/ Language: Deutsch / Genre:thriller

Gorki-Park

Martin Cruz-Smith


Gorki-Park

Martin Cruz-Smith

1981

1

Nahezu alles an diesem Roman ist unvergleichbar. Die absolut außergeöhnlichen Orte seiner Handlung, deren Fäden sich von der Moskauer Unterwelt bis in den Westen spannen; die Akteure, deren unverwechselbarar Charaktere der Autor mit ingeniöser Meisterschaft lebendig macht; eine Atmosphäre, deren Dichte den Leser auf bisher nicht gekannte Weise in Bann schlägt. Und last not least — die Tatsaceh, daß es zum erstenmal die Literaturkritik ist, die einen Roman einhellig an die Spitze der Bestsellerlisten getragen hat.

Die herausragenden Eigenschaften dieses Romans kulminieren in der Gestalt eines ganz neuen Typs von Helden. Arkadi Renko, Kriminalkommissar der Moskauer Polizei, unglücklich verheiratet und zugleich mit einer anderen Frau gefährlich liiert, ist ebenso fähig wie ehrgeizlos; ein Mann mit Ecken und Kanten, Außenseiter seiner Gesellschaft und fintenreich-listiger Spurenjäger. Als er dann eines Tages vor den Leichen zweier Männer und einer Frau im Schnee des Gorki-Parks steht, ahnt er nicht, daß dieser Fall ihn schlicht zu zermalmen droht.

Denn die Witterung, die er an diesem malerischen Tatort aufnimmt, treibt ihn nicht nur zwischen die Mühlsteine des KGB, der seine internationalen Machenschaften vorantreibt, sie lockt ihn auch auf die Fährte eines mysteriösen, in fragwürdige Ost-West-Geschäfte mit Menschen und Waren verwickelten Amerikaners, der in dem »klassenlosen« Staat offenbar Hebel und Dunkelmänner so in Bewegung setzen kann, daß die Folgen aberwitzig werden…Arkadi versteht seine Welt nicht mehr, und das macht ihn unberechenbar und gefährlich…

Inhaltsverzeichnis

I  Moskau

1

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II  Schatura

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III  New York

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Teil I

Moskau

1

Der Einsatzwagen ruckte, wühlte sich fest und blieb in einer Schneewehe stecken. Die Mordkommission stieg aus: uniformierte Beamte in Lammfellmänteln, die sich mit ihren kurzen Armen und niedrigen Stirnen alle merkwürdig ähnlich sahen. Der einzige Zivilist war ein hagerer, blasser Mann — der Chefinspektor. Er hörte sich geduldig den Bericht des Parkwächters an, der die Leichen im Schnee entdeckt hatte. Der Wächter hatte bei seinem nächtlichen Rundgang den Fußweg verlassen, um auszutreten, die drei dort liegen gesehen und wäre vor Schreck und Kälte beinahe selbst erstarrt. Die Mordkommission folgte dem Strahl des Suchscheinwerfers ihres Einsatzwagens.

Der Chefinspektor vermutete, die armen toten Teufel seien lediglich eine Wodkatroika, die fröhlich besoffen erfroren war. Wodka, eine flüssige Steuereinnahmequelle, wurde ständig teurer. Drei Partner pro Flasche galten deshalb als Idealzahl — sowohl in bezug auf Wirtschaftlichkeit als auch auf den gewünschten Effekt.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung kamen Scheinwerfer näher. Baumschatten huschten über den Schnee, bis zwei schwarze Wolga-Limousinen auftauchten. KGB-Agenten in Zivil stiegen aus und kamen unter Führung des stämmigen, energischen Majors Pribluda heran. Miliz und KGB stampften gemeinsam im Schnee, um sich zu wärmen, und stießen Dampfwolken aus. Auf Mützen und Mantelkragen glitzerten Eiskristalle.

Die Miliz — die Polizeiabteilung des MWD (Innenministerium) lenkte den Straßenverkehr, jagte Betrunkene und war für gewöhnliche Leichen zuständig. Das Komitee für Staatssicherheit — der KGB — hatte größere, subtilere Aufgaben: den Kampf gegen in- und ausländische Staatsfeinde, Schmuggler und Unzufriedene, und obwohl alle KGB-Agenten Uniformen besaßen, traten sie lieber anonym in Zivil auf. Major Pribluda war in dieser frühen Morgenstunde gutgelaunt und polternd darum bemüht, die professionelle Animosität abzubauen, die das gute Verhältnis zwischen Volksmiliz und Komitee für Staatssicherheit beeinträchtigte. Er grinste freundlich, bis er den Chefinspektor erkannte.

»Renko!«

»Genau.« Arkadi Renko marschierte sofort auf die Leichen zu und überließ es Pribluda, ihm zu folgen.

Die Spuren des Parkwächters, der die Toten entdeckt hatte, führten durch den Schnee zu eigenartigen Bodenerhebungen mitten in der Lichtung. Ein Chefinspektor hätte eigentlich eine teure Zigarettenmarke rauchen sollen; Arkadi jedoch zündete sich eine billige Prima an und sog den Rauch tief ein — seine Angewohnheit, wenn er mit dem Tod konfrontiert wurde. Vor ihnen lagen drei Tote. Sie wirkten friedlich, wie kunstvoll arrangiert unter ihrer Schneedecke: der mittlere mit gefalteten Händen auf dem Rücken liegend, die beiden andern rechts und links mit ausgebreiteten Armen wie Schildhalter eines Wappens. Alle drei trugen Schlittschuhe.

Pribluda drängte sich an Arkadi vorbei. »Sie können anfangen, sobald ich festgestellt habe, daß keine Belange der Staatssicherheit betroffen sind.«

»Staatssicherheit? Major, wir haben’s hier mit drei erfrorenen Säufern in einem Stadtpark … «

Der Major winkte bereits einen seiner Männer mit einer Kamera heran. Bei jedem Blitz leuchtete der Schnee bläulich auf, und die Toten schienen zu schweben. Die ausländische Sofortbildkamera lieferte die Farbbilder schnell, und der Fotograf zeigte sie Arkadi voller Stolz. Im vom Schnee reflektierten Blitzlicht waren die Leichen kaum zu erkennen.

»Na, was halten Sie davon?«

»Sehr schnell.« Arkadi gab die Fotos zurück. Um die Toten herum wurde der Schnee zertrampelt. Er rauchte irritiert und fuhr sich mit langen Fingern durch sein glattes schwarzes Haar. Dann fiel ihm auf, daß der Major und sein Fotograf nur Halbschuhe trugen. Vielleicht verschwanden die Männer vom KGB, wenn sie nasse Füße bekamen. Was die Leichen betraf, so rechnete er damit, in ihrer Nähe eine oder zwei leere Flaschen zu finden. Im Osten wurde es bereits merklich hell. Arkadi sah Lewin, den Gerichtsmediziner, am Rand der Lichtung stehen und mißbilligend den Kopf schütteln.

»Die Leichen scheinen schon lange hier zu liegen«, stellte Arkadi fest. »In einer halben Stunde können unsere Spezialisten sie bei Tageslicht ausgraben und untersuchen.«

»Wir sind nicht hier, um uns von Ihnen belehren zu lassen«, wehrte Pribluda ab. Er zog seine Handschuhe aus, stellte sich mit gespreizten Beinen über einen der Toten und begann, mit beiden Händen den Schnee von seinem Kopf wegzuräumen.

Da glaubt ein Mann, der Tod habe für ihn alle Schrecken verloren; er ist schon zu unzähligen Mordopfern gerufen worden und inzwischen abgebrüht genug, um sich nüchtern zu sagen, daß steifgefrorene Leichen immerhin die am wenigsten abstoßenden sind. Doch hier wurde eine Totenmaske unter dem Schnee sichtbar, wie der Chefinspektor noch keine gesehen hatte. Er wusste, daß er diesen Anblick niemals vergessen würde.

Aber er ahnte noch nicht, daß dies der entscheidende Augenblick seines Lebens war.

»Das ist Mord«, sagte Arkadi.

Pribluda reagierte nicht darauf. Er legte sofort auch die beiden anderen Köpfe frei. Sie glichen dem ersten. Dann stellte er sich wieder mit gespreizten Beinen über die mittlere Leiche, bearbeitete mit beiden Händen den steifgefrorenen Mantel, bis er auseinanderbrach und sich ablösen ließ, und öffnete auf diese Weise dann auch das Kleid darunter.

»Man kann immerhin noch erkennen, daß es eine Frau ist«, sagte Pribluda und lachte.

»Sie ist erschossen worden«, wandte Arkadi ein. Zwischen ihren blutleeren weißen Brüsten war eine schwarze Einschusswunde zu erkennen. »Sie vernichten Spuren, Major.«

Pribluda riß auch die Kleidungsstücke der beiden anderen Toten auf. »Erschossen, alle drei erschossen!« Er jubelte wie ein Grabräuber.

Der Fotograf hielt in einer Serie von Blitzlichtaufnahmen fest, wie Pribludas Hände steifes Haar zur Seite schoben und eine Kugel aus einem Mund holten. Arkadi sah, daß nicht nur die Gesichter verstümmelt waren, sondern daß den drei Toten auch sämtliche Fingerspitzen fehlten.

»Bei den Männern kommen noch Kopfschüsse dazu.« Pribluda säuberte seine Hände im Schnee.

»Drei Leichen, das ist eine Glückszahl, Chefinspektor. Da ich jetzt die Schmutzarbeit für Sie erledigt habe, sind wir quitt. Genug!« befahl er dem Fotografen. »Wir gehen.«

»Für die Schmutzarbeit sind immer Sie zuständig, Major«, sagte Arkadi, als der Fotograf davon gestapft war.

»Wie meinen Sie das?«

»Drei Erschossene, die verstümmelt im Schnee liegen? Das ist ein Fall für Sie, Major. Wer weiß, wohin meine Ermittlungen führen könnten?«

»Wohin denn?«

»In die falsche Richtung, Major. Haben Sie daran gedacht? Sollten Sie und Ihre Männer den Fall nicht übernehmen, damit ich und meine Leute heimfahren können?«

»Ich sehe hier keine Anzeichen für ein Verbrechen gegen den Staat«, wehrte Pribluda ab. »Ein etwas komplizierterer Fall als üblich — sonst nichts.«

»Vor allem deshalb kompliziert, weil jemand die Spurensicherung erschwert hat.«

Der Major zog sich die Handschuhe an. »Sie bekommen meinen Bericht und die Fotos, damit Sie von meinen Bemühungen profitieren können.« Er sprach so laut weiter, daß die anderen ihn hören mussten. »Sollten Sie allerdings auf etwas stoßen, das in den Aufgabenbereich des Komitees für Staatssicherheit fällt, müssen Sie natürlich veranlassen, daß die Staatsanwaltschaft mich sofort benachrichtigt. Verstanden, Chefinspektor Renko? Wir wollen augenblicklich benachrichtigt werden.«

»Ja, ich verstehe«, antwortete Arkadi ebenso laut. »Sie können sich auf uns verlassen.«

Hyänen, Aasgeier, Schmeißfliegen, Würmer, dachte der Chefinspektor, während er beobachtete, wie Pribludas Wagen zurückstießen, wendeten und davonfuhren. Nachtgetier. Die Morgendämmerung machte sich deutlicher bemerkbar. Er zündete sich eine weitere Zigarette an, um den schlechten Geschmack, den das Intermezzo mit Pribluda hinterlassen hatte, aus dem Mund zu bekommen. Die am Rand der Lichtung stehenden Kriminalbeamten gafften noch immer. Sie hatten zugesehen, wie die Gesichter der Toten freigelegt wurden.

»Das ist jetzt unser Fall«, erklärte Arkadi seinen Leuten. »Wollt ihr nicht langsam was unternehmen?«

Er veranlaßte, daß einige der Männer die nähere Umgebung der Lichtung absperrten, und ließ den Sergeanten vom Einsatzwagen aus über Funk weitere Männer, Schaufeln und Metalldetektoren anfordern. Etwas geheuchelte Betriebsamkeit munterte seine Leute meistens ein bißchen auf.

»Das heißt also, daß wir … «

»Wir machen weiter, Sergeant. Bis auf weiteres.«

»Herrlicher Morgen«, feixte Lewin.

Der Gerichtsmediziner war älter als die anderen. Er stand im Rang eines Milizhauptmanns. Er hatte kein Mitleid mit Tanja, der Expertin für Spurensicherung, die den Blick nicht von den Gesichtern der Toten wenden konnte. Arkadi nahm sie beiseite und schlug ihr vor, eine Skizze der Lichtung anzufertigen und die Lage der Ermordeten so genau wie möglich einzuzeichnen.

»Vor oder nach der Wühlarbeit unseres guten Majors?« fragte Lewin.

»Vorher«, entschied Arkadi. »Als ob der Major nie hiergewesen wäre.«

Lewin suchte den Schnee um die Leichen herum nach Blutspuren ab.

Wirklich ein herrlicher Morgen, dachte Arkadi. Auf dem jenseitigen Moskwa-Ufer sah er die Gebäude des Verteidigungsministeriums im ersten Tageslicht aufleuchten — dem einzigen Augenblick, in dem diese endlosen grauen Mauern leicht belebt wirkten. Ein Tag, an dem aller Winterschnee schmelzen zu wollen schien.

»Scheiße.« Er starrte erneut die Leichen an.

Der Fotograf wollte wissen, ob sein Kollege vom KGB nicht bereits Aufnahmen gemacht habe.

»Bestimmt schöne Souvenirfotos«, antwortete Arkadi, »aber für unsere Ermittlungen ungeeignet.«

Der Fotograf lachte geschmeichelt.

Der Kriminalbeamte Pascha Pawlowitsch kam mit dem Dienstwagen des Chefinspektors: einem fünf Jahre alten Moskwitsch, keinem eleganten Wolga, wie Pribluda einen fuhr. Pascha war ein halber Tatar, muskulös mit einem dunklen Haarschopf.

»Drei Leichen, zwei Männer und eine Frau.« Arkadi stieg in den Wagen. »Steifgefroren. Vielleicht eine Woche alt, vielleicht einen Monat oder ein Vierteljahr. Keine Ausweise, kein Tascheninhalt, nichts. Alle mit einem Herzschuss, zwei mit einem zusätzlichen Kopfschuss. Geh hin und sieh dir die Gesichter an.«

Arkadi wartete im Auto. Mitte April war der Winter normalerweise noch nicht vorbei; meistens hielt er sich bis in den Mai hinein. Er hätte diese verstümmelten Leichen ruhig etwas länger für sich behalten können — dann läge Arkadi jetzt noch in seinem warmen Bett.

Pascha kam empört zurück. »Was für ein Verrückter kann das gewesen sein?«

Arkadi nickte ihm zu, er solle einsteigen.

»Pribluda war da«, sagte er, als Pascha wieder am Steuer saß. Er beobachtete amüsiert, wie der Kriminalbeamte unwillkürlich etwas tiefer in den Sitz rutschte. »Dieser Fall ist nichts für uns«, fügte Arkadi hinzu. »Den nehmen sie uns bald ab, verlaß dich drauf!«

»Aber hier, im Gorki-Park!« meinte Pascha sichtlich betroffen.

»Verrückt, was? Tu jetzt, was ich dir sage, dann kriegen wir keine Schwierigkeiten. Du fährst zu der für den Park zuständigen Milizstation und holst einen Plan der Schlittschuhwege. Außerdem läßt du dir die Namen aller Patrouillen und Straßenverkäuferinnen geben, die im Winter in diesem Teil des Parks eingesetzt gewesen sind. Desgleichen brauchen wir die Namen der Parkwächter, die hier herumgeschnüffelt haben könnten. Wichtig ist, daß wir möglichst viel Wirbel veranstalten.« Arkadi stieg aus und beugte sich zu Pascha herab. »Ist mir übrigens ein zweiter Kriminalbeamter zugeteilt worden?«

»Fet.«

»Kenne ich nicht.«

Pascha spuckte in den Schnee. »Ein Vögelein, das singt so fein …«

»Aha!« Bei einem Fall dieser Art wurde die Mordkommission unweigerlich durch einen Spitzel erweitert; mit dieser Tatsache fand der Chefinspektor sich nicht nur ab, sondern er begrüßte sie sogar.

»Wenn alle zusammenhelfen, sind wir den Fall um so eher wieder los.«

Nachdem Pascha weggefahren war, kamen zwei Lastwagen mit jungen Milizrekruten an, die mit Schaufeln bewaffnet waren. Tanja hatte die Lichtung in Quadrate unterteilt, damit der Schnee Meter für Meter weggeschaufelt werden konnte, ohne daß zu befürchten war, der Fundort von Beweismaterial werde sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Arkadi rechnete nicht ernsthaft damit, daß noch etwas gefunden werden würde. Ihm ging es lediglich um den äußeren Eindruck. Wenn die Farce glaubhaft genug war, rief Pribluda vielleicht schon im Laufe des Tages an.

Warum gerade im Gorki-Park? In Moskau gab es größere Parks, in denen man Leichen verstecken konnte. Der Gorki-Park war nur zwei Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle kaum einen Kilometer breit. Aber er war der beliebteste Park von Moskau. Hierher kamen alle: Angestellte, um ihre mitgebrachten Brote zu essen, Großmütter mit Kinderwagen, Liebespaare. Im Gorki-Park gab es ein Riesenrad, Brunnen, Kindertheater, Spazierwege, Restaurants und im Winter Eisbahnen und Schlittschuhwege.

Fet, der junge Kriminalbeamte, meldete sich bei Arkadi. Er war fast so jung wie die Rekruten und blickte mit eisblauen Augen durch eine Nickelbrille.

»Sie sind für den Schnee zuständig.« Arkadi deutete auf die wachsenden Schneeberge. »Schmelzen und durchsuchen Sie ihn.«

»In welchem Labor, Chefinspektor?« fragte Fet.

»Oh, ich glaube, daß heißes Wasser an Ort und Stelle genügt.« Weil das vermutlich nicht eindrucksvoll genug klang, fügte Arkadi hinzu: »Ich verlange, daß hier keine Schneeflocke auf der anderen bleibt!«

Arkadi nahm Fets beigeroten Dienstwagen, fuhr davon und überquerte die Krim-Brücke nach Norden. Es war neun Uhr; vor zwei Stunden war er aus dem Bett geholt worden und hatte noch nicht gefrühstückt, nur Zigaretten geraucht. Am Ende der Brücke hielt er seinen roten Dienstausweis hoch, so daß der Milizmann, der den Verkehr regelte, ihn sehen konnte, und hatte sofort freie Fahrt. Ein Privileg, das er seinem Dienstrang verdankte. Arkadi fuhr auf dem Marx-Prospekt um den Kreml herum, bog in die Petrowka-Straße ab und erreichte den fünfstöckigen gelben Bau des Hauptquartiers der Moskauer Miliz. Dort parkte er in der Tiefgarage und fuhr mit dem Lift zur Einsatzzentrale im zweiten Stock hinauf.

An einer Wand der Zentrale hing ein riesiger Stadtplan, auf dem Moskau in 30 Bezirke unterteilt war. 135 Lämpchen bezeichneten die Milizstationen. An einem Pult mit Mikrofonen und Kippschaltern saßen Beamte, die über Funk Verbindung zu Streifenwagen (»Fünfneun, hier Wolga, kommen«) und Milizstationen (»Omsk, hier Wolga, kommen«) hielten. Auf dem ganzen Stadtplan blinkte lediglich ein Lämpchen auf, das anzeigte, daß in der Hauptstadt mit ihren sieben Millionen Einwohnern in den vergangenen 24 Stunden nur ein Kapitalverbrechen gemeldet worden war — im Gorki-Park. Der Milizdirektor, eine imposante Erscheinung mit breiter Ordensschnalle auf der grauen Generalsuniform, beobachtete dieses Blinken von der Mitte der Einsatzzentrale aus. Bei ihm standen zwei Obersten, seine Stellvertreter. In seinem Zivilanzug wirkte Arkadi dagegen geradezu schäbig.

»Chefinspektor Renko meldet sich zur Stelle, Genosse General«, sagte Arkadi vorschriftsmäßig. Bin ich rasiert? fragte er sich. Er widerstand der Versuchung, sein Kinn zu betasten.

Der General nickte kaum merklich.

»Den General interessiert Ihre erste Reaktion«, stellte einer der Obersten fest. »Wie beurteilen Sie die Aussichten, daß der Fall rasch gelöst werden kann?«

»Mit der besten Miliz der Welt und der Unterstützung durch das Volk wird es uns sicher gelingen, die Täter zu ermitteln und festzunehmen«, antwortete Arkadi automatisch.

»Wie kommt es dann«, fragte der andere Oberst, »daß nicht längst alle Stationen aufgefordert worden sind, bei der Identifizierung der Toten mitzuhelfen?«

»Bei den Leichen wurden keine Ausweise gefunden, und da sie gefroren sind, ist schwer zu sagen, wann sie erschossen wurden. Außerdem sind sie zum Teil verstümmelt. Eine normale Identifizierung scheidet deshalb aus.«

Der erste Oberst wechselte einen Blick mit dem General, bevor er fragte: »Am Tatort ist ein KGB-Vertreter erschienen?«

»Ja.«

Der General murmelte: »Im Gorki-Park — das verstehe ich nicht.«

___________

Arkadi frühstückte in der Kantine, bevor er ein Zweikopekenstück in den Münzfernsprecher steckte, um zu telefonieren. »Ist die Genossin Lehrerin Renko da?«

»Genossin Renko ist bei einer Besprechung mit einem Ausschuß der Bezirkspartei.«

»Wir wollten uns zum Mittagessen treffen. Richten Sie Genossin Renko aus … sagen Sie ihr, daß ihr Mann heute wahrscheinlich erst etwas später nach Hause kommt.«

In der nächsten Stunde wälzte Arkadi Ermittlungsakten und überzeugte sich davon, daß Fet, der abgebrüte junge Kriminalbeamte, stets nur Fälle bearbeitet hatte, die für den KGB interessant gewesen waren. Arkadi verließ das Hauptquartier durch den zur Petrowka-Straße hinausführenden Hof, nickte dem Wachposten zu und betrat das gerichtsmedizinische Institut.

An der Tür des Autopsieraums blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Ihnen ist wohl schlecht?« Lewin sah auf, als er das Zündholz aufflammen hörte.

Arkadi schüttelte den Kopf. Er inhalierte tief, bevor er den nach Formalin riechenden Raum betrat. Die drei Mordopfer mochten als Persönlichkeiten äußerst unterschiedlich gewesen sein; als Leichen waren sie einander erstaunlich ähnlich. Albinoweiß, über jedem Herzen eine Einschusswunde, Finger ohne Spitzen und Köpfe ohne Gesichter.

Vom Haaransatz bis zum Kinn und von einem Ohr zum anderen war alles Fleisch entfernt worden, so daß nur Masken aus Knochen und schwarzem Blut zurückgeblieben waren. Auch die Augen fehlten. So waren die Ermordeten aufgefunden worden. Lewins Assistent, ein Usbeke mit laufender Nase, war eben dabei, die Brustkörbe mit einer Handkreissäge aufzuschneiden.

»Wie lösen Sie Mordfälle, wenn Sie den Anblick von Toten nicht ertragen?« erkundigte Lewin sich spöttisch.

»Ich verhafte Lebende.«

»Und darauf sind Sie wohl stolz?«

Arkadi nahm die Karteikarten von den Seziertischen und las:

Männlich. Europäer. Haar braun. Augen unbekannt. Alter ca. 20–25 Jahre. Tot seit mindestens zwei Wochen/höchstens sechs Monaten; Verwesung durch Kälteschock aufgehalten. Todesursache Schusswunden. Gesichtsgewebe und dritte Fingerglieder beider Hände fehlen. Zwei möglicherweise tödliche Schussverletzungen. Wunde A: Einschuß im Oberkiefer, Austritt am Hinterkopf. Wunde B: Einschuß zwei Zentimeter links des Brustbeins; Kugel GP1-B im Brustkorb aufgefunden.

Männlich. Europäer. Haar braun. Augen unbekannt. Alter ca. 20–30 Jahre. Tot seit mindestens zwei Wochen/höchstens sechs Monaten; Verwesung durch Kälteschock aufgehalten. Todesursache Schusswunden. Gesichtsgewebe und dritte Fingerglieder beider Hände fehlen. Zwei möglicherweise tödliche Schussverletzungen. Wunde A: Einschuß im Oberkiefer; Kugel GP2-A im Gesichtsschädel aufgefunden. Wunde B: Einschuß drei Zentimeter links des Brustbeins; Kugel GP2-B im linken Schulterblatt steckend aufgefunden.

Weiblich. Europäerin. Haar braun. Augen unbekannt. Alter ca. 20–23 Jahre. Tot seit mindestens zwei Wochen/höchstens sechs Monaten; Verwesung durch Kälteschock aufgehalten. Todesursache Schusswunde: Einschuß drei Zentimeter links des Brustbeins, rechter Herzvorhof und obere Hohlvene durchschlagen; Austritt zwischen dritter und vierter Rippe zwei Zentimeter links des Rückgrats. Gesicht und Hände wie bei GP1 und GP2 verstümmelt. Kugel G3 hinter Austrittswunde im Kleid aufgefunden. Keine Anzeichen für eine Schwangerschaft.

Arkadi lehnte an der Wand, inhalierte, bis ihm fast schwindlig wurde, und konzentrierte sich auf die Karteikarten.

»Wie kommen Sie auf die Altersangaben?« fragte er.

»Das ergibt sich aus dem jeweiligen Gebißzustand.«

»Sie haben also ein Zahnschema aufgestellt?«

»Richtig, aber damit ist nicht viel anzufangen. Der zweite Tote hat eine Stahlkrone.« Lewin zuckte mit den Schultern.

Der Usbeke gab Arkadi drei ausgefüllte Zahnschemata und eine Schachtel mit teilweise zersplitterten Vorderzähnen, die wie die Kugeln bezeichnet waren.

»Einer fehlt«, stellte der Chefinspektor fest.

»Pulverisiert. Die Überreste sind in der kleinen Schachtel. Aber es gibt ein paar hochinteressante Punkte, die nicht in dem vorläufigen Bericht stehen. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen, wenn Sie wollen.«

Arkadi trat zögernd zwei Schritte vor.

»Wie Sie sehen«, begann Lewin, »ist der erste Mann grobknochig und muskulös gewesen. Der zweite Mann weist einen leichteren Körperbau und einen alten Splitterbruch des linken Schienbeins auf. Höchst interessant.« Lewin griff nach einem abgeschnittenen Haarbüschel. »Der zweite Mann hat sich die Haare gefärbt. Von Natur aus war er rothaarig. Das steht alles im abschließenden Bericht.«

»Auf den wir gespannt warten.« Arkadi nickte dankend und ging.

Das Ballistiklabor war in einem Raum untergebracht, der zum größten Teil von einem vier Meter langen Wassertank eingenommen wurde. Arkadi gab die Kugeln zur Untersuchung ab und betrat das forensische Zentrallabor, einen fast saalartigen Raum mit Parkettboden, Marmortischen, grünen Wandtafeln und altertümlichen Stehaschern, die von gußeisernen Nymphen hochgehalten wurden. Die Kleidungsstücke der drei Ermordeten wurden an Einzeltischen untersucht. Leiter des Labors war der Milizoberst Ljudin, ein Mittvierziger mit pomadeglänzendem Haar und rosigen Patschhändchen.

»Außer Blut haben wir bisher nicht viel gefunden«, verkündete Ljudin lächelnd.

Die Labortechniker sahen kaum auf, als der Chefinspektor hereinkam. Einer von Ljudins Männern saugte die Taschen der Kleidungsstücke aus; ein anderer säuberte die Schlittschuhe. Hinter ihnen stand ein ganzes Wandregal mit Gläsern voller bonbonbunter Reagenzien.

»Woher stammen die Kleidungsstücke?« erkundigte Arkadi sich. Er wünschte sich ausländische Qualitätsware, die darauf hätte schließen lassen, daß die drei Toten Schwarzhändler gewesen waren und somit in den Zuständigkeitsbereich des KGB fielen.

»Hier!« Ljudin zeigte auf ein Etikett in einer Jacke. Auf dem Etikett stand Jeans. »Einheimische Ware. Minderwertiges Zeug, das in jedem Geschäft zu kaufen ist. Oder sehen Sie sich den Büstenhalter an.« Der Oberst nickte zu einem anderen Tisch hinüber. »Kein französisches, nicht mal ein deutsches Erzeugnis.«

Arkadi sah, daß Ljudin unter seinem offenen Laborkittel eine italienische Seidenkrawatte trug. Sie fiel auf, weil es solche Krawatten nirgends zu kaufen gab. Der Oberst genoß Arkadis Frustration wegen der Kleidungsstücke der Ermordeten; je frustrierter die Kriminalbeamten waren, desto wichtiger waren die Labortechniker.

»Wir müssen natürlich noch den Gaschromatographen, das Spektrometer und weitere Geräte einsetzen, aber solche Untersuchungen sind in dreifacher Ausfertigung sehr teuer.« Ljudin hob hilflos die Hände. »Ganz zu schweigen von der notwendigen Computerzeit.«

Arkadi war klar, daß das nur Theater war. »Für die Gerechtigkeit darf nichts zu teuer sein, Oberst.«

»Ganz recht, aber ich brauchte einen schriftlichen Auftrag, eine Anforderung für diese ganzen Untersuchungen, verstehen Sie?«

Der Chefinspektor unterzeichnete schließlich einen Blankoauftrag. Oberst Ljudin würde überflüssige Untersuchungen einsetzen, die er gar nicht durchführen würde, und die nicht verbrauchten Chemikalien privat verkaufen. Aber er verstand seine Sache. Arkadi hatte keinen Grund, sich über seine Arbeit zu beschweren.

Der Techniker im Ballistiklabor hatte zwei Kugeln unter dem Vergleichsmikroskop, als Arkadi zurückkam.

»Wollen Sie sich’s mal ansehen?«

Arkadi beugte sich über das Binokular. Unter beiden Objektiven lag je eine Kugel aus dem Gorki-Park. Eine von ihnen hatte einen Knochen durchschlagen und war dabei ziemlich deformiert worden, aber beide ließen erkennen, daß sie aus einem Lauf mit Linksdrall abgeschossen worden waren, und als Arkadi sie von mehreren Seiten betrachtete, konnte er zahlreiche weitere Gemeinsamkeiten feststellen.

»Die gleiche Waffe.«

»Immer die gleiche Waffe«, bestätigte der Techniker. »Bei allen fünf Geschossen. Das Kaliber 7.65 Millimeter ist sehr selten.«

Arkadi hatte nur vier Kugeln von Lewin mitgebracht.

Er nahm die beiden Kugeln aus der Halterung unter dem Mikroskop. Die rechte war unbezeichnet.

»Eben aus dem Park reingekommen«, sagte der Techniker. »Mit dem Metalldetektor gefunden.«

Drei Menschen im Freien aus nächster Nähe mit einer einzigen Waffe von vorn erschossen. Erschossen und aufgeschnitten. Genau wie vor sechs Wochen am Kliasma-Fluß. Und auch damals war er auf Pribluda gestoßen.

___________

Vor sechs Wochen waren zweihundert Kilometer östlich von Moskau bei Bugolubowo, einem Dorf von Kartoffelbauern, am Ufer der Kliasma zwei Leichen gefunden worden. Die nächste Stadt war Wladimir, aber keiner der Ermittlungsbeamten der dortigen Staatsanwaltschaft war bereit gewesen, die Ermittlungen zu führen; sie waren alle »krank« gewesen. Daraufhin hatte der Generalstaatsanwalt den Leiter der Moskauer Mordkommission nach Bugolubowo entsandt.

Die Opfer waren zwei junge Männer, deren Münder merkwürdig offenstanden und deren Mäntel und Oberkörper aufgeschnitten worden waren. Lewins Autopsie hatte ergeben, daß der Mörder die tödlichen Geschosse aus den Körpern seiner Opfer herausgeschnitten hatte. Lewin entdeckte außerdem rote Gummispuren an den Zähnen der beiden und Natriumaminat in ihrem Blut, was Arkadi die »Krankheit« der Wladimirer Kollegen verständlich machte. Denn außerhalb von Bugolubowo — und in keiner Karte eingezeichnet, obwohl die Zahl der Insassen die der Dorfbewohner überstieg — lag eine geschlossene Anstalt für politische Gefangene, und Natriumaminat war ein dort häufig verwendetes Beruhigungsmittel.

Arkadi war zu dem Schluß gekommen, die Toten seien nach ihrer Entlassung von Komplizen ermordet worden. Als die Anstaltsleitung sich weigerte, telefonische Auskünfte zu geben, hätte er den Fall »zur weiteren Erledigung« an die Kollegen in Wladimir abgeben können. Statt dessen war er in Uniform vorgefahren, hatte Einblick in die Häftlingskartei verlangt und festgestellt, daß ein Major Pribluda vom KGB am Tag vor dem Leichenfund zwei Männer abgeholt hatte. Arkadi hatte den Major angerufen, der diese Tatsache leugnete.

An diesem Punkt hätten die Ermittlungen eingestellt werden können. Statt dessen war Arkadi nach Moskau zurückgefahren, hatte sich in Pribludas Büro in der schäbigen KGB-Zweigstelle in der Petrowka-Straße begeben und dort auf dem Schreibtisch des Majors zwei rote Gummibälle mit elliptischen Bißspuren gefunden. Arkadi ließ eine Empfangs-Bestätigung für die Bälle zurück und nahm sie mit ins forensische Labor, wo festgestellt wurde, daß die Bißspuren genau den Zähnen der beiden Ermordeten entsprachen.

Pribluda musste die betäubten Anstaltsinsassen zum Fluß gefahren, ihnen die Gummibälle als Knebel in den Mund gesteckt und sie erschossen haben. Um die Spuren zu verwischen, hatte er die Kugeln aus den Leichen herausgeschnitten. Die verstümmelten Leichen waren sofort gefroren.

Da Haftbefehle vom Staatsanwalt ausgestellt wurden, meldete Arkadi sich bei Jamskoi, klagte Pribluda wegen Mordes an und beantragte zunächst einen Durchsuchungsbefehl für Pribludas Büro und seine Wohnung. Noch während der Chefinspektor mit dem Staatsanwalt sprach, kam ein Anruf, daß der KGB aus Gründen der Staatssicherheit die Ermittlungen im Fall der an der Kliasma aufgefundenen Leichen an sich ziehe. Sämtliche Ermittlungsunterlagen seien Major Pribluda zu übergeben.

___________

Vom Ballistiklabor aus machte sich Arkadi auf den Weg in sein Büro im Gebäude der Moskauer Staatsanwaltschaft. Diese lag südlich der Moskwa in der Nowokusnezkaja-Straße, in einem Viertel mit Geschäftshäusern aus dem 19. Jahrhundert, und zwar in zwei nebeneinanderstehenden Gebäuden. Die Ermittlungsbehörde befand sich in einem gelben einstöckigen Bau, die Anklagebehörde war in einem zweistöckigen grauen Gebäude untergebracht. Arkadi betrat den gelben Bau und nahm auf der Treppe zum ersten Stock je zwei Stufen auf einmal. Oben im Korridor kamen ihm die Chefinspektoren Tschutschin (Sonderfälle) und Below (Industrie) entgegen.

»Jamskoi hat nach dir gefragt«, warnte Tschutschin ihn.

Arkadi ignorierte ihn und verschwand in seinem Büro am Ende des Korridors. Der Raum, drei mal vier Meter groß, hatte ein altmodisches Doppelfenster und war mit abgestoßenen Büromöbeln eingerichtet. Der Wandschmuck bestand aus einem Kalender, einem ungewöhnlichen Foto, das Lenin im Liegestuhl zeigte.

Below kam herein. »Du behandelst Tschutschin ziemlich schlecht«, stellte er fest. Below war der älteste Kriminalbeamte und hegte laut eigener Aussage »unerschütterliche Zuneigung« für Arkadi.

»Er ist ein Schwein!«

»Er tut notwendige Arbeit.« Below kratzte sich sein kurzes, etwas schütteres Haar. »Wir spezialisieren uns alle.«

»Ich habe nie behauptet, daß Schweine überflüssig seien.«

»Genau das meine ich. Er befaßt sich mit gesellschaftlichem Abschaum.«

Wsewolod Below, der Mann mit den ausgebeulten Anzügen. Der Veteran, der den Großen Vaterländischen Krieg nicht vergessen konnte. Großmütig — und zugleich ein instinktiver Reaktionär. Mit Fragen, die bestimmte Kreise betrafen, konnte Arkadi sich stets an Below wenden.

»Onkel Sewa, wer färbt sich die Haare und trägt ein Sportsakko mit einem gefälschten ausländischen Etikett?«

»Da hast du Pech«, antwortete Below mitfühlend. »Musiker oder Rocker. Jazzfanatiker und dergleichen. Von denen hast du keine Unterstützung zu erwarten.«

»Erstaunlich! Du tippst also auf Gammler?«

»Bei deiner Intelligenz musst du das selbst am besten wissen. Eine Maskerade mit gefärbtem Haar und ein gefälschtes Etikett lassen jedenfalls auf Gammler oder jemand mit starker Neigung zum Musiker- oder Gammlermilieu schließen.«

»Drei Leute sind mit der gleichen Waffe erschossen worden. Danach hat jemand sie mit einem Messer verstümmelt. Sämtliche Taschen sind ausgeleert. Und Pribluda ist sofort zur Stelle, um die Leichen zu beschnüffeln.«

Below schüttelte den Kopf. »Persönliche Differenzen zwischen Justizorganen sollten unsere gemeinsame Arbeit nicht behindern dürfen«, meinte er bekümmert.

Arkadi legte seine Hände flach auf die Schreibtischplatte und lächelte. »Danke, Onkel Sewa. Du weißt, wie sehr ich dein Urteil schätze.«

»Ah, das klingt schon besser …« Below ging erleichtert zur Tür. Er wollte nicht daran denken, weshalb Pribluda und Arkadi einander haßten. »Hast du deinen Vater in letzter Zeit wieder einmal besucht?«

»Nein.« Arkadi breitete die vorläufigen Autopsieberichte auf seinem Schreibtisch aus und zog die Schreibmaschine zu sich heran.

»Richtest du ihm einen Gruß von mir aus? Aber nicht vergessen!«

»Bestimmt nicht.«

Arkadi machte sich daran, einen ersten Ermittlungsbericht zu tippen.

Während er die wenig aussageträchtigen Blätter noch einmal durchlas, kamen Pawlowitsch und Fet herein. Pascha trug eine Aktentasche.

»Augenblick, ich bin gleich wieder da.« Arkadi zog seine Jacke an. »Du weißt, was zu tun ist, Pascha.«

Arkadi musste auf die Straße hinunter, um nach nebenan zur Staatsanwaltschaft zu gelangen. Der Staatsanwalt besaß ungewöhnlich große Autorität: Ihm unterstanden alle Ermittlungen von Straftaten, wobei er zugleich die Anklage wie den Angeklagten vertrat. Er genehmigte Haftbefehle, billigte oder verwarf Gerichtsurteile und veranlaßte Berufungsverfahren. In allen diesen Fragen entschied er selbständig und war nur dem Generalstaatsanwalt verantwortlich.

Staatsanwalt Andrej Jamskoi saß hinter seinem Schreibtisch. Sein glattrasierter Schädel glänzte rosa — ein verblüffender Gegensatz zu seiner dunkelblauen maßgeschneiderten Uniform mit den goldenen Generalssternen. Jamskois Gesicht mit den starken Augenwülsten, der fleischigen Nase und den dicken Lippen erinnerte Arkadi an einen Neandertaler — ein Eindruck, der durch seinen überproportionierten Brustkorb und die auffällig langen Arme noch verstärkt wurde.

»Warten Sie.« Er las weiter in der vor ihm liegenden Akte.

Arkadi stand auf dem grünen Teppich drei Meter vor dem Schreibtisch des Staatsanwalts. An den holzgetäfelten Wänden hingen gerahmte Fotos: Jamskoi an der Spitze einer Delegation von Staatsanwälten bei Generalsekretär Breschnew, Jamskoi dem Generalsekretär die Hand schüttelnd, Jamskoi bei einem Vortrag auf einem Juristenkongreß in Paris und — ein einmaliges Bild Jamskois aus der Prawda — bei einer Berufungsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof, in der er sich für einen fälschlich wegen Mordes angeklagten jungen Arbeiter eingesetzt hatte.

»Ja?« Jamskoi klappte die Akte zu und hob den Kopf. Seine Stimme war wie immer so leise, daß man sich konzentrieren musste, um zu verstehen, was er sagte.

Arkadi legte seinen Bericht auf den Schreibtisch, und der Staatsanwalt überflog ihn.

»Major Pribluda war am Tatort«, stellte er fest. »Sie haben seinen Namen nicht erwähnt.«

»Er hat uns die Arbeit erschwert und ist dann zum Glück verschwunden. Hat er angerufen, um mich ablösen zu lassen?«

Jamskoi warf Arkadi einen prüfenden Blick zu. »Sie sind als Chefinspektor Leiter der Mordkommission, Arkadi Wassiljewitsch. Warum sollte er Ihre Ablösung betreiben?«

»Sie kennen die Schwierigkeiten, die wir vor kurzem mit dem Major hatten.«

»Was für Schwierigkeiten? Der KGB hat in jener Sache lediglich seine Zuständigkeit geltend gemacht — damit war der Fall erledigt.«

»Entschuldigung, aber heute haben wir drei junge Leute aufgefunden, die in einem Stadtpark mit einer 7.65 mm-Pistole erschossen worden sind. Moskauer können sich normalerweise nur 7.62- oder 9 mm-Armeewaffen besorgen, die keine Ähnlichkeit mit der Tatwaffe haben. Außerdem sind die Gesichter der Ermordeten verstümmelt worden. Ich habe es absichtlich vermieden, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen.«

»Danke«, sagte der Staatsanwalt. Damit war der Chefinspektor vorerst entlassen.

Arkadi verbeugte sich leicht und ging.

___________

Fet und Pascha hatten einen detaillierten Plan des Gorki-Parks, eine Tatortskizze, mehrere Fotos und die Autopsieberichte mit Klebstreifen an der Wand befestigt. Arkadi ließ sich auf seinen Stuhl fallen und riß eine neue Packung Zigaretten auf. Zwei Streichhölzer brachen ab, bevor das dritte brannte. Fet beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Arkadi stand auf, nahm die Fotos der Ermordeten ab und legte sie in eine Schreibtischschublade. Unnötig, sie ständig vor sich zu haben. Dann nahm er wieder Platz und spielte mit den Zündhölzern.

»Habt ihr schon jemand vernommen?«

Pascha schlug sein Notizbuch auf. »Zehn Leute von der Miliz, die nichts gehört oder gesehen haben. Wahrscheinlich bin ich diesen Winter beim Schlittschuhlaufen selbst mindestens zwanzigmal an der Lichtung vorbeigekommen.«

»Dann bleiben noch die Imbissverkäuferinnen. Diese alten Frauen sehen oft mehr als die Miliz.«

Fet war offenbar anderer Auffassung. Arkadi sah zu ihm hinüber. Da der junge Kriminalbeamte keine Pelzmütze mehr trug, fielen seine abstehenden Ohren um so mehr auf.

»Sie sind dabei gewesen, als die letzte Kugel gefunden worden ist?« fragte Arkadi ihn.

»Jawohl, Chefinspektor. GP1-A ist unmittelbar unter dem Hinterkopf von GP1, dem ersten Mann, entdeckt worden.«

»Immer diese Nummern!« Pascha schüttelte den Kopf. »Gorki-Park eins? Der große Kerl? Das ist der ›Muskelmann‹.«

»Nicht deutlich genug«, widersprach Arkadi. »Die ›Schönheit‹ und das ›Ungeheuer‹ — das passt eher, finde ich. ›Kümmerling‹ für den zweiten.«

»In Wirklichkeit hat er rote Haare gehabt«, warf Pascha ein. »Ich schlage vor, daß wir ihn ›Rotkopf‹ nennen.«

»›Schönheit‹, ›Ungeheuer‹ und ›Rotkopf‹. Unsere erste wichtige Entscheidung, Fet«, sagte Arkadi. »Weiß jemand, wie das Labor mit den Schlittschuhen vorangekommen ist?«

»Die Sache mit den Schlittschuhen könnte ein Trick sein«, meinte Fet. »Ich halte es für kaum vorstellbar, daß man im Gorki-Park drei Menschen erschießen kann, ohne daß jemand etwas davon hört. Die Ermordeten können anderswo erschossen worden sein; danach hat man ihnen Schlittschuhe angezogen und sie nachts in den Park geschafft.«

»Es ist tatsächlich schwer zu glauben, daß drei Leute im Gorki-Park erschossen werden, ohne daß jemand etwas hört«, antwortete der Chefinspektor. »Aber versucht mal, einem Toten Schlittschuhe anzuziehen! Außerdem ist ausgerechnet der Gorki-Park der einzige Ort, der sich zu keiner Zeit als Versteck für drei Leichen eignet.«

»Aber wir haben die letzte Kugel in der Erde gefunden«, wandte der junge Kriminalbeamte ein. »Das beweist doch, daß die drei dort erschossen worden sind.«

»Das beweist lediglich, daß der Mann dort — tot oder lebendig — einen Kopfschuß erhalten hat«, stellte Arkadi richtig. »Wir haben keine Patronenhülsen gefunden. Hätte der Täter eine Pistole benützt, wären die Hülsen ausgeworfen worden.«

»Er könnte sie aufgesammelt haben«, protestierte Fet.

»Wozu? Die Geschosse sind ebenso verräterisch wie die Hülsen.«

»Er könnte aus einiger Entfernung geschossen haben.«

»Das hat er aber nicht getan«, stellte Arkadi fest.

»Vielleicht hat er die Hülsen aufgesammelt, weil er Angst hatte, jemand würde sie finden und daraufhin nach einer Leiche suchen.«

Arkadi schüttelte den Kopf. »Die nach dem Schuß glühendheißen Hülsen wären längst im Schnee verschwunden, bevor die Leichen eingeschneit worden wären. Aber mich interessiert etwas anderes.« Er warf Fet einen fragenden Blick zu. »Warum gehen Sie von einem Einzeltäter aus?«

»Wir haben es nur mit einer Waffe zu tun.«

»Soviel wir wissen, sind alle Schüsse aus derselben Waffe abgegeben worden. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es für einen einzelnen Schützen wäre, drei Menschen dazu zu bringen, stillzuhalten und sich aus kürzester Entfernung erschießen zu lassen — es sei denn, er hätte bewaffnete Komplizen bei sich?« Arkadi zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls fassen wir den Täter! Wir haben erst zu arbeiten angefangen!« Er sah auf seine Uhr. »Ein langer Tag, was? Eure Schicht ist längst zu Ende.«

Fet verschwand hastig.

»Da fliegt unser Vögelchen«, sagte Pascha, bevor er ebenfalls ging.

»Hoffentlich erweist er sich als Papagei.«

Als Arkadi allein war, rief er das Hauptquartier in der Petrowka-Straße an und veranlasste, daß in der Sowjetunion westlich des Urals ein Fahndungsaufruf verbreitet wurde, damit der Milizdirektor zufrieden war. Dann versuchte er, erneut in der Schule anzurufen. Aber die Genossin Lehrerin Renko leitete eine Kritikversammlung für Schülereltern und konnte nicht an den Apparat kommen.

Die anderen Ermittlungsbeamten verließen ihre Büros und setzten ihre Freizeitgesichter auf. Arkadi hatte keinen Hunger, aber er wusste, daß ein Spaziergang ihm Appetit machen würde. Er zog seinen Mantel an und verließ das gelbe Gebäude.

Er ging bis zum Paweletser-Bahnhof und kehrte dann in eine Schnellimbissstube ein, in der es am Büfett Weißfisch und in Essig schwimmenden Kartoffelsalat gab. Arkadi trat an die Bar und bestellte ein Bier. Auf den anderen Hockern saßen Eisenbahner und junge Soldaten, die sich mit billigem Sekt betranken: mürrische Gesichter zwischen grünen Flaschen.

Zu seinem Bier wurde Arkadi eine Scheibe Roggenbrot mit Butter und Kaviar serviert. »He, woher kommt das?«

»Vom Himmel«, sagte der Geschäftsführer.

»Es gibt keinen Himmel.«

»Doch, für uns ist dies hier jetzt der Himmel.« Der Geschäftsführer grinste Arkadi mit seinem blitzenden Stahlgebiß an und schob ihm das Kaviarbrot hin.

»Na ja, ich hab heute noch keine Zeitung gelesen«, gab Arkadi zu.

Die Frau des Geschäftsführers, eine zwergenhafte Gestalt in einem weißen Kittel, kam aus der Küche. Als sie Arkadi sah, lächelte sie so strahlend, daß ihr verhärmtes Gesicht beinahe schön wirkte. Ihr Mann stand stolz neben ihr.

Die beiden waren Wiskow, F.N., und Wiskowa, I.L., die 1946 eine »konterrevolutionäre Zelle« gebildet hatten, indem sie in ihrem Antiquariat Schmierer wie Montaigne, Apollinaire und Hemingway angeboten hatten. Nach einem »verschärften Verhör«, das Wiskow verkrüppelt und seine Frau fast ohne Stimme (nach einem Selbstmordversuch mit Lauge) zurückgelassen hatte, waren sie zu je 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Im Jahre 1956 wurden die Wiskows entlassen und erhielten sogar die Möglichkeit, eine Buchhandlung aufzumachen, was sie allerdings ablehnten.

»Ich dachte, Sie seien Geschäftsführer des Schnellrestaurants am Zirkus«, sagte Arkadi.

»Dort ist meiner Frau die Arbeit zu anstrengend geworden. Hier braucht sie nur zwischendurch auszuhelfen.« Wiskow blinzelte dem Chefinspektor zu. »Manchmal kommt auch unser Junge vorbei und hilft mit.«

»Das haben wir Ihnen zu verdanken«, formte Genossin Wiskowa mühsam mit den Lippen.

Großer Gott, dachte Arkadi, ein Apparat klagt zwei Unschuldige an, verschleppt sie in Arbeitslager und raubt ihnen die besten Jahre ihres Lebens — und wenn ein Apparatschik sie auch nur halbwegs anständig behandelt, bezeugen sie ihm rührend ihre Dankbarkeit. Welches Anrecht habe ich auf ein freundliches Wort von ihnen? Er aß sein Kaviarbrot, trank sein Bier und verließ die Schnellimbissstube, so rasch er konnte, ohne unhöflich zu wirken.

In seinem Büro setzte Arkadi sich vor den Karteikasten und ging systematisch seine Unterlagen durch. Er begann mit Straftaten, bei denen Schusswaffen verwendet worden waren. Aber er fand keinen brauchbaren Hinweis.

Als nächstes blätterte Arkadi in den Karteikarten mit Eintragungen über Morde und suchte nach Verbrechen, die er vielleicht vergessen hatte: Morde, deren Ausführung sorgfältige Planung und kühnen Wagemut verriet. Aber in dreijähriger Tätigkeit als Inspektor und zweijähriger als Chefinspektor hatte er keine fünf Morde erlebt, die nicht aus kindischer Eifersucht, Habgier oder Rachsucht verübt worden waren oder nach denen sich der Täter oder die Täterin nicht betrunken prahlend oder reumütig der Miliz gestellt hatten.

Arkadi gab auf und knallte den Karteikasten zu.

Nikitin öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, kam herein und setzte sich auf Arkadis Schreibtisch. Der Chefinspektor für interbehördliche Zusammenarbeit hatte ein rundes Gesicht und schütteres Haar. Wenn er betrunken war, verengten seine Augen sich bei jedem Lächeln zu orientalischen Schlitzen. »Du machst wohl Überstunden?«

Wollte Nikitin damit sagen, daß Arkadi fleißig, übereifrig, sinnlos, erfolgreich arbeitete, daß Arkadi clever oder ein Narr war? Das alles ließ sich aus seiner Frage heraushören.

»Wie du«, sagte Arkadi nur.

»Ich arbeite nicht — ich kontrolliere nur, was du tust.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal glaube ich wirklich, daß du nicht das geringste von mir gelernt hast.«

Ilja Nikitin hatte die Mordkommission vor Arkadi geleitet; in nüchternem Zustand war er der beste Ermittlungsbeamte, den man sich nur vorstellen konnte. Wäre der Wodka nicht gewesen, hätte Nikitin es längst zum Staatsanwalt gebracht, aber der Chefinspektor war ein unverbesserlicher Trinker. Einmal pro Jahr wurde er quittegelb zur Entziehungskur nach Sotschi geschickt.

»Ich weiß immer, was du gerade tust, Wassiljewitsch. Ich behalte dich und Sonja ständig im Auge.«

An einem Wochenende, an dem Arkadi auf Dienstreise gewesen war, hatte Nikitin versucht, sich an Arkadis Frau heranzumachen. Bei Arkadis Rückkehr hatte Nikitin sich sofort nach Sotschi schicken lassen, von wo aus er täglich lange Entschuldigungsbriefe geschrieben hatte.

»Willst du eine Tasse Kaffee, Ilja?«

»Irgend jemand muß dich vor dir selbst beschützen. Entschuldige, Wassiljewitsch …«, Nikitin bestand darauf, den Vatersnamen leicht herablassend zu gebrauchen »… aber ich bin möglicherweise — obwohl du vielleicht anderer Meinung bist — ein bisschen intelligenter oder erfahrener oder zumindest besser informiert als du. Das bedeutet keine Kritik an deinen Leistungen, die allgemein bekannt und kaum verbesserungsfähig sind.« Nikitin legte grinsend den Kopf zur Seite. Er roch geradezu nach Heuchelei. »Dir fehlt im Grunde genommen nur der große Überblick.«

»Gute Nacht, Ilja.« Arkadi zog seinen Mantel an.

Nikitin folgte ihm auf den Gang hinaus. »Aber das kapierst du wahrscheinlich nie«, sagte er statt eines Abschiedsgrußes.

Arkadi fuhr mit einem Dienstwagen Richtung Osten. Der Moskwitsch war ein träges, untermotorisiertes Fahrzeug; trotzdem hätte er gern einen als Privatwagen gehabt. Auf den breiten Straßen waren um diese Zeit fast nur noch Taxis unterwegs. Arkadi dachte während der Fahrt an Major Pribluda, der bisher noch nicht angerufen hatte, um die Ermittlungen an sich zu ziehen.

Er fuhr zur Kalajewskaja-Straße 43: zum Moskauer Stadtgericht, einem alten Klinkerbau. In Moskau gab es insgesamt 17 Volksgerichte, aber Kapitalverbrechen wurden vor dem Stadtgericht verhandelt, das deshalb die Auszeichnung genoss, von der Roten Armee bewacht zu werden. Arkadi zeigte den beiden blutjungen Soldaten am Eingang seinen Dienstausweis. Im Keller weckte er einen Korporal auf, der an seinem Tisch zusammengesunken schlief.

»Ich muß in den Käfig.«

»Jetzt?« Der Korporal sprang auf und knöpfte seinen Uniformrock zu.

»Wenn’s keine Umstände macht!« Arkadi hielt ihm den Schlüsselring und die Pistole hin, die der Korporal auf dem Tisch liegengelassen hatte.

»Käfig« wurde das Archiv im Keller des Gerichtsgebäudes genannt, weil es mit einem Eisengitter gesichert war. Arkadi zog die Fächer Dezember und Januar auf.

»Wollen Sie uns nicht eine heiße Tasse Tee auf Ihrer Kochplatte machen?« schlug Arkadi dem verlegen dastehenden Korporal vor.

Er suchte nach Belastungsmaterial gegen Pribluda. Mit drei Leichen und einem Verdacht gegen den Major war nicht viel anzufangen; ganz anders sähe die Sache aus, wenn er drei Straftäter fände, die vom Stadtgericht an den KGB überstellt worden waren. Der Chefinspektor überflog eine Karteikarte nach der anderen, sonderte die zu jungen und zu alten Personen aus und achtete auf Familienstand und Arbeitsverhältnis der Straftäter. Die drei Leichen im Gorki-Park waren wohl monatelang weder von Familienangehörigen noch Arbeitskollegen vermisst worden.

Bei einer Tasse Tee machte er sich über den Februar her. Zusätzliche Schwierigkeiten bereitete die Tatsache, daß zwar alle Kapitalverbrechen vors Stadtgericht kamen, aber bestimmte Straftäter, an denen der KGB ebenso interessiert war — Dissidenten und sogenannte Parasiten —, manchmal von Volksgerichten abgeurteilt wurden, weil sich dort das Publikum leichter kontrollieren ließ. Arkadi schloß die Schubfächer und stand auf.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchen?« Der Korporal schloß hinter Arkadi ab.

»Nein.«

Der Korporal salutierte, und Arkadi verließ den Keller.

___________

Der Vorschrift gemäß hätte Arkadi den Dienstwagen zurückbringen müssen. Statt dessen fuhr er nach Hause. Es war schon nach Mitternacht, als er im Osten der Stadt von der Taganskaja-Straße in einen Innenhof zwischen Wohnblöcken abbog. In seiner Wohnung brannte kein Licht mehr. Arkadi schloß die Haustür auf, stieg die Treppe hinauf und öffnete seine Wohnungstür so leise wie möglich.

Er zog sich im Bad aus, putzte sich die Zähne und nahm seine Sachen mit ins Schlafzimmer hinüber. Das Schlafzimmer war der größte Raum der Wohnung. Auf dem Schreibtisch stand eine Stereoanlage. Arkadi nahm die Schallplatte vom Plattenteller und las den Titel im schwachen Licht am Fenster: Aznavour à l’Olympia. Neben der Stereoanlage standen zwei Wassergläser und eine leere Weinflasche.

Sonja schlief. Sie hatte ihr langes goldblondes Haar zu einem Zopf geflochten. Die Bettwäsche duftete nach dem Parfüm »Moskauer Nacht«. Als Arkadi unter die Decke schlüpfte, öffnete Sonja kurz die Augen.

»Du bist spät.«

»Tut mir leid, aber wir haben einen Mord aufzuklären. Sogar drei Morde.«

Er beobachtete, wie Sonja auf diese Mitteilung reagierte.

»Asoziale«, murmelte sie verschlafen. »Deswegen warne ich die Kinder davor, Kaugummi zu kauen. Zuerst Kaugummi, dann Rockmusik, danach Rauschgift und … «

»Und?« Arkadi erwartete, daß sie Sex sagen würde.

»Und Mord.« Nachdem Sonja diese Grundregel formuliert hatte, sank sie wieder in tiefen Schlaf. Sonja, das Rätsel, mit dem er schlief.

Eine Minute später schlief auch Arkadi von Müdigkeit überwältigt ein. Im Traum schwamm er in schwarzem Wasser und tauchte mit geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen in noch dunklere Tiefen hinab. Als er eben daran dachte, an die Oberfläche zurückzukehren, gesellte sich eine schöne Frau mit langem dunklen Haar und blassem Gesicht zu ihm. Sie nahm ihn — wie jedesmal — an der Hand. Die Unbekannte, das Rätsel, das er träumte.

2

Sonja stand nackt in der Küche und schälte sich eine Orange. Sie hatte ein breites Kindergesicht, unschuldig blaue Augen, eine schmale Taille und kleine Brüste mit winzigen Warzen, kaum größer als Impfnarben. Da sie viel Gymnastik trieb, hatte sie sehr muskulöse Beine. Ihre Stimme war hoch und kräftig.

»Nach Überzeugung berufener Fachleute sind Individualität und Originalität von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der sowjetischen Wissenschaft. Eltern müssen die neuen Lehrpläne und die Neue Mathematik akzeptieren, denn sie verkörpern Fortschritte beim Aufbau einer noch größeren Gesellschaft.« Sonja machte eine Pause und sah zu Arkadi hinüber, der seinen Kaffee auf der Fensterbank sitzend trank und sie beobachtete. »Du könntest wenigstens deine Morgengymnastik machen.«

»Ich spare meine Kräfte für eine noch größere zukünftige Gesellschaft.«

Sie beugte sich über den Tisch, um einige Zeilen zu überfliegen, die sie in einem Artikel in der Lehrerzeitung unterstrichen hatte, und spuckte dabei Orangenkerne in die Hand.

»Aber Individualismus darf nicht in Egoismus oder Karrieresucht ausarten.« Sonja warf Arkadi einen fragenden Blick zu. »Wie klingt das?«

»An deiner Stelle würde ich die Karrieresucht auslassen. In einem Moskauer Publikum sitzen zu viele Karrieremacher.«

Als sie sich Stirnrunzeln abwandte, ließ Arkadi spielerisch seine Hand über ihren Rücken gleiten.

»Laß das! Ich muß zusehen, daß ich mit meiner Rede fertig werde.«

»Wann hältst du sie?« erkundigte er sich.

»Heute Abend. Der Bezirksausschuß bestimmt ein Mitglied, das nächste Woche auf der Sitzung des Stadtkomitees das Hauptreferat halten soll. Außerdem hast ausgerechnet du ganz sicher kein Recht, Karrieremacher zu kritisieren.«

»Solche wie Schmidt?«

»Ja«, antwortete sie nach kurzer Pause. »Solche wie Schmidt.«

Sonja verschwand im Bad, und Arkadi verließ seinen Platz, um zu sehen, welchen Artikel sie unterstrichen hatte. Die Überschrift lautete »Weshalb wir größere Familien brauchen«. Im Bad schluckte Sonja ihre Antibabypille. Eine polnische Pille. Sie weigerte sich, sich eine Spirale einlegen zu lassen.

Sonja ging ins Schlafzimmer und übte an der Sprossenwand. An der anderen Wand, hinter dem Bett, hing ein schon oft geklebtes Plakat mit drei Kindern — aus Afrika, Russland und China — mit der Losung: »Ein Pionier ist der Freund der Kinder aller Nationen!« Sonja war die kleine Russin auf dem Plakat und mit ihm berühmt geworden. Auf der Universität hatte Arkadi sie als »das Mädchen auf dem Pionierplakat« kennen gelernt. Sie sah noch immer wie auf dem Plakat aus.

»Warum willst du unbedingt ein Referat halten?« fragte er durch die Tür.

»Einer von uns beiden muß schließlich an die Zukunft denken.«

»Gefälltes dir hier so schlecht?« Arkadi kam ins Schlafzimmer.

»Du verdienst hundertachtzig Rubel im Monat, und ich bekomme hundertzwanzig. Ein Vorarbeiter in der Fabrik bringt das Doppelte nach Hause. Ein Handwerker verdient mit Schwarzarbeit das Dreifache. Wir haben keinen Fernseher, keine Waschmaschine, keine neuen Sachen für mich. Wir hätten einen ausgemusterten KGB-Dienstwagen kaufen können — das hätte sich arrangieren lassen.«

»Das Modell hat mir nicht gefallen.«

»Wenn du deine Parteiarbeit ernsthafter betreiben würdest, könntest du längst fürs Zentralkomitee tätig sein.«

Als er ihre Hüfte berührte, spannten die Muskeln sich unter der glatten Haut. Die Kombination von Sex und Parteiarbeit war charakteristisch für ihre Ehe.

»Warum nimmst du eigentlich noch die Pille? Du hast seit Monaten nicht mehr mit mir geschlafen.«

Sonja umklammerte sein Handgelenk mit aller Kraft und schob es von sich fort. »Für den Fall, daß ich vergewaltigt werde«, antwortete sie.

Im Hof spielten Kinder in Schneeanzügen und warmen Mützen und starrten Arkadi und Sonja an, als sie in den Moskwitsch stiegen. Der Motor sprang beim dritten Versuch an. Arkadi fuhr auf die Taganskaja-Straße hinaus.

»Natascha hat uns für morgen aufs Land eingeladen.« Sonja starrte angestrengt geradeaus. »Ich hab die Einladung angenommen.«

»Als ich dir vor einer Woche von dieser Einladung erzählt habe, wolltest du nicht gehen«, stellte Arkadi fest.

Sonja zog ihren Schal bis zur Nasenspitze hoch. Im Wagen war es kälter als draußen, aber sie konnte keine offenen Fenster vertragen. Sie saß in Wintermantel, Pelzmütze, Schal, Stiefel und Schweigen eingehüllt neben ihm. An einer Ampel wischte er die beschlagene Windschutzscheibe ab. »Tut mir leid, daß wir uns gestern nicht zum Mittagessen treffen konnten«, sagte Arkadi. »Heute?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben eine Besprechung.«

»Alle Lehrer? Den ganzen Tag lang?«

»Dr. Schmidt und ich. Wir müssen festlegen, womit die Turner sich am Aufmarsch beteiligen werden.«

Ah, Schmidt! Die beiden hatten so vieles gemeinsam … Er war Sekretär des Bezirksausschusses der Partei. Berater in Sonjas Komsomolrat. Turner. Gemeinsame Arbeit musste gegenseitige Zuneigung erzeugen. Arkadi unterdrückte seinen Drang nach einer Zigarette, weil das allzu gut zu dem Bild des nervösen, eifersüchtigen Ehemannes gepasst hätte.

Schüler strömten durch den Haupteingang, als Arkadi vor der Schule 457 hielt. Obwohl sie theoretisch eine Schuluniform tragen mussten, hatten die meisten abgelegte Kleidungsstücke älterer Geschwister an; einheitlich waren lediglich ihre roten Pionierhalstücher.

»Ich muß mich beeilen!« Sonja stieg rasch aus.

»Schon gut.«

Sie blieb noch einen Augenblick an der Tür stehen. »Schmidt sagt, daß ich mich scheiden lassen soll, solange ich kann«, fügte sie hinzu und schloß die Autotür.

Am Haupteingang riefen Schüler ihren Namen. Sonja sah sich kurz nach dem Auto und Arkadi um, der sich eine Zigarette anzündete.

___________

Ljudin erwartete ihn hinter einem mit Glasplättchen, Fotos und Laborprotokollen übersäten Schreibtisch und lächelte so selbstgefällig wie ein Zauberkünstler, der gleich verblüffende Tricks vorführen wird.

»Mein Labor hat sich allergrößte Mühe für Sie gegeben, Genosse Chefinspektor. Die Einzelheiten sind faszinierend.«

»Ich kann’s kaum noch erwarten, sie zu hören.«

»Sie wissen natürlich, wie die Gaschromatographie funktioniert, bei der … «

»Entschuldigen Sie, das ist mein Ernst gewesen«, wandte Arkadi ein. »Ich kann’s wirklich kaum erwarten.«

»Nun ja«, meinte der Labordirektor seufzend, »um es kurz zu machen, kann ich Ihnen mitteilen, daß der Chromatograph an den Kleidungsstücken der drei Toten winzige Mengen von Gips und Sägemehl und an der Hose von GP2 einen Hauch von Gold gefunden hat. Wir haben die Kleidungsstücke mit Luminol besprüht und in der Dunkelkammer Fluoreszenz beobachtet, die auf Blut schließen ließ. Das meiste Blut stammte natürlich von den Ermordeten, aber die kleinsten Flecken waren kein Menschenblut, sondern stammten von Hühnern und Fischen. Außerdem haben wir etwas sehr Interessantes an den Kleidungsstücken festgestellt.« Ljudin hielt eine Tatortskizze mit den eingezeichneten Positionen der drei Leichen hoch. »Auf den hier schraffierten Körperoberflächen haben wir Spuren von Kohlenstoff, tierischen Fetten und Gerbsäure entdeckt. Mit anderen Worten: Nachdem die Toten teilweise eingeschneit waren, sind sie noch — wahrscheinlich innerhalb von achtundvierzig Stunden — mit einer dünnen Ascheschicht von einem in der Nähe brennenden Feuer zugedeckt worden.«

»Der Brand in der Gorki-Gerberei!« rief Arkadi aus.

»Ganz recht.« Ljudin lächelte zufrieden. »Am dritten Februar ist über dem Oktjabrskaja-Bezirk bei einem Brand in der Gorki-Gerberei ein Ascheregen niedergegangen. Am ersten und zweiten Februar sind dreißig Zentimeter Schnee gefallen. Vom dritten bis fünften Februar waren es zwanzig Zentimeter. Wäre der Schnee auf der Lichtung nicht umgeschaufelt worden, hätten wir den Tattag genau bestimmen können. Aber auch so steht ziemlich sicher fest, wann das Verbrechen verübt worden ist.«

»Ausgezeichnet!« bestätigte Arkadi. »jetzt brauchen wir den Schnee nicht mehr eigens zu untersuchen.«

»Wir haben uns außerdem mit den Kugeln befasst. An allen Kugeln lassen sich mikroskopisch kleine Stoff- und Körpergewebeteilchen nachweisen. An der Kugel GP1-A haben wir außerdem Leder-Partikel gefunden, die nicht von den Kleidungsstücken der Mordopfer stammen.«

»Pulverspuren?«

»Nicht an der Kleidung von GP1, aber schwache Spuren bei GP2 und GP3, was darauf schließen läßt, daß sie aus geringerer Entfernung erschossen worden sind.«

»Nein, das beweist, daß sie nach GP1 erschossen worden sind«, stellte Arkadi fest. »Was ist mit den Schlittschuhen?«

»Weder Blut, Gips noch Sägemehl. Keine sehr hochwertigen Schlittschuhe.«

»Ich meine Namen. Manche Leute schreiben ihren Namen auf ihre Schlittschuhe, Genosse Oberst. Haben Sie die Schlittschuhe saubergemacht und nachgesehen?«

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In seinem eigenen Büro in der Nowokusnezkaja-Straße verteilte der Chefinspektor Rollen. »Du bist Ungeheuer«, erklärte er Pascha. »Fet, Sie sind Rotkopf, der hagere kleine Mann. Und das hier … « Er stellte einen Stuhl zwischen die beiden. »Der ist Schönheit. Ich bin der Mörder.«

»Sie haben gesagt, es könne mehr als einen Täter gegeben haben«, wandte Fet ein.

»Ja, aber diesmal wollen wir den Gaul ausnahmsweise von vorn aufzäumen, anstatt zu versuchen, die Tatsachen einer Theorie anzupassen.«

»Theorie ist sowieso meine schwache Seite«, gab Pascha grinsend zu.

»Es ist Winter. Wir sind gemeinsam beim Schlittschuhlaufen gewesen. Wir sind Freunde oder zumindest Bekannte. Wir haben den Schlittschuhpfad verlassen und uns auf die Lichtung begeben, die vom Weg aus nicht einzusehen ist. Warum?«

»Um etwas zu besprechen«, schlug Fet vor.

»Um zu essen!« rief Pascha aus. »Das ist doch das Schönste am Schlittschuhlaufen — daß man eine Pause macht, um eine Pastete oder etwas Brot mit Käse zu essen. Und vor allem, um eine Flasche Wodka oder Kognak rumgehen zu lassen!«

»Ich bin der Gastgeber«, fuhr Arkadi fort. »Ich habe diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Ich habe belegte Brote mitgebracht. Wir ruhen uns aus, haben schon einen Schluck Wodka getrunken und ahnen nichts Böses.«

»Dann erschießen Sie uns?« fragte Fet. »Aus der Jackentasche heraus?«

»Dabei schießt man sich höchstens selbst in den Fuß«, wehrte Pascha ab. »Du denkst an die Lederspuren an der einen Kugel, Arkadi. Hör zu, du hast Essen mitgebracht. Deine Taschen sind dafür zu klein. Deshalb hast du das Zeug in einem Lederbeutel mitgenommen.«

»Ich verteile die belegten Brote aus einem Lederbeutel.«

»Und ich schöpfe keinen Verdacht, als du mir den Beutel vor die Brust hältst. Ich bin zuerst dran, weil ich der Größte und Stärkste bin.« Pascha nickte zufrieden. »Peng!«

»Richtig! Deshalb sind an der Kugel Lederpartikel, aber an Ungeheuers Mantel keine Pulverspuren gefunden worden. Erst bei den nächsten Schüssen werden Pulverdämpfe durch das Loch in dem Lederbeutel mitgerissen.«

»Aber der Knall«, wandte Fet ein. Die beiden anderen achteten jedoch nicht darauf.

»Rotkopf und Schönheit sehen keine Waffe«, fuhr Pascha aufgeregt fort. »Sie wissen überhaupt nicht, was passiert.«

»Vor allem nicht, weil wir angeblich Freunde sind. Ich ziele mit meiner Pistole in dem Beutel auf Rotkopf.« Arkadi zeigte auf Fet. »Peng!« Er zielte auf den Stuhl. »Unterdessen hätte Schönheit schreien können. Aber ich ahne, daß sie das nicht tun wird, daß sie nicht einmal versuchen wird zu fliehen.« Er erinnerte sich an die Frauenleiche zwischen den beiden Männern. »Ich erschieße sie. Dann verpasse ich euch beiden noch je einen Kopfschuss.«

»Den Gnadenschuss. Ja, so muß es gewesen sein.« Pascha nickte beifällig.

»Zu laut!« widersprach Fet. »Viel zu laut, finde ich. Außerdem ist ein Schuß in den Mund kein Gnadenschuss.«

Arkadis Finger zielte wieder auf ihn. »Fet, Sie haben recht. Folglich schieße ich aus einem anderen Grund auf Sie — aus einem wichtigen Grund, der das Risiko zusätzlicher Schüsse rechtfertigt.«

»Welcher wäre das?« erkundigte Pascha sich.

»Ich wollte, ich könnte deine Frage schon beantworten. Jetzt ziehe ich mein Messer und mache damit eure Gesichter unkenntlich. Die Finger schneide ich wahrscheinlich mit einer Blechschere oder dergleichen ab. Dann kommt alles in meinen Lederbeutel.«

»Du hast eine Pistole benützt«, ergänzte Pascha. »Die ist leiser als ein Revolver, und die ausgeworfenen Hülsen bleiben in der Tasche zurück. Deshalb haben wir im Schnee keine gefunden.«

»Tageszeit?« drängte Arkadi.

»Spät«, antwortete Pascha. »Dann ist die Gefahr geringer, daß andere Schlittschuhläufer auf die Lichtung kommen. Vielleicht schneit es sogar — das würde die Schüsse noch mehr dämpfen. Wann hat es diesen Winter mal nicht geschneit? Du verlässt den Park also bei Dunkelheit und Schneetreiben.«

»Deshalb sieht niemand, wie ich den Beutel in den Fluß werfe.«

»Richtig!« Pascha klatschte vor Begeisterung in die Hände.

Fet setzte sich auf den Stuhl. »Die Moskwa war zugefroren«, stellte er nüchtern fest.

»Scheiße!« sagte Pascha enttäuscht.

»Kommt, wir gehen essen«, schlug Arkadi vor. Er hatte zum erstenmal seit zwei Tagen wieder Appetit.

In dem Selbstbedienungsrestaurant in der U-Bahn-Station auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde stets ein Tisch für die Ermittlungsbeamten freigehalten. Arkadi nahm Weißfisch, Gurke in Sauerrahm, Kartoffelsalat, Brot und Bier. Der alte Below gesellte sich zu ihnen und begann, von seinen Kriegserlebnissen mit Arkadis Vater zu erzählen.

»Die tollste Geschichte hat sich bald nach Kriegsausbruch ereignet, bevor wir unsere Kräfte umgruppiert haben.« Below blinzelte mit wässrigen Augen. »Ich war damals der Fahrer des Generals.«

Arkadi erinnerte sich an diese Geschichte. Im ersten Monat nach Kriegsausbruch war die aus drei Spähpanzern bestehende Aufklärungseinheit seines Vaters hundert Kilometer hinter die deutschen Linien geraten und mit den Ohren und Schulterstücken eines SS-Gruppenführers zurückgekommen. Die Sache mit den Ohren hatte die Karriere des Generals lange beeinträchtigt.

»Das mit den Ohren war ein bösartiges, völlig unhaltbares Gerücht«, versicherte Below der Tafelrunde.

Arkadi wusste, wo sie noch heute hingen: an der Wand des Arbeitszimmers seines Vaters, des alten Generals.

»Soll ich wirklich mit allen Straßenhändlerinnen im Gorki-Park reden?« Pascha rollte eine Scheibe Fleischkäse mit der Gabel auf. »Die wollen alle nur, daß wir die Zigeuner aus dem Park jagen.«

»Du musst auch mit den Zigeunern reden«, wies der Chefinspektor ihn an. »Wir wissen jetzt, daß als Tatzeit die erste Februarwoche in Frage kommt.« Er machte eine Pause. »Und stell fest, wer für die Lautsprechermusik für Schlittschuhläufer zuständig ist.«

Tschutschin kam herein. Der Chefinspektor für Sonderfälle, der gar nicht besonders, sondern höchst durchschnittlich aussah, teilte Arkadi mit, Ljudin habe angerufen und einen auf den Schlittschuhen entdeckten Namen durchgegeben.

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Die Studios der Mosfilm lagen auf den steil zur Moskwa abfallenden Leninbergen über dem grauen Häusermeer der Großstadt. Hohe Besucher und Würdenträger wurden für Besichtigungen im Zentralpavillon von den Spitzen der Verwaltung, berühmten Regisseuren und charmanten Schauspielerinnen mit Blumen empfangen. Arkadi, der kein Würdenträger war und uneingeladen kam, musste sich mühsam durchfragen.

Hinter einem der Ateliers vertrat ihm eine energische junge Frau den Weg und hielt ein Schild mit dem Befehl Ruhe! Hoch. Arkadi merkte, daß er in Außenaufnahmen hineingeraten war. Eine Kostümfilmszene in einem kunstvoll aufgebauten Obstgarten wurde endlos wiederholt.

Arkadi, der so unauffällig wie möglich neben dem Generatorwagen stand, der den Strom für die Scheinwerfer lieferte, hatte reichlich Zeit, die Assistentin des Requisiteurs ausfindig zu machen. Sie war groß, hatte dunkle Augen, einen hellen Teint und trug ihr braunes Haar zu einem strengen Nackenknoten zusammengefasst. Ihre afghanische Lammfelljacke war abgewetzter als die der anderen Mädchen und an den Ärmeln zu kurz, so daß ihre Handgelenke sichtbar waren. Sie schien zu spüren, daß er sie beobachtete, und sah kurz zu ihm hinüber. Bevor sie sich wieder auf die Gartenszene konzentrierte, sah er den Fleck auf ihrer rechten Wange. Auf dem Foto in seiner Tasche war das Mal grau. Jetzt sah er, daß es eine blaue Verfärbung war — klein, aber um so auffallender, weil das Mädchen eine Schönheit war.

»Mittag!« rief der Regisseur plötzlich und marschierte davon. Schauspieler, Assistentinnen und Beleuchter verschwanden ebenso schnell. Arkadi beobachtete, wie die Assistentin des Requisiteurs die Gartenmöbel abdeckte und verwelkte Blumen auszupfte. Zu ihrer wirklich sehr schäbigen Lammfell Jacke trug sie ein billiges orangerotes Halstuch und rote Kunstlederstiefel — eine eigenartige Kombination, aber mit solcher Selbstsicherheit getragen, daß sie geradezu elegant wirkte. Sie sah dem Chefinspektor lächelnd entgegen.

»Irina Asanowa?« fragte Arkadi.

»Und wer sind Sie?« Die junge Frau sprach mit dunkler Stimme und weichem sibirischen Akzent. »Soviel ich weiß, kenne ich Sie nicht.«

»Aber Sie scheinen trotzdem zu wissen, daß ich hier bin, um mit Ihnen zu reden.«

»Sie sind nicht der erste, der mich bei der Arbeit stört.« Das alles sagte sie lächelnd, als wolle sie ihn nicht kränken. »Jetzt verpasse ich das Mittagessen«, stellte sie seufzend fest, »aber das ist gut für die schlanke Linie. Haben Sie eine Zigarette für mich?«

Ein paar lockige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem strengen Nackenknoten gelöst. Arkadi wusste aus den Akten, daß Irina Asanowa 21 Jahre alt war. Als er ihr Feuer für die Zigarette gab, hielt sie schützend eine Hand über die Flamme und berührte dabei mit langen, kühlen Fingern seine Hand. Diese flüchtige Intimität war ein so durchsichtiges Manöver, daß Arkadi von ihr enttäuscht war, bis er an ihrem Blick erkannte, daß sie sich über ihn amüsierte. Ihre ausdrucksvollen Augen hätten selbst das reizloseste Mädchen interessant gemacht.

»Männer der Sonderkommission rauchen im allgemeinen bessere Zigaretten, muß ich sagen.« Sie inhalierte gierig. »Legen Sie’s darauf an, mich hier rausschmeißen zu lassen? Dann suche ich mir einfach eine andere Stelle.«

»Ich komme weder von der Sonderkommission noch vom KGB. Hier.« Arkadi zeigte ihr seinen Dienstausweis.

»Anders, aber nicht sehr anders.« Sie gab ihm den Ausweis zurück. »Was will Chefinspektor Renko von mir?«

»Wir haben Ihre Schlittschuhe gefunden.«

Sie brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was er gesagt hatte. »Meine Schlittschuhe!« Sie lachte. »Sie haben sie tatsächlich gefunden? Ich hab sie vor Monaten verloren.«

»Wir haben sie an den Füßen einer Toten gefunden.«

»Gut! Geschieht ihr recht! Es gibt also doch eine ausgleichende Gerechtigkeit. Hoffentlich ist sie erfroren. Sehen Sie mich bitte nicht so schockiert an. Wissen Sie, wie lange ich für diese Schlittschuhe gespart habe? Sehen Sie sich meine Stiefel an. Los, sehen Sie sie sich an.«

Ihre roten Kunstlederstiefel platzten an den Reißverschlüssen auf. Irina Asanowa stützte sich plötzlich auf seine Schultern und zog einen Stiefel aus. Sie hatte lange, schlanke Beine.

»Ungefüttert.« Sie rieb sich die Zehen. »Haben Sie vorhin den Regisseur gesehen? Er hat mir ein Paar pelzgefütterte italienische Stiefel versprochen, wenn ich mit ihm schlafe. Würden Sie mir dazu raten?«

Das schien eine ernstgemeinte Frage zu sein. »Der Winter ist schon fast vorbei«, antwortete er.

»Eben!« Sie schlüpfte wieder in den Stiefel.

Außer von ihren Beinen war Arkadi von ihrer ungekünstelt offenen Art beeindruckt. Der jungen Frau schien es gleichgültig zu sein, was er von ihr dachte.

»Tot«, wiederholte sie. »Jetzt geht’s mir schon besser. Ich habe den Diebstahl damals auf der Eisbahn und bei der Miliz gemeldet, wie Sie wissen.«

»Sie haben den Verlust am vierten Februar gemeldet, obwohl Sie die Schlittschuhe angeblich seit dem einunddreißigsten Januar nicht mehr hatten. Haben Sie sie erst nach vier Tagen vermisst?«

»Geht’s Ihnen nicht auch so, daß Sie manchmal erst merken, daß Sie etwas verloren haben, wenn Sie’s benutzen wollen? Ich habe eine Zeitlang gebraucht, um zu rekonstruieren, wo ich sie liegengelassen hatte — dann bin ich sofort zur Eisbahn gegangen. Zu spät!«

»Ist Ihnen inzwischen noch etwas eingefallen, das Sie bei Ihrer Verlustanzeige bei der Miliz vielleicht nicht erwähnt haben? Haben Sie einen bestimmten Verdacht, wer Ihre Schlittschuhe mitgenommen haben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann praktisch jeder gewesen sein.«

»Da haben Sie recht«, bestätigte Arkadi.

»Ein Chefinspektor bemüht sich bestimmt nicht hierher, nur um mir mitzuteilen, daß meine Schlittschuhe gefunden sind«, stellte sie fest. »Ich habe der Miliz schon alles gesagt, was ich weiß. Was wollen Sie also?«

»Die junge Frau, die Ihre Schlittschuhe getragen hat, ist ermordet worden. Sie und ihre beiden Begleiter.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Ich dachte, Sie könnten uns vielleicht helfen.«

»Den Toten ist nicht mehr zu helfen. Und Ihnen helfe ich bestimmt nicht. Ich habe mal Jura studiert. Wenn Sie mich verhaften wollen, müssen Sie einen Milizionär mitbringen. Haben Sie die Absicht, mich festzunehmen?«

»Nein, ich …«

»Dann gehen Sie bitte, wenn Sie nicht wollen, daß ich meinen Job verliere. Die Leute hier haben Angst vor Ihnen. Versprechen Sie mir, nicht wiederzukommen?«

Arkadi staunte über sich selbst, daß er sich ihr lächerliches Gerede anhörte. Andererseits hatte er Verständnis für die Nöte relegierter Studenten, die irgendeine Arbeit annehmen mussten, um nicht ihre Aufenthaltsgenehmigung für Moskau zu verlieren und nach Hause geschickt zu werden. Für Irina Asanowa hätte das die Abschiebung nach Sibirien bedeutet.

»Gut, ich komme nicht wieder«, antwortete er.

»Danke.« Ihr ernster Blick wurde bittend. »Geben Sie mir noch eine Zigarette, bevor Sie gehen?«

»Hier, nehmen Sie die ganze Packung.«

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Als Arkadi das Büro des Gerichtsmediziners betrat, saß Lewin vor einem Schachbrett. Er sah nicht von den schwarzen und weißen Figuren auf. »Schwarz zieht«, sagte er.

»Darf ich?« fragte Arkadi.

Der Chefinspektor wischte die Figuren vom Brett und legte in der Mitte drei schwarze Bauern nebeneinander. »Ungeheuer, Schönheit und Rotkopf.«

»He, was soll das?« Lewin starrte ihn entgeistert an.

»Sie haben etwas übersehen, glaube ich.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Das werden Sie gleich hören. Drei Opfer, alle mit einem Schuß durchs Herz getötet.«

»Zwei weisen außerdem einen Kopfschuß auf«, stellte Lewin fest. »Woher wollen Sie wissen, welcher Schuß zuerst gefallen ist?«

»Der Mörder geht planmäßig vor«, fuhr Arkadi fort. »Er nimmt den Toten die Ausweise ab, leert ihre Taschen, zerstört ihre Gesichter und schneidet ihre Fingerspitzen ab, um die Identifizierung zu erschweren. Außerdem geht er das zusätzliche Risiko ein, den beiden Männern eine weitere Kugel in den Kopf zu schießen.«

»Um sicherzugehen, daß sie tot sind.«

»Er weiß, daß sie tot sind. Nein, bei einem der beiden Männer ist es darum gegangen, eine weitere Identifizierungsmöglichkeit zu vernichten.«

»Vielleicht hat er sie erst durch den Kopf und dann ins Herz geschossen.«

»Warum dann nicht auch das Mädchen? Nein, er schießt dem einen Toten in den Kopf, merkt dann, daß er sich dadurch selbst verrät, und verpasst auch dem zweiten Mann einen Kopfschuss.«

Lewin stand auf. »Warum dann nicht auch dem Mädchen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und ich sage Ihnen als Fachmann, der Sie nicht sind, daß ein Geschoß dieses Kalibers die Männer nicht so stark entstellt hätte, daß eine Identifizierung unmöglich geworden wäre. Außerdem hatte der Täter ihre Gesichter bereits verstümmelt.«

»Sagen Sie mir als Fachmann, was die Schüsse bewirkt haben«, forderte Arkadi ihn auf.

»Angenommen, die beiden Männer waren bereits tot …« Lewin verschränkte die Arme. »Zerstört sind vor allem Zähne, mit denen wir uns bereits befasst haben.«

Der Chefinspektor schwieg. Lewin riß eine Schublade auf und nahm zwei Schachteln mit der Aufschrift GP1 und GP2 heraus. Aus der Schachtel GP1 kippte er zwei nur wenig beschädigte Schneidezähne in seine hohle Hand.

»Gute Zähne«, stellte Lewin fest. »Mit denen hat er Nüsse knacken können.«

Die Zähne in der Schachtel GP2 waren weniger gut erhalten. Arkadi sah einen zersplitterten Schneidezahn und einen kleinen Zellophanbeutel mit Zahnsplittern.

»Der größte Teil des einen Zahns ist im Schnee verlorengegangen. An den Resten haben wir Zahnschmelz, Dentin, Zement, Pulpa, Nikotinverfärbung und Bleispuren gefunden.«

»Eine Füllung?« fragte Arkadi.

»›Neun Gramm‹.« Lewin benützte den Jargonausdruck für eine Kugel. »Zufrieden?«

»Diese Zähne haben Rotkopf gehört?«

»Gorki-Park zwo, verdammt noch mal!«

Rotkopf lag im Erdgeschoß im Kühlfach. Sie rollten ihn in den Sezierraum. Arkadi paffte angestrengt eine Zigarette.

»Gehen Sie mir aus dem Licht!« Lewin schob ihn beiseite. »Ich dachte, diese Arbeit sei Ihnen zuwider?«

Im Oberkiefer des Toten fehlten zwei Schneidezähne aus der Reihe der gelblich verfärbten Vorderzähne. Lewin holte mit einer Pinzette einige winzige Knochensplitter aus dem Zahnfleisch und legte sie auf einen feuchten Objektträger. Mit dem Glasplättchen marschierte er dann zu einem Mikroskop auf einem Arbeitstisch.

»Wissen Sie eigentlich, worauf Sie’s abgesehen haben, oder raten Sie nur?« fragte er Arkadi.

»Ich rate nur — aber es raubt ja wohl niemand einen leeren Safe aus.«

»Glauben Sie?« Der Pathologe sah durchs Mikroskop, während er die Knochensplitter mit einer Nadel bewegte. Arkadi zog sich einen Stuhl heran und setzte sich so, daß er der Leiche den Rücken zukehrte.

Lewin entfernte einen Zahnsplitter nach dem anderen von dem Objektträger.

»Ich habe Ihnen einen Bericht geschickt, den Sie wahrscheinlich noch nicht gesehen haben«, sagte Lewin. »Die Fingerspitzen sind mit einer großen Schere abgeschnitten worden — das zeigen die deutlichen Einkerbungen an der Ober- und Unterseite. Die Gesichter wurden nicht mit einem Skalpell abgezogen; ich tippe eher auf ein — allerdings außergewöhnlich scharfes — Jagdmesser.« Auf dem Objektträger lagen kaum noch Zahnsplitter. »Hier, sehen Sie sich das an.« Bei zweihundertfacher Vergrößerung sah Arkadi eine rosa Masse zwischen elfenbeinweißen Knochensplittern.

»Was ist das?«

»Guttapercha. Der Zahn ist so zersplittert, weil er abgestorben und spröde gewesen ist. Das Guttapercha ist bei einer Wurzelbehandlung zur Füllung der Zahnwurzel benützt worden.«

»Ich habe nicht gewusst, daß das üblich ist.«

»Bei uns ist es das auch nicht. Das ist keine europäische Methode. Nur amerikanische Zahnärzte verwenden Guttapercha.« Lewin verzog das Gesicht, als er Arkadis Grinsen sah. »Sie haben keinen Grund, auf Ihren Dusel stolz zu sein.«

»Bin ich auch nicht.«

In seinem Büro schrieb Arkadi einen kurzen Bericht, nahm den Durchschlag zu den Ermittlungsakten und trug das Original so behutsam wie einen Hinrichtungsaufschub nach nebenan. Jamskoi war nicht in seinem Büro. Arkadi legte ihm den Bericht mitten auf den Schreibtisch.

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Als Pascha nachmittags ins Büro zurückkam, traf er den Chefinspektor in Hemdsärmeln und in einer Illustrierten blätternd an. Der Kriminalbeamte stellte sein Tonbandgerät ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Was ist mit dir? Bist du vorzeitig pensioniert worden?«

»Nein, Pascha. Du siehst vor dir einen Mann, dem es gelungen ist, alle Verantwortung abzuwälzen.«

»Wie meinst du das? Dabei hab ich eben unseren Fall gelöst …«

»Für uns existiert kein Fall Gorki-Park mehr.«

Arkadi berichtete von der Zahnfüllung des Ermordeten.

»Ein amerikanischer Spion?«

»Das braucht uns nicht zu kümmern, Pascha. Ein toter Amerikaner genügt. Jetzt muß Pribluda den Fall übernehmen.« Arkadi machte eine Pause. »Er hätte von Anfang an die Ermittlungen führen sollen. Eine dreifache Hinrichtung ist kein Fall für uns.«

»Typisch KGB! Diese Gauner! Nachdem wir die ganze Vorarbeit geleistet haben!«

»Welche Vorarbeit? Wir haben die Toten nicht identifizieren können und wissen erst recht nicht, wer sie ermordet hat.«

»Sie kriegen doppelt soviel Gehalt wie wir und haben eigene Läden und tolle Sportklubs.« Pascha war wieder einmal bei einem seiner Lieblingsthemen. »Kannst du mir sagen, in welcher Beziehung sie besser sind, warum ich nie angeworben worden bin? Kann ich etwa was dafür, daß mein Großvater ein Fürst gewesen ist? Nein, man braucht einen einwandfreien Stammbaum — zehn Generationen Schweiß und Dreck — oder muß zehn Sprachen sprechen.«

»Bei Schweiß und Dreck ist Pribluda dir eindeutig über. Aber ich bezweifle, daß er Fremdsprachen beherrscht.«

»Ich könnte Französisch oder Chinesisch sprechen, wenn man mir die nötige Ausbildung erlauben würde«, fuhr Pascha fort.

»Du sprichst Deutsch.«

»Deutsch kann jeder. Nein, das ist wieder typisch für mein Pech! Wir rackern uns ab, und der KGB kriegt dann die Belobigung.«

Arkadi stand auf und ging in Nikitins Büro hinüber. Der Chefinspektor für interbehördliche Zusammenarbeit war nicht da. Arkadi nahm einen Schlüssel aus seinem Schreibtisch und sperrte einen hölzernen Safe auf, der ein Telefonbuch und vier Flaschen Wodka enthielt. Er nahm nur eine Flasche mit.

»Möchtest du wirklich lieber beim KGB als ein guter Kriminalbeamter sein?« fragte er Pascha. Der andere starrte trübselig zu Boden. Arkadi schenkte zwei Gläser Wodka ein. »Komm, wir trinken!«

»Auf wen?« murmelte Pascha.

»Auf deinen Großvater, den Fürsten!« schlug Arkadi vor. Pascha wurde vor Verlegenheit rot. Er blickte durch die offene Tür in den Korridor hinaus. »Auf den Zaren!« fügte Arkadi hinzu. »Bitte!«

Pascha stand auf und schloß die Tür.

»Dann trink endlich!«

Beim zweiten Glas besserte sich Paschas Stimmung. Sie tranken auf Lewins gerichtsmedizinischen Spürsinn, den zwangsläufigen Triumph der sowjetischen Justiz und die Öffnung des Seeweges nach Wladiwostok. Dann forderte Arkadi Pascha auf, ihm zu erzählen, wie er den Fall »gelöst« habe.

Pascha zuckte mit den Schultern, aber der Chefinspektor bestand darauf, seinen Bericht zu hören. Wer den ganzen Tag mit alten Babuschkas geredet hatte, hatte eine kleine Belohnung verdient.

»Na ja, mir ist eingefallen«, begann Pascha scheinbar widerstrebend, »daß die Schüsse vielleicht nicht nur vom Schnee gedämpft worden sind. Nachdem ich den größten Teil des Tages mit der Befragung von Straßenverkäuferinnen zugebracht hatte, bin ich zu der kleinen alten Frau gegangen, die die Schallplatten auflegt, wenn im Winter Musik für Schlittschuhläufer gemacht wird. Sie sitzt in einem kleinen Raum in dem Gebäude am Eingang Krimski-Wal-Straße. Ich frage: ›Spielen Sie auch laute Musik?‹ Sie starrt mich an. Ich frage: ›Haben Sie ein bestimmtes Programm, an das Sie sich jeden Tag halten?‹ Sie glotzt mich an. Ich betrachte den Stapel Schallplatten neben ihr und stelle fest, daß die Langspielplatten von eins bis fünfzehn durchnummeriert sind. Da anzunehmen ist, daß die Morde gegen Abend verübt wurden, gehe ich den Plattenstapel von hinten durch. Nummer fünfzehn ist natürlich ein Potpourri aus ›Schwanensee‹. Und Nummer vierzehn? Ausgerechnet die ›Ouvertüre zu 1812‹ mit Kanonen, Pauken und Trompeten! Dann werde ich endlich schlauer. Warum sind die Schallplatten nummeriert? Ich halte mir eine vors Gesicht und frage: ›Wie laut spielen Sie die Platten?‹ Sie reagiert nicht; sie hat nichts gehört, weil sie taub ist! Eine taube Alte macht die Musik im Gorki-Park!«

3

Ein letztes Winterwochenende auf dem Land. Die Scheibenwischer kämpften gegen große weiche Schneeflocken an. Eine Flasche Wodka musste als Ausgleich für die unzulängliche Autoheizung herhalten.

Sonja saß hinten mit Natascha Mikojan, Arkadi vorn neben Michail Mikojan, seinem ältesten Freund. Die beiden Männer hatten den Komsomol, ihren Wehrdienst, die Moskauer Universität und den Vorbereitungsdienst für Juristen gemeinsam absolviert. Sie hatten den gleichen Ehrgeiz gehabt, die gleichen Trinkgelage gefeiert, für die gleichen Dichter geschwärmt und manchmal sogar die gleichen Freundinnen gehabt. Der schlanke, kleine Mischa mit seinem Babygesicht unter schwarzem Wuschelhaar war nach dem Vorbereitungsdienst ins Städtische Anwaltskollegium eingetreten. Offiziell verdienten Strafverteidiger nicht mehr als Richter — rund 2000 Rubel im Monat. Inoffiziell zahlten ihre Mandanten doppelte und dreifache Honorare, so daß Mischa sich gute Anzüge, einen Rubinring am kleinen Finger, Pelze für Natascha, ein Landhaus und einen zweitürigen Schiguli leisten konnte.

Die schwarzhaarige Natascha, die so zierlich war, daß sie Kinderkleidung tragen konnte, arbeitete als Redakteurin bei der Presseagentur Nowosti und ließ jährlich eine Abtreibung vornehmen. Sie vertrug die Pille nicht, versorgte aber ihre Freundinnen damit.

Die Datscha lag etwa 30 Kilometer östlich von Moskau. Mischa hatte wie üblich ein gutes halbes Dutzend Freunde fürs Wochenende eingeladen. Als die Gastgeber und ihre Begleiter beladen mit Brotlaiben, Heringsgläsern und Wodkaflaschen hereinkamen und den Schnee von ihren Stiefeln stampften, wurden sie von einem jungen Paar, das gerade seine Skier wachste, und einem dicken Mann begrüßt, dessen Pullover zu platzen drohte, als er sich am offenen Kamin zu schaffen machte. Weitere Gäste folgten: ein Kulturfilmregisseur und seine Geliebte; ein Balletttänzer, dem seine unscheinbare Frau wie eine Ente ihrem Erpel folgte. Die Neuankömmlinge zogen sich zum Langlaufen um — die Männer in einem Zimmer, die Frauen in einem anderen.

Sonja wollte bei Natascha bleiben, die sich noch von ihrer letzten Schwangerschaftsunterbrechung erholte. Draußen hörte es zu schneien auf; der Neuschnee lag als dicke weiche Decke über der Hügellandschaft.

Mischa genoß es, seine Skispur durch die Birkenwälder zu ziehen. Arkadi gab sich damit zufrieden, ihm zu folgen und zwischendurch stehen zu bleiben, um die verschneite Landschaft zu bewundern. Er lief mit langen, federnden Schritten und holte den voraushastenden Mischa jedes mal mühelos ein. Nach einer Stunde machten sie eine Pause, damit Mischa das Eis, das sich zwischen Schuhen und Skiern gebildet hatte, abkratzen konnte. Arkadi sah ihm, auf seine Stöcke gestützt, zu.

Mischa bearbeitete die Eiskruste in der gleichen Weise, wie er vor Gericht auftrat: energiegeladen, dramatisch. Als kleiner Junge hatte er die lauteste Stimme gehabt — ein winziges Boot mit einem riesigen Segel. Er hämmerte auf seine Skier ein.

»Arkascha, ich habe ein Problem.« Er ließ die Skier fallen.

»Wer ist’s diesmal?«

»Eine neue Schreibkraft, ein junges Ding von knapp neunzehn Jahren. Natascha hat Verdacht geschöpft, fürchte ich. Na ja, ich treibe kaum Sport und spiele nicht Schach — was bleibt einem da schon als Freizeitvergnügen? Das Lächerliche daran ist, daß ich buchstäblich an den Lippen der Kleinen hänge, obwohl sie vielleicht der ungebildetste Mensch ist, den ich je kennen gelernt habe. Eine Liebesaffäre ist eigentlich gar nicht schön, wenn man selbst drinsteckt. Und vor allem nicht billig.« Mischa knöpfte seufzend seine Jacke auf und zog eine Flasche Wein heraus. »Ein guter französischer Sauternes, den mir der Balletttänzer mitgebracht hat. Angeblich der beste Dessertwein der Welt. Willst du einen Schluck?«

Mischa hatte die Flasche vorsorglich entkorkt und hielt sie seinem Freund hin. Arkadi nahm einen Schluck. Der bernsteingelbe Wein war zuckersüß.

»Süß?« fragte Mischa, als Arkadi das Gesicht verzog.

»Nicht so süß wie manche russischen Weine«, sagte Arkadi patriotisch.

Sie tranken abwechselnd. Um sie herum fiel Schnee von den Bäumen — manchmal mit dumpfem Aufprall, manchmal kaum hörbar. Arkadi war gern mit Mischa zusammen. Am schönsten war dieses Zusammensein, wenn Mischa den Mund hielt.

»Liegt Sonja dir noch immer mit der Partei in den Ohren?« erkundigte Mischa sich.

»Ich bin Parteimitglied, ich habe ein Mitgliedsbuch.«

»Aber nur mit knapper Not. Was kostet es schon, ein bisschen aktiver zu sein? Man geht einmal im Monat zur Versammlung und kann dort sogar Zeitung lesen. Einmal im Jahr wird gewählt, und zwei-, dreimal im Jahr sammelt man Unterschriften für eine Verurteilung Chinas oder Chiles. Du tust nicht mal das. Du hast nur ein Parteibuch, weil du sonst nicht Chefinspektor sein könntest. Das weiß jeder, deshalb wärst du gut beraten, wenn du dich ein bisschen häufiger auf Parteiversammlungen blicken lassen würdest.«

»Daß ich auf Versammlungen fehle, hat jedes mal einen guten Grund.«

»Klar. Kein Wunder, daß Sonja wütend ist. Du solltest auch ein bisschen an sie denken. Bei deinen Leistungen könntest du’s mühelos zum Inspektor beim Zentralkomitee bringen. Dann könntest du kreuz und quer durchs Land reisen, die örtlichen Milizen inspizieren, Kampagnen einleiten und dafür sorgen, daß die Milizgenerale sich vor Angst in die Hosen scheißen.«

»Das klingt nicht sonderlich reizvoll.«

»Das ist kein Argument. Wichtig wäre, daß du in Zentralkomitee-Geschäften einkaufen könntest, gelegentlich ins Ausland dürftest und Verbindung zu den Männern hättest, die im Zentralkomitee die Personalentscheidungen treffen. Du wärst auf dem Weg nach oben.« Mischa warf Arkadi einen prüfenden Blick zu. »Ich sehe schon, daß du dich nicht von mir umstimmen lassen willst. Warum redest du nicht mal mit Jamskoi? Er mag dich.«

»Tatsächlich?«

»Wodurch ist er denn so berühmt geworden, Arkascha? Durch den Fall Wiskow. Vor dem Obersten Gerichtshof prangert Jamskoi den Apparat an, der den jungen Arbeiter Wiskow fälschlich zu fünfzehn Jahren wegen Totschlags verurteilt hat. Ausgerechnet der Moskauer Staatsanwalt Jamskoi als Vorkämpfer der Bürgerrechte! Und wer hat diesen Fall erneut aufgerollt? Du! Wer hat Jamskoi mit der Drohung, den Fall in Fachzeitschriften zu veröffentlichen, zum Handeln gezwungen? Du! Deshalb hat Jamskoi plötzlich beschlossen, zum Helden dieser Geschichte zu werden. Er ist dir einiges schuldig. Andererseits wäre er vielleicht froh, dich wegloben zu können.«

»Seit wann hast du Verbindung mit Jamskoi?« fragte Arkadi interessiert.

»Oh, ich habe kürzlich mit ihm zu tun gehabt. Wegen eines Mandanten, der behauptete, meine Honorarforderung sei überhöht. Dabei war sie keineswegs überhöht, denn ich habe erreicht, daß der Schweinehund freigesprochen worden ist. Der Staatsanwalt hat den Fall erstaunlich verständnisvoll beurteilt. Im Gespräch ist dann auch dein Name gefallen. Die Sache hätte mir den Hals brechen können, mehr möchte ich dazu nicht sagen.«

Mischa sollte so unverschämte Honorarforderungen gestellt haben, daß ein Freigesprochener sich offiziell beschwert hatte? Arkadi hätte seinen Freund niemals für korrupt gehalten. Auch Mischa schien dieses Eingeständnis zu bedrücken.

»Dabei hab ich den Kerl freigekriegt!« Er schüttelte den Kopf. »Warum hab ich bloß soviel Geld verlangt?«

Arkadi bemühte sich, das Thema zu wechseln. »Vor zwei Tagen bin ich zufällig Wiskows Eltern begegnet«, berichtete er. »Sein Vater führt jetzt ein Schnellrestaurant am Paweletski-Bahnhof. Was für eine Odyssee die beiden hinter sich haben!«

»Arkascha, du bringst mich noch zur Verzweiflung!« explodierte sein Freund. »Begreifst du nicht, wie wichtig es ist, mit den richtigen Leuten zu verkehren?« Mischa sprach leiser weiter. »Ich hab von den Leichen im Gorki-Park und deiner neuerlichen Auseinandersetzung mit Major Pribluda gehört. Bist du übergeschnappt?«

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Als sie zurückkamen, war nur noch Natascha im Haus.

»Sonja ist mit Leuten aus der Nachbardatscha unterwegs«, erklärte sie Arkadi. »Mit einem Mann mit einem deutschen Namen.«

»Sie meint Schmidt.« Mischa zog sich am Kamin die Stiefel aus. »Du kennst ihn bestimmt, Arkascha. Schmidt aus Moskau. Er hat die Datscha erst vor kurzem übernommen. Vielleicht ist er Sonjas neuer Liebhaber.«

Mischa las die Wahrheit in Arkadis Gesicht. Er wurde rot und saß mit offenem Mund und dem nassen Stiefel in der Hand da.

»Laß deine Stiefel in der Küche abtropfen, Mischa«, forderte Natascha ihn auf. Sie drückte Arkadi aufs Sofa und schenkte ihm und sich einen Wodka ein, während ihr Mann hinausstolperte.

»Dieser Dummkopf!« Sie nickte zur Küche hinüber.

»Er hat nicht gewusst, was er gesagt hat.« Arkadi leerte sein Glas mit zwei Zügen.

»Das ist seine Methode — er weiß nie, was er sagt. Er sagt alles, deshalb muß er gelegentlich recht haben.«

»Aber du weißt, was du sagst?« erkundigte Arkadi sich.

»Ich bin Sonjas Freundin. Ich bin deine Freundin. In Wirklichkeit bin ich mehr ihre Freundin. In Wirklichkeit habe ich ihr seit Jahren geraten, dich zu verlassen.«

»Warum?«

»Du liebst sie nicht, sonst würdest du alles tun, um sie glücklich zu machen. Du würdest tun, was Schmidt tut. Die beiden sind füreinander geschaffen.« Natascha schenkte nach. »Warum willst du ihrem Glück noch länger im Wege stehen?« Sie trank einen Schluck und kicherte plötzlich. »Ich weiß genau, daß du sie langweilig findest. Sie war zwei, drei Jahre lang ganz unterhaltsam, aber jetzt gebe sogar ich zu, daß sie langweilig ist. Und du bist es nicht.« Natascha fuhr ihm mit einem Finger über den Handrücken. »Du bist der einzige unterhaltsame Mann, den ich noch kenne.«

Natascha schenkte sich einen dritten Wodka ein, bevor sie leicht schwankend in die Küche ging und Arkadi allein auf dem Sofa zurückließ. Mischa und Natascha hatten den Raum mit Ikonen und eigenartigen geschnitzten Statuen geschmückt, und im Gold der Ikonen spiegelte sich das Kaminfeuer wider. Arkadi starrte eine der Ikonen an, eine Muttergottes. Das byzantinische Gesicht, vor allem die ausdrucksvollen Augen, erinnerte ihn nicht an Sonja oder Natascha, sondern an die junge Frau bei Mosfilm.

»Auf Irina!« Er hob sein Glas.

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Um Mitternacht waren alle Gäste wieder im Haus und ohne Ausnahme betrunken. Es gab ein Büfett mit kaltem Braten Würstchen, Fisch, Blini, Käse, Brot, Essiggurken und sogar Presskaviar. Irgend jemand deklamierte mit lauter Stimme Gedichte. Am anderen Ende des Raumes tanzten einige Paare zu einer ungarischen Imitation der Bee Gees. Mischa hockte schuldbewusst in einem Sessel und beobachtete Sonja, die dicht neben Schmidt saß.

»Ich dachte, wir wollten dieses Wochenende gemeinsam verbringen«, sagte Arkadi, als er später mit Sonja in der Küche allein war. »Was hat Schmidt hier auf einmal zu suchen?«

»Ich hab ihn eingeladen.« Sie ging mit einer Flasche Wein hinaus.

Schmidt hob sein Glas auf ihr Wohl. »Auf Sonja Renko, die gestern von ihrem Bezirksausschuß dazu bestimmt worden ist, nächste Woche auf der Sitzung des Stadtkomitees das Hauptreferat zu halten, worauf wir alle sehr stolz sind — vor allem ihr Ehemann.«

Arkadi kam genau in diesem Augenblick aus der Küche, und alle starrten ihn an — nur Schmidt nicht, denn er blinzelte Sonja zu. Natascha befreite Arkadi aus seiner Verlegenheit, indem sie ihm ein Glas in die Hand drückte. Schmidt und Sonja standen auf, um zu einem schmalzigen Song eines georgischen Schlagersängers zu tanzen.

Man merkte den beiden an, daß sie nicht zum erstenmal miteinander tanzten. Schmidt war trotz seiner Stirnglatze sportlich durchtrainiert, tanzte gut und führte mit energisch vorgerecktem Kinn. Er hatte den Stiernacken eines Turners und trug die schwarze Hornbrille eines Parteidenkers. Seine Hand lag besitzergreifend auf Sonjas Rücken, als sie sich an ihn schmiegte.

»Auf den Genossen Schmidt!« Mischa kam mit einer Flasche in der Hand schwankend auf die Beine, als der Song zu Ende war. »Wir trinken nicht auf den Genossen Schmidt, weil er sich eine Pfründe beim Bezirksausschuß gesichert hat, wo er Kreuzworträtsel löst und nebenbei geklautes Büromaterial verkauft, denn ich kann mich entsinnen, auch schon mal eine Büroklammer mitgenommen zu haben.« Er trank einen Schluck aus der Flasche und wischte sich verlegen grinsend Wodka vom Kinn. »Wir trinken nicht auf ihn, weil er zu Politseminaren ans Schwarze Meer darf, denn ich hab’ letztes Jahr nach Murmansk fliegen dürfen. Und wir trinken auch nicht auf ihn, weil er mit seinem Tschaika harmlose Fußgänger überfahren kann, denn für uns gibt’s die beste U-Bahn der Welt. Nein, wir trinken aus keinem dieser Gründe auf den Genossen Dr. Schmidt. Wir trinken auf ihn, weil er ein so guter Kommunist ist!«

Schmidt rang sich ein Lächeln ab.

Die Tanzenden, Redenden, Sitzenden schrien immer betrunkener durcheinander. Arkadi stand einige Minuten in der Küche, um sich einen Kaffee zu kochen, bevor er merkte, daß der Filmemacher hinter der Tür die Frau des Balletttänzers abknutschte. Er verschwand und ließ seine Tasse zurück. Im Wohnzimmer tanzte Mischa, schläfrig den Kopf auf Nataschas Schulter gelegt. Arkadi stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf und wollte die Tür öffnen, als Schmidt herauskam und sie hinter sich schloss.

»Ich trinke auf dich«, flüsterte Schmidt, »weil deine Frau ein toller Betthase ist.«

Arkadi verpasste ihm einen Magenhaken. Als der überraschte Schmidt vom Türrahmen abprallte, traf die linke Faust seinen Mund. Schmidt ging zu Boden und rollte sich überschlagend die Treppe hinunter. Unten fiel ihm die Brille von der Nase, und er musste sich übergeben.

»Was ist hier los?« Sonja stand auf der Schwelle zum Schlafzimmer.

»Das weißt du doch«, sagte Arkadi.

Aus ihrem Gesichtsausdruck sprachen Haß und Angst; überraschend für Arkadi kam die große Erleichterung, die ihr anzumerken war.

»Dreckskerl!« fauchte sie und lief die Treppe hinunter, um sich um Schmidt zu kümmern.

»Ich hab nur gute Nacht zu ihm gesagt.« Schmidt tastete nach seiner Brille. Sonja fand sie, wischte sie an ihrem Pullover ab und half dem Bezirksausschussvorsitzenden auf die Beine. »So was will Kriminalbeamter sein?« Schmidt berührte vorsichtig seine aufgeplatzte Unterlippe. »Der Kerl ist verrückt!«

»Lügner!« brüllte Arkadi.

Niemand achtete auf ihn. Arkadi erkannte zu spät, daß Schmidt ihn nur hatte provozieren wollen. Nein, diesmal hatten sie’s nicht miteinander getrieben — nicht unter dem Dach ihrer Freundin, nicht solange der Ehemann da war. Arkadi hatte die Lüge geglaubt, weil sie ehrlicher war als seine Ehe. Eine verdrehte Welt: Sonja empört und wütend und Arkadi der betrogene Ehemann, schämte sich.

Von der Haustür der Datscha aus beobachtete er, wie Schmidt und Sonja davonfuhren. Über den Birken stand der Vollmond.

»Tut mir leid«, wiederholte Mischa mehrmals, während Natascha nachdenklich schweigend im Flur saubermachte.

4

»Sie haben wie immer vorbildlich gearbeitet«, stellte Jamskoi fest. »Ihre rasche Entdeckung, daß eines der Mordopfer von einem ausländischen Zahnarzt behandelt worden ist, hat wie eine Bombe eingeschlagen. Ich habe sofort eine gründliche Überprüfung durch die Organe für Staatssicherheit veranlasst. Mit Hilfe eines Computers wurden am Wochenende alle in der Sowjetunion bekannten Ausländer überprüft; auf keinen einzigen passt die Personenbeschreibung des Toten und keiner wird als vermisst gemeldet. Nach Ansicht der Analytiker haben wir es mit einem sowjetischen Bürger zu tun, der bei einem Auslandsaufenthalt von einem amerikanischen oder in Amerika ausgebildeten Zahnarzt behandelt worden ist. Da alle in Frage kommenden Ausländer überprüft worden sind, muß ich mich dieser Auffassung anschließen.«

Der Staatsanwalt sprach sehr ernst und aufrichtig.

»Ich als Staatsanwalt habe jetzt zu entscheiden, Arkadi Wassiljewitsch, ob die Verantwortung für die weiteren Ermittlungen auf den KGB übergehen soll oder ob Sie in bewährter Weise weiterarbeiten sollen. Allein die Möglichkeit, daß es sich bei einem der Toten um einen Ausländer gehandelt haben könnte, ist beunruhigend. Was bedeuten kann, daß Sie Ihre Ermittlungen abbrechen müssen. Wäre es deshalb nicht angebracht, sie gleich jetzt dem KGB zu übertragen?«

Jamskoi machte eine Pause, als denke er tatsächlich über diese Frage nach.

»Was passiert aber, wenn ich Ihnen die Ermittlungen entziehe und dem KGB übertrage? Für uns ist das ein Rückschlag. Der eine Ermordete ist vermutlich Russe gewesen — das beweist die typisch russische Stahlkrone, die er außer der anderen Füllung hatte. Daß der zweite Mann und die junge Frau Sowjetbürger gewesen sind, scheint außer Zweifel zu stehen. Der oder die Täter sowie die meisten von den Ermittlungen Betroffenen sind Russen, so daß ich gar nicht das Recht habe, ohne greifbare Beweise auf die Fortführung der Ermittlungen durch die MWD-Miliz zu verzichten. Wie komme ich meiner Verpflichtung zur Wahrung der Bürgerrechte nach, wenn ich das tue? Wie viel ist Ihre Unabhängigkeit wert, wenn Sie sie sofort freiwillig aufgeben, sobald es Schwierigkeiten gibt? Nein, wir dürfen nicht versuchen, uns der Verantwortung zu entziehen. Das wäre meiner Überzeugung nach grundfalsch.«

»Was würde Sie vom Gegenteil überzeugen?« fragte Arkadi.

»Wenn Sie beweisen, daß einer der Ermordeten oder der Täter kein Sowjetbürger gewesen ist.«

»Den Beweis kann ich nicht erbringen«, gab Arkadi zu. »Aber ich vermute, daß einer der Ermordeten ein Ausländer gewesen ist.«

»Das genügt leider nicht«, meinte der Staatsanwalt seufzend, wie ein Erwachsener im Gespräch mit einem unverständigen Kind.

»Mir ist übers Wochenende eingefallen, was die Ermordeten getan haben könnten«, warf Arkadi rasch ein, bevor Jamskoi ihn entließ.

»Was denn?«

»An ihren Kleidungsstücken sind Gips, Sägemehl und Goldspuren nachgewiesen worden. Damit werden Ikonen restauriert. Auf dem schwarzen Markt sind Ikonen sehr begehrt. Vor allem ausländische Touristen kaufen sie und versuchen, sie aus dem Land zu schmuggeln.«

»Bitte weiter!«

»Ich halte es für möglich, daß dieser eine Ermordete ein Ausländer gewesen ist, der mit Schwarzmarktgeschäften zu tun gehabt hat, in die hier in Moskau viele Ausländer verwickelt sind. Um ganz sicherzugehen, daß wir’s nicht mit einem Ausländer zu tun haben, für den wir nicht zuständig wären, verlange ich von Major Pribluda Tonbänder und Abhörprotokolle von allen Ausländern, die sich im Januar und Februar in Moskau aufgehalten haben. Darauf lässt der KGB sich unmöglich ein, aber ich will, daß meine Forderung und seine Ablehnung schriftlich festgehalten werden.«

Jamskoi lächelte. Beide Männer wussten recht gut, daß diese offizielle Forderung Pribluda dazu veranlassen würde, die Ermittlungen um so rascher an sich zu ziehen.

»Haben Sie das wirklich vor? Das ist eine provokante — nach Meinung mancher sogar unerhörte — Forderung.«

»Ja, das habe ich vor«, bestätigte Arkadi.

Jamskoi ließ sich mehr Zeit mit der Ablehnung seines Vorschlags, als Arkadi erwartet hatte. Irgend etwas schien den Staatsanwalt an seiner Idee zu reizen.

»Ihr Einfallsreichtum erstaunt mich jedes mal wieder, muß ich sagen. Bisher haben Sie stets den richtigen Riecher gehabt. Und Sie sind der ranghöchste Moskauer Ermittlungsbeamte. Nehmen wir einmal an, Sie könnten Ihren Plan in die Tat umsetzen — würden Sie dann alle Ausländer überprüfen, die keine Diplomaten sind?«

Arkadi war so verblüfft, daß er nur wortlos nicken konnte. »Gut, das lässt sich arrangieren.« Jamskoi notierte sich etwas.

»Sonst noch was?«

»Alle Tonbänder und Protokolle, die seit Entdeckung der Leichen aufgenommen wurden und werden«, fügte Arkadi rasch hinzu. Wann war der Staatsanwalt wieder einmal so umgänglich? »Die Ermittlungen müssen auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden.«

»Ich kenne Sie als findigen und fleißigen Ermittlungsbeamten. Alles Gute für Ihre Arbeit, Arkadi Wassiljewitsch!«

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Schönheit lag auf dem Seziertisch.

»Andrejew braucht auch den Hals«, sagte Lewin.

Der Pathologe schob einen Holzklotz unter den Nacken, der dadurch etwas nach oben gewölbt wurde, und zog das Haar darunter hervor. Dann trennte er Kopf und Hals vom Rumpf. Arkadi hatte keine Zigarette; er hielt die Luft an.

Lewin durchtrennte das Rückgrat zwischen dem sechsten und siebten Halswirbel. Als der Hals zersägt war, wäre der Kopf vom Tisch gerollt, wenn Arkadi ihn nicht mit einer Reflexbewegung aufgefangen und zurückgelegt hätte.

»Behalten Sie ihn nur, Chefinspektor, er gehört Ihnen.«

Arkadi wischte sich die Hände ab. Der Kopf war bereits angetaut. »Ich brauche einen Behälter.«

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Das ethnologische Institut der Akademie der Wissenschaften am Gorki-Park befasst sich nicht nur mit prähistorischen Funden, sondern hat seit Kriegsende auch weit über hundert Gesichter von Ermordeten für erkennungsdienstliche Zwecke rekonstruiert. Dieses Verfahren ist eine Spezialität der Moskauer Miliz. Einige der Rekonstruktionen waren lediglich primitive Gipsnachbildungen; andere, von Andrejews Hand, verblüfften nicht nur durch ihre Detailtreue, sondern durch ihren Gesichtsausdruck. Die Enthüllung eines von Andrejew modellierten Kopfes vor Gericht war jedes mal ein Triumph für den Staatsanwalt.

»Herein! Nur herein!«

Arkadi folgte der Stimme in ein Atelier, das vollgestellt war mit Glasschränken. Glasschränken voller Köpfe. Aus einem Oberlicht fiel Helligkeit auf einen Tisch, auf dem Arkadi verschiedene Büsten erkannte. Ein zwerghaftes Männchen rutschte von einem Hocker, Hände und Laborkittel weiß von Gips. Andrejew.

»Sie sind der Chefinspektor, der angerufen hat?«

»Ja.« Arkadi sah sich nach einem Platz für seinen Behälter um.

»Den können Sie gleich wieder mitnehmen«, sagte Andrejew. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen den Kopf zu modellieren. Ich arbeite nur noch für die Miliz, wenn der Fall seit mindestens einem Jahr ungelöst ist. Das ist reiner Selbstschutz. Sie würden staunen, wie oft die Miliz imstande ist, ein Verbrechen innerhalb eines Jahres aus eigener Kraft aufzuklären. Das hätte Ihnen irgend jemand mitteilen sollen.«

»Das wusste ich.«

Als der Chefinspektor keine Anstalten machte, das Atelier zu verlassen, studierte Andrejew ihn aufmerksam und fragte:

»Sie sind Renkos Sohn, stimmt’s? Ich habe schon viele Fotos von ihm gesehen. Sie sehen ihm nicht sehr ähnlich.«

»Ich hatte schließlich auch noch eine Mutter.«

Andrejew lachte und deutete auf den Behälter: »Also gut, zeigen Sie mir, was Sie mitgebracht haben. Vielleicht ist einer meiner Kollegen bereit, seine Zeit damit zu vergeuden.«

Andrejew kletterte auf einen Hocker, um eine Neonröhre über einer Art Drehscheibe anzumachen. Arkadi öffnete den Behälter, hob den Kopf heraus und stellte ihn auf die Drehscheibe. Andrejew fuhr sanft mit den Fingern durch das lange braune Haar.

»Jung, ungefähr zwanzig, weiblich, europäisch, recht symmetrisch«, stellte er fest. Er hob abwehrend die Hand, als Arkadi ihm von den drei Morden erzählen wollte. »Versuchen Sie nicht, mich für Ihren Fall zu interessieren. Ein paar Köpfe mehr oder weniger fallen hier nicht ins Gewicht. Die Verstümmelung ist allerdings ungewöhnlich.«

»Der Mörder glaubt, ihr Gesicht unkenntlich gemacht zu haben«, stellte Arkadi fest. »Sie können es rekonstruieren.«

Andrejew stieß die Drehscheibe leicht an, so daß sich der Kopf langsam drehte.

»Sie sind ein Künstler mit besonderen Fähigkeiten, Professor.«

»Meine Kollegen fertigen auch recht hübsche Rekonstruktionen an. Ich habe Wichtigeres zu tun.«

»Was kann wichtiger sein als die Tatsache, daß zwei Männer und diese junge Frau praktisch vor Ihrem Fenster ermordet worden sind?«

»Ich rekonstruiere nur, Chefinspektor. Ich kann sie nicht ins Leben zurückbringen.«

Arkadi stellte den leeren Behälter auf den Boden. »Das Gesicht genügt mir.«

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Im Lefortowo-Gefängnis im Osten der Stadt fuhr ein Aufseher mit Arkadi in einem klapprigen Aufzug ins Kellergeschoß hinunter. Wo mochte Sonja jetzt sein? Sie hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, sie werde nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurückkehren. Wenn er an sie dachte, erinnerte er sich vor allem an ihren Gesichtsausdruck an der Schlafzimmertür in Mischas Datscha: Sonja hatte triumphiert, als sei er ein Gegner, der seinen Trumpf zu früh ausgespielt hatte. Unterdessen jedoch beschäftigte ihn ein ganz anderes Phänomen. Jamskoi hatte tatsächlich die Tonbandaufzeichnungen von Pribluda angefordert, und Andrejew wollte den Kopf der Ermordeten nun doch rekonstruieren. Unter falschen Voraussetzungen und ohne daß Arkadi es wirklich wollte, waren die richtigen Ermittlungen nun doch angelaufen.

Im Kellergeschoß ging Arkadi einen Korridor mit Eisentüren entlang, öffnete eine davon und sah sich Tschutschin gegenüber, dem Chefinspektor für Sonderfälle, mit hochrotem Kopf, glitzernden Augen und einer Hand am Hosenlatz. Eine vor ihm sitzende junge Frau mit gerötetem Gesicht wandte sich rasch ab, um in ein Taschentuch zu spucken.

»He, was …« Tschutschins massiger Körper versperrte Arkadi die Sicht. Tschutschin hatte Schweißperlen auf der Oberlippe, als er seine Jacke zuknöpfte und Arkadi in den Korridor hinausschob.

»Eine Vernehmung?« fragte Arkadi ironisch.

»Sie ist keine Politische, bloß ‘ne Nutte«, antwortete der andere mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Arkadi war hergekommen, um Tschutschin um einen Gefallen zu bitten. Angesichts der Situation brauchte er nicht mehr zu bitten. »Gib mir den Schlüssel zu deinem Aktenschrank.«

»Kommt nicht in Frage!«

»Der Staatsanwalt würde sich bestimmt für deine Vernehmungsmethoden interessieren.« Arkadi streckte fordernd die Hand aus.

»Das traust du dich nicht!« flüsterte Tschutschin heiser. »Wart nur, das zahl ich dir noch heim!«

Er rückte den Schlüssel heraus.

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Arkadi breitete die Ermittlungsakten auf Tschutschins Schreibtisch aus.

Kein Chefinspektor zeigte seine Akten gerne einem Kollegen; jeder war auf sein Fachgebiet spezialisiert und arbeitete mit seinen eigenen Vertrauensmännern zusammen. Vor allem der Chefinspektor für Sonderfälle. Was waren Sonderfälle? Wenn der KGB alle politisch Andersdenkenden verhaften wollte, würde deren Zahl ihre Wichtigkeit weit übertreffen. Also ließ man sie teilweise von der Miliz wegen scheinbarer Straftaten festnehmen, an die der Durchschnittsbürger gewöhnt war: Schwarzhandel, Diebstahl, illegaler Verkauf von Kunstwerken. Für seriös arbeitende Ermittlungsbeamte waren diese fingierten Verhaftungen eine Beleidigung. Arkadi hatte Tschutschin, den er allerdings, wie unter Kollegen üblich, duzte, stets so gut wie möglich ignoriert, als könne er dadurch seine Existenz leugnen.

Arkadi fiel auf, wie oft in Tschutschins Akten Hinweise wie »der Informant G.«, »der wachsame Bürger G.« und »die verlässliche Quelle G.« vorkamen. Die Hälfte aller im Zusammenhang mit Ikonendiebstählen vorgenommenen Verhaftungen waren durch einen Tipp dieses Spitzels ausgelöst worden. Er blätterte in Tschutschins Abrechnungen: G. stand mit 1520 Rubel an der Spitze aller Zahlungsempfänger. In einer anderen Liste war seine Telefonnummer angegeben.

Von seinem eigenen Büro aus rief Arkadi die Telefonzentrale an. Die Nummer gehörte einem gewissen Feodor Golodkin. Paschas Tonbandgerät stand auf dem Schreibtisch. Arkadi legte eine neue Spule auf, bevor er die Nummer wählte. Nach dem fünften Klingeln wurde abgenommen, ohne daß sich am anderen Ende jemand meldete.

»Hallo? Ist Feodor da?« fragte der Chefinspektor.

»Wer will ihn sprechen?«

»Ein Freund.«

»Gib mir ‘ne Nummer, damit ich zurückrufen kann.«

»Können wir nicht gleich miteinander reden?«

Klick.

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Als die ersten Sendungen von Pribluda kamen, empfand Arkadi die Art von Befriedigung, die auch illusorische Fortschritte noch auslösen können. Von den über 20 000 Zimmern in den 13 Moskauer Intourist Hotels waren etwa die Hälfte mit Abhöranlagen ausgestattet, und obwohl jeweils nur rund fünf Prozent davon eingeschaltet waren — und auch diese Gespräche nicht alle aufgezeichnet wurden —, war die Materialfülle durchaus eindrucksvoll.

»Es kann sein, daß ihr auf einen Idioten stoßt, der offen davon spricht, daß er Ikonen kaufen oder sich mit jemandem in einem Park treffen will — aber rechnet nicht damit«, erklärte Arkadi Pascha und Fet. »Vergeudet eure Zeit nicht damit, Aufzeichnungen über Leute zu lesen, die von einem Intourist-Führer begleitet werden. Das gleiche gilt für ausländische Journalisten, Geistliche und Politiker; sie werden zu scharf überwacht. Konzentriert euch auf Touristen oder ausländische Geschäftsleute, die sich bei uns auskennen, Russisch sprechen und gute Beziehungen haben. Leute, die kurze, rätselhafte Telefongespräche führen und dann ihr Hotelzimmer verlassen. Hier auf diesem Gerät liegt ein Band mit der Stimme des Schwarzhändlers Golodkin, damit ihr sie mit anderen Aufnahmen vergleichen könnt. Aber es ist natürlich durchaus möglich, daß er mit dieser Sache nichts zu tun hat.«

»Ikonen?« fragte Fet. »Wie sind wir auf die gekommen?«

»Durch marxistische Dialektik«, antwortete der Chefinspektor. »Wir befinden uns jetzt in einem Zwischenstadium des Kommunismus, in dem Überreste kapitalistischen Gedankenguts bei einzelnen noch immer kriminelle Neigungen hervorrufen. Und was wäre ein kapitalistischeres Relikt als eine Ikone?« Arkadi riß eine Packung Zigaretten auf und bot Pascha eine an. »Außerdem sind an den Kleidungsstücken der Ermordeten Spuren von Gips und Gold entdeckt worden. Gips dient auch zur Holzgrundierung, und Gold kann legal eigentlich nur zur Restaurierung von Ikonen verwendet werden.«

»Glauben Sie, daß Kunstdiebstähle dahinterstecken?« erkundigte Fet sich. »Wie der Fall in der Leningrader Eremitage? Dort haben Elektriker Kristalle aus den Museumskronleuchtern geklaut und sind erst nach jahrelangen Ermittlungen gefasst worden.«

»Ikonenfälscher, nicht Kunstdiebe.« Pascha ließ sich ein Zündholz geben. »Das wäre auch die Erklärung für das Sägemehl an ihren Kleidungsstücken.«

Arkadi, der den ganzen Tag lang Tonbänder abgehört hatte und nicht mehr die Energie aufbrachte, sich zu Hause selbst zu versorgen, wanderte nach Dienstschluß ziellos durch die Stadt, bis er sich vor dem Haupteingang des Gorki-Parks wiederfand, wo er sich an einem Imbissstand zwei Frikadellen kaufte und sie mit einem Glas Limonade hinunterspülte. Auf der Eisbahn übten stämmige Mädchen in kurzen Röcken Tanzschritte nach Schlagern, die ein junger Mann auf einer Ziehharmonika spielte. Die Lautsprecher waren stumm; die taube Alte hatte ihre Schallplatten bereits weggepackt.

Die Sonne ging hinter ausgefransten Wolken unter. Arkadi schlenderte durch den Park zum Riesenrad. Ein altes Ehepaar saß erwartungsvoll in einer Gondel auf halber Höhe. Der picklige Jüngling an der Kasse blätterte in einer Motorradzeitschrift und dachte gar nicht daran, die Bremse wegen zwei Rentnern zu lösen. Als der Wind auffrischte, begannen die Gondeln leicht zu schwanken, und die alte Frau rückte näher an ihren Mann heran.

Arkadi warf eine Münze auf den Zahlteller. »Aber ich will sofort fahren, verstanden?«

Das Riesenrad setzte sich in Bewegung und hob Arkadi über die Parkbäume empor. Obwohl der Himmel im Westen noch hell war, brannten die Straßenlampen bereits, und er erkannte deutlich die konzentrischen Kreise der Moskauer Ringstrassen.

Arkadi lehnte sich in seinen Sitz zurück. Unter ihm erstreckte sich die sanfte Hügellandschaft des Parks, in der er die um diese Zeit unbeleuchtete Milizstation und ein Netz von romantisch verschlungenen Spazierwegen ausmachen konnte. Etwa 40 Meter nördlich des einen Fußwegs, der parallel zur Donskoj-Straße und dem Fluß verläuft, waren drei Menschen ermordet worden. Trotz der herabsinkenden Abenddämmerung fand Arkadi die Lichtung mühelos, denn mitten darauf stand eine Gestalt mit einer Taschenlampe.

Nachdem er eine Runde gemacht hatte, sprang Arkadi ab. Bis zu der Lichtung musste er einen halben Kilometer zurücklegen; er begann mit langen Schritten zu laufen, rutschte gelegentlich auf Eis aus und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Der Weg schlängelte sich einen Hügel hinan.

Sonja hatte recht: Er hätte regelmäßig seine Morgengymnastik machen sollen. Die verdammte Raucherei! Der Weg wurde steiler. Nach dreihundert Metern waren Arkadis Schritte nur mehr halb so lang wie beim Start; er keuchte laut und hatte das Gefühl, seit Stunden zu rennen. Gerade als er Seitenstechen bekam, verlief der Fußweg wieder eben. Wahrscheinlich war es ohnehin nur Fet, der sich aus irgendeinem Grund noch mal auf der Lichtung herumtrieb.

Wo der Einsatzwagen vor vier Tagen vom Fußweg abgebogen war, verlangsamte Arkadi sein Tempo und folgte den Fahrspuren auf die Lichtung. Unter seinen Schuhen knirschte Eis. Der Lichtschein war verschwunden, der Unbekannte fort oder klug genug, seine Taschenlampe abzublenden. Da der Schnee weggeschaufelt worden war, fehlten auf der dunklen Lichtung jegliche Kontraste. Arkadi hörte nur sein eigenes Keuchen. Er schlich am Rand der Lichtung von Baum zu Baum, verbarg sich hinter den Stämmen und suchte mit den Augen die schneefreie Fläche Meter für Meter ab. Als er sich eben wieder bewegen wollte, blitzte in der leichten Vertiefung, aus der die Ermordeten geborgen worden waren, eine Taschenlampe auf.

Arkadi war etwa zehn Meter weit auf die Lichtung hinausgetreten, als das Licht erlosch.

»Wer ist da?« rief er laut.

Jemand rannte davon.

Arkadi nahm die Verfolgung auf. Er wusste, daß sich die Lichtung am anderen Rand zu einem Wäldchen senkte. Dahinter lag ein Abhang, der zu ein paar Lauben mit Schachtischen abfiel, ein weiterer Fußweg, Bäume, ein Steinwall, der Puschkin-Kai und steil zur Moskwa hinunter abfallendes Gelände.

»Halt, stehen bleiben!« brüllte er. »Miliz!«

Er konnte nicht gleichzeitig rufen und laufen. Aber er holte auf. Die Schritte vor ihm waren schwer — die eines Mannes. Obwohl Arkadi eine Dienstwaffe besaß, trug er sie nie. Der Flüchtende erreichte das Wäldchen und brach durchs Unterholz. Arkadi überlegte sich, daß der untere Fußweg und erst recht der Kai beleuchtet waren. Als er in das Unterholz eindrang, hielt er sich schützend die Hände vors Gesicht.

Arkadi duckte sich, weil er eine Bewegung hörte, aber der erwartete Boxhieb blieb aus. Statt dessen bekam er einen Tritt in den Unterleib, klappte zusammen, griff instinktiv nach dem Fuß, verfehlte aber den Angreifer und erhielt einen Schlag in den Nacken. Jetzt traf auch Arkadis Faust offenbar den Magen des anderen. Dann wurde er gegen einen Baum gedrückt, und steifgehaltene Finger bearbeiteten seine Nierengegend. Arkadis Mund fand ein Ohr, und er biß kräftig zu.

»Son of a bitch!« Der Fluch war eindeutig amerikanisch, und der Druck lockerte sich.

»Miliz …« Arkadi versuchte zu rufen, brachte aber nur ein Flüstern heraus.

Ein Tritt warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den Schnee. Idiot! beschimpfte Arkadi sich selbst. Bei der ersten Schlägerei nach Jahren büßt der Chefinspektor seine Frau ein, bei der zweiten ruft er um Hilfe!

Er kam wieder auf die Beine, hörte den Flüchtenden durchs Unterholz brechen und rannte hinter ihm her. Der Hang fiel steil ab. Arkadi rutschte aus und kollerte im Schnee hinunter. Der untere Fußweg war menschenleer, aber Arkadi sah den anderen gerade noch in den Bäumen verschwinden.

Arkadi überquerte mit zwei großen Schritten den Weg, sprang und landete auf einem breiten Rücken.

Die beiden Männer rollten aneinandergeklammert durch den Schnee, bis sie gegen eine Bank prallten. Arkadi versuchte, dem Unbekannten einen Arm auf den Rücken zu drehen, aber seinem Gegner gelang es, sich loszureißen und auf die Beine zu kommen. Der Chefinspektor stellte ihm ein Bein. Sobald der andere sich jedoch wieder aufgerappelt hatte, gab es für Arkadi keine Chance mehr: Eine Hand schlug ihm ins Gesicht, und bevor er reagieren konnte, traf ihn eine Faust in die Rippen unter dem Herzen. Er sackte zusammen.

Arkadi rappelte sich aus einer Schneewehe auf, stolperte weiter und presste beide Hände auf die linke Brust. Durch Schnee und Bäume gelangte er zu einem Steinwall, rutschte hinunter und brach auf dem Gehsteig am Puschkin-Kai zusammen.

Arkadi sah keine Fußgänger. Und schon gar nicht jemanden von der Miliz. Die Straßenlampen erschienen ihm wie verschwommene Lichtpunkte. Lastwagen rollten achtlos an ihm vorbei. Er stand mühselig wieder auf und überquerte schwankend die Uferstrasse.

Die Moskwa war ein 300 Meter breites Eisband und die Krim-Brücke mindestens einen Kilometer entfernt. Sehr viel näher führte links von Arkadi eine U-Bahn-Brücke über den zugefrorenen Fluss. Eben ratterte ein Zug darüber.

Unter der Brücke rannte eine Gestalt über das Eis des Flusses.

Zur Moskwa führte keine Treppe hinab. Arkadi rutschte also die drei Meter hohe Uferböschung hinunter und landete schmerzhaft auf dem Hintern. Er kam wieder auf die Beine und nahm die Verfolgung auf.

Der Mann war stark, aber nicht schnell; obwohl Arkadi leicht hinkte, verringerte sich der Vorsprung des Flüchtenden. Auch am jenseitigen Ufer gab es keine Treppe, aber Arkadi sah dort die Landungsstege für die im Sommer verkehrenden Ausflugsboote.

Der Mann blieb nach Atem ringend stehen, sah sich nach Arkadi um und rannte weiter. Sie befanden sich ungefähr 40 Meter voneinander entfernt in der Mitte des zugefrorenen Flusses, als der Mann zum zweitenmal stehen blieb und die Hand hob. Arkadi blieb ebenfalls unwillkürlich stehen. Über dem Eis lag ein schwacher Lichtschein — offenbar eine Reflexion der Straßenbeleuchtung auf beiden Ufern — der es Arkadi erlaubte, eine stämmige Männergestalt in Wintermantel und Mütze zu erkennen. Das Gesicht war im Schatten unter der Mütze nicht auszumachen.

»Verschwinde!« forderte er Arkadi auf russisch auf.

Als der Chefinspektor einen Schritt vortrat, zog der andere die rechte Hand aus der Manteltasche. Arkadi sah den Lauf einer Waffe. Der Mann zielte mit beiden Händen, wie es Kriminalbeamte in der Ausbildung lernen, und Arkadi warf sich aufs Eis. Er hörte keinen Schuß und sah kein Mündungsfeuer, aber irgend etwas prallte hinter ihm vom Eis ab und surrte unmittelbar darauf als Querschläger gegen die gemauerte Uferböschung.

Der Mann lief unbeholfen weiter. Arkadi holte ihn vor dem anderen Ufer ein. Die beiden Männer rangen im Schatten der U-Bahn-Brücke miteinander, rutschten aus und gingen auf die Knie, ohne einander loszulassen. Arkadis Nase blutete, der andere verlor seine Mütze. Arkadi erhielt einen leichten Stoß gegen die Brust und landete auf allen vieren. Sein Gegner stand über ihm. Arkadi bekam zwei Fußtritte in die Rippen; den nächsten, der seinen Hinterkopf traf, nahm er kaum noch wahr.

Als er sich auf die Seite rollte, war der Angreifer verschwunden. Aber Arkadi hielt ein Andenken an den Unbekannten in der Hand: die Mütze.

Über ihm rollten funkensprühende Räder über die U-Bahn-Brücke. Ein kleines Feuerwerk für einen kleinen Sieg.

5

»Ist das nicht großartig?« fragte Pascha und breitete die Arme aus.

Arkadi schaute aus dem 14. Stock des im stalinschen Zuckerbäckerstil erbauten Hotels Ukraina über den verkehrsreichen Kutusowski-Prospekt auf den Diplomaten- und Korrespondentenkomplex mit seinem Innenhof und dem kleinen Wachgebäude der Miliz hinunter.

»Wie in einem Spionagefilm!« Pascha betrachtete die aufgereihten Tonbandgeräte, die Aktenbündel auf den Schreibtischen und das Feldbett. »Du hast anscheinend wirklich Einfluss, Arkadi.«

Es war Jamskoi, der mit der Begründung, Arkadis eigenes Büro sei räumlich zu beengt, dafür gesorgt hatte, daß sie ihre Ermittlungen von hier aus weiterführen konnten. Wer vor ihnen hier gearbeitet hatte, war nicht ganz klar, obwohl an einer Wand ein Plakat mit blonden Stewardessen der ostdeutschen Interflug hing. Sogar Fet war sichtlich beeindruckt.

»Pawlowitsch übernimmt die deutschen Touristen und Golodkin. Ich kenne mich mit skandinavischen Sprachen aus. Als ich mit dem Gedanken gespielt habe, zur Marine zu gehen, habe ich geglaubt, sie könnten mir eines Tages nützen«, vertraute Fet seinem Vorgesetzten an.

»Tatsächlich?« Arkadi rieb sich den Nacken. Sein ganzer Körper schmerzte von der Begegnung am Abend zuvor. Sein Arm tat ihm weh, wenn er sich eine Zigarette anzündete, und er bekam schon Kopfschmerzen beim bloßen Gedanken daran, stundenlang mit aufgesetztem Kopfhörer Tonbandaufzeichnungen abhören zu müssen. »Gut, ich nehme Englisch und Französisch«, entschied er.

Das Telefon klingelte. Ljudin erstattete Bericht über die Mütze des Unbekannten, die der Chefinspektor ins Labor geschickt hatte.

»Die Mütze ist neu, billiger Sergestoff, russisches Fabrikat. Am Mützenfutter haben wir zwei graue Haare gefunden. Die Proteinanalyse hat ergeben, daß sie von einem Weißen mit der Blutgruppe 0 stammen, der eine ausländische Frisiercreme auf Lanolinbasis benützt. Die im Gorki-Park abgenommenen Schuhabdrücke zeigen, daß der Mann praktisch neue russische Schuhe getragen hat. Wir haben auch Ihre Abdrücke.«

»Abgetreten?«

»Ziemlich.«

Arkadi bedankte sich und legte auf. Er betrachtete seine Schuhe. Ljudin hatte recht: Sie waren verdammt ausgelatscht.

»Son of a bitch!« hatte der Mann gesagt, als Arkadi ihn gebissen hatte. Das war ein amerikanischer Fluch. Amerikanischer Hurensohn! Arkadi schüttelte den Kopf und legte das erste Tonband auf.

Die Anforderung so vieler Tonbänder und Protokolle hatte lediglich bezwecken sollen, Pribluda einen Schrecken einzujagen. Daß kein wirklich wichtiges Material herausgegeben werden würde, spielte keine Rolle; es genügte, wenn die KGB-Spitze erfuhr, daß kostbare Unterlagen sich in den Händen einer Konkurrenzorganisation befanden. Arkadi war davon überzeugt, daß der KGB sie schleunigst zurückfordern und gleichzeitig die Ermittlungen an sich ziehen würde. Er hatte noch nicht berichtet, daß der Unbekannte, der ihn verprügelt hatte, vermutlich Amerikaner war, und daß er Schönheits Kopf zu Andrejew gebracht hatte. Das eine konnte er nicht beweisen, und mit dem anderen war noch nichts passiert.

Er hörte ein Tonband ab, während er das Protokoll eines anderen las. Die Mikrofone waren in die Telefone der Hotelzimmer eingebaut, so daß sowohl Unterhaltungen wie Telefongespräche abgehört werden konnten. Die Franzosen klagten ausnahmslos über das Essen; die Amerikaner und Engländer beschwerten sich über den Service.

Nach dem Mittagessen in der Cafeteria des Hotels Ukraina rief Arkadi Sonja in der Schule an. Diesmal kam seine Frau sogar an den Apparat. »Ich möchte vorbeikommen und mit dir reden«, sagte er.

»Wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den Ersten Mai«, wehrte sie ab.

»Ich könnte dich nach der Schule abholen.«

»Nein!«

»Wann denn?«

»Das kann ich dir erst sagen, wenn ich weiß, was ich vorhabe. Jetzt muß ich weg.«

Bevor sie auflegte, hörte er im Hintergrund Schmidts Stimme.

___________

Der Nachmittag schien endlos, bis Pascha und Fet endlich ihre Mäntel anzogen, ihre Hüte aufsetzten und nach Hause fuhren. Arkadi legte eine Pause ein und ließ sich einen Kaffee bringen. Draußen in der Dunkelheit sah er zwei weitere Wolkenkratzer aus der Stalinzeit: die Lomonossow-Universität im Süden und das Außenministerium gleich jenseits der Moskwa. Die roten Sowjetsterne auf ihren Spitzen leuchteten einander zu.

Als er danach weiter Tonbänder abhörte, stieß er auf die erste vertraute Stimme. Die Aufnahme stammte vom 12. Januar von einer amerikanischen Party im Hotel Rossija. Die Stimme gehörte einem russischen Gast, einer aufgebrachten jungen Frau:

»Natürlich wieder Tschechow. Angeblich stets relevant wegen seiner kritischen Einstellung dem Kleinbürgertum gegenüber — und wegen seines Vertrauens zur Kraft des Volkes. In Wirklichkeit können die Schauspielerinnen in einem Tschechow-Film statt Kopftüchern hübsche Hüte tragen. Einmal im Jahr wollen sie einen Film mit schönen Hüten.«

Arkadi erkannte die Stimme Irina Asanowas, mit der er bei Mosfilm gesprochen hatte. Die anwesenden Schauspielerinnen widersprachen affektiert.

Nachzügler trafen ein.

»Ah, Jewgeni, was hast du mir mitgebracht?«

Eine Tür fiel ins Schloss.

»Ein verspätetes Neujahrsgeschenk, John.«

»Handschuhe! Wie aufmerksam von dir. Ich werde sie sofort anziehen.«

»Trag sie, zeig sie herum und komm morgen vorbei — dann kannst du hunderttausendfür den Export haben.«

Der Amerikaner hieß John Osborne. Sein Zimmer im Rossija, in der Nähe des Roten Platzes, war vermutlich eine ganze Suite mit Vasen voller Schnittblumen. Im Vergleich zum Rossija war das Ukraina nur ein Bahnhofswartesaal. Osborne sprach ein ausgezeichnetes, korrektes Russisch. Aber Arkadi wollte das Mädchen noch mal hören. Als die erste Seite des Tonbands abgelaufen war, drehte er die Spule um.

Die gleiche Party, einige Zeit später. Osborne erzählte eine Geschichte.

»Die Gorki-Gerberei liefert mir heute fertige Handschuhe. Vor zehn Jahren habe ich versucht, Leder aus der Sowjetunion zu importieren — Kalbsleder, um die Spanier und Italiener zu unterbieten. Zum Glück habe ich die Sendung in Leningrad geprüft. Wissen Sie, was ich bekommen hatte? Kutteln, Kaldaunen. Ich habe die Sendung bis zu einem Viehzuchtkollektiv in Alma Ata zurückverfolgt, das am gleichen Tag meine Kalbshäute nach Leningrad und Suppenkaldaunen nach Wogwosdino versandt hatte.«

Wogwosdino? Aber der Amerikaner konnte nichts von dem dortigen Gefangenenlager wissen, dachte Arkadi.

»Von den Verantwortlichen in Wogwosdino war zu erfahren, daß ihre Sendung eingetroffen, zu Suppe verarbeitet und mit Begeisterung aufgegessen worden war. Damit war das Kollektiv rehabilitiert. Ich konnte gar keine Kaldaunen haben, weil Russen kein Handschuhleder essen würden. Ich habe über zwanzigtausend Dollar verloren und esse seitdem östlich von Moskau nie mehr Suppe!«

Nervösem Schweigen folgte nervöses Lachen. Arkadi rauchte und stellte fest, daß er drei Streichhölzer vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte.

»Ich begreife nicht, warum es euch Russen in die Vereinigten Staaten zieht. Des Geldes wegen? Ihr würdet die Erfahrung machen, daß Amerikaner — und seien sie noch so reich — stets irgend etwas finden, das sie nicht kaufen können. Dann sagen sie. ›Wir können es uns nicht leisten, wir sind zu arm, um es zu kaufen.‹ Niemals: ›Wir sind nicht reich genug.‹ Ihr wollt doch nicht arme Amerikaner werden? Hier seid ihr immer reich.«

Arkadi suchte aus den Akten die Angaben zu Osbornes Person:

John Dusen Osborne, amerikanischer Staatsbürger, geb. 16. Mai 1920 in Tarrytown, N.Y., USA. Nicht Parteimitglied. Ledig. Gegenwärtiger Wohnort New York, N.Y. Erster Aufenthalt in der UdSSR 1942 in Murmansk als Angehöriger einer Beratergruppe im Rahmen des Leih- und Pachtabkommens mit den USA. 1942–1944 in Murmansk und Archangelsk als vom US-Außenministerium entsandter Berater für Transportfragen; in diesem Zeitraum wertvolle Förderung des antifaschistischen Kriegseinsatzes. 1948 Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst als Folge einer rechtsradikalen Stimmungsmache in den USA; seither Pelzimporteur aus der UdSSR. Förderer des amerikanischsowjetischen Kulturaustauschs; jährlicher UdSSR-Besucher.

Auf Blatt zwei waren die Filialadressen der Firmen Osborne Pelzimport und Osborne Pelzmoden in New York, Palm Springs und Paris angegeben und die Termine von Osbornes Russlandreisen in den letzten fünf Jahren aufgeführt. Der Amerikaner war zuletzt vom 2. Januar bis 2. Februar in der UdSSR gewesen. Eine mit Bleistift geschriebene Anmerkung war durchgestrichen, aber Arkadi konnte noch lesen: »Persönliche Referenz: I.W. Mendel, Handelsministerium.«

Auf Seite drei stand: »Siehe ›Annalen der sowjetischamerikanischen Zusammenarbeit im Großen Vaterländischen Krieg‹, Prawda, 1967.«

Außerdem: »Siehe Erste Hauptverwaltung, Erste Abteilung.«

Arkadi erinnerte sich an Mendel. Der Mann hatte den Hummern geglichen, die sich jedes Jahr häuten und dabei immer fetter werden — zuerst als Leiter der »Umsiedlung« der Kulaken, dann als Kriegskommissar der Region Murmansk, danach als Direktor der Abteilung Desinformation des KGB und zuletzt als stellvertretender Handelsminister. Mendel war letztes Jahr gestorben, aber Osborne hatte bestimmt noch viele Freunde dieses Typs.

Der Vermerk »Erste Hauptverwaltung, Erste Abteilung« wies auf die für Nordamerika zuständige KGB-Dienststelle hin. Osborne war kein sowjetischer Agent, sonst hätte Arkadi diese Tonbänder nicht erhalten. Osborne war lediglich zur Zusammenarbeit mit sowjetischen Stellen bereit: Er trat in den USA als Förderer russischer Künstler auf, deren Äußerungen er nach Moskau weitermeldete. Arkadi war erleichtert, daß das Tonband keine weiteren Diskussionsbeiträge von Irina Asanowa enthielt.

Mischa hatte Arkadi zum Abendessen eingeladen. Bevor der Chefinspektor ging, kontrollierte er, womit seine beiden Mitarbeiter beschäftigt waren. Fets skandinavische Tonbänder waren ordentlich neben einem Packen Notizpapier aufgestapelt, auf dem zwei frischgespitzte Bleistifte lagen. Auf Paschas Arbeitsplatz herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Arkadi blätterte in den Aufzeichnungen über Golodkins Telefongespräche. Ein Abschnitt vom Vortag fiel ihm auf, weil Golodkin nur Englisch sprach, während der Angerufene auf russisch antwortete.

Der Unbekannte sprach fließend Russisch. Aber da die meisten Russen davon überzeugt waren, nur Russen könnten Russisch, hatte der Schwarzhändler schon aus diesem Grund Englisch gesprochen. Was bedeutete, daß Golodkin mit einem Ausländer telefoniert hatte.

Arkadi suchte das entsprechende Tonband heraus und spielte es ab, um zu hören, was er gelesen hatte.

»Guten Morgen, hier ist Feodor. Bei Ihrem letzten Besuch wollten wir gemeinsam ins Museum gehen.«

»Ja.«

»Ich möchte Ihnen das Museum heute zeigen. Haben Sie Zeit?«

»Tut mir leid, ich bin sehr beschäftigt. Vielleicht nächstes Jahr.«

»Ist das Ihr Ernst?«

Klick.

Arkadi erkannte die zweite Stimme sofort wieder, weil er ihr stundenlang zugehört hatte. Sie gehörte John D. Osborne. Der Amerikaner war wieder in Moskau.

___________

Die Mikojans hatten eine große Wohnung — fünf Zimmer, darunter eines mit zwei Konzertflügeln, die Mischa mit der Wohnung von seinen Eltern, einem bekannten Klavierduo, geerbt hatte. An den Wänden hing ihre Sammlung von Kinoplakaten aus der Revolutionszeit, dazwischen bäuerliche Holzschnitte, Sammel-Objekte von Mischa und Natascha. Mischa führte Arkadi ins Bad, wo in einer Ecke eine makellos weiß emaillierte neue Waschmaschine stand.

»Das Modell Sibirien. Das absolute Spitzenmodell. Hundertfünfzig Rubel. Wir haben zehn Monate darauf gewartet.«

Ein Kabel führte zur Steckdose, und der Ablaufschlauch hing über dem Badewannenrand. Sonja wäre begeistert gewesen.

»Die Modelle ZIW und Riga hätten wir innerhalb von vier Monaten kriegen können, aber wir wollten die beste Maschine.« Mischa nahm ein Heft der Handelsnachrichten vom Toilettendeckel. »Sehr gut beurteilt.«

»Und nicht im geringsten bourgeois.« Vielleicht hatte Dr. Schmidt eine in seinem Serail?

Mischa warf Arkadi einen finsteren Blick zu und drückte ihm sein Glas in die Hand. Sie tranken Wodka mit Pfeffer und standen bereits etwas unsicher auf den Beinen. Mischa holte nasse Unterwäsche aus der Waschtrommel und steckte sie in die Schleuder.

»Ich fuhr sie dir vor!«

Er schaltete die Wäscheschleuder ein. Die Maschine begann heulend zu vibrieren. Das Heulen wurde lauter, als starte im Bad eine Düsenmaschine. Aus dem Ablaufschlauch spritzte stoßweise Wasser in die Badewanne. Mischa lehnte sich verträumt zurück.

»Phantastisch, was?« rief er.

»Reine Poesie«, bestätigte Arkadi. »Majakowskis Poesie, aber trotzdem Poesie.«

Die Waschmaschine blieb stehen. Mischa überprüfte den Stecker und den Knopf, der sich nicht drehen ließ.

»Was ist los?«

Mischa schüttelte aufgebracht den Kopf. Er hämmerte mit der Faust gegen die Maschine, die daraufhin wieder zu vibrieren begann.

»Eindeutig ein russisches Modell«, meinte Arkadi trocken und trank einen Schluck.

Mischa hatte die Arme in die Seiten gestemmt. »Alles Neue muß sich erst einlaufen«, erklärte er Arkadi.

»Damit muß man rechnen.«

»Jetzt läuft sie prima.«

Sie zitterte, um es genau zu sagen. In ihrem Arbeitseifer hob sie beinahe vom Boden ab. Mischa trat besorgt einen Schritt zurück. Der Lärm war ohrenbetäubend. Der Ablaufschlauch löste sich abrupt, Wasser spritzte gegen die Wand.

»He!« Mischa drückte geistesgegenwärtig ein Handtuch auf die Pumpenöffnung und wollte mit der anderen Hand den Kontrollknopf drehen. Als der Knopf in seinen Fingern zurückblieb, verfiel Mischa darauf, die Waschmaschine mit Fußtritten zu bearbeiten, bis Arkadi den Stecker herauszog.

»Scheißding!« Mischa versetzte der stehenden Maschine einen weiteren Tritt. »Scheißkiste!« Er wandte sich an Arkadi. »Und darauf haben wir zehn Monate gewartet — zehn Monate!«

Er griff nach den Handelsnachrichten und versuchte, die Zeitschrift zu zerreißen.

»Den Schweinen wird ich’s zeigen! Ich möchte bloß wissen, wie viel sie dafür gekriegt haben!«

»Was hast du vor?«

»Ich schreib ihnen!« Mischa warf die Zeitschrift in die Badewanne. Im nächsten Augenblick kniete er davor und riß die Seite mit dem Impressum heraus. »Staatliches Qualitätssiegel? Ich wird dir ein Qualitätssiegel zeigen.« Er knüllte die Seite zusammen, warf sie ins Klo, zog ab und stieß einen Siegesschrei aus.

»Woher willst du jetzt wissen, an wen du zu schreiben hast?«

»Pst!« Mischa legte warnend einen Zeigefinger auf die Lippen. Er ließ sich sein Glas zurückgeben.

»Natascha soll nichts davon erfahren. Sie hat die Maschine eben erst bekommen. Tu einfach so, als sei nichts passiert.«

Natascha servierte zum Abendessen Frikadellen, Essiggurken, Wurst und Weißbrot. Sie rührte ihren Wein kaum an, strahlte aber trotzdem ruhige Zufriedenheit aus.

»Auf deinen Sarg, Arkascha!« Mischa hob sein Glas. »Innen mit bestickter Seide ausgeschlagen, mit deinem Namen und deinen Titeln auf einer Goldplatte und mit Silbergriffen im ausgesuchten Holz einer hundertjährigen Zeder, die ich morgen früh pflanzen werde.«

Er trank zufrieden. »Oder ich bestelle ihn einfach beim Ministerium für Leichtindustrie«, fügte er hinzu. »Das dauert ungefähr ebenso lange.«

»Tut mir leid, daß das Essen ein bisschen kümmerlich ist«, sagte Natascha zu Arkadi. »Wenn wir jemand hätten, der für uns einkaufen könnte … du weißt schon.«

»Sie glaubt, daß du sie wegen Sonja aushorchen willst. Wir weigern uns, zwischen euch beide zu geraten.« Mischa wandte sich an seine Frau. »Hast du dich mit Sonja getroffen? Was hat sie über Arkascha gesagt?«

»Wenn wir einen größeren Kühlschrank hätten«, meinte Natascha, »oder eine Kühl-Gefrier-Kombination.«

»Sie haben offenbar über Kühlschränke gesprochen.« Mischa warf Arkadi einen Blick voll komischer Verzweiflung zu. »Du kennst nicht zufällig einen Mörder-Mechaniker, der dir einen Gefallen schuldig ist?«

Natascha zerschnitt ihre Frikadelle in kleine Stücke. »Ich kenne ein paar Ärzte.« Sie lächelte.

Ihre Hand mit dem Messer erstarrte, als sie endlich den Kontrollknopf neben Mischas Teller liegen sah.

»Ein kleines Problem, Schätzchen«, sagte Mischa. »Die verflixte Waschmaschine arbeitet nicht richtig.«

»Oh, das macht nichts. Wir können sie trotzdem vorzeigen, wenn Gäste kommen.«

Sie wirkte ehrlich zufrieden.

6

Der Mörder Zypin, der vor Arkadis Schreibtisch saß, war der Sohn eines Mörders und Goldspekulanten, zu dessen Vorfahren Mörder, Diebe und Mönche gehört hatten. Zypin wurde zu einem »Urka«, einem Berufsverbrecher, erzogen. Er trug die für einen Urka charakteristischen Tätowierungen — Schlangen, Drachen, die Namen seiner Geliebten — in solch großer Zahl, daß sie an Hals und Handgelenken sichtbar wurden. Zypin hatte seinen Komplizen zu dem günstigen Zeitpunkt ermordet, als nur auf Staatsverbrechen die Todesstrafe stand. So war er lediglich zu 15 Jahren Haft verurteilt worden und dann in den Genuß eines Straferlasses am hundertsten Geburtstag Lenins gekommen.

»Ich sehe die Dinge jetzt langfristiger«, erklärte er Arkadi. »Es gibt mal weniger, mal mehr Verbrechen. Die Richter sind mal nachsichtig, mal streng. Ein Auf und Ab wie bei Ebbe und Flut. Ich bin im Augenblick jedenfalls ganz zufrieden.«

Zypin war offiziell Maschinist, aber er verdiente sein Geld durch Schwarzhandel mit Benzin. Fernfahrer zapften einen Teil ihrer Tankfüllung ab, bevor sie Moskau verließen, drehten ihre Tachometer weiter und begründeten den hohen Verbrauch bei der Rückkehr mit schlechten Straßen und Umleitungen. Zypin verkaufte das Benzin an private Autobesitzer weiter. Die Behörden wussten davon, aber da es in Moskau so wenig Tankstellen gab, durften Schwarzhändler wie Zypin ihre soziale Funktion erfüllen, ohne von staatlicher Seite behindert zu werden.

»Wir wollen alle nicht, daß die Justiz durchgreift, und wenn ich wüsste, wer die drei Leute im Gorki-Park ermordet hat, würde ich’s Ihnen sofort sagen. Das war sowieso ‘ne Schweinerei! So was täten wir nie — wir haben schließlich auch unsere Ehrbegriffe!«

Nach Zypin saßen weitere Urkas vor Arkadis Schreibtisch in seinem Büro in der Nowokusnezkaja-Straße und wiederholten, daß niemand verrückt genug sei, drei Morde im Gorki-Park zu begehen — und daß andererseits niemand vermisst werde. Der letzte war Scharkow, ein ehemaliger Feldwebel, der mit Waffen handelte.

»Was ist denn schon auf dem Markt? Ein paar russische Militärwaffen, einige verrostete englische Revolver und vielleicht ein paar tschechische Pistolen. Im Osten, in Sibirien, stößt man vielleicht auf eine Bande mit Maschinenpistolen. Aber nicht hier, nicht in dem Rahmen, den Sie geschildert haben. Gut, und wer soll damit schießen? Außer mir selber kenne ich in Moskau keine zehn Leute, die ihre Großmutter aus zehn Meter Entfernung treffen könnten. Leute, die beim Militär gedient haben, sagen Sie? Dann überschätzen Sie die heutige Schießausbildung gewaltig! Jetzt mal ganz ernsthaft: Sie reden von einer regelrechten Hinrichtung, und wir kennen beide nur eine Organisation, die dafür ausgerüstet wäre.«

___________

Arkadi holte sich frische Kleidung aus seiner Wohnung und entlieh auf dem Rückweg zum Ukraina der Historischen Bibliothek die »Annalen der sowjetischamerikanischen Zusammenarbeit im Großen Vaterländischen Krieg«. Vielleicht hatte der KGB sein Material bereits abtransportiert, bis er ins Hotel zurückkam; vielleicht erwartete ihn dort Major Pribluda. Unter Umständen machte der Major sogar einen kleinen Scherz, um ein neues, liebenswürdigeres Verhältnis zwischen ihnen herzustellen. Wahrscheinlich versuchte er, ihr gegenwärtiges Missverständnis als rein institutionell bedingt hinzustellen. Schließlich bezog der KGB seine Existenzberechtigung lediglich aus der Angst vor äußeren oder inneren Feinden. Im Gegensatz dazu hatten Miliz und Staatsanwaltschaft zu beweisen, daß alles in bester Ordnung war. Arkadi konnte sich vorstellen, daß die drei Morde in einigen Jahren in juristischen Fachzeitschriften unter der Überschrift »Institutionelle Zielkonflikte im Gorki-Park« behandelt werden würden.

Im Ukraina türmten sich neue Tonbänder und Abhörprotokolle. Pascha und Fet waren nicht da. Pascha teilte Arkadi auf einem Zettel mit, die Sache mit den Ikonen scheine sich zerschlagen zu haben, aber er sei auf einer Spur, die mit einem Deutschen zusammenhänge. Arkadi knüllte den Zettel zusammen, warf ihn in den Papierkorb und ließ die mitgebrachten Kleidungsstücke auf das Feldbett fallen.

Draußen regnete es. Die Tropfen fielen auf den zugefrorenen Fluß und bildeten tiefhängende Nebelschwaden über den vielbefahrenen Boulevards. Von seinem dunklen Zimmer aus beobachtete Arkadi drüben im Diplomatenkomplex eine Frau, die im Nachthemd an einem beleuchteten Fenster stand.

Eine Amerikanerin? Arkadis Brustkorb schmerzte, wo der Unbekannte ihn vor zwei Tagen getroffen hatte. Er drückte eine Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. Er fühlte sich merkwürdig erleichtert — von Sonja, von seinem bisherigen Lebensstil befreit und schwerelos.

Im Zimmer der Frau jenseits des Boulevards erlosch das Licht. Er fragte sich, weshalb er den Wunsch hatte, mit einer Frau zu schlafen, die er noch nie gesehen hatte und deren Gesicht nur ein verschwommenes Oval hinter einer regennassen Fensterscheibe war. Arkadi war Sonja nie untreu gewesen, hatte nicht einmal mit dem Gedanken daran gespielt. Jetzt wollte er irgendeine Frau. Oder jemanden verprügeln. Hauptsache menschlicher Kontakt.

Er zwang sich dazu, die im Januar gemachten Aufnahmen von Osborne abzuhören. Falls es ihm gelang, eine Verbindung zwischen den Morden im Gorki-Park und diesem beim KGB so gut angeschriebenen Amerikaner herzustellen, musste Major Pribluda die Ermittlungen übernehmen. Allerdings bestand kein Grund, Osborne zu verdächtigen, obwohl der Amerikaner Verbindung mit Irina Asanowa und dem Schwarzhändler Golodkin gehabt hatte. Der Pelzgroßhändler hatte den Januar und die beiden ersten Februartage abwechselnd in Moskau und auf der alljährlichen Pelzversteigerung in Leningrad verbracht. In beiden Städten hatte er mit hohen Ministerialbeamten und Kulturschaffenden verkehrt, nicht mit schlichten Bürgern wie den im Gorki-Park Ermordeten.

In den »Annalen der sowjetischamerikanischen Zusammenarbeit im Großen Vaterländischen Krieg« fand Arkadi Osborne zweimal erwähnt:

Bevor sich der Belagerungsring schloss, verließen die meisten Ausländer Leningrad. Zu den wenigen, die tapfer ausharrten, gehörte der amerikanische Diplomat J. D. Osborne, der gemeinsam mit sowjetischen Kollegen unermüdlich bemüht war, die Schäden an Hafenanlagen so gering wie möglich zu halten. Auch unter starkem feindlichen Beschuß waren General Mendel und Osborne in vorderster Front tätig, um die Instandsetzungsarbeiten an beschädigten Bahnlinien und Straßen zu leiten …

Einige Seiten später tauchte der Name erneut auf:

… bei einem dieser Stosstruppunternehmen der Faschisten wurde der Transportstab unter Führung General Mendels und des Amerikaners Osborne abgeschnitten, konnte sich jedoch mit Handfeuerwaffen freikämpfen.

Arkadi erinnerte sich an die bissigen Bemerkungen seines Vaters über Mendels Feigheit (»blanke Stiefel, volle Hosen«). Aber gemeinsam mit Osborne war Mendel ein Held gewesen. Nachdem Mendel 1947 ins Handelsministerium übergewechselt war, hatte es nicht mehr lange gedauert, bis Osborne eine Ausfuhrgenehmigung für Pelze erhalten hatte.

Plötzlich kam Fet herein. »Da Sie noch hier sind, Chefinspektor, wollte ich mir ein paar weitere Aufnahmen anhören«, behauptete er.

»Es ist schon spät. Regnet’s draußen, Sergej?«

»Ja.« Fet legte seinen trockenen Mantel auf einen Stuhl und nahm Platz. Nicht gerade raffiniert, dachte Arkadi. Der junge Mann rückte seine Nickelbrille zurecht und griff nach einem seiner frischgespitzten Bleistifte. Wahrscheinlich war irgendwo im Zimmer ein Abhörmikrofon installiert, und die Lauscher hatten es satt, einem Mann zuzuhören, der nur las und Tonbandaufnahmen abhörte. Deshalb hatten sie den armen Fet in die Bresche geschickt. Das bewies wahres Interesse. Ausgezeichnet.

Fet zögerte.

»Was gibt’s, Sergej?«

Die vertrauliche Anrede verstärkte Fets Unbehagen. Der junge Kriminalbeamte räusperte sich. »Diese Ermittlungsweise, Chefinspektor …«

»Nach Dienstschluß können Sie einfach Genosse sagen.«

»Danke. Unsere Ermittlungsweise … na ja, ich frage mich, ob sie die richtige ist.«

»Das frage ich mich auch. Wir fangen mit drei Ermordeten an und befassen uns dann mit Tonbändern und Aufzeichnungen über Leute, die im Grunde genommen willkommene Besucher sind. Vielleicht täuschen wir uns völlig und vergeuden damit kostbare Zeit. Haben Sie deswegen Bedenken, Sergej?«

Fet schien es die Sprache verschlagen zu haben. »Ja, Chefinspektor«, stieß er hervor.

»Sagen Sie einfach Genosse zu mir. Wie sollen wir eine Verbindung zwischen willkommenen Gästen und den Ermordeten herstellen, wenn wir nicht einmal wissen, wer die Mordopfer gewesen oder weshalb sie ermordet worden sind?«

»Ja, das habe ich mir auch überlegt.«

»Wäre es nicht besser, die Ausländer aus dem Spiel zu lassen und sich auf das Personal im Gorki-Park zu konzentrieren oder möglichst viele Parkbesucher dieses Winters aufzuspüren? Wäre das Ihrer Meinung nach eher empfehlenswert?«

»Nein. Vielleicht.«

»Sie sind unschlüssig, Sergej«, stellte Arkadi fest. »Sagen Sie mir bitte, was Sie denken, denn Kritik ist konstruktiv. Sie hilft uns, Ziele zu definieren und in gemeinsamer Arbeit anzustreben.«

»Ich äh …« Der junge Mann wusste nicht recht, was er sagen sollte.

»Nicht unschlüssig«, verbesserte Arkadi sich. »Eher im Zweifel, welche Methode besser ist. Das stimmt doch, Sergej?«

»Ja.« Fet nahm einen neuen Anlauf. »Und ich frage mich, ob Sie einen mir unbekannten Aspekt unserer Ermittlungen kennen, der dazu geführt hat, daß wir uns so ausschließlich auf diese von den Organen der Staatssicherheit zur Verfügung gestellten Unterlagen konzentrieren?«

»Sergej, ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Und ich habe volles Vertrauen zu dem typisch russischen Mörder. Er tötet aus Leidenschaft und — wenn möglich — zu Hause. Natürlich besteht vorerst noch Wohnungsmangel, aber sobald sich dieser Zustand bessert, wird’s noch mehr Morde in den heimischen vier Wänden geben. Können Sie sich überhaupt einen Russen, einen Sohn der Revolution, vorstellen, der drei Menschen in den bekanntesten Moskauer Kulturpark lockt und dort kaltblütig ermordet? Ist das vorstellbar, Sergej? Das ist doch ein Witz.«

»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«

»Denken Sie darüber nach, Sergej. Strengen Sie Ihr Gehirn an.«

Einige Minuten später verabschiedete der junge Mann sich mit einer fadenscheinigen Ausrede. Arkadi befasste sich wieder mit Osbornes Tonbändern, denn er war entschlossen, die Aufnahmen aus dem Januar zu Ende zu hören, bevor er sich auf das Feldbett legte. Im Lichtkreis der Schreibtischlampe ordnete er drei Zündhölzer auf einem Blatt Papier nebeneinander an. Um die Streichhölzer herum zeichnete er die Umrisse der Lichtung im Gorki-Park.

Gegen Mitternacht erinnerte Arkadi sich an den Zettel, den Pascha ihm hingelegt hatte. Auf Paschas Tisch lagen ein Bericht und das Dossier eines Deutschen namens Hofmann. Arkadi blätterte darin.

Hans Friedrich Hofmann war 1932 in Dresden geboren, verheiratet mit 18 Jahren, geschieden mit 19, wegen Rowdytums aus der Jugendorganisation FDJ ausgeschlossen (Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung niedergeschlagen). 1952 Eintritt in die Volkspolizei; während der reaktionären Wirren des Jahres 1953 für Einsatz gegen Aufrührer belobigt (Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung niedergeschlagen). Nach Erfüllung der Wehrpflicht Aufseher im Zuchthaus Bautzen; später vier Jahre lang Chauffeur des Ersten FDGB-Sekretärs. 1963 in die SED aufgenommen; im gleichen Jahr die zweite Ehe und Wechsel zum VEB Chemiefaserwerk Guben. 1970 Ausschluß aus der SED wegen wiederholter Misshandlungen seiner Ehefrau. Kurz gesagt: Ein brutaler Schläger. Unterdessen war er wieder Parteimitglied und hatte in Moskau die Aufgabe, für Disziplin unter den ostdeutschen Studenten zu sorgen. Sein Foto zeigte einen großen, hageren Mann mit schütterem aschblonden Haar. In Paschas Bericht wurde ergänzt, daß Golodkin Hofmann mit Prostituierten versorgt hatte, bis der Ostdeutsche im Januar die Verbindung zu ihm abgebrochen hatte. Von Ikonen war darin nicht die Rede.

Auf Paschas Tonbandgerät lag eine Spule. Arkadi setzte Paschas Kopfhörer auf und schaltete das Gerät ein. Er fragte sich, weshalb Hofmann die Verbindung zu Golodkin gelöst hatte — und weshalb im Januar?

Arkadi sprach nicht mehr so gut Deutsch wie in seiner Zeit als Rotarmist, als er bei einer Aufklärungskompanie in Ost-Berlin stationiert gewesen war, aber er verstand genug, um mitzubekommen, mit welchen brutalen Drohungen Hofmann rebellierende Studenten zur Räson brachte. Ihren Stimmen nach hatten sie alle Angst vor ihm. Hofmann hatte wirklich Grund, mit seiner Arbeit zufrieden zu sein: Sobald er ein bis zwei Studenten pro Tag eingeschüchtert hatte, war sein Soll erfüllt, so daß er sich Privatgeschäften widmen konnte. Wahrscheinlich schmuggelte er Kameras und Ferngläser aus der DDR und zwang seine verängstigten Studenten dazu, ihm Kurierdienste zu leisten. Ikonen interessierten ihn natürlich nicht; nur Besucher aus dem Westen kauften russische Ikonen.

Dann hörte Arkadi die Stimme eines Anrufers, der Hofmann zu einem Treffen »am gewohnten Ort« aufforderte. Einen Tag später wies der Anrufer den Ostdeutschen an, vor dem Bolschoi-Theater auf ihn zu warten. Am Tag darauf fand das Treffen »am gewohnten Ort« statt; zwei Tage danach wurde ein neuer Treffpunkt vereinbart. Bei diesen in deutscher Sprache geführten Telefongesprächen wurden weder Namen genannt noch konkrete Themen angeschnitten. Es dauerte lange, bis Arkadi zu der Überzeugung gelangte, Hofmanns anonymer Gesprächspartner sei Osborne, denn Hofmann war niemals auf Osbornes Tonbändern zu hören gewesen. Osborne rief Hofmann an, der ihn offenbar nicht anrufen durfte, und telefonierte nur von Telefonzellen aus. Zwischendurch klang die Stimme des anonymen Anrufers wieder so anders, daß Arkadi an seiner Identifizierung zweifelte. Aber diese Zweifel hielten nicht lange an.

Arkadi stellte zwei Tonbandgeräte nebeneinander und hörte sich abwechselnd Osbornes und Hofmanns Stimmen an. In seinem Aschenbecher häuften sich die Zigarettenstummel. Alles weitere war jetzt eine Frage der Geduld.

Er begann mit Hofmanns Bändern aus dem Februar. Am 2. Februar dem Tag, an dem Osborne von Moskau nach Leningrad gereist war rief der Unbekannte an.

»Das Flugzeug hat Verspätung.«

»Verspätung?«

»Trotzdem ist alles in Ordnung. Du machst dir unnütze Sorgen.«

»Du etwa nie?«

»Immer mit der Ruhe, Hans.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Ob’s dir passt oder nicht, spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Die neuen Tupolews sind als unzuverlässig bekannt.«

»Ein Absturz? Du glaubst immer, daß nur die Deutschen gute Ingenieure sind.«

»Schon eine Verspätung ist riskant. In Leningrad…«

»Ich bin schon früher in Leningrad gewesen. Ich bin dort mit Deutschen zusammengekommen. Keine Angst, alles klappt wie vorgesehen.«

Arkadi gönnte sich eine Stunde Schlaf.

7

Die erste Schädelrekonstruktion von Schönheit war ein gesichtsloser rosa Gipskopf mit einer mottenzerfressenen Perücke, aber er hatte Scharniere an den Ohren, ließ sich entlang der Nasenlinie aufklappen und zeigte unter der Oberfläche ein kompliziertes blaues Muskelgeflecht und einen weißen Gesichtsschädel.

Andrejew erklärte: »Das Gesicht ist nur eine dünne Maske vor dem Schädel. Man kann das Gesicht nach dem Schädel rekonstruieren, aber nicht den Schädel nach dem Gesicht. Das braucht Zeit.«

»Wie viel?« fragte Arkadi.

»Vier, fünf Wochen.«

»Tut mir leid. Ich brauche ein identifizierbares Gesicht innerhalb der nächsten Tage.«

»Renko, Sie sind der typische Ermittlungsbeamte. Sie haben überhaupt nicht zugehört. Ich habe mich von Ihnen überreden lassen, das Gesicht zu rekonstruieren. Das ist eine äußerst langwierige Arbeit, für die ich meine Freizeit opfere.«

»Ich verdächtige einen Mann, der Moskau in einer Woche verlassen wird.«

»Er kann die Sowjetunion nicht verlassen, deshalb …«

»Doch!«

»Hm. Ein Ausländer?«

»Ja.«

»Aha!« Andrejew winkte lachend ab. »Gut, ich verstehe. Erzählen Sie mir bitte nicht noch mehr.«

Andrejew kletterte auf seinen Hocker, rieb sich das Kinn und sah zu dem Oberlicht auf. Arkadi fürchtete, er werde es ablehnen, sich weiter mit dem Kopf zu beschäftigen.

»Na ja, sie ist bis auf das Gesicht ziemlich intakt angekommen, und ich habe sie fotografiert, so daß kein Zeitverlust durch die Rekonstruktion von Kinn und Halsansatz zu befürchten ist. Die Gesichtsmuskeln sind ebenfalls fotografiert und skizziert. Wir kennen ihre Haarfarbe und die Frisur, die sie getragen hat. Ich könnte also anfangen, sobald der Schädel sauber ist.«

»Wann bekommen Sie einen sauberen Schädel?«

»Immer diese Fragen, Chefinspektor! Warum fragen Sie das Säuberungskomitee nicht selbst?«

Andrejew zog eine große Schublade auf. Sie enthielt den Behälter, in dem Arkadi ihm den Kopf gebracht hatte. Andrejew hob den Deckel ab. Arkadi sah eine schillernde Masse und brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, daß sie aus unzähligen glänzenden Käfern bestand, unter denen einige weiße Schädelknochen sichtbar waren.

»Bald«, versprach Andrejew ihm.

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Im Fernschreibraum der Miliz in der Petrowka-Straße gab Arkadi eine neue Fahndungsmeldung auf — diesmal nicht nur für westlich des Urals, sondern für die gesamte Sowjetunion, einschließlich Sibirien. Die Tatsache, daß die drei Ermordeten unidentifiziert blieben, beunruhigte ihn. Jeder hatte einen Ausweis; jeder wurde von jedem beobachtet. Wie konnten drei Menschen so lange verschwinden, ohne daß sie als vermisst gemeldet wurden? Und die einzige Verbindung zu irgend jemand waren die Schlittschuhe Irina Asanowas, die aus Sibirien stammte.

»In einem Nest wie Komsomolsk sind sie uns mit der Zeit zehn Stunden voraus«, sagte der Mann am Fernschreiber. »Dort ist jetzt schon Nacht. Das bedeutet, daß wir nicht vor morgen mit einer Antwort rechnen können.«

Arkadi zündete sich eine Zigarette an und bekam beim ersten Zug einen Hustenanfall. Daran waren der Regen und seine lädierten Rippen schuld.

»Sie sollten mal zum Arzt gehen.«

»Danke, ich kenne einen.« Der Chefinspektor ging hustend hinaus.

Lewin war gerade im Autopsieraum mit einer Leiche mit braunen Lippen beschäftigt, als Arkadi eintraf. Der Pathologe sah ihn an der Tür stehen, zog seine Gummihandschuhe aus und kam heraus.

»Selbstmord. Gas und Pulsadern aufgeschnitten«, sagte Lewin. Er zog die Augenbrauen hoch, als er Arkadi husten hörte. »Kommen Sie, die Kellerluft ist nichts für Sie.«

Sie gingen in Lewins Büro hinauf, wo der Pathologe zu Arkadis Überraschung eine Flasche französischen Kognak und zwei Gläser auf seinen Schreibtisch stellte. »Selbst für einen Chefinspektor sehen Sie schlimm aus.«

»Ich brauche ein Medikament.«

»Renko, der Held der Arbeit.« Lewin schenkte ein. »Hier.« Nachdem sie sich zugetrunken hatten, warf der Pathologe Arkadi einen prüfenden Blick zu. »Wie viel Gewicht haben Sie in letzter Zeit verloren? Wie viel Schlaf haben Sie gekriegt?«

»Sie haben doch Tabletten.«

»Gegen Fieber, Schüttelfrost und Schnupfen? Gegen Ihre Arbeit?«

»Irgendein Schmerzmittel.«

»Wollen Sie sich selbst umbringen? Wissen Sie denn gar nicht, was Angst ist? Nein, nicht der Held der Arbeit …« Lewin beugte sich nach vorn. »Lassen Sie die Finger von diesem Fall.«

»Ich versuche, ihn abzugeben.«

»Das genügt nicht. Lassen Sie die Finger davon.«

»Unsinn!«

Arkadi bekam einen neuen Hustenanfall, stellte sein Glas weg, beugte sich nach vorn und hielt sich die Rippen. Er nahm undeutlich wahr, wie Lewins kalte Hand von oben in sein Hemd fuhr und die empfindliche Schwellung auf seiner Brust abtastete. Der Arzt sog zischend die Luft ein. Als Arkadis Hustenanfall vorüber war, saß Lewin wieder auf seinem Platz und war dabei, ein Attest zu schreiben.

»Ich bestätige Ihnen für die Staatsanwaltschaft, daß Sie wegen einer schweren Prellung und Blutungen im Brustraum stationär beobachtet werden müssen, weil Verdacht auf Brustfellentzündung und Rippenbrüche besteht. Damit verschafft Jamskoi Ihnen zwei Wochen Kuraufenthalt in einem Sanatorium.«

Arkadi griff nach dem Attest und knüllte es zusammen.

»Dafür …« Lewin füllte einen Rezeptvordruck aus. »Dafür bekommen Sie ein Antibiotikum.« Er öffnete eine Schreibtischschublade und warf Arkadi ein Fläschchen mit kleinen Tabletten zu. »Hier, das müsste gegen Ihren Husten helfen. Nehmen Sie gleich eine.«

Das Fläschchen enthielt Kodeintabletten. Arkadi schluckte zwei und steckte den Rest ein.

»Woher haben Sie die schöne Beule?« erkundigte Lewin sich.

»Von einem Schlag.«

»Mit einem Gummiknüppel?«

»Nur mit der Faust, glaub ich.«

»Das ist ein Gegner, um den Sie in Zukunft einen weiten Bogen machen sollten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, gehe ich zu meinem glatten, sauberen Selbstmord zurück.«

___________

Arkadi flüchtete aus dem Leichenhaus und stapfte mit hochgezogenen Schultern durch den Regen. Am Dserschinski-Platz strömten die Massen zu den U-Bahn-Stationen. Neben dem Kinderwelt-Warenhaus gegenüber dem Lubjanka-Gefängnis kannte Arkadi eine Schnellimbissstube. Er wollte eine Kleinigkeit essen und wartete am Fußgängerübergang, als jemand seinen Namen rief.

»Hierher!«

Unter einem niedrigen Torbogen trat eine Gestalt hervor, die Arkadi am Ärmel aus dem Regen zog:

Jamskoi, der über seiner Staatsanwaltsuniform einen blauen Regenmantel trug und seine Glatze unter einer goldbestickten Mütze verbarg.

»Genosse Richter, kennen Sie unseren hochbegabten Chefinspektor Renko?« Jamskoi stellte Arkadi einem alten Mann vor.

»Sohn des Generals?« Der Richter hatte eng beieinanderstehende kleine Augen und eine Hakennase.

»Ganz recht.«

»Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.« Der Richter gab Arkadi eine kleine Greisenhand. Arkadi war unwillkürlich beeindruckt. Schließlich gab es am Obersten Gerichtshof nur zwölf Richter.

»Ganz meinerseits. Ich wollte gerade ins Büro.« Arkadi trat einen Schritt zurück, aber Jamskoi hielt ihn am Ärmel fest.

»Sie arbeiten bestimmt schon seit Tagesanbruch.« Er wandte sich an den Richter. »Er bildet sich ein, ich wüsste nicht, wie fleißig er ist. Mein kreativster und fleißigster Mitarbeiter. Aber auch Sie müssen einmal ausspannen, Chefinspektor. Kommen Sie mit uns.«

»Tut mir leid, aber ich habe zu arbeiten«, protestierte Arkadi.

»Sie wollen meine Einladung ausschlagen? Kommt nicht in Frage!« Jamskoi zog auch den Richter mit. Hinter dem Torbogen begann eine überdachte Passage, die Arkadi noch nie aufgefallen war. Zwei Milizionäre mit den Kragenspiegeln der Wachdivision nahmen Haltung an. »Außerdem haben Sie doch nichts dagegen, wenn ich Sie ein bisschen vorzeige, nicht wahr?«

Die Passage führte auf einen Innenhof, vollgeparkt mit chromblitzenden Tschaika-Limousinen. Jamskoi ging wichtigtuerisch voraus und öffnete eine Eisentür, hinter der eine von sternförmigen weißen Kristalllüstern beleuchtete Vorhalle lag. Eine mit einem Läufer belegte Treppe führte in einen holzgetäfelten Raum mit schmalen Mahagonikabinen hinunter. Hier waren die Kristallüster rot, und eine Längswand des Raums verschwand hinter einem Großfoto des Kremls bei Nacht mit einem wehenden roten Banner über der grünen Kuppel des alten Senats.

Jamskoi zog sich aus. Sein Körper war rosig, muskulös und fast unbehaart. Der Richter enthüllte einen eingesunkenen Brustkorb, bedeckt mit einem dichten weißen Pelz. Arkadi zog sich ebenfalls aus. Der Staatsanwalt warf einen flüchtigen Blick auf seine blauschwarz verfärbte Brustprellung.

»Eine kleine Auseinandersetzung, was?«

Er nahm ein Handtuch aus seiner Kabine und schlang es Arkadi wie einen Schal um den Hals, um die Schwellung zu verdecken. »So, jetzt sehen Sie richtig elegant aus. Dies ist eine Art Privatklub — Sie brauchen mir also nur zu folgen. Fertig, Genosse Richter?«

Der Richter hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Jamskoi nahm sein eigenes über die Schulter und wandte sich mit jovialer Vertraulichkeit, die den Alten ausschloss, augenzwinkernd an Arkadi.

»Es gibt eben solche und solche Bäder. Manchmal hat man als Beamter das Bedürfnis, sich ein bisschen frisch zu machen, nicht wahr? Soll man da in einem öffentlichen Badehaus anstehen — womöglich mit einem Schmerbauch wie der Richter?«

Ein gekachelter Gang, durch Heißluft beheizt, führte in einen großen Kellerraum mit einem dampfenden Heißwasserbecken. Rings um das Becken teilten geschnitzte Holzgitter byzantinische Bögen in behagliche Nischen mit niedrigen mongolischen Tischen und Diwanen.

Jamskoi führte Arkadi zu einer Nische, in der zwei schwitzende nackte Männer vor einem Tisch saßen, auf dem Silberschalen mit Kaviar und Räucherlachs, Platten mit Weißbrot, Butter und Zitronenscheiben und Flaschen mit Mineralwasser und zwei Sorten Wodka standen.

»Genossen Erster Sekretär des Generalstaatsanwalts und Akademiemitglied, ich möchte Ihnen Arkadi Wassiljewitsch Renko, den Leiter der Mordkommission, vorstellen.«

»Sohn des Generals.« Der Richter setzte sich, als niemand auf ihn achtete.

Arkadi schüttelte den beiden über den Tisch hinweg die Hand. Der Erste Sekretär war groß und behaart wie ein Affe, und das Akademiemitglied litt unter einer Ähnlichkeit mit Nikita S. Chruschtschow. Die Atmosphäre war entspannt und freundschaftlich — wie in einem Film, den Arkadi einmal gesehen hatte, in dem Zar Nikolaus mit Offizieren seines Generalstabs baden ging. Jamskoi schenkte gewürzten Pertsowka-Wodka ein — »Pfeffer ist gut gegen Regen« — und häufte Kaviar auf Arkadis Brot. Nicht Presskaviar, sondern große Rogenkugeln, wie Arkadi sie seit Jahren nicht mehr im Handel gesehen hatte. Er verschlang sein Brot mit zwei Bissen.

»Wie Sie sich erinnern werden, Genossen, hatte Inspektor Nikitin beinahe hundertprozentige Aufklärungserfolge auf zuweisen; aber Arkadi Wassiljewitsch hat bisher noch jeden Fall aufgeklärt. Sie sind also gewarnt!« fügte Jamskoi spöttisch hinzu. »Falls Sie mit dem Gedanken spielen, Ihre Ehefrau zu beseitigen, suchen Sie sich lieber eine andere Stadt.« Die aus dem Becken aufsteigenden Dampfschwaden verliehen allen Speisen und Getränken einen leichten Schwefelgeschmack. Er war nicht einmal unangenehm — eher wie ein zusätzliches Gewürz. Man braucht gar nicht weit zu reisen, um eine Kur zu machen, dachte Arkadi, man braucht nur unter dem Dserschinski-Platz zu baden, wo die Helden Übergewicht haben.

»Weißes Dynamit aus Sibirien.« Der Erste Sekretär schenkte Arkadi nach. »Reiner Alkohol.«

Soviel Arkadi mitbekam, gehörte das Akademiemitglied diesem erlesenen Kreis nicht etwa als gewöhnlicher Geistes- oder Naturwissenschaftler, sondern als Ideologe an. In dieser Eigenschaft führte er das große Wort.

»Die Geschichte beweist uns, wie notwendig es ist, nach Westen zu blicken«, dozierte das Akademiemitglied. »Marx hat die Notwendigkeit des Internationalismus unterstrichen. Deshalb müssen wir die Deutschen, diese Schlitzohren, im Auge behalten. Sobald wir die Zügel schleifen lassen, schließen sie sich wieder zusammen — dafür garantiere ich euch!«

»Sie sind auch die Leute, die Drogen nach Rußland schmuggeln«, stimmte der Erste Sekretär nachdrücklich zu. »Die Deutschen und die Tschechen.«

»Lieber zehn Mörder laufen lassen als einen Drogenschmuggler«, warf der Richter ein. Er hatte Kaviar auf seinen Brusthaaren.

Jamskoi blinzelte Arkadi grinsend zu. Die Staatsanwaltschaft wusste natürlich, daß die Georgier Haschisch nach Moskau brachten und daß Moskauer Chemiestudenten LSD herstellten. Arkadi hörte nur mit halbem Ohr zu, während er mit Dill gewürzten Räucherlachs aß, und wäre auf dem bequemen Diwan beinahe eingenickt. Auch Jamskoi gab sich damit zufrieden, schweigend zuzuhören; er aß nichts, trank nur wenig und wirkte wie ein Fels in der aus dem Wortschwall der anderen bestehenden Brandung.

Einige Minuten später nahm Jamskoi Arkadi zu einem Rundgang um das Becken mit. Inzwischen waren weitere hohe Beamte eingetroffen und trieben wie Walrosse in dem heißen Schwefelwasser oder bewegten sich als weiße und rosa Schatten hinter dem Gitterwerk der Alkoventüren. Arkadi glaubte, der Staatsanwalt werde ihn zum Ausgang begleiten, aber Jamskoi führte ihn in eine Nische, in der ein junger Mann Weißbrotscheiben mit Butter bestrich.

»Sie müssten sich eigentlich kennen. Jewgeni Mendel, Ihr Vater und Renkos Vater sind gute Freunde gewesen. Jewgeni ist im Handelsministerium tätig«, erklärte Jamskoi Arkadi.

Jewgeni, ein dicklicher jüngerer Mann mit einem dünnen Schnurrbart, versuchte, sich im Sitzen zu verbeugen. Arkadi erinnerte sich undeutlich an einen fetten kleinen Jungen, der ständig geheult hatte.

»Ein Fachmann für Außenhandel«, fügte Jamskoi hinzu, worauf Jewgeni rot wurde. »Einer der kommenden jungen Leute im Ministerium.«

»Mein Vater …«, begann Jewgeni, als Jamskoi sich abrupt verabschiedete und die beiden allein ließ.

»Ja?« fragte Arkadi höflicherweise.

»Einen Augenblick, bitte.« Jewgeni konzentrierte sich auf die dick mit gelber Butter bestrichenen Brotscheiben, die er so mit Kaviar belegte, daß sie Sonnenblumen mit gelben Blütenblättern und schwarzer Mitte glichen. Arkadi nahm Platz und schenkte sich ein Glas Sekt ein.

»Mein Sachgebiet umfasst vor allem amerikanische Firmen.« Jewgeni sah von seinem Kunstwerk auf.

»Oh? Das ist bestimmt eine neue Aufgabe.« Arkadi fragte sich, wann Jamskoi zurückkommen würde.

»Nein, nein, durchaus nicht. Die Geschäftsverbindungen existieren teilweise schon sehr lange. Beispielsweise hat Armand Hammer mit Lenin zusammengearbeitet. Chemico hat in den dreißiger Jahren Ammoniakfabriken in die Sowjetunion geliefert. Ford hat in den dreißiger Jahren Lastwagen für uns gebaut, und wir wollten diese Zusammenarbeit später fortsetzen, aber die Amerikaner haben sich das Geschäft selbst verdorben. Die Chase Manhattan Bank ist seit 1923 eine Korrespondenzbank unserer Wneschtorgbank.«

Mit den meisten dieser Namen konnte Arkadi nichts anfangen, aber Jewgenis Stimme kam ihm allmählich bekannter vor, obwohl ihre letzte Begegnung schon so lange zurücklag, daß er sich nicht mehr an sie erinnern konnte.

»Ausgezeichneter Sekt.« Er stellte sein Glas ab.

»Eine neue einheimische Marke. Wir wollen sie exportieren.« Jewgeni sah kindlich stolz von seiner Arbeit auf.

Arkadi spürte, daß sich die Alkoventür öffnete. Der große schlanke Mann Anfang Sechzig, der von draußen hereinkam, war so braungebrannt, daß Arkadi ihn auf den ersten Blick für einen Araber hielt. Glattes weißes Haar, schwarze Augen, eine lange Nase und ein eigenartig femininer Mund ergaben eine auf seltsame Weise attraktive Kombination. An der Hand, in der er sein Handtuch trug, glänzte ein goldener Siegelring.

»Wundervoll!« Als der Mann sich über das Tischchen beugte, tropfte Wasser auf die Kaviarbrote. »Wie lauter hübsch eingepackte Geschenke. Ich traue mich gar nicht, in eines hineinzubeißen.«

Er betrachtete Arkadi ohne sonderliches Interesse. Selbst seine Augenbrauen schienen frisiert zu sein. Er sprach perfekt Russisch, wie Arkadi bereits gewusst hatte, aber auf den Tonbändern war sein animalisches Selbstbewusstsein nicht zu hören.

»Jemand aus deiner Abteilung?« fragte der Mann Jewgeni.

»Das hier ist Arkadi Renko. Er ist … hm, ich weiß gar nicht, was er ist.«

»Ich bin Ermittlungsbeamter«, warf Arkadi ein.

Jewgeni schenkte Sekt ein, bot die Kaviarbrote an und versuchte beflissen, Konversation zu machen. Sein Gast nahm lächelnd Platz; Arkadi hatte noch nie so schneeweiße Zähne gesehen.

»Und was ermitteln Sie?«

»Morde.«

Osborne frottierte sich die eher silbergrauen als weißen Haare, griff nach einer schweren goldenen Uhr und streifte sie sich über die Hand.

»Jewgeni«, sagte er, »ich erwarte einen Anruf. Bist du so nett, an der Vermittlung auf mein Gespräch zu warten?«

Aus einem Lederetui nahm er eine schwarze Zigarettenspitze, steckte eine Zigarette hinein und zündete sie mit einem mit Lapislazuli besetzten goldenen Feuerzeug an. Die Alkoventür schloß sich hinter dem diensteifrig forteilenden Jewgeni. »Sprechen Sie Französisch?«

»Nein«, log Arkadi.

»Englisch?«

»Nein«, log Arkadi nochmals.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich habe bei meinen Aufenthalten in der Sowjetunion noch nie mit einem Kriminalbeamten zu tun gehabt.«

»Sie haben offenbar nie etwas verbrochen, Herr … Entschuldigung, ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.«

»Osborne.«

»Amerikaner?«

»Ja. Und wie heißen Sie gleich wieder?«

»Renko. Ihr Freund Jewgeni hat von Sekt gesprochen. Importieren Sie Spirituosen?«

»Pelze«, antwortete Osborne.

Man hätte leicht behaupten können, Osborne sei eher eine Ansammlung teurer Einzelteile — Ring, Uhr, Profil, Zähne — als eine Persönlichkeit. Das hätte der korrekten sozialistischen Einstellung entsprochen und wäre in gewisser Beziehung sogar richtig gewesen, aber etwas wäre dabei unberücksichtigt geblieben: der Eindruck von beherrschter Energie, den dieser Mann ausstrahlte. Das hatte Arkadi nicht erwartet, und er kam sich selbst steif und inquisitorisch vor. Das musste sich ändern.

»Ich wollte schon immer eine Pelzmütze«, sagte er. »Und Amerikaner kennen lernen. Soviel ich gehört habe, sind sie genau wie wir. Und ich wollte schon immer New York und das Empire State Building und Harlem besuchen. Ich beneide Sie um die vielen Reisen, die Sie bestimmt machen.«

»Nicht nach Harlem.«

»Entschuldigen Sie mich bitte.« Arkadi stand auf. »Sie kennen hier viele wichtige Männer, mit denen Sie sprechen möchten, und sind zu höflich, um mich zum Gehen aufzufordern.«

Osborne rauchte seine Zigarette und starrte Arkadi ausdruckslos an, bis dieser tatsächlich einen Schritt in Richtung Becken machte.

»Bleiben Sie bitte noch«, sagte der Amerikaner rasch. »Ich habe sonst nie mit Kriminalbeamten zu tun. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen und mir von Ihrer Arbeit erzählen lassen.«

»Ich erzähle Ihnen gern davon.« Arkadi nahm wieder Platz. »Im Vergleich zu dem, was wir aus New York hören, wird Ihnen meine Arbeit allerdings ziemlich eintönig vorkommen. Ehestreitigkeiten, Rowdys. Wir haben auch Morde aufzuklären, die jedoch fast ausnahmslos im Affekt oder unter Alkoholeinwirkung verübt werden.« Er zuckte, wie um Entschuldigung bittend, mit den Schultern und trank einen Schluck Sekt. »Schmeckt wunderbar. Sie sollten ihn wirklich importieren.«

Osborne schenkte ihm nach. »Erzählen Sie mir von sich selbst.«

»Das könnte ich stundenlang«, versicherte Arkadi ihm eifrig und leerte sein Glas mit einem Zug. »Ich habe wunderbare Eltern und wunderbare Großeltern gehabt. In der Schule hatte ich vorbildliche Lehrer und höchst kameradschaftliche Mitschüler. Und über jeden einzelnen meiner Mitarbeiter und Kollegen könnte man ein Buch schreiben.«

»Sprechen Sie manchmal auch über Ihre Misserfolge?« erkundigte Osborne sich lächelnd.

»Ich persönlich kenne keine Misserfolge«, behauptete Arkadi. Er löste den Knoten seines Handtuchs, das er um den Hals geschlungen trug, und ließ es auf das Handtuch fallen, das Osborne auf den Diwan geworfen hatte. Der Amerikaner starrte die verfärbte Schwellung auf seiner Brust an.

»Ein Unfall«, erklärte Arkadi ihm. »Ich hab’s schon mit Wärmflaschen und Infrarotbestrahlung versucht, aber gegen solche Schwellungen hilft am besten ein Schwefelbad. Die Ärzte erzählen einem alles mögliche, aber die alten Hausmittel sind oft besser. Tatsächlich ist die sozialistische Kriminologie das Gebiet, auf dem die größten Fortschritte …«

»Um darauf zurückzukommen«, unterbrach Osborne ihn. »Was ist Ihr interessantester Fall gewesen?«

»Sie meinen die Leichen im Gorki-Park? Darf ich?« Arkadi nahm sich eine von Osbornes Zigaretten und benützte das Feuerzeug des Amerikaners. Er bewunderte die blauen Steine. Die schönsten Lapislazuli kamen aus Sibirien; so ausgesucht schöne hatte er noch nie gesehen.

»In der Presse hat natürlich nichts darüber gestanden … « Arkadi zog an seiner Zigarette. »Trotzdem ist mir klar, daß ein so seltsamer Fall Anlaß zu Gerüchten gibt. Vor allem in Ausländerkreisen, nicht wahr?«

Er konnte die Wirkung seiner Worte nicht beurteilen, denn Osborne lehnte sich mit ausdrucksloser Miene zurück.

»Davon hab ich gar nichts gewusst«, sagte der Amerikaner, als das Schweigen peinlich zu werden drohte.

Jewgeni Mendel kam mit der Mitteilung zurück, daß kein Anruf für Osborne gekommen sei. Arkadi stand sofort auf, entschuldigte sich für die Störung und bedankte sich für die Gastfreundschaft und den Sekt. Er griff nach Osbornes Handtuch und schlang es sich um den Hals.

Osborne beobachtete ihn geistesabwesend, bis Arkadi die Alkoventür öffnete. »Wer ist Ihr Vorgesetzter?« wollte er dann wissen. »Wer ist der Chefinspektor?«

»Ich.« Arkadi lächelte gutmütig.

Nach einigen Schritten in Richtung Ausgang fühlte er sich wie ausgepumpt. Plötzlich stand Jamskoi neben ihm.

»Ich habe doch hoffentlich recht gehabt, als ich behauptet habe, Ihr Vater und Mendel seien Freunde gewesen?« Er klopfte Arkadi auf die Schulter. »Arbeiten Sie nur weiter wie bisher. Sie wissen, daß Sie auf mich zählen können.«

Arkadi zog sich langsam an und verließ das Bad. Der Regen hatte sich in Nebel verwandelt. Er marschierte die Petrowka-Straße entlang zu Oberst Ljudins warmem forensischen Labor und gab dort Osbornes feuchtes Handtuch ab.

»Ihre Leute versuchen schon den ganzen Nachmittag, Sie zu erreichen«, sagte Ljudin, bevor er sich das Handtuch zur Untersuchung geben ließ.

Arkadi rief im Hotel Ukraina an. Pascha meldete sich und berichtete stolz, Fet und er hätten das Telefon des Schwarzhändlers Golodkin abgehört und mitbekommen, wie er von einem Mann aufgefordert wurde, sich mit ihm im Gorki-Park zu treffen. Pascha glaubte, der Anrufer sei Amerikaner oder Este gewesen.

»Amerikaner oder Este?«

»Ich meine, er hat fließend Russisch gesprochen — aber irgendwie mit Akzent.«

»Das ist eine strafbare Verletzung der Privatsphäre, Pascha! In den Artikeln zwölf und hundertvierunddreißig steht ausdrücklich, daß … «

»Aber wir hören doch schon tagelang Tonbänder mit Telefongesprächen ab!«

»Das sind KGB-Bänder!« Am anderen Ende herrschte gekränktes Schweigen, bis Arkadi schließlich sagte: »Schon gut.«

»Ich bin kein Theoretiker wie du«, stellte Pascha fest. »Und ich kann nicht ständig mit dem Strafgesetzbuch unter dem Arm rumlaufen.«

»Gut, du bist also bei der Arbeit geblieben, und Fet hat den Treff beobachtet. Hat er eine Kamera mitgenommen?« fragte Arkadi.

»Damit hat er kostbare Zeit vertan — mit der Suche nach einer Kamera. Er hat die beiden nämlich verpasst. Obwohl er kreuz und quer durch den Park gelaufen ist, hat er sie nicht gefunden.«

»Na ja, zumindest haben wir ein Tonband, das wir …«

»Welches Tonband?«

»Pascha, soll das etwa heißen, daß ihr euch bei eurer gesetzwidrigen Abhöraktion gegen Golodkin nicht die Mühe gemacht habt, das Gespräch auf Band aufzunehmen?«

»Ah … nein.«

Arkadi legte auf.

Oberst Ljudin winkte ihn zu sich heran. »Hier, sehen Sie sich das an, Chefinspektor. Ich habe ein halbes Dutzend Haare an dem Handtuch gefunden und von einem einen Schnitt hergestellt, um es mit einem Haar von der Innenseite der von Ihnen gefundenen Mütze vergleichen zu können. Das Haar aus der Mütze ist grauweiß und hat einen ovalen Querschnitt, der auf lockige Haare schließen lässt. Das neue Haar vom Handtuch ist eher silbergrau und im Querschnitt völlig rund, was glatte Haare bedeutet. Ich kann noch eine Proteinanalyse vornehmen, aber ich garantiere Ihnen schon jetzt, daß diese Haare nicht vom gleichen Kopf stammen. Hier, überzeugen Sie sich selbst.«

Arkadi sah durchs Mikroskop. Osborne war nicht der Mann, der »Son of a bitch!« gesagt hatte.

»Prima Ware.« Ljudin prüfte das Frotteehandtuch zwischen Daumen und Zeigefinger. »Brauchen Sie’s noch?«

Arkadi schüttelte den Kopf. Das Kodein, der Wodka und der Sekt machten ihn benommen, so daß er in die Kantine ging, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Als er allein an einem Tisch saß, hätte er am liebsten laut gelacht. Schöne Kriminalbeamte, die eine Kamera suchten, während ein Verdächtiger (Este oder Amerikaner!) im Gorki-Park spazieren ging. Ein schöner Chefinspektor, der ein Handtuch stahl, das seinen einzigen Verdächtigen entlastete. Er wäre am liebsten heimgefahren, wenn er ein Heim gehabt hätte.

»Chefinspektor Renko?« fragte ein Mann in Uniform. »Ein Anruf für Sie aus Sibirien.«

»Schon?«

Der Anruf kam von einem Miliz-Kriminalbeamten namens Jakutski in Ust-Kut, 4000 Kilometer östlich von Moskau. Auf die auch in Sibirien verbreitete Fahndungsmeldung hin berichtete Jakutski, daß eine Valeria Semjenowna Dawidowa, 19, aus Ust-Kut wegen Diebstahls von Staatseigentum gesucht werde. Sie befinde sich in Gesellschaft von Konstantin Iljitsch Borodin, 24, nach dem wegen der gleichen Straftat gefahndet werde.

Arkadi sah sich nach einem Atlas um. Wo lag dieses Ust-Kut, verdammt noch mal?

Nach Jakutskis Schilderung war Borodin ein mit allen Wassern gewaschener Ganove. Eigentlich war er Pelztierjäger. Aber er betrieb einen schwunghaften Schwarzhandel mit Radioteilen, die sehr gefragt waren. Außerdem wurde er verdächtigt, illegal Gold geschürft zu haben. Beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale hatte Borodin ein Vermögen mit dem Verkauf von auf den Baustellen gestohlenen LKW-Ersatzteilen verdient. Als die Miliz nach ihm und der Dawidowa gefahndet hatte, waren die beiden spurlos verschwunden. Jakutskis Überzeugung nach hatten die beiden sich irgendwo in die Taiga zurückgezogen oder waren tot.

Ust-Kut … Arkadi schüttelte den Kopf. Wie sollte jemand aus Ust-Kut nach Moskau gelangt sein? Aber er wollte seinen Kollegen in Sibirien, den er sich als verschmitzten Orientalen vorstellte, nicht vor den Kopf stoßen. »Wo und wann sind sie zuletzt gesehen worden?« erkundigte er sich.

»Im Oktober vergangenen Jahres in Irkutsk.«

»Wissen Sie, ob einer der beiden sich auf die Restaurierung von Ikonen versteht?«

»Wer hier aufgewachsen ist, kann zumindest schnitzen.«

Die Verbindung wurde schwächer. »Gut«, sagte Arkadi rasch, »schicken Sie mir, was Sie an Unterlagen über die beiden haben.«

»Konstantin Borodin ist Kostja der Bandit … « Die Stimme war sehr leise.

»Nie von ihm gehört.«

»In Sibirien ist er berühmt … «

___________

Zypin der Mörder begrüßte Arkadi in seiner Zelle im Lefortowo-Gefängnis. Er trug kein Hemd, aber seine für einen Urka typischen Tätowierungen bedeckten seinen Oberkörper bis zum Hals und die Arme bis hinunter zu den Handgelenken. Er hielt seine ohne den Gürtel rutschende Hose mit beiden Händen fest.

»Sie haben mir sogar die Schuhbänder weggenommen. Als ob man sich mit seinen Schuhbändern aufhängen könnte! Ich hab wieder mal Pech gehabt. Gestern haben wir noch miteinander geredet, und ich bin ganz zufrieden gewesen. Heute kommen zwei Kerle auf der Auto-Straße bei mir vorbei und versuchen mich auszurauben.«

»Wo du Benzin verkauft hast?«

»Richtig. Was sollte ich also tun? Einer der Kerle kriegt ‘nen Schraubenschlüssel auf den Kopf, daß er tot umfällt. Der andere fährt weg — und im gleichen Augenblick hält ein Streifenwagen vor mir. Da steh ich nun mit dem Schraubenschlüssel in der Hand und ‘nem Toten vor mir … Großer Gott, jetzt ist Zypin erledigt!«

»Fünfzehn Jahre.«

»Wenn ich Glück habe.« Zypin setzte sich auf seinen Hocker. Die übrige Einrichtung seiner Zelle bestand aus einer an der Wand festgeschraubten Pritsche und einem Waschgeschirr. Die Zellentür wies zwei Öffnungen auf: ein Guckloch für die Aufseher und eine Klappe, durch die das Essen hereingeschoben wurde.

»Ich kann nichts für dich tun«, stellte Arkadi fest.

»Ja, ich weiß. Diesmal hab ich Pech gehabt. Irgendwann hat jeder mal Pech, was?« Zypin setzte ein anderes Gesicht auf. »Hören Sie, Chefinspektor, ich hab Ihnen oft geholfen, nicht wahr? Ich hab Sie nie im Stich gelassen, weil wir uns gegenseitig geachtet haben.«

»Und weil ich gut gezahlt habe.« Arkadi nahm seiner Feststellung die Spitze, indem er Zypin eine Zigarette gab.

»Sie wissen, was ich meine.«

»Ich kann dir nicht helfen, das musst du verstehen. Du wirst wegen Totschlags verknackt.«

»Ich rede jetzt nicht von mir. Erinnern Sie sich an meinen Freund mit dem Spitznamen Schwan?«

Arkadi erinnerte sich undeutlich an eine merkwürdige Gestalt, die sich bei mehreren Gesprächen mit Zypin im Hintergrund aufgehalten hatte.

»Klar.«

»Wir sind immer zusammengewesen — sogar in den Lagern. Ich bin der Geldverdiener gewesen, verstehen Sie? Schwan gerät ohne mich in finanzielle Schwierigkeiten. Ich meine, ich hab schon genügend Sorgen und will mir nicht noch seinetwegen den Kopf zerbrechen müssen. Sie brauchen einen Vertrauensmann. Schwan hat ein Telefon, sogar ein Auto, er wäre der richtige Mann für Sie. Na, was halten Sie davon? Versuchen Sie’s mal mit ihm?«

Als der Chefinspektor das Gefängnis verließ, wartete Schwan unter der nächsten Straßenlaterne. Seine Lederjacke betonte seine schmalen Schultern, den langen Hals und den Bürstenhaarschnitt. In Arbeitslagern kam es oft vor, daß Berufsverbrecher sich kleine Ganoven als Freunde hielten, die dann von den übrigen Lagerinsassen als schwul verachtet wurden. Aber Schwan und Zypin waren ein richtiges Paar, eine Seltenheit, und niemand hätte gewagt, Schwan in Zypins Gegenwart als schwul zu bezeichnen.

»Dein Freund hat vorgeschlagen, du könntest für mich arbeiten«, sagte Arkadi ohne sonderliche Begeisterung.

»Dann tu ich’s.« Schwan wirkte eigenartig zart und zierlich wie eine abgestoßene Porzellanfigur, was um so verblüffender war, weil er keineswegs gut aussah. Sein Alter war schwer zu erraten; auch seine sanfte Stimme lieferte keinen Anhaltspunkt für eine Schätzung.

»Allerdings ist auch mit brauchbaren Informationen nicht viel Geld zu verdienen«, warnte Arkadi ihn.

»Vielleicht können Sie etwas für ihn tun, anstatt mir Geld zu geben.« Schwan sah zum Gefängnistor hinüber.

»Er darf in Zukunft nur ein Paket pro Jahr empfangen.«

»Fünfzehn Pakete«, murmelte Schwan, als frage er sich bereits, was er hineinpacken solle.

8

Obwohl Moskau der UdSSR den Weg ins 21. Jahrhundert wies, bewahrte es sich eine geradezu viktorianische Vorliebe für Bahnreisen. Der Kiewer Bahnhof in der Nähe des Ausländergettos war Ausgangspunkt für Reisen in die Ukraine. Von dem etwas weiter nördlich liegenden Bjelorussischen Bahnhof waren Stalin im Hofzug des Zaren nach Potsdam und Chruschtschow und Breschnew zu Inspektionsreisen durch die Satellitenstaaten abgefahren. Vom Rigaer Bahnhof aus reiste man in die baltischen Republiken. Der Kursker Bahnhof suggerierte Urlaubsbräune am Schwarzen Meer. Vom Sawjolower Bahnhof und vom Paweletser Bahnhof aus verreisten keine bedeutenden Persönlichkeiten — nur Pendler oder Bauern aus der näheren Umgebung. Bei weitem am eindrucksvollsten waren die Leningrader, Jaroslawer und Kazaner Bahnhöfe, die drei Riesen am Komsomolskaja-Platz, und der eigenartigste von ihnen war der Kazaner Bahnhof, von dem aus man Tausende von Kilometern weit nach Afghanistan, in ein Arbeitslager hinter dem Ural oder durch zwei Kontinente bis zur Pazifikküste fahren konnte.

Um fünf Uhr morgens lagen in der großen Halle des Kazaner Bahnhofs ganze turkmenische Familien Kopf an Kopf auf den Bänken. Rotarmisten schliefen auf dem Boden hockend oder an die Wände gelehnt. Neben dem einzigen offenen Kiosk fragte Pascha Pawlowitsch eine junge Frau in einem Kaninchenpelz aus.

»Golodkin hat früher Schutzgelder von ihr erpresst«, berichtete Pascha, als er zu dem wartenden Arkadi zurückkam, »aber sie hat ihn längere Zeit nicht mehr gesehen. Angeblich hat er sich auf den Autohandel verlegt.«

Ein junger Soldat sprach das Mädchen an, das dick Rouge aus Vaseline und Lippenstift aufgelegt hatte. Es lächelte ihm aufmunternd zu, während er den mit Kreide auf ihrer Schuhspitze stehenden Preis las. Dann verließen sie Hand in Hand die Bahnhofshalle, ohne auf die beiden Kriminalbeamten zu achten, die ihnen in einiger Entfernung folgten. Der Komsomolskaja-Platz lag im blaugrauen Licht der ersten Morgendämmerung vor ihnen. Arkadi beobachtete, wie das junge Paar in ein Taxi stieg.

»Fünf Rubel.« Pascha sah dem Taxi nach.

Der Fahrer parkte in einer stillen Nebenstrasse und stieg aus, um Wache zu halten, während das Mädchen und der Junge sich auf dem Rücksitz liebten. Der Taxifahrer bekam die Hälfte der fünf Rubel und die Gelegenheit, dem jungen Soldaten eine Flasche Wodka zu verkaufen, die viel mehr kostete als das Mädchen. Offiziell gab es keine Straßenmädchen, weil die Prostitution seit der Oktoberrevolution abgeschafft worden war. Die Mädchen konnten wegen der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten oder wegen unproduktiven Lebenswandels angeklagt werden, aber die Prostitution als strafbarer Tatbestand existierte nicht.

»Wieder nichts.« Pascha hatte mit den Mädchen auf dem Jaroslawer Bahnhof gesprochen.

»Komm, wir fahren.« Arkadi warf seinen Mantel auf den Rücksitz, bevor er sich ans Steuer setzte. Sogar kurz vor Sonnenaufgang war die Temperatur nicht unter den Nullpunkt gesunken. Über den Leuchtreklamen der Bahnhöfe wurde der Morgenhimmel allmählich heller. Unterdessen herrschte etwas mehr Verkehr. In Leningrad war es um diese Zeit noch stockfinster. Viele Leute schwärmten für Leningrad mit seinen Kanälen und literarischen Gedenkstätten. Arkadi war lieber in Moskau, das einer großen lärmenden Maschine glich.

Sie fuhren nach Süden in Richtung Moskwa. »Ist dir noch was zu dem geheimnisvollen Anrufer eingefallen, der sich mit Golodkin im Park treffen wollte?« erkundigte der Chefinspektor sich unterwegs.

»Wenn ich nur selbst hingefahren wäre … « Pascha schüttelte den Kopf. »Für so was ist Fet einfach zu dämlich.«

Die beiden hielten nach Golodkins Wagen, einem Toyota, Ausschau. Jenseits des Flusses gingen sie ins Rscheski-Badehaus, um zu frühstücken.

___________

Der Gebrauchtwagenmarkt befand sich in der Nähe der Stadtgrenze eine lange Fahrt, die noch länger wurde, als Pascha einen Lastwagen sah, von dem aus Ananas verkauft wurden. Für vier Rubel erstand er eine von der Größe eines besseren Gänseeis.

»Ein kubanisches Stärkungsmittel«, vertraute er Arkadi an. »Ich hab Freunde, Gewichtheber, die schon dort gewesen sind. Unvorstellbar! Schwarze Schönheiten, Strande und Lebensmittel ohne Konservierungsstoffe. Ein Paradies der Werktätigen!«

Der Gebrauchtwagenmarkt fand auf einem unbebauten Grundstück statt, auf dem Pobedas, Schigulis, Moskwitschs und Saporoschez standen — einige uralt und klapprig, aber andere noch ladenneu. Ein gerissener Autobesitzer, der nach jahrelangem Warten endlich den kleinen Saporoschez bekam, für den er 3000 Rubel zahlte, konnte damit sofort auf den Gebrauchtwagenmarkt fahren, sein Spielzeug für 10000 Rubel verkaufen, bei der staatlichen Marktaufsicht nur einen Verkauf für 5000 Rubel melden, seine sieben Prozent Provision zahlen und mit den restlichen 6650 Rubel einen gebrauchten, aber viel geräumigeren Schiguli kaufen. Der Markt glich einem Bienenstock — allerdings war die Voraussetzung dafür, daß jede Biene selbst Honig mitbrachte. Etwa 1000 Bienen waren anwesend. Arkadi gab vor, sich für einen weißen Moskwitsch zu interessieren. Er fuhr mit der Hand über den Lack.

»Wie eine Mädchenwange, was?« Ein Georgier in einem Ledermantel stand plötzlich vor ihm.

»Hübsch.«

»Sie sind schon in ihn verliebt, das sieht man. Lassen Sie sich nur Zeit, machen Sie einen kleinen Rundgang.«

»Wirklich sehr hübsch.« Arkadi schlenderte nach hinten.

»Sie verstehen was von Autos.« Der Georgier legte einen Finger auf sein rechtes Auge. »Dreißigtausend Kilometer. Andere Leute hätten den Tacho zurückgestellt, aber das ist nicht meine Art. Jede Woche gewaschen und poliert. Hab ich Ihnen die Scheibenwischer schon gezeigt?« Er zog sie aus einer großen Papiertüte.

»Gute Scheibenwischer.«

»Praktisch neuwertig. Aber das sehen Sie ja selbst.« Der Georgier kehrte den übrigen Marktbesuchern den Rücken zu und schrieb die Zahl 15000 so auf die Papiertüte, daß nur Arkadi sie lesen konnte.

Arkadi setzte sich ans Steuer. Der Fahrersitz war durchgesessen, und das weiße Plastiklenkrad wies Risse und Sprünge auf. Er drehte den Zündschlüssel nach rechts und sah im Rückspiegel eine bläuliche Wolke, die aus dem Auspuff kam.

»Hübsch.« Der Chefinspektor stieg aus. Sitze ließen sich auspolstern, ein Motor konnte repariert werden, aber eine Karosserie war Gold wert.

»Ich hab gewusst, daß er Ihnen gefallen würde. Gekauft?«

»Wo ist Golodkin?«

»Golodkin, Golodkin … « Der Georgier zerbrach sich den Kopf. War das eine Person, ein Wagen? Er hatte diesen Namen noch nie gehört, bis der Chefinspektor, der noch immer den Zündschlüssel in der Hand hielt, ihm seinen Dienstausweis zeigte. Ah, dieser Golodkin! Dieser Halunke! Er hatte den Autoverkaufsplatz vor wenigen Minuten verlassen. Arkadi erkundigte sich, wohin er unterwegs sei. »Soviel ich weiß, wollte er zum Melodija. Wenn Sie ihn sehen, können Sie ihm ausrichten, daß ein ehrlicher Mann wie ich die vorgeschriebene Provision dem Staat zahlt, nicht Gaunern wie ihm. Und für Angehörige des Öffentlichen Dienstes, lieber Genosse, gibt’s natürlich schöne Rabatte!«

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Am Kalinin-Prospekt waren die kleineren Gebäude fünfstöckige Rechtecke aus Stahlbeton und Glas, die größeren 25stöckige Winkeltürme aus Stahlbeton und Glas. Verkleinerte Kopien dieser Prachtstrasse fand man in jeder neuen Stadt, aber keine von ihnen war so symbolisch für den Aufbruch in die Zukunft wie das Moskauer Vorbild. In beiden Richtungen führten acht Fahrbahnen über eine Fußgängerunterführung hinweg. Arkadi und Pascha warteten auf einer Caféterrasse gegenüber dem Gebäude des Schallplattengeschäfts Melodija.

»Im Sommer gefällt’s mir hier besser.« Pascha löffelte frierend sein Mokkaeis mit Himbeersirup.

Drüben auf der anderen Straßenseite fuhr ein hellroter Toyota vor und bog in die nächste Querstrasse ab. Eine Minute später schlenderte Feodor Golodkin, der zu Cowboystiefeln und Jeans einen eleganten Mantel und eine Pelzmütze trug, in das Plattengeschäft. Gleichzeitig kamen die beiden Kriminalbeamten drüben aus der Fußgängerunterführung.

Durch die Glasfront konnten sie beobachten, daß Golodkin nicht die Treppe zur klassischen Musik hinaufstieg. Während Pascha sich am Ausgang postierte, zwängte Arkadi sich an den jungen Leuten vorbei, die in Rock-and-Roll-Platten wühlten. An der Rückwand des Ladens erkannte er eine Hand in einem teuren Schweinslederhandschuh, die in das Regal mit den Politplatten griff. Als er näher kam, beobachtete er ein etwas aufgedunsenes Gesicht mit einer Narbe am linken Mundwinkel unter einer modisch gelockten honigblonden Mähne. Ein Verkäufer steckte Geld ein, als Golodkin sich abwandte.

’»Rede LT. Breschnews zur Eröffnung des XXIV. Parteitags der KPdSU‘.« Arkadi las den Plattentitel laut vor, während er Golodkin den Weg vertrat.

»Verroll dich gefälligst!« Der Georgier stieß mit dem Ellbogen nach Arkadi, der ihm den Arm auf den Rücken drehte, so daß Golodkin sich mit einem Aufschrei nach vorn beugte. Drei schwarze Scheiben rutschten aus der Plattenhülle und rollten Arkadi vor die Füße. Rolling Stones, Pink Floyd und Supertramp.

»Muß ein interessanter Parteitag gewesen sein«, meinte Arkadi.

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Golodkins Augenlider waren gerötet und schwer. Trotz seiner langen Mähne und seiner modischen Kleidung erinnerte er Arkadi an einen an der Angel zappelnden Fisch. Er hatte den Festgenommenen sofort in sein Büro in der Nowokusnezkaja-Straße gebracht, um ihm vor Augen zu führen, wie hilflos er an der Angel hing. Vor Abschluß der Ermittlungen konnte kein Rechtsanwalt verständigt werden, ja, nicht einmal der Staatsanwalt brauchte vor Ablauf von 48 Stunden von dieser Festnahme benachrichtigt zu werden. Und indem Golodkin in Tschutschins Nähe gebracht wurde, musste der Eindruck entstehen, der Chefinspektor für Sonderfälle wolle nichts mehr mit seinem Spitzel zu schaffen haben oder sei selbst in Gefahr.

»Das mit den Platten hat mich ebenso verblüfft wie Sie«, protestierte Golodkin, als Arkadi ihn in den Vernehmungsraum im Erdgeschoß führte. »Die ganze Sache ist ein Irrtum!«

»Immer mit der Ruhe, Feodor.« Arkadi setzte sich ihm gegenüber und schob dem Verhafteten einen Aschenbecher hin. »Rauchen Sie erst mal eine Zigarette.«

Golodkin riß eine Packung Winston auf und bot sie dem Chefinspektor an.

»Danke, ich rauche lieber russische Zigaretten«, lehnte Arkadi freundlich ab.

»Sie werden lachen, wenn sich rausstellt, wie sehr Sie sich getäuscht haben«, meinte der Georgier hoffnungsvoll.

Pascha kam mit einem Stapel Unterlagen herein.

»Meine Akte?« fragte Golodkin. »Dann werden Sie gleich sehen, daß ich auf Ihrer Seite stehe. Ich arbeite schon lange mit der Miliz zusammen.«

»Was war mit den Schallplatten?« erkundigte Arkadi sich.

»Gut, ich will ganz ehrlich sein. Damit wollte ich mich in Dissidentenkreisen einschmeicheln, um Informationen liefern zu können.«

Arkadi betrachtete seine Fingerspitzen. Pascha zog ein Anklageformular heraus.

»Hören Sie sich nur um«, forderte der Georgier Arkadi auf. »Jeder kann Ihnen bestätigen, daß ich … «

»Bürger Feodor Golodkin aus Serafimow zwei, Stadt und Region Moskau«, las Pascha vor, »Sie sollen Frauen daran gehindert haben, an staatlichen und sozialen Aktivitäten teilzunehmen, und Minderjährige zu Straftaten angestiftet haben.«

Eine hübsche Umschreibung für die Anwerbung von Prostituierten; darauf standen vier Jahre Haft. Golodkin strich sich die Haare aus der Stirn, um den Kriminalbeamten besser anstarren zu können. »Lächerlich!«

»Augenblick.« Arkadi hob abwehrend die Hand.

»Sie sollen«, fuhr Pascha fort, »illegale Provisionen für den Wiederverkauf von Privatautos kassiert, Wohnungssuchende durch überhöhte Vermittlungsgebühren geschädigt und einen florierenden Schwarzhandel mit Ikonen aufgezogen haben.«

»Das lässt sich alles ganz leicht erklären«, versicherte Golodkin dem Chefinspektor.

»Weiterhin sollen Sie ein parasitäres Leben geführt haben«, fügte Pascha hinzu. Diesmal ruckte der Fisch heftig an der Angel, denn die ursprünglich nur für Zigeuner gedachten Strafbestimmungen waren später auch auf Regimekritiker und Schwarzhändler ausgedehnt worden und bedeuteten eine Verbannung hinter den Ural.

Golodkin bewahrte mühsam die Fassung. »Ich streite alles ab!«

»Bürger Golodkin«, meinte Arkadi, »Sie wissen, welche Strafen auf Behinderung unserer Ermittlungsarbeit stehen. Wie Sie selbst gesagt haben, kennen Sie diese Dienststelle.«

»Ich habe gesagt …« Der Georgier zündete sich eine Winston an und betrachtete dabei den Stapel Unterlagen. Nur Tschutschin konnte ihnen soviel Material gegeben haben. Dieser verdammte Tschutschin! »Ich habe für …« Golodkin sprach nicht weiter, obwohl Arkadi ihm einladend zunickte. Es wäre Selbstmord gewesen, einen anderen Chefinspektor anzuschwärzen. »Was ich … «

»Ja?«

»Was ich getan habe — und ich gestehe damit noch gar nichts —, habe ich im Interesse dieser Dienststelle getan.«

»Lügner!« fuhr Pascha auf. »Ich schlag dir deine verlogene Fresse ein!«

»Nur um mich bei den eigentlichen Schwarzhändlern und antisowjetischen Elementen einzuschmeicheln«, behauptete Golodkin standhaft.

»Durch Morde?« Pascha ballte die Faust.

»Morde?« Golodkin riß die Augen auf.

Pascha warf sich über den Tisch und hätte Golodkin beinahe an der Gurgel zu fassen bekommen. Arkadi riß ihn zurück. Pascha war vor Zorn dunkelrot angelaufen. Manchmal machte es Arkadi wirklich Spaß, mit ihm zusammenzuarbeiten.

»Von Morden weiß ich nichts!« beteuerte Golodkin.

»Warum vernehmen wir ihn überhaupt?« fragte Pascha den Chefinspektor. »Er lügt sowieso nur.«

»Ich habe das Recht, mich zu den Beschuldigungen zu äußern«, stellte Golodkin fest.

»Das stimmt«, erklärte Arkadi Pascha. »Solange er aussagewillig ist und vorgibt, die Wahrheit zu sagen, kannst du nicht behaupten, er behindere unsere Arbeit.« Er schaltete das Tonbandgerät ein. »Bürger Golodkin, wir wollen mit einer aufrichtigen und detaillierten Schilderung Ihrer Verstöße gegen die Frauenrechte beginnen.«

Rein als inoffizielle Dienstleistung habe er angesehenen Persönlichkeiten Frauen zugeführt, die seiner Überzeugung nach volljährig gewesen seien, begann der Georgier. Namen, verlangte Pascha. Wer hatte wo, wann und für wie viel gebumst? Arkadi hörte nur mit halbem Ohr zu, während er die Berichte aus Ust-Kut las, die Golodkin für seine Akte gehalten hatte. Im Vergleich zu den Bagatellen, die der Georgier zu gestehen hatte, lasen sich Jakutskis Berichte wie ein Abenteuerroman.

Als Waise in Irkutsk hatte Konstantin Borodin, der später den Spitznamen »Kostja der Bandit« erhielt, das Tischlerhandwerk erlernt und an der Restaurierung des Klosters Snamjenski mitgearbeitet. Kurz vor Abschluß seiner Ausbildung war er jedoch aus einem staatlichen Internat ausgerissen und mit jakutischen Nomaden zum Polarkreis gezogen, um Polarfüchse zu jagen. Die Miliz war erstmals auf Kostja aufmerksam geworden, als er mit gleichaltrigen Komplizen nach Diebstählen auf den Aldan-Goldfeldern an der Lena gefasst worden war. Als Zwanzigjähriger wurde er bereits wegen Diebstahls von Aeroflot-Flugscheinen, Vandalismus, Verkaufs von Radioteilen an junge Leute, deren »Piratensender« die staatlichen Rundfunksender störten, und Straßenraubs gesucht. Er entkam jedes mal wieder in die sibirische Taiga, in der ihn nicht einmal Jakutskis Hubschrauberstreifen aufspüren konnten. Das einzige neuere Foto von Kostja war eine Zufallsaufnahme, die vor eineinhalb Jahren in der sibirischen Zeitung Krasnoje Snamja veröffentlicht worden war.

»Wenn Sie’s genau wissen wollen«, erklärte Golodkin Pascha, »haben die Mädchen sich gern mit Ausländern eingelassen. Luxushotels, gutes Essen, saubere Betten — das ist schon fast wie eine kleine Reise.«

Das Zeitungsbild war grob gerastert und zeigte etwa 30 nicht näher bezeichnete Männer, die ein nicht näher bezeichnetes Gebäude verließen. Im Hintergrund war ein grobknochiges, verwegen gutaussehendes Gesicht mit einem Kreis gekennzeichnet. Es gab also noch Banditen auf dieser Welt.

Der größte Teil der Sowjetunion bestand aus Sibirien. Die russische Sprache kannte nur zwei mongolische Wörter: Taiga und Tundra, beide erinnerten an endlose Wälder oder baumlose Horizonte. Nicht einmal Hubschrauber konnten Kostja finden? Und dieser Mann sollte im Gorki-Park umgekommen sein?

»Haben Sie von jemand gehört, der in Moskau Gold verkauft?« fragte Arkadi den Georgier.

»Vielleicht sibirisches Gold?«

»Mit Gold handle ich nicht; das ist mir zu gefährlich. Ich kenne das bei der Miliz eingeführte Prämiensystem und weiß genau, daß ihr zwei Prozent des bei Schwarzhändlern sichergestellten Goldes behalten dürft. Nein, das wäre mir zu riskant. Außerdem würde das Gold ohnehin nicht aus Sibirien kommen. Es wird von Seeleuten in Indien oder Hongkong gekauft und ins Land geschmuggelt. Moskau ist kein großer Goldumschlagplatz. Wer von Gold oder Diamanten spricht, meint Geschäfte mit Juden oder Armeniern in Odessa — alles Leute, mit denen ich mich nie abgeben würde.«

Golodkins Haut, Haar und Kleidung rochen nach amerikanischem Tabak, französischem Herrenparfüm und russischem Schweiß. »Im Grunde genommen tue ich den Leuten nur einen Gefallen. Ich bin Fachmann für Ikonen. Ich fahre hundert, zweihundert Kilometer von Moskau entfernt auf die Dörfer, lasse mir sagen, wo die alten Männer sich treffen, und kreuze dort mit einer Flasche Wodka auf. Sie müssen sich vorstellen, daß diese Männer von ihren Pensionen zu leben versuchen. Entschuldigen Sie, aber die Pensionen sind ein Witz! Ich tue ihnen einen Gefallen, wenn ich ihnen zwanzig Rubel für eine Ikone gebe, die seit fünfzig Jahren nur noch Staub angesetzt hat. Die alten Frauen würden vielleicht lieber verhungern, als sich von ihren Ikonen zu trennen, aber mit den Männern kann man reden. Dann fahre ich nach Moskau zurück und verkaufe die Sachen.«

»Wie?« fragte Arkadi.

»Ein paar Taxifahrer und Intourist-Führer empfehlen mich. Aber ich gehe oft selbst auf die Straße. Ich erkenne potentielle Kunden auf den ersten Blick — vor allem Schweden oder Amerikaner aus Kalifornien. Ich spreche Englisch, das ist meine Stärke. Amerikaner zahlen fast jeden Preis. Fünfzig für eine Ikone, die Sie nicht mal aus dem Rinnstein aufheben und von der Sie nicht wissen würden, ob Sie die Vorder- oder Rückseite vor sich haben. Und tausend für eine große, schöne Ikone. Natürlich Dollar, nicht Rubel. Dollar oder Touristenkupons, die kaum schlechter sind. Wie viel zahlen Sie für eine Flasche wirklich erstklassigen Wodka? Dreizehn Rubel? Mit Touristenkupons bekomme ich die gleiche Flasche für drei Rubel. Nehmen wir einmal an, ich möchte, daß mir jemand meinen Fernseher repariert, einen Kotflügel ausbeult oder sonst einen Gefallen tut. Biete ich ihm dann ernstlich Rubel an? Rubel sind was für die Dummen. Wenn ich einem Mechaniker ein paar Flaschen Wodka schenke, habe ich einen Freund fürs Leben gewonnen. Rubel sind Papier, verstehen Sie, und Wodka ist Bargeld.«

»Soll das etwa ein Bestechungsversuch sein?« erkundigte Pascha sich indigniert.

»Nein, nein, ich wollte nur darauf hinweisen, daß die Ausländer, denen ich Ikonen verkaufe, Schmuggler sind, und daß ich durch meine Tätigkeit dazu beigetragen habe, sie zu fassen.«

»Sie verkaufen auch an russische Bürger«, stellte Arkadi fest.

»Nur an Dissidenten!« protestierte Golodkin.

___________

In dem Bericht Jakutskis, des Kriminalbeamten in Ust-Kut, hieß es weiterhin, während der im Jahre 1949 durchgeführten Kampagne gegen jüdische »Kosmopoliten« sei der Rabbi Solomon Dawidow, ein Witwer, aus Minsk nach Irkutsk umgesiedelt worden. Dawidows einziges Kind, Valeria Dawidowa, hatte ihr Kunststudium nach dem Tod ihres Vaters abgebrochen und eine Stelle als Sortiererin im Pelzzentrum Irkutsk angenommen. Dem Bericht lagen zwei Fotos bei. Eines zeigte ein Mädchen mit Pelzmütze, dicker Strickjacke, Wollrock und Filzstiefeln. Sehr jung, sehr fröhlich. Das zweite stammte aus der Zeitung Krasnoje Snamja. Der Bildtext lautete: »Auf der Internationalen Rauchwarenmesse hält die hübsche Sortiererin Dawidowa das 1000 Rubel teure Fell eines Barguschinski-Zobels hoch, damit Einkäufer es bewundern können.« Sie war trotz ihrer wenig vorteilhaften Arbeitskleidung tatsächlich sehr hübsch, und in der ersten Reihe der den Zobelpelz bewundernden Einkäufer stand Mr. John Osborne.

Arkadi studierte nochmals das Foto mit Kostja Borodin. Er stellte fest, daß die Gruppe aus etwa 20 Russen und Jakuten bestand, die eine kleinere Zahl westlicher und japanischer Geschäftsleute begleitete. Diesmal machte er Osborne auf dem Zeitungsfoto ausfindig.

Unterdessen erläuterte Golodkin ausführlich, wie bestimmte Georgier den Gebrauchtwagenmarkt unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

»Durstig?« fragte Arkadi Pascha.

»Von seinen vielen Lügen«, antwortete Pascha.

Die Fenster waren beschlagen. Golodkin beobachtete die beiden Kriminalbeamten unsicher.

»Komm, wir gehen zum Mittagessen.« Arkadi klemmte sich die Unterlagen und das Tonband unter den Arm, bevor er mit Pascha zur Tür ging.

»Was ist mit mir?« fragte Golodkin.

»Sie wissen doch, daß es keinen Zweck hätte, jetzt zu verschwinden?« sagte Arkadi. »Wo würden Sie sich außerdem verstecken wollen?«

Sie ließen ihn sitzen. Eine halbe Minute später öffnete Arkadi die Bürotür und warf Golodkin eine Flasche Wodka zu. Der Georgier fing sie überrascht auf.

»Konzentrieren Sie sich auf die Morde, Feodor«, riet Arkadi ihm und schloß die Tür, bevor der sichtlich Verwirrte etwas sagen konnte.

Regen hatte die letzten Schneereste aufgetaut. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen Männer vor einem Kiosk nach Bier Schlange — »ein untrügliches Frühlingsanzeichen«, wie Pascha behauptete —, deshalb kauften Arkadi und er sich belegte Brote von einem Karren, bevor sie sich ebenfalls anstellten. Hinter der beschlagenen Fensterscheibe des Vernehmungsraums erkannten sie Golodkin, der sie beobachtete.

»Er wird sich sagen, er sei zu gerissen, um einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, aber dann wird er sich überlegen, daß er sich eigentlich recht gut gehalten hat, so daß ihm eine Belohnung zusteht. Außerdem kannst du dir vorstellen, wie durstig er sein muss, wenn du schon Durst hast.«

»Echt raffiniert!« meinte Pascha bewundernd. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

»Ungefähr so raffiniert, als würde man jemand von einer Klippe stoßen«, wehrte Arkadi ab.

Trotzdem war er innerlich aufgeregt. Der Amerikaner Osborne konnte den sibirischen Banditen und dessen Geliebte gekannt haben. Der Bandit konnte mit gestohlenen Flugscheinen nach Moskau gekommen sein. Bemerkenswert, höchst bemerkenswert!

Pascha kaufte das Bier: zwei volle Glaskrüge für 44 Kopeken. An der Straßenecke um den Kiosk herum herrschte freundschaftliches Gedränge. Männer mit Bierkrügen in der Hand begrüßten einander, als seien sie den Winter über alle unsichtbar gewesen. Bei solchen Gelegenheiten hatte Arkadi das Gefühl, Parasiten wie Golodkin seien tatsächlich seltene Fehlentwicklungen.

Nach der Mittagspause fuhr Pascha ins Außenministerium, um Unterlagen über die Aufenthalte Osbornes und des Deutschen Hofmann zu beschaffen, und ins Handelsministerium, um Außenaufnahmen des Pelzzentrums in Irkutsk zu holen. Arkadi ging allein zu Golodkin zurück.

___________

»Sie wissen bestimmt, daß ich schon selbst bei Vernehmungen mitgemacht habe — sozusagen von Ihrer Seite des Tisches aus«, begann der Georgier. »Ich glaube, daß wir offen miteinander reden können. Ich verspreche Ihnen, so bereitwillig als Zeuge auszusagen, wie ich’s bei anderen getan habe. Und was die Dinge betrifft, von denen wir heute morgen geredet haben … «

»Kleinigkeiten, Feodor«, warf Arkadi ein.

Golodkins Augen leuchteten hoffnungsvoll. Die Wodkaflasche stand halbleer neben seinem Stuhl.

»Die von Gerichten verhängten Strafen erscheinen einem manchmal im Verhältnis zu den Straftaten ungewöhnlich hoch«, fügte der Chefinspektor hinzu. »Vor allem in Fällen wie Ihrem, in denen es um Bürger mit einem gewissen Sonderstatus geht.«

»Ohne ihren Kollegen kommen wir bestimmt besser zurecht«, meinte Golodkin erleichtert.

Der Chefinspektor legte ein neues Tonband auf, bot Golodkin eine Zigarette an und zündete sich selbst eine an.

»Feodor, ich möchte Ihnen einiges erzählen und Ihnen mehrere Aufnahmen zeigen; danach sollen Sie mir einige Fragen beantworten. Vieles wird Ihnen vielleicht unsinnig erscheinen, aber ich muß Sie bitten, Geduld zu haben und sich Ihre Antworten gut zu überlegen. Verstanden?«

»Ja, ja, fragen Sie nur!«

»Danke«, sagte Arkadi, der innerlich noch vor dem Sprung ins Ungewisse zurückschreckte, den er hier wagen musste, weil er bisher nur Vermutungen anstellen konnte. »Feodor, Sie haben zugegeben, daß Sie Ikonen an Touristen — oft an Amerikaner — verkaufen. Wir haben Beweise dafür, daß Sie versucht haben, einem Ausländer namens John Osborne Ikonen zu verkaufen. Sie haben sich letztes Jahr mit ihm in Verbindung gesetzt und Osborne erst vor wenigen Tagen wieder angerufen. Aus dem erhofften Geschäft ist nichts geworden, weil Osborne seinen Bedarf anderswo gedeckt hat. Da Sie selbst Geschäftsmann sind, kann dies nicht der erste geplatzte Abschluß gewesen sein. Deshalb möchte ich von Ihnen hören, warum Sie diesmal so wütend geworden sind.« Golodkin erwiderte seinen Blick ausdruckslos. »Was ist mit den Leichen im Gorki-Park, Feodor? Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie wüssten nichts von ihnen?«

»Leichen?« wiederholte der Georgier verständnislos.

»Kostja Borodin und Valeria Dawidowa — beide aus Sibirien.«

»Nie von ihnen gehört«, stellte Golodkin fest.

»Natürlich nicht unter diesen Namen. Der springende Punkt ist jedenfalls, daß diese beiden Ihnen ein Geschäft vor der Nase weggeschnappt haben, daß es Zeugen für eine Auseinandersetzung zwischen Ihnen und den beiden gibt und daß sie einige Tage später ermordet worden sind.«

»Was soll ich dazu sagen?« Golodkin zuckte mit den Schultern. »Die Sache klingt so unsinnig, wie Sie angekündigt haben. Sie haben Aufnahmen, haben Sie gesagt?«

»Danke, daß Sie mich daran erinnern. Ja, ich kann Ihnen Fotos der Ermordeten zeigen.«

Arkadi legte ihm die Aufnahme mit Borodin und das Pressefoto mit der Dawidowa vor. Golodkin starrte die junge Frau, Osborne, den Banditen, wieder Osborne, Arkadi und erneut die Aufnahmen an.

»Sie sehen selbst, welche Schlussfolgerungen sich mir geradezu aufdrängen, Feodor. Zwei Bürger kommen Tausende von Kilometern weit nach Moskau und halten sich hier sechs bis acht Wochen verborgen — kaum lange genug, um sich Feinde zu machen, wenn man von geschäftlichen Konkurrenten absieht. Dann werden sie von irgendeinem Sadisten, einem gesellschaftlichen Parasiten ermordet. Wie Sie merken, schildere ich einen sehr seltenen Vogel — einen Kapitalisten, könnte man sagen. Oder genauer gesagt: Sie, Feodor! Können Sie sich vorstellen, wie stark der Druck auf einen Ermittlungsbeamten ist, einen derartigen Fall abzuschließen? Ein anderer würde vermutlich nicht lange zögern. Sie sind beim Streit mit den Ermordeten beobachtet worden. Sie sind beim Mord beobachtet worden. Das ist kein großer Unterschied mehr.«

Golodkin starrte Arkadi an. Fisch und Fischer. Der Chefinspektor spürte, daß dies seine einzige Chance war, bevor der Angelhaken ausgespuckt wurde.

»Falls Sie sie ermordet haben, Feodor, werden Sie wegen Mordes aus Habgier zum Tode verurteilt. Falls Sie einen Meineid leisten, kriegen Sie zehn Jahre aufgebrummt. Falls ich den Eindruck habe, daß Sie mich belügen, sorge ich dafür, daß Sie wegen der Kleinigkeiten, von denen wir anfangs gesprochen haben, ins Arbeitslager kommen. Dort können Sie sich auf einiges gefasst machen, Feodor. Die anderen Häftlinge haben etwas gegen Polizeispitzel, vor allem schutzlose Spitzel. Nein, Sie können es sich nicht leisten, in ein Arbeitslager geschickt zu werden, Feodor. Sie wissen so gut wie ich, daß Sie innerhalb eines Monats mit durchschnittener Kehle aufgefunden werden würden.«

Der Georgier schwieg verbissen. Sein angetrunkener Mut verflüchtigte sich.

»Ich bin Ihre einzige Hoffnung, Feodor, Ihre einzige Chance. Erzählen Sie mir, was Sie über Osborne und die Sibirier wissen.«

Golodkin beteuerte nochmals seine Unschuld; dann schlug er die Hände vors Gesicht und packte aus.

»Ich kenne einen Deutschen, einen gewissen Hofmann. Ich hab ihm manchmal Mädchen verschafft. Er hat mir von einem Freund erzählt, der sich für Ikonen interessiere, und mich auf einer Party mit Osborne bekannt gemacht.

Osborne hat in Wirklichkeit gar kein Interesse an Ikonen gehabt. Er wollte einen Betstuhl oder einen Schrein mit religiösen Motiven. Für einen schönen großen Schrein hat er mir zweitausend Dollar versprochen.

Ich hab den ganzen Sommer lang nach was Passendem gesucht und tatsächlich einen Schrein gefunden. Osborne kommt wie vereinbart im Dezember zurück. Ich rufe ihn an, um ihm die freudige Mitteilung zu machen, aber der Kerl legt einfach auf. Ich fahre sofort ins Rossija, sehe Osborne und Hofmann rauskommen und folge ihnen zum Swerdlow-Platz, wo sie sich mit zwei Bauernlümmeln — den Leuten auf Ihren Bildern — treffen. Hofmann und Osborne verschwinden, und ich knöpfe mir die beiden vor.

Da stehen die beiden mitten in Moskau und riechen nach Terpentin! Ich weiß, was gespielt wird, und sage ihnen auf den Kopf zu, daß sie einen Schrein restaurieren, um ihn Osborne zu verkaufen, während ich auf meinem sitzen bleibe. Ich verlange eine Entschädigung für den entgangenen Gewinn und meine Unkosten. Ich verlange fünfzig Prozent ihres Gewinns — sozusagen als Provision.

Der Kerl, dieser sibirische Gorilla, legt mir freundlich einen Arm um die Schultern, und im nächsten Augenblick spüre ich ein Messer an der Kehle! Mitten auf dem Swerdlow-Platz! Er fordert mich auf, Osborne und ihn in Zukunft nicht wieder zu belästigen. Können Sie sich das vorstellen? Das war Mitte Januar — am Neujahrstag nach alter Zeitrechnung. Um uns herum waren die meisten Passanten betrunken, und ich wäre verblutet, ohne daß sich ein Mensch um mich gekümmert hätte. Der Sibirier lachte nur und ging mit seinem Flittchen weiter.«

»Sie haben nicht gewusst, daß die beiden tot sind?« fragte Arkadi.

»Nein!« Golodkin hob den Kopf. »Ich bin ihnen nie wieder in die Quere gekommen. Halten Sie mich für blöd?«

»Aber Sie haben den Mut aufgebracht, Osborne anzurufen, sobald Sie wussten, daß er wieder in Moskau war.«

»Das ist nur ein Versuchsballon gewesen. Ich habe den für ihn beschafften Schrein noch immer. Er ist praktisch unverkäuflich, weil er sich nicht außer Landes bringen lässt. Mein einziger Kunde wäre Osborne gewesen. Ich weiß nicht, was er damit vorgehabt hat.«

»Und gestern haben Sie sich mit Osborne im Gorki-Park getroffen«, behauptete der Chefinspektor.

»Nein, nicht mit Osborne! Ich weiß nicht, wie der Kerl geheißen hat; er hat sich nicht vorgestellt. Irgendein Amerikaner, der behauptet hat, er interessiere sich für Ikonen. Aber in Wirklichkeit wollte er nur einen Spaziergang durch den Park machen.«

»Stimmt das wirklich?« fragte Arkadi zweifelnd.

»Hundertprozentig! Ein dicker alter Kerl, der mir dumme Fragen gestellt hat. Er hat prima Russisch gesprochen, das muß man ihm lassen, aber ich hab natürlich einen Blick für Ausländer. Wir sind durch den Park gegangen und auf einer schlammigen Lichtung stehen geblieben.«

»Im Nordteil des Parks in der Nähe eines Fußwegs?«

»Richtig. Na ja, ich hab geglaubt, er wolle mit mir unter vier Augen wegen eines Mädchens reden, aber er hat statt dessen von einem Austauschstudenten, einem Amerikaner namens Kirwill, angefangen, den ich natürlich nicht gekannt habe. Ich hab ihm erzählt, daß ich sehr viele Leute kenne — nur diesen Kirwill nicht. Daraufhin ist er mit einem Schlag sehr schweigsam geworden.« Golodkin schüttelte den Kopf. »Außerdem hab ich ihm gleich angesehen, daß er keine Ikonen kaufen wollte.«

»Warum?«

»Er war bettelarm. Er hatte lauter russische Sachen an.«

»Hat er diesen Kirwill beschrieben?«

»Mager, hat er gesagt. Rothaarig.«

Arkadi nickte zufrieden. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte Major Pribludas Nummer. »Ich brauche Informationen über einen Amerikaner mit dem Nachnamen Kirwill. K-i-r-w-i-l-l.«

Pribluda ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Das klingt eher nach einem Fall für mich«, stellte er schließlich fest.

»Allerdings!« stimmte der Chefinspektor zu.

»Nein, Sie sollen das Zeug haben«, entschied Pribluda zu Arkadis Überraschung. »Schicken Sie mir Fet, dann gebe ich ihm, was wir haben.«

Arkadi erreichte Fet im Ukraina und spielte dann eine Stunde lang mit Streichhölzern auf einem Blatt Papier, während Golodkin langsam seine Flasche leerte.

Tschutschin kam in den Vernehmungsraum und riß die Augen auf, als er seinen Informanten dort mit einem anderen Ermittlungsbeamten sitzen sah. Arkadi forderte ihn barsch auf, sich bei Jamskoi zu beschweren, falls ihm etwas nicht passe, und Tschutschin ergriff die Flucht. Golodkin war sichtlich beeindruckt. Dann kam Fet mit einer Aktentasche und dem Gesichtsausdruck eines gegen seinen Willen eingeladenen Gastes.

»Darf man erfahren, worum es hier geht, Chefinspektor?« Er rückte unbehaglich seine Nickelbrille zurecht.

»Später. Geben Sie mir die Unterlagen.«

Arkadi sah, daß Golodkin diese Zurechtweisung des Kriminalbeamten gefiel. Er war dabei, sich umzuorientieren und in eine neue Loyalität hineinzufinden. Arkadi blätterte in den fotokopierten Unterlagen. Pribluda hatte überraschend viel Material herausgerückt.

Im ersten der beiden Dossiers stand:

US-Reisepass. Name: James Mayo Kirwill. Geburtsdatum: 4. 8. 1952. Größe: 1,73 m. Ehefrau: keine. Kinder: keine. Geburtsort: New York, USA. Augen: braun. Haarfarbe: rot. Ausstellungstag: 7. 5. 1974.

Das schwarzweiße Passfoto zeigte einen jungen, unterernährt wirkenden Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen, gewelltem Haar, langer Nase und verkniffenem Lächeln. Die Unterschrift war klein und pedantisch.

Aufenthaltsvisum. James Mayo Kirwill. Sonstige Angaben: siehe oben. Beruf: Sprachstudent. Zweck des Aufenthalts: Studium an der Moskauer Staatsuniversität. Angehörige: keine. Frühere Besuche in der UdSSR: keine. Verwandte in der UdSSR: keine. Heimatanschrift: 109 West 78 St., New York, USA.

Rechts oben auf dem Visum klebte das gleiche Schwarzweißfoto wie in Kirwills Pass. Die Unterschriften waren beinahe identisch — auffallend sauber, wie gestochen.

Verwaltung der Moskauer Staatsuniversität. Einschreibung für Slawistikstudium im September 1974.

Gleichmäßig gute Noten. Eine ausgezeichnete Beurteilung durch einen Tutor, aber …

Komsomol-Bericht. J. M. Kirwill bemüht sich zu sehr um Kontakte zu sowjetischen Studenten, zeigt zuviel Interesse an sowjetischer Innenpolitik, äußert antisowjetische Ansichten. Von der Komsomol-Zelle seines Wohnheims zur Rede gestellt, äußert Kirwill auch antiamerikanische Ansichten. Eine heimliche Durchsuchung seines Zimmers fördert Schriften des Thomas von Aquin und eine Bibel in kyrillischer Sprache zutage.

Komitee für Staatssicherheit. Kirwill wurde im ersten Jahr von Mitstudenten observiert und als für eine Anwerbung ungeeignet eingestuft. Annäherungsversuche durch eine junge Dozentin und einen Kommilitonen blieben ergebnislos. Das Gesamturteil war daher negativ. Unerwünschte Kontakte zu Kirwill haben gehabt: die Sprachstudenten T. Bondarow und S. Kogan sowie die Jurastudentin I. Asanowa.

Gesundheitsministerium, Poliklinik der Staatsuniversität Moskau. Der Student J. Kirwill wurde wegen folgender Erkrankungen behandelt: Verdauungsstörungen in den ersten vier Monaten; Grippe; Zahnentzündung (Zahn gezogen und durch Stahlkrone ersetzt).

Auf dem beiliegenden Zahnschema war der gleiche Zahn wie bei dem Toten im Gorki-Park angekreuzt. Von einer Wurzelbehandlung war nirgends die Rede.

Innenministerium. J. M. Kirwill ist am 12. 3. 1976 ausgereist. Wegen seiner für Gäste der UdSSR unangebrachten Einstellung sollte ihm keine weitere Einreise mehr genehmigt werden.

Dieser verdächtig asketische Student hatte offenbar keine Schwierigkeiten mit dem geschwächten linken Bein gehabt, das Lewin bei Rotkopf entdeckt hatte, war anscheinend von keinem amerikanischen Zahnarzt behandelt worden und schien nie in die Sowjetunion zurückgekommen zu sein. Andererseits hatte er das richtige Alter und den richtigen Körperbau sowie eine Stahlkrone und rotes Haar — und kannte Irina Asanowa.

Arkadi zeigte Golodkin das Passfoto. »Kennen Sie diesen jungen Mann?«

»Nein.«

»Er kann braunes oder rotes Haar gehabt haben. In Moskau laufen nicht viele rothaarige schmächtige Amerikaner herum, Feodor.«

»Tut mir leid, ich kenne ihn nicht.«

»Wie steht’s mit diesen Studenten? Bondarow? Kogan?« Der Chefinspektor fragte nicht nach Irina Asanowa. Fet hörte schon interessiert genug zu.

Als Golodkin den Kopf schüttelte, schlug Arkadi das zweite Dossier auf.

US-Reisepass. Name: William Patrick Kirwill. Geburtsdatum: 23. 5. 1930. Größe: 1,80 m. Ehefrau: keine. Kinder: keine. Geburtsort: New York, USA. Augen: blau. Haarfarbe: grau. Ausstellungstag: 23. 2. 1977.

Das Passfoto zeigte einen Mann mittleren Alters mit lockigem grauen Haar und offenbar dunkelblauen Augen. Er hatte eine kurze Nase und ein energisches Kinn. Kein Lächeln. Unter Jacke und Hemd verbargen sich anscheinend breite Schultern und ein muskulöser Oberkörper. Seine Unterschrift wirkte kraftvoll und beherrscht.

Touristenvisum. William Patrick Kirwill. Sonstige Angaben: siehe oben. Beruf: Werbefachmann. Zweck des Aufenthalts: Tourismus. Mitreisende Angehörige: keine. Frühere Besuche in der UdSSR: keine. Verwandte in der UdSSR: keine. Heimatanschrift: 220 Barrow St., New York, USA.

Die gleiche Unterschrift, das gleiche Passfoto.

Einreise in die UdSSR: 18. 4. 1977. Ausreise: 30. 4. 1977. An- und Abreise mit Pan American Airways. Aufenthalt im Hotel Metropol.

Arkadi hielt William Patrick Kirwills Passfoto hoch.

»Erkennen Sie diesen Mann?«

»Das ist er! Das ist der Kerl, der mich gestern in den Gorki-Park bestellt hat!«

»Aber Sie haben von einem ›dicken alten Kerl‹ gesprochen«, protestierte der Chefinspektor.

»Na ja, er war eben groß und kräftig.«

»Und wie ist er gekleidet gewesen?«

»Er hat lauter neue russische Sachen angehabt. Da er fließend Russisch spricht, kann er sie sich selbst gekauft haben — aber welcher Amerikaner sollte das wollen?«

Arkadi betrachtete das Foto erneut. Er hatte keine Vorstellung von amerikanischen Werbefachleuten; er sah ein Gesicht, aus dem brutale Kraft sprach, und einen Mann, der Golodkin geradewegs auf die Lichtung geführt hatte, auf der die Ermordeten entdeckt worden waren und auf der Arkadi im Kampf gegen einen Unbekannten unterlegen war. Der Chefinspektor erinnerte sich daran, seinen Gegner ins Ohr gebissen zu haben. »Haben Sie seine Ohren gesehen?«

Golodkin schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, daß es Unterschiede zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ohren gibt.«

Arkadi rief bei Intourist an und erfuhr, daß W. P. Kirwill am fraglichen Abend eine Karte fürs Bolschoi-Theater gehabt hatte. Er fragte, wie Kirwills Intourist-Führer zu erreichen sei, und hörte, daß der Amerikaner ein Einzelreisender sei. Intourist-Führer gab es erst für Reisegruppen ab zehn Personen.

Als der Chefinspektor auflegte und sich mit einem Blick zu Fet hinüber vergewisserte, daß der KGB-Spitzel alles mitbekommen hatte, kam Pascha aus dem Außenministerium zurück. »Wir haben jetzt einen Zeugen, der eine direkte Verbindung zwischen zwei möglichen Mordopfern und einem verdächtigen Ausländer herstellt«, sagte Arkadi nachdrücklich, damit Fet auch alles mitbekam, was er Pribluda berichten sollte. »In gewisser Beziehung hängt der Fall doch mit dem Ikonenschwarzhandel zusammen. Im allgemeinen nehmen wir keine ausländischen Verdächtigen in Haft. Darüber muß ich erst mit dem Staatsanwalt sprechen. Unser Zeuge kann vielleicht sogar eine indirekte Verbindung zu dem dritten Ermordeten herstellen. Die Mosaiksteine passen allmählich zusammen. Unser Feodor hier ist des Rätsels Lösung.«

»Ich hab Ihnen gleich gesagt, daß ich auf Ihrer Seite stehe«, erklärte Golodkin Pascha.

»Welchen ausländischen Verdächtigen meinen Sie?« erkundigte Fet sich.

»Den Deutschen«, antwortete Golodkin eifrig. »Hofmann.«

Arkadi schickte Fet mitsamt seiner Aktentasche weg. Das war nicht schwierig, denn Pribludas Vögelchen hatte endlich ein Lied zu singen.

»Stimmt das mit diesem Hofmann?« wollte Pascha wissen.

»Es kommt der Wahrheit ziemlich nahe«, sagte der Chefinspektor. »Laß sehen, was du mitgebracht hast.«

Der Kriminalbeamte hatte sich im Außenministerium die Ein- und Ausreisedaten Osbornes und Hofmanns in den vergangenen 16 Monaten geben lassen. Beide Männer waren ungewöhnlich oft in der Sowjetunion gewesen:

J.D. Osborne, USA, Präsident der Osborne Pelz, Inc. Einreise: New York-Leningrad 2. 1. 1976 (Hotel Astoria); Moskau 10. 1. 1976 (Hotel Rossija); Irkutsk 15. 1. 1976 (Gast des Pelzzentrums Irkutsk); Moskau 20. 1. 1976 (Hotel Rossija)

Ausreise: Moskau-New York 28. 1. 1976

Einreise: New York-Moskau 11. 7. 1976 (Hotel Astoria)

Ausreise: Moskau-New York 22. 7. 1976

Einreise: Paris-Grodno-Leningrad 2. 1. 1977 (Hotel Astoria); Moskau in 1977 (Hotel Rossija)

Interessant! Grodno war ein Eisenbahnknotenpunkt an der russischpolnischen Grenze. Anstatt zu fliegen, hatte Osborne die ganze Strecke nach Leningrad mit dem Zug zurückgelegt.

Ausreise: Moskau-Leningrad-Helsinki 2. 2. 1977

Einreise: New York-Moskau 3. 4. 1977 (Hotel Rossija)

Voraussichtl. Ausreise: Moskau-Leningrad 30. 4. 1977

H. Hofmann, DDR, SED-Mitglied

Einreise: Berlin-Moskau 5. 1. 1976

Ausreise: Moskau-Berlin 27. 6. 1976

Einreise: Berlin-Moskau 4. 7. 1976

Ausreise: Moskau-Berlin 3. 8. 1976

Einreise: Berlin-Leningrad 20. 12. 1976

Ausreise: Leningrad-Berlin 3. 2. 1977

Einreise: Berlin-Moskau 5. 3. 1977

Über Hofmanns Reisen in der Sowjetunion lagen keine Informationen vor, aber Arkadi konnte sich ausrechnen, wann Osborne und der Deutsche persönlichen Kontakt gehabt haben konnten: an 13 Tagen im Januar 1976 in Moskau, an elf Tagen im Juli 1976 in Moskau und in diesem Winter vom 2. bis 10. Januar in Leningrad sowie vom 10. Januar bis 1. Februar in Moskau (als die Morde verübt wurden). Am 2. Februar war Osborne nach Helsinki geflogen, während Hofmann nach Leningrad gefahren zu sein schien. Seit 3. April waren sie wieder beide in Moskau. Aber zuletzt hatte Osborne den Deutschen nur von Telefonzellen aus angerufen.

Pascha hatte auch ein Hochglanzfoto des Pelzzentrums in Irkutsk mitgebracht. Es erwies sich als das langweilig moderne Gebäude hinter Kostja Borodin. Alles andere wäre eine Überraschung für Arkadi gewesen.

»Du fährst mit unserem Freund Feodor in seine Wohnung«, wies er Pascha an. »Dort steht ein besonderer Schrein, den du ins Ukraina in Sicherheit bringst. Und die Tonbänder nimmst du auch gleich mit.«

Um Platz für die Tonbandspulen mit Golodkins Geständnis zu schaffen, musste Pascha seine kostbare Ananas in eine andere Tasche stecken.

»Du hättest dir auch eine kaufen sollen«, erklärte er Arkadi.

»Das wäre Verschwendung gewesen.«

Als die beiden gegangen waren, zog Arkadi seinen Mantel an, ging über die Straße und trank einen Wodka. Er bedauerte, Pascha nicht begleitet und zur Feier des Tages eingeladen zu haben. »Auf unser Wohl!« Immerhin hatten sie bewiesen, daß sie ihre Arbeit verstanden. Er erinnerte sich an die Ananas. Pascha hatte offenbar eine Eroberung vor. Arkadi ertappte sich dabei, daß er den Münzfernsprecher an der Wand anstarrte. Er hatte zufällig ein Zweikopekenstück in der Hand.

Er fragte sich, wo Sonja sein mochte. Was war, wenn sie Schmidt verlassen hatte und in die Wohnung zurückgekehrt war? Arkadi war seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Er durfte sich nicht vor Sonja verstecken; sie mussten zumindest miteinander reden. Er verfluchte sich wegen seiner Schwäche und wählte. Sein Anschluß war besetzt; folglich musste Sonja in der Wohnung sein.

Die U-Bahn war voller Werktätiger, die nach Hause fuhren. Arkadi fühlte sich als einer von ihnen. Er hatte melodramatische Phantasien. Sonja war reuevoll, und er war großmütig. Sie war wütend, aber er war tolerant. Sie war zufällig in der Wohnung, und er überredete sie zum Bleiben. Alle Variationen endeten damit, daß er mit ihr ins Bett ging.

Arkadi lief über den Hof, nahm je zwei Treppenstufen auf einmal und klopfte an die Wohnungstür.

Dahinter klang es leer. Er sperrte auf und trat über die Schwelle.

Sonja war zurückgekommen, das stand fest. Aus der Wohnung waren Tische und Stühle, Teppiche und Vorhänge, Bücher und Regale, Schallplatten und Stereoanlage, Porzellan, Gläser und Bestecke verschwunden. Im ersten der beiden Räume hatte sie lediglich den Kühlschrank zurückgelassen, der nicht einmal mehr die Eiswürfelschalen enthielt. Im zweiten Zimmer stand noch das Bett, so daß es als Schlafzimmer bezeichnet werden konnte. Arkadi erinnerte sich daran, wie mühsam es gewesen war, das Bett in den Raum zu schaffen. Sonja hatte nur das Bettlaken und die Decke zurückgelassen.

Der Hörer lag neben dem Telefon — deshalb hatte Arkadi angenommen, sie sei zu Hause. Er legte ihn auf und setzte sich auf die Bettkante.

Das Telefon klingelte. Sonja! dachte er. »Ja.«

»Ist dort Chefinspektor Renko?«

»Ja.«

»In einer Wohnung in Serafimow zwei hat’s eine Schießerei gegeben. Ein gewisser Golodkin und der Kriminalbeamte Pawlowitsch sind tot.«

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Ein Milizionär führte den Chefinspektor die Treppe in den ersten Stock hinauf, an neugierigen Gesichtern hinter spaltbreit geöffneten Wohnungstüren vorbei und in Golodkins Wohnung: Zweieinhalb Zimmer, in der sich Kartons mit Scotch, Zigaretten, Schallplatten und Konservendosen auf dem unter mehreren Lagen Orientteppichen verschwindenden Fußboden türmten. Lewin war da und bohrte mit einer Art Pinzette in Golodkins Schädel herum. Pascha Pawlowitsch lag auf den Teppichen. Sein dunkler Mantel war auf dem Rücken nass, aber nicht zu nass; er musste sofort tot gewesen sein. Neben beiden Männern lag je eine Pistole.

Ein Inspektor der örtlichen Miliz, den Arkadi nicht kannte, meldete sich mit den ersten Ermittlungsergebnissen.

»Golodkin muß Pawlowitsch in den Rücken geschossen haben«, berichtete er, »und unser Kollege hat ihn dann offenbar erschossen, bevor er selbst zusammengebrochen ist. Die Nachbarn haben keine Schüsse gehört. Die Kugeln scheinen zu Pawlowitschs PM, seiner Dienstwaffe, und Golodkins TK zu passen, obwohl sie natürlich noch ballistisch untersucht werden müssen.«

»Haben die Nachbarn jemand gesehen, der die Wohnung verlassen hat?« erkundigte Arkadi sich.

»Niemand hat die Wohnung verlassen. Die beiden haben sich gegenseitig erschossen.«

Arkadi sah zu Lewin hinüber, der seinem Blick auswich.

»Pawlowitsch hat den anderen Mann nach einer Vernehmung hergebracht«, stellte Arkadi fest. »Haben Sie den Kollegen durchsucht? Haben Sie in seinen Taschen Tonbandspulen gefunden?«

»Wir haben ihn durchsucht«, antwortete der Inspektor. »Wir haben keine Tonbandspulen gefunden.«

»Haben Sie irgend etwas aus der Wohnung entfernt?«

»Nein, nichts.«

Arkadi streifte durch Golodkins Wohnung, suchte den mit Ikonen besetzten Schrein, warf ganze Stapel von Parkas und ein Dutzend Skier aus den Kleiderschränken und schnitt Kartons mit französischer Seife auf. Der Inspektor beobachtete ihn wie erstarrt — nicht nur aus Angst, schadenersatzpflichtig gemacht werden zu können, sondern aus Entsetzen über diesen Umgang mit solchen Kostbarkeiten. Als Arkadi schließlich seine Suche aufgab und sich erneut über den toten Kriminalbeamten beugte, wies der Inspektor seine Milizionäre an, mit dem Abtransport der Waren zu beginnen.

Der tödliche Kopfschuß hatte Golodkins Stirn zerschmettert. Pascha lag mit friedlich geschlossenen Augen da. Sein männlichhübsches Tatarengesicht ruhte auf kostbaren Seidenfäden: ein schlummernder Reiter auf einem fliegenden Teppich. Golodkins Schrein war verschwunden, die Tonbänder mit Golodkins Geständnis waren gestohlen worden, Golodkin war tot.

9

Der Silbersee nördlich von Moskau war noch zugefroren; lediglich Jamskois Datscha am Ufer war um diese Zeit bewohnt. Arkadi parkte hinter einem Tschaika, ging zum Hintereingang des Hauses und klopfte an die Tür. Der Staatsanwalt erschien an einem Fenster, gab ihm ein Zeichen, er solle warten, und kam wenige Minuten später wie ein Bojar mit Pelzmantel und -stiefeln aus dem Haus. Er stapfte das Seeufer entlang. »Was fällt Ihnen ein, mich am Wochenende zu stören?« fragte er irritiert.

»Sie haben hier draußen kein Telefon.« Arkadi folgte dem Staatsanwalt.

»Sie haben bloß die Nummer nicht. Warten Sie hier.«

Jamskoi betrat einen etwa 50 Meter vom Haus entfernt stehenden Schuppen und kam mit einem Eimer voll Fischmehlkugeln zurück.

»Mir ist gerade eingefallen, daß Sie als Junge bestimmt oft hier gewesen sind«, sagte Jamskoi.

»Ja, einen Sommer lang.«

»Eine Familie wie Ihre … « Sie gingen dem See zu. »Schade um Ihren Ermittlungsbeamten. Wie hat er gleich wieder geheißen?«

»Pawlowitsch.«

»Sie sitzen natürlich auch in der Tinte, Wenn der Schwarzhändler Golodkin so gefährlich war, hätten Sie mitfahren müssen — dann könnte Pawlowitsch noch leben. Der Generalstaatsanwalt und der Milizdirektor haben den ganzen Vormittag lang angerufen; sie haben meine hiesige Telefonnummer. Keine Angst, ich decke Sie, falls Sie deswegen hergekommen sind.«

»Das ist nicht der Grund meines Besuchs.«

»Nein«, seufzte Jamskoi, »natürlich nicht. Sie sind mit Pawlowitsch befreundet gewesen, nicht wahr? Sie haben viel mit ihm zusammengearbeitet.« Er sah an Arkadi vorbei zu dem silbrig-weißen Himmel auf. »Ein herrliches Fleckchen Erde, Chefinspektor. Sie sollten uns einmal im Sommer besuchen. In den letzten Jahren sind hier ausgezeichnete Läden für die Anwohner eröffnet worden. Wir könnten gemeinsam zum Einkaufen fahren. Bringen Sie auch Ihre Frau mit.«

»Pribluda hat ihn ermorden lassen.«

»Augenblick!«

Jamskoi horchte nach rechts und links. Suschkingänse flogen aus den Silberbirken auf und zogen Kreise über dem See.

»Pribluda hat veranlasst, daß Pawlowitsch und Golodkin beschattet und erschossen worden sind.«

»Weshalb sollte Major Pribluda sich für diesen Fall interessieren?«

»Der Verdächtige ist ein amerikanischer Geschäftsmann. Ich kenne ihn persönlich.«

»Wie haben Sie einen Amerikaner kennen gelernt?« Jamskoi leerte den Eimer am Ufer aus. Man hörte Flügelschlagen und gurrende Laute.

»Sie haben mich zu ihm geführt.« Arkadi sprach laut weiter. »Neulich im Bad. Sie haben selbst zugegeben, daß Sie den Fall genau verfolgt haben.«

»Ich soll Sie zu ihm geführt haben? Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung.« Jamskoi schüttete die restlichen Fischmehlkugeln aus. »Ich halte viel von Ihren Fähigkeiten und bin bereit, Sie in jeder Weise zu unterstützen, aber Sie dürfen nicht annehmen, ich hätte Sie zu irgend jemand ›geführt‹. Ich will nicht mal seinen Namen wissen. Pst!« Er legte einen Finger auf die Lippen und stellte den Eimer ab.

Die Suschkingänse landeten auf dem Eis etwa 30 Meter vom Ufer entfernt. Von dort aus beäugten sie die beiden Männer misstrauisch, bis Jamskoi und Arkadi sich in Richtung Schuppen zurückzogen. Erst dann kamen die tapfersten von ihnen watschelnd ans Ufer.

»Hübsche Vögel, was?« meinte Jamskoi. »Für die hiesige Gegend sehr selten. Sie kommen vor allem in der Umgebung von Murmansk vor. Dort hab ich während des Krieges eine ganze Kolonie aufgezogen.«

Die Gänse sahen sich auch während des Fressens immer wieder misstrauisch um.

»Sie nehmen sich ständig vor Füchsen in acht«, sagte Jamskoi. »Um einen KGB-Offizier verdächtigen zu können, müssen Sie recht handfeste Beweise vorliegen haben.«

»Wir können zwei der im Gorki-Park Ermordeten mit ziemlicher Sicherheit identifizieren. Wir haben ein Tonband gehabt, auf dem Golodkin ausgesagt hat, diese beiden hätten Geschäfte mit dem Amerikaner gemacht.«

»Haben Sie Golodkin noch? Haben Sie wenigstens das Tonband?«

»Es ist in Golodkins Wohnung aus Pawlowitschs Tasche gestohlen worden. Außerdem hat bei Golodkin ein Reliquienschrein mit religiösen Motiven gestanden.«

»Ein Schrein?« wiederholte Jamskoi. »Wo ist er jetzt? Ich habe das Verzeichnis der dort beschlagnahmten Gegenstände gelesen, aber mir ist kein Schrein aufgefallen.« Der Staatsanwalt machte eine Pause. »Ist das alles? Wollen Sie einen KGB-Major verdächtigen, ohne mehr als ein verschwundenes Tonband, einen gestohlenen Schrein und die Aussage eines Toten anführen zu können? Hat Golodkin Major Pribluda jemals namentlich erwähnt?«

»Nein«, gab Arkadi zu.

»Dann verstehe ich nicht, was Sie hier wollen. Ich finde Ihre Erregung begreiflich. Sie trauern um einen guten Kameraden. Sie können Major Pribluda aus persönlichen Gründen nicht ausstehen. Aber dies ist der wildeste und unbegründetste Vorwurf, den ich je gehört habe.«

»Der Amerikaner hat Verbindungen zum KGB.«

»Und? Die haben Sie und ich auch! Das zeigt nur, daß dieser Amerikaner ein gerissener Geschäftsmann ist. Und was ist mit Ihnen? Wollen Sie sich wirklich zum Narren machen? Ich kann nur hoffen, daß Sie Ihre irrationalen Verdächtigungen für sich behalten haben. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, verzichten Sie lieber darauf, sie mir auf dem Dienstweg vorzulegen, sonst … «

»Ich möchte, daß ich die Ermittlungen wegen des Mordes an Pawlowitsch im Rahmen der bereits laufenden Fahndung persönlich führen darf.«

»Lassen Sie mich erst ausreden, Arkadi Wassiljewitsch. Der Amerikaner, den Sie meinen, ist reich, sehr reich, und hat hier viele einflussreiche Freunde — mehr als Sie. Warum sollte er sich auch nur eine Minute lang mit diesen drei Leuten im Gorki-Park abgegeben haben? Wozu hätte er sie ermorden sollen? Tausend Rubel, hunderttausend Rubel sind vielleicht Ihrer Meinung nach viel Geld, aber einem Mann wie ihm bedeuten solche Summen nichts. Ein Erpressungsversuch? Mit seinen Beziehungen könnte er sich aus der peinlichsten Lage herauswinden. Was bleibt also noch übrig? Nichts! Sie wollen zwei der Ermordeten zumindest vorläufig identifiziert haben. Sind sie Russen oder Ausländer?«

»Russen.«

»Sehen Sie, das klingt schon vernünftiger! Russen, keine Ausländer, nichts für Pribluda oder den KGB. Was Pawlowitsch betrifft, haben Golodkin und er sich gegenseitig erschossen — das steht in dem amtlichen Bericht. Ich habe den Eindruck, daß der zuständige Inspektor auch ohne Ihre Unterstützung gute Arbeit leistet. Sein Abschlussbericht geht natürlich an Sie. Aber ich will nicht, daß Sie ihm in seine Arbeit pfuschen. Ich kenne Sie! Zuerst wollten Sie die Ermittlungen unbedingt Major Pribluda übertragen. Jetzt glauben Sie — aus unlogischen und persönlichen Gründen —, daß der Major etwas mit dem Tod Ihres Kollegen zu tun gehabt haben könnte, und wollen die Ermittlungen um keinen Preis mehr abgeben, nicht wahr?

Ich will ganz offen mit Ihnen reden: Jeder andere Staatsanwalt würde Ihnen ab sofort einen Erholungsurlaub verordnen. Ich bin kompromissbereit und lasse Sie die Ermittlungen weiterführen, aber Sie können versichert sein, daß ich mich intensiver um Ihre Arbeitsergebnisse im Fall Gorki-Park kümmern werde. Und vielleicht sollten Sie doch ein, zwei Tage ganz ausspannen.«

»Was ist, wenn ich einfach aussteige?«

»Wenn Sie aussteigen?«

»Genau das tue ich hiermit. Ich höre auf! Suchen Sie sich einen anderen Chefinspektor.«

Arkadi fühlte sich wie ein Mann, der in eine Falle geraten ist und plötzlich einen Ausweg sieht. Eine bestechend einfache Lösung!

»Ich vergesse manchmal, daß Sie einen irrationalen Zug in Ihrem Charakter haben«, fauchte Jamskoi. »Ich habe mich oft gefragt, weshalb Sie Ihre Parteimitgliedschaft so offen gering schätzen. Und ich habe mich schon manchmal gefragt, weshalb Sie sich für diese Laufbahn entschieden haben.«

Arkadi musste lächeln, weil er eine so einfache Lösung gefunden hatte — und weil sie ihm soviel Macht verlieh. Er lächelte weiter, bis auch Jamskoi seine blassen Lippen zu einem breiten Grinsen verzog.

»Gut, was passiert also, wenn Sie aussteigen?« fragte der Staatsanwalt. »Ich könnte Sie vernichten, aber das wäre nicht nötig; Sie würden Ihr Parteibuch verlieren und sich selbst zerstören. Und Ihre Familie. Welche Arbeit gäbe es Ihrer Meinung nach für einen abgehalfterten Chefinspektor? Wenn Sie Glück hätten, kämen Sie als Nachtwächter unter. Ich hätte auch nichts zu lachen, aber ich würde die Sache durchstehen.«

»Ich auch!«

»Reden wir also davon, was aus Ihren Ermittlungen wird, wenn Sie aussteigen«, fuhr Jamskoi fort.

»Ein anderer Chefinspektor muß weitermachen. Nehmen wir einmal an, ich würde Sie durch Tschutschin ersetzen. Stört Sie das nicht?«

Arkadi zuckte mit den Schultern. »Tschutschin versteht nichts von Mordfällen, aber das ist Ihre Sache.«

»Gut, dann sind wir uns also einig. Tschutschin wird Ihr Nachfolger. Ein korrupter Schwachkopf übernimmt Ihre Ermittlungen, und Sie sind damit einverstanden.«

»Die Ermittlungen sind mir gleichgültig! Ich steige aus, weil …«

»Weil Ihr Freund tot ist. Um sein Andenken zu ehren. Das erfordert der Anstand. Pawlowitsch ist ein guter Kriminalbeamter gewesen — ein Mann, der sich notfalls für Sie geopfert hätte, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Arkadi leise.

»Gut, hören Sie auf, machen Sie Ihre Geste«, schlug Jamskoi vor, »obwohl ich Ihrer Meinung bin, daß Tschutschin fachlich sehr viel weniger leistet als Sie. Angesichts seines Mangels an Erfahrung und des Erfolgszwangs, unter dem er in diesem ersten Fall steht, bleibt ihm praktisch nichts anderes übrig, als Golodkin die Morde im Gorki-Park in die Schuhe zu schieben. Da Golodkin tot ist, könnten die Ermittlungen schon in wenigen Tagen abgeschlossen werden …

Sie sehen selbst, wie alles zusammenpasst. Aber wie ich unseren Tschutschin kenne, wird er noch versuchen, der Sache seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Ich traue ihm durchaus zu, daß er den toten Pawlowitsch als Golodkins Komplizen hinstellt. Dann wären die beiden bei einem Streit um die Verteilung der Beute umgekommen. Das würde er tun, um Sie zu kränken, denn durch Ihre Schuld hat er seinen besten Informanten verloren. Ja, das traue ich ihm durchaus zu! Als Staatsanwalt habe ich schon oft als einen faszinierenden Aspekt der menschlichen Natur empfunden, daß der gleiche Fall von verschiedenen Beamten unterschiedlich gelöst werden kann. Wobei die Lösungen durchaus gleichwertig sind. Entschuldigen Sie.«

Damit war Arkadis Rücktrittsangebot zunächst abgewehrt. Der Chefinspektor blieb unschlüssig stehen, während Jamskoi seinen leeren Eimer holte. Die Gänse flogen nicht auf, sondern watschelten nur übers Eis davon, bis sie einige Meter mehr zwischen sich und den Mann gebracht hatten. Jamskoi kam mit dem Eimer in der Hand zu dem Schuppen zurück.

»Warum legen Sie so großen Wert darauf, daß ich den Fall weiterbearbeite?« fragte Arkadi.

»Weil Sie — von Ihren Mätzchen abgesehen — der beste Kriminalbeamte sind, den ich habe. Es ist meine Pflicht, Sie die Ermittlungen weiterführen zu lassen.« Der Staatsanwalt war freundlich.

»Falls dieser Amerikaner die Morde im Gorki-Park … «

»Bringen Sie mir Beweise dafür«, unterbrach Jamskoi ihn, »dann stellen wir den Haftbefehl gemeinsam aus.«

»Falls der Amerikaner der Täter gewesen ist, bleiben mir nur noch neun Tage Zeit. Er reist voraussichtlich am dreißigsten April ab.«

»Vielleicht sind Sie mit Ihren Ermittlungen schon weiter, als Sie wissen.«

»Nur neun Tage … Das ist nicht zu schaffen!«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Chefinspektor. Sie sind sehr begabt, und ich habe weiterhin Vertrauen zu Ihnen und Ihrer Arbeit. Und ich habe mehr Vertrauen zu unserem System als Sie.« Jamskoi öffnete die Tür, um den Eimer in den Schuppen zurückzustellen. »Auch Sie müssen unserem System vertrauen.«

Bevor die Tür ins Schloß fiel, sah Arkadi im Halbdunkel des Schuppens zwei Gänse mit zusammengebundenen Beinen und gebrochenen Hälsen baumeln. Sie sollten dort offenbar abhängen, bis sie bratfertig waren. Suschkingänse waren streng geschützt; Arkadi begriff nicht, warum ein Mann wie Jamskoi es riskierte, sie zu jagen. Er sah wieder zum Seeufer hinüber, wo die Gänse sich um einen möglichst großen Anteil am Futter des Staatsanwalts stritten.

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Arkadi fuhr ins Ukraina zurück und machte sich über eine Flasche Wodka her, bevor ihm der Briefumschlag auffiel, den jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. Er riß ihn auf und las die Mitteilung, daß Pascha und Golodkin jeweils aus Entfernungen von weniger als einem halben Meter erschossen worden seien. Ein schönes Duell: ein Mann von hinten erschossen, der andere mit einem Kopfschuß getötet, die Leichen drei Meter voneinander entfernt. Lewins Unterschrift fehlte, was den Chefinspektor nicht wunderte.

Wer hatte Pascha und Golodkin nach Serafimow zwei verfolgt? Wer hatte an die Wohnungstür geklopft und einen Ausweis vorgezeigt, der Pascha zufriedengestellt und Golodkin beeindruckt hatte? Wahrscheinlich waren es zwei Männer. Ein Mann wäre nicht schnell genug gewesen — und drei Männer hätten selbst den vertrauensseligen Pascha misstrauisch gemacht. Wer hatte dann Pascha von hinten erschossen, seine Dienstwaffe genommen und den vor Angst und Unterwürfigkeit erstarrten Golodkin ermordet? Alles deutete auf Pribluda hin. Osborne war ein KGB-Spitzel. Major Pribluda wollte Osborne decken und dessen Verbindung zum KGB tarnen, aber beides ließ sich nur aus Distanz tun. Sobald Pribluda die Ermittlungen an sich zog, gab der KGB zu, daß ein oder mehrere Ausländer in diesen Fall verwickelt waren. Die betreffende Botschaft — die amerikanische Botschaft — würde sich veranlasst sehen, eigene Nachforschungen anzustellen. Nein, die Ermittlungen mussten vom Chef der Mordkommission bei der Staatsanwaltschaft fortgeführt werden — und erfolglos bleiben.

Arkadi blätterte in Paschas Notizen. Er war sich darüber im klaren, daß er einen anderen sprachkundigen Beamten anfordern musste, der die restlichen deutschen und polnischen Tonbänder und Gesprächsprotokolle überprüfte. Und Fet musste mit den skandinavischen Bändern weitermachen, wenn er nicht gerade zum Rapport bei Pribluda bestellt war. Es gab noch viel zu tun, auch wenn der Chefinspektor selbst nichts tat.

Wer hatte die Tonbänder und Gesprächsprotokolle ursprünglich angefordert? Wer hatte unerschrocken damit gedroht, einen Spitzel des Komitees für Staatssicherheit — noch dazu einen Ausländer! — festnehmen zu wollen? Wer war in Wirklichkeit schuld an Paschas Tod?

Arkadi sah plötzlich rot. Er griff nach einer Schachtel mit Tonbändern und schleuderte sie an die Wand. Ein zweiter, ein dritter Karton folgte. Arkadi griff nach einer Handvoll Spulen und warf sie hoch, so daß die dunkelbraunen Magnetbänder sich wie Luftschlangen abrollten.

Unbeschädigt blieb nur der Karton, der erst an diesem Tag abgeliefert worden war. Er enthielt lauter neue Aufnahmen. Arkadi fand ein Tonband mit Aufzeichnungen aus Osbornes Suite im Hotel Rossija, das erst zwei Tage alt war.

Er würde seine Pflicht tun. Er würde weitermachen.

Das erste aufgezeichnete Gespräch war sehr kurz.

Arkadi hörte ein Klopfen; dann wurde eine Tür geöffnet, und Osborne begrüßte eine Besucherin.

»Oh, hallo.«

» Wo ist Valeria?«

»Augenblick, ich komme gleich. Ich wollte eben einen Spaziergang machen.«

Die Tür fiel ins Schloss.

Arkadi hörte sich die Aufnahme immer wieder an, weil er die Stimme des Mädchens von Mosfilm erkannte.

10

Arkadi traf sich mit Schwan in einer Stehkneipe und gab ihm Fotos von James Kirwill, Kostja Borodin und Valeria Dawidowa. Einige der um diese Zeit schon Betrunkenen starrten sie mit blutunterlaufenen Augen an. Schwans schwarzer Rollkragenpullover ließ seinen Hals und seine Handgelenke noch dünner erscheinen, und Arkadi fragte sich, welche Überlebenschancen Schwan als Spitzel hatte. Wo Arbeiter tranken, traten Milizionäre stets nur zu zweit auf.

»Das ist bestimmt schwierig für Sie«, meinte Schwan.

»Für mich?« Arkadi war überrascht.

»Für einen empfindsamen Menschen wie Sie.«

Arkadi überlegte, ob das ein homosexueller Annäherungsversuch war. »Hör dich nach diesen Leuten um, verstanden?« Er warf einige Geldscheine auf den Tisch und ging.

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Irina Asanowa wohnte im Keller eines noch nicht ganz fertiggestellten Wohnblocks in der Nähe des Hippodroms. Als sie die Treppe heraufkam, sah Arkadi ihre großen dunklen Augen auf sich gerichtet und konnte die schwachblaue Verfärbung auf ihrer rechten Wange betrachten. Die Stelle war klein genug, um sich mit Makeup überdecken zu lassen; unabgedeckt verlieh sie den dunklen Augen der jungen Frau einen bläulichen Schimmer. Ihre abgetragene Jacke flatterte im Wind.

»Wo ist Valeria?« fragte Arkadi.

»Valeria … wer?« Ihre Stimme versagte.

»Sie gehören nicht zu den Leuten, die gestohlene Schlittschuhe der Miliz melden würden«, stellte er fest. »Sie gehören zu denen, die einen weiten Bogen um die Miliz machen. Sie hätten Ihre Schlittschuhe nicht als gestohlen gemeldet, wenn Sie nicht Angst gehabt hätten, sie könnten zu Ihnen zurückverfolgt werden.«

»Was werfen Sie mir vor?«

»Daß Sie gelogen haben. Wem haben Sie Ihre Schlittschuhe geliehen?«

»Hören Sie, ich verpasse meinen Bus.« Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen.

Arkadi griff nach ihrer Hand, die warm und weich war. »Wer ist also diese Valeria?«

»Wie bitte? Wen meinen Sie? Ich weiß nichts — und Sie auch nicht.«

Sie riß sich los.

Auf dem Rückweg kam Arkadi an einer ganzen Reihe junger Frauen vorbei, die an der Bushaltestelle warteten.

Im Vergleich zu Irina Asanowa waren sie mausgrau und unscheinbar.

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Im Ministerium für Außenhandel erzählte Arkadi Jewgeni Mendel eine Geschichte.

»Vor ein paar Jahren hat ein amerikanischer Tourist das Dorf besucht, in dem er geboren war — ein kleines Nest fast zweihundert Kilometer von Moskau entfernt —, und ist dort tot umgefallen. Es war Sommer, und die Dorfbewohner hielten es für besser, ihn in die Kühlanlage zu stecken. Du kennst ja diese Milchkühlanlagen auf Dörfern. Sie haben in Moskau angerufen, und das Außenministerium hat sie angewiesen, nichts zu unternehmen, bis die speziellen Formulare für den Tod von Touristen gekommen seien.

Einige Tage vergehen, ohne daß die Formulare eintreffen. Auch nach einer Woche sind keine gekommen. So was dauert eben seine Zeit. Nach zwei Wochen haben die Dorfbewohner den Touristen in ihrer Kühlanlage satt. Schließlich ist es Sommer, und die ungekühlte Milch wird sauer. Kurz und gut: Eines schönen Abends betrinken sie sich, werfen den Toten auf einen Lastwagen, karren ihn nach Moskau, laden ihn in eurer Eingangshalle ab und fahren heim.

Kannst du dir die Aufregung vorstellen? Um den Toten herum stehen drei Reihen KGB-Offiziere. Ein Attaché der amerikanischen Botschaft wird um drei Uhr morgens aus dem Bett geholt und mit seinem Landsmann konfrontiert. Aber er will nichts mit ihm zu schaffen haben — nicht ohne die richtigen Formulare. Kein Mensch weiß, wo sie zu kriegen sind. Irgend jemand äußert den Verdacht, es gebe vielleicht gar keine, und ruft dadurch fast eine Panik hervor.

Niemand will diesen Amerikaner. Jemand macht den Vorschlag, ihn einfach verschwinden zu lassen. In den Fluß werfen oder im Gorki-Park verscharren. Schließlich werden der Chefpathologe und ich verständigt. Wir haben das richtige Formular mitgebracht und den Touristen in den Kofferraums seines Attaches verladen. Bei dieser Gelegenheit bin ich zum letzten mal in eurem Ministerium gewesen.«

Jewgeni Mendel, der mit Osborne im Badehaus gewesen war und so häufig auf Osborne-Tonbändern vorkam, wusste nichts von James Kirwill oder den Leichen im Gorki-Park. Davon war Arkadi jetzt überzeugt. Während seiner ganzen Geschichte hatte Mendels weiches Gesicht den Ausdruck nicht verändert.

»Was ist denn das richtige Formular für einen amerikanischen Touristen?« erkundigte Mendel sich.

»Ein ganz gewöhnlicher Totenschein.«

Mendel lachte höflich. Trotzdem fühlte er sich in Renkos Gegenwart nicht ganz wohl. Er wusste inzwischen, daß Arkadi als Chefinspektor die Mordkommission leitete, und während ihn ein Chefinspektor, der sich von unten heraufgearbeitet hatte, nicht im geringsten gestört hätte, kannte er Arkadi als Angehörigen der Neuen Klasse, der sowjetischen Elite, und war sich darüber im klaren, daß sein Gegenüber mehr als nur Chefinspektor hätte sein müssen. Mendel, ein eher unterdurchschnittlich begabter Angehöriger dieser Führungsschicht, trug einen englischen Anzug, hatte einen silbernen Kugelschreiber in der Brusttasche seiner Jacke, an deren Aufschlag das Parteiabzeichen leuchtete, saß in einem geräumigen Büro hoch über dem Smolensker-Platz, hatte drei Telefone auf seinem Schreibtisch stehen und die Messingplakette der Sojuspuschnina, der Agentur für Pelzexporte, an der Wand hinter sich hängen. Irgendwas war mit diesem Chefinspektor passiert, und was das bedeuten konnte, trieb Mendel Schweißperlen auf die Stirn.

Arkadi nutzte diese Reaktion aus. Er erwähnte die langjährige Freundschaft ihrer Väter, lobte den Einsatz von Jewgeni Mendels Vater an der Heimatfront und ließ anklingen, der alte Gauner sei in Wirklichkeit ein Feigling gewesen.

»Aber er ist für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden!« protestierte Jewgeni. »Ich kann dir die Zeitungsberichte zeigen; ich schicke sie dir gern einmal zu. Er ist vor Leningrad überfallen worden! Stell dir diesen Zufall vor: Er war mit dem Amerikaner zusammen, den du neulich kennen gelernt hast! Die beiden wurden von mindestens zwanzig Deutschen angegriffen. Mein Vater und Osborne haben drei Faschisten erschossen und die übrigen in die Flucht geschlagen.«

»Osborne? Ein amerikanischer Pelzhändler im belagerten Leningrad?«

»Er ist erst nach dem Krieg ins Pelzgeschäft eingestiegen. Osborne kauft russische Felle auf und importiert sie nach Amerika. Er zahlt hier vierhundert Dollar pro Stück und verkauft sie dort für achthundert Dollar. Das ist Kapitalismus in Reinkultur — eigentlich bewundernswert, nicht wahr? Osborne ist ein Freund der Sowjetunion, das hat er oftmals bewiesen. Ich darf doch aus der Schule plaudern?«

»Selbstverständlich!« Arkadi nickte aufmunternd.

Jewgeni war nicht bösartig; er war nervös. Er wollte, daß der Chefinspektor endlich ging — aber nicht ohne einen guten Eindruck. »Der amerikanische Pelzmarkt wird von internationalen zionistischen Interessen beherrscht«, sagte er halblaut.

»Von Juden, meinst du«, stellte Arkadi fest.

»Vom internationalen Judentum. Ich bedaure, sagen zu müssen, daß es in der Agentur Sojuspuschnina Elemente gegeben hat, die diesen Interessen nahegestanden haben. Mein Vater wollte diese Interessenverbindungen auflösen und räumte bestimmten Nichtzionisten besonders niedrige Preise ein. Aber die Zionisten bekamen Wind von diesem Plan, überfluteten den Pelzmarkt mit ihrem Geld und ersteigerten das gesamte Zobelangebot.«

»Und Osborne hat zu diesen Nichtzionisten gehört?«

»Natürlich. Das ist allerdings schon zehn Jahre her.«

Von Mendels Fenster aus waren dunkle Risse im Eis auf dem Fluß zu sehen. Arkadi zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz in den Papierkorb.

»Wodurch hat Osborne sich als Freund der Sowjetunion erwiesen abgesehen davon, daß er gemeinsam mit deinem Vater heldenhaft vor Leningrad gekämpft hat?«

»Das dürfte ich dir eigentlich nicht erzählen.«

»Unter Freunden gibt’s keine Geheimnisse.«

»Na ja … Vor einigen Jahren ist es zu einem Tauschgeschäft zwischen unserer Organisation und den amerikanischen Nerzfarmern gekommen: zwei amerikanische Nerze gegen zwei russische Zobel. Wundervolle Nerze — die Grundlage einer Neuzüchtung in einem unserer Kollektive. Die Zobel waren allerdings noch schöner, denn russische Zobel sind unerreicht. Sie hatten nur einen kleinen Fehler.«

»Welchen?«

»Das Zuchtpaar war kastriert und sterilisiert. Die Rechtslage ist eindeutig: Es ist verboten, fortpflanzungsfähige Zobel aus der Sowjetunion auszuführen. Wie konnte man von uns erwarten, daß wir gegen unsere eigenen Vorschriften verstoßen würden? Die amerikanischen Nerzfarmer waren sehr aufgebracht. Sie hatten sogar vor, einen Mann in die Sowjetunion zu schicken, der einige Zobel aus einem Kollektiv stehlen und außer Landes schmuggeln sollte. Aber ein guter Freund hat uns einen Tipp gegeben, so daß wir den Plan seiner Landsleute vereiteln konnten.«

»Osborne.«

»Ganz recht. Wir haben unsere Dankbarkeit dadurch bewiesen, daß wir den Zionisten erklärt haben, von nun an sei ein bestimmter Teil des russischen Zobelmarkts für Osborne reserviert. Für geleistete Dienste.«

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»Das Flugzeug hat Verspätung.«

»Verspätung?«

»Trotzdem ist alles in Ordnung. Du machst dir unnütze Sorgen.«

»Du etwa nie?«

»Immer mit der Ruhe, Hans.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Ob’s dir passt oder nicht, spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Die neuen Tupolews sind als unzuverlässig bekannt.«

»Ein Absturz? Du glaubst immer, daß nur die Deutschen gute Ingenieure sind.«

»Schon eine Verspätung ist riskant. In Leningrad…«

»Ich bin schon früher in Leningrad gewesen. Ich bin dort mit Deutschen zusammengekommen. Keine Angst, alles klappt wie vorgesehen.«

Arkadi warf einen Blick auf die Tonbandspule und überzeugte sich davon, daß dieses Gespräch am 2. Februar aufgezeichnet worden war. Osborne hatte mit Hofmann gesprochen, bevor er selbst aus Moskau nach Helsinki abgereist war. Arkadi erinnerte sich daran, daß Hofmann am gleichen Tag nach Leningrad gereist war — offenbar aber nicht mit dem gleichen Flugzeug.

»Ich bin schon früher in Leningrad gewesen. Ich bin dort mit Deutschen zusammengekommen. Keine Angst, es klappt wie vorgesehen.«

Wie hat Osborne die drei Deutschen vor Leningrad umgebracht? fragte der Chefinspektor sich.

Als Arkadi die neuen Osborne-Tonbänder abhörte, erkannte er Jewgeni Mendels Stimme.

»John, gibst du uns die Ehre, am Vorabend des Ersten Mai als Gast des Ministeriums zu einer Aufführung von ›Schwanensee‹ zu kommen? Es ist wichtig, dort gesehen zu werden. Wir lassen dich unmittelbar nach der Vorstellung zum Flughafen fahren.«

»Das wäre mir eine große Freude, Jewgeni. Ich komme selbstverständlich.«

Der Unterschied zu früheren Aufnahmen war auffällig. Im Winter war Osborne boshaft unterhaltend gewesen; im Frühjahr war der gleiche Mann ein langweiliger Jasager, ein geistloser Geschäftsmann. Arkadi hörte endlos wiederholte monotone Trinksprüche und endlose, immer langweiliger werdende Unterhaltungen. Aber nachdem er stundenlang zugehört hatte, spürte er eine gewisse Wachsamkeit heraus. Osborne versteckte sich hinter den vielen Worten wie ein Mann, der sich hinter Bäumen verbirgt.

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Der Platz der Revolution war früher der Auferstehungsplatz gewesen; das Hotel Metropol hatte früher Grand Hotel geheißen.

Arkadi machte Licht. Bettüberwurf und Vorhänge waren aus dem gleichen roten Baumwollstoff. Das Muster des abgetretenen Orientteppichs auf dem Fußboden war kaum noch zu erkennen. Tisch, Kommode und Kleiderschrank hatten abgestoßene Ecken und Brandflecken von Zigaretten.

»Ist das auch zulässig?« fragte das Zimmermädchen besorgt.

»Natürlich«, sagte Arkadi und machte die Tür vor ihrer Nase zu, um im Zimmer des Touristen William Kirwill allein zu sein. Er sah auf den Platz hinunter, wo Intourist-Busse vom Lenin-Museum bis zum Hoteleingang aufgereiht standen, um Touristen nach Sprachgruppen getrennt ins Ballett oder in die Oper zu bringen. Wie Intourist mitteilte, hatte Kirwill einen Abend in einem typischen russischen Restaurant gebucht. Arkadi warf einen Blick ins Bad, das modern ausgestattet war, weil Westbesucher in dieser Beziehung keine Zugeständnisse machten. Arkadi nahm die Handtücher mit ins Zimmer, wickelte sie ums Telefon und deckte die beiden Kopfkissen darüber.

Die Kommode enthielt amerikanische Unterwäsche, Strümpfe, Pullover und Hemden, aber keine der russischen Kleidungsstücke, die Golodkin beschrieben hatte.

Auch unter dem Bett waren keine Kleidungsstücke versteckt. Im Schrank stand William Kirwills amerikanischer Leichtmetallkoffer. Arkadi legte ihn aufs Bett und versuchte, das Schloß mit seinem Taschenmesser zu knacken. Als es endlich aufsprang, machte er sich an die Durchsuchung.

Er fand vier kleine Bücher — Abriß der russischen Kunstgeschichte, Reiseführer Sowjetunion, Führer durch die Tretjakow-Galerie und Nagels Moskau und Umgebung —, die durch ein kräftiges Gummiband zusammengehalten wurden. Daneben lag eine Ausgabe von Schulthess’ Sowjetunion. Zwei Stangen Camel. Eine Minolta Xdj mit Handgriff; ein 200mm-Teleobjektiv, Filter und zehn ungeöffnete Filmpackungen. Reisechecks für 1800 Dollar. Drei Rollen Toilettenpapier. Ein Metallrohr mit einem ausdrehbaren rasierklingenscharfen Spezialmesser. Zusammengerollte getragene Socken. Ein durch starke Gummibänder zusammengehaltenes Etui mit goldenem Drehbleistift und Füllfederhalter. Ein Block Millimeterpapier. Ein Plastikbeutel mit Büchsenöffner, Flaschenöffner, Korkenzieher und einem schmalen, flachen Metallstück, am einen Ende rechtwinklig gebogen und am anderen U-förmig geöffnet, mit einer Schraube versehen. Ein Heft mit Intourist-Essensgutscheinen. Keine russischen Kleidungsstücke.

Arkadi durchsuchte den Kleiderschrank, in dem ebenfalls nur amerikanische Sachen hingen, bevor er sich wieder mit dem demolierten Koffer befasste. Er streifte das Gummiband von den Reiseführern und blätterte sie durch. Dann griff er nach dem gewichtigen Bildband von Schulthess, der als Reiselektüre eigentlich zu schwer war. In der Mitte steckte zwischen einer doppelseitigen Abbildung einer Pferdeschau in Alma Ata ein auf Millimeterpapier gezeichneter Plan im Maßstab 1:1000. Er zeigte Bäume, Fußwege, das Ufer der Moskwa, eine Lichtung und mitten auf der Lichtung drei Gräber, genau wie der Lageplan, den Arkadis Milizionäre gezeichnet hatten. Weiter hinten entdeckte er einen Plan des gesamten Gorki-Parks im Maßstab 1:5000, die durchgepauste Röntgenaufnahme eines komplizierten Schienbeinbruchs, wie ihn die dritte Leiche im Gorki-Park aufgewiesen hatte, und ein Zahnschema, das eine Wurzelbehandlung an einem Schneidezahn, aber keine Backenzahnkrone zeigte.

Jetzt betrachtete Arkadi den Rest des Kofferinhalts mit anderen Augen. Vor allem das Metallrohr mit dem Spezialmesser interessierte ihn, denn was sollte ein Tourist damit in Moskau schneiden wollen? Er drehte die Klinge aus dem Rohr. Das Messer schien unbenutzt zu sein. Arkadi wurde auf einen leichten Pulvergeruch aufmerksam. Er hielt das Metallrohr ans Licht und erkannte, daß er den Lauf einer Pistole in der Hand hielt. Das Rohr war ein Pistolenlauf! Er ärgerte sich, daß er die getarnte Waffe nicht sofort erkannt hatte.

Der Handgriff der Minolta ließ sich abschrauben und wies eine Öffnung auf, in die der Lauf genau hineinpasste. An der linken Seite des Handgriffs war eine Bohrung zu erkennen, deren Zweck Arkadi nicht gleich erfasste. Aber dann öffnete er den Plastikbeutel und fischte das merkwürdige Metallstück heraus, das ihm vorhin aufgefallen war. Die Schraube ließ sich in den Pistolengriff drehen, die Waffe war vollständig. Arkadi betätigte probeweise den Abzug, brachte ihn dann in die Ausgangsposition zurück und streifte eines der starken Gummibänder so über die Waffe, daß es den Schlagbolzen nach vorn schnellen lassen musste, sobald er durch einen Druck auf den Abzug freigegeben wurde.

Die Munition fehlte noch. Passagiergepäck wurde durchleuchtet; wie ließ sich Munition vor jeder Entdeckung sicher durch die Kontrolle bringen? Arkadi öffnete das Etui mit der Schreibgarnitur: Füller und Drehbleistift aus 14karätigem Gold, das für Röntgenstrahlen undurchdringlich war. Die beiden Schreibgeräte waren nur scheinbar funktionsfähig. In ihrem hohlen Inneren steckten Kleinkaliberpatronen — drei in dem Füller und zwei in dem Drehbleistift. Arkadi steckte eine in den Pistolenlauf und schob sie mit dem Füller nach hinten.

Aber der Schuß wäre so zu laut gewesen. Arkadi hatte nur seinen gedämpften Knall gehört, als Kirwill unter der U-Bahn-Brücke auf ihn geschossen hatte. Irgendwo musste ein Schalldämpfer versteckt sein. In einer Filmpackung? Nein, die waren zu kurz. Er riß das amerikanische Toilettenpapier auf. In der zweiten Rolle steckte statt der Pappröhre ein schwarzer Plastikzylinder mit einem Gewinde, das auf das Metallrohr passte.

Insgesamt eine primitive einschüssige Handfeuerwaffe für Entfernungen unter fünf Meter. Arkadi war eben dabei, den Schalldämpfer aufzuschrauben, als die Zimmertür geöffnet wurde. Er zielte mit der Waffe auf William Kirwill.

Der Amerikaner schloß die Tür, indem er sich dagegenlehnte. Er betrachtete den aufgebrochenen Koffer, das abgedeckte Telefon und die Schusswaffe in Arkadis Hand. Nur seine wachen blauen Augen verrieten seine Intelligenz — ansonsten wirkte er eher grob: ein gerötetes, kantig geschnittenes Gesicht, ein stämmiger, muskulöser Körper, große Hände und Füße. Auf den ersten Blick ein Soldat, auf den zweiten ein Offizier. Arkadi wusste, daß dies der Mann war, den er im Gorki-Park gestellt und über die Moskwa verfolgt hatte. Kirwills Regenmantel stand offen und ließ erkennen, daß der Amerikaner darunter eine graue Flanellhose und ein rosa Sporthemd trug.

»Ich bin ein bisschen früher als geplant zurückgekommen«, sagte Kirwill auf Englisch. »Draußen regnet’s wieder, falls Ihnen das entgangen sein sollte.«

Er nahm seinen schmalkrempigen Hut ab, um die Regentropfen abzuschütteln.

»Nein!« Arkadi sprach Russisch. »Werfen Sie mir den Hut her.«

Kirwill zuckte mit den Schultern. Der Hut landete vor Arkadis Füßen. Arkadi tastete mit einer Hand das Schweißband ab.

»Ziehen Sie Ihren Mantel aus und lassen Sie ihn auf den Boden fallen«, wies Arkadi ihn an. »Stülpen Sie Ihre Taschen um.«

Der Amerikaner gehorchte wortlos. Er ließ seinen Regenmantel auf den Fußboden fallen, leerte seine Hosentaschen aus und warf Zimmerschlüssel, Geldbörse und einige Münzen auf den Mantel.

»Schieben Sie ihn mir mit dem Fuß her«, verlangte Arkadi. »Aber langsam!«

»Sie sind ganz allein, was?« fragte Kirwill in akzentfreiem Russisch, während er den Regenmantel vor sich herschob.

Arkadi ließ den Amerikaner auf etwa zweieinhalb Meter herankommen, gab ihm ein Zeichen, er solle stehen bleiben, und zog den Mantel zu sich heran. Kirwills Hemdsärmel waren hochgekrempelt und ließen sommersprossige breite Handgelenke erkennen, deren rote Behaarung allmählich grau wurde.

»Keine Bewegung!« befahl Arkadi ihm.

»Keine Angst, ich laufe nicht weg«, versicherte Kirwill ihm sarkastisch.

Der Reisepaß des Amerikaners steckte in der Manteltasche. In Kirwills Geldbörse fand Arkadi drei Kreditkarten, einen New Yorker Führerschein, einen Kraftfahrzeugschein und einen Zettel mit den Telefonnummern der amerikanischen Botschaft und zweier amerikanischer Nachrichtenagenturen. Außerdem 800 Rubel in bar — eine Menge Geld.

»Wo haben Sie Ihre Geschäftskarten?« erkundigte Arkadi sich.

»Ich reise zum Vergnügen. Mir gefällt’s hier.«

»An die Wand!« wies Arkadi ihn an. »Gesicht zur Wand, Hände hoch, Beine spreizen.«

Kirwill gehorchte langsam, und Arkadi ließ ihn sich gegen die Wand stützen, bevor er ihn nach Waffen abtastete. Der Mann hatte Muskeln wie ein Bär.

Arkadi trat zwei Meter zurück. »Umdrehen und Schuhe ausziehen.«

Kirwill zog seine Schuhe aus, ohne Arkadi und die Pistole aus den Augen zu lassen.

»Soll ich sie Ihnen überreichen oder mit der Post schicken?« fragte der Amerikaner.

Unglaublich! dachte Arkadi. Der Mann wäre tatsächlich bereit, einen sowjetischen Kriminalbeamten in einem Zimmer des Metropol anzufallen.

»Setzen Sie sich.« Arkadi zeigte auf einen Stuhl neben dem Kleiderschrank.

Er merkte, daß Kirwill die Chancen für einen Überraschungsangriff abzuschätzen versuchte.

Kriminalbeamte besaßen Dienstwaffen und sollten regelmäßig auf dem Schießstand üben; Arkadi trug seine Pistole nie und hatte seit seiner Militärzeit nicht mehr geschossen. Sollte er auf den Kopf oder aufs Herz zielen? Ein Kleinkalibertreffer an anderer Stelle würde einen Mann wie Kirwill kaum aufhalten.

Kirwill setzte sich auf den Stuhl. Arkadi kniete nieder und untersuchte die Schuhe, ohne irgendein Geheimversteck zu finden. Kirwill beugte sich leicht nach vorn.

»Ich bin nur neugierig«, wehrte er ab, als die Waffe hochzuckte. »Als Tourist bin ich sozusagen zur Neugier verpflichtet.«

Arkadi warf ihm die Schuhe zu.

»Anziehen und Schnürbänder zusammenknoten!«

Als Kirwill damit fertig war, trat der Chefinspektor seitlich an ihn heran und kippte den Stuhl mit einer raschen Bewegung nach hinten an die Wand. Jetzt fühlte sich Arkadi erstmals in Kirwills Gegenwart einigermaßen sicher.

»Was haben Sie jetzt vor?« fragte der Amerikaner spöttisch. »Wollen Sie die Einrichtung über mir auftürmen, um mich hier festzunageln?«

»Ja, falls das notwendig werden sollte.«

»Das kann leicht passieren.« Kirwill strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das Arkadi schon bei anderen so kräftig gebauten Männern kennen gelernt hatte. Sie alle schienen zu glauben, ihre Kräfte seien unerschöpflich. Aber Arkadi verstand den Haß nicht, der aus dem Blick des Amerikaners sprach.

»Mr. Kirwill, Sie haben gegen die Paragraphen fünfzehn und zweihundertachtzehn verstoßen — Sie haben Waffenteile in die Sowjetunion eingeschmuggelt und eine gefährliche Waffe hergestellt.«

»Sie haben sie hergestellt, nicht ich.«

»Sie sind in russischer Kleidung in Moskau unterwegs gewesen. Sie haben mit einem Mann namens Golodkin gesprochen. Warum?«

»Sagen Sie’s mir doch!«

»Weil James Kirwill tot ist«, stellte Arkadi fest, um den anderen zu schockieren.

»Das wissen Sie natürlich am besten, Renko«, bestätigte Kirwill. »Schließlich haben Sie ihn umgebracht.«

»Ich?«

»Sie sind doch der Kerl, den ich neulich im Park zusammengeschlagen habe, oder? Ein Beamter der Staatsanwaltschaft, stimmt’s? Haben Sie Golodkin und mich nicht beschatten lassen, als wir uns im Park getroffen haben? Von einem kleinen Kerl mit Brille? Ich bin ihm nachgegangen und habe gesehen, wie er in einem KGB-Büro verschwunden ist. Das sagt doch alles!«

»Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Arkadi.

»Ich habe mich in der Botschaft erkundigt. Ich habe mit amerikanischen Korrespondenten gesprochen. Ich habe die letzten Jahrgänge der Prawda durchgeackert. Ich habe mit Leuten auf der Straße geredet. Ich habe Ihr Leichenhaus überwacht. Ich habe die Staatsanwaltschaft beobachtet. Nachdem ich Ihren Namen rausgekriegt hatte, habe ich Ihre Wohnung überwacht. Sie selbst hab ich nie gesehen, aber ich habe beobachtet, wie Ihre Frau und ihr Geliebter die Wohnung ausgeräumt haben. Ich habe vor Ihrem Büro auf der Straße gewartet, als Sie Golodkin heimgeschickt haben.«

Arkadi wollte seinen Ohren nicht trauen. Hatte dieser Verrückte ihn tatsächlich beschattet, Fet zu Pribludas Büro verfolgt und Sonja gesehen? Hatte Kirwill in der Schlange hinter ihnen gestanden, als Pascha und er sich mittags angestellt hatten, um ein Bier vor dem Kiosk an der Ecke zu trinken?

»Weshalb sind Sie gerade jetzt nach Moskau gekommen?«

»Ich musste irgendwann kommen. Der Frühling ist eine gute Zeit — auch für Leichen, die unter dem Eis gelegen haben. Eine gute Zeit für Leichen.«

»Und Sie glauben, daß ich James Kirwill umgebracht habe?«

»Vielleicht nicht persönlich, aber Sie und Ihre Freunde. Dabei spielt’s keine Rolle, wer den Finger am Abzug gehabt hat.«

»Woher wissen Sie, daß er erschossen worden ist?«

»Auf der Lichtung im Park ist tief gegraben worden. Nach Kugeln, stimmt’s? Jedenfalls ersticht man keine drei Leute. Ich wollte, ich hätte Sie im Park erkannt, Renko. Dann hätte ich Sie erledigt.«

Aus Kirwills Stimme war Bedauern und Sarkasmus über diese verpasste Gelegenheit herauszuhören.

Er sprach akzentfreies Russisch, aber die Klangfärbung seiner Stimme blieb typisch amerikanisch.

Arkadi starrte ihn nachdenklich an. Wie hatte er einen Mann wie Kirwill übersehen können?

»Sie sind nach Moskau gekommen, um in Ausländerkreisen Erkundigungen wegen eines Mordes einzuziehen«, stellte Arkadi fest. »Sie haben eine durchgepauste Röntgenaufnahme und ein Zahnschema mitgebracht. Wollten Sie dadurch unsere Ermittlungen unterstützen?«

»Wenn Sie ein richtiger Kriminalbeamter wären … «

»Unseren Unterlagen nach hat James Kirwill die Sowjetunion letztes Jahr verlassen; von einer Wiedereinreise ist offiziell nichts bekannt. Weshalb glauben Sie, hat er sich hier aufgehalten, und warum halten Sie ihn für tot?«

»Sie sind kein richtiger Kriminalbeamter. Ihre Leute treiben sich zu oft beim KGB herum.«

Arkadi machte gar nicht erst den Versuch, dem Amerikaner zu erklären, weshalb er Fet als KGB-Spitzel duldete. »Wie sind Sie mit James Kirwill verwandt?«

»Das möchte ich von Ihnen hören.«

»Mr. Kirwill, ich nehme nur Anweisungen von meinem Vorgesetzten, dem Moskauer Staatsanwalt, entgegen. Ich führe Ermittlungen wegen der Ermordung dreier Personen im Gorki-Park. Sie sind aus New York hierher gekommen und besitzen Informationen, die uns weiterhelfen könnten. Erzählen Sie mir, was Sie wissen.«

»Nein.«

»Sie haben keine Möglichkeit, die Aussage zu verweigern. Sie sind in russischer Kleidung gesehen worden. Sie haben eine Schusswaffe eingeschmuggelt, mit der Sie bereits auf mich geschossen haben. Sie weigern sich, meine Ermittlungen zu unterstützen, was an sich schon strafbar ist. Sie sind verpflichtet, uns alle einschlägigen Informationen mitzuteilen.«

»Sehen Sie hier irgendwo russische Kleidungsstücke, Renko? Seit wann ist es übrigens verboten, sich wie Sie anzuziehen? Die angebliche Schusswaffe, die Sie mir unter die Nase halten, sehe ich heute zum erstenmal. Sie haben meinen Koffer aufgebrochen — woher soll ich wissen, was Sie alles reingetan haben? Und welche Informationen meinen Sie?«

Arkadi brauchte einige Sekunden, um sich von seiner Verblüffung über diese Unverfrorenheit zu erholen.

»Ihre Aussagen über James Kirwill …« begann er.

»Welche Aussagen? Das Abhörmikrofon steckt im Telefon, das Sie klugerweise zugedeckt haben. Sie hätten ein paar Freunde mitbringen sollen, Renko. Als Kriminalbeamter taugen Sie nicht sonderlich viel.«

»Ihre Zeichnung des Tatorts im Gorki-Park, das durchgepauste Röntgenbild und das Zahnschema werden die Verbindung zu James Kirwill herstellen, falls er einer der Ermordeten gewesen ist.«

»Die Zeichnung und das Zahnschema sind mit einem russischen Bleistift auf russisches Papier gezeichnet«, antwortete Kirwill. »Auch das Röntgenbild ist kein Original, sondern nur eine Pause. An Ihrer Stelle würde ich mir lieber Gedanken darüber machen, was die amerikanische Botschaft zu einem sowjetischen Kriminalbeamten sagen wird, der harmlose amerikanische Touristen überfällt, die ihn dabei erwischen, daß er ihr Gepäck durchsucht.« Kirwill zeigte auf den aufgebrochenen Koffer. »Sie wollten doch wohl nicht etwas mitnehmen?«

»Mr. Kirwill, wenn Sie damit zu Ihrer Botschaft kommen, setzen Ihre Landsleute Sie ins nächste Flugzeug nach Amerika. Sie sind sicher nicht hergekommen, um gleich wieder heim zu fliegen? Und ich nehme an, daß Sie keine Lust haben, für fünfzehn Jahre in einem sowjetischen Umerziehungslager zu verschwinden.«

»Keine Angst, ich komme schon zurecht.«

»Wie kommt es, daß Sie so hervorragend Russisch können, Mr. Kirwill? Wo habe ich Ihren Namen schon einmal gehört, bevor James Kirwill ermordet worden ist? Nachträglich kommt er mir irgendwie bekannt vor.«

»Leben Sie wohl, Renko. Gehen Sie wieder zu Ihren Freunden vom Geheimdienst.«

»Erzählen Sie mir von James Kirwill.«

»Verschwinden Sie!«

Arkadi gab auf. Er warf Kirwills Paß und die Kreditkarten auf den Nachttisch. Die Geldbörse behielt er in der linken Hand.

»Lassen Sie sich nur nicht aufhalten«, riet Kirwill ihm sarkastisch. »Ich mache hier sauber, wenn Sie gegangen sind.«

Die Geldbörse lag schwer in Arkadis Hand und war auch ohne die Kreditkarten auffällig steif. Kirwill rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, als er sah, daß der Chefinspektor sich genauer für die Geldbörse interessierte. Arkadi spürte so etwas wie ein Stück Metall und ließ es in seine Hand gleiten. Es musste zwischen Leder und Futter gesteckt haben, so daß er es vorhin übersehen hatte. Es war eine goldfarbene Plakette mit einem blauen Wappen. Über dem Wappen stand »City of New York«, darunter »Lieutenant«.

»Sie sind Polizeibeamter?«

»Kriminalbeamter«, stellte Kirwill richtig.

»Dann müssen Sie mir helfen«, sagte Arkadi, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt — was es für ihn auch war. »Sie haben gesehen, wie Golodkin mein Büro in Begleitung eines Kriminalbeamten verlassen hat. Dieser zweite Mann war mein Freund Pascha Pawlowitsch — ein Kollege, mit dem ich oft zusammengearbeitet habe, ein sehr guter Mann. Eine Stunde später wurden beide in Golodkins Wohnung erschossen. Golodkin ist mir gleichgültig. Mir geht’s nur um den Mann, der den Kriminalbeamten erschossen hat. In Amerika wäre das bestimmt nicht anders. Als Kriminalbeamter können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man einen Freund … «

»Scheren Sie sich zum Teufel, Renko.«

Arkadi merkte nicht einmal, daß er die primitive Schusswaffe hob. Er zielte zwischen Kirwills Augen und zog langsam den Abzug durch. Erst im letzten Augenblick bewegte er die Pistole eine Kleinigkeit zur Seite. Der Kleiderschrank bebte, und die Tür neben Kirwills Ohr wies ein etwa zwei Zentimeter großes Loch auf. Arkadi war verblüfft. Sein Leben lang war er noch nie so nahe daran gewesen, einen Menschen zu ermorden, und bei der geringen Treffsicherheit der Waffe hätte er Kirwill ebensogut treffen wie verfehlen können. Der Amerikaner war blaß geworden.

»Verschwinden Sie, solange Sie noch können«, sagte Kirwill heiser.

Arkadi warf die Pistole aufs Bett. Er beugte sich gelassen über den Koffer und nahm die Pause des Röntgenbilds und das Zahnschema mit. Auch die Polizeiplakette steckte er ein.

»Ich brauche meine Plakette.« Kirwill stand auf.

»Nicht hier in Moskau«, wehrte Arkadi ab. Er verließ das Hotelzimmer. »Dies ist meine Stadt«, sagte er.

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Im Labor hatte um diese Zeit niemand mehr Dienst. Arkadi verglich die Pause der Röntgenaufnahme und das Zahnschema mit Lewins Unterlagen, während William Kirwill höchstwahrscheinlich unterwegs war, um seine Handfeuerwaffe Stück für Stück irgendwo in der Stadt wegzuwerfen. Als Arkadi in seinem Büro in der Nowokusnezkaja-Straße saß und einen Bericht für Jamskoi tippte, war er sich darüber im klaren, daß Kirwill vermutlich bereits Zuflucht in der amerikanischen Botschaft gefunden hatte. Um so besser, denn das bestätigte nur, daß der dritte Tote im Gorki-Park James Kirwill gewesen war. Arkadi legte seinen Bericht auf den Schreibtisch von Jamskois Stellvertreter, der ihn morgens vorfinden würde.

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Das schrille Klingeln des Telefons riß Arkadi aus dem ersten Schlaf. Der Anrufer war Jakutski, der