer diese engen Kleidchen und drunter nur einen String-Tanga. So eng, dass man genau sehen konnte, wo der String in ihrer Ritze verschwand!« Shanes Hände beschrieben Kurven durch die Luft, um die Rundungen nachzuvollziehen, die er durch das Kleid der Frau erspäht hatte, und der Rauch seiner Zigarette blieb noch eine Weile in entsprechender Kurvenform im Raum hängen.

Anna hatte das Gefühl, zu ersticken. Sie stand auf, ihr drehte sich der Kopf, und sie sah nur noch Sterne. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stellte überrascht fest, dass es schweißnass war.

Von draußen blickte ihr nur eine leere, endlose mörderische Wüste entgegen. Es war so still, dass Anna meinte, hören zu können, wie alle Feuchtigkeit und alles Leben aus der Erde gesogen wurden.

Sie drehte sich wieder vom Fenster weg, und die Sonne brannte ihr auf den Rücken.

»Die Hitze macht Ihnen wohl zu schaffen, was?« knurrte Shane.

Anna nickte, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Dillon stand auf und holte ein Glas Wasser für sie. Vorsichtig nahm sie es aus seinen Greifhänden entgegen und trank einen großen Schluck von der lauwarmen, schlammigtrüben Flüssigkeit. Alles, was sie wollte, war, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Sie wollte sich nur noch in den Schutz ihres Hauses verkriechen und besinnungslos im sicheren Kokon ihres Bettes liegen.

Doch ehe sie gehen konnte, musste sie erst noch mehr erfahren. Sie trank das Wasser aus und stellte das Glas auf den Tisch.

»Haben Sie einen Beweis dafür, dass Paul bei der Polizei war?« Sie zweifelte Fouries Geschichte nicht an, wollte jedoch irgendeine handfeste Bestätigung. Fourie schien Sie zu verstehen. Er nickte ruckartig mit dem Kopf in Richtung Tür und brüllte seiner Frau zu: »Shawna! Hol mir mal meine Dose!«

Anna starrte auf den Boden, während sie warteten. Ihr Körper fühlte sich schlaff und welk an, ihr Geist müde und abgespannt. Aus dem Nachbarzimmer hörte man ein Rascheln und Kratzen wie von Ratten, und dann tauchte Shawna mit einer alten Keksdose auf. Auf dem Deckel war die Abbildung eines englischen Dorfes, so idyllisch, wie wahrscheinlich nie eins existiert hat.

Fourie öffnete die Dose. Sie war vollgestopft mit Umschlägen, Papieren, alten Fotos und Postkarten. Er durchwühlte sie mit seinen gelblichen Fingerspitzen und tat schließlich mit einem Grunzen kund, dass er gefunden hatte, wonach er suchte. Er holte ein altes Farbfoto mit gezacktem Rand hervor.

Das Foto zitterte in ihrer Hand. Es zeigte Paul und Shane auf einer Angelyacht, eine von diesen großen Vergnügungsyachten, auf denen man vor der Küste im Norden Natals Marlin oder Kingfish fängt. Frans Nel war auch auf dem Bild, eng umschlungen mit Sherry, die einen knappen Bikini trug. Paul lächelte und, hielt grüßend eine Bierflasche in die Kamera.

Es war ganz unverkennbar Paul. Sie kannte diese scheußlichen karierten Badehosen. Und diesen Körper, so schlank und weiß und jung.

Lange starrte sie das Foto an und hätte Paul auf dem Bild gern etwas gesagt, doch es gelang ihr nicht. Es gab kein Wort, das vernichtend genug gewesen wäre, um ihm deutlich zu machen, was sie in diesem Augenblick fühlte.

»Und Jacob Oliphant?«, fragte sie schließlich.

Wegen des Rauchs, der aus seinen Nasenlöchern emporstieg, kniff Shane die Augen zusammen. »Was soll mit ihm sein?«

»War er auch ein Spitzel?« Es kam ihr vor, als ob nicht sie, sondern jemand anderes diese Worte sagte, ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne den bitteren Geschmack nach schalem Wasser auf der Zunge.

Shane schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, ich hab den Typen nie kennen gelernt. Hab auch Paul Lewis nur kurze Zeit gekannt, hab den Kontakt verloren, als er zur Uni geschickt wurde.«

»Wie haben Sie Paul denn überhaupt kennen gelernt?«

Shane erklärte, dass er zu dem Team gehört hatte, das Paul ausgewählt hatte, als er im Gefängnis saß. Fourie konnte seinen Stolz darüber nicht verhehlen, welch wichtige Rolle er dabei gespielt hatte, Paul als einen möglichen Spion herauszupicken.

»Ich war bei der Polizei, hab für Captain Nel gearbeitet. Mich hat Nel nie gemocht«, meinte er verbittert. »Deshalb habe ich es bei ihm nie weiter als bis zum Warrant Officer gebracht. Und ich hätte wahrscheinlich immer noch denselben Rang, wenn es nach ihm gegangen wäre. Ich habe hauptsächlich im Drogenbereich gearbeitet. Nicht die großen Sachen, hauptsächlich Gras und Pillen.«

»Sie meinen Mandrax?«, vergewisserte Anna sich. Fourie nickte. Mandrax war eine rezeptpflichtige Schlaftablette, ein starkes Barbiturat, das gern von Drogensüchtigen genommen wurde.

»Paul war ständig zu, als er seine Haftstrafe antrat, er hing ziemlich dick drin. Solche Leute waren nützlich für uns. Wir haben ihn eine Weile damit zugedröhnt und ihm dann das Zeug entzogen. Haben es auf unsere Weise gemacht. So dass er uns dankbar dafür sein musste.« In der Art und Weise, wie Shane das sagte, wurde flüchtig der Sadist in ihm erkennbar. »Wir haben ihm geholfen, clean zu werden, ihm die Regeln beigebracht und ihn dann vorzeitig aus der Haft entlassen. Unter bestimmten Bedingungen natürlich. Wir haben ihm das Studium an der Universität bezahlt. Dort brauchten wir auch Leute. Eine leichte Arbeit, wenn Sie mich fragen. Aber man musste der richtige; Typ dafür sein.«

Dillon rauchte, und Shane redete. Anna überlief es heiß und kalt, ihre Knochen fühlten sich morsch an und das Fleisch, das sie bedeckte, hauchdünn.

»Er war ein richtiger Amateur, wir mussten ihn erst ausbilden, doch dann hat er sich zu einem guten Spitzel gemausert. Ich habe keine Ahnung, was sie mit ihm angefangen haben, nachdem er die Universität verlassen hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich schon nicht mehr dabei. Ich bin abgehauen, als die Dinge unangenehm wurden.« Die Blicke, die er mit Dillon tauschte, legten nahe, dass hinter seinem Austritt aus der Polizei noch weit mehr steckte, doch Shane führte das nicht weiter aus, und Anna war nicht daran interessiert, dem nachzugehen. »Und ich war froh, dass ich ausgestiegen bin, als ich gesehen habe, was sie mit Paul gemacht haben«, war alles, was er sagte.

Über den Mord wusste Fourie nur das, was er in den Zeitungen gelesen hatte.

»Wären Sie bereit, das alles auch vor Gericht auszusagen?«, fragte Anna mit schwacher Stimme.

Er zuckte mit den Achseln und brauchte nicht lange darüber nachzudenken. »Solange Sie mir die Fahrt bezahlen, hab ich kein Problem damit.«

Anna nickte. Sie hatte genug. Es war Zeit aufzubrechen. »Darf ich das Foto behalten?«

Fourie zuckte mit den Achseln. »Wenn es Ihnen so viel bedeutet.«

Sie murmelte ein Dankeschön, während sie die belastende Aufnahme in ihrer Tasche verschwinden ließ.

»Sie kommen aus Pretoria?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Antwort kam nur krächzend heraus, die Worte kratzten ihr wie Sandpapier in der Kehle. »Joburg.«

Er schien beeindruckt. »Sie haben Glück, dass Sie uns heute überhaupt hier angetroffen haben. Bis heute Früh waren wir nämlich draußen im Busch. Auf der Jagd. Wollten eigentlich nicht vor nächster Woche zurückkommen, aber wir hatten Probleme mit dem Bakkie.« Er deutete vage in Richtung des rostigen Pick-ups, der im dürftigen Schatten des abgestorbenen Eukalyptusbaums stand.

Als sie an ihrem Auto angekommen waren, legte Shane Fourie ihr seine trockene, raue Hand auf den Arm. Die Berührung war ihr unangenehm. Anna blickte ihn beinahe ängstlich an und flehte innerlich, dass er sie loslassen möge. Plötzlich sprach er in einem neuen Tonfall, leise und dringlich. »Sie haben nicht zufällig Brandy dabei, oder?« Der Ausdruck heftigen Verlangens in seinem Blick war mitleiderregend.

Anna schüttelte den Kopf, und er zog seine Hand zurück und steckte sie in die ausgefranste Tasche seiner Jeans. »Ich hab nur mal gefragt. Hätt’ ja sein können«, kicherte er. Eine seltsame Mischung aus Grausamkeit und enttäuschtem Verlangen zeichnete sich auf seinem faltigen Gesicht ab. Anna wich seinem Blick aus, während sie sich kurz bedankte, verabschiedete und in ihr Auto stieg.

Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen hantierte sie mit ihren Schlüsseln herum. Dann endlich fuhr sie begleitet von einem kühlen Luftstoß der Klimaanlage davon, und die beiden Männer verschwanden in der Ferne.

Koekemoor wartete an die Motorhaube seines Antos gelehnt und wirkte trotz der Hitze und seiner dicken Uniform wie die Ruhe selbst. Er grinste, als sie neben ihm hielt, erschrak aber, als er ihr Gesicht sah.

»Oh, nein, Lady. Sie sehen aus, als ob Ihnen ein Gespenst begegnet wäre.«

Benommen erwiderte Anna: »Nein, es geht schon wieder. Es ist bloß die Hitze.«

»Ja, ja. Die kann einem schon zu schaffen machen, wenn man nicht dran gewöhnt ist!«

Am liebsten wäre Anna allein gewesen, doch aus Höflichkeit und vielleicht auch, weil sie zu verstört war, sich anders zu entscheiden, gab sie dem Drängen des Constables nach und folgte ihm zurück in die kleine Polizeiwache. Er schenkte ihr eine eiskalte Coca-Cola ein, und der Zucker half, das Ubelkeit erregende Gefühl der Unwirklichkeit zu bekämpfen, das sich ihrer bemächtigt hatte.

Koekemoor schenkte ihr noch eine Cola ein und setzte sich mit ernstem Gesicht ihr gegenüber hin. Ganz offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen. »Ich möchte ja nicht den Eindruck eines Unruhestifters erwecken, Miss Kriel, aber da gibt es doch eine Kleinigkeit, die ich gern mit Ihnen besprechen würde. Ich meine, wenn schon mal jemand von Ihrem Rang und Ihrem Einfluss hierher kommt das kommt ja schließlich nicht alle Tage vor. Und ich würde mich hinterher schwarz ärgern, wenn ich diese Gelegenheit verstreichen lassen würde.«

Anna hatte das Gefühl, als ob ihr Kopf gleich zerspringen würde, doch sie nickte aufmerksam.

»Also Ma’am. Es dreht sich um unsere Uniformen.«

Er sei ziemlich ärgerlich, erklärte er, dass die neuen Uniformen der Südafrikanischen Polizei, die ßchon so lange angekündigt worden wären, noch nicht an seine Dienststelle geliefert worden seien. »Es ist mir furchtbar peinlich — vor allem, wenn eine Dame Ihres Dienstgrades zu einer Inspektion anreist — und ich noch nicht einmal die richtige Uniform präsentieren kann!«

»Ich bin nicht hierher gekommen, um …«, begann sie.

»Nein, nein. Sagen Sie nichts«, unterbrach er sie und gestikulierte verlegen mit den Händen. »Ich weiß. Es ist ganz und gar unangebracht, dass ich mich darüber beschwere, und ich bin auch bereit, die Konsequenzen zu tragen. Doch ich muss einfach protestieren. Ich kann mich nicht pflichtbewusst und stolz als Mitglied der Südafrikanischen Polizei betrachten, wenn ich diese veraltete Uniform tragen muss!«

Anna beugte sich über den Tisch und legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

»Constable. Sie können sich auf mich verlassen. Sobald ich nach Pretoria zurückkomme, werde ich als allererstes eine deutlichen Rüge an die Verantwortlichen aussprechen und veranlassen, dass Ihnen die neuen Uniformen so schnell wie möglich geschickt werden!«

Ihr selbstsicheres Auftreten und ihr Versprechen stimmten ihn wieder froh. Koekemoor platzte vor Stolz fast aus den Nähten seiner alten Uniform, während er sie zum Auto begleitete. Dann drückte er ihr eine handgeschriebene Karte in die Hand, die aussah, als sei sie aus einem Zigarettenpäckchen ausgeschnitten worden. Darauf standen sein Name, Dienstgrad und seine Telefonnummer. Constable Jan Koekemoor. »Beim nächsten Mal müssen Sie aber nicht extra den ganzen weiten Weg fahren. Rufen Sie einfach an, und ich führe gern alle Befragungen für Sie durch!« Er grinste und winkte ihr fröhlich zu, während sie die Tür hinter sich zuzog und den Motor anließ. »Fahren Sie vorsichtig, und vergessen Sie nie: Wir freuen uns immer, wenn wir Ihnen helfen können!«

Anna fuhr zusammengesunken über das Lenkrad gebeugt. Die Straße schmiegte sich wie ein langes Teerband in die Kurven der Landschaft. Es kam ihr vor, als würde sie in die Unendlichkeit fahren.

Ihr ganzes Leben war eine Lüge und ihre Liebe bloß Täuschung gewesen. In Wahrheit hatte sie nur eines der zahllosen Fächer bewohnt, aus denen Pauls Leben bestanden hatte. Tatsächlich war das, was sie für Liebe gehalten hatte, für ihn in dieselbe Kategorie gefallen wie ein verstohlener Fick auf einer Motorhaube in irgendeiner nach Abgas stinkenden Garage. Der widerliche, schmuddelige Schein von Drogen, String-Tangas, Bestechungsgeldern und verprügelten Ehebrecherinnen war auf ihre Welt gefallen und hatte sie durch und durch verschmutzt. All die Unschuld, Reinheit und der Idealismus ihres Lebens und ihrer Liebe zu Paul waren durch die fünf Worte Shane Fouries zerstört worden: »Er war einer von uns.«

Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um dieselben Fragen: Wie war es möglich, dass sie ihn so wenig gekannt hatte? Wie konnte ihr eigenes Urteilsvermögen so schlecht gewesen sein? Wenn Paul nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte — wer war dann sie selbst? Wenn Anna diese Fragen schon nicht für sich beantworten konnte, was sollten dann erst die Leute in der Johannesburger Gesellschaft sagen, die so durchsichtig war wie ein Goldfischglas? Und was würde geschehen, wenn die Bewegung erfuhr, dass einer ihrer Helden ein Verräter war? Es gab schon genug Leute, die sich gefragt hatten, ob Anna ebenfalls beteiligt gewesen war. Nun unterhöhlten Selbstzweifel und Selbstmitleid die Sicherheit, mit der sie vorher allen Fragen begegnet war.

Anna weinte so heftig, dass sie die Fahrbahn kaum mehr sehen konnte. Sie fuhr auf den Randstreifen, hielt an und wartete, dass der Schmerz nachließ.

Dann stellte sie sich vor, dass sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, und ihr wurde bewusst, dass sie ihm nichts zu sagen hatte. Einem Mann nichts zu sagen hatte, von dem sie gedacht hatte, sie würde ihn besser als jeden anderen Menschen kennen, dessen Stimme ihr so vertraut war wie ihre eigene, dessen Gesten sie vorhersagen konnte; ein Mann, dessen Körper sie ganz genau kannte. Was war bloß mit ihm geschehen, dass er die Menschen verraten hatte, die ihm doch am nächsten hätten stehen sollen? Dass er sich selbst so sehr verraten konnte, dass beinahe jede Minute seines Lebens eine Lüge war? Wie musste eine Seele beschaffen sein, um so umgedreht zu werden?

Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder so weit beruhigt hatte, dass sie die Orientierung wiederfand. Sie blickte ihre Hand an und stellte fest, dass sie den Ring von ihrem Finger abgezogen hatte.

Ohne zu zögern stieg Anna aus und trat auf die Straße, die sich wie ausgestorben ostwärts und westwärts bis zum Horizont erstreckte. Sie hob den Arm und warf den goldenen Ring in die Luft. Er drehte sich, fing noch mal kurz das Sonnenlicht auf, ehe er zu Boden trudelte und zwischen Bierdosen, Plastiktüten und dem ganzen übrigen Abfall verschwand, der den Straßenrand verschmutzte.

22

Als Anna das verkommene Haus und die kaputte Familie in Bulletrap verließ, war es, als würde sie aus einem Bombenkrater in eine zerstörte Welt emporsteigen. Sie funktionierte noch — irgendetwas arbeitete und bewegte einen Körper vorwärts, der aussah wie ihrer und sich bewegte wie ihrer — doch Anna konnte überhaupt nichts spüren.

In der folgenden Woche ging sie wie gewöhnlich ins Büro, verrichtete ihre Arbeit und erwähnte niemandem gegenüber ihre Reise nach Bulletrap. Und obendrein wurde sie ironischerweise zu einem Meeting mit ihrem Minister geladen, in dem er sie fröhlich darüber informierte, dass der interne Untersuchungsausschuss sie von jedem Verdacht freigesprochen hatte.

»Es tut mir so Leid, Anna«, sagte er. »Ich habe wohl keine gute Entscheidung getroffen. Paul und Sie, Sie haben einander so nahe gestanden. Ich habe wohl geglaubt, dass Sie es auf jeden Fall hätten wissen müssen, falls er ein Spion war.«

Sie lachte bitter, beinahe hysterisch, aber es gelang ihr, die einzig wichtige Frage zu stellen: »Woher haben Sie Ihre Informationen bekommen?«

Er rückte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Also, ganz unter uns: vom Geheimdienst des ANC, aber es wäre mir lieber, wenn darüber nicht mehr geredet würde.«

Sie schüttelte den Kopf, für sie bestand kein Grund, diese Information je zu erwähnen. »Und Paul?«

Der Minister zuckte die Achseln. »Da es hier nicht um ihn ging, haben wir seinen Hintergrund nicht weiter überprüft.«

Sie erhielt ein offizielles Entschuldigungsschreiben, in dem man die Unannehmlichkeiten bedauerte, die die Untersuchung verursacht hatte, und damit war der Fall erledigt.

Doch es gab für sie keine Normalität mehr, in die sie hätte zurückkehren können.

Sie schleppte sich durch die Woche, kam spät zur Arbeit und ging früh wieder. Sie hielt Termine nicht ein, Augenbrauen wurden vorwurfsvoll-fragend hochgezogen, doch das war ihr egal. Es bedeutete ihr nicht mehr so viel wie früher. Sie nahm sich sogar einen Tag frei, um Rachel bei ihren Hochzeitsvorbereitungen zu helfen.

Am Abend vor der Hochzeit wollte sie früh zu Bett gehen, als ihr Blick auf die Sammlung silberner Bilderrahmen in ihrem Schlafzimmer fiel: die Galerie mit seinen Fotos. Die Fotos anzuschauen war, als blicke sie in ein Spiegelkabinett. Wer bist du? Für wen bast du dich gehalten? Was glaubst du, wer du bist? Sie holte den Papierkorb und fegte die Bilder mit einer einzigen heftigen Armbewegung hinein. Sie knallten aufeinander, und Glas splitterte. Dann warf sie den ganzen Haufen auf den Müll.

Am Samstag, dem Tag der Hochzeit, war herrliches Wetter. Anna war ein bisschen spät gekommen und holte tief Luft, während sie über die Veranda ging, die mit Girlanden aus Lilien, Efeu und weißen Rosen geschmückt war. Temba stand mit seinen Brüdern und Rachels Söhnen im Flur. Bram war inzwischen vierzehn, picklig, verlegen und genauso ernst wie sein Vater. Aus Delarey war ein herrlich ungestümer Siebzehnjähriger geworden, er trug goldene Ohrringe, schulterlanges schwarzes Haar und hatte das breite Lächeln seiner Mutter.

Delarey fiel Anna stürmisch um den Hals. »Du siehst total klasse aus!«, rief er und brachte sie zum Erröten. Anna trug einen neuen Sari in Orange und Gold und sah wirklich schön aus, in schillernde Seide gehüllt, die ihren braunen Bauch unbedeckt ließ.

»Ist Joe nicht mit dir gekommen?« Temba blickte suchend an ihr vorbei auf den Gartenweg.

Anna schüttelte den Kopf. »Wo steckt die Braut?«

Temba grinste und hob ratlos die Hände. »Keine Ahnung. Ich kann dir sagen, sie nimmt die ganze Prozedur wirklich sehr ernst! Ich hab sie schon seit gestern nicht mehr zu Gesicht bekommen!«

Im Haus ging es hoch her: Überall Gespräche und Musik, Kinder rannten durch den Garten, Gäste polterten von einem Zimmer ins andere, aus der Küche ertönte Frauengelächter. Während Anna durch die vertrauten Zimmer ging, schien sich die Zeit für sie aufzulösen. Hinter Rachels farbenfrohem Chaos konnte Anna noch die karge Askese ihrer ärmeren und ernsteren Tage als politische Aktivisten spüren, die Zeit, in der sie hier mit Paul gelebt hatte. Sie konnte noch genau vor sich sehen, wie sie und die anderen hier in diesem Haus gelebt hatten, doch nun sah sie sich und ihre Freunde nicht mehr so, wie sie sie ursprünglich in Erinnerung hatte, sondern die gemeinsame Zeit kam ihr plötzlich verlogen und grotesk vor.

Die Plakate im Flur, die früher einmal ihre gemeinsame Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit hinausgeschrien hatten, waren zu gerahmten Artefakten geworden, von denen ein jedes Paul anzuklagen schien. Der Sieg ist gewiss. Each one teach one. Get up stand up. Im Wohnzimmer hing ihre hoch geschätzte Kopie der Freiheitscharta, eine von jenen, die die Sunday Post im Juni 1989 gedruckt und verteilt hatte, fünfundzwanzig Jahre nachdem der Volkskongress sie entworfen hatte. Ihre Finger glitten über das bewegende Bekenntnis: Wir, das Volk von Südafrika, erklären vor unserem Land und der Welt, dass Südafrika denen gehört, die hier leben, Schwarzen und Weißen, und keine Regierung kann sich als rechtmäßig betrachten, solange ihr Mandat nicht auf dem Willen des Volkes beruht.

Inzwischen schienen die Worte für sie eine neue Bedeutung zu haben, denn es waren die Worte, die Paul verraten hatte: Für diese Freiheiten wollen wir kämpfen, Seite an Seite, unser Leben lang, bis wir unsere Freiheit wiedergewinnen.

Anna setzte sich und kämpfte darum, es zu verstehen. Sie hatte Paul vertraut, ihm ihr brüchiges, kostbares, unvollkommenes Selbst anvertraut. Alle Grenzen waren gefallen, und das Gefühl, jemanden in- und auswendig zu kennen und von ihm gekannt zu werden, war berauschender gewesen als jedes andere Hochgefühl.

Zu erfahren, dass er sie betrogen hatte, dass ihr Paul bloß in ihrer Einbildung existiert hatte, hinterließ ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit. Er hatte in einer anderen Wirklichkeit gelebt, ihr vermeintlicher Seelenverwandter — ihre einzige funkelnde Verbindung zur Welt. Und dabei war sie die ganze Zeit über allein gewesen, wenn sie neben ihm lag, wenn sie Seite an Seite mit ihm kämpfte. Eigentlich hätte er der Mann ihres Lebens sein sollen, der einzige, der scharf und durchdringend in ihr Innerstes blickte; ihr Gegenstück, ihr ebenbürtiger Partner, der ihre Bedürfnisse genauso erfüllte wie seine eigenen. Doch er hatte die ganze Zeit über nur seine eigenen Ziele verfolgt. Anna war bestenfalls eine zufällige Begleitung gewesen. Und schlimmstenfalls hatte sie ihm als ahnungslose Komplizin gedient, als Schlüssel, der ihm viele Türen geöffnet hatte.

War sie so vollkommen in Paul aufgegangen, dass sie ihr gesamtes Urteilsvermögen eingebüßt hatte? Oder hatte sie geahnt, dass er sie die ganze Zeit über angelogen hatte? Lag hierin eine gewisse Mittäterschaft? Irgendeine nur halb wahrgenommene Intuition, die ihr sagte, dass die Liebe, die er ihr ins Ohr flüsterte und mit der er sie umgab, bloß eine Lüge war? Wie konnte es sein, dass sie nichts gemerkt hatte?

Man weiß doch, wenn jemand einen anlügt. Sie erinnerte sich noch daran, wie entschieden sie das zu James Kay gesagt hatte. Man weiß es, weil man es an den Augen sehen kann, man merkt es am Klang der Stimme, an der Körpersprache und daran, dass der Lügner bei Kleinigkeiten ins Stolpern gerät. Und trotzdem hatte sie nichts gemerkt.

Was wahr ist, ist wahr. Und die Unwahrheit ist nicht wirklich. Wie konnte es also sein, dass das Unwahre ihr so verflucht wirklich erschienen war? Woran lag es, dass sie die Täuschung vorgezogen hatte? War Paul bloß ein begnadeter Lügner gewesen? Er hätte ein Psychopath sein müssen, um so vollkommen zu sein, Man hatte ihm absolut nichts anmerken können, weder ein Flackern in seinen Augen, noch ein falscher Tonfall, kein Zucken in seiner Körperhaltung, sie konnte sich an nichts erinnern, was ihn verraten hätte.

Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl für ihn gewesen sein musste, zwei oder mehr Leben gleichzeitig zu leben. Sie wusste, was die Spionagearbeit einem Menschen antun konnte. Jemand, der das Leben eines Spions lebt, opfert Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und wird mit der Zeit immer verschlagener und kaputter, bis er selbst nicht mehr in der Lage ist, sein wahres Ich von all den Lügen und Legenden zu trennen, die zu seinem Leben geworden sind.

Sie erinnerte sich daran, dass Paul oft Angst gehabt hatte, dass er nachts häufig mit dem Gefühl aufgewacht war, nicht mehr atmen zu können. Er hatte nie geschrien, nie ein Wort darüber verloren, aber trotzdem wusste sie, dass er dann geträumt hatte, er wäre gelähmt. Nun wurde ihr bitter bewusst, dass diese Träume womöglich das Schlimmste waren, was er je gefühlt hatte. Er hätte noch mehr Schmerz erleiden sollen!

»Da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht!« Anna blickte auf und sah Rika Swanepoel im Türrahmen stehen. »Mensch, du siehst aber blass aus!« Rika schwebte in einem bodenlangen, engen himmelblauen Kleid durch das Zimmer. »Es muss schwer für dich sein, heute hier zu sein«, meinte sie und setzte sich neben Anna.

»Nein, eigentlich nicht. Es ist okay«, erwiderte Anna schnell und wich Rikas Blick aus. Sie hatte das Gefühl, Pauls Verrat stünde ihr ins Gesicht geschrieben. »Du siehst fantastisch aus, Rika.« Sie brachte ein herzlicheres Lächeln zustande, und Rika lächelte ebenfalls. »Bist du mit deinem Ex-Mann hier?«

Rika nickte und nahm Anna bei der Hand. »Er ist draußen und holt uns Champagner. Komm mit!«

Anna folgte ihr in den Garten, in dem winterliches Grün, rote Weihnachtssterne und die scharlachroten Zapfen der Fackellilie um die Wette leuchteten. Heitere Gespräche erfüllten die Luft. Willem stand an der Bar, in jeder Hand ein Glas Schampus. »Prost!«, rief er ihnen fröhlich zu, als sie die Gläser nahmen. Und Anna hätte am liebsten geweint — für ihn und all die anderen, die Paul geliebt hatten.

Annas Mutter und ihre Schwestern kamen in schimmernden farbenfrohen Kleidern durch den Garten geschwebt, ihre Nichten und Neffen hatte man in Anzüge und Festtagskittel gesteckt und ihnen das glänzende Haar ordentlich frisiert, genau wie man es mit Anna gemacht hatte, als sie ein Kind gewesen war. »Tante Anna! Tante Annal«, riefen sie und klammerten sich an ihre Beine, um umarmt und geküsst zu werden.

Yasmin kicherte, als Willem ihr einen Drink anbot. »Oh! Sie führen mich schon wieder in Versuchung!« Dann trank sie einen großen Schluck.

»Ma! Du solltest doch eigentlich keinen Alkohol trinken!« schalt Anna sie. Ihre Mutter blickte sie mit einem verschmitzten Grinsen an. »Ich trinke bei allen Hochzeiten meiner Kinder, und wenn du mir schon keine Gelegenheit bietest, muss ich mit Rachels Feier vorlieb nehmen!«

Annas Schwester Natasha erkundigte sich nach Joe.

»Er ist noch nicht da«, erwiderte Anna und blickte sich suchend im Garten um.

»Nun — er sollte besser noch rechtzeitig kommen, damit er sehen kann, wie du den Brautstrauß fängst!« Es gab viel Gelächter und Neckereien. Ihre Familie hatte offensichtlich beschlossen, dass sie nun lange genug gewartet hatte und es an Anna war, als Nächste zu heiraten. Sie entschuldigte sich und entfloh den Sticheleien nach drinnen, um Rachel zu suchen.

Die Braut war im Schlafzimmer, wo ihre Mutter, Sarah, ihr in aller Seelenruhe einzelne Haarsträhnen in der Frisur feststeckte. Sarah war ganz konzentriert auf ihre Aufgabe und schien das Durcheinander aus Tüchern, Unterwäsche und Schmuck zu ihren Füßen gar nicht zu bemerken. Rachel grinste und winkte Anna aufgeregt im Spiegel zu. Ihre Mutter zerrte an ihrem Kopf. »Ich hab dir doch schon mal gesagt, du sollst dich nicht bewegen!« Rachel schnitt eine Grimasse und bemühte sich, ruhig zu sitzen, doch sie platzte fast vor Vorfreude.

»Soll ich gleich noch mal wiederkommen?«, fragte Anna.

»Nein, Nein. Ich bin hier gleich fertig. Du siehst reizend aus, Anna!«, sagte Sarah, während ihre Finger sich eifrig durch das Haar arbeiteten.

Sarah war eine nüchterne, bodenständige Frau, die den Großteil ihres Lebens nachts als Putzfrau in einem Krankenhaus gearbeitet hatte, sieben Kinder geboren und fünf von ihnen groß gezogen hatte. Sie war stolz auf die Leistungen ihrer jüngsten Tochter, aber nicht leicht zu beeindrucken. Methodisch arbeitete sie sich um Rachels Kopf herum und feuerte in regelmäßigen Abständen kleine Haarspraysalven ab, die als klebrige Wolke in der Luft hingen, ehe sie sich auf Rachels Haar festsetzten.

»Fertig?«, fragte Rachel und wedelte mit den Händen neben dem Kopf herum.

»Fertig«, meinte Sarah und betrachtete zufrieden ihr Werk. Rachel küsste ihre Mutter und hinterließ dabei einen riesigen kastanienbraunen Lippenabdruck auf ihrer Wange. Sarah verzog das Gesicht.

Als Rachel aufständ, fiel ihr das buttergelbe Kleid bis auf die Knöchel, und die aufgestickten goldenen Spiralen schimmerten.

Anna zog die Luft ein. »Wow!«

Rachel blickte verlegen zu Boden und hielt sich die Hand vor den Mund. »Jetzt bringt mich bloß nicht zum Heulen, Mädels!«

»Verschmier dein Make-up nicht!«, fuhr Sarah sie energisch an.

»Oh Gott, Rachel. Du siehst einfach perfekt aus!«, flüsterte Anna.

Rachel kämpfte mit den Tränen, und ihre Lippen verzogen sich voller Rührung. »Ich muss immer an Jacob denken. Ich kann richtig spüren, dass er hier im Haus ist.«

»Ich weiß. Ich weiß.«

Sarah warf Anna einen »Jetzt-bring-sie-bloß-nicht-zum-Heulen«-Blick zu, doch sie wurden durch die Jungen gerettet, die mit strahlenden Gesichtern hereingestürmt kamen. Das Hemd hing ihnen aus der Hose, und ihre Haare waren völlig zerzaust. »Ma! Es geht los!«, verkündete Delarey, während seine Großmutter ihn in den Schwitzkasten kasten nahm und ihm hastig mit dem Kamm durchs Haar fuhr.

Rachel wedelte mit den Händen wie ein aufgeregt flatterndes Huhn. Anna ergriff ihre Hände und drückte sie fest, während Rachels Mutter der Braut die verschmierte Wimperntusche abwischte. »Ohgottohgottjetztgehtslosjungs!«, jammerte Rachel.

Anna küsste sie auf die Wange und flüsterte ihr hastig »Viel Glück, mein Engel« ins Ohr, dann lief sie nach draußen, um gemeinsam mit den anderen den Auftritt der Braut zu erwarten.

Anna fand einen Platz am Rande der Menge neben ihrer Mutter, die sie kritisch von oben bis unten musterte. »Na ja, wenigstens siehst du jetzt nicht mehr so blass aus.« Anna lächelte und blickte zum Haus, als die Musik einsetzte und aus den Lautsprechern schallte, die auf den Fensterbänken des Wohnzimmers aufgebaut worden waren.

Doch anstelle der Braut tauchte Joe in der Tür auf. Er lächelte und winkte, als ihm Gelächter und Applaus entgegenschallte, und lief dann mit ausgestreckten Armen die Treppe hinunter wie der Sieger eines Rennens. »Gerade noch rechtzeitig!«, flüsterte er Anna zu und reihte sich neben ihr ein.

Dann kamen Rachel und ihre Söhne langsam die Treppen hinunter und gingen durch den Gang, den die staunende, begeisterte Menge für sie freigelassen hatte. Die Jungen sahen so frisch geschrubbt und ernst aus, und ihre Mutter konnte nicht aufhören zu lächeln, obwohl ihr Tränen der Rührung über das Gesicht liefen. Tembas Augen leuchteten auf, als er sie sah. Aus seinem Blick sprachen so viel Stolz, Vertrauen und Liebe, als er seine Braut betrachtete, dass es beinahe schon wehtat zuzusehen. Bram und Delarey übergaben ihm ihre Mutter und traten dann zu ihrer Familie und ihren Freunden.

Als die Zeremome begann, fühlte Anna sich als Außenseiterin, durch einen unsichtbaren Schild aus Traurigkeit von den anderen getrennt. Da stand sie, inmitten einer Feier der Beständigkeit, Heilung und Hoffnung auf die Zukunft und war selbst auf ewig in der Vergangenheit gefangen.

Teil V

5. Teil

Es ist ein Fehler, alles nur schwarz

oder weiß sehen zu wollen.

So war es nie,

und so wird es auch nie sein.

Es giebt nur unzählige Grautöne.

Colonel Ig Du Preez

23

»Okay, so viel wissen wir bis jetzt: Es gibt in Gauteng zwei konkurrierende Gangs. Die Angolaner und die Mosambikaner. Wir wissen, dass es sich bei den Mosambikanern vor allem um ehemalige Freiheitskämpfer handelt, gewürzt mit einer Prise Ex-Polizisten. Stimmt’s?« James tippte bei jedem Punkt mit einem Kugelschreiber gegen seine Finger.

»Stimmt.« Chris runzelte konzentriert die Stirn.

Es war einer der wenigen trüben und wirklich kalten Tage, die im Winter über Johannesburg hereinbrechen. Die Stadt versteckte sich hinter einer düsteren, schmutzig-grauen Regenwand. James sprach mit seinem Chefredakteur, Chris Rassool, einem korpulenten Mann mit randloser Brille und dichtem schwarzen Lockenschopf, der in alle Richtungen abstand. Chris sah immer so aus, als habe er gerade einen Zweikampf hinter sich, dabei war er der liebenswürdigste Mann, dem James je begegnet war.

Sie saßen auf dem Schreibtisch in Chris’ Büro, einem gläsernen Kasten, von dessen einer Seite man Ausblick über Johannesburg hatte. Auf der anderen Seite konnte man direkt in die Nachrichtenredaktion blicken, wo gerade fieberhafte Aktivität herrschte. Es waren nur noch vierundzwanzig Stunden bis Redaktionsschluss, und unter den Mitarbeitern herrschte die übliche Hektik kurz vor Schluss. Die Redaktion sah eher aus wie ein geräumiger Geräteraum, mit schmutzigen Fenstern an jedem Ende, die nur wenig Licht hindurchließen. Die Zimmerdecke bestand aus nacktem Beton, zwei Reihen Neonröhren beleuchteten das Chaos. Den Boden bedeckten braune Teppichfliesen, übersät mit Zigarettenlöchern und platt getretenem Schmutz. Im Fernseher in einer Ecke lief rund um die Uhr BBC-World. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Konferenztisch, dekoriert mit längst verwelkten Lilienstängeln in einer Zinnvase. Über allem hing ein Geruch nach Zigaretten und abgestandenem Kaffee.

»Bazooka Rabopane ist der Anführer der Mosambikaner. Er wird verhaftet, irgendwie gelingtes ihm, jemanden zu schmieren, er flieht und es gibt großes Theater. Zwei Tote bei einer Schießerei in einer Bar in Soweto, drei werden bei einem missglückten Bankraub getötet, die Räuber fliehen. Die Angolaner scheinen auf dem aufsteigenden Ast zu sein.«

»Okay?«

»Kann es sein«, meinte James nachdenklich, »dass Joe Dladlas Einheit mit den Angolanern gemeinsame Sache macht, um Bazooka und seine Gang zu erledigen?«

Chris stand vom Schreibtisch auf und marschierte in seinem Büro auf und ab, die Hände tief in die Taschen gesteckt. »Tja, Dladla ist ja bekannt dafür, unkonventionelle Wege zu gehen, hart an der Grenze des Erlaubten. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass er seine Leute in eine Gang einschleust, um sie gegen eine andere auszuspielen, aber es wäre eine ziemlich riskante Sache.« Chris setzte sich auf seinen Bürostuhl und legte die Beine auf den Tisch.

»Es kommt mir fast so vor, als ob die Bullen versuchen, diese Gangs zu kontrollieren, indem sie sie ja wie soll ich sagen …«, James öffnete ratlos die Hände und suchte nach dem passenden Wort, »… indem sie ihnen eine Konzession erteilen.«

»Du meinst, so wie Schutzgelderpresser?«

»Ja, genau.« James klatschte sich mit den Händen auf die Oberschenkel.

»Das wäre ja Wahnsinn.« Chris Rassool schienen die Worte zu fehlen.

»Ich weiß es natürlich nicht sicher. Aber so sieht es für mich aus.«

»Ich weiß nicht, James. Wir müssen hier vorsichtig sein. Schließlich hat Joe Dladla einen untadeligen Ruf. Du kennst die Geschichte doch selbst, der Kerl hat eine steile Karriere hinter sich, und jetzt führt er eine Einheit, die überwiegend aus der unverbesserlichen alten weißen Garde besteht. Alles Leute, die ihn nicht ausstehen können, weil er jung und schwarz und zu allem Überfluss ein ehemaliger Freiheitskämpfer ist.«

Chris’ Redefluss wurde unterbrochen, weil jemand mit Schwung die Bürotür aufriss. Chris’ Sekretärin Miriam schob ihren gebleichten Haarschopf herein. Ihre Frisur sah aus wie starre Berggipfel aus Zuckerguss über einem Kuchen, der wie ein Gesicht geformt war.

»Anruf für dich, James. Aus Übersee. Eine Frau!« Sie unterstrich das letzte Wort mit einem bedeutungsvollen Zwinkern.

»Schreib auf, was sie will.«

»Sie hat schon gesagt, dass du das sagen würdest, aber das kann ich nicht. Sie will unbedingt mit dir persönlich sprechen.«

James seufzte. »Hör mal, wir sind gerade mitten in einer wichtigen Besprechung. Bitte, Miriam?«

Miriam rauschte mit knisterndem Rock aus dem Zimmer. James wandte sich wieder seinem Chefredakteur zu, der ein anzügliches Grinsen aufgesetzt hatte.

»Hast du etwa eine Dame in Übersee?«

James schüttelte den Kopf. »Können wir jetzt bitte wieder zu dieser Geschichte zurückkommen?«

Chris Rassool setzte sich aufrecht hin und stellte die Füße auf den Boden, wieder ganz geschäftsmäßig. »Okay, wir brauchen ein Interview mit Dladla. Ich werde mal anrufen. Vielleicht hilft mein Name da weiter.«

»Das wäre super. Mein Name scheint nicht wohl gelitten, seit wir diesen Artikel über Paul Lewis veröffentlich haben.«

»Sei vorsichtig bei Joe. Wenn du auf seiner Seite stehst, hast du kein Problem, aber wehe dir, wenn du es dir mit ihm verdirbst! Mit dem Kerl ist nicht zu spaßen.«

James fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fragte sich, ob es für diesen gut gemeinten Hinweis nicht längst zu spät war.

Miriam kam wieder ins Büro marschiert, diesmal mit einer Notiz für James und einem Stapel Faxe für Rassool. Sie funkelte die beiden wütend an, während sie ihnen die Papiere in die Hand drückte, und marschierte dann hinaus. Beide Männer musterten die Papiere, die sie ihnen gegeben hatte. James’ Stimmung sank, als er den Notizzettel las. Die Nachricht war von Alison. »Bitte ruf mich an. Ich muss dringend mit dir sprechen.« Die Nummer, die sie hinterlassen hatte, war ihre alte gemeinsame Privatnummer. Er zerknüllte den pinkfarbenen Zettel und warf ihn in den Papierkorb, während er in Richtung Tür marschierte.

»Hey, warte! Schau dir das mal an!«, rief Chris, sprang von seinem Stuhl auf und wedelte mit einem Fax vor James’ Gesicht herum. »Frans Nel hat einen Antrag auf Amnestie für die Mafikeng-Morde gestellt!«

James konnte es gar nicht glauben. »Was?«

Chris breitete die Blätter auf seinem Schreibtisch aus. Es handelte sich um eine Pressemitteilung der Wahrheitskommission, wie sie etliche am Tag bekamen. Doch die Überschrift war unglaublich: »Brigadier Frans Nel gibt zu, ein Attentat auf Paul Lewis und Jacob Oliphant verübt zu haben.«

James überflog die Seite, Absatz für Absatz. Die Pressemitteilung gab Auszüge aus Nels Amnestieantrag wieder. Darin gab er zu, dass er die Ermordung veranlasst und durchgeführt hatte, gemeinsam mit einem gewissen Warrant Officer Jeff Curry, der inzwischen verstorben sei.

»Wie praktisch«, murmelte James.

Das Motiv für den Mord, so behauptete Nel, sei ein politisches gewesen. Ja, natürlich. Das musste es auch sein, wenn er einen Anspruch auf Amnestie geltend machen wollte. Nel erklärte weiterhin, dass seine Einheit Grund zu dem Verdacht gehabt habe, dass Paul Lewis und Jacob Oliphant Terroristen bei der Einfuhr von Waffen am Botswana unterstützten. Das Hauptquartier der Sicherheitspolizei sei von ihren Tätigkeiten unterrichtet gewesen und hätte den Auftrag erteilt, die beiden Männer zu »eliminieren«.

James blickte Chris an. Beide Männer schüttelten erstaunt den Kopf. »Unglaublich!«

»Das wirft deine Geschichte über den Haufen, dass er ein Spion gewesen sei«, meinte Rassool grinsend. James zuckte mit den Achseln. »Man kann nicht immer gewinnen.«

»Hier, nimm’s mit. Und mach bitte ein schönes Interview mit Anna Kriel. Du weißt schon: zwinker, zwinker!«

James schüttelte müde belustigt den Kopf, während Rassool lüstern grinste. »Viel Glück, mein Sohn! Bei der haben schon ganz andere ihr Glück versucht und sind gescheitert!«

James nahm eine Zigarette und steckte sie sich in den Mund.

Rassool gab ihm Feuer aus einem Plastikfeuerzeug. »Und was ist mit Ilse McLean?«, erkundigte er sich, während James den ersten Zug nahm. »Wie war sie so?«

James schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. So weit sind wir nicht gekommen.«

Chris sah ihn verblüfft an. »Das ist nicht dein Ernst? Da hab ich aber anderes gehört.«

James lachte. »Diese Stadt ist wirklich furchtbar!«

»Ilse ist wirklich ’ne ganz Scharfe«, fuhr Chris fort, während er sich vor seinem Computer niederließ. »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich sie mal ausprobiere?«

»Das will ich aber überhört haben!« James stieß ein empörtes Schnauben aus, verließ mit der Pressemitteilung in der Hand das Büro und durchquerte die Nachrichtenredaktion.

Sein Büro war eine abgeteilte Kabine; an die Tur hatte er ein Schild mit der Aufschrift: »Kays Loch« gehängt. Sein Schreibtisch war übersät mit Papieren und Post-its. Überall klebten kleine rosafarbene Telefonmitteilungen. Er suchte in dem Chaos nach seinem Rolodex, fand ihn und blätterte zu der Karte, auf der »Kriel, Anna« stand.

Das ist das Ende, das sie sich gewünscht hat, dachte James, während er ihre Nummer wählte. Eine saubere Trennung von Gut und Böse — und Paul als unangetasteter Held. Er freute sich für sie.

Eine Sekretärin nahm den Anruf entgegen. Anna sei »in einer Besprechung«.

»Kann ich eine Nachricht hinterlassen?«

»Natürlich, aber ich werde sie ihr erst am Montag geben können. Sie wird heute Nachmittag nicht mehr ins Büro zurückkommen.«

»Mist.« Diese Möglichkeit war ihm gar nicht in den Sinn gekommen.

»Aber versuchen Sie es doch auf ihrem Handy, wenn es dringend ist«, schlug die Sekretärin rasch vor.

»Oh! Das ist eine prima Idee«, bedankte er sich und legte auf.

Sie war beinahe sofort am Apparat. Sie klang so kühl und gefasst wie immer. James verzog das Gesicht, als er seine eigene Stimme durch die Leitung dringen hörte. Er klang wie ein eifriges, atemloses Hündchen.

»Anna! Hallo. Hier ist James. James Kay.«

»Oh, hallo.« Sie klang neutral, fand er.

»Ich wollte einer der Ersten sein, der Ihnen gratuliert!«

»Warum?« Klang das schon feindselig oder einfach nur überrascht?

»Der Amnestieantrag. Sie müssen doch froh sein. Nun ist er endlich rehabilitiert, oder?«

Ein Seufzer. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht mehr.« Das klang nicht gut.

»Aber jetzt haben Sie doch die Antwort bekommen, auf die Sie die ganze Zeit gewartet haben!« Er klang wie ein Stimmungsmacher bei irgendeinem blödsinnigen Fernsehquiz.

»Ja.« Keinerlei Gefühlsregung. Sie muss mich wirklich hassen.

»Ja, also — ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen. Ich wollte Ihnen auch bloß gratulieren.«

»Hören Sie, können wir uns treffen?«

James runzelte die Stirn und presste den Hörer fester ans Ohr. Habe ich das richtig verstanden?

»James? Können wir uns treffen?«

Unglaublich, ich habe wirklich richtig gehört.

»Ähemm, ja sicher. Wann Sie wollen.«

»Ich meine damit bald.«

Manchmal kann ich meinem eigenen Glück kaum trauen.

»Unbedingt. Sagen Sie, wann und wo.«

»Können Sie in einer Dreiviertelstunde bei mir zu Hause sein?«

»Was ist denn los mit dir, Junge?«, knurrte Chris mürrisch, als James in seinen gläsernen Käfig getaumelt kam, das Jackett über der Schulter und die Autoschlüssel in der Hand.

»Sie will mich treffen. Jetzt gleich«, sagte er grinsend.

»Wer denn, zum Teufel? Doch wohl nicht die aus Übersee, oder? Du willst doch jetzt wohl nicht nach Übersee fliegen!«

»Nein. Ich besuche Anna Kriel. Zu Hause. Jetzt gleich. Bis später dann!« Und mit diesen Worten segelte er hinaus.

Annas Haus lag nur ein paar Straßen von seinem entfernt. Es war frisch getüncht und verfügte über die üblichen Johannesburger Sicherheitsvorkehrungen: Elektrozaun auf der hohen Mauer, Kameras, die die Eingänge überwachten, und automatisierte Türen. Das Gartentor sprang summend auf und ließ ihn in einen gepflegten Vorgarten, der mit Lavendel- und Geranientöpfen geschmückt war. Kaum hatte er die Haustür erreicht, wurde sie auch schon geöffnet. James erschrak, als er Anna sah.

»Ich weiß. Ich sehe schrecklich aus«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. Sie sah wirklich nicht besonders toll aus. So als sei sie krank gewesen oder ziemlich mitgenommen. Ihr Haar war ungewaschen und mit einer großen Plastikspange zurückgesteckt. Sie trug ein ausgewaschenes T-Shirt über alten Jeans und ausgelatschte Flip-Flops.

»Kommen Sie rein.«

Er folgte ihr ins Haus. Anna Kriels Haus ’ähnelte seiner Besitzerin sehr. Elegant, nicht überladen, praktisch. Sie ging in die Küche, die durch eine große Durchreiche mit dem Wohnzimmer verbunden war. »Ich kann Ihnen gar nichts Alkoholisches anbieten. Nehmen Sie auch einen Tee?«

»Ja, wunderbar. Toller Ausblick!«, sagte er, während er zum Fenster hinüberging. Der Garten war klein, bot aber einen fantastischen Blick über die Vorortsiedlungen. Er konnte bis hinüber nach Sandton blicken.

»Danke.«

Er trat zu ihr hinüber und lehnte sich an die Küchentheke. »Sie sind mir aus dem Weg gegangen.«

Sie runzelte die Stirn. »Ach, ich weiß nicht. Es ist schwer, Leuten in dieser Stadt aus dem Weg zu gehen.« Sie blickte ihn mit einem ironischen Lächeln an. »Eigentlich habe ich immer damit gerechnet, Ihnen zu begegnen. In Johannesburg kann man seinen Fehlern einfach nicht aus dem Weg gehen.«

James verzog das Gesrcht in gespielter Beleidigung. »Ich bin also ein Fehler, sehe ich das richtig?«

»Nein, in Ihrem Fall bin ich der Fehler.«

»Oh, da bin ich aber anderer Ansicht.«

Anna verzog das Gesicht. »So, so«, erwiderte sie sarkastisch.

»Wissen Sie, Sie sind nicht der erste Mensch, der mich für einen Fehler hält«, fuhr er trocken fort. »Das beunruhigt mich. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich einfach nicht der fürsorgliche Typ bin. In meiner Gegenwart scheinen die Leute nicht zu gedeihen!«

Anna lachte. James wurde allmählich entspannter.

»Was ist eigentlich los? Mir scheint, Sie sind mir ein ganzes Stück voraus«, sagte er.

»Ja, also …« Sie reichte ihm einen Becher Tee, nahm sich ebenfalls einen, durchquerte das Wohnzimmer und hockte sich auf den Rand eines Sessels. James setzte sich auf das Sofa ihr gegenüber. Während sie schwieg, griff er in seine Tasche und zog die Zigaretten heraus, besann sich dann aber eines Besseren und steckte sie wieder zurück. Sie winkte mit der Hand ab. »Oh, das stört mich nicht. Paul hat auch geraucht. Ich bin daran gewöhnt.«

Oh, oh. Paul hat gemacht.

»Komisch, dass ich so etwas sage, oder?«, meinte sie plötzlich.

Er lächelte schwach und nickte. »Aber auf einer Skala von merkwürdig bis zu total verrückt ist es kaum höher als exzentrisch.« Er schüttelte eine Zigarette aus seinem Päckchen und zündete sie an. »Ich habe versucht, mit Ihnen zu sprechen, weil ich mich für den Artikel entschuldigen wollte. Wenn das …«

»Nein«, unterbrach sie ihn und schüttelte den Kopf. Sie war erschreckend blass. »Nein. Sie hatten ganz Recht.« Sie sprach die Worte mit großer Bestimmtheit aus. »Paul war tatsächlich ein Spitzel. Sie hatten Recht. Das weiß ich jetzt auch. Ich habe ihm unwissentlich Informationen gegeben, die dazu geführt haben, dass Menschen verhaftet, gefoltert und vielleicht sogar getötet wurden.«

James zog mehrmals an seiner Zigarette, während er ihre Äußerung zu verdauen versuchte. Die ganze Zeit überblickte sie ihn mit gerunzelter Stirn aus ihren dunklen Augen an.

»Haben Sie das schon die ganze Zeit über gewusst?«, fragte er vorsichtig.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Dann erzählte sie ihm von ihren Besuchen beim Colonel und bei Shane Fourie.

James hörte gespannt zu. Ihr Schmerz war so heftig, dass er ihn spüren konnte. Und sie war so allein, wie sie da saß mit dem Becher in den Händen. Ihr Körper zitterte fast vor Anspannung, die Situation zu bewältigen. Am liebsten hätte er sie berührt, getröstet, doch er bewegte sich nicht.

»Haben Sie irgendjemandem davon erzählt?«

»Nur Ihnen.« Sie trank einen Schluck Tee. »Ich wüsste auch gar nicht, wie ich es irgendjemandem beibringen sollte.«

»Scheiße. Es tut mir Leid. Es tut mir unendlich Leid«, seufzte James.

»Es ist wirklich komisch«, meinte sie und starrte mit gerunzelter Stirn an die Zimmerdecke. »Ich muss dauernd daran denken, wie es wohl für ihn war. Wie anstrengend es gewesen sein muss, sich die ganzen Geschichten auszudenken und die verschiedenen Existenzen alle unter einen Hut zu bringen — und dabei eine so gekonnte Vorstellung zu bieten.«

James saß da, den Kopf in den Händen vergraben, und wünschte, er könnte helfen, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, wie.

»Und was wollen Sie jetzt im Hinblick auf den Amnestieantrag unternehmen?«

»Ihn anfechten. Wir wissen, dass Nel nicht die ganze Wahrheit sagt. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass Amnestie gewährt wird. Vollständige Enthüllung.«

James begegnete ihrem müden Blick. »Anna, Sie sind einer der mutigsten Menschen, die mir je begegnet sind.«

Sie schloss die Augen. »Ich glaube, Sie verstehen nicht, wie sehr Paul ein Teil von mir war.«

»Das macht Ihren Mut nur umso größer.«

»Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll.«

»Doch, das wissen Sie«, erwiderte James leise. »Schwäche besteht darin, nicht zu wissen, wer man ist, sich und seine Bedürfnisse nicht zu kennen. Mut hat damit zu tun, sich selbst zu übertreffen. Mut heißt, Stärke zu zeigen, wenn man gegen den Strom schwimmen müss.«

»Ach, ich weiß nicht …«, flüsterte sie.

Er beobachtete sie, wie sie in ihren Becher starrte, und war sich selbst über seine Gefühle nicht mehr im Klaren. Sie hatte ihn vollkommen durcheinander gebracht.

»Ich muss Sie um etwas bitten«, sagte sie schließlich.

»Nur zu.«

»Es ist wichtig, dass diese Information auf keinen Fall vor der Anhörung nach außen dringt. Können Sie dafür sorgen?«

Er lächelte, froh darüber, dass ihre Bitte so einfach zu erfüllen war.

»Kein Problem. Solange ich nach der Anhörung ein Exklusivinterview bekomme.«

»Einverstanden.«

Sie begleitete ihn zu seinem Auto. »Hui, das ist ja ein richtiger Aufreißerschlitten!«, stellte sie fest.

James lachte verlegen. »Ja, das ist es wohl …«, murmelte er, während er mit seinen Schlüsseln herumfummelte.

Er hätte sie gern umarmt und getröstet, doch sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah so steif und unnahbar aus, dass er fürchtete, sie würde zurückschrecken. Deshalb berührte er nur ihren Arm, stieg dann in sein Auto und fuhr los. Im Rückspiegel sah er noch, wie sie sich umwandte und mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern hineinging.

24

Willem Swanepoels Büroräume lagen in Braamfontin. Die Sozietät für Arbeitsrecht, die er vor beinahe einem Jahrzehnt gegründet hatte, war inzwischen zu einer riesigen Kanzlei herangewachsen und erstreckte sich über die drei oberen Stockwerke eines der Hochhäuser, die über der Stadt aufragten. Willem holte Anna am Empfang ab und wirkte so gelassen und beruhigend wie immer.

Er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er führte sie in sein Büro, setzte sie auf einen Stuhl und öffnete dann die Schublade eines Aktenschranks, aus der er eine Flasche Chivas Regal und zwei Gläser holte. Er schenkte ein Glas für sich ein und die doppelte Menge für Anna. Der Whisky brannte ihr in der Kehle, und sie verzog angewidert das Gesicht, während sie ihn herunterschluckte, doch er tat seine Wirkung. Er wärmte sie und lockerte sie so weit, dass sie Willem erzählen konnte, was sie entdeckt hatte.

Alles in allem nahm Willem die Neuigkeit ganz gut auf. Erst als sie ihm das Foto zeigte, wurde sein Gesicht aschfahl. Er starrte das Bild lange an, das belastende Foto, das den betrunkenen Paul mit seinen Kumpanen auf einer Angeltour zeigte. Nach einer Weile legte er es auf die gläserne Tischplatte, stand auf und trat ans Fenster. Das Whiskyglas fest umklammert blickte er unverwandt über die Stadt hinaus. Der Verkehrslärm rauschte von der Straße herauf wie ein Ozean.

»Ich schäme mich so«, murmelte Anna.

Willem wandte sich zu ihr um und lockerte sich mit ernstem Gesichtsausdruck die Krawatte. »Du fühlst dich bloß an Pauls Stelle schuldig. Dich trifft keinerlei Schuld.« Er ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. »Puh!« Er schüttelte den Kopf und seufzte tief, die ratlosen Gesten von jemandem, der so schockiert ist, dass er sich nicht anders zu helfen weiß. »Wissen Joe und Rachel es schon?«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es ihnen sagen soll.« Er nickte verständnisvoll. »Ich denke, wir sollten uns jetzt besser überlegen, wie wir vorgehen«, meinte er schließlich.

Die ganzen Jahre über hatte Anna sich bloß Frans Nels Schuldeingeständnis gewünscht, doch sie wusste jetzt, dass es eine Lüge war. Selbst wenn er der Mörder war — und inzwischen war klarer als je zuvor, dass er zumindest beteiligt gewesen war —, wies seine Geschichte eklatante Lücken auf. Hätte er den Amnestieantrag nur ein paar Wochen eher gestellt, wäre alles anders geworden. Sie wäre nicht nach Bulletrap gefahren, hätte Shane Fourie nicht getroffen und niemals den wahren Paul kennen gelernt.

Und dennoch sehnte sich ein Teil von ihr immer noch nach ihm; sehnte sich danach, sich mit ihrem Paul zusammenzusetzen und zu reden. Nicht mit dem Menschen, den Shane Fourie beschrieben hatte; nicht mit dem Lügner, der die Ehefrauen von Sicherheitspolizisten gefickt hatte, nicht mit dem Verräter, der alles zerstört und von ihrem Paul Besitz ergriffen hatte. Nein, sie sehnte sich danach, mit dem Freund zu reden, mit dem sie stundenlang bei Besprechungen und in Cafés gesessen hatte, mit dem sie so glücklich die Wärme des gemeinsamen Bettes geteilt hatte. Sie wollte wieder mit dem arglosen, ehrlichen Liebhaber sprechen, der sich so einfach und schön ausdrücken konnte. Doch sie musste sich eingestehen, dass dieser Paul wohl nie existiert hatte.

Alles musste neu bedacht, allem misstraut werden. Erschöpfung und Zynismus trübten ihren Blick und verdüsterten alles, was sie sah. Halb wünschte sie, sie könnte alles rückgängig machen und wieder in der glücklichen Gewissheit leben, dass er als Held gestorben war und ihr bis in alle Ewigkeit erhalten bleiben würde. Hätte sie doch nur jenen unaufhörlichen Drang, nachzuforschen und immer weiterzubohren, einfach unterdrückt, und er hätte sie nie zu dieser schrecklichen Wahrheit geführt.

Willem holte die Akte von seinem Tisch und brachte sie hinüber zu Anna. »Es lässt mir einfach keine Ruhe — ich muss immer wieder darüber nachdenken«, sagte sie dumpf, rieb die Hände nervös aneinander, verschränkte die Finger und löste sie wieder. »Zum Beispiel dieser Tag, an dem er freigelassen wurde. Was ist da bloß passiert? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das alles nur gespielt hat? Wovor hat er solche Angst gehabt?«

Willem schüttelte den Kopf und bedeckte den Mund mit der Hand. Er wusste genauso gut wie sie, dass der Grund für Pauls Tod jetzt noch unklarer war als je zuvor. Er seufzte wieder. »Okay, fangen wir mit dem Amnestieantrag an.«

»Wir werden Einspruch erheben.«

»Auf jeden Fall. Vollständige Enthüllung aller Fakten, da müssen wir ihn zu fassen kriegen. Auch das politische Motiv würde ich in Frage stellen. Nel wusste, dass Paul Polizist war; das Foto reicht schon aus, um ihre Verbindung zweifelsfrei zu zeigen. Er kann also nicht behaupten, dass dieser Mord bloß die Eliminierung eines gefährlichen politischen Gegners war.«

Anna merkte, dass sie auf ihrem Stuhl vor- und zurückwippte. Das ganze Gespräch kam ihr irgendwie komisch und unwirklich vor.

»Es muss irgendeinen Grund dafür geben, dass Nel diese Version ausgerechnet jetzt präsentiert«, sagte sie.

Willem pflichtete ihr bei. »Das können wir nur herauskriegen, indem wir ihn erst seine Geschichte erzählen lassen, und dann schlagen wir ihn mit Shane Fourie und dem Beweis dafür, dass er nicht die ganze Wahrheit ausgepackt hat.«

»Und was ist mit der …Affäre?« Es fiel Anna schwer, das Wort auszusprechen. Willem blickte sie mitfühlend an. »Ich würde ungern darauf eingehen. Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt«, fügte sie hinzu.

»Ja, ich denke auch, das ist am besten. Fürs Erste jedenfalls«, stimmte Willem ihr zu.

Auf dem Weg zu ihrem Auto überfiel Anna plötzlich das wohl bekannte Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und suchte die Parkbuchten der Tiefgarage ab. Das Parkhaus schien leer zu sein. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie sich etwas einbildete, doch der Instinkt verriet ihr, dass ihr jemand folgte.

Sie erinnerte sich wieder an die Angst, in der sie immer gelebt hatten, der ausgeprägte Verfolgungswahn, der aus echten Erfahrungen entstanden war. Die nächtlichen Polizeirazzien, die Wanzen, die sie an ihren Telefonen und in ihren Häusern gefunden hatten. Die ständigen Schikanen. Leute, die vor ihrem Haus in Autos warteten und ihnen folgten, manchmal nur einige Stunden, manchmal eine ganze Woche lang.Der Brandbombenanschlag auf das Haus in der Valley View Road, die Zerstörung von Jacobs Motorrad. Die Bullen hatten sie gerne spüren lassen, dass sie in der Nähe waren und sie die ganze Zeit beobachteten.

Als sie auf die Straße fuhr, bemerkte sie ein Auto. Es bog ab, wenn sieabbog, und hielt sich immer zwei oder drei Wagen hinter ihr. Und es blieb hinter ihr bis zum Kingsway und der Abfahrt nach Melville. Sie kam sich albern vor, als sie sich die Marke und das Kennzeichen notierte, vielleicht war es wirklich bloß ein Zufall. Trotzdem war sie beunruhigt. Falls jemand sie beschattete — Wer konnte es sem? Die Leute des Captains? Jemand anderes? Irgendein altes Netzwerk, das immer noch funktionierte? Ihre Antennen vibrierten. Sie prüfte, ob die Beretta noch in ihrem Handschuhfach lag. Sie war immer noch da.

25

Frans Nels Amnestieanhörung sollte in einer knappen Woche stattfinden. Anna war auf dem Weg in die Valley View Road, zu dem Treffen, vor dem ihr graute, das sie aber nicht länger hinausschieben konnte. Für sie waren die Neuigkeiten wie ein Blitz eingeschlagen,der Stromschlag hatte ihre Nervenenden getroffen und jegliches Gefühl abgestumpft. Damit konnte sie irgendwie umgehen. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie auch mit dem Schmerz umgehen konnte, den sie nun ausgerechnet den Menschen zufügen musste, die sie am meisten liebte.

Joe war schon da, er saß mit Rachel und Temba bei einer Flasche Wein am Küchentisch. Anna begrüßte sie kurz, ehe sie sich ins Bad zurückzog und auf Willems Ankunft wartete. Sie hatte ihn gebeten zu kommen, um sie zu unterstützen und weitere Erklärungen zu übernehmen, falls sich herausstellte, dass sie allein nicht mehr weiterkam. Er traf kurz darauf ein, begleitet von Rika, worüber Anna froh war. Beide hatten ernste Gesichter und sahen ebenso erschöpft aus wie sie selbst.

»Hey, Leute, was ist denn los mit euch?«, neckte Rachel, »Ihr seht ja aus wie bei einer Beerdigung!«

Joe sagte nichts.

Anna blickte Willem an. Er erwiderte ihren Blick, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben, während seine Wangenmuskeln sich verhärteten.

»Was ist denn hier eigentlich los?« Rachels Stimme klang plötzlich scharf und besorgt.

Anna öffnete ihre Handtasche und holte einen Briefumschlag hervor, aus dem sie das Foto zog. Ihre Hände zitterten, als sie das Bild auf den Tisch vor ihnen hinlegte Rachel, Joe und Temba beugten sich vor, um das Foto zu betrachten.

Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis sie seine Bedeutung verstanden. »Ist das der Captain?«, fragte Rachel schließlich. Sie nannten ihn immer noch den Captain, obwohl Nel inzwischen Brigadier geworden war. Anna nickte steif, jeder Muskel ihres Körpers war angespannt »Jesus!«, rief Rachel aus. »Was zum Teufel hat Paul denn da mit dem Captain zu schaffen?«

Annas Kehle und Mund waren so trocken, dass es ihr schwer fiel, etwas zu sagen, doch schließlich erzählte sie zum dritten Mal, wie sie Ig Du Preez im Gefängnis getroffen hatte und wie sie zu Shane Fourie und dem Foto gekommen war.

Rachel saß mit zusammengezogenen Augenbrauen da, presste die Hand vor den Mund und wiederholte immer wieder kopfschüttelnd: »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben.«

Joes Antwort war ein furchtbares Schweigen.

Als Anna ihre Geschichte beendet hatte, saßen sie einfach nur da, stumm und fassungslos. Und dann kam Rachel etwas noch viel Schrecklicheres zu Bewusstsein. Hinter ihrer Hand stieß sie einen merkwürdigen, halb erstickten Schrei aus. Annas Mund verzerrte sich, der Damm brach, und heiße Tränen liefen ihr aus den Augen. Temba hielt seine Frau fest, während sie sich an seiner Brust ausweinte, ein schrecklicher, dumpfer Heulton brach aus ihr hervor. Anna wusste genau, was das bedeutete, Rachel brauchte gar nichts zu sagen; Paul hätte Jacob ebenso gut gleich selbst töten können. Indem er ihn in jener Nacht mitgenommen hatte, hatte er das Todesurteil seines besten Freundes unterschrieben und hatte Rachels Geliebten, den Vater der beiden Kinder, die im gleichen Haus lebten wie er und die er so liebte wie seine eigenen, ans Messer geliefert.

Anna weinte leise, während Rachel in Tembas Armen hin und her schaukelte. Rika legte Joe die Hand auf die Schulter. »Wie geht’s dir?«, fragte sie leise.

»Ich bin okay«, erwiderte er schroff, doch in seinen Augen brannte die Enttäuschung. Er blickte Anna an. »Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist eine Enttäuschung, aber ich lasse mir davon keine schlaflosen Nächte bereiten.« Dann fügte er herausfordernd hinzu: »Es ist Vergangenheit!«

Anna seufzte tief. »Es tut mir so Leid, Joe. Und es tut mir Leid, dass ich nichts bemerkt habe. Es muss doch etwas da gewesen sein, direkt vor meinen Augen.«

Joe zuckte mit den Achseln. »Vielleicht war er ein guter Lügner. Muss er wohl gewesen sein. Schließlich hat er uns alle reingelegt. Aber warum lässt du dich von dem fertig machen, was er getan hat? Das ist doch lange vorbei. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Wie kannst du das bloß sagen?«, gellte Rachels Aufschrei durch die Luft. »Siehst du denn nicht, was es immer noch bedeutet? Daran hängt doch einfach alles! Wer wir waren — oder für wen wir uns gehalten haben …«

Joe schnitt ihr das Wort ab und wandte sich mit wütender Stimme an Anna: »Siehst du jetzt, was du angerichtet hast?« Er zeigte in Richtung Rachel. »Warum machst du das? Endlich hast du bekommen, was du all die Jahre hören wolltest: ein Geständnis. Eine Bestätigung. Die gottverdammte Wahrheit!«

Er schüttelte heftig den Kopf, hieltden Blick jedoch fest auf sie gerichtet. »Und dann musst du unbedingt losziehen und diesen Stein hier lostreten!« Er hob das Foto empor und schwenkte es vor ihrem Gesicht herum, ehe er es wieder auf den Tisch warf. »Du kannst die Dinge einfach nicht auf sich beruhen lassen! Du musst immer Weiter drängen und bohren!«

Er stand auf, unfähig, sich zusammenzureißen, und stürmte wütend in der Küche auf und ab. Anna saß wie angewurzelt auf ihrem Stuhl, schockiert von seinem Ausbruch, obwohl irgendein verrückter, selbstkasteiendr Teil von ihr fand, dass sie es nicht anders verdient hatte. Die anderen blickten weg, jeder in seinem eigenen Schmerz gefangen.

Dann klingelte ein Telefon. Es war Joes Handy. Er riss es aus der Manteltasche und hielt es sich ans Ohr. »Ja?« Rachels Schluchzen war das einzige Geräusch im Zimmer. Von draußen hörte man das Singen der Nacht.

»Verflucht!«, brüllte Joe und trat so kräftig gegen die Tür des Küchenschranks, dass das Holz splitterte.

»Scheiße!«, stieß er dann hervor und betrachtete den Schaden, den er angerichtet hatte. Sie starrten ihn an, wie er mit gesenktem Kopf vor der Spüle stand. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen schwarz und leer. »Sie haben Bazooka«, sagte er leise.

»Toll!«, äußerte Temba stellvertretend für sie alle.

»Leider nicht so toll«, knurrte Joe. »Er ist tot.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte aus der Küche. Sie hörten, wie die Vordertür zuschlug und kurz darauf ein Motor ansprang, dann war er fort.

»Er ist bloß verletzt«, meinte Rika tröstend und setzte sich neben Anna. »Es ist einfach ein so unvorstellbarer Verrat. Er ist verletzt und wütend, und weil er es nicht an Paul auslassen kann, lässt er es an dir aus.«

Anna wischte sich mit der Hand über das nasse Gesicht und brachte ein schwaches Nicken zustande.

Es gab nichts mehr zu sagen.

26

Am Morgen des ersten Tages von Frans Nels Amnestieanhörung kam Anna schon früh in Pretoria an. Der Zugang zum Rathaus war mit Kameraleuten und Reportern bevölkert, die sich mit ihren Plastikbechern, Stativen, Leitern und langen Objektiven auf den Wegen drängten. Es war erstaunlich, wie viele Menschen sich nach all den Jahren eingefunden hatten. Eine Gruppe junger Männer und Frauen aus der Gewerkschaft, gekleidet in leuchtend grüne T-Shirts, umringten Anna und Rachel, sangen aufmunternde Protestlieder und begleiteten sie die Stufen hinauf bis zur Sicherheitskontrolle. Anna senkte den Kopf, während sie sich mit der tanzenden und singenden Menge voranbewegte. Es brachte sie aus der Fassung, dass all diese Leute wegen Paul gekommen waren, wo er sie doch so schändlich verraten hatte.

Shane Fourie war irgendwo in der Nähe, im sicheren Gewahrsam des Zeugenschutzmogramms. Der lange, gemächliche Tanz mit der schwer zu fassenden Wahrheit, die sich immer wieder neue Schlupflöcher suchte, würde auch heute nicht zu Ende gehen, doch das Tempo war dabei, sich zu verändern. Anna fühlte eine merkwürdige Aufregung, vermischt mit Furcht.

Im Rathaus hatte sich das Publikum in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite des Ganges saß eine kleine Gruppe aus Gefolgsleuten des Captains, hässliche, untersetzte Weiße. Die Männer trugen Schnurrbärte und Kunstfaserpullover, die Frauen waren in grellen Farben gekleidet und trugen aufgetürmte Frisuren, auf denen das Haarspray glänzte. Die erheblich größere Gruppe aus Anhängern der Familien der Opfer saß auf der anderen Seite. Neben den Gewerkschaftsvertretern war eine große Gruppe Frauen aus der ANC Women’s League erschienen, alle in schwarz, gold und grün gekleidet mit schwarzen Baskenmützen auf dem Kopf. In ihrer Nähe saß eine weitere Gruppe Arbeiter; sie trugen rote T-Shirts mit der Aufschrift: »Der Sozialismus ist die Zukunft, lasst ihn uns jetzt aufbauen«. Dann gab es noch Studenten und alte Leute in ihrer Sonntagskleidung, Familien und einige Schaulustige.

Willem Swanepoel war schon auf der Bühne und schirmte mit der Hand die Augen vor den hellen Fernsehscheinwerfern ab, während er die Dokumente studierte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Rachel und Anna setzten sich zu ihm. Er lächelte ihnen kurz zu.

»Schön, euch zu sehen. Wie geht es euch?« Seine Stimme war leise, aber gespannt vor Konzentration.

»Ja, wir fühlen uns stark. Und du?«, erwiderte Rachel. »Ich fühle mich immer stark, meine Liebe«, erwiderte er ruhig.

Auf der Bühne war alles für das eigenartige Theaterstück vorbereitet, das einen Tag lang gespielt werden sollte. Wuchtige Orgelpfeifen flankierten die Bühne, die von schweren senfgelben Samtvorhängen eingerahmt wurde. Über den halbkreisförmig aufgebauten Tischen hing die Fahne der Wahrheitskommission. Der Tisch des Antragstellers stand gegenüber; dazwischen, in der Mitte der Bühne, war ein größerer Tisch für das Amnestiekomitee platziert worden. Die grauen Glaskabinen der Dolmetscher nahmen die hintere Ecke ein, rechts daneben stand ein weiterer Tisch, auf dem sich Dokumentationsmaterial türmte. Anna holte Notizbuch und Stift heraus und wartete.

Joe hatte sie an diesem Morgen angerufen, um ihr alles Gute zu wünschen. Er schaffe es nicht, zu der Anhörung zu kommen, die Untersuchung von Bazookas Tod nehme ihn voll und ganz in Anspruch. Der Gangster war bei seiner Verhaftung erschossen worden; deshalb wurde die Polizei und Joes Einheit im Besonderen einer strengen Überprüfung unterzogen. Seinen Wutausbruch in der Valley View Road erwähnte Joe am Telefon mit keinem Wort. Er war am Telefon freundlich gewesen, worüber Anna froh war, doch sie machte sich Sorgen um ihre Beziehung. Nicht um ihre Freundschaft, die war unvergänglich. Es war ihre sexuelle Verstrickung, die sie beunruhigte. Ihre Peidenschaft war erloschen; es gab keinen Grund, die Beziehung weiterzuführen, aber auch keinen wirklichen Grund, das Arrangement zu ändern, abgesehen davon, dass es Anna verdross.

Willem schob ihnen einen Umschlag zu, und Rachel öffnete ihn. Er enthielt eine Nachricht von Rika, in der sie ihnen mitteilte, dass sie in Gedanken bei ihnen war. Rachel kicherte plötzlich, als sie das Papier zusammenfaltete und wegsteckte. Sie blickte zu Willem hinüber, der jedoch voll und ganz auf seine Notizen konzentriert war und nicht bemerkte, dass sie sich vorbeugte und Anna etwas ins Ohr flüsterte: »Vom Fußabtreter zur Domina!«, bemerkte Rachel boshaft. »Diese Frau ist einfach wunderbar!«

Anna lächelte traurig. Aus irgendeinem Grund traf Rachels Bemerkung mitten ins Schwarze, in die dunkle Kammer des Schmerzes, die Pauls Verrat geöffnet hatte, und Anna fragte sich, in welchem Maße sie selbst ein Fußabtreter für Paul gewesen war. Rachel merkte sofort, was Anna dachte, und berührte ihre Hand. »Oh, damit habe ich nicht gemeint …«

Anna schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Nein, es ist schon okay. Ich muss mich daran gewöhnen. Wahrscheinlich sind sie alle so. Männer.«

Rachel verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, Liebes, aber du darfst nicht vergessen, dass Paul ebenfalls verletzt war. Er hat sich selbst verraten. Und das ist in gewisser Weise schlimmer als alles andere.«

Anna seufzte und drückte Rachel die Hand. Es war nett von ihr, das zu sagen, aber Anna konnte nicht das Mitleid für Paul aufbringen, das Rachel in den letzten Tagen entdeckt hatte, als sie alles noch einmal überdachte.

Dann betrat Frans Nel den Saal und löste mit seinem Erscheinen Unruhe unter den Zuschauern aus. Kameras folgten ihm, während er auf die Bühne marschierte, ohne dabei nach rechts oder links zu schauen. Er ging schnurstracks auf den Platz zu, der für ihn reserviert war. »Der Antragsteller«, war auf der Karte zu lesen, die vor ihm stand. Etliche Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen und reckten neugierig die Hälse, um ihn besser zu sehen, doch Anna und’Rachel blieben ruhig sitzen. Die Magen krampften sich ihnen zusammen wie Fäuste.

Und obwohl Anna wusste, dass Nel möglicherweise gar nicht der Schuldige war und dass seine große Beichte durch Shane Fouries Auftritt zerstört würde, verspürte sie Übelkeit angesichts seiner bloßen Nähe.

Nel war älter geworden. Er war immer noch ein kräftiger Mann, wirkte aber zierlicher als bei ihrer letzten Begegnung. Sein Haar war inzwischen silbergrau und sehr kurz geschnitten. Auch seine Koteletten waren gestutzt und lockten sich nicht mehr wie früher über seine Ohren. Den Schnurrbart hatte er allerdings behalten. An diesem Morgen war er in einen grauen, glänzenden Anzug gekleidet, an den Füßen trug er weiße Socken und graue Slipper. Das Anstößigste an ihm war seine Krawatte: ebenfalls glänzend, in Silber und Blau mit Farbklecksen, die aussahen wie Blutergüsse. Er setzte sich, holte eine Mappe aus seiner Aktentasche und vertiefte sich in seine Papiere. Er fühlte sich ganz offensichtlich unbehaglich. Vielleicht spürte er die bohrenden Blicke, die sich auf ihn richteten. Anna starrte ihn an. Rachel schnalzte missbilligend, schüttelte den Kopf und zog angewidert die Oberlippe hoch.

Dann betraten die Richter den Saal, und alle erhoben sich. Das Amnestiekomitee für Nels Anhörung bestand aus drei Richtern, alle drei Männer. Sie traten der Reihe nach ein, verbeugten sich gemeinsam, nahmen ihre Plätze ein, und die Verhandlung begann.

Wie es meistens der Fall war, lief die Anhörung ziemlich gemächlich an. Verfahrensrechtliche Einwände wurden vorgebracht, die juristischen Vertreter gaben einführende Erklärungen, und die relevanten Schriftstücke wurden benannt, noch einmal benannt und nummeriert. Anna suchte die Zuschauerbänke ab und bemerkte James Kay, der mit dem Stift im Mundwinkel und dem Notizblock auf den Knien in der ersten Reihe saß. Er ist faszinierend anzuschauen, dachte sie. Und dennoch schien er sich dessen nicht bewusst zu sein, jedenfalls benutzte er sein gutes Aussehen nicht. Komisch. Verglichen mit Annas Geradlinigkeit war er ein Mischmasch von Eigenschaften, er war eine Orgel mit Registern, eine Wundertüte. Er war ein Ozean, der sich mit den Gezeiten hob und senkte. Anna dagegen war ein Berg — massiv, unnachgiebig und unerschütterlich —, der sich langsam und stetig aus klar abgegrenzten logischen Schichten aufgebaut hatte. Sie waren Gegensätze. Und hier saß sie und verspürte genau das, was Gegensätze für gewöhnlich spüren. Anziehung.

Und wünschte sich, es wäre nicht so.

Nachdem die ersten fünfundvierzig Minuten der Anhörung vergangen waren, erhob sich Nel, um den Eid abzulegen, und blinzelte dabei in das Heer von Blitzlichtern, die auf ihn gerichtet waren.

»Schwören Sie, Frans Cornelius Nel, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«

Nel hob die rechte Hand und murmelte in die Blitzlichter: »Ich schwöre. So wahr mir Gott helfe.« Dann endlich begann er mit seiner Geschichte.

Es fiel Anna und Rachel schwer, zuzuhören, obwohl sie beide wussten, dass das meiste davon gelogen war.

»Meine Einheit hatte die Zelle in Kensington schon seit einiger Zeit überwacht. Samstagabend wussten wir, dass Oliphant und Lewis vorhatten, wegzufahren. Wir hatten allerdings keine Ahnung, was das Ziel ihres Einsatzes war, mit wem sie sich treffen wollten und wussten auch über andere wichtige Details nicht genau Bescheid. Dennoch waren wir fest davon überzeugt, dass sie den Transport von Waffen nach Südafrika planten, um sie für den Terror gegen die Bevölkerung einzusetzen. Wir schickten ein Telex mit diesen Informationen ans Hauptquartier, und nach ein paar Stunden — ich weiß nicht mehr genau, wie viel Zeit verging — erhielten wir ein Telex, in dem es hieß, dass Oliphant und Lewis ›eliminiert‹ werden sollten.«

Willem drückte den roten Knopf an seinem Mikrofon und unterbrach Nel. »Ich habe offenbar keine Kopie dieses Telex erhalten. Vielleicht wären Sie so freundlich, uns eine zur Verfügung zu stellen?«, fragte er, ohne eine Miene zu verziehen, denn er wusste genau, dass nichts dergleichen existierte.

Nel erblasste. Sein Anwalt, ein großer, rotgesichtiger Mann, warf gereizt ein: »Ich bin mir sicher, dass man dem Herrn Anwalt nicht erst sagen muss, dass keinerlei Kopien angefertigt wurden und das Original vernichtet wurde.«

»Ich verstehe«, bemerkte Willem und lehnte sich dann mit verschränkten Armen zurück, zufrieden darüber, dass er seinen Standpunkt deutlich gemacht hatte: Zu dem Thema gab es nur Nels Aussage, sonst nichts.

Anna hielt ihren stahlharten Blick auf Nel gerichtet, der ihrem Blick ebenso standhaft auswich.

»Wir, das heißt Jeff Curryund ich, fuhren unverzüglich nach Mafikeng, vor Oliphant und Lewis. Wir checkten in einem Motel ein und warteten. Sie müssen unterwegs irgendwo angehalten haben, wo, weiß ich leider nicht, denn es war schon spät in der Nacht, als wir hörten, dass die Zielpersonen sich der Stadt näherten.«

Willem unterbrach ihn wieder, den Stift in der Hand und die Augen auf das Blatt Papier vor sich gerichtet. »Brigadier, könnten Sie dem Komitee vielleicht mitteilen, was die Kriterien dafür waren, dass man Jeff Curry für diesen Mordanschlag ausgewählt hat?«

Nel antwortete mit einem abfälligen Grinsen: »Nun, ich würde wohl kaum einen Akademiker für diese Art Arbeit da raufgeschickt haben.«

»Ich verstehe«, meinte Willem und kritzelte auf seinen Notizblock, während er fortfuhr: »Und kommt es Ihnen nicht sehr zupass, dass Ihr Komplize aus jener Nacht inzwischen verstorben ist?«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, erwiderte Nel.

»Also wirklich, Brigadier. Das sollte doch eigentlich offensichtlich sein. Erst recht für einen so erfahrenen Polizisten, wie Sie es sind. Es gibt hier niemanden mehr, der bestätigen könnte, ob ihre Geschichte wahr ist.«

»Warum sollte ich denn nicht die Wahrheit sagen?«, meinte Nel mit süffisantem Lächeln.

»Das weiß ich auch nicht, Brigadier. Warum sollten Sie nicht die Wahrheit sagen? Weil davon abhängt, ob Ihnen Amnestie gewährt wird? Sie haben zugegeben, einen Mord begangen zu haben. Wenn diese Kommission herausfindet, dass Ihre Motive die Voraussetzungen für die Amnestie nicht erfüllen, oder der Kommission Informationen zu Ohren kommen, die Sie verschwiegen haben, dann machen Sie sich strafbar. Und glauben Sie mir, meine Mandanten werden Sie strafrechtlich verfolgen.«

Nel suchte die gegenüberliegenden Tische ab, und zum ersten Mal blickte er Anna direkt an. Sie erwiderte seinen Blick ungerührt, obwohl ihr Herz raste. Sein selbstzufriedener Gesichtsausdruck verschwand.

»Bitte fahren Sie fort, Brigadier«, befahl einer der Richter mit dröhnender Stimme.

»Ja.« Erneut folgte Schweigen, während Nel die Stelle suchte, an der er unterbrochen worden war, dann räusperte er sich und fuhr fort: »Jeff Curry und ich brachen in einem Fahrzeug mit falschem Nummernschild auf. Wir stellten unsere Zielpersonen genau nach Plan kurz vor Mafikeng auf der Straße nach Vryburg. Die Art und Weise unseres Vorgehens war keineswegs ungewöhnlich. Wir hatten vor, die Zielpersonen zu erschießen und die Leichen in ihrem Auto zu verbrennen. Es sollte aussehen wie ein Unfall.«

Nel las flüssig vom Papier ab, so ungerührt wie ein Schulkind bei einer Vorleseübung. Anna betrachtete ihn, während ihr immer wieder die gleichen Fragen durch den Kopf gingen. Warum erzählte er diese Version? Warum jetzt? Wer konnte noch daran beteiligt sein? Was zum Teufel ging hier vor?

»Wir haben sie an einer wenig befahrenen Strecke herausgewunken und aufgefordert, auf den Seitenstreifen zu fahren. Wir befahlen ihnen, auszusteigen, was sie auch taten. Wir haben sie aufgefordert, mit erhobenen Händen ins Gebüsch zu gehen, was sie taten. Mehr wurde nicht gesprochen. Ich blieb bei den Fahrzeugen stehen. Curry hat beide mit einer beschlagnahmten Makarov erschossen. Jacob Oliphant zuerst.«

Rachel zuckte zusammen. Anna sah Tränen in den Augen ihrer Freundin, doch sie selbst fühlte nichts.

»Paul Lewis leistete Widerstand. Nach einem kurzen Kampf wurde er überwältigt und wir leisteten dem Befehl Folge. Dann fing es an zu regnen. Im Auto der Zielpersonen war nur sehr wenig Benzin. Das störte unseren Versuch, es in Brand zu setzen. Wir merkten, dass wir das Fahrzeug nicht wie geplant würden zerstören können, und verließen den Ort und kehrten nach Mafikeng zurück.«

»Wie ich schon sagte«, fuhr Nel fort, »kannten wir das genaue Ziel ihres Einsatzes nicht. Ich wusste nur, dass sie eliminiert werden sollten.«

Der vorsitzende Richter schlug mit der Hand auf seinen Mikrofonschalter und unterbrach mit scharfer Stimme: »Sie benutzen Worte wie ›Zielperson‹ und ›eliminieren‹, aber in Wahrheit sprechen Sie hier von Morc

Nel schien einen Augenblick lang aus der Fassung gebracht, doch dann beugte er sich zu seinem Mikrofon vor und gab seine aalglatte Antwort: »Ja, Herr Vorsitzender. Ich versuche, mich von der Semantik zu lösen.«

Der Richter funkelte ihn wütend an, schaltete dann sein Mikrofon aus und lehnte sich zurück.

Nel räusperte sich, er war rot im Gesicht und wirkte nervös. »Von Mafikeng aus fuhren Curry und ich weiter nach Swaziland, wie es Unser Alibi erforderte. Es sollte heißen, dass wir die Sicherheitspolizei von Nelspruit bei der Suche nach einem geheimen Waffenversteck der Terroristen unterstützten.«

Nun konnte sich Willem Swanepoel nicht länger zurückhalten. »Aber Sie waren doch die Terroristen«, rief er heftig.

Nels Anwalt erhob Einspruch, doch der Vorsitzende ließ den Kommentar gelten. Nel glotzte mit offenem Mund wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Sein Anwalt zuckte zusammen, als sein Mandant sich von seinen Aufzeichnungen löste und rief: »Ja, die Leute reiten gern auf den Grausamkeiten herum, die angeblich von der Regierung begangen worden sind, und vergessen dabei vollkommen, dass Grausamkeiten vor allem vom ANC und PAC begangen wurden! Das ist der Versöhnung nicht gerade förderlich! Es läuft auf eine Manipulation der Geschichte hinaus!«

Das Publikum zischte. Willem Swanepoel drückte noch einmal auf den Schalter seines Mikrofons. »Aber der ANC hat alle Grausamkeiten eingestanden, die er im Namen eines gerechten Krieges verübt hat! Und hat sich dafür entschuldigt. Von Ihnen habe ich dagegen noch keine Entschuldigung gehört, Mr. Nel.«

Nel wirkte in die Ecke gedrängt. »Wollen Sie damit sagen, dass ich mich entschuldigen sollte, Sir? Mir ist nicht bekannt, dass das eine Voraussetzung für die Amnestiegewährung ist.« Sein Gesicht hatte ein fleckiges Rosa angenommen.

»Da haben Sie Recht, Mr. Nel«, fuhr Willem mit ausdruckslosem Blick fort. »Reue ist keine Voraussetzung für die Gewährung von Amnestie. Wenigstens sagen Sie in diesem einen Fall etwas Richtiges.«

Nel beugte sich vor und wollte etwas entgegnen, doch sein Anwalt gab ihm ein Zeichen, dass er sich nicht provozieren lassen solle. Nel lehnte sich wieder zurück, wippte auf seinem Stuhl hin und her und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Doch als er fortfuhr, klang seine Stimme schrill und angespannt: »Wenn es mir gestattet ist, noch eine Bemerkung in eigener Sache zu Protokoll zu geben: Ich habe in den Jahren seit meiner Versetzung aus der Sicherheitspolizei in den normalen Polizeidienst eine Menge Mühe darauf verwandt, meinen Lebenswandel zu ändern. Ich bin seit beinahe sieben Jahren Mitglied der Anönymen Alkoholiker. Ich bin aktives Mitglied meiner Kirchengemeinde und ein nüchterner, gottesfürchtiger Bürger. Vielen Dank.«

Die weißen Zuhörer applaudierten, und Nel lächelte verkniffen. Dann war Swanepoel mit seinem Kreuzverhör an der Reihe. Das war der Augenblick, auf den Anna und Rachel gewartet hatten. Anna holte tief Luft und bemühte sich, ruhig zu wirken.

Willem begann ohne viel Umschweife. »Im Namen der Familien von Paul Lewis und Jacob Oliphant sollte ich erklären, dass wir die Voraussetzung dieser Anhörung voll und ganz akzeptieren. Dass Amnestie im Tausch gegen die Wahrheit gewährt wird. Meine Mandanten erheben Einspruch gegen Frans Nels Amnestiegesuch mit der Begründung, dass er die Wahrheit nicht vollständig mitgeteilt hat.« Nel saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, während Swanepoels tiefe Stimme die Anschuldigungen vorbrachte. »Sie waren im Lügen geübt, wie Sie uns selbst freimütig eingestanden haben, Brigadier Nel. Sie haben für Volk und Vaterland gelogen. Und ich behaupte, dass Sie immer noch lügen, Brigadier.«

Diesmal gelang es der beschwichtigenden Hand von Nels Anwalt nicht, seinen Mandanten zu bremsen. »Ich sage die Wahrheit!«, schrie er und reckte anklagend seinen Wurstfinger in Willems Richtung.

Es sah fast so aus, als ob Willem lächelte. »Sehr gut. Lassen Sie uns das überprüfen«, sagte er gedehnt. »Wenn Sie gestatten, Herr Vorsitzender.«

Willem blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen. Stille senkte sich über den Saal. »Sagen Sie, Sir«, begann er. »Erinnern Sie sich noch an einen jungen Beamten namens Shane Fourie?«

Anna biss sich auf die Lippen. Der Brigadier schwieg. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er saß vollkommen starr, während er seine Antwort gab.

»Ich erinnere mich noch. Soviel ich weiß, verließ Fourie den Polizeidienst und kam kurz darauf bei einem Autounfall ums Leben. Mitte der Achtziger, wenn ich mich recht erinnere.«

Swanepoel kniff die Augen zusammen, seine Hände erstarrten in der Luft. Anna sah, dass er Fouries Aussage in der Hand hielt.

»Nein, Sir, keineswegs«, meinte Swanepoel mit zuckersüßer Stimme. »Vielleicht verwechseln Sie ihn ja mit Mr. Curry. Mr. Fourie ist noch äußerst lebendig. Herr Vorsitzender, ich bitte um Erlaubnis, einen Zeugen aufrufen zu dürfen.«

Der Brigadier wand sich sichtlich. Die Gesichtsfarbe seines Rechtsanwalts nahm einen ungewöhnlichen Grünton an. Er beugte sich zu seinem Mandanten und fragte ihn, was hier vor sich ging, doch Nel sagte keinen Ton. Er wirkte wie versteinert.

Die Richter steckten die Köpfe zusammen und berieten sich flüsternd. Dann schaltete der Vorsitzende sein Mikrofon ein und richtete seine Antwort an Willem. »Ihr Antrag ist sehr ungewöhnlich, Herr Anwalt. Doch angesichts der ungewöhnlichen Natur dieses Verfahrens erteilen wir Ihnen die Erlaubnis, Ihren Zeugen aufzurufen.«

Rachel beugte sich vor, die Hände im Schoß verschränkt.

»Danke.« Nun lächelte Willem. »Ich rufe Shane Fourie in den Zeugenstand.«

Das Publikum, aufgeregt und verwirrt durch die Wendung der Ereignisse, erhob sich, um besser sehen zu können. Anna beobachtete Nel. Er schien von Sekunde zu Sekunde weiter zu erstarren, und sein Gesicht wurde immer fleckiger.

Fourie trat aus der Dunkelheit hinter der Bühne hervor, begleitet von drei stämmigen Mitarbeitern der Zeugenschutzeinheit, die aussahen, als sei mit ihnen nicht gut Kirschen essen.

Fourie wirkte in seinem abgetragenen Cordjackett, dem ausgeblichenen Karohemd und den Jeans entschieden fehl am Platze. Er blickte zu Anna hinüber und nickte ihr kurz zu, während er den Zeugenstand betrat. Nun war es so weit: Pauls Ende war gekommen. Rachel fing an zu weinen.

Willem Swanepoel führte Fourie behutsam und überlegt durch seine Aussage, und Fourie arbeitete wunderbar mit, indem er die Fragen kurz und ohne anekdotische Ausschmückungen beantwortete.

»Ist es richtig, dass Sie Paul Lewis zum ersten Mal begegneten, als dieser im Jahre 1980 wegen des Besitzes einer größeren Menge Mandrax verhaftet wurde?«

»Das ist richtig.« Shane hielt den Blick stur geradeaus in die Ferne gerichtet, die Arme hingen regungslos an seinem Körper herab.

»Und dass Frans Nel einer der Beamten war, die Paul Lewis nach dieser Verhaftung verhörten?«

Erregtes Gemurmel erhob sich aus dem Publikum. Anna senkte den Blick auf ihre Hände hinab, ihre Knöchel waren weiß vor Anspannung.

»Das ist richtig.«

»Und dass Sie Paul Lewis als möglichen Informanten ausgewählt haben und diesen Vorschlag dem damaligen Captain Nel unterbreitet haben?«

»Das ist richtig.«

Anna blickte von der Bühne hinunter auf James Kay in der ersten Reihe. Er betrachtete sie mit ernstem und besorgtem Gesichtsausdruck.

»Und ist es richtig, dass Frans Nel dann Paul Lewis in der Tat als Polizeiinformanten rekrutiert hat?«

»Das ist richtig.« Shane nickte und blickte zum Brigadier hinüber.

Nel stand der Schweiß auf der Stirn. Sein Rechtsanwalt neben ihm war beinahe vollständig in seinem Kragen versunken, wie eine Schildkröte in ihrem Panzer.

Willem zog einen blauen Hefter aus dem Stapel herver, den der vor sich liegen hatte. Er holte einen vergrößerten Abzug des Fotos heraus, das Shane Anna in Bulletrap gegeben hatte und reichte das Bild an Shane Fourie weiter. »Können Sie die Leute auf dem Bild erkennen?«

»Ja.« Shane nickte wieder. Die Augen blitzten in seinem wettergegerbten Gesicht. »Das ist Paul Lewis, zusammen mit mir, Captain Nel und seiner Frau, Sherry Nel.«

»Danke. Würden Sie so nett sein, das Foto dem Komitee vorzulegen?«

Shane schritt steifbeinig über die Bühne und reichte das Bild dem Vorsitzenden, der es einige Zeit musterte. Die Atmosphäre im Saal war zum Zerreißen gespannt. Willem war mit seiner Befragung so gut wie fertig.

»Danach Sieht es doch fast so aus, Mr. Fourie, als ob Captain Nel sich von einem seiner eigenen Leute trennte, als er Paul Lewis tötete? Ist das so?«

»Das ist richtig«, erwiderte Shane schroff.

Auf der weißen Seite der Zuhörerschaft hielten die alten Tantchen mit ihren Häkelarbeiten inne, blinzelten nervös hinter ihren Hornbrillen hervor und zogen sich die Nylonstrickjacken enger um die Schultern. Auf der Gegenseite berieten sich die Leute überrascht und bestürzt, unsicher, was sie mit dieser ungeheuren Enthüllung anfangen sollten. Der Lärm schwoll an, während die Richter sich berieten und der Vorsitzende ankündigte, dass die Anhörung auf einen späteren Zeitpunkt vertagt werden solle.

»Um das neue Beweismaterial zu berücksichtigen, das heute ans Licht gekommen ist, wird die Angelegenheit bis zum Abschluss weiterer Ermittlungen vertagt.«

Mit diesen Worten erhoben sich die Richter, und das Publikum stand auf, um sie heraustreten zu sehen. Shane Fourie wurde von seinen Beschützern eskortiert, und im Saal brach ein einziges Chaos aus.

Anna sah, dass James Kay sich einen Weg zu ihr durch die Menschen bahnte, die auf die Bühne zudrängten. Sie lächelte matt und fühlte sich schwach, war aber froh, ihn zu sehen. Er schob sich durch die Menge, die sie lärmend umdrängte, und griff nach ihrer Hand. Einen Augenblick lang hielt er ihre Finger und murmelte »Gut gemacht«, dann ließ er los.

Anna hakte sich bei Rachel und Willem Swanepoel unter, und gemeinsam schoben sie sich durch den Pulk nach draußen, wo sie schon von einer Herde Reporter erwartet wurden.

»Anna, hier rüber, bitte!«

»Anna. Waren Sie auch ein Spitzel?«

»Anna, können Sie Frans Nel verzeihen?«

Anna konnte die Gesichter der Menschen nicht erkennen, die sie mit Fragen bestürmten, doch ihre rücksichtslose Direktheit machte sie zornig. Sie blinzelte in die grellen Scheinwerfer und bahnte sich ihren Weg, hinaus in das messingfarbene Nachmittagslicht.

27

James bügelte. Er bügelte oft. Er hielt es für eine angenehm methodische, meditative Beschäftigung. Allerdings bügelte er ausschließlich Hemden, alles andere zog er so an, wie es von der Wäscheleine kam. An diesem Morgen bügelte er ein Hemd für eine Pressekonferenz im Polizeihauptquartier in Pretoria. Er war fest entschlossen, Joe Dladla in die Enge zu treiben und ein Interview mit ihm zu vereinbaren. Das war unumgänglich, denn seine Geschichte war in eine Sackgasse geraten, doch sie war viel zu heiß, um sie aus Mangel an Beweisen einfach fallen zu lassen. Rassool hätte am liebsten schon das gedruckt, was sie bis jetzt hatten, doch James wollte seinen Namen nicht unter einen Artikel setzen, ehe er sich nicht ganz sicher war, dass er auch der Wahrheit entsprach.

Er spielte gerade verschiedene mögliche Szenarien durch, wie Joe ihn abblocken könnte und wie er darauf reagieren würde, als sein Handy klingelte. Er schielte auf das Display, während seine Hände immer noch mit dem Bügeleisen beschäftigt waren. Die Telefonnummer des Anrufers war nicht zu erkennen. Wahrscheinlich aus dem Ausland. Er stellte das Bügeleisen ab und meldete sich.

»James Kay.«

Zuerst herrschte Schweigen, dann hörte man den unangenehm hohen Nachhall eines Überseegesprächs.

»Halloo!«, rief er und schüttelte eine Zigarette aus dem zusammengequetschten Päckchen aus seiner Hosentasche.

»Hallo, ich bin’s.« Er erstarrte, als er ihre Stimme erkannte. Die Flamme des Feuerzeugs flackerte neben seinem Daumen. Es war Alison.

»Hi«, erwiderte er kühl.

»Kannst du sprechen?« 5ie klang nasal, so als sei sie erkältet. Oder hatte sie geweint?

James blickte auf die Uhr. »Ja, aber nur kurz. Was gibt es?« Eine ganze Weile sagte sie gar nichts, und James erkannte mit sinkendem Mut, dass sie tatsächlich weinte. Verdammt, was jetzt?

»James, es tut mir so Leid. Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir tut, dass ich dir so wehgetan habe.« Das wurde unter herzzerreißendem Geschluchze, unterbrochen von mehreren Schniefern, hervorgebracht. James zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, ohne etwas zu sagen. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe einfach den Kopf verloren. Als du weg warst und dann Richter mich die ganze Zeit bedrängt hat …Ich habe das Gefühl, als ob ich aus einem Alptraum erwacht bin. Und ich habe dich verloren …«

Ihre Stimme verebbte in einem neuerlichen Tränenausbruch. James lehnte sich gegen den Fensterrahmen und blickte auf seinen kleinen verwilderten Garten hinaus. Aha, inzwischen ist er also schon Richter und nicht mehr Alan, dachte er gelangweilt. Was das bedeutet, ist ja wohl klar. »Ich nehme an, die Hochzeit ist geplatzt«, knurrte er. Er kam sich gemein vor, empfand aber auch ein bisschen Schadenfreude.

Am anderen Ende der Leitung brach heftiges Schluchzen aus. »Oh, James! Ich vermisse dich so sehr. Ich liebe dich, Schatz. Kannst du mir noch mal Verzeihen? Bitte? James?« James setzte sich auf die Fensterbank, unsicher, was er davon halten sollte. Sie klang verzweifelt, und es bereitete ihm keineswegs Freude, sie so zu hören, egal, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Er seufzte. »Es tut mir Leid, Ali. Es tut mir wirklich Leid. Wo bist du gerade? Hast du jemanden bei dir?«

»Neeiin …«, heulte sie. »Ich komme mir so blöd vor. Alle reden über mich, alle freuen sich insgeheim darüber! Ich kann mich nicht bei der Arbeit blicken lassen. Ich merke genau, wie mich alle so schadenfroh anstarren — schaut sie euch an, das kleine Flittchen. Hat sie nicht genau das bekommen, was sie verdient hat?«

James verspürte einen Anflug von Zärtlichkeit. Irgendwie hatte er immer noch Gefühle für sie übrig. Er konnte sie nicht einfach zum Mond schießen. »Was ist mit deiner Schwester? Kann sie nicht vorbeikommen?«

»Ich muss weg von hier, Abstand gewinnen. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht besuchen kommen. Morgen gibt es einen Flug …«

In Panik schoss James von der Fensterbank hoch. »Ali, das geht nicht. Ich meine, ich kann nicht. Morgen kann ich nicht. Ich muss wahrscheinlich nach Harare. Du weiß schon, jetzt wo Mugabe verrückt spielt Ich steh hier auf Abruf. Ich …« Ähemm. Hör mir zu. Was bin ich doch für ein elender Lügner. James setzte sich wieder, den Kopf in die Hände gestützt und die glimmende Zigarette zwischen den Fingern. Er konnte hören, wie sich Alison in London die Nase schnäuzte. »Hör mal. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob ich überhaupt will, dass du herkommst. Nach allem, was geschehen ist. Ich glaube nicht, dass ich das will.«

Daraufhin schien sie sich zusammenzureißen, und ihre Stimme klang wieder deutlicher und fester. »Das kann ich verstehen, James. Wirklich. Aber tust du mir bitte einen Gefallen? Bitte? Denk noch mal drüber nach!« James verfluchte sich insgeheim. Ein Teil von ihm ließ sich immer noch in ihren Bann ziehen und sprang auf die Vorstellung einer Partnerschaft an; die Aussicht darauf, nicht mehr allein in der Welt zu stehen, sondern sie mit jemandem zu teilen. Diese idiotische Idee, die ihn damals überhaupt erst hatte auf sie eingehen lassen. Ach, verdammt. »Hör mal, ich werde drüber nachdenken, Ali. Okay?«

»Danke«, hauchte sie. »Danke, dass du mir nicht gesagt hast, ich soll mich zum Teufel scheren.«

James lachte gequält. »Halt dich tapfer, Baby. Okay?«

»Okay«, murmelte sie.

James brauste den ganzen Weg nach Pretoria, so schnell ihn sein altes Auto über das ausgedörrte Highveld trug. Jetzt, gegen Ende des Winters, war die trockenste Zeit. Schwarze Brandflecken überzogen die Landschaft, doch James schien es so, als ob bereits der erste Hauch von Frühling in der Luft lag. War es Alisons Anruf gewesen oder die Aussicht auf eine Begegnung mit Joe Dladla, die ihm wieder Auftrieb verliehen hatte? Wahrscheinlich beides, dachte er, doch dann verdrängte er alle Gedanken an Alison.

Die Pressekonferenz war eine überraschend lockere Veranstaltung, wenn man den Ernst des Themas bedachte. Joe war so charmant und energiegeladen wie immer, saß in seinem eleganten Anzug auf dem Podium und strahlte gelassenes Selbstvertrauen aus. Neben ihm saß Ernest Vilakazi, der Polizist aus Joes Einheit, der Bazooka Rabopane erschossen hatte, »als er bei der Verhaftung Widerstand leistete«. Ziemlich unwahrscheinlich, dachte James. Der Mann hatte sich allein in seinem Hotelzimmer befunden, schlafend, wie es sich anhörte, als die Polizisten hereingestürmt waren. Drei schwer bewaffnete Polizisten gegen einen benommenen Gangster. Sie behaupteten, er hätte eine Pistole auf sie gerichtet, und Vilakazi hätte augenblicklich darauf reagiert, indem er ihn erschoss. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, dachte James.

Das Ministerium allerdings teilte seine Zweifel nicht. Eine Sprecherin gab bekannt, dass man Joe Dladlas Spezialeinheit im Falle des Todes von Bazooka Rabopane von jedem Fehlverhalten freigesprochen habe. Dann nahm Dladla Fragen der Reporter entgegen. In Wahrheit, dachte James, regt sich doch keiner über den Tod eines Verbrechers auf; jeder will, dass die Polizei diesen Kampf gewinnt. Kein Wunder, dass sie so leicht davongekommen sind.

Als die Konferenz zu Ende war, marschierte James sofort zu Dladla hinüber und unterbrach ihn so höflich er konnte. Der stellvertretende Polizeichef hob fragend die Augenbrauen, während er James von oben bis unten musterte. »Ja, ich weiß, wer Sie sind«, sagte er schließlich.

»Ich wollte mich erkundigen, ob Sie ein paar Minuten erübrigen könn …«

»Wollen Sie, mich zu einer Tasse Kaffee begleiten?«, unterbrach Joe ihn aalglatt.

Er war gut. Das musste James ihm lassen. Er hatte ihn sofort auf dem falschen Fuß erwischt, indem er ihm ohne weiteres gab, was er wollte. Und mehr noch, denn Joe Dladla zeigte sich so charmant, wie man nur sein konnte.

»Ihre Mutter ist eine ungewöhnliche Frau«, meinte Dladla, während sie auf die Straße hinausschlenderten. »Bei uns ist sie eine richtige Heldin!«

James lächelte. »Danke.«

»Ist sie immer noch in England?«

James nickte und machte dann ein bisschen Smalltalk über die Arbeit seiner Mutter an der Londoner Universität.

Sie setzten sich an einen Ecktisch im Brazilian. James bestellte einen doppelten Espresso. Dladla nahm einen Cappuccino, ohne Sahne. »Sie haben einen ziemlichen Aufruhr in unserem kleinen Teich verursacht, Mr. Kay.

Schön, dass ich Sie endlich persönlich kennen lerne«, meinte Joe lächelnd. James merkte, dass er genau taxiert wurde. Sehr genau.

»Allerdings kein so großes Aufsehen, wie Sie es kürzlich erregt haben, Mr. Dladla. Dieser Fall hat sich ja als ziemlich wilde Achterbahnfahrt erwiesen.«

Joe nickte, sagte aber nichts, während er die Ecke eines Zuckertütchens aufriss und den Inhalt langsam in seinen Cappuccino rührte. James War klar, dass sie noch den ganzen Tag lang so weitermachen konnten: Dladla charmant und undurchdringlich, während James ihn in einem fort umkreiste, ihm dabei aber kein bisschen näher kam. Er entschloss sich, die Jagd abzukürzen.

»Ich will Ihre Zeit nicht vergeuden. Ich habe meine Nachforschungen über diese Gangs angestellt, und ich habe eine Quelle, die behauptet, dass an der Bazooka-Geschichte mehr dran ist, als man zunächst meint.«

Joe blickte ihn mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen an.

»Meine Quelle ist ein Polizist. Er ist bereit, unter Eid auszusagen, dass die Angolaner von der Polizei geführt werden und dass der Krieg mit den Mosambikanern ein einfacher Territoriumskrieg ist, bei dem die Jungs in den blauen Uniformen im Augenblick die Oberhand haben. Was sagen Sie dazu?«

Joe lachte leise, dann trank er einen großen Schluck Cappuccino. Seine Augen glitzerten geradezu vor Vergnügen.

»Ihr Presseleute bringt mich wirklich zum Lachen«, sagte er. »Also wirklich, die Geschichten, die ihr euch immer einfallen lasst!«

James beobachtete ihn und wartete ab, was noch kam.

»Sie wissen doch, die Polizeiarbeit ist harte Arbeit. Meistens ist es einfach nur Schinderei. Eine undankbare Aufgabe. Ich frage mich oft, warum ich es überhaupt mache. Manchmal denke ich, ich sollte lieber etwas ganz anderes machen.«

Er breitete die Arme aus, während er das sagte, ohne eine Spur von Sarkasmus in seinem Lächeln.

»Und was wäre das?«, fragte James.

»Ich würde eine Zeitung gründen«, erwiderte Dladla wie aus der Pistole geschossen und beugte sich zu ihm hin. »Und ich würde sie nutzen, um die Wahrheit zu sagen. Leute wie Sie haben Macht. Sie sollten mit dieser Macht verantwortungsvoll umgehen.«

»Und was wäre der verantwortungsvolle Umgang mit Macht in diesem Falle?«, konterte James. Seine Stimme war so ruhig und leise wie die seines Gesprächspartners.

»Das Licht der Aufklärung in das Chaos aus Kriminalität und Gangstertum zu bringen, von dem dieses Land geplagt wird, statt diejenigen von uns zu verfolgen, die versuchen, es zu bekämpfen. Was zum Beispiel«, er hob den Finger fragend, fast anklagend empor, »wissen Sie überhaupt über Bazooka Rabopane? Dass er brutal und unter fragwürdigen Umständen gestorben ist? Ja. Dass er ein brutales und fragwürdiges Leben geführt hat? Ja. Dass er, noch ehe er sein Land mit seinen Verbrechen verraten hat, auch seine Genossen im Kampf verraten hat? Nein. Mir ist nicht bekannt, dass einer von Ihren Leuten so tief gebuddelt hat!«

Joe senkte die Hand und klopfte bekräftigend auf die Tischkante. James sah ihn verblüfft an.

»Ja, da hab ich Sie erwischt!«, verkündete Dladla triumphierend. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, stimmt’s?«

James kratzte sich mit dem Stift den Hinterkopf und verzog das Gesicht. »Ich muss zugeben, das stimmt. Würden Sie mich netterweise aufklären, was Sie meinen?«

Joe lachte herzhaft, ein dröhnendes Gelächter, das seinen ganzen Körper durchfuhr. Dann beugte er sich noch einmal vor und senkte die Stimme. »Bazooka Rabopane war nicht der loyale und disziplinierte Freiheitskämpfer, für den ihr ihn haltet. Der Mann war ein Spitzel.«

James konnte seine Überraschung nicht verhehlen. Er würde diese Aussage später nachprüfen müssen, doch er war überzeugt davon, dass sie sich als richtig erweisen würde. Dladla genoss seinen Triumph viel zu sehr, als dass es sich um einen Scherz handeln konnte. »Er hat einige Jahre unter dem Kommando von Colonel Ig Du Preez gestanden. Bazooka Rabopane war immer schon ein Lügner und Gauner.« Dladlas Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt.

James nickte hilflos. »Ja, also, ich muss zugeben, mir fehlen die Worte«, sagte er schließlich und lachte verlegen auf.

»Für uns in der Bewegung war er ein unbeflecktes Tuch. Wie so viele von ihnen. Erst als wir an die Macht kamen und die Akten einsehen konnten, fanden wir die Wahrheit über Menschen wie ihn heraus.«

»Und Paul Lewis?«

Dladla schüttelte den Kopf, die Stirn schmerzlich gerunzelt. »Mit Paul, das war etwas anderes. Das ist eine furchtbare Geschichte. Eine ganz, ganz furchtbare Geschichte.« Seine Stimme klang belegt, während er das sagte, dann beugte er sich zu James hinüber und sprach mit einer Leidenschaft, die sogar James aufwühlend fand. »Das Verbrechen, das wir jetzt sehen, wurde aus der Brutalität und dem Verrat von damals geboren. Verstehen Sie? Das eine ist aus dem anderen erwachsen. Deshalb ist es so wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen. Deshalb ist es so wichtig, Bescheid zu wissen.« Er nickte fragend, um zu prüfen, ob James ihm folgte. James nickte bestätigend.

Und dann war es vorbei, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. »Es war mir eine Freude, mit Ihnen zu sprechen«, sagte Joe Dladla leise, während er sich erhob. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen?« Er lächelte liebenswürdig, und James erwiderte sein Lächeln. Er konnte nicht anders, der Mann war einfach faszinierend.

»Danke. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.«

»Jederzeit wieder, James. Jederzeit wieder.«

Dann marschierte Joe Dladla entschlossenen Schrittes hinaus auf die Straße, unbeeindruckt von dem Verkehr, der an ihm vorbeirauschte, und kurz darauf war er im Gedränge verschwunden.

28

Henk Steyn schlenderte mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht über den Gefängnisparkplatz. »Der Colonel wird sich sehr freuen, Sie wiederzusehen.« Er schüttelte ihr herzlich die Hand, so als seien er und Anna alte Freunde.

»Wahrscheinlich bekommt er nicht allzu viel Besuch«, erwiderte sie lahm.

Steyn nickte unverbindlich, die Hände in den Taschen seines gut geschnittenen Anzugs verborgen. »Sie wissen, dass sich seine Haftbedingungen geändert haben, seit Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«

»Nein. Was ist passiert?«

»Er ist in den Ultrahochsicherheitstrakt verlegt worden. Dreiundzwanzig Stunden am Tag muss er in seiner Zelle verbringen. Kein Radio und auch sonst keinerlei Annehmlichkeiten. Wir bemühen uns darum, dass man ihn wieder in den normalen Hochsicherheitstrakt verlegt, aber ich habe nicht viel Hoffnung. Die Gefängnisleitung hat ihn auf dem Kieker.«

»Ich kann mir schon vorstellen, dass er nicht gerade der beliebteste Insasse ist.«

Henk Steyn schien über ihre Antwort zu schmunzeln. »Machen wir uns auf den Weg?« Er legte ihr eine Hand auf den Ellbogen, während sie zu seinem Auto gingen, eine höfliche Geste, die südafrikanische Männer oft zeigen, die aber genauso oft als Beweis für ihren unverbesserlichen Sexismus kritisiert wird. Anna störte sich nicht daran, jedenfalls nicht in diesem Augenblick.

Sie fuhren in Henk Steyns Auto und folgten demselben Weg, den sie schon bei ihrem ersten Besuch genommen hatten. Der Ultrahochsicherheitstrakt befand sich innerhalb des normalen Hochsicherheitstrakts, in dem Bereich, wo vor noch gar nicht so langer Zeit, bevor der Tod durch den Strang abgeschafft wurde, die Gefangenen auf die Vollstreckung der Todesstrafe warteten.

Diesmal war Anna der Grund ihres Besuches sehr viel klarer als beim ersten Mal. Sie wollte herausfinden, wer Pauls Betreuer bei der Sicherheitspolizei gewesen war, und hoffte, dass sich der Colonel in dieser Frage wieder als hilfreich erweisen würde. Sie hoffte, dass er inzwischen herausgefunden hatte, wo sich der mysteriöse Lieutenant Badenhorst versteckt hielt.

Jeder Informant wurde von einem Betreuer geführt. So wie Joe die Verbindung zwischen ihrer Zelle und der übrigen Untergrundbewegung gewesen war, würde auch Paul einem Betreuer bei der Sicherheitspolizei unterstanden haben, dem er regelmäßig Bericht erstattete und der ihn anwies, wie er auf eine aktuelle Situation reagieren sollte. Dieser Betreuer hätte genaue Kenntnis über jede Bewegung Pauls gehabt und so wahrscheinlich auch über seine letzte Fahrt nach Vryburg Bescheid gewusst. Sofern man Shane Fourie Glauben schenkte, war Frans Nel nicht Pauls Betreuer gewesen. Wenn es Anna jedoch gelang, herauszufinden, wer Pauls Betreuer gewesen war, hätte sie ein entscheidendes Teil im Puzzle gefunden.

Diesmal wurden sie in die Tiefen des Gefängnisses geführt, durch lange Korridore, deren schmale Fenster auf einen betonierten Gefängnishof hinausblickten. Durch scheppernde Metalltore in noch längere, schmalere, fensterlose Flure. Bald hatte Anna jegliche Orientierung verloren. Sie hielt sich dicht bei Henk Steyn, der so gleichmütig hinter den Gefängniswärtern herlief, als würde er zu seinem Hotelzimmer geleitet. Sie bogen um eine Ecke und fanden sich in einer Sackgasse vor einer dicken Gittertür wieder. Zu ihrer Rechten führte eine Treppe hinauf zu einer weiteren verriegelten Tür. »Das waren die letzten Stufen, die die Todeskandidaten emporstiegen. Dort oben wurden sie erhängt«, erzählte Steyn ihr so ungerührt, als würde er die Turmspitze einer Kathedrale auf einer Bildungsreise kommentieren.

Nacheinander marschierten sie durch die schwere Tür in den Ultrahochsicherheitsbereich. Die Luft roch nach Metall und Bleiche, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. »Anwaltsbesuch für Du Preez!«, brüllte der Wärter über die infernalische Geräuschkulisse aus körperlosen Stimmen hinweg, die vor Schmerz, aus Spaß oder allen möglichen anderen Gründen herumschrien. Sie wurden durch einen weiteren schmalen Durchgang geführt, von dem etliche noch schmalere Flure abzweigten. Jeder dieser Flure beherbergte eine Reihe Zellen. Es war so eng, dass man Platzangst bekam. Hände reckten sich ihnen durch die Gitterstäbe entgegen, während sie an den Zellen vorbeigingen.

Es war eine Erleichterung, als sie endlich in das winzige, schallisolierte Besprechungszimmer geführt wurden. Es war etwa neun Quadratmeter groß, und die Decke hing beängstigend tief, so tief, dass Henk Steyn sie fast mit den Haarspitzen berührte. Aus der Wand ragte eine Tischplatte hervor; auf der einen Seite des Tisches waren zwei orangefarbene Schalensitze fest am Boden verschraubt; ihnen gegenüber stand ein weiterer, ebenfalls am Boden verschraubter Stuhl. Steyn bedeutete Anna, sich neben ihn zu setzen. »Wir bleiben nicht lange«, meinte der Anwalt zu ihr. »Er wird zurzeit sehr schnell müde.«

Anna setzte sich auf die Kante des gesicherten Stuhls und blickte sich unbehaglich um. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, doch Anna erkannte den Mann kaum wieder, den die Wärter hereinführten. Der Colonel wirkte erheblich dünner als beim letzten Mal, er hatte mindestens zehn Kilo abgenommen. Er war gespenstisch blass und trug einen orangefarbenen Overall ohne Knöpfe. Die seitlichen Verschlüsse standen offen, so dass der dunkelblaue Streifen seiner Unterhose sichtbar war, ein peinlicher, mitleiderregender Anblick.

Trotzdem lächelte der Colonel sie fröhlich an und griff nach ihrer Hand. Die Kraft, die sie bei seinem ersten Händedruck gespürt hatte, war nicht mehr da, seine Hand fühlte sich feuchtkalt und schlaff an. »Es ist so schön, Sie wiederzusehen, Anna!«, meinte er. Seine Stimme klang so kräftig wie eh und je.

Sie lächelte verlegen. »Ja, ich freue mich auch, Sie zu sehen«, hörte sie sich selbst erwidern und spürte wieder, wie das Gefühl von Unwirklichkeit sie überfiel.

Und wieder mussten schriftliche Formalitäten erledigt, Dokumente überflogen und unterzeichnet werden. Anna wartete, während Steyn und sein Mandant ihre Vorhaben erledigten. Dieses Mal brachte ihnen kein Wärter Kaffee.

Seltsam, ihn so zu sehen. Der ehedem unbezwingbare Colonel, der nun in seinem knopflosen Gefängnisoverall ganz schwach und gebrechlich wirkte. Der gleiche Mann, der einmal von Untergebenen wie Vorgesetzten geschätzt und gefürchtet wurde. Die tragische Ironie der Situation kam Anna diesmal besonders stark zu Bewusstsein. Dass Du Preez im Gefängnis saß, während die Männer, die das politische Programm entwickelt hatten — die Politiker und Generäle, die ihm seine Arbeit überhaupt erst verschafft, ihn ausgestattet und finanziert hatten —, frei waren. Sie führten ein vergnügtes Leben auf internationalen Vortragsreisen oder schlürften einen Sundowner auf den Veranden ihrer Altersruhesitze. Sie waren ungestraft davongekommen.

Die Idee der Apartheid war sehr leicht zu verstehen gewesen. Noch leichter, wenn man nicht viel Bildung genossen hatte. Wie jede autoritäre Idee hatte man sie unter Zuhilfenahme von Mythos und Religion inbrünstig vertreten. Du Preez hatte sie wahrscheinlich schon seit frühester Jugend verinnerlicht. Und als die Zeit reif war, zeigte sich, dass er alle Eigenschaften besaß, die man für verdeckte Ermittlungen, für die heimliche Unterdrückung der Opposition, brauchte. Er war mutig, ein guter Führer und besaß Talent zum Töten. Man konnte einen Menschen wie ihn kaum als Psychopathen bezeichnen, denn er hatte in einem Kontext getötet, für politische Führer, die ihm applaudiert hatten. Jedenfalls so lange, wie es ihnen in den Kram passte. Anna war in ihrem Leben schon etlichen Politikern begegnet, die stärkere soziopathische Tendenzen zeigten als Du Preez. Nein, der Colonel war ein Produkt der Apartheid, das blutige Maskottchen der Nationalpartei, das man einfach weggeworfen hatte, als sich die Mannschaftsaufstellung änderte. Und jetzt wurden ihm Respekt oder Aufmerksamkeit lediglich von dem einen oder anderen mitfühlenden Wärter entgegengebracht.

Steyn sammelte seine Unterlagen zusammen und gab Anna ein Zeichen, loszulegen. Du Preez rückte auf seinem Stuhl hin und her, die Hände zwischen den Knien und die Schultern vorgebeugt. Er bewegte sich matt, wie jemand, der unter starken Medikamenten steht.

Sie beugte sich vor und faltete die Hände auf der Tischplatte. »Colonel. Sie haben wahrscheinlich von der Amnestieanhörung gelesen.«

»Oh ja«, kicherte er. »Das war ein guter Witz. Da haben Sie wirklich die Katze in den Taubenschlag gejagt, was? Ich habe gelacht, als ich das gelesen habe. Ja, ich habe wirklich gelacht.«

Anna lächelte schwach. »Wissen Sie noch, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben? Da haben Sie Badenhorst erwähnt. Sie sagten, Sie würden versuchen, herauszufinden, wo er steckt. Konnten Sie irgendetwas herausbekommen?«

An der Art und Weise, wie er sie ansah, konnte man unschwer erkennen, dass der Colonel Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren, deshalb wiederholte Anna ihre Frage noch einmal langsamer. Er starrte sie durch seine dicken Brillengläser an und strengte sich an, sie zu verstehen.

»Wissen Sie«, begann er mit schleppender Stimme. »Es gab so viele Leute von Ihrer Seite, die für uns gearbeitet habe. Das Netzwerk war viel dichter, als den meisten klar ist. Und vermutlich werden wir es niemals in seinen ganzen Ausmaßen überblicken, weil sich heute alle so still verhalten wie die Kirchenmäuse. Viel hing auch davon ab, auf welcher Ebene die Leute gearbeitet haben. Ob sie einfach nur freiwillige Informanten waren, ob man sie nötigte oder erpresste oder ob sie Doppelagenten waren. Verstehen Sie, was ich sagen will?« Anna nickte, ohne genau zu wissen, worauf er eigentlich hinauswollte, doch sie wollte seinen Gedankengang nicht stören, egal, wie umständlich er sein mochte.

»Badenhorst ist eine harte Nuss«, fuhr der Colonel fort. »Vermutlich wird er nicht besonders freundlich sein, wenn er erfährt, wer Sie sind. Und er ist nicht dumm, Sie werden ihn kaum täuschen können. Es wird schon ein Problem sein, überhaupt zu ihm hinzukommen. Anscheinend hat er sich mit seiner Familie auf einer Farm in der Provinz Ost-Kap verkrochen. Meine Quellen haben mich informiert, dass die Farm einer Festung gleicht.« Während Du Preez das sagte, schien er vor Stolz regelrecht aufzublühen, dass er selbst unter den augenblicklichen Umständen noch über Quellen verfügte, die er anzapfen konnte.

Anna legte die Fingerspitzen aneinander und wartete darauf, dass der Colonel fortfuhr.

»Ich kann Ihnen den Weg beschreiben, doch dann sind Sie auf sich allein gestellt«, sagte er. »Und an Ihrer Stelle würde ich nicht erwähnen, dass Sie mich kennen. Badenhorst und ich waren nie so richtig, wie soll ich es sagen …« Der Colonel hob die Augenbrauen und starrte Anna gedankenverloren an. »Wir haben nie auf gutem Fuß miteinander gestanden.«

»Danke«, flüsterte Anna und verspürte einen seltsamen Drang, ihn zu berühren, die Hand tröstend auf seine zu legen. Doch sie tat es nicht. Sie konnte es einfach nicht.

»Sie sollten nicht allein fahren«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu, das seine Zerbrechlichkeit noch zu unterstreichen schien. »Ich weiß auch nicht — vielleicht bin ich ja bloß überängstlich. Aber wenn Sie allein fahren, wird niemand wissen, wo Sie sind. Niemand außer mir wird Erklärungen geben können, und mein Wort scheint dieser Tage nicht mehr viel zu gelten. Nehmen Sie also lieber jemanden mit, okay?«

Anna nickte. »Ja, vielen Dank, das mache ich.« Die Interaktion zwischen ihnen war irgendwie eigenartig, und plötzlich ging ihr auch auf, warum. Der Colonel vertraute ihr. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor einiger Zeit bei einem Abendessen mitgehört hatte. Zwei Psychologen hatten bei einem teuren Wein über Psychopathie diskutiert, und es war unter anderem auch um den Colonel gegangen. Der eine, ein älterer Mann, hatte darauf beharrt, wie wichtig es sei, das Kind in Du Preez nicht zu vergessen, den verängstigten kleinen Jungen, der auf jede erdenkliche Weise nach Bestätigung suchte. Die andere, eine junge Frau hatte gerufen: »Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Menschen zu verstehen, es ist unsere Aufgabe, sie zu eliminieren!« Das war genau die Denkweise, die der Colonel selbst vertreten hatte. Und man brauchte sich nur anzuschauen, wohin ihn das geführt hatte.

Mitten in der Hauptverkehrszeit fuhr Anna vom Zentralgefängnis zurück zu ihrem Büro. Die Begegnung mit Du Preez hatte sie auf seltsame Weise berührt, sie wusste selbst nicht, wieso. Es war ein beunruhigendes Gefühl.

Die Größe von Menschen, so glaubte Anna, lag in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung nicht nur für ihre guten, sondern auch für ihre schlechten Taten und Eigenschaften zu übernehmen. Wenn man das Schlechte in sich selbst erkennt und Verantwortung dafür übernimmt, ist man als Mensch so viel mehr wert. Doch diese Eigenschaft findet man nur selten. Paul hatte sie nicht besessen. Sie war sich auch nicht sicher, ob der Colonel sie besaß. Aber er verfügte immerhin über die Anfänge der Selbsterkenntnis.

Während sie noch vor sich hin grübelte, verspürte Anna wieder das unangenehme Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das Gefühl, beobachtet zu werden. Und dann sah sie es: Da war es wieder, dasselbe Auto, der kleine violette Corsa, der ihr schon neulich von Braamfontein gefolgt war.

Während sie sich durch den dichten Verkehr auf den Church Square zuschoben, kam ihr das Auto so nah, dass sie das Antlitz des Fahrers sehen konnte. Sie versuchte, sich sein Gesicht einzuprägen. Olivfarbene Haut, ein billiges Brillengestell aus Schildpatt, schwarze Haare, die mit Gel zurückfrisiert waren. Der Mann bemerkte, dass sie ihn betrachtete, und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Für wen arbeitest du, zum Teufel, fragte sie sich. An der nächsten Kreuzung bog er ab und war verschwunden.

Anna fuhr auf ihren Parkplatz am Wachthuis und blieb einen Moment lang in ihrem Auto sitzen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Dann öffnete sie das Handschuhfach, nahm die Beretta heraus und steckte sie in ihre Handtasche.

In dem Stockwerk, auf dem Joe arbeitete, verließ sie den Fahrstuhl und hoffte, dass er da war und Zeit für ein Bier und ein Schwätzchen hatte. Früher hatten sie sich immer gegen Ende eines Arbeitstags auf einen Drink getroffen, doch diese nette Gewohnheit hatte in der letzten Zeit nachgelassen.

In seinem Büro brannte Licht, und durch die halb geöffnete Tür drang Gelächter auf den Flur. Anna schlüpfte in sein Büro. Joe lümmelte sich bequem auf dem Sofa, zusammen mit zwei Männern aus seiner Einheit, alle hatten der Tür den Rücken zugewandt und starrten auf den Fernseher, wo das Fußballländerspiel lief, das an diesem Abend das ganze Land fesselte.

Anna Schlich sich leise über den Teppich heran und legte Joe von hinten die Arme um den Hals. »Anna!« Er sprang auf und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung, dann wandte er sich den anderen Männern zu. »Du kennst doch Ernest? Und Peter?« Anna nickte und lächelte den beiden Männern zu, die ihre Bierdosen zum Gruß erhoben. Der Sofatisch war bedeckt mit Vorräten für einen langen Abend, mehrere Six-Packs und drei köstlich duftende Pappkartons mit Nando’s Grillhähnchen.

»Komm, setz dich zu uns.« Joe riss eine Bierdose auf und gab sie ihr.

Anna setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und trank einen großen Schluck von dem kühlen Bier. »Und, wie steht’s?«, fragte sie.

Joe streichelte ihr zärtlich über das Haar. »Das Spiel hat ziemlich enttäuschend angefangen«, sagte er. »Die Jungs von der Elfenbeinküste machen ziemlich Druck, aber bis jetzt ist noch kein Tor gefallen.«

Ernest zerteilte die Hähnchen und sorgte dafür, dass jeder genug bekam. Er wirkte ziemlich betrunken. »Ich sag euch, diese Frau bei Nando ’s hat wirklich einen Sexy Blick!«, schwärmte er. »Oohhh Die hat mich vielleicht mit diesem sexy Blick angeschaut, regelrecht ausgezogen Total fertig gemacht hat die mich!«

Joe lachte. »Ach Quatsch, Mann. Die hat einfach nur einen müden Blick! Es ist doch ein Riesenunterschied ob jemand einen sexy Blick hat oder einen müden Blick. Mach bloß nicht den Fehler, einen müden Blick mit einem sexy Blick zu verwechseln. Oder einem Schlafzimmerblick. Oder einem desinteressierten Blick. Das sind doch Riesenunterschiede. Die Frau bei Nando’s hat dich bloß müde angeschaut!«

»Warst du etwa dabei, Dladla? Ich glaub nicht, dass ich dich da gesehen hab! Nein, Gott hat sich wirklich ins Zeug gelegt, als er den Körper dieser Frau geschaffen hat! Ihre Augen lassen mein Herz leuchten. Und wenn sie sich bewegt — ach verflucht!« Peter und Joe brachen in schallendes Gelächter aus. »Sie hat gesagt: ›Bitte, dieser Typ da, der hat schon ziemlich lange gewartet‹, und dann sagt sie zu mir: ›Kann ich was für dich tun, Brother?‹ Und ich sag zu ihr: ›Ja, bitte, gib mir drei halbe Hähnchen und Pommes, bitte, Schätzchen.‹ Und dann sagt sie zu mir: ›Scharf, extra scharf?‹ Und ich sag: ›Nein, mild, ganz mild.‹ Ach! Die Frau war vielleicht schön!« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Oh! Ich hab zu ihr gesagt: ›… ganz mild …‹ Mmmh, sie war dunkel, hatte ganz schwarze, glänzende Haut. Eine echte afrikanische Frau met een ballformige Popo. Ach, ich will lieber gar nicht länger darüber reden, was ich für diese Frau empfinde!«

»Gut — wir wollen nämlich auch gar nichts mehr davon hören!«, platzte Peter heraus.

»Ja, vielleicht solltest du lieber deiner Frau davon erzählen, vielleicht interessiert sie sich ja dafür!«, spottete Joe.

»Lacht ihr nur! Aber ich habe heute was ganz Besonderes gesehen. Ich sag euch, es war ein Bild menschlicher Perfektion!«

Ernest lächelte verzückt und schlug die Zähne in einen saftigen Hähnchenschenkel. Peter riss noch eine Bierdose auf und war ganz auf das Spiel konzentriert. »Dieser Lucas Radebe, unser Kapitän, der ist der gefährlichste Spieler.«

Anna blickte ihn fragend an. »Wieso?«

»Weil er Chancen verschenkt!«, knurrte Joe.

»Fiisch! Fisch! Der Fischer Los ran!« Plötzlich brüllten alle. Anna blickte wieder zum Fernseher. Mark Fish hatte den Ball.

Ernest schrie: »Los! Los! Mach schon, du faule Sau!«

Joe skandierte immer noch: »Fiisch! Fiisch!« Anna musste lachen. »Vala! Vala! Dranbleiben, dranbleiben, Junge!«, brüllte Joe.

Im Stadion plärrten Tröten, und Bafana schoss ein Tor. Ernest sprang vom Sofa auf und tanzte ein Freudentänzchen. Peter sprang ebenfalls auf und imitierte den Schuss. »Klasse gemacht, Junge, super — ein verdammt guter Schuss!«

Joe ließ sich zufrieden auf das Sofa zurücksinken, eine Bierdose stand auf seinem Bauch. Das Spiel ging weiter. Ernest war jetzt ganz angespannt, wie ein Läufer im Startblock. Er setzte sich auf den Teppich direkt vor den Fernseher. Peter ließ sich wieder auf dem Sofa nieder, eine unangezündete Zigarette zwischen den Fingern. Es war fast Halbzeit, und es sah ganz so aus, als würde die Mannschaft mit einem TorVorsprung in die Pause gehen. Doch das Team von der Elfenbeinküste machte noch mal mächtig Druck, der südafrikanische Torwart ging zu Boden, und jetzt sprang sogar Anna schreiend auf. Dann rettete Lucas Radebe die Situation und drosch den Ball aus dem Torraum. »Puh, das war knapp!« Alle setzten sich wieder.

»Lucas Radebe ist gar nicht so übel.«

»Ja, Lucas hat den Ball noch abgefangen.«

Der Pfiff zur Halbzeit erklang. Alle atmeten erleichtert auf. Ernest stand auf, wackelte mit den Hüften und schwenkte seine Bierdose.

»Oh, ich liebe Mark Fish!«

»Jetzt hat er den sexy Blick«, spottete Joe.

»Ja, ich bin eine wandelnde Enzyklopädie, immer auf der Suche, ein Weltenwanderer«, witzelte Ernest, während er sein Tänzchen fortsetzte. »Ich bewege mich von einem dunklen Gesicht des Lebens hin zu einem viel helleren Gesicht. Ich bin in einem immer währenden Kampf um Gelassenheit. Denn Gelassenheit, das ist Weichheit, Glätte, Wärme, Glück, Schnelligkeit, Stille Gelassenheit.«

Anna bog sich vor Lachen über Ernests blödsinnige Außerungen. Es tat ihr gut, und sie hatte das Gefühl, als ob sich ihre Spannung langsam löste.

Die zweite Halbzeit lief gut. Peter erklärte Anna das Spiel, während Ernest über ihre Unwissenheit schimpfte. »Fußball ist nicht bloß eine Sportart. Es ist eine Religion. Unsere nationale Religion! Du solltest Jomo Sono huldigen …!«

»Wer ist Jomo Sono?«

»Gott im Himmel, vergib ihr! Jomo Sono ist unser Trainer. Früher hat er für die Orlando Pirates gespielt. Ein Wahnsinnsfußballer! Man nannte ihn auch den Prinz von Soweto — er war der reinste Zauberer am Ball.«

Joe winkte Ernest, aus dem Weg zu gehen, denn er versperrte den Blick auf den Fernsehschirm. »Versuch gar nicht erst, ihr was beizubringen. Sie wird es nie lernen, mein Freund. Es liegt ein himmelweiter Unterschied darin, ob man Fußball im Blut hat oder nur im Nervensystem!«

Fünf Minuten vor Schluss fiel ein Tor für die Elfenbeinküste. Eine Minute später schossen sie das nächste. Bedrückte Stimmung machte sich im Zimmer breit, die Luft war raus. Peter zog sich die Schuhe an und schien untröstlich. »Bis morgen dann, Jungs.« Joe versuchte ihn zu überreden, noch dazubleiben, aber ohne Erfolg. »Ich sehe euch dann morgen!«, murmelte Peter noch einmal und ging. Ernest stolperte hinter ihm her, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

Nun waren sie allein, Anna und Joe, nebeneinander auf dem Sofa. Joe schaltete den Fernseher aus, und plötzlich war es ganz still im Zimmer. »Wenigstens siehst du jetzt besser aus als vorhin«, stellte Joe fest.

»Ach, ich weiß nicht, Joe. Ich weiß nicht«, seufzte Anna und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ist Ernest nicht der Typ, der Bazooka erschossen hat?«

Joe nickte, trank den Rest seines Biers aus und öffnete eine neue Dose.

Anna stand auf und trat ans Fenster. Das Verkehrsrauschen auf der dunklen Straße unter ihnen drang zu ihr empor.

»Ich war heute noch mal beim Colonel.«

Joe vergrub das Gesicht in den Händen, doch Anna fuhr ungerührt fort:

»Ich will wissen, wer Pauls Betreuer war.«

Joe schüttelte den Kopf; immer noch hatte er das Gesicht in den Händen vergraben. Sie konnte nur seinen glänzenden, kahlen Schädel sehen.

»Erinnerst du dich noch an Badenhorst?«

Joe nickte.

»Ich glaube, ich hab herausgefunden, wo er steckt. Mal schauen, ob er redet.«

Joe erhob sich genervt und trat zu Anna ans Fenster. Er starrte auf die Scheinwerfer der Autos hinunter.

»Ich würde mir wirklich wünschen, dass du das lässt. Du kannst nicht mit diesen Leuten zusammenarbeiten; es ist wie die Arbeit mit Giftschlangen. Früher oder später beißen sie dich.«

Anna reagierte empört, halb gekränkt, halb verteidigend. »Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich das tun muss? Dass ich es zu Ende bringen muss?« fragte sie mit wütend erhobener Stimme.

Joe betrachtete Sie mit zusammengekniffenen Augen. Dann schien er einzulenken. Er legte ihr den Arm um die Schulter: »Du hast schon viel zu lange unter den Toten gelebt. Es ist höchste Zeit, wieder zu den Lebenden zurückzukehren.«

Ihr war klar, dass er es nur gut meinte, dass er nur aus Sorge um sie so sprach. Doch sie wusste auch, dass er sie nicht wirklich verstehen konnte.

Aber wie?, fragte sie sich hilflos. Ich weiß nicht, wie ich mich um die Lebenden kümmern soll. Ich weiß nicht, wie ich ohne meine Geister leben soll.

Anna blickte Joe fest in die Augen. Schließlich lächelte er besänftigend und nahm zärtlich ihr Gesicht in die Hände. Sie spürte, wie ihre Haut unter seiner Berührung zitterte. Dann küsste er sie.

»Du musst die Vergangenheit loslassen. Eines Tages wirst du sie loslassen müssen.«

Sie wusste, dass er Recht hatte.

Doch die Vergangenheit wollte Anna nicht loslassen.

Teil VI

6. Teil

Es genügt, dass gute Menschen nichts tun,

Und schon triumphiert das Böse.

Edmund Burke

29

Anna fuhr auf der Umgehungsstraße zum Flughafen. Die Skyline der Häuser ragte in einem spröden Grau vor dem wässrig-blauen Himmel auf, an dem die ersten Sterne funkelten. Der Horizont war in ein verwischtes Blutrot getaucht, und die Sonne, die gerade untergegangen war, ließ die Unterseite der Wolken strahlend purpurrrot leuchten. Der Smog, der an diesem Abend über Johannesburg hing, ließ die Farben noch kräftiger erscheinen.

Der Verkehr war beängstigend dicht. Ein Lkw schwenkte gefährlich aus seiner Spur auf Annas Fahrbahn hinüber. Sie scherte aus und wäre dabei fast mit einem großen; BMW zusammengestoßen, der über die Kriechspur gerast kam, ohne sich um den Rest des Verkehrs zu kümmern.

Als sie abbog, bemerkte sie, dass sie wieder von einem Auto verfolgt wurde. Diesmal war es eine unscheinbare weiße Limousine, wie es zahllose andere in der Stadt gab. An der Abfahrt zum Flughafen stellte das Auto die Verfolgung ein und fuhr in Richtung Witbank weiter. Wie sehr dieser Vorfall sie durcheinander gebracht hatte, wurde ihr erst bewusst, als sie es im Parkhaus fertig brachte, mit der Stoßstange ihres Autos an einem Stahlpfeiler entlangzuschrammen. Sie war froh, aus der Stadt wegzukommen. Und froh darüber, dass James Kay sie am Flughafen abholen würde, wenn sie in der verschlafenen Küstenstadt mit dem merkwürdigen Namen East London landete.

Eine halbe Stunde vor Abflug checkte Anna ein und marschierte zum Schalter, wo Schusswaffen deklariert werden mussten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich alle nötigen Formalitäten für den Transport der Beretta erledigt waren und die übermüdeten Mitarbeiter akribisch endlose Formulare ausgefüllt hatten. Als sie zum Gate kam, trommelte eine rosa gekleidete Stewardess schon ungeduldig mit den Fingern auf dem Schalter herum. Anna war die Letzte, die ins Flugzeug stieg. Während sie sich zu ihrem Sitzplatz schob, betrachtete sie ihre Mitreisenden, allesamt Männer in Anzügen, die den Wirtschaftsteil der Abendzeitung vor sich aufgeschlagen hatten.

Mit einem aufgeregten Gefühl in der Magengrube setzte sie sich auf ihren Platz. Sie hatte James Kay schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen — sie hatten diese Reise telefonisch verabredet —, und sie freute sich schon darauf, ihn wiederzusehen.

Er wartete hinter der Sperre auf sie, als sie den Terminal betrat. »Hallo«, rief sie ihm atemlos zu, in jeder Hand eine Tasche. In einer von ihnen hatte ihr ein Flugbegleiter die Waffe zurückgegeben, als sie aus dem Flugzeug stieg. »Ich hab’s geschafft«, verkündete sie fröhlich.

James grinste und musterte sie unverhohlen von oben bis unten. Anna trug einen dunkelblauen Hosenanzug über einer cremefarbenen Bluse, Bürokleidung. »Schöner Anzug. Ziemlich polizeimäßig«, neckte er sie, und dann nahm er ihr die schwerere der beiden Taschen ab. »Kommen Sie, wir müssen Sie noch im Hotel einchecken.«

Sie fuhren den kurzen Weg bis zum Meer und dem Holiday Inn am anderen Ende der Strandpromenade. Anna war im Zimmer neben James untergebracht worden. Eilig packte sie ihre Sachen aus, zog Jeans und ein T-Shirt an und ging in die Hotelhalle hinunter, wo sie James traf.

Gemeinsam gingen sie die Promenade entlang, die sich mit ihren neonglitzernden Bars und Diskotheken am Strand entlangzieht. East London ist ein Mekka für Surfer, und das Nachtleben war ganz auf ein junges Publikum ausgerichtet. James und Anna ließen sich auf der zum Meer gelegenen Terrasse einer besonders geschmacklos bunten Bar nieder und bestellten Cocktails mit albernen Namen.

»Und — wie fühlen Sie sich, wenn Sie an morgen denken?« Er saß ihr gegenüber, und das gedämpfteLicht ließ seinen oftmals kühlen Blick weicher erscheinen.

»Eigentlich ganz okay«, meinte sie achselzuckend. »Allmählich finde ich richtig Gefallen an der Sache. Und ich denke, egal, was er auch erzählt …«

»Falls er uns überhaupt etwas erzählt«, fiel James ihr ins Wort.

»Ja, falls. Aber egal, was er auch sagt, nichts kann mehr so schockierend sein, wie das, was ich von Shane Fourie erfahren habe.«

James nickte und blickte auf das tintenschwarze Meer hinaus. In Wahrheit war Anna sehr wohl nervös, wenn sie an den folgenden Tag dachte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht von Badenhorst erfahren könnte. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie es schaffen würden, ihn zum Reden zu bringen. Diese Leute waren alle gleich, und wenn man sie einmal in Fahrt gebracht hatte, floss es nur so aus ihnen heraus. James wirkte vollkommen gelassen, und das war beruhigend. Sie war froh, dass sie zusammen dorthin fahren würden. Sie fühlte sich an diesem Abend in seiner Gegenwart wohl. So wohl, dass sie auch über andere Dinge sprechen konnte.

»Wissen Sie, ein paar Monate nach Pauls Tod habe ich zusammen mit einer meiner Schwestern seine Sachen durchgesehen. Wir saßen in meinem Zimmer in der Valley View Road. Wir fanden diese Supermarkttüte, und sie war ganz vollgestopft mit Kondomen. In jeder Farbe und Form, die man sich nur vorstellen kann.« James nippte an seinem Long-Island-Cocktail und lächelte, während er ihr zuhörte. »Ich hatte die Tüte noch nie gesehen, und wir konnten uns auch nicht erklären, was die ganzen Kondome da zwischen Seinen Sachen machten. Also saßen wir da, meine Schwester und ich, auf dem Fußboden, und haben die Kondome aufgeblasen wie Luftballons. Es waren Dutzende, es sah aus wie bei einer Silvesterparty.« Nun lachte Anna.

»Die trauernde Witwe«, schmunzelte er.

»Ja«, wiederholte sie in ernsterem Tonfall, »die trauernde Witwe.«

Er betrachtete sie nachdenklich. Offenbar begriff er, dass sie sich irgendwie mit Pauls Verrat arrangiert hatte. Sie war allerdings froh, dass er kein Wort darüber verlor, es wäre ihr sonst vielleicht besserwisserisch vorgekommen. Sie schwiegen einige Zeit und betrachteten die weißen Wellenkämme, die durch die Dunkelheit heranrollten.

»Ich habe mich neulich mit Joe Dladla getroffen«, sagte James plötzlich. Anna hob überrascht die Augenbrauen. »Nach der Pressekonferenz.«

»Ach ja?« Anna war verblüfft über ihre eigene Reaktion. Irgendwie gefiel ihr die Vorstellung nicht, dass James und Joe sich bei einer Tasse Kaffee ausgetauscht hatten.

»Er hat mir erzählt, dass Bazooka Rabopane ein Spitzel war.«

Anna nickte. »Ich habe darüber allerdings noch gar nichts in der Zeitung gelesen«, meinte sie schließlich.

James schüttelte den Kopf. »Ich hab’s auchnoch niemandem erzählt.«

Anna nickte und richtete den Blick wieder auf das Meer.

»Warum?«, fragte James. »Warum wird jemand wie er zu einem Spion?«

Anna zuckte die Achseln. Das war sicherer Boden. »Dafür gibt es viele Gründe. Manche, wie Paul, sind schon in jungen Jahren dazu verleitet worden. Man hat ihnen eine Haftstrafe wegen Drogenbesitzes erlassen oder Ähnliches. Die Polizei bot sich ihnen als einfache Lösung.« Sie nippte an ihrem Drink. »Andere wurden mit Drohungen und Gewalt dazu gebracht. Sie kennen doch bestimmt die berühmte Geschichte von dem MK-Kommandanten, der ein paar neue Schuhe wollte, oder?« James schüttelte den Kopf. Er kannte die Geschichte nicht.

»Ich weiß natürlich nicht, ob die Geschichte stimmt, aber sie hat auf jeden Fall die Runde gemacht. Anscheinend gab es da diesen Kommandanten, in einem der Camps in Tansania, der sich einen jungen Soldaten für einen Auftrag herausgepickt hat. Ja, und dieser Junge ist vermutlich schon seit ein paar Jahren in den Lagern gewesen, unter fürchterlichen Bedingungen, hat Affen verzehrt und was sie da sonst so im Busch finden konnten. Er hat noch keinerlei Kampfgeschehen aus der Nähe gesehen und ist sich nicht mal mehr sicher, warum er eigentlich noch da ist. Dann wird er von seinem Kommandanten beiseite genommen, einem Mann, den er verehrt. Der drückt ihm zwei Umschläge und einen Stadtplan von Johannesburg in die Hand. Er erhält den Auftrag, ein ganz bestimmtes Schuhgeschäft zu suchen, das von einem Inder geführt wird. Dort soll er ein ganz bestimmtes Paar Schuhe kaufen. Größe, Farbe und so weiter stehen in den Anweisungen.«

James hatte schon von den Bedingungen in den Lagern gehört, wo im Exil lebende Südafrikaner von den nervösen Nachbarstaaten mehr oder weniger interniert wurden. Die Lager waren ausgedehnte, abgelegene umzäunte Grundstücke, wo junge Männer und Frauen zu Guerillakämpfern ausgebildet wurden, aber nur selten Einsatz fanden. Folglich herrschte in den Lagern nicht nur Not und Elend, sondern auch Langeweile, und ein oder zwei waren berüchtigt für die Menschenrechtsverletzungen, die dort innerhalb der Freiheitsbewegung begangen worden waren.

Anna hielt inne und schöpfte Atem. »Okay, in einem von den Umschlägen steckt Geld für den Auftrag, den anderen soll er dem Inder übergeben. Er zieht also los, überquert heimlich die Grenze und riskiert sein Leben und kommt schließlich in diesem Laden in Johannesburg an. Alles geht gut über die Bühne. Er kauft die Schuhe und erhält eine Reihe neuer Anweisungen, von dem Inder, der sie in seinem Umschlag findet. Er soll die Schuhe wieder mit zurück nach Tansania nehmen, was er auch tut. Wieder reist er nur nachts, überquert heimlich die Grenze und setzt sich die ganze Zeit dem Risiko aus, dass man ihn gefangen nimmt. Als er wieder zurück ins Lager kommt, dankt der Kommandant ihm und zieht die Schuhe an. Auftrag ausgeführt.«

James lachte kopfschüttelnd. »Das ist nicht Ihr Ernst.«

Anna lächelte. »Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ungefähr so lief es wohl.«

»Aber was hat das mit der Frage zu tun, warum Bazooka ein Spitzel geworden ist?«

»Na ja«, fuhr Anna fort. »Was, wenn der Auftrag gescheitert wäre? Man hat dem Jungen keine Transportmittel oder die üblichen Netzwerke und Papiere für den Auftrag zur Verfügung gestellt. Er muss sich ein Taxi nehmen, und auf dem Rückweg verquatscht er sich ander Grenze mit seiner Geschichte. Als ihm die Grenzpolizei ein paar ganz normale Fragen stellt, wird er nervös und verplappert sich. Er erzählt zusammenhangloses Zeug, und die Sicherheitspolizei wird herbeigerufen. Die Jungs von der Sicherheit merken ziemlich schnell, was er für einer ist, und es ist aus und vorbei für ihn. Drei Tage lang erträgt er die Schläge und Verhöre, doch dann denkt er sich: Warum zum Teufel tue ich mir das an? Damit mein Kommandant ein Paar neue Schuhe bekommt? Zum Teufel damit! Er wechselt das Lager, er lässt sich auf einen Deal ein. Die Bullen bietem ihm Unterstützung an, und er nimmt an. Er kehrt mit den Schuhen ins Exil zurück und berichtet, dass er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt hat. Keiner hat was gemerkt, aber von nun an hängt die Sicherheit mit drin.« Anna beendete ihre Geschichte, die offenen Handflächen ratlos erhoben.

James betrachtete sie lächelnd. Anna holte tief Luft und blickte ihn ebenfalls an.

Dann tauchte Ilse McLean mit einem ganzen Trupp Journalisten in der Bar auf, und die Gruppe scharte sich um ihren Tisch. Sie waren zu einer Anhörung der Wahr‘ heitskommission gekommen, und nach einem langen Tag voll Mord und Totschlag schienen sie wild entschlossen, sich abzulenken und zu vergessen. Anna saugte fest an ihrem Orangensaftgetränk. Ilses Fingernägel waren mit mitternachtsblauem Glitzerlack lackiert, wie eine verschwommene Sternennacht. Sie sieht toll aus, dachte Anna und beneidete Ilse um ihre sorglose Art, die unbekümmerte Wildheit, die es ihr erlaubte, zu tun und zu sagen, was ihr gefiel. Die eigenen kurz geschnittenen, unlackierten Fingernägel kamen Anna dagegen ziemlich unspektakulär vor.

Später dann, nachdem sie jeden einzelnen Cocktail von der Karte probiert und sämtliche öltriefenden, schwarz gegrillten Snacks getestet hatten, die es in der Bar gab, entschied Ilse, dass es nun Zeit sei, tanzen zu gehen. Sie hakte sich bei James unter, marschierte vorneweg und führte die Gruppe zu einer Disco namens Cadillac Club, die nur ein paar Meter weiter die Straße hinunter lag.

Der Club wär grausig, von der Discokugel bis hin zur Lichtorgel. Nahezu alle Besucher waren weiß, und kaum einer schien älter zu sein als zwölf Jahre. Anna traute ihren Augen kaum, es war einfach herrlich! Sie setzte sich an die Bar und beobachte das Treiben. James bestellte Tequila für alle und überwachte, ob auch jeder seinen austrank. Dann mischte er sich mit Ilse unter die Tanzenden.

Ilse trug ein enges T-Shirt und einen kurzen Rock, der ihren kurvenreichen Körper betonte. Anna war beeindruckt von ihrer sexuellen Unbefangenheit, der Art und Weise, wie sie James herumwirbelte und ihm dabei die ganze Zeit in die Augen schaute. James blickte mehrmals in Annas Richtung, und als ein neues Musikstück begann, entwich er Ilses Griff und gesellte sich zu Anna an die Bar. »Noch eine Runde Tequila!«, rief er.

Anna kicherte. »Oh je!«

Ilse kam herübergewankt und stützte sich auf James, während er ihr ein Glas in die Hand drückte. »Cheers! Auf das Unglücksrad!«, rief sie und trank den Tequila in einem Zug aus. Doch sie war noch nicht fertig. »Liebe Zuschauer, vergessen Sie nicht, bei unserem allwöchentlichen Wettbewerb mitzumachen — der Hauptpreis diese Woche ist eine Exhumierung für zwei Personen im malerischen Piet Retief. Und damit Sie gleich testen können, ob sie auch wirklich fit sind, dürfen Sie selbst graben!«

Die anderen waren inzwischen in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Einer der Radioreporter fiel ein und rief von seinem Barhocker: »Meine Damen und Herren! Diese Woche begrüßen wir als Kandidatin beim Unglücksrad , Mrs. Tshabalala — Applaus für Mrs. Tshabalala!« Alle johlten und klatschten über den Rhythmus der Discomusik hinweg, und Ilse spann den Faden weiter. »Ganz richtig. Mrs. Tshabalala hat ihre drei Söhne und ihr Haus bei einer nächtlichen Polizeirazzia verloren, bei der insgesamt siebenunddreißig Menschen ums Leben kamen. Ihr Herausforderer im Kampf um den Hauptpreis ist — Mr. Mabesa. Mr. Solly Mabesa wurde während seiner fünfjährigen rechtswidrigen Haft durch die Sicherheitskräfte der Apartheid gefoltert und fast getötet. Und — ja, Sie haben es schon geahnt, meine Damen und Herren, — er ist traumatisiert! Also, wir dürfen gespannt sein, wer diese Woche den Hauptpreis bekommt und eine Entschädigung mit nach Hause nehmen darf! Bleiben Sie dran!« Ilse brach unter hysterischem Gekicher zusammen, und selbst Anna musste lachen, bis sie merkte, dass Ilse keineswegs lachte, sondern weinte. Tränen liefen ihr über das Gesicht und hinterließen Streifen aus schwarzer Mascara und silbernem Lidschatten.

Die anderen scharten sich um Ilse, um sie zu trösten. »Ach, komm Schätzchen! Es ist doch alles gut.« Anna sprang von ihrem Barhocker herunter und nahm das verzweifelte Mädchen in den Arm. Ihr wurde bewusst, dass Ilse die Maske der abgebrühten Journalistin und sexverrückten wilden Göre nur aufgesetzt hatte, um sich vor Gefühlen zu schützen.

Ilse schluchzte in Annas T-Shirt und verschmierte es mit ihrem Make-up. »James mag Sie«, sagte sie, während Anna ihr tröstend über das Haar strich. »Ihr beide wärt ein schönes Paar!« Dann machte sie sich los und lächelte Anna zu, während sie sich die Augen mit dem Handrücken abwischte. »Ich sehe bestimmt total scheiße aus, oder?«, lachte sie unter Tränen, dann umarmte sie Anna herzlich und wankte auf die Tanzfläche zurück. Die anderen widmeten sich der nächsten Runde Tequila.

Anna sah Ilse einen Augenblick beim Tanzen zu, ehe sie merkte, dass James neben ihr stand. »Ein Jammer. Sie nimmt es wirklich schwer«, sagte sie und blickte zu ihm empor.

Er zuckte mit den Achseln. »Shit happens, so ist das eben. Komm, tanzen wir.« Er legte ihr den Arm um die Taille und schob sie auf die Tanzfläche.

James war ein wunderbarer Tänzer. Er führte, und sie ließ sich einfach nur schweben, ein herrliches Gefühl. Schon seit Jahren hatte sie nicht mehr so ausgelassen getanzt. Das Gefühl war dem der Angst nicht unähnlich; es wurde begleitet von Herzklopfen und Atemlosigkeit, doch ihr Körper vibrierte vor Vergnügen.

Erst weit nach Mitternacht verließen sie den Cadillac Club. Die schwüle Nachtluft war erfüllt vom Gesang der Grillen und dem Rauschen und Seufzen des Meeres. Ilse und die anderen verabschiedeten sich einer nach dem anderen und gingen zu Bett. In der stillen Hotelhalle fühlte Anna sich plötzlich ein bisschen verlegen; ihre Füße kribbelten noch vom Tanzen, und ihr Haar war schweißnass und klebte ihr im Gesicht.

»Kommst du noch mit auf einen letzten Drink?«, fragte James.

»Warum nicht.« Sie folgte ihm an die Hotelbar, wo sie eine Tasse heiße Milch mit einem Löffel Honig bestellte. Er nahm einen doppelten Brandy. »Es ist wirklich erstaunlich«, sagte Anna, die immer noch von der vergnügten Zeit in der Disco und der Intensität des Abends erfüllt war. »Ilse kam mir immer so abgebrüht vor. Und dabei ist sie es überhaupt nicht.«

James zündete sich eine Zigarette an. »Wahrscheinlich haben wir alle unseren Schutzschild.«

»Du etwa auch?« Sie blickte ihn scharf an, neckend zwar, doch ihre Bemerkung schien ihn verletzt zu haben.

»Woher willst du das wissen?«, fragte er spitz, so als sei sie ahmaßend gewesen und hätte mit ihrer Frage irgendeine unsichtbare Grenze überschritten. Anna war zu verblüfft, um ihm zu antworten. »Du hältst mich wohl für herzlos«, meinte er mit einem dünnen Lächeln, doch seine Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton, der sie überraschte.

Schweigend fuhr Anna mit den Fingern an der Tischkante entlang, hoch und runter, hin und her, während ihre Gedanken sich ebenfalls unsicher hin- und herbewegten.

»Ich glaube«, meinte sie schließlich stirnrunzelnd, »ich glaube, ich habe mir noch nie Gedanken über dein Herz gemacht.«

Das war eine Lüge. Nun, eine halbe Lüge jedenfalls. Sie hatte ihn für herzlos gehalten und doch gehofft, dass er es nicht war. Und nun hatte sie den Abend verdorben. James lächelte unverhofft. Dann drückte er genauso unverhofft seine Zigarette aus, sprang vom Stuhl auf und warf sich das Jackett über die Schulter.

»Also dann, gute Nacht.«

Und mit diesen Worten marschierte er zu seinem Zimmer, so unzugänglich und rätselhaft, wie er sich eben gab.

30

Kurz nach sieben am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg zur Farm der Badenhorsts. Es war ein herrlicher Tag, trocken und heiß, die Luft war gewürzt mit dem Duft der Studentenblumen. Rundherum zirpten Sonbesies ihr Frühlingslied. Anna war vor Aufregung ganz unruhig, James dagegen war auffallend still, seine Hände umklammerten das Lenkrad, während er den Blick auf die Straße vor sich gerichtet hielt.

»Warum bist du so angespannt?«, fragte Anna.

James warf ihr einen Blick zu. Ihre Blicke trafen sich nur kurz, und seine Augen glänzten wieder in jenem kühlen, unnahbaren Blau. Er runzelte die Stirn. »Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl bei der Sache.«

Keiner erwähnte die vorangegangene Nacht und James’ überstürzten Aufbruch aus der Bar. Ihr kleiner Streit wirkte plötzlich ziemlich albern, obwohl Anna sich immer noch fragte, weshalb James so schnell verschwunden war. James schien ihre Unruhe zu spüren und tätschelte ihr beschwichtigend den Oberschenkel. Sie lächelte ihm zu, dankbar, dass er die angespannte Stimmung durchbrochen hatte. »Alles klar?«, fragte er leise.

Sie nickte. »Ja. Danke. Ich bin ganz ruhig.«

Die Wegbeschreibung war einfach und unmissverständlich. Sie nahmen die Autobahn in Richtung Norden und bogen dann auf die Überlandstraße ab. Sie durchquerten eine üppig grüne Hügellandschaft, in der versprengt traditionelle Hütten standen, fuhren vorbei an glitzernden Lagunen und breiten, schlammig-roten Flussmündungen. Dann nahmen sie einen Schotterweg zum Kwelera River, den sie auf einer schmalen, einspurigen Brücke überquerten. Kurz darauf gabelte die Straße sich, und sie schlugen die linke Abzweigung ein. Wenn man der Beschreibung folgte, die der Colonel ihr diktiert hatte, mussten Sie von da an die Kilometer mitzählen.

Es war verständlich, weshalb Badenhorst sich gerade diese Gegend ausgesucht hatte, um sich vor der Welt zu verstecken. Obwohl sie keine zwei Stunden Autofahrt von East London entfernt waren, musste ein Besucher schon sehr entschlossen sein, um sich diese Straßen zuzumutem. Man kam nur sehr langsam voran. Sie gelangten an einen weiteren Fluss und bogen dort nach rechts ab, wieder zurück in Richtung Meer.

Sie holperteh in ihrem großen, klimatisierten Auto über die ausgefahrene Piste und kamen dabei an Menschen vorbei, die in einer vergangenen Epoche zu leben schienen. Auf dem Hügel zu ihrer Rechten trieb eine Gruppe Männer ein paar Ochsen an, die einen hölzernen Pflug zogen. Auf dem Nachbarfeld hackten Frauen Unkraut aus. Ein alter Mann stand am Ufer des Flusses und brachte gemeinsam mit einem kleinen Jungen ein Fischernetz aus. Die Menschen blieben stehen und starrten neugierig dem vorbeifahrenden Auto hinterher. Wenn Anna in die Gesichter der Leute blickte, kam sie sich vor wie eine Touristin im eigenen Land.

Der Fluss kräuselte sich als breite trüb-grüne Wasserfläche auf das Meer zu. Seine Ufer waren gesäumt von hohen Binsen und üppigen tropischen Bäumen. Der Strand bog sich in einem leuchtenden, cremeweißen Streifen zwischen Fluss und Himmel.

Sie gelangten zu einem Dorf, das am Fuße eines Hügels, oberhalb des sandigen Ufers lag. Eine Gruppe Kinder spielte mit einem Stock und einem alten Autoreifen, doch als das Auto vorüberfuhr, ließen sie den Reifen liegen und rannten kreischend hinterher. Kleine Fäuste hämmerten gegen die Motorhaube, während die Kinder gefährlich dicht neben dem Auto herliefen. Der Beschreibung des Colonels zufolge würden sie die Einfahrt zur Farm gleich hinter dem Dorf finden.

Sie fuhren vorbei an runden, strohgedeckten Hütten, wichen Gänsen, Schweinen und räudigen Hunden aus und passierten einen kleinen Anlegesteg, wo die Kinder ihre Jagd schließlich aufgaben, stehen blieben und dem davonfahrenden Auto hinterherwinkten.

James seufzte unwillkürlich auf, und Anna merkte, wie sie vor seiner beinahe schmerzhaften Nähe zurückwich. Schweigend suchte sie das dichte Buschwerk nach einer Einfahrt ab und rechnete damit, jeden Augenblick den Zaun des Farmgeländes zu entdecken.

Doch es gab keine Abzweigung und keinerlei Hinweise auf irgendeine Farm. Nachdem sie etwa zehn Kilometer über den unebenen Weg gerumpelt waren, machte James kehrt und fuhr wieder Richtung Dorf zurück. Die Stimmung im Auto war angespannt vor Enttäuschung. Vielleicht gab es gar keine Farm. Vielleicht hatte der Colonel sich nur einen Scherz erlaubt.

Sie hielten an dem Steg am Rand des Dorfes. Unweit von ihnen war eine Gruppe Frauen damit beschäftigt, Kleider im Fluss zu waschen. Sie schlugen sie gegen die flachen, schwarzen Steine und hängten sie dann zum Trocknen über die Uferböschung. Als die Frauen die Fremden sahen, ließen sie ihre Arbeit fallen und zogen sich das Flussufer entlang zurück. Nur die Kinder drückten sich in der Nähe herum. Anna winkte und rief den Wäscherinnen einen Gruß zu, doch sie rührten sich nicht. Einer der Jungen trat mit ausgestreckten Händen auf sie zu. »Bonbon?«, bettelte er. James scheuchte ihn verärgert weg, doch Anna griff in ihre Taxche und gab ihm das Kleingeld, das sie dort fand Daraufhin stoben die Kinder davon und stritten sich um die Münzen.

James und Anna traten auf den schmalen Holzsteg dessen Planken von der Sonne spröde und ausgeblichen waren. Vom anderen Ufer näherte sich ein kleines Motorboot und tuckerte auf sie zu. James winkte, doch der Steuermann erwiderte den Gruß nicht. Anna fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar, als sie bemerkte, dass der Bootsführer eine Machete zwischen den Knien hielt. Er starrte sie misstrauisch an, während er längsseits an den Steg fuhr und das Boot festmachte. Der Mann war noch jung und hatte einen muskulösen Körper. Er trug ein uraltes, mit Löchern übersätes T-Shirt und beinahe ebenso zerrissene Shorts, stolzierte aber nichtsdestotrotz selbstbewusst auf sie zu, die Machete über die Schulter gelegt, »Sprechen Sie Englisch?«, fragte Anna langsam. Der Steuermann nickte. »Wir suchen die Farm der Badenhorsts.« Die Augen des jungen Mannes verengten sich, und ein winziger Ruck in seiner Haltung verriet ihn. Er kannte die Farm. Und dennoch schüttelte er den Kopf, als hätte er keine Ahnung.

James wiederholte die Frage, und wieder schüttelte der junge Mann hartnäckig den Kopf. Anna wandte sich frustriert ab. Während sie in die Sonne blinzelte, zog James ein Bündel zusammengerollte Geldscheine aus seiner Tasche. Der Bootsführer starrte das Geld gierig an, während er gleichzeitig sein Interesse zu verbergen suchte und unbeteiligt mit den schwieligen, nackten Fußsohlen über die Holzplanken schlurfte. James löste erst einen, dann einen weiteren und schließlich noch einen dritten Geldschein aus dem Bündel und hielt sie empor. Das Gesicht des Mannes leuchtete auf. Er blickte sich um, ob irgendjemand ihn beobachtete. Nur die Kinder starrten hinüber, während er nach dem Geld griff, die Scheine hastig zusammenfaltete und in einer Tasche in seinem Hosenbund verschwinden ließ. Dann marschierte er an James vorbei über den Steg in Richtung Straße. »Mitkommen. Ich zeige Ihnen.«

James grinste und war zum ersten Mal an diesem Morgen gut gelaunt. Er legte kurz den Arm um Annas Taille und gab ihr einen ermutigenden Stups.

Sie stiegen wieder in ihr Auto ein und folgten im Schritttempo dem Mann, während er sie zu Fuß über einen Sandweg führte, der rechts von der Straße abzweigte. Auf dem Hinweg waren sie daran vorbeigekommen, hatten die Abzweigung jedoch für einen Trampelpfad gehalten. Nach ein paar Metern drehte ihr Führer um, trat zu ihrem Auto und beugte sich zum Fahrerfenster hinab. »Fahren weiter geradeaus. Badenhorst diese Richtung«, sagte er und deutete mit der Hand den Weg entlang.

Anna und James betrachteten zögernd den gewundenen, schmalen Sandweg, der vor ihnen lag und irgendwo im Busch zu verschwinden schien, doch der Bootsführer meinte beharrlich: »Fahren weiter geradeaus, das ist Weg nach Badenhorst.« Also dankten sie ihm und fuhren weiter. Nachdem sie sich ein paar Minuten durch dichtes Gestrüpp geschlängelt hatten, während rechts und links die Äste gegen ihr Auto schlugen, verbreiterte sich der Pfad plötzlich zu einer geebneten zweispurigen Straße. »Donnerwetter!« James fuhr langsamer, bis das Auto fast stand. »Wir hätten mit dem Flugzeug kommen sollen«, meinte er. Nach weiteren fünfhundert Metern stießen sie auf einen Zaun und ein riesiges, mindestens drei Meter hohes Tor, an dem mehrere unmissverständliche Schilder hingen. »Gevaar« und »Waarskuwing. Privaate Weg. Toegang op eie risiko.« Vorsicht. Privatweg. Betreten auf eigene Gefahr. Darüber war zur Abschreckung noch ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen gemalt. Es ist schon tragische Ironie, dachte Anna, jetzt sind sie es, die sich verstecken müssen, nicht mehr wir.

Sie tauschten einen kurzen Blick, ehe sie aus dem Auto stiegen und zum Tor gingen. Der hohe Summton verriet ihnen, dass der Zaun unter Strom stand. Sie konnten unmöglich hinübersteigen, und es war auch niemand in der Nähe, der sie hätte hereinlassen können. »Scheiße! Was machen wir jetzt?«, murmelte James und blickte sich suchend um. Anna trat ans Tor und drückte gegen das Drahtgeflecht. Es gab keinen Millimeter nach. Sie ließ die Finger klappernd über das Drahtgeflecht gleiten, während sie sich der Stahlkette mit Vorhängeschloss näherte. Dann machte sie sich am Schloss zu schaffen. Unglaublich, aber es ging tatsächlich auf. »James.« Sie hielt ihm das kaputte Schloss eritgegen. »Schau mal.« Er lief zu ihr hin, während sie die Kette löste und sie scheppernd auf den Schotterboden fallen ließ.

Sie stießen das Tor auf und gingen durch. Neben der Straße War ein kleiner, durch Buschvverk getarnter Unterstand. Ein Hocker stand darin, und auf dem Boden, im Staub, lag ein verwaistes Walkie-Talkie. Sie musterten das Funkgerät und tauschten einen Blick. Es konnte bei einem Handgemenge heruntergefallen sein, aber es war natürlich auch möglich, dass der Wachmann seinen Posten einfach nur gelangweilt oder betrunken verlassen hatte. Oder vielleicht sah es hier immer so aus. Wer konnte das schon sagen?

Sie gingen zurück, holten das Auto und fuhren durch das Tor, das sie hinter sich offen ließen. James fuhr langsam die Straße entlang, während er die ganze Zeitüber die dichten, niedrigen Bäume auf beiden Seiten absuchte. Sie bogen um eine Kurve, und plötzlich musste James scharf bremsen. Vor ihm, quer über der Straße, lag ein umgedrehter Jeep, mit dem er fast zusammengestoßen wäre. James und Anna stockte der Atem, als ihr Wagen von der Straße schlitterte und im Gebüsch zum Stehen kam. Dann war es ganz still. »Puh!«, stieß Anna mit klopfendem Herzen hervor. »Gott sei Dank, dass du so langsam gefahren bist!«

»Der da ist das ganz offensichtlich nicht!« Mit zitternder Hand deutete James in die Bäume vor ihnen. Anna war völlig unvorbereitet auf das Bild, was sich ihr bot.

In den Asten hing der Körper eines Mannes, an seinem Hals klaffte eine grässliche Schnittwunde, sein Kopf war fast abgetrennt. »Er muss aus dem Jeep geschleudert worden sein«, flüsterte James, ehe er aus dem Auto stieg und zu der Leiche hinüberging. Anna stieg ebenfalls aus, blieb jedoch neben dem Auto stehen, unfähig, die Augen von dem grausigen Anblick abzuwenden. Der Mann war weiß und etwa sechzigJahre alt. Seine Kleidung war blutdurchtränkt und sah militärisch aus.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag.

»Das ist er«, sagte sie.

»Badenhorst?«, rief James, der im Gebüsch unterhalb des Baumes hockte.

Anna nickte und rümpfte die Nase vor dem widerlichen Geruch nach Blut. »Es kann noch nicht lange her sein.« Ihr war übel. Die Luft schien still zu stehen, nur die Grillen zirpten ihr entnervendes Lied. Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy und versuchte zu telefonieren, hatte jedoch keinen Empfang. Sie würden zurückfahren müssen, um ein Telefon zu suchen, dachte sie. Es sei denn, es gab eines auf der Farm.

James kam zurück zum Auto und holte eine Kamera aus seiner Tasche auf dem Rücksitz. Er schoss mehrere Fotos von dem Jeep und der Leiche.

Anna konnte den Geruch nicht länger ertragen. Sie kletterte auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und fuhr zu James. Er stieg ein, und sie fuhr weiter, die Straße entlang und den steilen Hügel hinauf, der sie von der Unfallstelle wegführte.

»Was machst du?« Seine Stimme klang panisch.

»Zum Haus fahren.«

»Warum?«

»Dort müssen doch Menschen sem. Vielleioht auch ein Telefon. Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Okay«, erwiderte James wenig überzeugt und blinzelte argwöhnisch in das vor ihnen liegende Buschwerk. Nach ungefähr fünf Kilometern Fahrt hatten sie das Farmhaus erreicht, das von einem weiteren hohen Elektromun umgeben war. Es war ein altes Haus, aus solidem ockerfarbenen Sandstein gebaut. Auf dem roten Blechdach blinkte ein ganzer Wald von Antennen und Satellitenschüsseln. »Sollte kein Problem sein, von hier aus zu telefonieren«, stellte James trocken fest.

Anna hielt vor dem Tor und schreckte dabei einen Farmarbeiter auf, der gerade über den Schottervorplatz marschierte. Der Mann bekam Angst, ließ den Blechteller fallen, den er in der Hand hielt, und rannte zum Haus.

»Puh. Viel komischer kann es ja nicht mehr werden.«

Anna wischte sich den Schweiß von der Stirn, stieg aus dem Auto und folgte James zum Tor.

»Oh doch, es kann«, stieß James hervor. Eine Meute Rottweiler kam hinter dem Gebäude hervorgeschossen, stürmte wild bellend über den Schotter und warf sich wie toll gegen den Drahtzaun. Anna sprang in Panik zurück, doch die Hunde wurden durch den Zaun in Schach gehalten. James griff nach ihrem Arm und nickte in Richtung Haus. Anna folgte seinem Blick.

Eine Frau stieg langsam die Vordertreppe des Hauses hinunter. Auf ihrer Hüfte hing ein Pistolenhalfter, eine 9-mm-Beretta, wie Anna vermutete. Außerdem hatte sie ein R4-Sturmgewehr im Anschlag und blickte durch das Visier. Während sie sich näherte, schwang sie den Lauf von einer Seite zur anderen, zielte erst auf James, dann auf Anna, dann wieder auf James. »Na, großartig«, knurrte James, während sie langsam die Hände hoben. Die Situation hatte etwas Absurdes an sich, doch gleichzeitig war ihnen klar, dass sie jeden Moment tot sein konnten. Anna ließ das Gewehr nicht aus den Augen. Sie wusste ganz genau, dass dieses Ding keine sauberen kleinen Einschusslöcher hinterlassen würde, wenn es losging — bloß Hackfleisch und zerschmetterte Knochen.

Als die Frau näher kam, sah Anna, dass sie mit ihren blassgrauen Augen und dem leuchtend roten Haar eine auffallende Erscheinung war. Sie trug eine hübsche geblümte Bluse über khakifarbenen Militärhosen und schweren Stiefeln.

»WaswollnSie?«, schnauzte sie.

James wechselte einen Blick mit Anna. Als die Hunde die Stimme der Frau hörten, kauerten sie sich brav zu Boden.

»Sind Sie Mrs. Badenhorst?«, rief Anna mit zitternder Stimme.

»WaswollnSie?«, wiederholte die Frau.

»Nichts. Wir wollten bloß Wir sind auf eine Unfallstelle gestoßen, ungefähr fünf Kilometer von hier an der Straße. Wir sind bloß gekommen, um Ihnen das mitzuteilen.«

»Wie sind Sie reingekommen?«, fragte sie etwas leiser.

»Das Tor war offen. Wir sind durchgefahren.«

Die Frau war jetzt am Drahtzaun angekommen und starrte Anna durch das Visier des Gewehrs an. »Das Tor steht nie offen. Wie sind Sie reingekommeh?« Anna taten die Arme schon weh, doch sie wagte nicht, sie zu senken. Plötzlich fragte sie sich, ob sie hier je wieder lebend herauskommen würden, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es ihr etwas ausmachte. Vielleicht war das ein weiterer Unterschied zwischen ihr und James. Es war ein schrecklicher Gedanke. Wie war sie bloß an einen solchen Ort gekommen?

»Mrs. Badenhorst. Auf der Straße liegt ein umgekippter Jeep. Der Fahrer ist tot«, sagte Anna genervt.

»Was?«

Das Gewehr hob sich kurz, während die Frau einen Schritt nach hinten wankte. Doch sie hatte sich schnell wieder gefasst.

»Sie lügen. Was haben Sie auf meinem Grundstück zu suchen?«

Anna öffnete den Mund, doch die Worte wollten nicht herauskommen. James trat einen Schritt vor, und sofort richtete Mrs. Badenhorst das Gewehr auf ihn. »Horen Sie, wir wollen Ihnen keinen Arger machen. Wir wollten Ihnen bloß mitteilen, dass da ein Unfall war. Jetzt, wo Sie Bescheid wissen, machen wir uns gern sofort wieder auf den Weg und tun so, als ob nichts passiert ist. Okay?«

Mrs. Badenhorsts Augen wurden schmal, während sie ihn prüfend musterte. James erwiderte ihren Blick.

»Simphiwe!«, schrie sie. Gleich darauf tauchte aus dem Haus der Farmarbeiter auf, den sie vor kurzem so erschreckt hatten. In der Hand hielt er eine Schrotflinte.

»Madam?«, rief er.

»Hol den Bakkie!« Er nickte und verschwand wieder.

Mrs. Badenhorst rührte sich nicht von der Stelle, und weder James noch Anna wagten es, sich zu bewegen. Dann plötzlich unterbrach das Piepsen eines Handys die lähmende Stille. Mrs. Badenhorst fuhr zusammen, dabei löste sich ein Schuss und schlug unweit ihrer Füße in den Staub. »Das ist bloß mein Handy. In meiner Tasche«, sagte Anna beschwichtigend. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie hier Empfang hatten, doch sie wagte nicht, nach dem Telefon zu greifen. James stieß langsam pfeifend den Atem aus.

Kurz darauf kam Simphiwe am Steuer eines roten Pickups ums Haus gefahren. Er hielt neben Mrs. Badenhorst an, stieg aus und übergab ihr die Schlüssel. Sie schloss das Tor auf und stieß es auf. Anna beäugte misstrauisch die japsenden Hunde, während sie und James die Arme sinken ließen und zuschauten, wie Mrs. Badenhorst hastig das Innere ihres Autos durchsuchte, indem sie mit dem Gewehrkolben zwischen ihren Jacken, Taschen und Landkarten herumstocherte. Anna merkte, wie ihr das Herz schneller schlug, als Mrs. Badenhorst ihre Handtasche musterte. Dann schob sie sie jedoch zur Seite und war offensichtlich mehr an James’ Fototasche interessiert, die sie herausnahm und sich über die Schulter Warf. »Machen Sie den Kofferraum auf!«, befahl sie, und James folgte ihrem Befehl. Der Kofferraum war leer. »Okay,« murmelte sie mit scharfer Stimme. »Fahren Sie hinter mir her.«

Anna und James ließen sich buchstäblich ins Auto fallen. »So eine Scheiße!«, rief James. »Das ist entweder ein ganz großer Zufall, oder irgendjemand wollte wirklich nicht, dass du mit diesem Typen sprichst.« Anna nickte grimmig. Sie saß am Steuer und fuhr dicht hinter Mrs. Badenhorst her. Simphiwe hatte auf der Ladefläche des Bakkies Stellung bezogen und hielt seine Schrotflinte auf sie gerichtet.

»James?«, flüsterte Anna, beinahe ohne die Lippen zu bewegen. Er blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, der Schweiß stand ihm im Gesicht. »Ja?«

»Greif doch bitte in meine Handtasche.«

Er fasste nach unten. »Aber dein Telefon ist doch in deiner Jackentasche.«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich auch nicht.«

»Gott im Himmel!«, stieß James hervor, als seine Finger das Metall der Pistole berührten. Er wich zurück, als hätte ihn etwas in der Tasche gebissen. »Warum zum Teufel trägst du so ein Ding mit dir herum?«

»Hol sie raus und leg sie da zwischen uns hin«, sagte sie ruhig, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Weißt du, wie man sie spannt?«

»Spinnst du? Ich kann diese Dinger nicht ausstehen!«

»Okay, dann leg sie einfach nur zwischen uns.«

James folgte ihrer Aufforderung und zog dann eine Zigarette aus der Hosentasche. Anna beschwerte sich nicht, dass er sie sich im Auto anzündete; wenn er ihr eine angeboten hätte, hätte sie auch geraucht.

Ihre Gedanken waren bei der Frau im Fahrzeug vor ihnen und der schrecklichen Szene, die sie erwartete. An der Biegung, kurz vor der Unfallstelle, verlangsamte Mrs. Badenhorst und schien zu zögern, doch dann gab sie Gas und nahm die Kurve. Die Bremsen des Leihwagens quietschten, während Anna ihn vorsichtig den Hügel hinablenkte. Simphiwe stellte sich auf die Ladefläche des Bakkies und blickte über das Führerhaus zu dem Jeep. James legte seine Hand auf Annas, die ihre an der Pistole hatte. »Sei vorsichtig!«

Mrs. Badenhorst blieb einen Augenblick im Auto sitzen und starrte die Leiche im Baum an. Dann stieg sie mit geradezu unheimlicher Ruhe aus dem Bakkie aus, wandte sich von der Leiche ab und ging zum Jeep hinüber. Sie kniete sich auf den Boden und schien unter dem Wrack nach irgendetwas zu suchen. Simphiwe blieb in respektvollem Abstand stehen und wartete. Annas Finger schlossen sich fest um die Pistole, als Mrs. Badenhorst unter der zerbrochenen Windschutzscheibe eine Uzi hervorzog. Sie trug die Waffe am Schaft und ließ sie scheppernd auf die Ladefläche des Pick-ups fallen.

Dann ging sie zu ihrem Mann. Eine Zeit lang blieb sie vor ihm stehen und schaute ihm in die leeren Augen. Anna fühlte einen würgenden Schmerz, als sie sah, wie Mrs. Badenhorst ihrem Mann sanft die Augenlider schloss. Anna wandte sich ab, sie konnte nicht länger zusehen, als die Frau ihr Gesicht dicht an das ihres toten Mannes schob und ihm leise etwas zuflüsterte.

James stieg aus dem Auto und schloss die Tür so geräuschlos wie möglich. Anna schob die Pistole in den hinteren Bund ihrer Jeans, das kalte Metall drückte ihr gegen die Wirbelsäule. Dann folgte sie James.

Mrs. Badenhorst ging benommen zurück zum Pick-up. Anna trat zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm.

»Ich fahre zum Haus zurück und rufe die Polizei«, sagte Anna ruhig.

»Wozu?«, fragte die Frau verständnislos.

»Um die Polizei zu rufen.«

Die Frau griff nach der Pistole auf ihrer Hüfte. »Wir brauchen hier niemanden!«, knurrte sie.

Anna hob kapitulierend die Hände, eine Geste, die Mrs. Badenhorstzufrieden zu stellen schien. Sie sagte etwas zu Simphiwe, der daraufhin die Schrotflinte an ein Rad des Bakkies lehnte, ein Jagdmesser unter seinem Hemd hervorzog und ihr zu den Bäumen folgte. Gemeinsam machten sie sich daran, Badenhorsts Körper aus den Ästen zu TV lösen.

Anna warf James einen Blick zu, und beide traten zum Baum und halfen, die Leiche aus dem Astgewirr zu befreien. Es war nicht einfach. Nach ungefähr einer halben Stunde hatten sie ihn endlich unten. Zu viert gelang es ihnen, die Leiche mit dem grässlich aufklaffenden Hals zum Bakkie hinüberzutragen. Sie legten ihn auf das geriffelte Blech der Ladefläche. Der Geruch nach Blut war schwer und süßlich. Blut klebte auch an Annas Händen, und sie wischte es so gut wie möglich an ihren Jeans ab, doch der Geruch senkte sich über sie wie ein betörendes Räuchermittel. James blickte grimmig drein, während er sich ebenfalls die Hände abwischte.

Mrs. Badenhorst arrangierte behutsam die Gliedmaßen ihres Mannes, so dass er bequem lag. Dann blickte sie Anna und James an. »Sie verschwinden jetzt besser«, war alles, was sie sagte. Sie trat zum Führerhaus des Bakkies, legte die Hand auf den Türgriff und blickte noch einmal in ihre Richtung. »Danke für Ihre Hilfe«, murmelte sie finster und machte dann die Tür auf.

Sie wurden unterbrochen durch Schreie, die ein Stück entfernt von der Straße kamen. Simphiwe griff nach der Schrotflinte und ging auf die Stimmen zu. Mrs. Badenhorst schloss die Hand um den Griff der Pistole an ihrer Hüfte. James trat einen Schritt auf Anna zu; so dicht, dass sie seinen Atem auf ihrem Haar spüren konnte.

Dann tauchte der Bootsmann vom Steg auf. Wie von Sinnen kam er die Straße entlanggerannt, die Augen so weit aufgerissen, dass man das Weiße sehen konnte, und der Schweiß stand ihm im Gesicht. Als er sie sah, winkte er wie verrückt und fuchtelte mit den Armen. Ein paar Schritte hinter ihm kamen noch mehr Menschen in Sicht; sechs Personen, die zügig vorantrabten und zwischen sich etwas trugen, das aussah wie ein tropfender Baumstamm oder eine nasse Tasche. Während sie näher kamen, wurde Anna klar, dass sie einen menschlichen Körper schleppten.

Es handelte sich um einen jungen weißen Mann mit karottenrotem Haar und Sommersprossen wie Mrs. Badenhorst. Seine Hosen waren aus grobem khakifarbenen Drillich, so wie ihre, und er war völlig durchnässt.

»Ist das der Wachmann?«, fragte James über das Geschrei hinweg.

Mrs. Badenhorsts Lippen verzerrten sich, dann knickten ihr die Beine weg und sie sank auf die Knie. »Das ist mein Sohn«, flüsterte sie. Und dann stieß sie ein schreckliches Klagegeheul aus. Sie reckte die Hände empor und schrie: »Nicht mein Sohn! Nehmt eure dreckigen Kafferfinger von meinem Sohn! Rührt ihn nicht an! Oh Gott, das ist mein Sohn!«

Die Dorfbewohner blieben sofort stehen und ließen den durchnässten Körper auf den Boden sinken. Alles Mitgefühl, das Anna für Mrs. Badenhorst empfunden hatte, schwand dahin. »Schaff sie ins Auto«, sagte Anna zu James, zog die Beretta aus dem Hosenbund und richtete sie auf Simphiwe.

Simphiwe starrte Anna einen Augenblick lang überrascht an, machte jedoch keinen Versuch, sich zu widersetzen. Er ließ die Schrotflinte in den Staub fallen und hob die Hände; der Bootsführer und die Dorfbewohner taten es ihm nach.

Anna schob die Schrotflinte mit dem Fuß außer Reichweite, während James die hysterische Mrs. Badenhorst auf den Rücksitz des Leihwagens beförderte. Anna griff an James vorbei und zog die Pistole aus Mrs. Badenhorsts Halfter. »Nimm sie nur«, bemerkte James angewidert und rieb sich die noch immer blutigen Hände an seinen noch schmutzigeren Hosen ab. Anna ließ die Pistole auf den Boden neben die Schrotflinte fallen, dann ließ sie ihre eigene Pistole sinken, sicherte sie und steckte sie wieder in den Hosenbund.

James warf ihr ein müdes Lächeln zu. »Gute Arbeit, Mrs. Peel.«

Anna schüttelte den Kopf und lächelte ebenfalls. »Und wer ist jetzt Mrs. Peel?«

James lachte halbherzig. »Wusst ich’s doch. Es konnte ja nicht gut gehen mit uns! Sie weiß nicht, wer Mrs. Peel ist!« Er lehnte sich an das Auto, und Anna wäre am am liebsten zu ihm hingegangen, hätte die Arme um ihn gelegt und wäre an seine Brust gesunken. Doch sie konnte nicht. Zu viel war noch zu tun.

Sie blieckte zu Simphiwe und dem Bootsführer hinüber, die darauf zu warten schienen, dass man ihnen sagte, was sie tun sollten. »Okay, laden wir den Mann hinten auf den Bakkie«, sagte sie und trat vor, um den Dorfbewohnern dabei zu helfen, die Leiche auf den Pick-up zu hieven.

31

Der Auckland Park Tower hob sich scharf vor dem dunklen Himmel ab, an dem sich bleigraue Wolken zu einem Sturm zusammenballten. Anna konnte regelrecht spüren, wie sich das Unwetter aufbaute, die Luft drückte ihr auf das Trommelfell, so dass sie kaum mehr hören konnte, als der Sturm losbrach. Seine Kraft war gewaltig. Plötzlich wurde der Himmel schwarz. In der Nähe krachten Blitze und schienen das Haus zu erschüttern. Dann schlug der Blitz mit einem ohrenbetäubenden Krachen in die Rote Syringa auf der anderen Straßenseite ein, keine zwanzig Meter entfernt. Direkt vor Annas Augen splitterte der Baum der Länge nach durch und kippte dann langsam auf die Stromleitung. Der Strom fiel aus, die Lichter erloschen und der Bildschirm ihres Computers wurde schwarz. Dann kam der Regen und prasselte so laut auf das Blechdach, dass sein Geräusch alles andere übertönte.

Ehrfürchtig beobachtete Anna, wie der Sturm sich weiterbewegte und über den Himmel jagte. Das Licht wandelte sich zu einem gespenstischen Grün. Der Regen wurde schwächer und klang auf einmal nicht mehr bedrohlich, sondern schön und erfrischend. Ein schwerer eiserner Kanaldeckel rollte mitten über die Fifth Avenue. Rinnsteine wurden zu kleinen Bächen, und in den Bäumen hingen die Regentropfen wie Perlen.

Anna ging ins Wohnzimmer und zündete ein Feuer im Kamin an. Bald schlugen die Flammen empor und erhellten das Zimmer. Seit ihrer Rückkehr und dem schrecklichen, blutigen Tag auf der Badenhorst Farm war beinahe eine Woche vergangen. James hatte die Geschichte in der : Zeitung veröffentlicht, und sie prangte groß auf der Titelseite des Sunday Chronicle. Ein weiterer Exclusivbericht. Wieder ein brutaler Mord auf einer Farm. So hatte James jedenfalls darüber geschrieben. Die wahre Geschichte war zu sonderbar und ließ zu viele Fragen unbeantwortet.

Anna glaubte, dass James Recht hatte mit dem, was er an jenem Tag im Auto gesagt hatte. Man konnte das, was da geschehen war, kaum für einen Zufall halten. Irgendjemand hatte verhindern wollen, dass sie mit Badenhorst redete. Jemand, der so verzweifelt war, dass er auch vor einem Mord nicht zurückschreckte. Sie vermutete, dass es sich um dieselbe Person oder dieselben Leute handelte, die sie beschattet hatten. Aber wer konnte das sein?

Die einzigen Menschen, die von ihrer Reise gewusst hatten, waren Joe und der Colonel. Und nur Du Preez hatte Badenhorsts Aufenthaltsort gekannt. Konnte er bei dieser Vertuschungsaktion seine Hände im Spiel haben? Das kam ihr zwar höchst unwahrscheinlich vor, doch sie musste es herausfinden. Sie würde ihn zur Rede stellen müssen.

Anna hüllte sich auf dem Sofa in eine Decke und starrte ins Feuer. Die ganze Woche hatte sie ein Gefühl von Aufregung und unheilvoller Vorahnung begleitet. Sie war sich sicher, dass sie ganz dicht an irgendetwas dran war. Es musste einfach so sein. Wieso sollte jemand sonst so verzweifelt versuchen, sie aufzuhalten?

32

James lag auf dem Rücken im Dunkeln und rauchte eine Zigarette. Der Sturm war vorübergezogen, doch der Regen prasselte immer noch auf das Dach. Er liebte dieses Geräusch. Es gefiel ihm, wenn die Frühjahrsstürme aufzogen, sich in den schwülen Nachmittag entluden, Staub aufwirbelten und die Luft feucht und kühl machten. An diesem Abend hatte der Sturm die Nachbarschaft in Dunkelheit gestürzt und Straßen und Restaurants leergefegt.

Eigentlich war er nach Hause gegangen, um ohne den Lärm und die ständigen Anforderungen der Redaktion zu arbeiten, doch ohne Licht und Computer konnte er nicht viel tun. Also hatte er sich auf das Bett gelegt, um sich seine Nachforschungen noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Immer noch beschäftigte ihn die Geschichte mit den Überfällen auf die Geldtransporter. James konnte sich nicht davon lösen, doch es erwies sich als unmöglich, irgendjemanden zum Reden zu bekommen. Die Leute, auf die er bisher gestoßen war, waren entweder zu unbeteiligt oder zu stark beteiligt, als dass sie ihm etwas Wichtiges hätten sagen können.

Oder aber sie hatten Angst. Die Mauer aus Angst, von der diese Gangs umgeben waren, wirkte auf ihn wie ein Magnet. Wer auch immer die Angolaner anführte, die zurzeit die Mosambikaner verdrängten, führte ein eisernes Regiment. Einem Journalisten boten sich nicht die kleinsten Schlupflöcher, durch die er hätte eindringen können.

James war zunehmend davon überzeugt, dass Mitarbeiter aus Joe Dladlas Einheit an einer Strategie beteiligt waren, die bestenfalls unethisch, im schlimmsten Fall kriminell war und der eigenen Bereicherung diente. Dladlas Rolle bei der Sache war unklar. James war sicher, dass dieser genau wusste, was vorging. Er war viel zu klug, um nicht informiert zu sein. Er war auch schlau genug, das Problem in Grenzen zu halten und zu beseitigen, ehe es ihm schadete.

Es war möglich, aber äußerst unwahrscheinlich, dass Dladla selbst beteiligt war. Welchen Nutzen hätte er daraus ziehen sollen? Nein, viel wahrscheinlicher war es, dass er versuchte, die Gauner auszutricksen, wie eine von James’ Quellen behauptet hatte. Dladla würde versuchen, in die Organisation einzudringen, sie zu übernehmen, um dann die Gang aus einer uneinnehmbaren Machtposition heraus auseinander brechen zu lassen. Keine langen Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang. Keine heiklen Korruptionsvorwürfe an die Polizei. Es wäre zweifelsohne typisch für Dladla. Der Zweck heiligt die Mittel. Das hatte jedenfalls die Quelle über ihn gesagt.

James’ Quelle war Willie Mkhize, ein schmieriger Gauner, der verzweifelt und dumm genug war, um sich nicht von der Angst einschüchtern zu lassen, die alle anderen verstummen ließ.

Ein Geräusch von draußen, das sich anhörte wie splitterndes Holz, schreckte James aus seinen Gedanken auf. Er setzte sich auf und spitzte die Ohren. Doch es war wieder still. Er schnippte die Asche in die Untertasse neben seinem Bett, dann lehnte er sich wieder in die Kissen zurück. Wahrscheinlich war es nur der Sturm gewesen.

Er war so kurz davor, diese Geschichte zu knacken, doch irgendwie kam er nie ans Ziel. Überall gab es Verbindungen und lose Enden, Fäden, die Knoten um ihn knüpften. Er musste bloß an den einen Menschen herankommen, der all die Einzelteile zusammensetzen konnte. Doch das hieße, dass jemand sein Leben für ihn riskieren müsste.

James hatte schon überlegt, Anna anzusprechen, um herauszufinden, ob sie einen Weg in das Netzwerk kannte. Auf ihrer wahnwitzigen Reise war er mehrmals kurz davor gewesen, die Sache anzusprechen, doch irgendetwas hatte ihn immer davon abgehalten. Schließlich war sie mit dem Kerl liiert, und es kam ihm nicht richtig vor, sie über ihren Freund auszufragen, wenn es mehr als wahrscheinlich war, dass dieser nicht gerade als Unschuldslamm aus der Geschichte hervorgehen würde. Schlimmer noch, es hätte für Anna so aussehen können, als gebe sich James nur mit ihr ab, um an Joe Dladla heranzukommen.

James seufzte. Anna. Sie schien in letzter Zeit einen Großteil seiner Gedanken einzunehmen. Er wollte jetzt lieber nicht darüber nachdenken, weder über sie noch über irgendetwas, das mit ihr zu tun hatte. Sie war so verschlossen, so komplex und unerreichbar, dass es gar keinen Zweck hatte. Er wollte sich gerade vorbeugen, um seine Zigarette auszudrücken, als ihn ein Geräusch im Haus innehalten ließ. Ein dumpfes Geräusch wie von einem Schritt.

James erstarrte, jeder Zentimeter seines Körpers war auf das Geräusch gerichtet. Es war zu leise gewesen, als dass es eine der Katzen hätte sein können, die auf dem Weg zu einem anderen Jagdrevier regelmäßig sein Dach überquerten. Andererseits war es so laut, dass es sicher nicht durch den Kühlschrank verursacht worden war. Außerdem schien es aus dem Flur gekommen zu sein, und alles, was James dort stehen hatte, waren Bügelbrett und Bügeleisen.

Er ließ den Zigarettenstummel auf die Untertasse fallen und machte sich auf den Weg, um nachzuschauen.

James bewegte sich vorsichtig voran und hielt sich dicht an der Wand. Als er um die Ecke bog, spürte er den kühlen Luftzug noch ehe er sehen konnte, dass die Vorderrür offen stand und jemand im Flur war. Der dunkle Umriss eines Menschen hob sich deutlich sichtbar vor dem schwachen silbrigen Licht ab, das von draußen hereinfiel. Er hatte keine Zeit zu schreien, Luft zu holen oder wegzurennen, denn im gleichen Moment knallte ein Schuss. Er spürte, wie die Kugel dicht an seinem Gesicht vorbeisauste und hörte ihr kurzes Aufjaulen, ehe sie hinter ihm in die Wand schlug. Gott im Himmel!

James ließ sich auf den Boden fallen und schaffte es gerade noch, sich hinter einem Mauervorsprung in Deckung zu rollen, ehe ein zweiter Schuss fiel. Diesmal schlug die Kugel dicht neben seinem Kopf in den Putz ein. Staub und Gipsbrocken‘ flogen ihm um die Ohren. James rollte sich so klein zusammen, wie er konnte. Der Schütze trat einen Schritt vor, der Tritt seines Stiefels hallte auf den Holzdielen wider. James schlug das Herz bis zum Hals, sein Mund war trocken. Er hatte keine Zeit zu verlieren, er musste so schnell wie möglich hier raus.

Ein Schlurfen, dann ein Krachen, so als ob noch jemand auf den Boden fiel, dann klapperten Schritte über die Dielen und zogen sich über die Veranda zurück. Lief er etwa weg? Dann Stille. James rührte sich eine Zeit lang nicht von der Stelle, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dauerte aber wahrscheinlich nicht länger als ein paar Sekunden. Er wagte kaum zu atmen, bis er sicher war, dass der Eindringling sich nicht länger im Haus befand.

Als er versuchte aufzustehen, schienen die Knie ihm den Dienst zu versagen. Sie zitterten zu sehr, um sein Gewicht zu tragen, und er musste ein oder zwei Minuten gebückt sitzen bleiben, um Kraft zu sammeln. Dann stand er auf und griff um die Ecke herum nach dem Lichtschalter, doch es gab immer noch keinen Strom. Verdammt! Er zog eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche und zündete ein Streichholz an. Es warf einen winzigen Lichtschein, genug für ihn, um sich ein Bild von dem zu machen, was gerade passiert war. Bruchteile einer Geschichte flackerten auf: Das Haustürschloss hing nur noch an einer einzigen Schraube herab. Quer vor der Tür war das Bügelbrett umgekippt, und das Bügeleisen lag auf der Veranda.

Gelächter brach aus James Kehle hervor. Das verrückte Lachen der Erleichterung. Offensichtlich war der Mann mit der Pistole über das Kabel des Bügeleisens gestolpert und hatte dabei Bügelbrett samt Bügeleisen zu Fall gebracht. Daher rührte das Krachen, das James nach dem Schuss gehört hatte. Das Streicthlz brannte herunter und versengte ihm die Fingerspitzen. Dann stand er wieder im Dunkeln.

Er tastete sich seinen Weg zurück in Richtung Schlafzimmer, als eine Stimme aus der Dunkelheit rief: »Hände hoch!« Es war die barsche Stimme einer Frau, und sie kam aus dem Garten oder von der vorderen Veranda. James drehte sich um, das Herz schlug ihm wieder bis zum Hals. In welche Richtung sollte er fliehen? Doch es war zu spät. Eine Taschenlampe leuchtete auf, und der Strahl fiel auf sein Gesicht. Irgendwo hinter dem blendenden Schein stieß jemand einen erleichterten Seufzer aus.

Und in diesem Moment ging glücklicherweise auch das Licht wieder an.

Auf der Veranda stand James Nachbarin, Mpho. Mpho war eine kräftige, grantige Schwarze, die irgendeinen gehobenen Posten in der Regierung bekleidete. Sie war vielleicht Mitte fünfzig, obwohl sie älter aussah, und hatte die Angewohnheit, sich immer wieder die gleichen Dolly-Parton-Platten bei voller Lautstärke anzuhören. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nachbarschaftliches Verhältnis nicht gerade herzlich gewesen. An diesem Abend trug sie einen langen Frotteebademantel und hatte das Haar fest auf Lockenwickler gedreht. In der einen Hand hielt sie eine nette kleine Damenpistole. In der anderen befand; sich die Taschenlampe, und um ihre Füße strich eine gelb-braun-weiß gefleckte Katze. »Ach du liebe Güte, Mr. Kay! Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«

James war viel zu fertig, um ihr eine höfliche Antwort zu geben. Er war tatsächlich froh, sie zu sehen. »Ich hab die Schüsse gehört und die Polizei angerufen«, brummelte sie, »aber Sie wissen ja, dass die sich Zeit lassen, und deshalb dachte ich mir, ich schaue lieber selber mal nach dem Rechten.« James nickte, während er noch versuchte zu begreifen, was passiert war. Was zum Teufel ging hier vor? Hatte jemand gerade eben versucht, ihn umzubringen? »Ich hab Reifen quietschen hören, und dann bin; ich rausgerannt, und hab gerade noch gesehen, wie die Rücklichter die Third Avenue runter in Richtung Emmarentia verschwunden sind.« Mpho begleitete ihren Bericht mit ausladenden Gesten, wobei der Schein ihrer Taschenlampe über den ganzen Garten schwankte. »Mister Kay? Alles in Ordnung mit Ihnen?«

James nickte wieder, diesmal energischer. »Ja, danke. Sie können die Pistole jetzt runternehmen.«

___________

Es war fast Mitternacht, als die Polizei endlich ging. James hatte sich heiser geraucht, während er den trägen Polizisten von der örtlichen Wache wieder und wieder seine Geschichte erzählt hatte. So langsam sie auch waren, es war ihnen doch gelungen, die Kugeln und Patronenhülsen im Flur zu finden, und James hatte gesehen, wie sie die Beweismittel verpackt hatten. Er war davon überzeugt, dass sie später noch wichtig sein würden. Überzeugter als der gelangweilte Polizeibeamte, der meinte, er habe im letzten Monat schon zu viele ähnliche Vorfälle erlebt, ohne dass irgendeine Verhaftung vorgenommen worden sei. Der Polizist warf James einen amüsierten Blick zu, als dieser darauf beharrte, dass der bewaffnete Mann gekommen sei, um ihn zu töten. »Das kann einem bei einem bewaffneten Raubüberfall manchmal so vorkommen, Mr. Kay, vor allem, wenn er missglückt, aber letzten Endes ist es nicht mehr als ein versuchter Raubüberfall.«

James wollte nicht länger allein im Haus bleiben. Und er wollte mit Anna sprechen. Er rief sie auf ihrem Handy an, während er ein paar Kleidungsstücke, Bücher und seinen Laptop einpackte. Es dauerte eine Weile, bis sie den Anruf entgegennahm, und als sie dran war, klang sie verschlafen.

»Tut mir Leid. Ich bin’s. Hab ich dich geweckt?«, fragte James außer Atem, weil er gerade dabei war, seine Taschen ins Auto zu laden.

»Mhmmhh. Ich bin aber ehrlich gesagt ganz froh, dass du mich geweckt hast. Anscheinend bin ich auf dem Sofa eingenickt.« James ließ den Motor an, und das brummende Geräusch klang herrlich beruhigend in seinen Ohren, während er sich immer weiter von seinem Haus und der Gefahr entfernte. »Wo steckst du denn?«, erkundigte Anna sich. »Ist alles okay?«

Es vergingen gerade mal zehn Minuten, bis sie ihn bei Catz Pyjamas traf, einem Restaurant, das an der Main Street über einer Reihe von Geschäften lag und die ganze Nacht geöffnet hatte. Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch nach draußen auf den Balkon, wo James einen freien Tisch in Beschlag genommen hatte, von dem man auf die Straße blicken konnte. Er lächelte, als er sie sah, und stand auf, die Zigarette in der einen, einen doppelten Whisky in der anderen Hand. Der Ausdruck schläfrigen Wohlbehagens auf ihrem Gesicht wurde besorgt, als sie bemerkte, in was für einem Zustand er war. »Was ist passiert?«

Er erzählte ihr alles. Es dauerte nicht lange. Als er fertig war, sagte sie erst mal nichts. Sie blickte ihn lange an, und es schien James so, als ob sie beide verstanden, was da vor sich ging. Ohne es zu merken, waren sie auf etwas gestoßen, das noch viel größere Ausmaße hatte als die Morde an der Mafikeng Road. »Ich bin bloß froh, dass es dir gut geht«, meinte James, während er sich noch eine Zigarette anzündete. »Jemand wollte mich umbringen.«

Anna wandte den Blick ab. Auf der Straße wechselte die Ampel von Grün auf Rot.

»Oder dir einen Schreck einjagen«, sagte sie schließlich.

»Ein schöner Schrecken!«, gab er heftig zurück.

Anna nahm einen Schluck von seinem Drink. »Wenn das kein zufälliger Einbruch oder Raubüberfall war, wie du ja selbst sagst, dann war der Schütze vermutlich ein Profi«, sagte sie leise. »Wenn ein Profi dich hätte töten wollen, dann wärst du jetzt auch tot. Sie haben auf dich geschossen, um dir Angst einzujagen.«

James runzelte die Stirn und nickte dann. »Wahrscheinlich hast du Recht. Allerdings haben sie nicht mit meinem Hochsicherheitsbügeleisen gerechnet!« Beide lachten.

Dann sagte Anna: »Jemand hat mich beschattet.«

»Seit wann denn das?«

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Keine Ahnung. Ein paar Wochen vielleicht?«

»Was? Warum hast du mir das nicht erzählt?«

Achselzuckend erwiderte sie: »Ich war mir nicht sicher, wer es war. Und außerdem schien es bloß mein Problem zu sein. Ich bin zu nahe an irgendwas herangekommen. Etwas, von dem jemand nicht wollte, dass ich es erfahre. Es macht Sinn, dass man mich verfolgt hat. Aber warum sollte man auf dich schießen?«

Da merkte James, dass sie etwas ahnte: Es gab noch etwas anderes, hinter dem er her war. Etwas, von dem sie nichts wusste, doch das irgendwie mit ihr in Verbindung stand. Deshalb beäugte sie ihn auch so argwöhnisch. Doch wie sollte er ihr erklären, dass er ausgerechnet Joe im Visier hatte?

»Was weißt du, James?«

Langsam stieß er den Atem aus und schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich kann es dir im Augenblick einfach noch nicht erzählen.«

Misstrauen erfüllte die Stille zwischen ihnen. Doch was konnte er sonst sagen? Wie zum Teufel sollte er ihr erzählen, dass der Mann, den er verdächtigte, der Anführer jener Gangs zu sein oder sie doch wenigstens zu protegieren, ihr Genosse aus alten Tagen, ihr Freund war. Er war innerlich hin und her gerissen. Er konnte genau sehen, was sie dachte, ihre Gedanken lesen wie einen Newsticker: Hier ist wieder ein Mann mit einem versteckten Motiv. Wieder ein Mann, dem ich nicht trauen kann, weil er mir etwas verschweigt. Er sah, dass die Enttäuschung sie traf wie ein kalter Luftstoß. Die feindselige Spannung zwischen ihnen war neu und unerfreulich.

Plötzlich fühlte er sich schrecklich allein und spürte eine gewaltige Kluft, wo vorher enge Vertrautheit, das Gefühl von geteilter Gefahr und eine unglaubliche Verbundenheit gewesen waren.

James rauchte eine Zigarette, und Anna trank langsam seinen Drink aus. Das drückende Schweigen zwischen ihnen war schrecklich. Er wünschte, sie würde schreien oder etwas nach ihm werfen, doch das tat sie nicht. Sie blieb ganz ruhig. Ruhig stand sie auf und blickte ihn gefasst an. Es war nicht auszuhalten. Er wandte den Blick ab und rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Pass bloß auf dich auf, ja?«

Sie nickte. »Du auch.« Dann ging sie fort, hinaus in die trunkene Johannesburger Nacht.

33

Am nächsten Morgen regnete es. Anna fuhr später als gewöhnlich von zu Hause weg und blieb im dichten Verkehr auf der Empire Road stecken. Sie brauchte geschlagene zwanzig Minuten, um bis zur Autobahn zu kommen. Sie saß im Stau und starrte auf die Scheibenwischer, die über die Frontscheibe glitten.

Statt die Vergangenheit hinter sich zu lassen, kam es Anna eher so vor, als ersticke die Vergangenheit sie. Ihre Fangarme schlangen sich enger und enger um sie, und je mehr sie versuchte, sich zu befreien, desto fester wurde ihre Umklammerung.

Und nun war sie wirklich allein.

Sie wollte lieber nicht an James und die aufwühlende Unterhaltung denken, die sie am Vorabend mit ihm geführt hatte. Sie machte sich zwar Sorgen um ihn, doch er hatte Sie auch enttäuscht. Selbst er hatte seine eigenen, geheimen Motive.

Anna fuhr auf direktem Weg zum Gefängnis. Sie hatte keine Ahnung, wie man es aufnehmen würde, wenn sie dort allein, ohne Termin und die Begleitung von Henk Steyn auftauchte. Doch sie musste den Colonel unbedingt sprechen.

Kurz vor halb neun erreichte sie den fast leeren Besucherparkplatz, bürstete sich das Haar, legte etwas Lippenstift auf und ging zum Eingang.

Der Eingangsbereich bestand aus einem düsteren Raum, in dem etliche leere Holzbänke aufgereiht standen. Der Fußboden war gerade gewischt worden und daher gefährlich glatt. Eine Putzfrau saß am anderen Ende des Raumes auf einer der Bänke und starrte hinaus in den Regen.

»Guten Morgen. Wie geht’s?«, begrüßte Anna den Wärter, der an der Rezeption saß, mit einem Lächeln.

»Alles in Butter, danke. Was kann ich für dich tun, Schwester?«

»Ich möchte einen Häftling besuchen. Ignatius Du Preez.«

Der Mann zögerte nicht lange, als sie Du Preez’ Namen nannte, und wies ihr gleich den Weg zu einem wartenden Minibus.

»Der Bus wird Sie zum Hochsicherheitstrakt bringen.«

»Danke.«

Anna ging vorsichtig über den rutschigen Linoleum-fußboden nach draußen in den Regen. In dem Kleinbus saß bislang nur ein weiterer Passagier, und der Busfahrer erklärte, er müsse erst warten, bis sich das Fahrzeug füllte, ehe er losfahren könne. Also blieb Anna nichts anderes übrig als sich in Geduld zu üben und dem Regen zuzusehen, wie er die Scheiben hinunterlief. Drei uniformierte Wärter, eine unscheinbare Frau und zwei Männer, stiegen ein, und der Fahrer fuhr los.

Die unscheinbare Frau, die sich das Haar mit einer Plastikspange unter ihrer Kappe zusammengebunden hatte, flirtete im Flüsterton mit dem korpulenten Wärter, der neben ihr saß. Er flüsterte ihr etwas zu, und sie prustete laut heraus: »Igitt! So einen nehm ich bestimmt nie in den Mund. Sei bloß still!«

Der Mann kicherte verschwörerisch. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du noch nie einen im Mund hattest, oder?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht vor Abscheu. »Nee«, sagte sie, »und das werde ich auch nie!« Einen Moment lang herrschte Stille, dann fügte sie hinzu: »Also echt, die Dinger sind doch so hässlich! Habt ihr euch die eigentlich mal genau angeguckt?«

Der andere Wärter nickte, ein Grinsen auf den breiten Lippen. »Ja. Ich schau ihn mir jeden Tag an, erst heute Morgen wieder. Ich nenn ihn Simba — den König der Löwen.« Beide Männer schüttelten sich vor Lachen, während das Mädchen eine Grimasse schnitt und sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund schob.

Anna war die Einzige, die am Hochsicherheitstrakt ausstieg. Sie trug sich für die erste Sicherheitskontrolle ein, und die üblichen Routineüberprüfungen folgten. Sie musste ihr Handy abgeben, und ihre Handtasche wurde durchsucht. Dann kam eine weibliche Gefängniswärterin und führte Anna Unter einem großen, bunt gestreiften Regenschirm durch den Wallgraben. Die Ziegen standen an eine Mauer gekauert, wo sie unter einem schmalen Sims Schutz vor dem Regen suchten.

Die Wärter beim Besucherempfang erkannten Anna wieder und grüßten sie freundlich. Sie füllte das Anmeldeformular aus und trug sich als Angehörige des Ministeriums ein, woran niemand etwas Ungewöhnliches zu finden schien. Dann wurde sie gleich weiter in den Besucherhof geführt, ein düsterer Ort, den sie vorher noch nicht gesehen hatte und der sie an einen überdimensional großen Entwässerungsgraben erinnerte. Der Wärter ging zu einer Stahltür am anderen Ende, hämmerte an das Gitter und brüllte; »Besuch für Du Preez!« Anscheinend war der Colonel in der Zwischenzeit wieder verlegt worden, diesmal in einen geräumigereri Bereich, obWohl die Abzeichen auf den Schulterklappen des Wärters immer noch die des Ultrahochsicherheitstraktes waren.

Anna stellte sich an den Rand des Hofes unter ein Schutzdach und wartete. Ein paar Minuten später tauchte Du Preez in Begleitung zweier Wärter auf. Er trug den gleichen orangefarbenen Overall, in dem sie ihn schon beim letzten Mal gesehen hatte. Er war unrasiert, hatte einen Stoppelbart am Kinn und war offensichtlich verwirrt, Anna hier zu sehen, wirkte aber im Gegensatz zu Annas letztem Besuch diesmal weder desorientiert noch depressiv.

Sie schüttelten sich die Hände. »Mit Ihnen habe ich gar nicht gerechnet«, stotterte er und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich an einen Tisch aus Drahtgeflecht zu setzen, um den herum kleine Hocker fest am Boden montiert waren. Er schien ein bisschen überrumpelt, und Anna erkundigte sich, ob ihr Kommen womöglich seine ohnehin sehr begrenzte Besuchszeit noch weiter einschränkte. »Nein, gar kein Problem, wenn sie davon ein paar Stunden streichen«, erwiderte er. »Ich freue mich immer, Sie zu sehen, Anna.«

»Sie sehen jedenfalls viel besser aus als beim letzten Mal. Anscheinend haben Sie wieder ein bisschen zugenommen«, sagte sie betont munter.

Der Colonel neigte den Kopf zur Seite und erwiderte in seiner kindlich-ernsthaften Art: »Ja, die Umstände haben sich etwas verbessert, aber den Zimmerservice kann ich trotzdem nicht empfehlen.«

Anna blickte auf ihre Hände hinab, die sie auf der Tischplatte gefaltet hatte, und fragte sich, wie sie zum Thema kommen sollte. Doch das war gar nicht nötig.

»Wie ich gehört habe, war anscheinend irgendjemand nicht besonders scharf darauf, dass Sie Badenhorst treffen«, meinte der Colonel mit einem bitteren Lächeln.

»Das kann man wohl sagen!«, erwiderte Anna, erleichtert, dass er gleich zur Sache gekommen war.

»Ich nehme an, Sie fragen sich, ob ich etwas damit zu tun haben könnte?«, sagte er leise und blickte ihr dabei fest in die Augen.

»Nun, Ja«, erwiderte Anna verlegen. »Um ehrlich zu sein, frage ich mich das.«

»Wer wusste noch von Ihrer Reise?«, gab er zurück.

»Nur Sie, James Kay, ein Freund von mir, der Journalist ist — und Joe Dladla.«

Der Colonel seufzte tief. »Badenhorsts Tod hatte nichts mit mir zu tun. Der Kerl, der mir seine Adresse verraten hat, weiß weder über Sie noch Paul Lewis oder irgendetwas anderes Bescheid. Ich kann leider nicht mehr tun, als Ihnen darauf mein Wort zu geben.«

Hier ging es um Vertrauen. Er wusste ebenso gut wie sie, dass nicht allzu viel für seine Vertrauenswürdigkeit sprach. Und dennoch glaubte sie ihm. Sie lächelte reumütig und verzog das Gesicht. »Danke Ig. Ich glaube Ihnen.«

Der Colonel lehnte sich zurück und grinste breit. »Es ist schon komisch, gerade gestern habe ich noch an Sie gedacht«, sagte er. Sie beugte sich ein Stück vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich habe gedacht, dass es schön ist, Sie als Freundin zu haben.« Das sagte er mit so schlichter Aufrichtigkeit, dass auch Anna nicht anders konnte, als zu lächeln. In was für einer verrückten Welt wir doch leben, dachte sie und dankte ihm. Dann wandte sie sich der anderen Frage zu, die ihr auf dem Herzen lag.

»Irgendjemand beschattet mich, lg, wer kann das sein?«

Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Nun, das hängt ganz davon ab, welcher Sache Sie sonst noch auf die Spur gekommen sind, aber wenn es irgendwas mit Paul Lewis zu tun hat …« Er verstummte und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her, als bereite ihm die Antwort Mühe. Anna nickte ihm aufmunternd zu, fortzufahren. »Ganz einfach. Jemand von euch, der früher zu uns gehört hat.«

Anna musste zweifelnd ausgesehen haben, denn er beantwortete ihre nächste Frage schon, ehe sie sie überhaupt gestellt hatte. »Paul war ein Spitzel, nicht wahr? Er hat sich in einer Grauzone bewegt. Und er wurde getötet von Frans Nel, der einer seiner Kollegen war — oder wenigstens war Nel irgendwie an dem Mord beteiligt. Es muss da auch noch andere gegeben haben, Männer, die immer noch dabei sind, vielleicht sogar noch bei der Polizei sind — und die geglaubt haben, dass sie mit ihren Morden ungestraft davongekommen sind. Bis jetzt. Bis Sie ihnen zu dicht auf die Spur gekommen sind. Deshalb meine ich: Jemand von euch, der früher zur anderen Seite gehört hat.« Zur Bekräftigung klatschte er die Hände zusammen.

Anna stützte das Kinn in die Hände und dachte nach. Du Preez’ Logik war zwingend, das sah sie jetzt ein. Sie konnte keinerlei Argumente dagegen finden. Doch wer zum Teufel konnte es sein? Jemand, der so gut getarnt war, dass sie nicht die leiseste Ahnung von seiner Beteiligung hatte.

»Ja«, fuhr der Colonel fort, »es ist ein Fehler, alles nur schwarz oder weiß sehen zu wollen. So war es nie, und so wird es auch nie sein. Es gibt nur unzählige Grautöne.«

Anna blickte ihn überrascht an, nicht zum ersten Mal erstaunt darüber, wie treffend seine Bemerkungen waren. Sie nickte, während sie sich seine Antwort durch den Kopf gehen ließ.

Du Preez warf einen Blick zu den Wärtern hinüber. »Und, was haben Sie als Nächstes vor?«, erkundigte er sich. Anna seufzte. »Ich denke, es wird wohl ein Besuch bei Sherry Nel sein. Sonst ist niemand mehr übrig.« Der Colonel schien das für eine gute Idee zuhalten. »Es war nicht schwer, sie ausfindig zu machen«, erklärte Anna. »Ich konnte sie durch ihren Anwalt auftreiben. Sie lebt jetzt in der Northern Province und führt eine von diesen evangelikalischen Kirchen, zusammen mit ihrem jetzigen Ehemann, einem gewissen Bob Thorpe. Sie betreiben auch ein Restaurant.«

»Puh, das wird ja ein ziemlich unangenehmes Gespräch für Sie.«

»Ja, ich kann mir auch was Netteres vorstellen«, sagte sie aus tiefstem Herzen.

Du Preez schüttelte traurig den Kopf. »Ich wüsste auch nicht, was ich täte, wenn meine Frau untreu wäre.« Anna dachte sich im Stillen, dass es Mrs. Du Preez sicherlich schwer fallen würde, ihrem Mann die Treue zu halten, wo er doch hinter Gittern saß und sie sich in Amerika oder sonst wo aufhielt. Sie hoffte nur, dass Mrs. Du Preez klug genug war, ihre Fehltritte für sich zu behalten.

»Wie auch immer, mir bleibt nichts anderes übrig. Was, glauben Sie, könnte Sherry Nel wissen?«

Du Preez meinte, dass Sherry Nel vermutlich eine ganze Menge wusste, ohne sich über die Bedeutung im Klaren zu sein. Falls Paul sie zu Hause besucht hatte, war es gut möglich, dass andere Leute, die in das Geheimnis verstrickt waren, das ebenfalls getan hatten. Im Allgemeinen hatten die Ehefrauen von Sicherheitspolizisten sehr wenig Ahnung davon, was ihre Männer tatsächlich trieben. Für einen Polizisten, der seine Tage und Nächte mit Folter und Tod verbrachte, war die Familie zumeist ein wohltuender Zufluchtsort. Man ging in die Kirche, besuchte den Tennisclub und widmete sich anderen harmlosen Aktivitäten.

»Wusste Ihre Frau denn, was Sie die ganzen Jahre über gemacht haben?«, erkundigte Anna sich.

Er zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich hat sie schon vermutet, dass ich kein gewöhnlicher Polizist war. Aber ich glaube, sie hatte keine Ahnung, wie weit es tatsächlich ging.« Er verzog das Gesicht und blickte in die Ferne, in jenes verschwommene Nirgendwo, auf das die Menschen manchmal ihren Blick richten müssen. »Es hat schon seinen Tribut gefordert, wissen Sie. Die ungewöhnlichen Arbeitszeiten, das viele Reisen. Einmal hat sie mich sogar verdächtigt, ich hätte eine Affäre!« Er lachte bitter auf. »Erst als es vorbei war und ich wusste, dass man mich verhaften würde, habe ich mit ihr geredet.« Er verschränkte die Arme, den Blick immer noch in die Ferne gerichtet. »Wir gingen nach draußen auf die Veranda, die Mädchen schliefen drinnen. Und ich habe ihr alles erzählt. Es war, als würde ich mir selbst das Herz herausreißen.«

Du Preez’ Stimme war beinahe unhörbar geworden. Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie blickte zu den Wärtern hinüber, die auf den Stufen rauchten und miteinander redeten, ohne Notiz von ihrer Unterhaltung zu nehmen. Der Colonel rang sich ein mühsames Lächeln ab. »Und wann wollen Sie nach Pietersburg fahren?«

»So bald wie möglich. Vielleicht schon morgen«, erwiderte Anna.

»Lassen Sie, mich wissen, wie es Ihnen ergeht«, meinte er wie ein besorgter Arzt.

Anna erwiderte sein Lächeln. Natürlich würde sie ihm Bescheid geben. »Ig, ich wollte Sie schon die ganze Zeit etwas fragen.« Er setzte sich sehr gerade hin, seine Haltung war die sitzende Entsprechung eines militärischen Stillstehens. »Warum helfen Sie mir?«, fragte sie.

Der Colonel sah verblüfft aus. Er dachte einige Zeit über die Frage nach und blickte sie dann sehr ernst an. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen traue. Eigentlich sollten wir doch Feinde sein. Wir waren auch Feinde. Doch an dem Tag, an dem Sie mich zum ersten Mal besucht haben, dachte ich: In diesem Menschen ist etwas Gutes. Und dann habe ich mich gefragt, was ich an Ihrer Stelle tun würde. Wenn meine Frau oder mein Kind ermordet worden wären. Und ich weiß auch nicht recht, warum, aber das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich glaube, ich würde sie zur Strecke bringen und verdammt noch mal hängen, strecken und vierteilen.« Er hielt inne und wandte den Blick ab. »Und das gilt selbst, wenn ich dieser Mörder wäre. Auch dann würde ich immer noch sagen, dass er nichts Besseres verdient hat. Aufgeknüpft, gestreckt und gevierteilt. Und deshalb will ich alles versuchen, um Ihnen zu helfen. Was ich getan habe, kann ich nicht mehr rückgängig machen. Es ist geschehen. Aber ich kann Ihnen dabei helfen, herauszufinden, wer Ihren Paul umgebracht hat. Und wenn Sie das ruhiger schlafen lässt, ist es das schon wert.«

Anna hörte ihm zu, wie er seine Gedanken äußerte und seine Stimme dabei vor Gefühl bebte, und es rührte sie. »Wissen Sie«, sagte sie leise, »als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, bei Ihrer Verhandlung, da habe ich Sie gehasst. Ich habe Ihnen den Tod gewünscht.« Er blickte sie an, ohne sich irgendwelche Gefühle anmerken zu lassen.

»Und hier bin ich, und hier sitzen wir und sprechen darüber, Freunde zu sein, und Sie sind mein einziger Verbündeter bei meinen Nachforschungen geworden.« Sie öffnete die Hände, als ob sie ihr dabei helfen könnten, auszudrücken, was sie sagen wollte. »Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich auch so mit Ihnen reden könnte, wenn Sie Paul getötet hätten. Und es hätten ja durchaus Sie sein können, der ihn getötet hat.« Du Preez nickte zustimmend, ehe sie weitersprach. »Ich glaube nicht, dass ich es dann könnte. Ihnen vergeben. Und ich kann Ihnen niemals vergeben, was Sie anderen Menschen angetan haben, aber trotzdem, irgendWie nun, hier sitzen wir. Finden Sie das nicht komisch?«

Der Colonel schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Es liegt daran, dass wir zusammengehören«, sagte er, »wie die zwei Seiten einer Münze.«

Anna lächelte wehmütig.

Doch es war Zeit zu gehen. Die Wärter hatten sich ihrem Tisch genähert und deuteten mit unruhigen Blicken auf ihre Uhren an, dass es Zeit war, den Häftling wieder in seine Zelle zurückzuführen. Anna stand auf und warf sich die Tasche uber die Schulter. »Es hat gut getan, mit Ihnen zu sprechen, Ig. Danke«, sagte sie. Während er sich erhob, streckte sie ihm die Hand entgegen, um sich zu verabschieden, doch dann legte er plötzlich und unerwartet die Arme um sie und drückte sie unbeholfen an sich. »Passen Sie auf sich auf, Anna«, murmelte er barsch. Einen Augenblick lang verspürte sie Panik. Ihre Arme schwebten hilflos über seinem Rücken. Er hatte eine Grenze überschritten, die vor ein paar Wochen noch undurchdringlich gewesen wäre. Der Gedanke, dass er sie umarmen könnte, wäre abstoßend, ja unvorstellbar gewesen. Und dennoch stand er jetzt hier, die Arme um sie gelegt, und sie tätschelte ihm zaghaft den Rücken und erwiderte, er solle auch auf sich aufpassen. Dann gingen sie ihrer Wege. Er die Stufen zu seiner Zelle empor und Anna zurück durch den Wallgraben und den strömenden Regen.

Anna war inzwischen schon so an ihren Schatten gewöhnt, dass sie dem violetten Auto, das sich hinter ihr einfädelte, kaum mehr Beachtung schenkte. Kein Schwarz und Weiß mehr, sagte Anna zu sich selbst, während sie vom Gefängnis wegfuhr. Genau wie Du Preez gesagt hat: Es gibt nur unzählige Grautöne.

34

Der Flug nach Pietersburg dauerte nicht lange, und es war noch früh am Vormittag, als das Flugzeug die weite, spärlich besiedelte Ebene nahe der Provinzhauptstadt ansteuerte. Es war ein heißer Tag, die Luft war trocken. Anna zog sich ihren Blazer aus, während sie über die Landebahn auf das Flughafengebäude zuging, wo Sherry Nels Anwalt sie abholen sollte. Sie bemühte sich, nicht zu viel an das zu denken, was sie heute vor sich hatte. Pauls Verrat lag zwar mehr als ein Jahrzehnt zurück, doch der Schmerz brannte immer noch in ihr.

André Baker, der Pietersburger Anwalt der früheren Mrs. Nel, hatte am Telefon aalglatt geklungen und sich über ihre seltsame Anfrage kein bisschen gewundert. »Alles klar, ich klingle mal eben bei Sherry an und ruf Sie dann gleich zurück!«, hatte er munter verkündet und tatsächlich innerhalb einer Stunde zurückgerufen und ihr mitgeteilt, dass Mrs. Thorpe sie gerne sehen würde; in der zweiten Wochenhälfte passe es ihr jederzeit.

Anna vermutete sofort, dass André Baker der große plumpe Kerl war, der mit federnden Schritten durch die Ankunftshalle auf sie zusteuerte. Er sah aus wie vierzig, konnte aber auch jünger sein. Sein Händedruck war weich und feucht.

»Da sind Sie ja, Anna. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie Anna nenne!«, begrüßte er sie mit anbiederndem Grinsen. »Alles ist schon bereit für Ihr Treffen!« Er schien zwar nicht genau zu wissen, warum sie eigentlich kam, und hatte mit Sicherheit noch nie etwas von Paul Lewis gehört, verkündete aber nichtsdestotrotz: »Sherry hat gesagt, sie weiß genau, worum’s geht.« Sie sollten Sherry in ihrem Restaurant treffen, das nicht weit von hier an der Straße zwischen Pietersburg und Tzaneen lag.

Während der Autofahrt entging Anna nicht, dass André Baker ständig heimliche Blicke auf ihre Beine warf. »Sind Sie verheiratet, Anna?« Sie hob ihre Tasche vom Boden auf, legte sie sich auf den Schoß und steckte die Hand darunter. Die Art und Weise, in der er ihr lüsterne Blicke zuwarf, ließ sie Zuflucht zu einer Lüge nehmen. »Ja, bin ich. Und Sie?«

»Oh ja«, grinste er. »Mit vier reizenden Töchtern.«

»Wie nett.« Anna blickte aus dem Fenster auf die flache, unbewohnte Landschaft, die sich rechts und links der Straße erstreckte. So wie er das gesagt hatte, mit einem derart breiten, anzüglichen Grinsen, hätte man fast meinen können, dass er mit vier reizenden Mädchen verheiratet sei, doch sie fasste es lieber so auf, dass er der stolze Vater von vier bedauernswerten Töchtern war. Plötzlich merkte Anna, wie etwas an ihrem Oberschenkel entlangstrich, und als sie zu ihm hinüberblickte, sah sie, dass er eine Kassette einlegte. Er grinste wieder. Musik schallte durch das Auto, eine alberne Schnulze über eine Lady in Red, dancing with me-ee, cheek to cheek.

»Ich hab eigentlich nie viel von Monogamie gehalten«, kicherte er, was sich wohl auf das Lied beziehen sollte. »In dieser Hinsicht bin ich ein großer Bewunderer der Franzosen«, fuhr er fort, durch Annas Schweigen offensichtlich ermuntert. »Die haben für Monogamie auch nichts übrig. In Frankreich sind Mätresse und Liebhaber regelrechte Institutionen. Und ganz wunderbare, wie ich finde.« Er kicherte lüstern. »Ich meine — warum soll man nicht auswärts essen, wenn man zu Hause kein Frühstück bekommt? Stimmt’s oder hab ich Recht? Ha, ha, ha …«

Die Landschaft veränderte sich, als sie hinter Pietersburg bergauf fuhren und in das Hügelland kamen, wo Sherry Nel ihr neues Leben angefangen hatte. Ihr Restaurant hieß The Hideaway und wirkte von der Straße keineswegs wie ein Unterschlupf. Schwarze Buchstaben auf einem weißen Schild priesen das Vorhandensein eines Großbildfernsehers an. André Baker stellte sein Auto auf den staubigen Parkplatz neben das einzige andere Fahrzeug, einen Bakkie mit Doppelkabine, der an den Seiten mit Rallyestreifen verziert war.

Anna stieg aus und strich sich über Blazer und Rock, als könne sie damit die verunreinigte Atmosphäre der Autofahrt abstreifen. Dann musterte sie die tristen Gebäude und das schäbige Schild. André Baker ging federnden Schrittes voraus, und Anna folgte ihm mit einem beklemmenden Gefühl in der Magengrube.

Von innen war das Lokal überraschend hell und freundlich. Es bestand aus einem einzigengroßen Raum, vermutlich einem ehemaligen Schuppen, mit einer abgehängten Decke aus dünnem Schilfrohr. Die Wände waren in glänzendem Smaragdgrün gestrichen. Gegenüber vom Eingang befand sich eine lange Bar aus grobem Holz mit einer schweren lackierten Kiefernholzplatte. Hinter der Theke stand eine plumpe Frau mit straff zurückgekämmtem schmutzig-blondem Haar.

Schockiert blieb Anna im Türrahmen stehen und starrte die Frau an. Ihr Pony bog sich in einer schwungvollen Tolle über dem linken Auge und war mit Haarspray festbetoniert. Sie hatte blaue Augen, und ihre Lider waren sorgfältig mit glänzendem himmelblauen Lidschatten geschminkt. Das perlmuttartige, bläuliche Puder, das sich in zwei Halbmonden unter ihren dünn gezupften, hohen Augenbrauen wölbte, ließ sie wie eine verwunderte Puppe aussehen. Die Haut an ihren Schultern und Achselhöhlen war schlaff und knittrig wie Krepppapier. Sie trug ein Sommerkleid in demselben Blauton wie ihr Lidschatten, mit dünnen Trägern und einem Volant über dem Dekolletee.

»Hallo, Sands!«, rief André Baker fröhlich. »Wir wollten Sherry sprechen.«

»Weiß sie denn, dass ihr kommt?«, fragte die Frau mit säuerlicher Stimme.

Anna hätte vor Erleichterung beinahe gelacht.

»Aber natürlich erwartet sie uns, Sandy«, schmeichelte Baker.

»Okay«, schnauzte die Bardame und verschwand durch einen bunten Perlenvorhang in die Küche.

Die Barhocker bestanden aus abgesägten Baumstämmen, auf denen ein viereckiges Kissen als Sitzfläche angebracht war. André Baker setzte sich. und klopfte einladend auf den Hocker neben sich, doch Anna blieb lieber stehen. Sie musterte das Restaurant mit höflichem Interesse, das ihre angespannte Stimmung verbergen sollte. Anna nahm jedes Detail an diesem Ort ganz intensiv wahr, so als ob sie überall nach Hinweisen auf Paul Ausschau hielt. Nicht auf jenen Paul, den sie kannte, sondern den Paul, der Sherry gekannt hatte.

Über der Bar hing eine Reihe Hüte von der Decke herab. Überwiegend blaue Schirmmützen — die typische Kopfbedeckung der Fans vom Northern Transvaal Rugby-team. Doch es hing auch eine Uniformmütze in Royalblau und Dunkelblau da, in deren Band der Messingstern der alten Südafrikanischen Polizei eingestanzt war. Darunter hatte jemand ein Holzschild gehängt, auf dem in eingeschnitzten und schwarz angemalten Buchstaben stand: »As jy drink om te vergeet, betaal vooruit.« Wenn du trinkst, um zu vergessen, bezahl lieber im Voraus. Gleich darunter verkündete ein zweites Schild in derselben Machart: »Die Nuwe Suid-Afrika se gat.« Das Arschloch des neuen Südafrika.

Ein kleiner, mit toten Fliegen übersäter Ventilator warf einen rotierenden Strahlenkranz hinter die Bardame Sandy, als sie wieder hereinstolziert kam. Doch es war Sherrys Stimme, die ihre Ankunft ankündigte, noch bevor Sherry selbst hinter ihrer blauäugigen Freundin hereinklapperte. »Der Herr wird’s schön richten«, zwitscherte sie in süßlichem Tonfall, und gleich darauf sah Anna, dass die kleine blonde Frau, die in einer Wolke aus billigem, süßlich duftendem Parfum ins Zimmer geschwebt kam, in ihr Handy sprach.

Anna betrachtete ihre Rivalin, während diese am anderen Ende der Bar stand und mit einem Schmollmund in das Telefon flötete. Sie fühlte sich gekränkt und erleichtert zugleich. Sherry hatte etwas Absurdes an sich, aber auch etwas, das Anna ein wenig beängstigend fand. Sherry war sich ihrer ausgeprägten Weiblichkeit voll bewusst und verstand sie aufs Außerste einzusetzen. Ihre schmalen Hüften wurden von einem dünnen Minirock in A-Linie umhüllt, ihre spindeldürren Beine balancierten auf hohen Absätzen. Sie trug glänzende hautfarbene Strümpfe und eine Seidenbluse, deren oberster Knopf gerade so weit offen stand, dass man den Spitzenbesatz ihres violetten Satin-BHS sehen konnte. Ihr Haar war so aufgetürmt, dass es einfach nicht echt sein konnte. Es schimmerte rötlich und bauschte sich in mühevoll gefönten Wellen und Locken. »Und vergiss nicht, Schätzchen, Sherry betet für dich. Mit ganzem Herzen«, zirpte sie ihrem Anrufer zu, hauchte dann ein Küsschen ins Telefon und schaltete es aus.

Dann warf sich Sherry mit einem schrillen Quieken in André Bakers Arme und umklammerte ihn mit mädchenhaftem Überschwang. Als er sie wieder absetzte, klopfte er ihr auf den Po, und sie quietschte vor Vergnügen. Schließlich wandte sie sich Anna zu, wie eine Gans, die ihren langen Hals biegt.

Anna hatte das Gefühl, die Zunge schwelle ihr im Mund an, als Sherry ihr eine federleichte Hand hinhielt. »André hat mir erzählt, dass Sie den ganzen weiten Weg aus Johannesburg gekommen sind.« Ihr zierlicher Körper bebte vor Aufregung.Aus der Nähe sah ihre Haut verbraucht aus, sie hatte Falten in den Mundwinkeln und am Nasenansatz und Krähenfüße um die Augen. Trotzdem war sie zweifellos eine schöne Frau und hatte schöne, verträumte Augen. Sie erinnerten Anna an Pauls Augen.

Auch Sherry musterte Anna prüfend. Anna wurde sich schmerzlich ihrer Erscheinung bewusst: langweiliger, formloser Hosenanzug, aufgesprungene Lippen und ungeschminktes Gesicht, offenes, unordentlich herabhängendes Haar und klobige Schuhe. Es dauerte nicht lange, bis Sherry zu dem Schluss gekommen war, dass Anna keine ernsthafte Konkurrenz für sie darstellte, und eine Spur von Rivalitätsdenken ließ Anna plötzlich wünschen, dass sie sich ebenfalls bis zum Äußersten aufgedonnert hätte. Als ob sie diese alte, aufgetakelte Schlampe nicht jederzeit ausstechen könnte…»André hat mir auch erzählt, dass Sie inzwischen ein hohes Tier bei der Polizei sind?« Anna nickte. Sherry schien das amüsant zu finden, denn sie kicherte. »Also, ich habe mich ja schon oft gefragt, wann Sie mich ausfindig machen würden.«

Anna schien der Kiefer mit einer Schraubzwinge verschlossen zu sein, und sie brachte ihn nicht auseinander, um etwas zu erwidern. Doch Sherry schien das überhaupt nicht aufzufallen; sie produzierte genug Geschwätz für zwei. »Warum setzen wir uns nicht? Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich rauche?« Anna schüttelte den Kopf. Es störte sie nicht.

Sie schwang sich auf einen Barhocker und sah zu, wie Sherry ein Päckchen Zigaretten und einen Aschenbecher hinter der Bar hervorholte. Sherry bewegte sich so, als wisse sie genau, dass jeder die weiche, runde Form ihres Pos durch den Rock sehen konnte. Sie trug einen violetten String-Tanga, der durch den blassen, mit Blumen bedruckten Baumwollstoff hindurchschimmerte. Sherry verströmte den Geruch nach Sex, aber nach der Spitzen-, Satin- und Haarsprayvariante. Anna sah sie vor sich, wie sie sich, gekleidet in einen Catsuit und mit smaragdgrünem Lidschatten geschminkt, durch ihr Barbiepuppenhaus und ihre Barbiepuppenkirche bewegte.

»Ein munterer Käfer«, so nannte André Baker sie, und sie kicherte munter, als sie das hörte.

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Sherry schlängelte sich auf einen Barhocker und zündete sich eine lange, schmale Mentholzigarette an. »Wo soll ich anfangen?«, zwitscherte sie und blickte Hilfe suchend zu André Baker hinüber. Er deutete mit einer Geste an, dass Anna das entscheiden solle.

»Warum fangen Sie nicht an, indem Sie uns etwas über Ihren Mann erzählen«, schlug Anna vor, verblüfft, dass sie ihre Stimme wiedergefunden hatte und sogar noch verblüffter über den ruhigen Tonfall, den sie trotz ihres aufgewühlten Zustands zuwege brachte.

»Ex-Mann«, verbesserte Sherry sie.

»Ja, natürlich. Entschuldigung. Frans Nel.«

»Frans war ein Scheißkerl, ein grausamer Mann. Ich war froh, als er mich rausgeworfen hat, froh, dass ich frei war, ein neues Leben anzufangen.« Sherry sprach mit ziemlich unchristlicher Bitterkeit über ihren früheren Mann. Sie hatten jung geheiratet, er war dreiundzwanzig und Sherry gerade mal zarte achtzehn. Zuerst war seine Arbeit nur die eines gewöhnlichen Polizisten gewesen, »keine komischen Sachen«. An dieser Stelle warf sie Anna und Baker einen viel sagenden Blick zu. Er war zunächst ein ganz gewöhnlicher Polizist mit regulären Arbeitszeiten gewesen, doch er war ehrgeizig und gut bei seiner Arbeit, so dass er ziemlich schnell aufstieg. »Wir waren so aufgeregt, als er befördert wurde. Schließlich war das damals die absolute Elite. Keine Uniformen mehr, keine festen Arbeitszeiten, jede Menge Möglichkeiten.« Während Sherry das Wort »Möglichkeiten« betonte, riss sie die Augen ganz unschuldig auf, doch Anna wusste genau, was sie meinte. Sherry bezog sich auf die vielen Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung. Nicht umsonst hatte man sich innerhalb der Sicherheitspolizei augenzwinkernd erzählt, dass alle von ihnen mit vermögenden Frauen verheiratet seien. In Wahrheit rührte ihr Wohlstand jedoch schlicht und ergreifend vom Stehlen und Kassieren geheimer Schmiergelder. »Aber von dem Zeitpunkt an lief es auch zwischen uns nicht mehr so richtig«, fuhr Sherry fort und betrachtete mit schüchternem Blick ihre langen, glänzenden Fingernägel.

»Frans hat sich auch verändert. Er ist hart und geheimniskrämerisch geworden, und ich weiß, dass er eine ganze Menge getrunken hat. Sie sind zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten losgezogen, und manchmal ist er tagelang einfach verschwunden, ohne mich auch nur anzurufen. Dann wieder tauchte er plötzlich mitten in der Nacht auf und stank nach Whisky. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er machte. Ich meine, ich wusste schon, dass er inzwischen eine sehr wichtige Stellung hatte und der Regierung dabei half, den Kommunismus und Satanismus aufzuhalten und die Terroristen zu bekämpfen, doch die meiste Zeit über hatte ich keine Ahnung, wo er gerade steckte oder mit wem er zusammen war. Und ich war mir sicher, dass er was mit anderen Frauen hatte.« Sherrys lange, dick getuschte Wimpern klimperten in unschuldiger Aufrichtigkeit. Sie blickte Anna an, die verkrampft, aber aufmunternd lächelte. Sherry senkte die Stimme. »Ich wusste, dass er mir untreu war, und eines Tages, als meine Kinder schon liefen und ich mich nicht mehr den ganzen Tag um Babys kümmern musste, da hab ich zu mir gesagt: Sherry, Mädchen, wach auf, und kehr zurück ins Leben. Es hat keinen Sinn, dass du hier rumhockst und versauerst, während er sich ein lustiges Leben macht.« Sie warf André Baker einen koketten Blick zu und drückte dann penibel ihre Zigarette aus. Anna war unangenehm fasziniert von der glockenhellen Stimme, der kecken kleinen Nase und den großen klimpernden Augen.

»Also hab ich mir selbst ein bisschen Vergnügen gegönnt. Ursprünglich habeich das bloß gemacht, um es ihm heimzuzahlen, doch ich habe auch meinen Spaß gehabt.« Sherry lächelte, während sie diesen letzten Kommentar an André Baker richtete, der vor Aufregung fast sabberte. Dann warf sie den Kopf zurück, eine geschickt einstudierte Bewegung, die ihr Haar springen und über ihre Schultern zurückfallen ließ. »Aber Paul war nicht bloß einer von diesen Typen, er war kein One-Night-Stand. Paul war was Besonderes.« Jedes ihrer Worte traf Anna wie ein Messerstich. »Aber das brauch ich Ihnen ja nicht zu sagen.« Kleine Finger mit langen Nägeln tätschelten verschwörerisch Annas Arm. Wieder so eine mädchenhafte Geste, geradezu komplizenhaft. Wir haben’s beide mit ihm getrieben, und er war doch einfach super, was? Hihi.

Anna räusperte sich. »Wie haben Sie und Paul sich kennen gelernt?«, fragte sie und hatte das Gefühl, als ob ihre Stimme klänge wie ein quietschendes Getriebe.

Sherry lächelte, und ihre verträumten Augen wirkten noch verschleierter, während sie ihren Erinnerungen nachhing. »Auf einer Party. Frans hat gerne Partys gegeben, und damals hatte er viel Geld übrig. Wir hatten ein großes Haus, wie geschaffen, um Gäste einzuladen, und er hat regelmäßig alle seine Kollegen eingeladen, sogar ein paar von den schwarzen Typen. Frans hat seine Schwarzen immer gut behandelt. Jedenfalls ist Paul an diesem Abend erst ziemlich spät aufgetaucht, ich glaube, nach Mitternacht erst, als es schon richtig hoch her ging. Er war unheimlich groß. Ich glaube, das ist mir als Allererstes aufgefallen. Ich stehe nämlich auf große Männer, was?« Wieder ein glockenhelles Gelächter, so als splittere Glas entzwei.

Sherry beugte sich vertraulich zu Anna hinüber. Anna rutschte nervös auf ihrem Hocker hin und her, während das gequälte Lächeln auf ihren Lippen immer grotesker wurde. »Sie heben dich in ihren Armen hoch«, trillerte sie mit engelsgleicher Stimme, streckte die Arme aus, zog sie dann wieder an sich und umarmte sich mit theatralischer Geste. »Sie halten dich fest, und dann kommst du dir so wunderbar klein und hübsch und geliebt vor. Hey? Und für einen Mann hatte er wirklich schöne Lippen. So ein süßes Lächeln. Aber ich glaube, richtig funkte es, als ich ihn tanzen sah. Da war’s mir klar. Den wollte ich! Er konnte wirklich tanzen. Und damit meine ich nicht dieses ganze neumodische Discogehopse, ich meine die altmodische Art, wo man festgehalten und herumgeschwungen wird und das Gefühl hat, zu schweben — so als ob man um ihn herumfliegt und er der Mittelpunkt der Welt ist, der einen schweben lässt. Oooh! Paul konnte vielleicht göttlich tanzen! Ich hab nie wieder jemanden kennen gelernt, der so tanzen konnte wie er.«

Anna war wie elektrisiert. Es war unerträglich. Sie versuchte, sich auszurechnen, wann das gewesen sein könnte, welche Ausrede Paul sich wohl überlegt hatte, doch sie konnte nicht klar denken. Sie spürte, dass Sherry es genoss, ihre Geschichte zu erzählen, auf die typische Art, wie Frauen einander runtermachen, ohne dass es so aussieht. Ihre kleine evangelikalische Seele hatte durchaus einen sadistischen Zug. Sherry lächelte ein verstecktes, sinnliches Lächeln und senkte den Blick. »In dieser Nacht ist es passiert. Im Garten. Ich glaube, wir waren nicht besonders vorsichtig, aber mein Mann war so vrot; alle waren so vrot, dass es gar keinem aufgefallen ist. Und es wäre mir wohl auch egal gewesen, wenn es jemand bemerkt hätte. Es war einfach nur toll. Wahrscheinlich lag das zum Teil auch daran, dass ich wusste, wer er war, verstehen Sie?« Sherry blickte Anna mit fragend gerunzelter Stirn an. Anna schüttelte den Kopf und konnte nicht ganz folgen. »Ich meine, weil er ein Spion war. Verstehen Sie?«

»Woher wussten Sie, dass er ein Spion war?«

»Mein ‘Mann hatte es mir erzählt. Er hat gesagt, dass Paul ein absoluter Star sei. Ein Star. Schade Nur die Guten sterben jung, was, Anna?«

Anna sagte nichts. Sie fühlte nichts. Und sie war dankbar, dass ihr Körper anscheinend irgendeine chemische Substanz produzierte, die sie so ruhig stellte, dass sie nichts spürte. Sie hörte bloß zu.

Sherry zog elegant an einer neuen Zigarette und redete dann in leisem, vertraulichen Tonfall weiter. »Ein paar Jahre nach Pauls Tod wurde ich wiedergeboren. Als ich meinen jetzigen Mann kennen lernte. Bobby hat mein Leben verändert. Ich habe meine ganze Lebensweise verändert, als ich ihn fand — und Gott fand«, fügte sie hinzu. »Sind Sie Christin, Anna?« Anna schüttelte den Kopf, und Sherry schenkte ihr ein mitleidiges, aber liebenswürdiges Lächeln.

In diesem Augenblick erschien die blauäugige Bardame mit einem Tablett mit Boerewoers und Steak, Brötchen und Sauce. »Geschenk des Hauses«, sagte Sherry mit fröhlichem Lächeln. André Baker bestellte noch ein Bier und langte zu. Anna rührte keinen Bissen an. Schweigend sah sie zu, wie Sherrys Hand über dem Teller mit Brötchen schwebte, sich dann aber plötzlich zurückzog, als ihr Mann in der Küchentür auftauchte.

Der Pfarrer war vorbeigekommen, um einen Happen zu essen, und Sherry stellte ihn Anna vor, während sie die ganze Zeit über an ihm hing wie ein Koalabär. »Das ist mein Mann«, verkündete sie triumphierend. Anna kam er nicht gerade wie eine große Eroberung vor. Bob Thorpe war ein schmierig wirkender Langweiler, groß und tumb, außerdem schien er ein Schürzenjäger zu sein. Das konnte Anna daran sehen, wie er sie von oben bis unten musterte.

»Erinnerst du dich noch an den Freund, von dem ich dir mal erzählt habe? Der, der gestorben ist? Das ist eine Freundin von ihm — sie will die Wahrheit herausfinden, was mit ihm damals passiert ist«, zwitscherte Sherry. Der Pastor nickte und sprach mit vollem Mund: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien. Johannesevangelium, Kapitel Acht, Vers Zweiunddreißig.« Sherry schlug die Augen zum Himmel. »Das ist so schööön, Bobby!« Zum Glück blieb Bobby nicht lange, er nahm sich noch ein Brötchen mit Boerewors und eine Flasche Bier mit und zog dann los, um sich seinen Schäfchen zu widmen. An der Tür verabschiedete Sherry sich lange und leidenschaftlich von ihm. Anna sah ungehemmt zu, wie sie sich um ihn wand. Schließlich schlenderte er mit selbstgefälligem Blick davon und schob sich dabei schnell noch ein letztes Würstchen in den Mund.

Während Sherry sich die Lippen vor einem kleinen Taschenspiegel nachzog, erklärte Anna ihr, dass sie bald fahren müsse, um ihr Flugzeug zur erreichen. »Oh nein. Und dabei haben wir gerade erst angefangen, uns kennen zu lernen«, rief Sherry aus und ließ ihren Taschenspiegel zuschnappen. Anna war jedes Mal wieder so verblüfft über die naiven Äußerungen dieser Frau, dass sie wahrscheinlich wie eine stammelnde Schwachsinnige wirkte.

»Sherry, ich muss noch etwas wissen, was sehr wichtig für die Ermittlungen ist!«

Sherry nickte und hörte stirnrunzelnd zu, ein Muster an Ernsthaftigkeit. »Bitte denken Sie ganz genau nach. Können Sie sich erinnern, ob es in der Einheit ihres Ex-Mannes oder vielleicht auch in einer anderen Einheit jemanden gab, der Paul betreut hat? Jemand, an den Paul berichtet hat und von dem er seine Befehle entgegengenommen hat?«

Sherry nahm sich noch eine Zigaretteaus dem Päckchen und zündete sie an, während sie die ganze Zeit über angestrengt nachdachte. »Nein, wissen Sie, Anna, Paul war etwas ganz Besonderes. Nach dieser ersten Nacht ist er häufig zu uns nach Hause gekommen. Ganz unter uns …«, hier kicherte sie so, dass Anna fast übel wurde, »… ich glaube, er ist meinetwegen gekommen. Doch was meinen Gatten anging, nun — jedenfalls bis zu dem besagtem letzten Mal —, der dachte immer, dass Paul käme, um ihn zu treffen. Können Sie mir folgen?« Anna nickte, ja, sie war ganz Ohr. »Wie auch immer, jedenfalls habe ich ihnen immer Drinks und Essen und alles Mögliche gebracht. Jeder Vorwand war mir recht, bloß um Paul nahe zu sein, und manchmal habe ich dabei auch mitgehört, wie sie über die Arbeit geredet haben.« Sie hielt inne und zog an ihrer Zigarette.

»Haben Sie je einen Namen aufgeschnappt? Jemand, der vielleicht Pauls Betreuer war?«, drängte Anna sie.

Sherry schüttelte den Kopf und warf ihre Lockenpracht zurück. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Aber da war so ein Typ, ein Schwarzer, der ein paar Mal mit Paul zu uns nach Hause gekommen ist. Wenn ich mich recht erinnere, ist er auch bei diesem ersten Mal mit Paul zu unserer Party gekommen. Ich kann mich noch an ihn erinnern, weil er mir immer ziemlich arrogant vorkam. Er kam sich ganz toll vor, und er sah auch sehr gut aus, aber ein bisschen zu arrogant für meinen Geschmack.«

Anna war so gespannt wie eine Feder und hoffte inständig, dass Sherry endlich auf den Punkt kommen möge. »Können Sie sich erinnern, wie er hieß?«

Sherry schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen und auch nie lange. Sie haben ihn Steve genannt, aber ich glaube kaum, dass das sein richtiger Name war. Seinen richtigen Namen habe ich nicht gekannt. Das war so üblich damals.« Sherry lächelte zuckersüß und wirkte zufrieden mit sich. Sie hatte das Ende ihrer Geschichte erreicht.

Anna lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das war immerhin etwas, aber es war nicht genug. Steve — das hätte jeder sein können, irgendein anderer Polizist zum Beispiel. Und wer immer es gewesen war, er musste nicht zwingend Pauls Betreuer gewesen sein.

»Oh!«, quiekte Sherry plötzlich. »Gerade ist mir noch was eingefallen. Neulich hab ich ihn noch in der Zeitung gesehen!« Annas Herz machte einen Sprung. Sherry schwang sich mit der Energie eines Cheerleaders von ihrem Barhocker und huschte hinter die Theke, während sie die ganze Zeit über weiterquasselte: »Normalerweise bekommen wir hier gar keine Zeitungen, da steht immer so viel Negatives drin! Aber ich hab’s zufällig gesehen, als ich in der Stadt war. Ich glaube, ich habe sogar den Artikel aufgehoben, in meiner Mappe!« Sie bückte sich und raschelte unter der Theke mit Papier. »Ich weiß genau, dass ich sie hier irgendwo habe. Ich hoffe bloß, dass niemand sie weggeworfen hat.« Sie warf der blauäugigen Bardame einen vorwurfsvollen Blick zu, die sich ihrerseits beleidigt abwandte, als ob sie so etwas tun würde! Anna beugte sich über die Bar und sah, dass Sherry eine durchsichtige Mappe mit aufgedruckten Kätzchenmotiven in rosa und hellblau hervorzog. »Da ist sie ja. Ich wusste doch, dass sie hier irgendwo sein muss!«

Sherry hüpfte um die Theke herum und hielt Anna den herausgerissenen Zeitungsartikel entgegen. »Da ist es. Den da meine ich«, trällerte sie, während sie den Artikel mit ihren langen, violetten Fingernägeln auf der Theke glatt strich. Das Foto zeigte Joe, es war kurz nach Bazookas Verhaftung aufgenommen worden. Der heldenhafte Joe, ein verdammter Verräter.

Anna starrt’e das Foto an. »Sind Sie sich auch ganz sicher?«, flüsterte sie.

»Oh ja, ganz sicher. Ich vergesse nie ein Gesicht. Stimmt’s, Sandy?«

»Ja, das stimmt!«, bestätigte die blauäugige Bardame mit mürrischem Blick.

___________

Auf dem Heimflug kam Anna wieder Bobby Thorpes Phrase in den Sinn: »Die Wahrheit wird euch befreien!« Was für ein Blödsinn, dachte sie. Die Wahrheit hatte sie gefesselt, geknebelt und lahm gelegt — die Wahrheit hatte ganz und gar nichts Befreiendes!

Teil VII

7. Teil

Denen Böses getan wird,

die tun wieder Böses.

W. H. Auden

35

James stand von seinem Computer auf und streckte sich, reckte die Arme empor, bis die Gelenke knackten. Er warf ein paar Scheite in den Kamin und sah zu, wie sie Feuer fingen. Der Dielenboden des Cottages knarrte unter seinen Füßen, während er zum Badezimmer ging. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, blickte in den Spiegel und fuhr sich durchs Haar. Es wies etliche graue Strähnen auf und lichtete sich an den Schläfen bereits. Verdammt, ich werde alt, stellte er erstaunt fest und war zugleich über sich selbst belustigt.

An diesem Tag freute er sich über die meisten Dinge.

Hier draußen in der wilden, ausgedehnten Ebene des Free State, einem Teil Südafrikas, den er vorher gar nicht gekannt hatte, war irgendetwas mit ihm geschehen. Seit fast einer Woche hielt er sich nun in diesem winzigen, weiß getünchten Häuschen versteckt. Sein einziger Kontakt mit der Außenwelt war Chris Rassool, der darauf bestanden hatte, dass James einmal am Tag im Büro anrief. Von diesen Gesprächen abgesehen war er allein, abgeschirmt vom Rest der Welt in einer ungewohnten, verwirrenden Stille.

James ging nach draußen und genoss die letzten Strahlen der Nachmittagssonne. Die Hügel waren von einem samtigen Braun, eingerahmt von goldenen Gräsern. Ein leichter Wind blies. Im Garten hörte man nur das Rascheln des Windes in den Blättern und das kehlige, auf- und abschwellende Gurren der Turteltauben.

Das Cottage gehörte Ilse McLeans Familie. Vor nahezu einer Woche, in jener schrecklichen, regnerischen Nacht in Johannesburg, hatte sie ihm die Schlüssel gegeben und hastig eine Wegbeschreibung hingekritzelt. Das Cottage war ein schlichtes, gedrungenes Bruchsteingebäude. An manchen Stellen des ziegelrot gestrichenen Dachs schaute das silberne Blech hervor. Drinnen war es kalt. Die Steinwände hielten das Haus so kühl wie einen Eisschrank. James musste sich ganz dicht ans Feuer setzen, um die Wärme überhaupt zu spüren.

Wie so viele Städte Südafrikas war auch Rosendal selbst Jahre nach dem Ende der Apartheid immer noch zweigeteilt durch die Hauptstraße, die mitten durch den Ort führte. Auf der rechten Seite lag die Township der Schwarzen, eine wirre Zusammenballung von Hütten, die von hohen starken Laternen erhellt wurde. Zur Linken befand sich die Siedlung der Weißen, kleine Steinhäuser auf großen Grundstücken, beherrscht von dem Turm einer riesigen Sandsteinkirche. Die Uhr an der Turmspitze war auf halb zwei stehen geblieben.

Der Ort war vor annähernd hundert Jahren eingeschlafen, als die Dorfältesten in vorausschauender Weisheit den Bau der Eisenbahnlinie durch das Dorf verhindert hatten, weil sie glaubten, dass die Bahn Chaos und Sünde über ihr friedvolles Dörfchen bringen würde. Auch ein Kino hatten sie Jahre später nicht erlaubt. Nun waren bloß noch die Alten und Schwachen zurückgeblieben.

Es war der ideale Platz, um sich zu verstecken.

Und es war der wohl merkwürdigste Platz, um zu der Erkenntnis zu gelangen, mit der James an diesem Morgen erwacht war. Möglicherweise war sie aus seinem Traum in den Wachzustand gesickert. James war sich nicht sicher. Auf jeden Fall hatte er plötzlich das starke Gefühl, mit einer langen Geschichte verbunden zu sein. Er war erwacht mit einem Bewusstsein für Menschen und Orte, die er für sich längst verloren geglaubt hatte. Ihm war, als sei er in ein Gewebe aus Erinnerungen gehüllt, als hätten sich all die Bruchstücke seiner selbst, die vorher über die ganze Welt verteilt Waren, wieder zusammengefügt zu einem Ganzen, einem Körper, der nun nicht mehr verletzt und zersplittert war. Und plötzlich wusste er, woran das lag. Er war endlich heimgekehrt. Er hatte großartige Erleuchtungen erwartet, eine Heimkehr mit Pauken und Trompeten, doch so war es nicht geschehen. Sein Nachhausekommen hatte sich in aller Stille vollzogen.

Und dieses Gefühl hatte ihn den ganzen Tag begleitet; selbst jetzt brandete es wieder in ihm auf, als er den dunkler werdenden Himmel betrachtete. Das Leben wird düsterer und schwerer, je älter man wird, dachte er. Er hatte immer geglaubt, dass es genau umgekehrt sein würde. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er nach einem schrecklichen Streit mit seinen Eltern in ihrer Küche in England gestanden hatte, grollend in die Kälte hinausgestarrt und die Zeit herbeigesehnt hatte, wo er nicht mehr dort festsitzen würde, wo er endlich in die Welt hinausziehen könne, erwachsen und bereit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Damals war ihm alles so klar und einfach vorgekommen. Doch das Leben in seiner geheimnisvollen Vielschichtigkeit barg auch Wunder, Wunder, die ihn immer wieder erstaunten und seine Neugierde weckten.

In Johannesburg hatte jemand versucht, ihn umzubringen. Es war Zufall, bloßes Glück gewesen, dass er überlebt hatte. Doch er lebte, und das war großartig.

Es spielte keine Rolle, dass er seine Geschichte auf Eis gelegt hatte. Es würde noch viele andere geben. Jetzt war er erst mal mit etwas viel Größerem, Wichtigerem beschäftigt. Es hatte damit zu tun, was aus ihm geworden war und wer er in seiner wieder entdeckten Heimat Südafrika sein wollte.

Jahrelang hatte er die Freiheit gehabt, an der Oberfläche der Dinge zu treiben, Orte und Menschen bloß von außen zu betrachten, aber jetzt konnte er das nicht mehr. Heimat brachte Verantwortung mit sich; Zugehörigkeit brachte Verpflichtungen. Ein Zuhause verlangte etwas von einem. Was, war ihm noch nicht klar. James wusste, dass es noch relativ einfach sein würde, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Den Mut zu haben, es dann auch umzusetzen — das war das Schwierige.

Doch dazu war noch Zeit. Jetzt gab es genügend Zeit für alles. Vielleicht sogar für ihn und Anna. Falls sie ihm eine Chance gab. Es war einfach, aus der Entfernung mit Menschen umzugehen. Für kurze Zeit in ihr Leben zu stürmen und ihren Schmerz oder ihre Triumphe für die Titelseite zu stehlen, wenn man einen Tag später schon über alle Berge war und sie hinter sich ließ. Anna hatte das nicht zugelassen; sie hatte ihn dazu gebracht, anzuhalten.

Eines würde er jedenfalls für sich selbst tun, wenn er diesen Schlamassel erst einmal hinter sich hatte: Er würde Anna anrufen und sie bitten, wenigstens mit ihm essen zu gehen. Was Alison betraf — diese Geschichte war vorbei. Lieber war er allein, als noch einmal den Schauplatz jener Katastrophe aufzusuchen.

Als James endlich hineinging, war es schon dunkel. Er legte noch mehr Scheite auf das Feuer, schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich in das inzwischen aufgewärmte Wohnzimmer. Er überlegte gerade, was er zum Abendbrot essen sollte, als er ein Auto vorbeifahren hörte. Dann hielt es an.

James stand auf und lauschte. Irgendjemand war am Tor; er konnte hören, wie der Riegel knarrte. Er griff nach oben und schaltete das Licht aus. Nun war er im Dunkeln, nur das Feuer gab noch etwas Licht. Es war vollkommen still, man hörte nur das Zirpen der Grillen und irgendwo weit entferntes Hundegebell.

Das war’s, dachte er. Jetzt haben sie mich. Eine eisige Ruhe dämpfte seine Angst und konzentrierte seine gesamte Wahrnehmung auf den Moment und auf die Fluchtmöglichkeiten, die ihm blieben.

Er holte die Taschenlampe aus der Küche und schlich sich leise durch die Hintertür. Langsam trat er in den Garten und tastete sich seinen Weg seitlich am Haus vorbei, bis er das Gartentor und die dunklen Umrisse des Autos davor im Blick hatte. Dann schaltete er die Taschenlampe ein und leuchtete den Garten ab.

Der Lichtstrahl fiel auf ein verängstigtes Gesicht, weit aufgerissene Augen und schützend erhobene Arme. »Anna?«

Sie blinzelte in das grelle Licht, ohne ihn erkennen zu können. »James?«, rief sie in Panik. Er senkte die Taschenlampe, ging zu ihr und ergriff ihren Arm, als wolle er sich vergewissern, dass sie es auch wirklich war.

36

Anna konnte ihrem Glück kaum trauen, als sie sich in einer hellen, gemütlichen Bauernküche mit James wiederfand. Er war immer noch verstört von ihrem überraschenden Auftauchen, aber wenigstens war er da. Und er war in Sicherheit. »Meine Güte, dieser Ort ist eine richtige Geisterstadt, im ganzen Dorf brennt kein einziges Licht«, sagte sie und stellte ihre Taschen auf den Küchentisch. Genau wie James hatte sie in der Eile, aus Johannesburg wegzukommen, nicht allzu viel eingepackt.

»Die Leute gehen hier früh schlafen.« James drehte den Schlüssel von innen um und schob einen dicken Riegel vor die blaue Tür. »Wie hast du mich gefunden?« Er sah sie misstrauisch an.

Während der langen, einsamen Autofahrt in den Free State hatte Anna ihn schon als ihren Retter vor sich gesehen, ihre Zuflucht. Aber nun kam ihr die Distanz zwischen ihnen ungeheuer groß vor. Erschöpfung überkam sie, und sie ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. »Was glaubst du denn?«, erwiderte sie sarkastisch und wollte locker erscheinen, doch es gelang ihr nicht ganz. »Ich habe jeden einzelnen deiner Bekannten aufgespürt. Und dann habe ich sie ausgequetscht, bis sie geredet haben!«

James lehnte sich an die Tür und kniff die Augen zusammen. »Ilse«, sagte er. Anna nickte. Natürlich hatte sie es von Ilse.

Anna war vom Flughafen direkt zu James’ Büro gefahren. Sie hatte zu viel Angst gehabt, nach Hause zu fahren, hatte weder aus noch ein gewusst aus Angst, dass Joe sie finden würde. Sie hatte James überall gesucht, in seinem Büro, zu Hause, in sämtlichen Bars in Melville. Und dann war ihr Ilse McLean eingefallen. Und, dem Himmel sei Dank, hatte sie Ilse in ihrem Büro beim SABC gleich gefunden.

James verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah müde, aber gut aus. Ein Dreitagebart zierte sein Kinn, und seine Kleider sahen aus, als ob er sie ebenso lange nicht mehr gewechselt hatte. »Bist du okay?«, fragte sie.

Endlich brachte er ein Lächeln zustande und nickte. »Ja, mir geht’s eigentlich prima. Und dir?«

Sie zitterte und zog ihre Jacke enger um sich. Aus irgendeinem Grunde brachte sie es nicht über sich, ihm in die Augen zu schauen. »Nicht so gut«, murmelte sie. »Ganz und gar nicht gut.« Sie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. Bisher hatte sie nicht geweint. Hatte niemandem davon erzählt. Stundenlang hatte sie das furchtbare Geheimnis für sich behalten, während es in ihr gärte und seine giftigen Fragen, Zweifel und Angste verbreitete.

James ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm, sanfter, als er es vor ein paar Minuten draußen getan hatte. »Warum setzen wir uns nicht rüber ans Feuer?«, schlug er vor. »Dort ist es wärmer.«

Sie ließ sich von ihm aufhelfen und ins Nachbarzimmer führen, wo ein Feuer brannte und ein warmes Sofa sie erwartete. James schenkte ihr ein Glas Wein ein. Nach ein paar Schlucken wurde ihr wärmer und sie wurde ruhiger. James lehnte am Kaminsims, den Rücken den Flammen zugewandt, und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich weiß, wer Pauls Betreuer war«, sagte sie schließlich.

James neigte den Kopf zur Seite und hob fragend die Augenbrauen. Anna fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Es war Joe.«

James erstarrte verblüfft. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er etwas erwiderte. »Oh, Anna. Das tut mir Leid.« Er setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Ihr Körper schien ganz starr vor Schmerz und mühsam zurückgehaltener Erschütterung. »Das tut mir furchtbar Leid«, murmelte er.

Dann erzählte sie ihm von der Reise nach Pietersburg, ihrem Besuch bei Sherry Nel und dem Zeitungsausschnitt. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, war Anna erschöpft, ihre Nerven lagen blank.

James schwieg und starrte ins Feuer. »Ich glaube, es war Joe, der auf mich geschossen hat«, sagte er schließlich.

Anna stieß ein merkwürdiges kehliges Lachen aus. »Das würde mich nicht wundern. Inzwischen überrascht mich gar nichts mehr.«

»Die Sache, die ich dir neulich abends nicht erzählen wollte«, sagte er langsam. »Das hatte mit Joe zu tun.«

Anna nickte schwach. »Das habe ich mir gedacht«, seufzte sie.

»Ich weiß zwar noch nicht genau wie, aber irgendwie sitzt er ziemlich dick bei den Angolanern drin, den Rivalen von Bazookas Gang. Ich bin mir ganz sicher. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass Joe sogar ihr Anführer sein könnte.«

Anna war zu müde, um ihn um weitere Ausführungen zu bitten. Und nach dem heutigen Tag hielt sie alles für möglich.

»Ich muss mit Frans Nel sprechen. Begleitest du mich?«

»Ja. Morgen?«

Anna nickte. »Ja, morgen. Komisch. Die ganze Zeit über hat er alle Antworten gehabt. Und ich wusste es, aber dann auch wieder nicht. Ich habe überhaupt nichts gewusst.«

James schenkte sich Wein nach. Er nahm einen großen Schluck, ehe er sprach. »Ich habe viel über dich nachgedacht, seit ich hier bin.«

Sie blickte auf. »Und was hast du gedacht?«

»Dass ich dich enttäuscht habe. Genau wie Paul. Und jetzt auch noch Joe.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine natürlich nicht im gleichen Ausmaß, aber ich wusste Dinge, von denen ich dir hätte erzählen sollen.«

Sie schüttelte den Kopf, die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, um ihm begreiflich zu machen, dass es schon in Ordnung war, dass es jetzt keine Rolle mehr spielte. Dann nahm er ihre Hand, legte sie auf sein Bein, strich ihr mit den Fingern über die Handfläche und verschränkte dann seine Finger in ihren. Und da wurde ihr bewusst, dass sie dabei war, sich in ihn zu verlieben.Es war eine erschreckende Erkenntnis. Liebe war möglicher Verlust, Angst vor dem Verlust, unvermeidlicher Verlust. Liebe war gleichbedeutend mit Verlust. Doch sie hatte gar keine Wahl. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken, verschmolz mit der Wärme seines Armes und schlief ein.

Gegen vier Uhr erwachte sie allein auf dem Sofa. Er hatte mehrere Decken über sie gebreitet und ihr ein Kissen unter den, Kopf geschoben. Sie lächelte und lauschte auf das Knarren der Dielen, das Zirpen der Grillen vor dem Haus und das Knacken der Holzscheite im Kamin und fühlte sich geborgen.

37

Bei Tagesanbruch verliessen sie Rosendal. In der Morgendämmerung sah Anna das Haus und das Dorf zum ersten Mal richtig. In den dicht bewachsenen Gärten blühten faustgroße Rosen und Butterblumen. Es war schön, aber an diesem Morgen erschien ihr alles wie eine Halluzination. Die Umrisse waren zu scharf, die Farben zu ungesund und das Licht zu grell.

Ein heftiger Windstoß zerrte an einer Reihe Pappeln, die an einem Grenzzaun wuchsen. Die leuchtend silbernen Blätter schimmerten wie Flitter in der warmen Frühlingssonne. Die Farben der Erde waren Gelb- und Orangetöne und ein blutiges Braunrot. In der Ferne ragten die lila verschleierten Berge Lesothos vor dem blauen Himmel auf.

Die Straße war in einem schlechten Zustand, übersät mit Schlaglöchern, wie schon das ausdrucksstarke afrikaanse Wort slaggaate auf den Schildern mahnte. Die Warnung schien auch auf den vor ihnen liegenden Tag zu passen. Bis nach Pietermaritzburg würden sie ein paar Stunden brauchen, und Anna hatte Sorge, dass Joe vor ihnen bei Nel sein würde und sie bei ihrer Ankunft bloß einen weiteren Leichnam vorfänden.

Sie wusste, dass es einen verheerenden Skandal geben würde, wenn herauskam, dass Joe ein Spion des Apartheid-Regimes gewesen war. Nicht bloß für ihn wäre es eine Katastrophe. Die Nachricht würde sich im Ministerium verbreiten und riesige Wellen schlagen. Sie würde die Menschen aus seinem Umfeld anrüchig erscheinen lassen und die Spannungen zwischen der alten und der neuen Garde innerhalb der Polizei noch weiter verstärken. Und was das Schlimmste war: Sie würde die Effizienz der Regierung im Kampf gegen das Verbrechen, vor allem gegen das organisierte Verbrechen, in Frage stellen. Für Joe wäre es das Ende einer glänzenden Karriere. Und das würde er keinesfalls hinnehmen.

Während sie sich Harrismith näherten, veränderte sich die Landschaft allmählich. Sie hatten die sanft gewellten Hügel und ausgedehnten braunen Ebenen des Free State hinter sich gelassen und fuhren um das obere Ende der Drakensberge. Riesige abgeflachte Mesas lagen majestätisch im Morgenlicht.

James warf Anna einen kurzen Blick zu, als sie an dem Hinweisschild für Maritzburg und Durban vorbeikamen. Sie lächelte ihn an und war wieder einmal verblüfft, wie gut er aussah. Er war unrasiert, müde, trug immer noch die gleiche Kleidung, in der sie ihn schon am Vorabend gesehen hatte, und roch nach Qualm vom Holzfeuer. Und trotzdem kam er ihr so vertraut vor. Sie konnte sich das auch nicht erklären.

Nun fuhren sie durch die üppige subtropische Landschaft Kwa Zulu Natals, vorbei an abgerundeten Hügeln mit saftig grüner Vegetation, durch tiefe Täler und über kurvenreiche, steile Pässe. Sie konnten die hohe Luftfeuchtigkeit spüren. In der Provinz Kwa Zulu hatten die Briten Architektur und Kultur unübersehbar geprägt. Pietermaritzburg war teils viktorianisch, teils modern und lag in einem Talkessel zwischen den Hügeln. Der britische Einfluss musste sich auch irgendwie auf das dortige Wetter ausgewirkt haben. Es war neblig und regnete ein bisschen, als sie gegen halb zehn in die Stadt kamen. Anna fiel es schwer, den Reiz nachzuvollziehen, den die Stadt für die Menschen hatte, die dort lebten oder studierten. Sie schwärmten immer von ihrer Stadt, doch Anna hatte nie verstanden, was sie daran fanden. Jedes Mal, wenn sie nach Pietermaritzburg kam, nieselte es.

Am Samstagmorgen war das Stadtzentrum ziemlich ruhig. Sie fuhren direkt zum Polizeihauptquartier auf der Loop Street. Es war zwar recht wahrscheinlich, dass der Mann, den sie für sich immer noch den Captain nannte, an einem Samstagmorgen zu Hause war, doch sie beschlossen, es zunächst in seinem Büro zu versuchen. Die Südafrikanische Polizei residierte in einem hässlichen modernen Gebäude, mehrere Stockwerke hoch und gesichert wie eine Festung. Sie hielten an einer Parkuhr. Anna hielt Ausschau, ob es irgendwelche Anzeichen gab, dass Joe schon aufgetaucht war, doch es gab keine. Bis jetzt jedenfalls.

»Bist du bereit?«, fragte James leise. Sie nickte. Dann holte sie tief Luft und gab sich einen Ruck. Raus aus dem Auto, über die Straße und ins Gebäude hinein. Annas Dienstausweis ebnete ihnen den Weg. Ein junger Beamter an der Rezeption sagte ihnen, sie hätten Glück. »Brigadier Nel ist gerade hochgegangen. Er müsste eigentlich in seinem Büro sein. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich weiß schon, wo das ist.«

Frans Nel saß hinter seinem Schreibtisch, einen Arm auf die Tischplatte gestützt, und blätterte einen in Manilapapier gebundenen Terminkalender durch. Aus der emporragenden Hand kräuselte sich Zigarettenrauch. Nel gab das Inbild zufriedener Behaglichkeit ab und hätte auch der Besitzer eines Nachtclubs oder eine kleine Berühmtheit sein können, so lässig und arrogant wirkte seine Haltung. Dann blickte er auf und sah Anna und James. Derart überrascht verzog er einen Moment lang missmutig das Gesicht, fing sich aber sehr schnell wieder. »Anna!«, strahlte er sie an. »Das ist ja eine Überraschung!« Hastig stand er auf und. stieß dabei gegen seinen Stuhl, der daraufhin gegen die Heizung krachte. Nel ignorierte das Geräusch und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen.

Anna lehnte es ab, ihm die Hand zu schütteln und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Wie geht es Ihnen, Brigadier?«, begrüßte sie ihn bissig. »Das ist James Kay, ein Journalist vom Sunday Chronicle

»Oh, freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Kay.« Er lächelte breit und ergriff James’ Hand. James gestattete ihm ein flüchtiges Händeschütteln. »Was für eine Überraschung!«, wiederholte Nel und blickte unruhig zwischen Anna und James hin und her.

»Wir wollten uns mit Ihnen über Joe unterhalten«, sagte Anna.

Nel erstarrte.

»Wir haben einen Zeugen, der bereit ist, eine Aussage über die Identität von Paul Lewis’ Betreuer zu machen.«

Nel brachte ein öliges kleines Lachen hervor. »Oh, das bezweifle ich, Anna.«

»Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an Sherry?«, erwiderte Anna scharf.

Und plötzlich wusste er, dass das Spiel vorbei war. Die Veränderung, die mit ihm vorging, war erschreckend. Er erinnerte an eine Plastikpuppe, die in einer Flamme schmilzt, eine Maske, die sich auf groteske Weise von einem Gesicht ablöst. Als er wieder sprach, war seine ganze aufgesetzte Herzlichkeit verschwunden und er klang müde. Resigniert.

»Warum gehen wir nicht raus und trinken gegenüber einen Tee?« Er blickte sich unbehaglich um, und Anna wurde klar, dass er in seinem Büro nicht reden wollte, dass ihnen dort möglicherweise jemand zuhören könnte. Es wäre besser, an einen neutralen, öffentlichen Ort zu gehen.

»Klar«, sagte Anna entgegenkommend. »Ein Tee wäre schön.«

Nel fingerte nervös mit den Schlüsseln herum, während er sein Büro abschloss. In angespanntem Schweigen fuhren sie mit dem Lift nach unten und überquerten die Straße zum Imperial Hotel, einem eleganten alten Gebäude, das zu den kolonialen Überbleibseln der Stadt gehörte. Sie setzten sich an die Bar im Erdgeschoss, die gleich neben dem glasüberdachten Atrium lag. In einer Ecke klimperte ein Pianist moderne Klassiker auf einem Stutzflügel. Ein Kellner in eleganter Uniform und blendend weißen Handschuhen erkundigte sich nach ihren Wünschen. Der Brigadier bestellte einen doppelten Brandy. Dann räusperte er sich, rieb die Hände aneinander und lächelte gequält. »Na, hier ist es doch schon ein bisschen gemütlicher.«

James holte sein Aufnahmegrät hervor, drückte auf die Aufnahmetaste und platzierte es auf der Bar. Nel starrte das Gerät an, während die Spulen sich drehten.

Der Brandy wurde gebracht, und er leerte ihn in einem Zug. Anna betrachtete seinen auf- und abhüpfenden Adamsapfel, während Nel Schluck für Schluck von dem brennenden Getränk trank. Sie fragte sich, ob er bei der Amnestieanhörung gelogen hatte, als er von seiner Abstinenz erzählt hatte. Oder ob er gerade eben wieder rückfällig geworden war. Er zündete sich eine Zigarette an und begegnete ihrem Blick. Seine Augen verengten sich zu düsteren Schlitzen. »Ich weiß, dass Sie mich hassen«, sagte er verbittert. »Aber ich bin nicht derjenige, welcher.«

»Wer war es dann?«, fragte sie mit fester Stimme.

Der Captain lachte bitter und bestellte noch einen Drink, wieder dasselbe. Offenbar war er verzweifelt entschlossen, der Situation ihre Schärfe zu nehmen. Auch diesen Brandy kippte er in einem Zug hinunter und begann dann mit seiner Geschichte.

»1987. Joe Dladla war damals Captain, genau wie ich, und er war Pauls Betreuer, wie Sie schon gesagt haben. Paul hat mit meiner Einheit zusammengearbeitet, aber unterstellt war er Joe. Fragen Sie mich nicht, wem Joe unterstellt war — ich glaube es waren die Leute von Sektion A, aber dass wusste ich nicht genau. So lief das damals. Jeder wusste nur das absolut Nötigste. Ich brauchte nicht zu wissen, wem Joe unterstellt war, deshalb erfuhr ich es auch nicht. Joe und ich hatten also genau genommen denselben Rang, abgesehen davon, dass ich normaler Sicherheitspolizist war, während Joe ein Agent war, ein Doppelagent. Das machte ihn bei diesem Einsatz zu meinem Vorgesetzten. Joe hatte den Einsatz geplant und gab die Befehle.«

»Welche Befehle?«, unterbrach Anna ihn.

»Lewis und Oliphant zu töten.«

Schweigen. Der Raum schien sich um sie zu drehen wie ein Kaleidoskop, eintrunkener Strudel von Farben. Nel zündete sich an der Zigarette, die er noch im Mund hatte, eine neue an. »So, jetzt haben Sie Ihre Wahrheit«, sagte er.

»Ja, jetzt habe ich meine Wahrheit«, wiederholte Anna.

Und die Wahrheit war schrecklicher und vertrauter, als sie wahrhaben wollte. Die Wahrheit war kein bitteres Körnchen, das man der Kommission gab, um es zu desinfizieren, zu versiegeln und für immer in den Mülleimer der Geschichte zu werfen. Die Wahrheit war ein stumpfer Spiegel, der den Schmutz zeigte, der an jedem hing, statt alle rein zu waschen und freizusprechen.

»Erzählen Sie mir, was damals passiert ist. In jener Nacht.«

Sein Blick war der eines leidenden Tieres.

»Wie ist Paul gestorben?«

Nel stützte den Kopf in die Hand, die brennende Zigarette hielt er zwischen den Fingern. »Wir fuhren nach Mafikeng voraus, vor Oliphant und Lewis, bloß Joe und ich. Wir checkten in einem Motel ein und warteten, genau wie ich es schon vorher erzählt habe. Ich hatte Angst. Ich hatte so etwas vorher noch nie gemacht. Und ich kannte Paul, er hatte uns zu Hause besucht, wir waren Freunde gewesen. Wir hatten unsere Auseinandersetzungen gehabt, aber meiner Meinung nach war das kein Grund ihn umzubringen.«

Nel nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Ich hatte an diesem Tag viel getrunken. Ich hatte ein paar Flaschen in meiner Tasche und versuchte, sie vor Joe zu verstecken. Ich weiß nicht, ob er es gemerkt hat oder nicht. Manchmal kann man schwer einschätzen, was er gerade denkt. Als wir das Hotel verließen, war ich jedenfalls vrot. Und damit meine ich wirklich total zu.«

Anna spürte, dass James Blick auf ihr ruhte, und war froh, dass er da war, auch wenn ihr alles so verzerrt vorkam wie in einem Fiebertraum. Einzelheiten stachen hervor, wie die dunklen Haare in den Nasenlöchern des Brigadiers oder der raue Klang seiner Stimme. »Joe ist gefahren, und wir haben die Zielpersonen auf der Straße nach Vryburg eingeholt und in entsprechendem Abstand verfolgt. Wir haben an einer ruhigen Stelle gewartet, ein abgelegenes Stück Straße, wo wir den Job erledigen konnten, ohne gestört zu werden. Ich wollte es nur schnell hinter mich bringen und schlug ein paar Stellen vor, ehe Joe sich eine passende Stelle aussuchte, um sie rauszuwinken.«

»Es war dunkel, es gab keine Straßenbeleuchtung. Paul saß am Steuer, als wir uns von hinten näherten, und sie haben versucht, zu entkommen, doch mit ihrem Auto hatten sie keine Chance. Wir konnten sie leicht einholen. Dann haben wir sie von der Straße abgedrängt.

Der Plan war, die beiden zu erschießen und die Leichen in ihrem Auto zu verbrennen. Nichts leichter als das. Das machte ich nicht zum ersten Mal, aber es war das erste Mal, dass es um jemanden ging, den ich gut kannte. Und plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen. Meine Beine wollten sich einfach nicht rühren, so betrunken und panisch war ich. Also stieg Joe aus und ging zu ihnen rüber. Ich kann mich noch erinnern, dass er seine Pistole gezogen hatte, eine Makarov, um eine falsche Spur zu hinterlassen. Ich muss Ihnen leider sagen, dass ich so betrunken war, dass ich mich kaum an die Einzelheiten erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass alles ziemlich schnell ging. Joe hat die Typen aus dem Auto geholt, mit erhobenen Händen, die ganze übliche Prozedur eben.« Nel veranschaulichte seinen Bericht, indem er die Hände hob, wie es Jacob und Paul getan haben mussten. »Ich glaube nicht, dass viel geredet wurde, so viel Zeit war gar nicht. Joe hat nicht lange gefackelt. An eine Sache kann ich mich noch erinnern: dass Oliphant gelacht hat — er schien gar nicht zu verstehen, was vorging, vielleichthat er das Ganze für einen Scherz gehalten.«

Anna schloss die Augen. Es fiel ihr nicht schwer, sich das vorzustellen. Die Bilder stellten sich so lebhaft ein, als sei sie selbst dabei gewesen und hätte Jacobs glucksendes Lachen gehört.

»Dann hat Joe ihm die Pistole in den Rücken gerammt, und er hat nicht mehr gelacht. Hat sie beide ins Gebüsch geführt und dann geschossen. Jacob ist zu Boden gegangen wie ein Sack Kartoffeln.« Anna sah Pauls Verblüffung und plötzliche Angst vor sich. »Paul hat nicht gelacht. Er war ganz still. Hab ihn noch nie so ruhig gesehen. Er kam mir in diesem Moment 2iemiich gefährlich vor. Ich hab mir fast in die Hosen geschissen. Joe hat die Makarov auf ihn gerichtet und wollte gerade wieder schießen, als Paul plotzlich auf ihn losgegangen ist. Als ich mich endlich aus dem Auto gequält hatte, wälzten sich die beiden auf dem Boden herum, und ich hatte wirklich keine Ahnung, wer wer war. Zwei Schüsse sind losgegangen, und sie haben immer noch gekämpft. Dann war Joe plötzlich auf ihm, hat die Pistole auf Pauls Brust gerichtet, noch ein Schuss knallte, und alles war vorbei.«

Anna stellte sich das Knäuel der beiden Körper vor; die beiden Männer, die sie so gut kannte, die einander so sehr gemocht hatten, in einem Kampf auf Leben und Tod. Blut, Schweiß und rasende Wut. Die Art von Wut, die tötet.

Sie schlug die Augen auf. Vor ihr saß Nel, der sich gerade noch einen doppelten Brandy genehmigte. Und James. Und irgendwo spielte das Klavier ein altbekanntes Stück. So lange hatte sie ganz dicht an der Wahrheit gelebt. Die Wahrheit war ihr immer undurchdringlich erschienen, und nun war sie plötzlich so einfach wie ein Treffen mit Frans Nel zum Tee im Imperial Hotel.

Natürlich war es ganz und gar nicht so einfach. Der Augenblick war gekommen. Wenn der Druck nur richtig abgemessen und an der richtigen Stelle eingesetzt wird, bricht das ganze Gebäude zusammen.

»Ist er gleich gestorben?«

Nel schüttelte den Kopf. »Es hat ein bisschen gedauert. Zehn Minuten vielleicht. Das konnte ich daran sehen, dass sich der Körper noch bewegt hat.«

Nels Tonfall wurde immer boshafter, je länger er sprach. Er spie ihr die Wahrheit entgegen und genoss es, ihr zu zeigen, dass sie Unrecht gehabt hatte. Nicht er war der Bösewicht. Er hatte nur die ganzen Jahre über die Schuld an Joes Stelle auf sich genommen. Er war der zu Unrecht Verdächtigte, der nun die Geschichte endlich richtig stellen konnte.

»Joe hat ein bisschen Benzin über den Tatort gegossen, aber nicht genug, um alles abzufackeln, gerade so, dass noch ein paar Fragen offen blieben. Dann ist er ins Auto gestiegen und hat uns nach Mafikeng zurückgefahren. Ich bin dann weggetreten und erst auf dem Motelparkplatz wieder aufgewacht. Joe war verschwunden.«

»Warum?«, fragte Anna, die Stimme so dünn wie eine Rasierklinge.

Nel starrte auf den Boden seines Glases. Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen, sein Gesicht sah schlimm aus. »Sehen Sie, Paul hatte sich verändert. Der ganze Kram, den er immer gefaselt hat, über den Kampf und die Freiheitsbewegung und so weiter, das ist ihm alles zu Kopf gestiegen. Der Grund für Pauls Fahrt nach Vryburg war, dass er sich dem ANC stellen wollte. Jacob hatte gar keine Ahnung, worum es ging. Er dachte bloß, dass sie auf einem ganz normalen Einsatz seien. Er hatte keine Ahnung, was auf sie zukam.«

Die Umrisse der Umgebung schienen wieder schärfer zu werden. Anna hatte die Augen weit aufgerissen, und zum ersten Mal während dieses Gesprächs hätte sie am liebsten geweint. Gerade als es für das Erstaunen keinen Platz mehr zu geben schien, erlebte sie noch eine Überraschung.

»Einer von den Obersten aus Lusaka war zu einem geheimen Besuch dort«, erklärte Nel. »Wir haben ihn natürlich die ganze Zeit beobachtet, aber — warum auch immer — die Polizeidirektion wollte nicht, dass wir ihn festnehmen. Paul wollte sich stellen und ihnen alles erzählen. Sie hätten ihn mit ins Ausland genommen, ihn ausgefragt und gegen uns eingesetzt. Das wollte Joe verhindern. Das wäre sein Ende als Doppelagent gewesen.« Wieder leerte Nel sein Glas. »Jacob Oliphant war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Endlich verstand Anna die Nachricht, die Paul ihr am Duschvorhang hinterlassen hatte: »Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.« Und seine Niedergeschlagenheit und die seltsame Erregtheit am Abend, bevor er losfuhr. Ein Teil von Paul hatte tatsächlich immer ihr gehört. Etwas von ihrem Vertrauen in ihn und in sich selbst war wiederhergestellt.

»Was ist während seiner letzten Untersuchungshaft passiert? Warum haben Sie ihn verhaftet?«

Nel schnippte Asche auf den Boden. »Als Tarnung. Und um ihn auszuquetschen. Wir wussten, was mit ihm los war. Wir hatten es schon eine ganze Weile kommen sehen.«

»Aber er hat mir eine Geschichte erzählt. Über einen Haftminenzünder?«

Nel schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Er verstand nicht, worauf sie anspielte.

»Er hat mir erzählt, dass Sie während eines Verhörs einen Haftminenzünder eingeschaltet haben, als eine Art Prüfung.«

Nel blickte sie missmutig an und schüttelte immer noch den Kopf: »Aber nein. Das war nicht bei Paul. Das war bei irgendeinem Inder. Ich hab Paul die Geschichte erzählt. Scheiße. Das war ein ganz junger Typ. Vom ANC-Militär. Wir hatten den Kerl damals auch gerade länger einsitzen. Mann, das war vielleicht ein verrückter Typ.«

Stück für Stück fiel an seinen Platz. Das Bild auf dem Puzzle wurde immer deutlicher. Während sie zuhörte, rieb Anna sich in einer unbewussten, zerstreuten Bewegung mit den Fingern über die Stirn. »Paul war zu dem Zeitpunkt in einem ziemlich miesen Zustand. Ich hab nicht geglaubt, dass er es noch viel länger machen würde, und das war mir nur recht. Das ist die Wahrheit. Wenn er sich bloß erhängt hätte oder aus dem Fenster gesprungen wäre…Es gab Tage, an denen ich mir das gewünscht habe.«

James durchbrach die Stille. Er sprach zum ersten Mal seit langer Zeit: »Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Joe Dladla Polizist geworden ist?« Die Kassette drehte sich.

Nel zuckte die Achseln. »Joe ist ein komplizierter Mensch. Das kann ich Ihnen auch nicht erklären. Ich hab ihn noch nie verstanden. Er spielt ein anderes Spiel als der Rest von uns. Aber im Kern habe ich ihn immer für eine guten Kerl gehalten. Er war ein tapferer Kämpfer. Furchtlos und ohne Skrupel. Als die Verhältnisse sich änderten, war er einer der ersten, der das gesehen hat. Er glaubt an das neue Südafrika. Er hat selbst mich davon überzeugt.«

»Hat er vorgeschlagen, dass Sie einen Amnestieantrag für die Morde stellen?«, fragte Anna.

Nel lachte bitter. »So kann man es auch formulieren«, schnaubte er. »Er wollte die ganze Geschichte unter Verschluss halten. Und Sie davon abbringen, weiter nachzuforschen. Mal ehrlich, die Leute von der Wahrheitskommission haben doch den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen — die wären doch bei ihren Nachforschungen nie zu was gekommen. Das Problem waren Sie

Nel war betrunken und wurde sich plötzlich dessen bewusst. Er stand auf und schwankte gefährlich hin und her. »Das ist also die Wahrheit. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, lallte er. Er torkelte, wurde blass im Gesicht, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn, dann übergab er sich. Ein brandyfarbener Schwall schoss aus seinem Mund und spritzte über die Bar und auf den Boden.

Und in diesem Moment erschien Joe auf der Bildfläche. Anna blickte auf und sah ihn im Atrium des Hotels stehen. Das Licht schien durch die Glaskuppel auf ihn herab. Nel hatte ihn ebenfalls entdeckt, und seine Knie gaben nach. Er schwankte ein bisschen zu weit nach vorn, dann ein bisschen zu weit nach hinten. James fing ihn auf und zerrte ihn, immer noch würgend und spuckend, in Richtung Toiletten.

Anna starrte hinab auf die stinkende, gallige Flüssigkeit, die ihr auf die Schuhe gespritzt War. Dann blickte sie Joe an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie fühlte sich durch ihn besudelt. Verseucht.

Er vermied ihren Blick, machte dann auf dem Absatz kehrt und schritt durch das Hotelfoyer nach draußen.

38

Anna stürzte aus dem Hotel. Bald hatte sie Joe auf der Straße eingeholt. Er machte gar keine Anstalten zu laufen, sondern schritt mit gesenktem Kopf dahin, die Hände in den Taschen vergraben. Sie rannte hinter ihm her und packte ihn so heftig am Arm, dass der Schwung sie beide herumriss. Endlich standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

In Gedanken hatte Anna immer wieder die Gegenüberstellung mit Pauls Mörder geprobt, allerdings einem Drehbuch folgend, zu dem diese Szene nicht passen wollte. Nichts stimmte. Wie sollte sie das Gefühl totaler Verwirrung beschreiben? Wenn man sie später danach fragte, konnte Anna es nicht in Worte fassen. Es bestand aus so vielen Gefühlen. Das Herz schlug ihr wie ein Hammer in der Brust, die ihr so eng vorkam, als müsse sie gleich platzen. In ihrem Kopf drehte sich alles, ein einziger Wirbel aus Farben und Geräuschen wie bei einer trunkenen Karussellfahrt auf dem Rummelplatz. Sie wollte es am liebsten nicht wissen, nicht wahrhaben. Dieses Wissen war wie eine Klinge, die sich ihr zwischen die Rippen bohrte. Von nun an war es ein Teil von ihr.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, war unfähig, auch nur den Mund zu öffnen. Sie stand bloß da auf dem Bürgersteig und starrte ihn zornig an. Passanten kamen an ihnen vorbeigeschlendert — Paare, Familien mit kleinen Kindern im Buggy, alte Damen mit ihren Einkaufstüten und eine Gruppe Schulkinder in ihren Uniformen.

Sie fragte sich, ob er sich auch nur annähernd vorstellen konnte, ob er überhaupt je darüber nachgedacht hatte, welchen Preis sie für seine Ziele gezahlt hatten — was immer diese Ziele gewesen waren. Den Preis, den sie, Rachel und die Kinder für ihn gezahlt hatten, von Paul und Jacob gar nicht zu reden.

Joe starrte sie wütend an. »Bist du jetzt zufrieden, Anna?« Sie schüttelte den Kopf. Tränen stiegen ihr in der Kehle empor, doch sie unterdrückte sie. Vor Joe würde sie keine Tränen zeigen. »Und du? Bist du zufrieden?«, gab sie seine Frage zurück.

Er schob trotzig das Kinn vor. Dann lachte er. Es klang schrecklich, ein Ausbruch von Selbstmitleid, Verbitterung und Zorn zugleich.

»Warum konntest du dich nicht einfach raushalten?«

Anna trat einen Schritt auf ihn zu, nahe genug, um den Ausdruck seiner Augen zu betrachten. Sie spürte das kalte Gewicht der Waffe in ihrer Jackentasche.

Joe hatte die Umrisse ebenfalls bemerkt und zuckte zurück. »Du willst eine Erklärung, oder? Du willst, dass ich dir sage, warum.«

»Wenn du meinst, dass du das kannst?«, fauchte sie ihn an, doch zugleich war da ein Funken Hoffnung. Eine Art verrückter Optimismus ließ sie wünschen, er sei in der Lage, alles zu erklären. Dass es eine glaubwürdige, logische Antwort gab und alles wieder in Ordnung käme.

Anna schob die Hand in die Jackentasche und umfasste die Beretta, weil sie sich an irgendetwas festhalten musste. Er sah ihre Bewegung und verstand. Oder glaubte es wenigstens.

»Und wie steht es mit deiner Schuld, Anna?«

»Meiner?«

»Du hast gesehen, was du sehen wolltest. Du hast gehört, was du hören wolltest. Ich habe dich nie angelogen. Kein einziges Mal.«

Anna schüttelte langsam den Kopf, während Joes niederträchtige Bemerkung sie traf wie ein Schrothagel. Ihr war klar, dass sie nur das gesehen hatte, was man ihr gezeigt hatte, was ihr angeboten wurde, dass sie die Täuschung nicht hatte sehen wollen. Aber wer zum Teufel hätte das schon?

»Das ist nicht die Art von Entschuldigung, die ich von dir erwarte, Joe. Das reicht einfach nicht«, sagte sie mit einer Stimme, die rau war wie Sandpapier. »Tu bloß nicht so, als ob du keine andere Wahl gehabt hättest.«

Er wollte etwas entgegnen und fuhr sich mit der Hand an den Kopf. Die Geste kam unerwartet. Ziellos rieb er sich über den glatten Schädel. Er blinzelte. Er hatte nichts zu sagen.

In diesem Augenblick hätte Anna ihn am liebsten umgebracht. Sie wollte ihn schlagen, verletzen, ihn brechen, demütigen und zu einem flehenden Bündel am Boden erniedrigen, genau wie es Paul gewesen war, bevor er ihm die dritte und letzte Kugel in den Körper gejagt hatte. In ihrer Fantasie fiel sie jaulend wie ein Tornado über ihn her und zerkratzte ihn mit den Fingernägeln.

Sie zog die Hand aus der Tasche und richtete die Beretta ruhig und fest auf ihn. Joe hob die Hände. Er sah nicht so aus, als ob er sich fürchtete; vielmehr als würde er sich in seine verdiente Rolle ergeben. Fast hätte sie gelacht, als ihr klar wurde, dass er genau das dachte. Es war so trivial, wie in einer Schmierenkomödie. Sie umfasste die Waffe mit beiden Händen und hob sie, bis sie auf Höhe seines Kopfes war, dann trat sie vor und stieß die kalte Mündung auf die Stelle zwischen seinen Augen. Zum zweiten Mal zuckte er zusammen. Kaum merklich, doch sie sah es. Die Angst und auch die Erleichterung.

Er schloss die Augen. Seine Wimpern zitterten, wie sie es so oft gesehen hatte, wenn sie nachts neben ihm gelegen hatte, zusammengerollt an seinen warmen Körper geschmiegt. »Glaubst du, dass du das verdienst hast, Joe?« Es war beinahe ein Flüstern. Er sagte nichts. Sie blickte dieses Gesicht an, sah seinen flehenden Ausdruck, die Schicksalsergebenheit und den verrückten Heroismus. Und da wurde ihr klar, dass er genau das wollte. Ihr Finger zuckte am Abzug, eine kleine Bewegung nur, aber sie zog nicht richtig. Sie wollte es nur erahnen, die Möglichkeit spüren erschießen würde sie ihn nicht.

Sie schob ihm die Pistole in die erhobene, offene Hand. Verwundert riss er die Augen auf, während er die Waffe ergriff. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie ihn überhaupt nicht gekannt hatte. Die schwarzen Augen, die sie anstarrten, gehörten einem Fremden. Sie wandte sich ab und ging zurück zum Hotel.

Sie war müde und hatte das dringende Bedürfnis, sich auf das große rote Sofa in der Rezeption fallen zu lassen. Wenn ihre Füße sie bloß dorthin trugen, wenn die Erschöpfung sie nicht vorher übermannte. Dann spürte sie, wie jemand sie umarmte und ihr Atem gegen eine warme Brust schlug.

James.

39

Rachel konnte nicht glauben, dass Anna ihn nicht umgebracht hatte. Sie wünschte ihm den Tod. Sie lag in ihrem Bett, aus dem sie nicht mehr aufgestanden war, seit Anna sie angerufen und ihr von Joe erzählt hatte. Ihre Jungen waren bei ihr. Temba ging still ein und aus und brachte Tabletts mit Tee und tröstenden Leckereien. Anna saß mitten zwischen den Decken und Kissen, während Rachel sich schluchzend an ihre Söhne klammerte. »Sie sollen erfahren, was ihr Onkel Joe ihrem Vater angetan hat! Er soll wissen, was er ihnen angetan hat. Der Scheißkerl muss es erfahren!«

Auch Anna weinte; heiße stille Tränen liefen ihr über die Wangen. Joe war verschwunden. Sein Telefon war abgeschaltet, er war nicht in seinem Apartment und war auch in seinem Büro nicht mehr aufgetaucht. Rachel hatte ihn überall gesucht, ihre Söhne im Schlepptau. Heulend und tobend hatte sie an seine Tür gehämmert. Doch er hatte sich aus dem Staub gemacht. »Vielleicht tut er uns den Gefallen und bringt sich selbst um!«, heulte sie. Doch Anna schüttelte den Kopf, sie glaubte das nicht. Joe war nicht der Typ, der Selbstmord beging.

Willem Swanepoel schockierte die Nachricht von Joes Verrat noch mehr, als es Pauls Verrat getan hatte. Er brauchte einige Zeit, bis er sich wieder gefangen hatte. »Also kehrt wieder einmal die Vergangenheit zurück, um die Gegenwart zu zerstören«, sagte er langsam.

Später kam er vorbei,um mit ihnen zu reden und mögliche rechtliche Schritte gegen Joe durchzusprechen. Joe hatte nicht um Amnestie für die Morde an der Mafikeng Road ersucht, und die Frist für einen Amnestieantrag war längst verstrichen. Sie könnten also gerichtlich gegen ihn vorgehen. Willem fand, dass man anhand dieses Falls ein wichtiges politisches und juristisches Exempel statuieren solle. Doch Anna scheute vor der Vorstellung zurück, einen Gerichtsfall daraus zu machen und den ganzen Schmerz noch einmal durchleben zu müssen. Rachel wollte bloß Rache. Sie wollte, dass Joe genauso litt wie sie.

Alle drei verspürten das übermächtige Verlangen, jemandem die Schuld zuzuweisen. Es musste einfach einen Grund geben, irgendetwas, das sie als eindeutige, unwiderlegbare Ursache betrachten konnten. Aber natürlich gab es in Wirklichkeit nichts dergleichen. Also ließen sie den Gedanken an einen Prozess gegen Joe wieder fallen.

Rachel wütete über die Ungerechtigkeit des Ganzen. »Hilft es dir etwa, jetzt die Wahrheit zu kennen?«, schniefte sie in ihr Papiertaschentuch und blickte Anna anklagend an. Ihre Augen waren geschwollen und rotgerändert.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anna und starrte auf die buntgeblümte Bettdecke herab. »Wenigstens gibt es jetzt keine Schatten aus der Vergangenheit mehr.«

Rachel schnaubte: »Das kannst du wohl sagen!«

»Ich weiß bloß, dass ich in der Gegenwart leben will. Ich werde mich nur noch mit der Wirklichkeit zufrieden geben.«

»Woher willst du wissen, was wirklich ist und was nicht?«

Anna lächelte trocken. »Darüber will ich jetzt nachdenken. Ziemlich viel sogar.«

Und endlich lachte Rachel. Ein bisschen nur, aber es war eindeutig ein Lachen. Und es war Brams Bemerkung, die sie schließlich dazu brachte, wieder aufzustehen. »Daddy ist tot, aber er ist trotzdem ein Held. Und du hast uns, und wir alle haben jetzt Temba.« Rachel betrachtete ihren Sohn, und wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Dann küsste sie ihn auf die Stirn und setzte sich auf. »Ich sollte mich jetzt lieber mal ums Abendessen kümmern«, meinte sie und kämpfte sich unter dem Berg von Decken hervor.

Anna stand mit ihr am Rand des Gartens und blickte über die Stadt. Wie hatte Pauls Stimme geklungen?, fragte Anna sich. Wie Kies? Glas? Eis? Wasser? Wind? Musik? Anna hatte ihn verloren, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber wenigstens kannte sie ihn jetzt wirklich.

Sie wusste, dass seine letzte Haft seinen Loyalitätskonflikt aufgebrochen hatte. Seine zerrissene Persönlichkeit gesprengt und in ein Niemandsland geworfen hatte, mit der Sehnsucht, endlich auf der richtigen Seite zu stehen. Wenigstens hatte er am Ende gewusst, welches die richtige Seite war.

Anna hakte sich bei Rachel unter. Der Augenblick war schwer von Erinnerungen, doch es gab auch eine Ahnung von der Zukunft. »Weißt du«, sagte sie, »ich bin so aufgeregt, ich weiß gar nicht, woher das Gefühl kommt, aber es platzt förmlich aus mir heraus.«

Rachel blickte ihrer Freundin in dieAugen. »Das ist die Zukunft.« Ja, es war ihre Zukunft. Sie hatte sie für sich wiederhergestellt.

Die Sterne gingen auf. Und da war es, das Kreuz des Südens mit seinen vier hellen Sternen und der deutlich erkennbaren Staubwolke in der Mitte. Der Kohlensack.

___________

Der nächste Tag war ein Samstag. Anna schlenderte die Seventh Street entlang und genoss den Frühlingsmorgen mit seinem Müßiggang. Als sie an einem Blumengeschäft vorbeikam, traf sie der weiche, süße Duft von Rosen, und sie trat ein und kaufte sich einen dicken Strauß der prachtvollsten Blüten. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Blumen im Haus gehabt hatte.

Anna war gerade dabei, an der Spüle mehrere Vasen zu füllen, und freute sich an dem Duft und den Farben der Rosen, als es an der Tür klingelte. Sie erwartete niemanden und war eigentlich nicht in der Stimmung für Gespräche, doch nachdem sie kurz mit sich gerungen hatte, öffnete sie doch.

Es war James. Sie lächelte und lehnte sich an den Türpfosten. Er sagte nichts, sondern legte nur die Arme um sie, zärtlich wie ein Geliebter. Ihr Körper fühlte sich an wie eine Blüte, die sich der Sonne öffnet, zerbrechlich und verletzlich, aber stürmisch geliebt.

James näherte sich ihrem Gesicht, als wolle er sie küssen, aber Anna hielt ihn auf und legte ihm die Finger auf den Mund. »Hey, ich bin ganz aus der Übung, was das Küssen anbelangt«, murmelte sie atemlos.

James lachte und kniff dabei die Augen ein bisschen zusammen. »Kein Problem«, meinte er, nahm ihre Hände, spielte mit ihren Fingern und drehte sie dann herum und strich über ihre Handflächen. »Diese Woche habe ich ein ganz besonderes Angebot: Fünfzig Prozent Preisnachlass auf ›Küssen für Anfänger‹, aber du musst sofort anfangen.« Anna blickte ihre Hände an, die sich in seinen öffneten und schlossen. Sie konnte die Wärme seines Blicks spüren.

»Erst musst du mich anschauen«, fuhr er mit leiser Stimme fort.

Sie blickte ihn an.

»Dann bewegen sich unsere Gesichter aufeinander zu.« Er sprach jetzt sanft und ohne eine Spur von Ironie. Anna hielt den Atem an.

»Dann berühren sich unsere Nasen.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, während er seine Nase an ihrer rieb, ein wunderbar samtiges Gefühl. Sein Mund stand ein Stückchen offen, ein bisschen näher noch, und sie konnte seinen Atem auf der Haut spüren; Seine Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln und er sagte: »Siehst du, das Entscheidende ist der Moment, ehe sich die Lippen berühren.«

Und sie lächelte, und ihre Lippen berührten sich, zuerst nur ganz leicht, dann fester und leidenschaftlicher, bis sie ganz ineinander aufgingen.

Teil VIII

8. Teil

Was bisher geschah, nur Vorspiel ist.

William Shakespeare

40

Der Frühling war gekommen, und in der ganzen Stadt blühten die Jakarandabäume. Aus der Ferne sahen sie aus wie indigoblaue Wolken, von nahem wölbten sie sich über einem wie ein märchenhaft blauer Himmel. Der Londoner Oktober setzt die Bäume in Flammen, doch in Johannesburg bekommen sie einen ganz anderen Farbton und tauchen die Stadt in das Blau unendlicher Weite. Die Straßen Melvilles waren übersät mit blau-violetten Blüten.

In dieser Woche stand der Meteorologe im Fernsehwetterbericht vor einer Karte, die ganz rot, orange und gelb war und die Isothermen zeigte, die sich über das Land bewegten. Im Radio wurde vor gefährlich hohen Temperaturen gewarnt. Das ganze Land wurde von einer Hitzewelle heimgesucht und flüchtete sich hechelnd in den Schatten.

James schleppte sichschwitzend ins Büro und wünschte sich sehnlichst eine Klimaanlage, doch einen derartigen Luxus gab es beim Sunday Chronicle nicht. Er konnte froh sein, wenn es ihm gelang, einen der alten Ventilatoren zu ergattern, die in mehr oder minder reparaturbedürftigem Zustand herumstanden.

»James!«, kreischte jemand seinen Namen, während er sich gerade einen Weg durch die Redaktion bahnte. Er drehte sich um und sah Ilse McLean auf sich zu stürmen. »Wie geht’s, Schätzchen?«, rief sie ihm zu.

Er lachte verlegen, als sie an ihm hochsprang und ihn umarmte. »Prima, mir geht’s prima. Aber du siehst einfach großartig aus.« Sie sah wirklich gut aus. Sie hatte ein bisschen zugenommen, und ihreJ Wangen hatten eine gesunde Farbe, die ausnahmsweise nicht aus einer Rouge-Dose stammte.

»Ich bin zu einem Vorstellungsgespräch hier.« James sah sie überrascht an. »Ich hab die Wahrheitskommission sausen lassen. Konnte es einfach nicht mehr ertragen. Ich muss mich woandershin weiterentwickeln«, meinte sie lächelnd.

Chris Rassool tauchte hinter ihr auf. »Morgen, James«, grüßte er augenzwinkernd und wandte sich dann Ilse zu. »Warum bringen wir’s nicht auf die zivilisierte Art hinter uns und gehen einen Kaffee trinken?«, fragte er und strahlte sie an.

James setzte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete den Haufen Kram, der sich darauf gesammelt hatte. Höchste Zeit für ein Großreinemachen. Als Erstes rief er Alison an. Sie klang, als ob es ihr besser ging, doch sie nahm es immer noch schwer. Es tat ihm für sie Leid, aber er war sich inzwischen sicher, dass sie nicht zueinander passten. Wahrscheinlich hatten sie das schon die ganze Zeit nicht getan.

»Du hörst dich so verändert an«, stellte sie fest. »Richtig glücklich.«

»Ja. Das bin ich wohl auch.« Und wirklich war James über seine Beziehung zu Anna in Hochstimmung. Es kribbelte ihn regelrecht von dem köstlichen Schock, sie zu treffen und mit ihr zusammen zu sein. Er spürte eine Verbundenheit mit ihr, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Es machte ihm ein bisschen Angst, gehörte jedoch irgendwie zu dem Rausch, mit ihr zusammen zu sein. Er liebte Anna wegen ihrer Offenheit, ihrer Integrität, ihrer Sanftheit und Unschuld — wegen der Stärke und der Verletzlichkeit, die in einer so unverfälschten Mischung nebeneinander bestanden. Vor allem aber liebte er sie dafür, dass sie sich ihm selbst so entschlossen und stürmisch als Geschenk gab.

Er griff gerade zum Telefon, um sie anzurufen und ihr das zu sagen, als Chris’ Sekretärin den Kopf in seine Bürokabine steckte. Sie knallte eine rosafarbene Telefonnotiz auf seinen Tisch. »Chris meint, du musst das erledigen. Er ist beschäftigt.« James grinste; das kann ich mir vorstellen.

In Hillbrow war eine Leiche gefunden worden. Der dringliche Ton der Notiz ließ erahnen, dass es sich um eine bekannte Persönlichkeit handelte. James schnappte sich Guy Donaldson aus der Bildredaktion, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.

Während sie auf die Absperrung am äußersten Ende der Banket Street zugingen, überfiel James eine böse Vorahnung. Er fiel in Laufschritt und drängte sichan den Polizisten und Schaulustigen vorbei zum Tatort. Die blutüberströmte Leiche lag auf einem Müllhaufen, die Arme über dem Kopf verschränkt und die Beine zur Brust angezogen, als habe sich der Mann in den letzten Sekunden seines Lebens schützend zusammengerollt.

Es war Joe Dladla.

Getötet durch einen einzigen Schuss in den Hinterkopf. Er war hingerichtet worden. Wenn es der jungen Demokratie schon nicht gelungen war, die Korruption zu beseitigen, so verfügte wenigstens die Welt der Kriminellen, aus der Joe kam, über eine Art von Gerechtigkeit. Zu guter Letzt hatte sie ihn wieder in ihre blutige Umarmung aufgenommen und ihn so einfach und brutal bestraft, wie es angemessen schien.

41

Anna träumte wieder von Paul. Es war ihr alter Traum. Wie immer waren sie einander auf See begegnet, in einem Sturm, derso heftig war, dass Anna kaum mehr zwischen Wasser und Luft unterscheiden konnte. Er wartete auf sie auf einem größeren Schiff, das Anna trotz der hohen Wellen ohne Schwierigkeiten besteigen konnte. Wieder saß er auf demselben Stuhl, eingewickelt in denselben alten Schlafsack, den er zu Boden gleiten ließ, als er aufstand, um sie zu begrüßen. Diesmal umarmten sie einander jedoch nicht; sondern blieben eine Armlänge voneinander entfernt in der schwankenden Kajüte stehen.

»Es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache«, sagte er.

Anna nickte; sie wusste es schon. Das würde ihr endgültiger Abschied sein.

»Es tut mir Leid, Anna. Ich habe dich enttäuscht. Ich habe uns alle enttäuscht.«

»Letzten Endes hast du nur dich selbst verraten.« Unter Tränen kämpfte sie mit den Worten. »Ich liebe dich, Paul. Ich werde dich immer lieben«, sagte sie.

Dann kam jemand und führte ihn weg.

Weinend wachte Anna auf und war sich sicher, dass sie nie wieder von ihm träumen würde. Sie fühlte sich wie das Opfer eines Verkehrsunfalls, das im Krankenhaus wieder zu sich kommt. Verwirrt und mit schmerzenden Knochen, aber noch am Leben. Es war vorbei. Sie ging ins Badezimmer, setzte sich auf die Badematte und weinte, bis keine Tränen mehr kommen wollten. Dann stellte sie sich lange unter die heiße Dusche, und ihre Haut fühlte sich unter den Wasserstrahlen wieder an wie neugeboren.

___________

Es war der Tag, an dem Joe beerdigt werden sollte. James schlief noch, das Gesicht in ihre Matratze gedrückt. Anna zog sich das dunkle Leinenkleid an, das sie sich für diesen Anlass gekauft hatte, und kochte Kaffee.

James fand sie im Wohnzimmer, wo sie nachdenklich in den Garten hinausstarrte. »Heißt das jetzt, dass alles umsonst war?«, fragte sie traurig. »Dass ’es tatsächlich gar keinen Unterschied zwischen denen und uns gab?«

»Natürlich nicht!«, wies James sie entschieden zurecht. »Nimm doch zum Beispiel deinen Minister, nimm dich. Es gab gute Menschen, die gekämpft haben, weil sie an die Gerechtigkeit geglaubt haben, und nicht, weil sie Macht wollten oder was immer es war, das Joe gewollt hat.« Anna wusste das, und dennoch fühlte sie sich verseucht von den Lügen, die sie so lange umgeben hatten. »Die Guten sind immer schon von den Bösen unterwandert und korrumpiert worden«, fuhr James fort. »Das war immer so und wird wohl auch immer so bleiben. Und es ist wichtig, das nicht aus den Augen zu verlieren.« Er legte den Arm um sie. »Vielleicht heute noch wichtiger als früher, weil es Menschen wie du sind, die die Korrupten und Bestechlichen bezwingen, denn sonst ist der Kampf wirklich verloren. Diese Schlachten sind so alt wie die Zeit, sie hören nie auf.« Sie nickte. Sie wusste, dass er Recht hatte, war aber trotzdem traurig. Er nahm ihr die leere Kaffeetasse ab, stellte sie auf die Fensterbank und führte sie zum Bett zurück.

James liebte ihren ganzen Körper, sein Mund und seine Finger erforschten, berührten, liebkosten jede Faser ihres Seins. Er liebte sie mit offenen Augen, manchmal lächelnd, manchmal ernst, aber immer ganz selbstvergessen.

Hinterher suchte Anna ihr Kleid und fand es zusammengeknäuelt auf dem Boden wieder. James nahm es ihr aus der Hand und breitete es über das Bügelbrett, das am Fenster stand.

»Was machst du denn da?«, rief sie.

»Wonach sieht es denn aus?«, fragte er grinsend.

Anna setzte sich in Unterwäsche auf den Bettrand und erwiderte sein Grinsen. »Ich glaub’s nicht! Nun kann mich nichts mehr erschüttern! Ein Mann, noch dazu ein weißer Mann, der mir mein Kleid bügelt!«

James war sorgfältig, effizient und völlig vertieft in seine Arbeit, Während er nackt am Bügelbrett stand. An der Hingabe, mit der er bügelte, war etwas, das sie zutiefst rührte. Als er fertig war, brachte er ihr das frisch gebügelte Kleid, half ihr hinein und schloss vorsichtig den langen Reißverschluss am Rücken.

Er hätte sie am liebsten gar nicht gehen lassen, doch es gelang ihr, sich loszureißen und ins Auto zu steigen. Sie kurbelte das Fenster hinunter, damit sie ihn noch einmal küssen konnte. »Meinst du, du schaffst das?«, fragte er besorgt. Sie nickte, obwohl sie sich selbst gar nicht sicher war. Dann fuhr sie los, sein Duft hing ihr immer noch in der Nase.

Willem und Rika Swanepoel standen Hand in Hand am Grab. Anna stand ein Stück entfernt von ihnen und der kleinen Gruppe Polizisten, die gekommen waren. Rachel hatte sich geweigert zu kommen. Sie wollte ihm nicht noch die Ehre einer ordentlichen Beerdigung erweisen. Es war nicht so, wie Joe es gewollt hätte, doch schließlich war nichts so geworden, wie er es geplant hatte.

Vielleicht soll das ja die Lehre sein, dachte Anna. Vielleicht ist die furchtbare Lektion des Lebens ja, dass es, von der Zeit der Jugend einmal abgesehen, in der man sich stark und unbezwingbar fühlt, nur verstreute Momente des Glücks gibt, die immer wieder unterbrochen werden von Zeiten, in denen man auf die Schläge reagiert, die das Leben ohne Vorwarnung und mit Hingabe verteilt.

Joe würde ihr immer ein Rätsel bleiben, und damit konnte Anna sich am wenigsten abfinden. Richtig und Falsch, Handlung und Folge, Logik, Naturwissenschaft oder Psychologie — angesichts seiner Taten versagten alle Erklärungsversuche. Sie musste einfach loslassen.

Sie stand in der brütenden Mittagshitze und starrte in den Staub, während der Pfarrer die Worte sprach, die Joe zur letzten Ruhe betteten.

»Erde zu Erde«, intonierte er unter seinem großen schwarzen Schirm hervor.

»Staub zu Staub«, flüsterte Anna.

Am Horizont ballten sich Gewitterwolken zusammen. Der Sturm, der am Nachmittag losbrach, war herrlich. Die Luft war feucht, das Licht hart wie Stahl. Der Himmel war überzogen mit leuchtend goldgelben Wolken, die vor einem Blau leuchteten, das die Farbe von flachem Wasser auf weißem Sand hatte. Anna fuhr erst durch die Hitze, dann durch den jäh einsetzenden Regen und die krachenden Blitzschläge. Als der Sturm vorüber war, der Staub sich wieder gesetzt hatte und der Himmel aufgeklart war, roch die Welt wie neu.

Anna schloss James’ Gartentür auf und betrat das Haus.

Sie fand ihn allein im Wohnzimmer, ausgestreckt auf dem Sofa, mit einem Buch in der Hand. Er legte es zur Seite und lächelte. Ein ernsthaftes Lächeln. Sie ging zu ihm, und er griff nach ihrer Hand und küsste sie.

»Ich liebe dich …«, sagte er.

Anna zuckte zusammen und wollte die Hand zurückziehen, doch er hielt sie fest.

»… in diesem Kleid«, beendete er den Satz und grinste verschmitzt.

Dann setzte er sich auf und legte die Arme um sie. Sie lehnte sich an ihn, schloss die Augen und fühlte seinen Atem auf der Wange.

»Und weißt du, warum ich dieses Kleid liebe?«, flüsterte er.

Das Gesicht an seinen Hals gepresst, schüttelte sie den Kopf. »Warum?«, murmelte sie.

»Weil es leicht zu bügeln ist.«

Glossar

Kalaschnikow, halbautomatisches Sturmgewehr

African National Congress; Befreiungsbewegung, die 1912 gegründet, 1960 verboten und am 2. Februar 1990 wieder zugelassen wurde; älteste politische Partei in Südafrika, die nach den ersten gemischtrassigen demokratischen Wahlen im April 1994 an die Macht kam

(Afrikaans: »Trennung«) offizielle Regierungspolitik von 1948 bis 1990, die für Rassentrennung auf allen Gesellschaftsebenen eintrat

kleiner Geländewagen, Pick-up

deftig gewürzte Brat- bzw. Grillwurst aus Rind- und Schweinefleisch

Bock/Antilope — gebräuchliches Kosewort.

Grillabend, Barbecue

beliebte südafrikanische Biermarke

Marihuana

stur, störrisch

zentrale Hochlandebene, auf der auch Johannesburg liegt

Halbwüste in Südafrika

Pistole aus dem Ostblock, vielfach von den Befreiungsbewegungen in Afrika benutzt, die während des kalten Krieges von Ostblockstaaten unterstützt wurden

starkes Beruhigungsmittel

kleiner Berg

siehe Umkhonto we Sizwe

südafrikanische Fast-Food-Kette

Panafrikanischer Kongress; 1959 durch eine Splittergruppe des ANC gegründet

wörtlich: Sonnenkäfer; eine Zikadenart, die einen hohen, sirrenden Ton von sich gibt, besonders, wenn es heiß ist

Riemenpeitsche, als Folterinstrument eingesetzt

südafrikanische Fast-Food-Kette

typisches südafrikanisches Gericht; fester Brei aus Maismehl, ähnlich einer Polenta, der üblicherweise mit der Hand gegessen wird

demonstrative Aufzüge, bei denen in Formation zu Sprechchören auf der Stelle getanzt wird; Solidaritäts- und Protestkundgebung

wörtlich: Speer der Nation; bewaffneter Flügel des ANC, häufig als MK abgekürzt

faul, verdorben — hier: sturzbesoffen

Mein Dank gilt

David Ferreira — für alles.

Ed Victor, Rosie de Courcy und Kirsty Fowkes dafür, dass sie daran geglaubt haben, dass dieses Buch eines Tages fertig wird.

Meiner Familie. Vor allem meinen Eltern, Ken und Barbara Follett und meiner Schwester Kim Turner, Pamela Louw und Foszia Turner-Stylianou.

David Jammy und Harriet Gavshon, die mir so großzügig ihre Räumlichkeiten und ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben.

Elize Viljoen für Rosendal.

Fink Haysom, Wim Trengove, Mark Wale, Antony Altbeker, Anton Harber, Howard Varney, Dipak Patel und Janine Rauch für ihr Fachwissen und die endlose Geduld, die sie mit meinen Fragen hatten.

Eugene de Kock und Schalk Hugo dafür, dass sie einer Schriftstellerin Vertrauen entgegengebracht haben.

Barbara van der Want.

Meinen Kollegen vom Truth Commission Special Report: Max Du Preez, Gael Reagon, Shenid Bayhroo, Benny Motau, Hanné Koster, René Schebie, Linky und Bronwen und Jacques Pauw.

Und meinen Freundinnen für ihre Zuneigung, ihr Verständnis und die unglaubliche Unterstützung; mein besonderer Dank gilt Nantie Steyn, Sarah Forster, Gillian Kettaneh, Lauren Segal, Nicola Galombik, Anne-Marie Casey, Katty Kay, Solveig Piper, Kim Barlin, Justine O’Reilly, Lesley Cowling, Joanne Ri chards, Tanya Yudelmann-Bloch, Sophie Balhetchet, Nicola White, Laura Fraser, Tanja Hagen und Leslee Durr.

Kenneth Nkosi, Rapulana Seiphemo, Darrel Bristow-Bovey, Duncan Cremer, Craig Harwood, Shaun de Waal, Jim Flint, Robbie Thorpe, Guy Tillim, Barry Streek und Johnny Copelyn.

Und schließlich Drue Heinz, Amy Norton und Margaret, Jean und Kerry vom Hawthornden Castle International Writers’ Retreat für die Ruhe und Abgeschiedenheit, in der ich mein Buch zu Ende bringen konnte.

1Deutsche Übersetzung von Ute Leibmann (2006)