Nachtschicht
Stephen King
1978
1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Briefe aus Jerusalem
2. Oktober 1850
6. Oktober 1850
16. Oktober 1850
16. Oktober 1850
17. Oktober 1850
19. Oktober 1850
20. Oktober ’50
20. Oktober 1850
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
22. Oktober 1850
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
24. Oktober 1850
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
26. Oktober 1850
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
4. November 1850
Spätschicht
Nächtliche Brandung
Ich bin das Tor
Der Wäschemangler
Das Schreckgespenst
Graue Masse
Schlachtfeld
Lastwagen
Manchmal kommen sie wieder
Erdbeerfrühling
Der Mauervorsprung
Der Rasenmähermann
Quitters, Inc.
Ich weiß, was du brauchst
Kinder des Mais
Die letzte Sprosse
Der Mann, der Blumen liebte
Einen auf den Weg
Die Frau im Zimmer
Vorwort
Unterhalten wir uns, Sie und ich. Unterhalten wir uns über Angst.
Das Haus ist leer, während ich diese Zeilen schreibe. Draußen fällt ein kalter Februar-Regen. Wenn der Wind aus der Richtung weht, aus der er gerade weht, haben wir manchmal Stromausfall. Aber im Augenblick brennt das Licht noch, also reden wir ganz aufrichtig über Angst. Reden wir darüber, wie man an den Rand des Wahnsinns kommt…und vielleicht auch noch ein Stück darüber hinaus.
Ich heiße Stephen King. Ich bin ein erwachsener Mann mit einer Frau und drei Kindern. Ich liebe sie, und ich glaube, daß dieses Gefühl erwidert wird. Mein Job ist das Bücherschreiben, und dieser Job gefällt mir sehr gut. Zur Zeit bin ich körperlich in einigermaßen gesunder Verfassung. Während des letzten Jahres habe ich geschafft, mir statt des filterlosen Krauts, das ich seit meinem achtzehnten Geburtstag geraucht habe, leichte Filterzigaretten mit niedrigem N ikotin- und Teergehalt anzugewöhnen. Ich hoffe immer noch, daß ich es mir eines Tages ganz abgewöhne. Meine Familie und ich leben in einem hübschen Haus neben einem relativ sauberen See in Maine. Im letzten Herbst wachte ich eines Morgens auf und sah einen Hirsch auf dem Rasen hinter unserem Haus neben dem Gartentisch. Wir führen ein gutes Leben.
Trotzdem…reden wir über Angst. Wir wollen die Stimme dabei nicht heben, und wir werden nicht schreien. Wir unterhalten uns auf einer völlig rationalen Ebene, Sie und ich. Wir reden über die Art, auf die sich das schöne Gefüge der Dinge unserer Welt manchmal mit schockierender Plötzlichkeit auflöst.
Wenn ich abends ins Bett gehe, achte ich noch immer sorgfältig darauf, daß meine Beine schön unter der Decke liegen, sobald ich das Licht ausknipse. Ich bin kein kleiner Junge mehr, aber…ich schlafe nicht gerne mit einem aufgedeckten Bein. Denn wenn eine kalte Hand von unter dem Bett nach meinem Fußgelenk greift, dann würde ich laut kreischen Ja, ich würde schreien, daß die Toten aufwahen. Natürlich passiert so etwas nicht, und wir alle wissen das. In den folgenden Geschichten werden Ihnen alle möglichen Arten von Nachtgeschöpfen begegnen: Vampire, Wiedergänger, das Ding, das im Kleiderschrank haust, jede Art von Horror. Nichts davon ist real. Das Ding, das unter dem Bett darauf lauert, meinen Fuß zu packen, ist nicht real. Ich weiß das, aber ich weiß auch, daß es mich nie erwischen wird, solange ich meinen Fuß gut unter der Decke halte.
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Manchmal spreche ich vor Menschen, die an der Schriftstellerei oder an Literatur interessiert sind, und bevor das »Bitte stellen Sie jetzt dem Autor Ihre Frage« vorbei ist, steht immer jemand auf und stellt die Frage: »Warum haben Sie sich entschieden, über solche grauenvollen Dinge zu schreiben?«
Normalerweise antworte ich darauf mit der Gegenfrage: »Warum nehmen Sie an, ich hätte mir das frei aussuchen können?«
Das Schreiben ist eine Art »Catch-as-catch-can«. Wir alle scheinen bestimmte Sorten Filter im Kopf zu haben, und diese Filter haben ihre unterschiedlichen Größen und Dichten. Was in meinem hängenbleibt, kann bei Ihnen durchrutschen, und umgekehrt. Wir alle scheinen auch ein Bedürfnis eingebaut zu haben, uns das Zeug regelmäßig genauer anzusehen, das sich in unseren Wahrnehmungsfiltern ansammelt. In der Regel beschäftigen wir uns nebenher damit. Der Kassierer ist Hobby-photograph. Der Astronom mag Münzen sammeln. Der Lehrer zeichnet in seiner Freizeit Grabsteine nach. Der Müll aus dem Filter im Kopf, was einem dort hängenbleibt, wird meist unsere private Leidenschaft — unser »Hobby«, wie wir uns in einer zivilisierten Gesellschaft geeinigt haben, die Sache zu nennen.
Manchmal kann dieses Hobby auch zu einer Vollzeitbeschäftigung werden. Der Kassierer stellt vielleicht fest, daß er mit seinen Photos genug Geld verdienen kann, um die Familie durchzubekommen. Und es gibt einige Beschäftigungen, die als Hobby beginnen und Hobbies bleiben, selbst wenn der Hobbyfreund damit längst seinen Lebensunterhalt verdient. Aber weil Hobby so ein gewöhnlich und alltäglich klingendes Wort ist, haben wir uns auch wortlos darauf geeinigt, daß wir unsere professionellen Hobbies »Kunst« nennen.
Malerei, Bildhauerei, Kompösition, Gesang, Schauspielerei. Das Spielen eines Musikinstrumentes. Allein über diese sechs Beschäftigungen sind genug Bücher geschrieben worden, um damit eine ganze Flotte von Luxusdampfern zu versenken. Doch die einzige Sache, in der all diese Werke übereinstimmen, ist: wer immer Kunst praktiziert und es ernst damit meint, wird mit seiner Kunst auch fortfahren, selbst wenn er für seine Anstrengungen von niemandem einen Pfennig bekommt, selbst wenn seine Anstrengungen kritisiert oder abgelehnt werden, ja selbst wenn man ihm seine Kunst bei Todesstrafe verbieten würde. Für mich scheint dies eine recht passende Beschreibung von etwas zu sein, das man obsessives Verhalten nennt. Es gilt genauso für die schüchteren Hobbies. Waffensammler in den Staaten haben Autoaufkleber mit der Aufschrift: Meine Pistole bekommt nur, wer sie mir aus den toten Fingern windet! Falls morgen das Münzensammeln verboten wird, würde unser Astronom mit Sicherheit seine Sammlung nicht abliefern, sondern sie, in Plastik gewickelt, im Wassertank der Toilette versenken, um nach Mitternacht heimlich seine Kupferpfennige auf dem Klo zu genießen.
Wir scheinen uns von unserem Thema Angst entfernt zu haben, aber wir sind nicht weit vom Weg abgekommen. Das Zeug, das sich in meinem Filter ansammelt, ist oft der Stoff, aus dem unsere Ängste gemacht sind. Meine Obsession gilt dem Makabren. Keine der folgenden Geschichten habe ich wegen des Geldes geschrieben, auch wenn ein paar davon vorher an Zeitschriften verkauft wurden, auch wenn ich nie einen Scheck zurückgeschickt habe. Ich mag eine Obsession haben, aber verrückt bin ich nicht. Doch ich wiederhole: keine Geschichte wurde wegen des Honorars geschrieben. Ich schrieb sie alle, weil mir danach war, solche Geschichten zu schreiben. Meine Obsession läßt sich vermarkten. Es gibt Verrückte in den Gummizellen überall auf der Welt, die solches Glück nicht haben.
Ich bin kein großer Künstler, aber ich habe immer einen Drang zum Schreiben gespürt. Also schütte ich jeden Tag meinen Filter aus, sehe mir die Erinnerungsfetzen und Beobachtungsstücke an und versuche, etwas aus dem Zeug zu machen, was nicht direkt durch den Filter hindurch in mein Unterbewußtsein sinken kann.
Louis L’Amour, der Westernautor, und ich könnten zusammen am Rand eines kleinen Teiches in Colorado stehen, und wir könnten beide gleichzeitig die Idee zu einer Geschichte haben. Seine Story würde vom Krieg um Wasserrechte in der Trockenzeit handeln, meine wahrscheinlich von einem furchtbaren, lauernden Etwas, das aus dem stillen Wasser kriecht, um Schafe fortzuschleppen…und Pferde… und schließlich Menschen. Louis L’Amours Obsession ist die Zeit des »Wilden« Westens. Ich tendiere mehr zu den Dingen, die in mondlosen Nächten herumkriechen. Er schreibt Western, ich schreibe Gruselgeschichten. Beide haben wir nicht alle Tassen im Schrank.
Die Künste sind Leidenschaften, und Leidenschaften sind gefährlich. Sie sind wie ein Messer im Kopf. In einigen Fällen — Dylan Thomas fällt mir ein, oder Hart Crane und Sylvia Plath — kann das Messer den treffen, der es selbst führt. Kunst ist eine lokalisierte Krankheit, gewöhnlich gutartig — kreative Menschen werden oft sehr alt —, manchmal aber auch bösartig. Man benutzt das Messer vorsichtig, denn man weiß, es ist ihm gleich, wen es schneidet. Und wenn man klug ist, leert man auch seinen Filter im Kopf vorsichtig aus… denn von dem Zeug darin könnte einiges noch nicht ganz tot sein.
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Die andere Frage, mit der ich bei Lesungen oder Signierstunden häufig konfrontiert werde, lautet: Warum lesen Leute so was? Warum verkaufen sich Ihre Geschichten?
Diese Frage impliziert eine unausgesprochene Vermutung — die Vermutung, daß die Lektüre einer Story der Angst und des Horrors irgendwie von einem ungesunden Geschmack zeugt. In Briefen von Lesern stoße ich oft auf Sätze wie: »Vielleicht bin ich ein wenig morbid, aber ich habe ›Shining‹ von der ersten bis zur letzten Seite genossen…«
Ich glaube, der Schlüssel zu dieser Einstellung läßt sich in einem Satz finden, den ich in einer Filmkritik in »Newsweek« zu einem nicht besonders guten Horror-Film fand. Er lautete ungefähr: »…ein wunderschöner Film für Leute, die Spaß daran finden, wenn sie einen Autounfall bemerken, langsam daran vorbeizufahren und ihn sich genau anzusehen.« Das ist eine gute, treffende Bemerkung, aber wenn man genauer darüber nachdenkt, trifft sie auf alle Horror-Filme und -Geschichten zu. George Romeros »Die Nacht der lebenden Toten« mit seinen grausamen Szenen von Kannibalismus und Muttermord war sicher ebenso ein Film für Leute, die sich gerne die Autounfälle genau ansehen; und wie war das wohl mit diesem kleinen Mädchen, das einen Priester mit Erbsensuppe bespuckte, in »Der Exorzist«? In Bram Stokers »Dracula«, den man oft als Muster des modernen Horror-Romans heranzieht (zu Recht, denn es ist der erste Roman seiner Art mit offenkundigen Freudschen Obertönen), kommt ein Verrückter namens Renfeld vor, der Fliegen herunterschlingt, Spinnen und schließlich einen ganzen Vogel. Er würgt den Vogel wieder aus, nachdem er ihn mit Federn und allem geschluckt hat. Zum Roman gehört auch die Pfählung — die rituelle Penetration, kann man sagen — eines jungen und schönen weiblichen Vampirs und der Mord an einem Baby und seiner Mutter.
Auch die große Literatur des Übernatürlichen weist oft dasselbe »Laß uns den Unfall genauer ansehen«-Syndrom auf: Beowulf erschlägt Grendels Mutter; der Erzähler in »Das verräterische Herz«‘ der seinen kranken Wohltäter umbringt und zerstückelt unter den Dielen versteckt; der grimmige Kampf von Sam, dem Hobbit, mit der Spinne Kankra in Tolkiens »Ring-Trilogie«.
Einige werden hier gegen diese Gedankenführung sehr entschieden einwenden, daß es auch subtilere Geschichten gibt, daß Henry James uns in »Die Tortur« keinen Autounfall zeigt, oder daß Nathaniel Hawthornes makabre Geschichten von wesentlich besserem Geschmack zeugen als »Dracula«. Doch dies ist ein unsinniger Einwand. Auch sie zeigen uns den Autounfall; die Leichen sind bei ihnen fortgeschafft, aber man kann noch immer die zerquetshten Autowracks mit dem Blut auf den Polstern sehen. In mancher Hinsicht ist sogar die klare Eindringlichkeit von Hawthorne, sein bewußtes Weglassen des Melodramatischen und sein gelehrter, vorsichtiger Tonfall der Rationalität noch viel schrecklicher als Lovecrafts Monstrositäten oder Poes Foltern in »Die Grube und das Pendel«.
Tatsache ist einfach — und im Grunde unseres Herzens wissen wir das fast alle —, daß nur sehr wenige an dem Unfall vorbeifahren können, ohne nicht einen schnellen, neugierigen und unbehaglichen Blick auf die Autowracks zu werfen, die da vom flackernden Blaulicht eingerahmt werden. Rentner schlagen die Zeitung erst einmal auf der Seite mit den Todesanzeigen auf, um zu sehen, wen sie überlebt haben. Wir alle sind für einen Augenblick unbehaglich gebannt, wenn wir erfahren, daß eine Janis Joplin gestorben ist, ein John Lennon oder sonst jemand, dessen Tod unerwartet eingetreten ist. Wir verspüren Entsetzen, vermischt mit einer eigenartigen Faszination, wenn wir in der Boulevard-Presse lesen, daß eine Frau auf einem kleinen Landflughafen während eines dichten Regenschauers in einen laufenden Propeller gestolpert ist, oder daß ein Mann von einer Stahlpresse erfaßt und zerquetscht wurde. Es ist nicht notwendig, weiter für diese offenkundige Tatsache zu argumentieren: Das Leben steckt voller großer und kleiner Schrecken, aber weil die kleinen Katastrophen diejenigen sind, die unsere Vorstellungskraft nicht überschreiten, sind sie es, die uns am deutlichsten mit unserer Sterblichkeit konfrontieren.
Unser Interesse an solchen Westentaschen-Schrecken läßt sich nicht leugnen, aber ebensowenig läßt sich unser angeekeltes Schaudern bestreiten. Beides mischt sich auf beunruhigende Weise, und ein Nebenergebnis dieser Mixtur scheinen Schuldgefühle zu sein…Schuldgefühle, nicht unähnlich denjenigen, die wir beim Erwachen unserer Sexualität erleben.
Es ist nicht meine Sache, jemandem zu erzählen, hier seien Schuldgefühle angebracht, genausowenig wie ich meine Romane und Kurzgeschichten rechtfertigen will. Aber zwischen Sex und Furcht läßt sich eine interessante Parallele beobachten. Während wir zur körperlichen Fähigkeit zu sexuellen Beziehungen reifen, erwacht unser Interesse an solchen Beziehungen; dieses Interesse wendet sich, soweit es nicht pervertiert wird, auf natürliche Weise der Kopulation und damit der Erhaltung unserer Art zu. Während uns unser eigenes unvermeidliches Ende bewußt wird, erwacht in uns das Gefühl für Furcht. Und ich bin der Ansicht, daß, wie alle Kopulation letztlich der Selbsterhaltung dient, alle Furcht letztlich dem Begreifen unseres unabwendbaren Todes dient.
Es gibt die alte Geschichte über die sieben Blinden, die sieben verschiedene Teile eines Elefanten zu fassen bekommen. Einer von ihnen meinte, er hätte eine Schlange, ein anderer, er hätte ein riesiges Palmenblatt, ein dritter, er würde eine steinerne Säule berühren. Als sie ihre Beobachtungen dann zusammentrugen, stellten sie fest, daß es ein Elefant war.
Furcht ist die Emotion, die uns blind macht. Vor wie vielen Dingen fürchten wir uns? Wir fürchten uns, das Licht anzuknipsen, wenn wir nasse Hände haben. Wir fürchten uns, mit einem Messer im Toaster herumzustochern, um den angeschmorten Toast herauszubekommen, solange der Stecker noch nicht abgezogen ist. Wir fürchten uns vor dem, was der Arzt uns nach der Röntgenuntersuchung sagt; und genauso, wenn das Flugzeug plötzlich in ein Luftloch sackt. Wir fürchten uns davor, daß es mit dem Öl zu Ende geht, mit dem Trinkwasser, mit dem guten Leben. Wenn die Tochter versprochen hat, um elf Uhr zu Hause zu sein, und jetzt ist es Viertel nach zwölf und der Regen hämmert gegen die Fensterscheiben, sitzen wir vor dem Fernseher und tun so, als wollten wir uns unbedingt den Spätfilm ansehen, während wir immer wieder nach dem stummen Telefon schielen; und wir fühlen jene Emotion, die uns blind macht, die Emotion, die jeden vernünftigen Gedankengang ruiniert.
Der Säugling ist ein angstfreies Wesen, bis die Mutter ihm zum ersten Mal nichts zum Saugen in den Mund schieben kann, wenn er schreit. Das Kleinkind entdeckt schnell die erschreckenden und schmerzhaften Wahrheiten einer zuschlagenden Türe, des heißen Ofens, des Fiebers, das mit den Masern und dem Keuchhusten kommt. Kinder lernen Furcht schnell; sie lernen sie aus dem Gesicht des, Vaters oder der Mutter, wenn die Eltern ins Badezimmer kommen und ihre Kleinen mit Rasierklingen oder Tablettenrollen spielen sehen.
Furcht macht uns blind, und wir nähern uns unseren Ängsten mit all der typischen Neugier des Selbstinteresses, indem wir versuchen, aus den Hunderten verschiedenen Ängsten auf das Ganze, die eine große Angst, zu schließen, genau wie die Blinden mit ihrem Elefanten.
Wir bekommen so langsam einen Eindruck von der Gestalt der Sache. Kinder erfassen sie leicht, vergessen sie wieder, um sie als Erwachsene erneut zu lernen. Die Sache ist da, und die meisten von uns kommen früher oder später zu der Erkenntnis, womit wir es bei ihr zu tun haben: Es ist die Gestalt eines Körpers unter einem Tuch. All unsere Ängste zusammen ergeben zusammen die eine große Furcht, all unsere Angste sind Teil dieser einen Furcht — ein Arm, ein Bein, ein Finger, ein Ohr. Wir haben Angst vor dem Körper unter dem Tuch, dieser stummen reglosen Gestalt. Es ist unser Körper. Und die große Anziehungskraft der unheimlichen Phantastik war zu allen Zeiten, daß sie uns als Probeaufführung unseres eigenen Todes dient.
Das Genre hat sich selten besonderer literarischer Wertschätzung erfreut. Lange Zeit waren die Franzosen die einzigen Freunde von Poe und Lovecraft. Die Franzosen haben offenbar zu einem Arrangement mit dem Sex und dem Tod gefunden, zu dem sich Poes und Lovecrafts amerikanische Mitbürger nie durchringen konnten. Die Amerikaner waren zu eifrig damit beschäftigt Eisenbahnen und Flugplätze zu bauen, und Poe und Lovecraft starben gebrochen. Tolkiens Fantasy-Trilogie von Mittelerde verstaubte zwanzig Jahre in den Buchhandlungen, bis sie von einem Geheimtip zum Bucherfolg wurde. Und Kurt Vonnegut, dessen Bücher sich so oft mit dem Gedanken der Generalprobe des Todes beschäftigen, haben immer gegen eine wütende Kritik anzukämpfen gehabt, die sich teilweise bis zur Hysterie steigerte.
Das mag daran liegen, daß der Horror-Autor immer schlechte Nachrichten zu melden hat: du mußt sterben, sagt er; er erzählt Ihnen, daß Sie sich nichts aus all der aufbauenden Alltagspsychologie in der Art von »es wird Ihnen immer wieder etwas Gutes widerfahren« machen sollen, denn es wird Ihnen auch immer etwas Schlechtes passieren, und das könnte ein Schlaganfall sein, Krebs, ein Autounfall, aber es kommt bestimmt. Und er nimmt Sie bei der Hand, öffnet Ihnen Ihre Hand, führt Sie in das Zimmer und legt Ihre Hand auf die Form unter dem Tuch …und sagt Ihnen, daß Sie diese Gestalt unter dem Tuch berühren sollen… hier… und hier… und da…
Natürlich ist das Thema der Angst und des Todes nicht exklusiv für den Horror-Autor reserviert. Eine ganze Reihe von Schriftstellern der sogenannten »Hochliteratur« haben sich mit diesen Fragen beschäftigt und auf die verschiedenste Art — von Dostojewski »Schuld und Sühne« über Edward Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf« zu Ross MacDonalds Lew-Archer-Geschichten. Die Angst ist immer ein großes Thema gewesen. Der Tod ist immer eines gewesen. Sie sind zwei der menschlichen Konstanten. Aber nur der Autor von unheimlichen und phantastischen Geschichten gibt dem Leser die Möglichkeit zu einer totalen Identifikation und Katharsis. Wer in diesem Genre schreibt und auch nur die blasseste Ahnung hat von dem, was er da tut, weiß, daß es sich bei dem ganzen Gebiet der unheimlichen Phantastik um einen Filter zwischen dem Bewußtsein und dem Unterbewußtsein handelt. Horrorgeschichten sind wie ein U-Bahn-Hauptbahnhof in der menschlichen Psyche, wo sich die blaue Linie dessen, was wir uns unbesorgt aneignen, mit der roten Linie dessen kreuzt, was wir auf die eine oder andere Art wieder loswerden müssen.
Wenn man unheimliche Geschichten liest, glaubt man nicht wirklich, was der Autor da geschrieben hat. Wir glauben nicht an Vampire, Werwölfe oder Lastwagen, die plötzlich von selbst fahren. Die Schrecken, an deren Realität wir alle glauben, sind die, über die Dostojewski, Albee oder MacDonald schreiben: Haß, Entfremdung, ungeliebt alt werden zu müssen, auf unsicheren Teenagerbeinen in eine feindliche Erwachsenenwelt zu stolpern. In unserer realen Alltagswelt sind wir oft wie Theatermasken von Tragödie und Komödie, auf der Außenseite grinsend, nach innen Grimassen schneidend. Und irgendwo in uns gibt es eine Art zentrale Umschaltstelle, einen Transformator, wo die Drähte von den beiden Masken miteinander verbunden sind. Diese Stelle ist es, an der uns die Horrorgeschichte zu packen bekommt.
Der-Horror-Autor unterscheidet sich nicht sehr vom walisischen Sündenesser, der die Sünden des teuren Verblichenen auf sich nimmt, indem er das Brot des teuren Verblichenen ißt. Die Geschichte der Monstrositäten und des Grauens ist ein Korb, vollgepackt mit Problemen; wenn der Schriftsteller vorbei kommt, nimmt man einen von seinen imaginären Schrecken aus dem Korb und legt einen eigenen wirklichen dafür hinein — für eine Zeitlang jedenfalls …
Die Werke von Edward Albee, von Steinbeck, Camus, Faulkner — sie handeln von Angst und Tod, manchmal auch von Horror, aber für gewöhnlich befassen sich die Autoren der Hochliteratur auf eine realere, alltäglichere Weise damit. Ihre Werke gehören in den Rahmen der rationalen Welt; es sind Geschichten, die »passieren könnten«. Sie gehören zu der U-Bahn-Linie, die draußen durch die äußere Welt führt. Es gibt andere Autoren — James Joyce, Faulkner beherrscht beides, Lyriker wie T. S. Eliot oder Sylvia Plath und Anne Sexton —, deren Werk im Land des symbolischen Unterbewußtseins angesiedelt ist. Sie fahren mit der Linie, die durch die Landschaften der Innenwelt führt. Aber der Horror-Schreiber befindet sich fast immer an jenem zentralen Umsteigebahnhof, an dem sich alle Linien treffen. Wenn er sein Bestes gibt, haben wir oft jenes unheimliche Gefühl, nicht zu wachen und nicht zu schlafen, wenn die Zeit sich zur Endlosigkeit zerdehnt, wenn wir Stimmen hören, aber ihre Worte nicht verstehen, wenn der Traum uns real erscheint und die Realität wie ein Traum.
Ein seltsamer und wunderbarer Umsteigebahnhoff ist das, Hill House befindet sich dort, wo die Züge in beide Richtungen abfahren, mit seinen geisterhaft verschlossenen Türen; die Ringgeister, die Frodo und Sam verfolgen, sind dort; und Pickmans Modell; der Wendigo; Norman Bates und seine furchtbare Mutter. Kein Wachen oder Träumen gibt es auf jenem Bahnhof, nur die Stimme des Autors ist da, gedämpft und rational, und sie erzählt davon, wie die solide Struktur der Wirklichkeit mit schockierender Plötzlichkeit einen Riß bekommen kann. Er erzählt dir, daß du den Autounfall sehen willst, und ja, er hat recht — du willst. Da ist eine tote Stimme am anderen Ende der Leitung mitten in der Nacht …hinter den Wänden des alten Hauses bewegt sich etwas, das sich größer als eine Ratte anhört …eine Bewegung im Dunkeln am Ende der Kellertreppe. Er will, daß du all diese Dinge siehst und noch mehr; er will, daß du deine Hand auf die Gestalt unter dem Tuch legst. Und du willst auch mit deinen Händen nach ihr fühlen. Ja, das willst du.
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Dies sind einige von den Dingen, die eine Horrorgeschichte meinem Gefühl nach bewirkt, aber ich bin felsenfest überzeugt, daß sie außerdem noch etwas bewirken muß, und das vor allem anderen: Sie muß eine Geschichte erzählen, die den Leser oder Zuhörer für eine Weile in ihrem Bann hält, verloren in einer Welt, die niemals war und niemals sein kann. Mein ganzes Leben als Schriftsteller bin ich immer von einem überzeugt gewesen: In der Fiktion muß die Geschichte selbst so gut sein, daß sie alle anderen Qualitäten des Autors in den Schatten stellt; Charakterisierung, Stil, Thema, Stimmung, das alles bedeutet nichts, wenn die Geschichte langweilig ist. Und wenn die Geschichte fesselt, kann der Leser alles andere verzeihen. Meine Lieblingszeile in dieser Hinsicht stammt aus der Feder von Edgar Rice Burroughs, kein Kandidat für den Ruhm eines großen Dichters der Weltliteratur, aber jemand, der den Wert einer guten Geschichte völlig verstanden hat. Auf der ersten Seite von »The Land That Time Forgot« findet der Erzähler ein Manuskript in einer Flasche. Das restliche Buch besteht aus der Wiedergabe dieses Manuskriptes. Der Erzähler sagt: »Lesen Sie eine Seite, und ich bin vergessen.« Das ist ein Versprechen, das Burroughs hält — vielen Schriftstellern mit größerem Talent, als er es besaß, ist das nicht gelungen.
Stephen King
Briefe aus Jerusalem
2. Oktober 1850
Liebes Bones,
wie wohl es tat, in die kalte, zugige Halle hier Von Chapelwaite zu treten, jeder Knochen von dieser gräßlichen Kutsche schmerzend und mit dem dringenden Bedürfnis, meine drückende Blase zu erleichtern — und den Brief, adressiert in Deinem unnachahmlichcn Gekritzel zu sehen, der auf dem häßlichen kleinen Kirschholztisch neben der Tür lehnte! Sei versichert, daß ich mich an seine Entzifferung gemacht habe, sobald ich die Bedürfnisse des Körpers erledigt hatte (in einem kühl ausgestatteten Badezimmer im unteren Stock, wo ich den Atem vor meinen Augen aufsteigen sehen konnte).
Es freut mich zu hören, daß Du von dem Miasma genesen bist, das so lange Deine Lunge befallen hatte, obwohl ich Dir versichern kann, daß ich vollstes Verständnis für das moralische Dilemma habe, in das Dich die Heilung gestürzt hat. Ein kränkelnder Abolitionist, der vom sonnigen Klima des Sklavenstaates Florida geheilt wird! Trotz und alledem, Bones, bitte ich Dich als Freund, der ebenfalls im finsteren Tal gewandelt ist, gut auf Dich aufzupassen und erst dann nach Massachusetts zurückzukehren, Wenn es Dein Körper erlaubt. Was helfen uns Dein scharfer Geist und Deine spitze Feder, wenn Du Asche bist, und wenn der Süden eine heilsame Region ist, liegt in dieser Tatsache nicht poetische Gerechtigkeit?
Wirklich, das Haus ist genauso prachtvoll, wie ich es nach den Aussagen der Testamentsvollstrecker meines Cousins annehmen durfte, allerdings sehr düster. Es liegt auf einer gewaltigen, vorragenden Landspitze vielleicht drei Meilen nördlich von Falmouth und neun Meilen nördlich von Portland. Dahinter schließen sich etwa vier Morgen Land an, das auf unglaubliche Art und Weise verwildert ist — Wacholder, Gestrüpp, Gebüsch und verschiedene Arten von Kletterpflanzen ranken wild über die pittoresken Steinmauern, die den Besitz vom Stadtgebiet trennen. Abscheuliche Imitationen griechischer Statuen starren von kleinen Hügeln blind durch die Wildnis — meist scheint es, als warteten sie darauf, sich auf den Vorübergehenden zu stürzen. Der Geschmack meines Cousins hat anscheinend die ganze Stufenleiter von untragbar bis regelrecht schreckenerregend umfaßt. Inmitten eines offensichtlich ehemaligen Gartens habe ich eine seltsame kleine Laube entdeckt, die fast gänzlich von scharlachrotem Sumach überwuchert ist, und eine groteske Sonnenuhr. Dies vervollständigt den Eindruck des Wahnsinns.
Doch die Aussicht vom Salon entschädigt dafür mehr als genug; von hier habe ich einen schwindelerregenden Ausblick auf die Felsen am Fuß von Chapelwaite Head und auf den Atlantik, auf den ein großes, bauchiges Erkerfenster hinausgeht, neben dem ein mächtiger Sekretär steht. Er paßt ausgezeichnet, um mit jenem Roman zu beginnen, über den ich so lange (und zweifellos bis zum Überdruß) geredet habe.
Der heutige Tag war grau mit gelegentlichen Regengüssen. Wenn ich hinausblicke, gleicht alles einer Studie in Schiefer: die Felsen, alt und ausgelaugt wie die Zeit selbst, der Himmel und natürlich die See, die mit einem Geräusch gegen die zerklüfteten Granitfelsen unter mir kracht, das eigentlich kein Geräusch, sondern Vibration ist; ich kann die Wellen sogar jetzt, während ich schreibe, durch meine Füße spüren. Ein Gefühl, das nicht unbedingt unangenehm ist.
Ich weiß, daß Du meine Vorliebe für die Einsamkeit mißbilligst, lieber Bones, aber sei versichert, daß es mir gut geht und ich glücklich und zufrieden bin. Calvin ist bei mir, praktisch, schweigsam und zuverlässig wie immer, und ich bin sicher, daß wir beide bis Mitte der Woche alle wichtigen Dinge geregelt und die nötigen Lieferungen aus der Stadt arrangiert haben — und daß dann eine Kompanie Reinigungsfrauen anfängt, den Staub aus diesem Haus zu vertreiben!
Ich werde jetzt schließen; es gibt so vieles, das ich noch nicht gesehen habe, Räume, die noch erforscht werden müssen, und zweifellos tausend scheußliche Möbelstücke, die diese sensiblen Augen noch begutachten müssen. Noch einmal meinen Dank für das Gefühl von Vertrautheit, das Dein Brief mitgebracht hat und für Deine beständige Freundschaft.
Alles Liebe für Deine Frau und für Dich,
CHARLES.
6. Oktober 1850
Liebes Bones,
welch ein Ort!
Er erstaunt mich immer wieder von neuem — genau wie die Reaktionen der Bewohner des nächstgelegenen Dorfes. Es handelt sich um einen seltsamen kleinen Ort mit dem pittoresken Namen Preacher’s Corners. Hier hat Calvin unsere wöchentlichen Vorräte bestellt und gleichzeitig auch den zweiten Auftrag erledigt, sich um einen ausreichenden Vorrat an Klafterholz für den Winter zu kümmern. Cal kehrte jedoch mit düsterer Miene zurück, und als ich ihn fragte, was es denn gäbe, erwiderte er grimmig:
»Man hält Sie für verrückt, Mr. Boone!«
Ich lachte und antwortete, daß die Leute möglicherweise von der Gehirnentzündung gehört hätten, an der ich nach dem Tod meiner Sarah gelitten habe — damals habe ich sicher wild genug phantasiert, wie du bezeugen könntest.
Doch Cal beteuerte, daß niemand etwas von mir wisse, außer über meinen Cousin Stephen; der dort die gleichen Dienste in Auftrag gegeben hatte, wie ich es jetzt getan habe. »Was sie gesagt haben, Sir, war, daß jeder, der in Chapelwaite lebt, entweder verrückt sein muß oder Gefahr läuft, es zu werden.«
Ich war völlig perplex, wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst, und fragte ihn, woher er diese erstaunliche Aussage habe, worauf er mir erklärte, daß sie von einem mürrischen und törichten Holzfäller namens Thompson stamme, der vierhundert Morgen Kiefern-, Birken- und Fichtenbestand besitzt und der zusammen mit seinen fünf Söhnen Holz fällt, um es an die Sägewerke in Portland und die Haushalte in der unmittelbaren Umgebung zu verkaufen.
Als ihm Cal, der von seinem seltsamen Vorurteil nichts wußte, die Adresse nannte, zu der das Holz gebracht werden sollte, starrte ihn dieser Thompson mit weit offenem Mund an und sagte, daß er seine Söhne mit dem Holz schicken würde, bei hellem Tageslicht und über die Küstenstraße.
Calvin, der meine Belustigung offensichtlich als Besorgnis auslegte, beeilte sich hinzuzufügen, daß der Mann nach billigem Whisky gerochen habe und daß er danach in irgendwelchen Unsinn über ein verlassenes Dorf und Cousin Stephens Bindungen — und über Würmer verfallen sei! Calvin schloß das Geschäft dann mit einem von Thompsons Söhnen ab, der, wie ich verstanden habe, ziemlich unfreundlich war und dem Geruch nach selbst nicht ganz nüchtern zu sein schien. Offensichtlich ist Cal in Preacher’s Corners selbst auf eine ähnliche Reaktion gestoßen, und zwar in der dortigen Gemischtwarenhandlung, wo er mit dem Ladenbesitzer gesprochen hat, obwohl es sich dabei wohl mehr um Klatsch handelt, wie man ihn sich hinter vorgehaltener Hand erzählt.
Ich mache mir weiter keine Gedanken darüber; wir wissen ja, wie gern die Landbevölkerung ihr Leben mit dem Geruch nach Skandal und Schauermärchen bereichert, und ich nehme an, daß der arme Stephen und seine Seite der Familie da ein dankbares Opfer waren. Wie ich Cal sagte, wenn ein Mann praktisch von seiner eigenen Veranda zu Tode stürzt, bleibt es natürlich nicht aus, daß die Leute reden.
Das Haus selbst ist eine ständige Quelle von Überraschungen. Dreiundzwanzig Zimmer, Bones! Die Holztäfelung in den oberen Etagen und die Gemäldegalerie sind zwar vom Schimmel befallen, aber im übrigen stabil. Als ich im Schlafzimmer meines verstorbenen Cousins im oberen Stock stand, konnte ich dahinter die Ratten rumoren hören. Den Geräuschen nach zu schließen, die sie verursachen, müssen es ziemlich große Tiere sein — es hört sich fast so an, als ob dort Menschen gingen. Ich möchte keiner im Dunkeln begegnen; übrigens auch nicht im Hellen. Seltsam ist allerdings, daß ich weder Löcher noch Kot bemerkt habe. Wirklich merkwürdig.
In der oberen Galerie hängen eine Reihe schlechter Portraits in Rahmen, die ein Vermögen wert sein müssen. Einige weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit Stephen auf, wie ich mich seiner entsinne. Ich glaube, daß ich meinen Onkel Henry Boone und seine Frau Judith erkannt habe; die übrigen sind mir fremd. Ich nehme an, daß eins der Portraits mein eigener wohlbekannter Großvater Robert sein könnte. Stephens Seite der Familie ist mir aber gänzlich unbekannt, was ich aus ganzem Herzen bedauere. Das gleiche frohe Gemüt, das Stephens Briefe an Sarah und mich zeigten, der gleiche Ausdruck hoher Intelligenz, spiegeln sich in diesen Portraits wider, so schlecht sie auch sein mögen. Aus welch törichten Gründen sich doch Familien entzweien! Ein durchstöbertes Schreibpult, harte Worte zwischen Brüdern, die mittlerweile schon drei Generationen tot sind, und schuldlose Nachkommen werden unnötigerweise entfremdet. Ich muß immer wieder daran denken, was für ein Glück es doch war, daß es Dir und John Petty gelang, Kontakt zu Stephen aufzunehmen, als es schien, daß ich meiner Sarah aus dieser Welt folgen würde — und wie unglückselig es war, daß uns das Schicksal die Gelegenheit nahm, uns persönlich kennenzulernen. Wie gerne hätte ich Stephen die Statuen und Möbelstücke der Ahnen verteidigen hören!
Aber laß mich dieses Haus nicht allzu sehr verunglimpfen. Sicher, Stephens Geschmack war bestimmt nicht der meine, aber unter dem äußeren Anstrich der Dinge, die er hinzugefügt hat, gibt es Stücke (eine Reihe davon, in den oberen Zimmern, sind unter Schutztüchern verborgen), die wahre Meisterwerke sind. Da finden sich Betten, Tische und massive, dunkle Ornamente in Teak und Mahagoni, und viele der Schlaf- und Empfangszimmer sowie das obere Arbeitszimmer und der kleine Salon besitzen einen melancholischen Charme. Die Fußböden bestehen aus kostbarem Kiefernholz und schimmern in einem inneren und geheimen Licht. Hier findest Du Würde; Würde und das Gewicht von Jahren. Ich kann noch nicht sagen, daß es mir gefällt, aber ich respektiere es. Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, wie es sich verändert, wenn wir uns im Kreislauf dieses nördlichen Klimas drehen.
Himmel, ich finde wieder einmal kein Ende! Schreibe bald, Bones. Berichte mir, welche Fortschritte Du machst und was Du Neues von Petty und den anderen weißt. Und bitte, begehe nicht den Fehler, neue Bekannte aus dem Süden unbedingt von Deinen Ansichten überzeugen zu wollen — ich habe mir sagen lassen, daß sich nicht alle damit begnügen, nur mit ihrem Mund zu antworten, wie zum Beispiel unser ermüdender Freund, Mr. Calhoun.
Herzlichst
Dein Freund CHARLES.
16. Oktober 1850
Lieber Richard,
Hallo, wie geht es Dir? Ich habe oft an Dich gedacht, seit ich hier in Chapelwaite meinen Wohnsitz aufgeschlagen habe, und hatte halb damit gerechnet, etwas von Dir zu hören — und jetzt bekomme ich einen Brief von Bones, in dem er mir schreibt, daß ich vergessen habe, im Club meine Adresse zu hinterlassen! Du kannst sicher sein, daß ich so oder so irgendwann geschrieben hätte, denn manchmal scheint es, daß meine echten und loyalen Freunde das einzig Sichere und völlig Normale sind, das mir in dieser Welt geblieben ist. Aber, mein Gott, wie weit verstreut wir nun sind! Du in Boston, wo Du immer noch getreu für den Liberator schreibst (dem ich übrigens auch meine Adresse geschickt habe), Hanson in England, auf einer seiner verwünschten Vergnügungsexkursionen, und der arme alte Bones mitten in der Höhle des Löwen, wo er seine Lunge kuriert.
Hier läuft alles so gut, wie man erwarten kann, Dick; sei versichert, daß ich Dir noch ausführlich Bericht erstatte, wenn meine Zeit nicht mehr ganz so sehr von gewissen Ereignissen in Anspruch genommen wird, die sich hier abspielen — ich glaube, gewisse Vorfälle in Chapelwaite und der näheren Umgebung könnten durchaus dazu angetan sein, das Interesse deines Juristengeistes zu wecken.
Aber in der Zwischenzeit möchte ich Dich um einen Gefallen bitten, wenn Du Dich darum kümmern willst. Erinnerst Du Dich noch an diesen Historiker, den Du mir damals beim Dinner bei Mr. Clary vorgestellt hast? Ich glaube, sein Name war Bigelow. Wie dem auch sei, er erwähnte, daß er es sich zum Hobby gemacht habe, alles zu sammeln, was er an sonderbaren historischen Überlieferungen bekommen könne, die sich genau auf die Gegend beziehen, in der ich jetzt wohne. Meine Bitte ist nun die: Würdest Du Dich mit ihm in Verbindung setzen und ihn fragen, welche Fakten, Überlieferungen oder allgemeine Gerüchte — wenn überhaupt — ihm über ein kleines, verlassenes Dorf namens Jerusalem’s Lot bekannt sind, das am Royal River in der Nähe einer Gemeinde namens Preacher’s Corners liegt? Der Fluß ist ein Nebenfluß des Androscoggin und fließt etwa elf Meilen vor der Mündung dieses Stroms in der Nähe von Chapelwaite in den Androscoggin. Du würdest mir damit einen großen Gefallen erweisen, und, was noch wichtiger ist, es könnte von einiger Bedeutung sein.
Beim Durchgehen dieses Briefes merke ich, daß ich ein bißchen kurz mit Dir war, Dick, was ich aufrichtig bedauere. Aber sei gewiß, daß ich Dir schon bald alles erklären werde. Bis dahin liebe Grüße an Deine Frau, Deine beiden prächtigen Söhne und natürlich an Dich
Herzlichst
Dein Freund CHARLES.
16. Oktober 1850
Liebes Bones,
ich habe Dir etwas zu berichten, das sowohl Cal wie auch mir etwas sonderbar (um nicht zu sagen beunruhigend) erscheint — sieh selbst, was Du davon hältst. Sonst mag es einfach dazu dienen, Dich zu unterhalten, während Du Dich mit den Moskitos herumschlägst!
Zwei Tage nachdem ich meinen letzten Brief an Dich aufgegeben habe, traf eine Gruppe von vier jungen Frauen aus Preacher’s Corners unter der Aufsicht einer ältlichen Dame mit furchteinflößend kompetenter Miene namens Mrs. Cloris hier ein, um das Haus in Ordnung zu bringen und einen Teil des Staubs zu entfernen, der meine Nase bei jedem zweiten Schritt zum Niesen gereizt hatte. Sie machten allesamt einen etwas nervösen Eindruck, als sie sich an die Arbeit machten; eine törichte junge Dame stieß sogar einen leisen Schrei aus, als ich den Salon betrat, während sie dort Staub wischte.
Als ich Mrs. Cloris deswegen fragte (sie war gerade dabei, die Halle unten mit einer grimmigen Entschlossenheit abzustauben, die Dich wirklich überrascht hätte; das Haar hatte sie mit einem alten, verblichenen Tuch hochgebunden), drehte sie sich zu mir herum und antwortete mit entschlossener Miene: »Sie mögen das Haus nicht, und ich mag es auch nicht, Sir, denn es ist immer schon ein schlechtes Haus gewesen.«
Das Kinn fiel mir bei dieser unerwarteten Feststellung herunter, und sie fuhr in einem etwas freundlicheren Ton fort: »Ich will damit nicht sagen, daß Stephen Boone nicht ein anständiger Mann war, denn das war er. Solange er hier wohnte, habe ich für ihn jeden zweiten Donnerstag saubergemacht, genau wie ich für seinen Vater, Mr. Randolph Boone, saubergemacht habe, bis er und seine Frau achtzehnhundertsechzehn verschwanden. Mr. Stephen war ein guter und freundlicher Mann, und das scheinen Sie auch zu sein (Sie mögen mir meine Direktheit verzeihen, aber ich kann mich nicht anders ausdrücken), doch dieses Haus ist schlecht, und das ist es immer gewesen, und kein Boone ist hier glücklich gewesen, seit sich Ihr Großvater Robert und sein Bruder Philip wegen gestohlener (und hier zögerte sie, fast schuldbewußt) Dinge siebzehnhundertneunundachtzig entzweiten.«
Was für ein Gedächtnis diese Leute doch haben, Bones!
»Das Haus wurde im Unglück gebaut, die, die hier lebten, waren unglücklich, Blut ist auf seinem Boden vergossen worden (ich weiß nicht; ob Dir bekannt ist, Bones, daß mein Onkel Randolph in einen Unfall auf der Kellertreppe verwickelt war, bei dem seine Tochter Marcella den Tod fand; er nahm sich anschließend in einem Anfall von Reue selbst das Leben. Stephen hat den Zwischenfall in einem seiner Briefe an mich erwähnt, den er anläßlich des traurigen Ereignisses des Geburtstags seiner Verstorbenen Schwester schrieb), Menschen sind verschwunden und Unfälle sind passiert.
Ich arbeite schon lange hier, Mr. Boone, und ich bin weder blind noch taub. Ich habe schreckliche Geräusche in den Wänden gehört, Sir, Schreckliche Geräusche — dumpfe Schläge und Poltern, und einmal ein sonderbares Heulen, das halb wie Gelächter klang. Das Blut ist mir regelrecht in den Adern erstarrt. Es ist ein böses Haus, Sir.« Hier brach sie ab, vielleicht aus Angst, daß sie zuviel gesagt hatte.
Was mich selbst betraf, so wußte ich kaum zu sagen, ob ich beleidigt oder amüsiert, neugierig oder einfach ganz sachlich sein sollte. Ich glaube, daß ich an diesem Tag wohl in erster Linie amüsiert war. »Und was vermuten Sie, Mrs. Cloris? Geister, die mit ihren Ketten rasseln?«
Doch sie sah mich nur merkwürdig an. »Es mag schon sein, daß es hier Geister gibt. Aber das in den Wänden sind keine Geister. Es sind keine Geister, die wie die Verdammten heulen und klagen und die in der Dunkelheit poltern und herumtappen. Es sind …«
»Kommen Sie, Mrs. Cloris«, half ich nach. »Sie haben schon so viel gesagt, nun bringen Sie endlich zu Ende, was Sie begonnen haben.«
Ein sonderbarer Ausdruck aus Entsetzen, Gekränktheit und — ich könnte darauf schwören — religiöser Ehrfurcht huschte über ihr Gesicht. »Manche sterben nicht«, flüsterte sie. »Manche leben im Zwielicht dazwischen, um — Ihm zu dienen!«
Und das war das Ende. Ich versuchte noch ein paar Minuten lang, mehr aus ihr herauszuholen, doch sie wurde nur immer verstockter und wollte nichts mehr sagen. Schließlich gab ich es auf, da ich fürchtete, sie möge sich sonst aufraffen und das Haus verlassen.
Dies ist das Ende der einen Episode, doch es sollte eine weitere am nächsten Abend folgen. Calvin hatte unten ein Feuer angefacht, während ich im Wohnzimmer saß, eine Ausgabe des Intelligencer vor mir, und dem Geräusch des windgepeitschten Regens lauschte, der gegen das große Erkerfenster prasselte. Es war so gemütlich, wie es nur sein kann an einem solchen Abend, wenn draußen alles trostlos und drinnen alles warm und behaglich ist, doch dann erschien einen Augenblick später Cal in der Tür. Er sah aufgeregt und ein bißchen nervös aus.
»Sind Sie wach, Sir?« fragte er.
»Kaum noch. Was gibt’s?«
»Ich habe oben etwas gefunden, das Sie sehen sollten, wie ich meine«, antwortete er mit dem gleichen Ausdruck unterdrückter Erregung.
Ich erhob mich und folgte ihm. Als wir die breite Treppe hinaufstiegen, meinte Calvin: »Ich war im oberen Studierzimmer und las gerade in einem Buch — ein recht merkwürdiges Buch —, als ich ein Geräusch in der Wand hörte.«
»Ratten«, gab ich zurück. »Und das ist alles?«
Calvin blieb am Ende der Treppe stehen und sah mich ernst an. Die Lampe, die er in der Hand hielt, warf unheimliche, bedrohliche Schatten auf die dunklen Vorhänge und die schattenhaften Portraits, die jetzt nicht mehr zu lächeln, sondern eher boshaft zu grinsen schienen. Draußen erhob sich der Wind zu einem flüchtigen Schrei und verstummte dann widerwillig.
»Keine Ratten«, widersprach Cal. »Es war ein dumpfes Poltern und Tappen, das von irgendwo hinter den Bücherregalen kam, und dann folgte ein gräßliches Gurgeln — wirklich gräßlich, Sir. Und ein Kratzen, als ob irgend etwas versuchte, herauszukommen und …und sich auf mich zu stürzen!«
Du kannst Dir mein Erstaunen vorstellen, Bones, denn Calvin ist ganz sicher nicht der Typ, der zu hysterischen Phantastereien neigt. Langsam gewann ich den Eindruck, daß es hier doch irgendein Geheimnis gab — ein Geheimnis, das vielleicht tatsächlich garstig war.
»Und dann?« wollte ich wissen. Wir gingen den Gang hinunter, und ich konnte sehen, daß aus dem Studierzimmer Licht auf den Boden der Galerie fiel. Ich registrierte es mit einem Gefühl der Beklemmung; der Abend schien keineswegs mehr gemütlich.
»Das Kratzen hörte auf. Einen Augenblick später fingen wieder diese dumpfen, schlurfenden Geräusche an, doch diesmal bewegten sie sich von mir weg. Einmal brach es ab, und ich kann beschwören, daß ich ein seltsames, fast unhörbares Lachen vernahm! Ich ging zum Bücherregal und fing an zu drücken und zu ziehen, weil ich dachte, daß es dort vielleicht ein Geheimfach oder eine Geheimtür geben könnte.«
»Und — hast du eine gefunden?«
CaJ blieb vor der Tür zum Studierzimmer stehen. »Nein — aber ich habe dies hier gefunden!«
Als wir eintraten, sah ich ein quadratisches schwarzes Loch im linken Regal. Die Bücher an dieser Stelle waren nichts weiter als Attrappen, und was Cal entdeckt hatte, war ein kleines Versteck. Ich leuchtete mit meiner Lampe hinein, sah aber nichts außer einer dicken Staubschicht, Staub, der Jahrzehnte alt sein mußte.
»Da drinnen war nur das«, erklärte Cal/ruhig und reichte mir ein verblichenes Stück Papier. Es handelte sich um eine Karte, die in hauchdünnen schwarzen Tintenstrichen gezeichnet war — die Karte einer Stadt oder eines Dorfes. Es umfaßte etwa sieben Gebäude, und unter einem, das deutlich mit einem Turm gekennzeichnet war, standen die Worte: Der Wurm Der Verderben Bringt.
In der oberen linken Ecke war ein Pfeil, der in die Richtung zeigte, die der Nordwesten dieses kleinen Dorfes gewesen sein muß, und unter ihm stand: Chapelwaite.
»Im Ort, Sir«, fuhr Calvin fort, »erwähnte jemand abergläubisch ein verlassenes Dorf namens Jerusalem’s Lot, von dem sich alle fernhalten.«
»Aber was soll das hier?« fragte ich und deutete auf die sonderbaren Worte unter dem Turm.
»Ich weiß es nicht.«
Plötzlich mußte ich an das denken, was Mrs. Cloris gesagt hatte. »Der Wurm…« murmelte ich.
»Wissen Sie irgend etwas, Mr. Boone?«
»Vielleicht…es könnte ganz interessant sein, wenn wir uns dieses Dorf morgen einmal ansehen, was meinst du, Cal?«
Er nickte, und seine Augen strahlten. Anschließend verbrachten wir noch fast eine Stunde damit, nach irgendeiner Spalte in der Wand hinter dem kleinen Versteck zu suchen, das Cal gefunden hatte, aber ohne Erfolg. Auch die Geräusche, die Cal beschrieben hatte, traten nicht wieder auf.
Schließlich begaben wir uns zur Ruhe, ohne daß an jenem Abend noch etwas passiert wäre.
Am folgenden Morgen machten sich Calvin und ich auf unseren Marsch durch den Wald. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war düster und von tiefhängenden Wolken überzogen. Ich konnte sehen, daß Cal mich zweifelnd betrachtete, und ich beeilte mich, ihm zu versichern, daß ich nicht zögern würde, das Unternehmen abzubrechen, wenn ich müde werden oder der Weg sich als zu lang herausstellen sollte. Wir hatten uns mit einem Lunchpaket, einem guten Kompaß und natürlich der seltsamen alten Karte von Jerusalem’s Lot ausgerüstet.
Es war ein eigenartiger, brütender Tag; kein Vogel sang, und wir hörten auch keine anderen Tiere, als wir uns durch den großen, finsteren Kiefernbestand in südöstlicher Richtung vorwärtsbewegten. Das einzige Geräusch war das unserer Schritte und das monotone Donnern des Atlantiks, der gegen die Küste schlug. Der Geruch der See, der fast unnatürlich schwer war, war unser ständiger Begleiter.
Wir hatten höchstens zwei Meilen zurückgelegt, als wir auf eine überwachsene Straße jener Bauart stießen, die man, so glaube ich, früher als Knüppeldamm bezeichnete. Da sie in unserer ungefähren Richtung lief, gingen wir auf ihr weiter und kamen gut voran. Wir sprachen nur wenig, denn der Tag mit seiner stillen und unheilvollen Atmosphäre lastete schwer auf unseren Gemütern.
Gegen elf Uhr vernahmen er das Gerausch von fließendem Wasser. Die ehemalige Straße beschrieb eine scharfe Linkskurve, und dann tauchte auf der anderen Seite eines schäumenden, schmutzigen kleinen Flusses wie eine Erscheinung Jerusalem’s Lot auf!
Der Fluß war vielleicht acht Fuß breit, und über ihn führte ein moosbewachsener Steg. Auf der anderen Seite, Bones, stand das perfekteste kleine Dorf, das Du Dir vorstellen kannst, verständlicherweise verwittert, aber im übrigen erstaunlich gut erhalten. Dicht bei dem schroff abfallenden Ufer befand sich eine Ansammlung von mehreren Häusern, die in jener schmucklosen, aber eindrucksvollen Form gebaut waren, für die die Puritaner zu Recht bekannt waren. Ein Stück dahinter, entlang einer verwilderten Straße, standen drei oder vier Gebäude, die primitive Geschäfte gewesen sein könnten, und dahinter erhob sich der Turm der Kirche, der auf der Karte eingezeichnet war, in den grauen Himmel. Mit seiner abgeblätterten Farbe und dem angelaufenen, schiefen Kreuz sah er unbeschreiblich finster und unheilvoll aus.
»Jerusalem’s Lot — Jerusalems Los… die Stadt trägt ihren Namen zu Recht«, bemerkte Cal neben mir leise.
Wir überquerten den Fluß und begannen, das Dorf zu erforschen — und von hier ab wird meine Geschichte etwas unglaublich, also sei gerüstet!
Die Luft schien bleischwer, als wir zwischen den Häusern dahergingen; unheilschwanger, wenn du so willst. Die Gebäude befanden sich in einem Zustand des Verfalls — abgerissene Läden, Dächer, die unter dem Gewicht schwerer Schneemassen im Winter eingestürzt waren, trübe, starrende Fenster. Schatten von unheimlichen Ecken und krummen Winkeln schienen in finsteren Tümpeln zu lauern.
Wir betraten zuerst ein altes, verfallenes Wirtshaus — irgendwie schien es unrecht, in diese Häuser einzudringen, in die sich Menschen zurückgezogen hatten, wenn sie ungestört sein wollten. Ein altes, verwittertes Schild über der gesplitterten Tür verkündete, daß dies das Wirts- und Gasthaus zum Eberkopf gewesen war. Die Tür kreischte ohrenbetäubend in der einzigen noch verbliebenen Angel, und dann traten wir in das dämmrige Innere. Der Geruch nach Fäulnis und Moder, der in der Luft lag, war fast überwältigend. Doch dazwischen schien ein noch intensiverer Geruch zu liegen, ein ekelerregender, abscheulicher Geruch, ein Geruch von Jahrhunderten und der jahrhundertealten Verwesung. Ein Geruch, wie er vielleicht von vermoderten Särgen oder geschändeten Gräbern ausgeht. Ich hielt mir mein Taschentuch vor die Nase. Cal folgte meinen Beispiel, und dann nahmen wir den Ort in Augenschein.
»Mein Gott, Sir…« sagte Calvin leise.
»Es ist nie angerührt worden«, beendete ich den Satz für ihn.
Und so war es tatsächlich. Tische und Stühle standen da wie geisterhafte Wächter, verstaubt und verzogen von den extremen Temperaturunterschieden, für die das Klima Neuenglands bekannt ist, aber im übrigen unversehrt — als ob sie durch schweigende, widerhallende Jahrzehnte hindurch darauf gewartet hätten, daß jene schon lange Verstorbenen wieder hereinkommen, nach einem Krug Bier rufen, Karten austeilen und ihre Tonpfeifen anzünden. Neben den Wirtshausvorschriften hing ein kleiner, viereckiger Spiegel, der nicht zerbrochen war. Begreifst Du, was das bedeutet, Bones? Kinder sind für ihre Neugier und ihre Zerstörungswut bekannt; es gibt nicht ein »Geister«haus, dessen Fenster noch heil wären, ganz gleich, welche Schauermärchen man sich über seine unheimlichen Bewohner erzählt; nicht einen verlassenen Friedhof, auf dem nicht wenigstens ein Grabstein von jugendlichen Unruhestiftern umgestürzt worden ist. Sicher gibt es in Preacher’s Corners, das keine zwei Meilen von Jerusalem’s Lot entfernt liegt, eine ganze Reihe solcher Jugendlicher. Und doch war der Spiegel des Gastwirts ( der ihn eine hübsche Summe gekostet haben muß) unversehrt — genau wie die übrigen zerbrechlichen Gegenstände, die wir bei unserem Stöbern fanden. Der einzige Schaden in Jerusalem’s Lot ist durch die unpersönlichen Kräfte der Natur angerichtet worden. Die Implikation ist offenkundig: Jerusalem’s Lot ist ein gemiedener Ort. Aber warum? Ich habe da eine Ahnung, aber bevor ich auch nur wage, eine Andeutung in dieser Beziehung zu machen, muß ich vom beunruhigenden Ende unseres Besuchs berichten.
Wir begaben uns nach oben in die Schlafquartiere, wo wir gemachte Betten fanden, neben denen zinnerne Wasserkrüge standen Die Küche war ebenfalls unberührt, abgesehen vom Staub der Jahre und jenem entsetzlichen, intensiven Geruch nach Verwesung. Das Wirtshaus wäre ein Paradies für jeden Antiquar gewesen; allein der ungewöhnliche Küchenofen hätte auf einer Bostoner Auktion einen hübschen Preis erzielt.
»Was meinst du, Cal?« fragte ich, als wir wieder hinaus in das diffuse Tageslicht getreten waren.
»Ich glaube, daß es mit etwas Bösem zu tun hat, Mr. Boone«, erwiderte er in seiner düsteren Art, »und daß wir mehr sehen müssen, um mehr zu erfahren.«
Wir untersuchten die übrigen Geschäfte nur. flüchtig — unter ihnen ein Krämerladen, ein Lagerhaus, in dem Eichen- und Kiefernholz gestapelt war, sowie eine Schmiede.
Auf unserem Weg zur Kirche, die im Zentrum des Ortes lag, gingen wir in zwei Häuser hinein. Beide waren sie ganz nach puritanischer Mode eingerichtet und voll von Gegenständen, für die ein Sammler seinen Arm gegeben hätte, beide waren verlassen und erfüllt von dem gleichen fauligen Geruch.
Außer uns schien hier nichts zu leben oder sich zu bewegen. Wir sahen weder Insekten noch Vögel oder auch nur Spinnweben in irgendeiner Fensterecke. Nur Staub.
Endlich erreichten wir die Kirche. Sie ragte hoch über uns in - den Himmel, düster, kalt und wenig einladend. Hinter den Fenstern gähnten schwarze Schatten aus dem Innern, und jede Gottheit oder Heiligkeit hatte diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen, dessen bin ich gewiß. Wir stiegen die Stufen hinauf, und ich legte die Hand auf den großen, eisernen Türgriff. Ich warf einen finsteren, entschlossenen Blick auf Calvin und sah dann wieder vor mich. Wann mochte diese Tür wohl zum letztenmal geöffnet worden sein? Ich bin sicher, daß meine Hand die erste seit bestimmt fünfzig Jahren — wenn nicht länger — war, die sie berührte. Rostige Angeln kreischten, als ich sie aufzog. Der Geruch nach Fäulnis und Verwesung, der uns entgegenschlug, war fast greifbar. Cal stieß einen würgenden Laut aus und drehte sich unwillkürlich nach frischer Luft herum.
»Sir«, fragte er, »sind Sie wirklich…?«
»Ich bin schon in Ordnung«, erwiderte ich ruhig, doch so ruhig fühlte ich mich ganz und gar nicht, Bones, genauso wenig wie jetzt. Ich glaube mit Moses, mit Jerobeam und mit unserem guten Hansen (wenn er in Philosophierlaune ist), daß es geistig ungesunde Orte oder Gebäude gibt, wo die Milch des Kosmos sauer und ranzig geworden ist. Diese Kirche ist ein solcher Ort, darauf könnte ich schwören.
Wir traten in ein langes Vestibül, das mit einem staubigen Kleiderständer und Regalen mit Gesangbüchern ausgestattet war. Es war fensterlos; hier und da standen Öllampen in Nischen. Ein ganz gewöhnlicher Raum, dachte ich, bis ich hörte, wie Cal scharf die Luft einsog und ich sah, was er bereits entdeckt hatte.
Es war eine Obszönität.
Ich wage das kunstvoll gerahmte Bild nicht näher zu beschreiben als wie folgt: daß es im fleischigen Stil von Rubens gemalt war; daß es eine groteske Karrikatur einer Madonna mit dem Kind darstellte und daß im Hintergrund seltsame, schemenhafte Kreaturen krochen und krabbelten.
»Mein Gott«, flüsterte ich.
»Hier gibt es keinen Gott«, sagte Calvin, und seine Worte schienen in der Luft zu hängen. Als ich die Tür öffnete, die in die eigentliche Kirche führte, wurde der Geruch zum Miasma und nahezu überwältigend.
Im schwachen Dämmerlicht des Nachmittags erstreckten sich die Kirchenstühle geisterhaft bis hin zum Altar. Über ihnen befand sich eine hohe Kanzel aus Eichenholz und ein Narthex, aus dem Gold schimmerte.
Mit einem Laut, der fast wie ein Schluchzen klang, bekreuzigte sich der fromme Protestant Calvin, und ich folgte seinem Beispiel. Das, was da so golden schimmerte, war nämlich ein großes, prachtvoll geschmiedetes Kreuz — aber es war verkehrt herum aufgehängt, das Symbol der Satansmesse.
»Wir müssen ruhig bleiben«, hörte ich mich sagen. »Wir müssen ruhig bleiben, Calvin. Ganz ruhig.«
Aber ein Schatten hatte mein Herz getroffen, und ich fürchtete mich so sehr, wie ich mich noch nie in meinem Leben gefürchtet hatte.
Ich bin unter dem Schirm des Todes gegangen und habe gedacht, daß es nichts Dunkleres gibt. Aber ich habe mich geirrt. Es gibt etwas, das noch dunkler ist.
Wir gingen den Gang hinunter, und unsere Schritte hallten über uns und um uns herum. Wir hinterließen Spuren im Staub. Am Altar entdeckten wir andere kleinere Kunstgegenstände, aber ich will — und kann — meine Gedanken nicht auf ihnen verweilen lassen.
Ich machte mich daran, die Kanzel hinaufzusteigen.
»Tun Sie es nicht, Mr. Boone!« rief Cal plötzlich. »Ich habe Angst…«
Aber ich war bereits oben. Auf dem Pult lag ein großes Buch, das in Latein und in unleserlichen Runen geschrieben war, die für mein laienhaftes Auge nach druidisch oder vorkeltisch aussahen. Ich lege dem Brief eine Karte mit ein paar der Symbole bei, die ich aus dem Gedächtnis nachgezeichnet habe.
Ich schloß das Buch und betrachtete die Worte, die in das Leder geprägt waren: De Vermis Mysteriis. Meine Lateinkenntnisse sind zwar schon etwas angestaubt, reichten aber immer noch zur Übersetzung aus: Die Geheimnisse des Wurmes.
Als ich es berührte, schienen sich diese verfluchte Kirche und Calvins weißes, zu mir aufblickendes Gesicht vor mir zu drehen. Ich glaubte, leise, singende Stimmen zu hören, Stimmen, erfüllt von gräßlicher und heftiger Furcht. Ich zweifle nicht daran, daß es sich um eine Halluzination gehandelt hat — aber im selben Augenblick erfüllte ein sehr reales Geräusch die Kirche, das ich nicht anders als ein gewaltiges und grausiges Winden unter meinen Füßen beschreiben kann. Das Lesepult erzitterte unter meinen Fingern, und das entweihte Kreuz bebte an der Wand.
Wir gingen gemeinsam hinaus, Cal und ich, und überließen den Ort seiner eigenen Finsternis, und keiner von uns wagte, zurückzuschauen, bis wir die groben Planken überquert hatten, die über den Fluß führten. Ich will nicht sagen, daß wir die neunzehnhundert Jahre, die der Mensch gebraucht hat, um sich von einem gebückt gehenden und abergläubischen Wilden fortzuentwickeln, mit Füßen getreten haben, indem wir gerannt sind; aber ich wäre ein Lügner, wenn ich behaupten wollte, wir seien gemächlich davongeschlendert.
Dies ist meine Geschichte. Es ist überflüssig, daß Deine Genesung von der Angst überschattet wird, das Fieber habe mich wieder befallen; Cal kann all das, was ich Dir hier auf diesen Seiten berichtet habe, bestätigen, einschließlich des gräßlichen Geräusches.
Ich schließe nun und möchte nur noch sagen, daß ich wünsche, mit Dir sprechen zu können (weil ich weiß, daß ein Großteil meiner Verwirrung sofort von mir abfallen würde) und verbleibe als Dein Freund und Bewunderer
CHARLES.
17. Oktober 1850
Sehr geehrte Herren,
in der jüngsten Ausgabe Ihres Katalogs für Haushaltartikel (d. i. Sommer 1850) habe ich einen Artikel mit der Bezeichnung Rattengift gefunden. Ich möchte eine (1) 5-Pfund-Dose dieses Präparats zu dem angegebenen Preis von dreißig Cent ($ 0,30) erwerben. Rückporto füge ich bei. Bitte schicken Sie das Gewünschte an: Calvin McCann, Chapelwaite, Preacher’s Corners, Cumberland County, Maine.
Ich bedanke mich im voraus und verbleibe hochachtungsvoll
Ihr Calvin McCann.
19. Oktober 1850
Liebes Bones,
Entwicklungen von beunruhigender Natur!
Die Geräusche im Haus sind lauter geworden, und ich komme immer mehr zu dem Schluß, daß es keine Ratten sind, die innerhalb unserer Mauern hin- und herhuschen. Calvin und ich haben uns erneut auf die Suche nach verborgenen Schlupfwinkeln oder Gänge gemacht, aber nichts gefunden. Welch jämmerliche Figuren wir in einem von Mrs. Radcliffs Abenteuerromanen abgeben würden! Cal ist der Meinung, daß die Geräusche zum großen Teil aus dem Keller kommen, den wir aus diesem Grund morgen erforschen wollen. Das Wissen um die Tatsache, daß Cousin Stephens Schwester dort ihr unglückliches Ende fand, macht das Unternehmen nicht gerade angenehmer.
Ihr Porträt hängt übrigens in der oberen Galerie. Marcella Boone war nicht gerade eine Schönheit, wenn der Künstler sie richtig getroffen hat, und mir ist bekannt, daß sie nie geheiratet hat. Manchmal glaube ich, daß Mrs. Cloris recht hatte und dies wirklich ein schlechtes Haus ist. Gewiß hat es seinen früheren Einwohnern nichts Gutes gebracht.
Aber ich habe Dir noch mehr von unserer Mrs. Cloris zu berichten, denn ich habe heute ein zweitesmal mit ihr gesprochen. Da sie die vernünftigste Person ist, der ich bisher in Preacher’s Corners begegnet bin, habe ich sie heute nachmittag, nach einer unerfreulichen Begegnung, auf die ich gleich kommen werde, aufgesucht.
Das Holz sollte heute morgen geliefert werden, und als der Mittag kam und ging und es immer noch nicht da war, beschloß ich, meinen täglichen Spaziergang diesmal in den Ort zu machen. Mein Ziel war Thompson, der Mann, mit dem Cal das Geschäft abgeschlossen hatte.
Der heutige Tag war sonnig, die Luft erfüllt von der Frische eines strahlenden Herbsttages, und als ich Thompsons Gehöft erreichte (Cal, der zu Hause geblieben war, um weiter in Cousin Stephens Bibliothek herumzustöbern, hatte mir erklärt, wie ich dorthin kam), befand ich mich in der besten Laune, die die letzten Tage erlebt haben und war durchaus gewillt, Thompsons Unpünktlichkeit mit der Lieferung des Holzes zu verzeihen.
Das Gehöft war ein wildes Durcheinander aus Unkraut und halb verfallenen Gebäuden, die dringend eines neuen Anstrichs bedurft hätten: links von der Scheune grunzte ein enormes Schwein, das auf das Novemberschlachten wartete, und wälzte sich in einem schlammigen Pfuhl, und in dem schmutzigen Hof zwischen dem Wohnhaus und den Außengebäuden fütterte eine Frau in einem zerlumpten Gingankleid aus ihrer Schürze die Hühner. Als ich sie grüßte, drehte sie ihr blasses und ausdrucksloses Gesicht zu mir herum.
Die plötzliche Veränderung, die in ihrem Gesicht vorging, war erstaunlich; ihr Ausdruck wechselte von völliger, dummer Leere zu wildem Entsetzen. Ich kann mir nur vorstellen, daß sie mich für Stephen gehalten hat, denn sie hob die Hand, die Finger im Zeichen des bösen Blicks gespreizt, und stieß einen Schrei aus. Das Hühnerfutter fiel zu Boden, und die Hennen suchten gackernd das Weite.
Bevor ich auch nur einen Ton von mir geben konnte, kam ein Bär von einem Mann, der nichts weiter als Unterkleider am Leibe trug, mit einem Kleinkalibergewehr in der einen und einem Krug in der anderen Hand aus dem Haus gepoltert. Dem roten Licht in seinen Augen und seinem schwankenden Gang nach zu urteilen, hatte ich hier Thompson den Holzfäller in eigener Person vor mir.
»Ein Boone«, brüllte er. »Gott verfluche deine Augen!« Er ließ den Krug fallen, der davonrollte, und machte das Zeichen.
»Ich bin gekommen«, begann ich mit soviel Gleichmut, wie ich unter den gegebenen Umständen aufbringen konnte, »weil das Holz ausgeblieben ist. Laut der Abmachung, die Sie mit meinem Mann getroffen haben…«
»Gott verfluche auch deinen Mann, sage ich!« Erst jetzt bemerkte ich, daß er sich unter seinem lauten, polternderden Gehabe zu Tode fürchtete. Ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob er in seiner Aufregung nicht vielleicht tatsächlich auf mich schießen würde.
»Könnten Sie nicht, als Geste der Höflichkeit…« fing ich vorsichtig an.
»Gott verfluche deine Höflichkeit!«
»Nun gut«, antwortete ich mit soviel Artigkeit, wie ich aufbringen konnte. »Dann möchte ich mich verabschieden, bis Sie sich wieder etwas mehr in der Gewalt haben.« Mit diesen Worten wandte ich mich ab und machte mich auf den Weg, der zum Dorf führte.
»Komm ja nicht zurück!« kreischte er hinter mir her. »Bleib oben bei deinem Bösen! Verflucht! Verflucht! Verflucht!« Er warf mir einen Stein nach, der mich an der Schulter traf, weil ich ihm nicht die Genugtuung geben wollte, zur Seite zu springen.
Anschließend suchte ich Mrs. Cloris auf, fest entschlossen, wenigstens das Geheimnis um Thompsons feindselige Haltung zu lösen. Sie ist Witwe (Deine verflixten Kuppeleiversuche Du Dir in diesem Fall sparen; die Dame ist leicht fünfzehn Jahre älter als ich, und ich habe die Vierzig bereits hinter mir) und lebt allein in einem reizenden kleinen Haus direkt an der Schwelle des Ozeans. Sie war gerade dabei, ihre Wäsche aufzuhängen, als ich eintraf, und schien sich wirklich zu freuen, mich zu sehen, was ich mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, denn es ist unglaublich quälend, ohne verständlichen Grund als Paria behandelt zu werden.
»Mr. Boone«, begann sie nicht unfreundlich, »wenn Sie gekommen sind, um mich zu fragen, ob ich für Sie waschen kann, muß ich Ihnen sagen, daß ich nach September nichts annehme. Mein Rheumatismus plagt mich so schlimm, daß ich schon Mühe genug habe, meine eigene zu erledigen.«
»Ich wünschte, Wäsche wäre der Grund meines Besuchs. Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche, Mrs. Cloris. Ich muß alles wissen, was Sie mir über Chapelwaite und Jerusalem’s Lot sagen können, und warum mir die Menschen hier mit solcher Angst und solchem Mißtrauen begegnen!«
»Jerusalem’s Lot! Sie wissen also davon.«
»Ja, und ich habe dem Ort zusammen mit meinem Begleiter vor einer Woche einen Besuch abgestattet.«
»Gütiger Gott!« Sie wurde kreidebleich und begann zu schwanken, und ich streckte die Hand aus, um sie zu stützen. Ihre Augen rollten wild, und einen Augenblick lang war ich überzeugt, sie würde in Ohnmacht fallen.
»Es tut mir leid, Mrs. Cloris, wenn ich irgend etwas gesagt haben sollte…«
»Kommen Sie mit ins Haus«, unterbrach sie mich. »Sie müssen es erfahren. Herr im Himmel, die Tage des Bösen sind wieder angebrochen!«
Danach sagte sie nichts mehr, bis sie in ihrer sonnigen Küche einen starken Tee aufgebrüht hatte. Als er vor uns stand, blickte sie eine Weile nachdenklich auf den Ozean hinaus. Unwillkürlich wurde ihr Blick und der meine von der ins Meer vorragenden Landzunge von Chapelwaite Head angezogen, auf dem das Haus über dem Wasser auflagte. Das große Erkerfenster glitzerte in den Strahlen der im Westen stehenden Sonne wie ein Diamant. Der Anblick war herrlich, aber seltsam beunruhigend. Plötzlich drehte sie sich zu mir herum und verkündete heftig:
»Mr. Boone, Sie müssen Chapelwaite sofort verlassen!«
Ich war sprachlos vor Erstaunen.
»Es liegt ein böser Hauch in der Luft, seit Sie in Chapelwait eingezogen sind. In der letzten Woche — seit Sie den verfluchten Ort betreten haben — hat es Omen und böse Vorzeichen gegeben. Eine Glückshaube über dem Gesicht des Mondes, Ziegenmelker, die auf den Friedhöfen schlafen, ein mißgeborenes Kind. Sie müssen abreisen!«
Als ich endlich die Sprache wiedergefunden hatte, erwiderte ich so behutsam wie möglich: »Solche Dinge sind doch nur Phantasie, Mrs. Cloris. Das müssen Sie doch wissen.«
»Ist es etwa Phantasie, daß Barbara Brown ein Kind ohne Augen zur Welt gebracht hat? Oder daß Clifton Brockett im Wald hinter Chapelwaite, wo alles verdorrt und welk geworen ist, eine flache, eingedrückte Spur von fünf Fuß Breite entdeckt hat? Und können Sie, der Sie Jerusalem’s Lot besucht haben mit Sicherheit sagen, daß dort nichts mehr lebt?«
Ich war nicht fähig, ihr zu antworten; vor meinen Augen tauchte wieder die Szene in jener gräßlichen Kirche auf.
Sie verschränkte fest ihre knorrigen Finger, bemüht, sich zu beruhigen. »Ich weiß von diesen Dingen nur durch meine Mutter und deren Mutter. Kennen Sie die Geschichte Ihrer Familie: soweit sie sich auf Chapelwaite bezieht?«
»Vage. Das Haus ist seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Zuhause von Philip Boones Linie; sein Bruder Robert, mein Großvater, ließ sich nach einem Streit, bei dem es um gestohlene Papiere ging, in Massachusetts nieder. Über Philips Seite weiß ich nur wenig, außer daß der Schatten des Unglücks auf diesen Zweig der Familie gefallen ist, der sich vom Vater auf den Sohn und die Enkel erstreckt — Marcella starb in einem tragischen Unfall, und Stephen stürzte zu Tode. Es war sein Wunsch, daß Chapelwaite das Zuhause von mir und den meinen und der Riß in der Familie auf diese Weise wieder zusammengefügt werden sollte.«
»Er läßt sich nicht zusammenfügen«, flüsterte sie. »Sie wissen nichts über die ursprüngliche Auseinandersetzung?«
»Robert Boone wurde dabei überrascht, wie er etwas aus dem Schreibtisch seines Bruders stehlen wollte.«
»Philip Boone war verrückt«, erklärte sie. »Ein Mann, der mit dem Bösen Geschäfte machte. Das, was Robert Boone versuchte, wegzunehmen, war eine gottlose Bibel, die in den alten Sprachen geschrieben war — Latein; Druidisch und anderen. Ein Höllenbuch.«
»De Vermis Mysteriis.«
Sie zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag ins Gesicht bekommen hätte. »Sie kennen es?«
»Ich habe es gesehen …es berührt.« Wieder sah es so aus, als ob sie in Ohnmacht fallen würde. Sie hob eine Hand an den Mund, als wolle sie einen Aufschrei unterdrücken. »Ja, in Jerusalem’s Lot. Auf der Kanzel einer verderbten und entweihten Kirche.«
»Es ist also noch da; es ist immer noch da.« Sie schaukelte in ihrem Stuhl. »Ich hatte gehofft, Gott häte es in Seiner Weisheit in den dunkelsten Schlund der Hölle geschleudert.«
»Welche Verbindung hatte Philip Boone zu Jerusalem’s Lot?«
»Eine der Blutsverwandtschaft«, antwortete sie düster. »Das Mal des Tieres lag schon auf ihm, auch wenn er noch in den Kleidern des Lammes umherging. Und in der Nacht des 31. Oktober 1789 verschwand Philip Boone dann… und die gesamte Bevölkerung jenes verfluchten kleinen Dorfs mit ihm.«
Sie wollte nicht viel mehr sagen, und ich hatte den Eindruck, daß sie auch nicht viel mehr wußte. Mrs. Cloris wiederholte nur ihre inständige Bitte, ich möge abreisen, und gab als Grund irgend etwas von »Blut, das Blut ruft« an und murmelte etwas über »jene, die wachen und jene, die hüten«. Je weiter die Dämmerung fortschritt, desto erregter schien sie zu werden, und um sie zu beruhigen, versprach ich ihr, daß ich mir ihren Wunsch gründlich durch den Kopf gehen lassen würde.
Ich ging nach Hause durch länger werdende, düstere Schatten. Meine heitere Laune war gänzlich verflogen, und mein Kopf schwirrte vor Fragen, die mich auch jetzt noch quälen. Cal begrüßte mich mit der Neuigkeit, daß unsere Geräusche in den Wänden noch schlimmer geworden seien — wie ich selbst in diesem Moment bestätigen kann. Ich versuche, mir einzureden, daß ich nur Ratten höre, aber dann taucht vor meinen Augen das verängstigte, ernste Gesicht von Mrs. Cloris auf.
Der Mond ist über dem Meer aufgegangen, prall und aufgebläht, die Farbe wie Blut, besudelt er den Ozean mit einem verderblichen Schatten. Meine Gedanken kehren wieder zu jener Kirche zurück, und
(hier ist eine Zeile durchgestrichen)
Nein, das sollst Du nicht lesen, Bones. Es ist zu verrückt. Ich glaube, es ist Zeit, daß ich zu Bett gehe. Meine Gedanken gehen hinaus zu Dir.
Es grüßt Dich
Dein CHARLES.
(Das folgende stammt aus dem Tagebuch von Calvin McCann.)
20. Oktober ’50
Nahm mir heute morgen die Freiheit, den Verschluß, der das Buch zusammenhält, aufzubrechen; habe es getan, bevor Mr. Boone aufstand. Keinen Sinn; es ist alles verschlüsselt. Ich glaube, es ist ein einfacher Code. Vielleicht kann ich ihn genauso leicht brechen wie den Verschluß. Ich bin überzeugt, daß es ein Tagebuch ist; die Handschrift ist der von Mr. Boone merkwürdig ähnlich. Von wem mag dieses Buch sein, das in der hintersten Ecke dieser Bibliothek versteckt stand und verschlossen war? Es sieht alt aus, aber wie kann man das genau sagen? Die zersetzende Luft ist größtenteils von den Seiten ferngehalten worden. Mehr später, wenn ich Zeit habe; Mr. Boone drängt darauf, den Keller zu untersuchen. Habe Angst, daß diese schrecklichen Vorgänge zu viel für seine noch labile Gesundheit sind. Ich muß versuchen, ihn zu überzeugen —
Aber er kommt.
20. Oktober 1850
Bones,
ich kann nicht schreiben ich kann[sicJ noch nicht darüber schreiben ich ich ich
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
20. Oktober ‘50
Wie ich befürchtet habe, hat sich sein Gesundheitszustand wieder stark verschlechtert —
Gütiger Gott, unser Vater, der Du bist im Himmel!
Kann einfach nicht darüber nachdenken; und doch hat es sich unauslöschlich in mein Gehirn eingebrannt; jenes Grauen im Keller…!
Bin jetzt allein; halb neun; das Haus ist still, aber…
Fand ihn ohnmächtig über seinem Schreibtisch; er schläft noch immer; und doch, wie vortrefflich hat er sich während jener wenigen Augenblicke gehalten, als ich selbst wie gelähmt und betäubt dastand!
Seine Haut ist wächsern und kalt. Gott sei Dank, daß es nicht wieder das Fieber ist. Ich wage nicht, ihn zu bewegen oder ihn alleinzulassen, um ins Dorf zu gehen. Und wenn ich ginge, wer würde schon mit mir zurückkommen, um ihm zu helfen? Wer würde dieses verfluchte Haus betreten?
Der Keller, mein Gott! Diese Kreaturen im Keller, die dieses Haus beherbergt!
22. Oktober 1850
Liebes Bones,
wenn auch schwach, so bin ich endlich, nach sechsunddreißig Stunden Bewußtlosigkeit, wieder ich selbst. Wieder ich selbst…welch ein grausamer und bitterer Scherz! Ich werde nie wieder ich selbst sein, nie wieder. Ich bin dem Wahnsinn und dem Grauen begegnet, wie es sich kein Mensch vorstellen kann. Und es ist noch nicht zu Ende.
Ich glaube, wenn Cal nicht wäre, würde ich meinem Leben in dieser Minute ein Ende machen. Er ist die einzige Insel der geistigen Normalität inmitten all dieses Wahnsinns.
Du sollst alles wissen.
Wir hatten uns für unsere Erkundung des Kellers mit Kerzen versorgt, die einen starken Schein warfen, der hell genug war — und wie hell genug! Cal versuchte, mir das Unternehmen auszureden, indem er meine kürzliche Krankheit anführte und meinte, daß wir wahrscheinlich allerhöchsten ein paar fette Ratten finden würden, für die wir Gift auslegen konnten.
Ich blieb jedoch bei meinem Entschluß, worauf Calvin seufzte und antwortete: »Dann tun Sie, was Sie nicht lassen können, Mr. Boone.«
Man erreicht den Keller mittels einer Falltur in der Kuche (die Calvin seitdem, wie er mir versichert, fest verbarrikadiert hat), und es gelang uns nur unter großer Mühe und Anstrengung, sie hochzuheben.
Ein überwältigender Gestank stieg aus der Dunkelheit zu uns herauf, nicht unähnlich dem, der das verlassene Dorf jenseits des Royal River durchzogen hatte. Die Kerze in meiner Hand warf ihr Licht auf eine steile Treppe, die hinunter in tiefe Schwärze führte. Die Stufen befanden sich in einem entsetzlichen Zustand — an einer Stelle fehlte eine ganz, und dort gähnte ein schwarzes Loch. Es war unschwer zu erkennen, wie die unglückliche Marcella hier möglicherweise ihr Ende gefunden hatte.
»Seien Sie vorsichtig, Mr. Boone!« warnte mich CaJ, und ich versicherte ihm, daß ich seinen Rat ganz bestimmt beherzigen würde, worauf wir uns an den Abstieg machten.
Der Boden bestand aus Erde, die Wände waren aus hartem Granit. Es war kaum feucht hier unten, und der Keller sah ganz und gar nicht nach einem Paradies für Ratten aus, denn es gab nichts von der Art von Dingen, in denen Ratten gern ihre Nester bauen, wie alte Schachteln, ausrangierte Möbelstücke, Stapel von Papier und dererlei. Wir hoben unsere Kerzen höher und gewannen so einen kleinen Lichtkreis, konnten aber immer noch recht wenig sehen. Der Boden fiel allmählich ab und schien unter dem großen Wohnzimmer und dem Eßzimmer herzulaufen — das heißt, nach Westen. Dies war die Richtung, in die wir gingen. Alles war totenstill. Der Gestank in der Luft wurde zusehends intensiver, und. die Dunkelheit um uns herum schien dicht wie Watte, als sei sie neidisch auf das Licht, das ihr nun nach so vielen Jahren unbestrittener Herrschaft vorübergehend die Macht nahm.
Auf der anderen Seite wurden die Granitwände von poliertem Holz abgelöst, das absolut schwarz und ohne jede reflektierende Eigenschaft zu sein schien. Hier endete der Keller in einer Art Alkoven, der sich an den Hauptraum anschloß. Er war in einem Winkel angelegt, der es einem unmöglich machte, in ihn hineinzusehen, ohne um die Ecke zu treten.
Das taten Calvin und ich nun.
Es war, als ob sich ein böses Gespenst dieser bedrückenden und finsteren Vergangenheit vor uns erhoben hätte. In diesem Alkoven stand ein einzelner Stuhl, und über ihm hing von einer Öse in einem der starken Deckenhalken eine vermoderte Schlinge herab.
»Hier also hat er sich erhängt«, murmelte Cal. »Mein Gott!«
»Ja …und die Leiche seiner Tochter lag hinter ihm, am Fuß der Treppe.«
Cal setzte zu einer Bemerkung an; dann sah ich, wie sein Blick auf einen Punkt hinter mir herumfuhr, und seine Worte verwandelten sich in einem Schrei.
Wie kann ich den Anblick beschreiben, Bones, der sich unseren Augen bot? Wie kann ich Dir die gräßlichen Bewohner schildern, die unsere Mauern beherbergen?
Die andere Wand schwang zurück, und aus der Dunkelheit dahinter tauchte ein Gesicht auf — ein Gesicht mit Augen, die so schwarz waren wie der Styx. Der Mund war zu einem zahnlosen, qualvollen Grinsen aufgerissen, und eine gelbe, verweste Hand streckte sich uns entgegen. Es stieß einen gräßlichen, quäkenden Laut aus und machte einen schlurfenden Schritt in unsere Richtung. Das Licht meiner Kerze fiel auf —
Und jetzt sah ich den bläulichen Abdruck eines Stricks um seine Hals!
Dahinter rührte sich plötzlich noch etwas, eine Kreatur, von der ich bis zu jenem Tag träumen werde, an dem alle Träume aufhören: ein Mädchen mit einem bleichen, vermoderten Gesicht, das zu einem Totengrinsen verzogen war und dessen Kopf in einem wahnwitzigen Winkel auf ihren Schultern saß.
Sie wollten uns; ich weiß es. Und ich weiß, daß sie uns in die Dunkelheit gezerrt und zu den ihren gemacht hätten, wenn ich nicht meine Kerze genau auf das Wesen in der Öffnung geschleudert hätte, und den Stuhl unter der Schlinge hinterher.
Was dann folgte, ist ein dunkles Wirrwarr. Mein Geist hat sich davor verschlossen. Ich erwachte, wie ich schon sagte, in meinem Zimmer, mit Cal an meiner Seite.
Wenn ich könnte, würde ich im Nachthemd, mit fliegenden Schößen, aus diesem Haus des Schreckens fliehen. Aber ich kann nicht. Ich bin eine Figur in einem tieferen, noch finsteren Drama geworden. Frage mich nicht, woher ich es weiß; ich weiß es einfach. Mrs. Cloris hatte recht, als sie davon sprach, daß Blut Blut ruft; und wie furchtbar recht hatte sie auch, als sie von jenen sprach, die wachen und jenen, die hüten. Ich fürchte, daß ich eine Macht geweckt habe, die ein halbes Jahrhundert in dem finsteren Dorf Salem’s Lot geschlafen hat, eine Macht, die meine Vorfahren getötet und sie wie Nosferatu, der Untote, zu ihren unseligen Sklaven gemacht hat. Aber ich hege noch viel schlimmere Befürchtungen, Bones, doch noch kenne ich erst einen Teil. Wenn ich nur wüßte… wenn ich nur alles wüßte.
CHARLES.
Postskriptum — Ich schreibe dies nur für mich auf, denn wir sind von Preacher’s Corners isoliert. Ich wage mit meinem Mal nicht, dorthin zu gehen, und Calvin will mich nicht alleinlassen. Vielleicht, wenn Gott gnädig ist, erreicht Dich dieser Brief irgendwie.
C.
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
23. Oktober ‘50
Er ist heute kräftiger; wir haben kurz über die Erscheinungen im Keller gesprochen und sind beide einer Meinung, daß sie weder Halluzinationen noch übersinnliche Erscheinungen, sondern real gewesen sind. Ob Mr. Boone, wie ich, glaubt, daß sie verschwunden sind? Vielleicht; die Geräusche sind jedenfalls verstummt. Doch noch ist alles finster und bedrohlich, in einen dunklen Mantel gehüllt. Es scheint, als warteten wir in der trügerischen Ruhe vor dem Sturm…
Habe in einem der oberen Schlafzimmer einen Stapel Papiere gefunden, die in der untersten Schublade eines alten Rollpults lagen. Einige Briefe und quittierte Rechnungen bringen mich zu dem Schluß, daß dies das Zimmer von Robert Boone gewesen sein muß. Der interessanteste Fund aber sind ein paar Notizen auf der Rückseite einer Anzeige für Biberpelzmützen für Herren. Zuoberst steht:
Selig die Demütigen.
Darunter steht folgendes, das augenscheinlich keinen Sinn ergibt:
skldghiedmmhtsgan
eemiodreresüaided
Ich glaube, daß dies der Schlüssel für das verschlossene und chiffrierte Buch in der Bibliothek ist. Der Code ist tatsächlich einfach und wurde im Unabhängigkeitskrieg benutzt. Wenn man die »Nullen« aus der zweiten Notiz streicht, erhält man dies hier:
s l g i d m t g n
e i d e e ü i e
Liest man die beiden Zeilen nach unten und oben statt waagerecht, kommt man auf das ursprüngliche Zitat aus den Seligpreisungen.
Bevor ich dies Mr. Boone zeigen kann, muß ich erst wissen, was in dem Buch steht…
24. Oktober 1850
Lieber Bones,
etwas Überraschendes ist passiert: Cal, der ja immer so lange schweigt, bis er seiner absolut sicher ist (ein seltener und bewundernswerter Charakterzug!), hat das Tagebuch meines Großvaters Robert gefunden. Die Aufzeichnungen waren in einem Code geschrieben, den Cal selbst entschlüsselt hat. Er behauptet in seiner Bescheidenheit, daß er die Entdeckung nur einem Zufall zu verdanken habe, aber ich vermute eher, daß die Lösung mehr auf Ausdauer und harte Arbeit zurückzuführen ist.
Wie auch immer, welch ein düsteres L1cht wirft es auf unsere Geheimnisse hier!
Der erste Eintrag stammt vom 1. Juni 1789, der letzte vom 27. Oktober 1789 — vier Tage vor der Katastrophe in Jerusalem’s Lot, von der Mrs. Cloris gesprochen hat. Das Buch erzählt die Geschichte einer wachsenden Besessenheit — nein, Wahnsinn — und macht in schrecklicher Weise die Verbindung zwischen Großonkel Philip, Jerusalem’s Lot und dem Buch deutlich, das in jener entweihten Kirche ruht.
Das Dorf ist laut Robert Boone älter als Chapelwaite (das 1782 erbaut wurde) und Preacher’s Corners (das damals den Namen Preacher’s Rest trug und 1741 gegründet wurde); es wurde 1710 von einer Splittergruppe des puritanischen Glaubens gegründet, eine Sekte, deren Oberhaupt ein streng religiöser Fanatiker namens James Boon war. Wie überrascht ich war, als ich diesen Namen las! Ich glaube, es gibt kaum einen Zweifel daran, daß dieser Boon mit meiner Familie verwandt ist. Mrs. Cloris hatte absolut recht mit ihrer abergläubischen Behauptung, daß die familiäre Blutlinie in diesem Fall von entscheidender Bedeutung ist, und ich denke mit Entsetzen an ihre Antwort auf meine Frage nach Philip und seiner Verbindung zu Salem’s Lot zurück. »Eine der Blutsverwandtschaft«, hatte sie gesagt, und ich fürchte, daß es tatsächlich so ist.
Es entstand eine feste Niederlassung um die Kirche herum, in der Boon predigte — oder hofhielt. Mein Großvater deutet an, daß er auch mit einer Reihe von Damen der Gemeinde Verkehr hatte und ihnen versicherte, daß dies Gottes Weg und Wille sei. Als Folge davon entwickelte sich die Gemeinde zu einer Anomalie, wie es sie nur in jenen isolierten und merkwürigen Tagen gegeben haben konnte, als der Glaube an Hexen und die Jungfrauengeburt Hand in Hand existierten: ein durch Inzucht weitgehend degeneriertes Dorf, das von einem halb verrückten Prediger beherrscht wurde, dessen beide Evangelien die Bibel und de Goudges unseliges Buch Wohnsitz der Dämonen waren; eine Gemeinde, in der regelmäßig die Riten des Exorzismus abgehalten wurden; eine Gemeinde des Inzests, des Wahnsinns und der Mißgeburten, die jene Sünde so häufig begleiten. Ich vermute (was wohl auch Robert Boone vermutet hat), daß einer von Boons unehelichen Nachkommen Jerusalem’s Lot verlassen hat (oder heimlich fortgeschafft worden ist), um sein Glück im Süden zu suchen — und so unsere jetzige Linie begründet hat. Nach dem, was mir von meiner Familie bekannt ist, soll unsere Sippe aus jenem Teil von Massachusetts stammen, der jüngst der souveräne Staat Maine geworden ist. Mein Urgroßvater, Kenneth Boone, wurde infolge des damals florierenden Pelzhandels zum reichen Mann. Mit seinem Geld, das im Laufe der Zeit und durch kluge Investitionen weiter vermehrt wurde, wurde dieser Familiensitz 1763, lange nach seinem Tod, gebaut. Es waren seine Söhne, Philip und Robert, die Chapelwaite bauten. Blut ruft Blut, hat Mrs. Cloris gesagt. Könnte es sein, daß Kenneth der Sohn Von James Boon war, der vor dem Wahnsinn seines Vaters und des Dorfes floh, nur damit dann seine Söhne, die von all dem nichts wußten, keine zwei Meilen vom Ursprung der Boons entfernt den Familiensitz der Boones bauten? Wenn dies so ist, scheint es dann nicht so, daß uns eine mächtige und unsichtbare Hand geleitet hat?
Laut Roberts Tagebuch war James Boon 1789 bereits uralt — und das muß er tatsächlich gewesen sein. Angenommen, er war fünfundzwanzig, als das Dorf gegründet wurde, dann müßte er damals einhundertvier gewesen sein, ein ungewönliches Alter. Das folgende ist wörtlich aus Robert Boones Tagebuch zitiert:
___________
4. August 1789
Heute bin ich zum erstenmal diesem Mann begegnet, von dem Bruder so gefährlich gefesselt ist; ich muß zugeben, daß diesem Boon eine starke Anziehungskraft ausgeht, die mich in höchstem Maße beunruhigt. Er ist wahrhaft ein Alter, mit weißem Bart und bekleidet mit einer schwarzen Soutane, die mir irgendwie obszön vorkam. Noch beunruhigender aber war die Tatsache, daß er von Frauen umgeben war, so wie ein Sultan von seinem Harem; P. hat mir versichert, daß er noch aktiv sei, obwohl er mindestens achtzig sein muß …
Das Dorf selbst hatte ich erst ein einziges Mal zuvor besucht, und werde es auch nicht wieder besuchen; seine Straßen sind still und erfüllt von der Angst, die der alte Mann von seiner Kanzel verbreitet. Ich fürchte auch, daß sich Gleiches mit Gelichem fortgepflanzt hat, da sich so viele der Gesichter ähnlich sind. Wohin ich mich auch wandte, immer glaubte ich, mich dem Gesicht des alten Mannes gegenüberzusehen…sie sind alle so blaß, so stumpfsinnig, als seien sie aller Lebenskraft beraubt. Ich bin Kindern ohne Augen und ohne Nase begegnet, Frauen die weinten und lallten und ohne Grund zum Himmel hinaufzeigten und die wirres Zeug aus der Bibel und über Dämonen redeten …
P. wollte, daß ich zum Gottesdienst blieb, aber der Gedanke an jenen finsteren Alten auf der Kanzel vor der von Inzucht gezeichneten Bevölkerung dieses Dorfes stieß mich ab, und ich entschuldigte mich unter einem Vorwand …
___________
Die Einträge vor und nach diesem Zitat berichten von Philips wachseder Faszination von James Boon. Am 1. September 1789 wurde Philip getauft und als Mitglied in James Boons Kirche aufgenommen. Sein Bruder schreibt: »Ich bin sprachlos vor Erstaunen und Entsetzen — mein Bruder hat sich vor meinen eigenen Augen verändert — es scheint sogar, daß er allmählich dem abscheulichen Mann ähnlich wird.«
Das Buch wird erstmalig am 23. Juli erwähnt. Robert bezieht sich im Eintrag von diesem Tag nur kurz darauf: »P. kam heute abend mit, wie ich fand, einem ziemlich verstörten Audruck aus dem kleineren Dorf zurück. Wollte nicht sprechen, bis es Schlafenszeit war. Dann erklärte er, daß sich Boon nach einem Buch mit dem Titel Die Geheimnisse des Wurms erkundigt habe. Um P. einen Gefallen zu tun, habe ich ihm versprochen, eine Anfrage wegen des Buchs an Johns & Goodfellow zu schicken; P. ist fast hündisch dankbar.«
Am 12. August diese Notiz: »Bekam heute zwei Briefe mit der Post…einen von Johns&Goodfellow. Das Buch, für das sich P. interessiert, ist ihnen bekannt. Es existieren nur fünf Exemplare von ihm in diesem Land. Der Brief ist relativ kühl. Wirklich merkwürdig, wo ich Henry Goodfellow schon seit so vielen Jahren kenne.«
___________ 13. August
P. wahnsinnig aufgeregt über Goodfellows Brief; will sagen, warum. Meinte nur, daß Boon außerordentlich viel daran läge, ein Exemplar zu bekommen. Kann mir nicht vorstellen, warum, da es sich dem Titel nach anscheinend nur um eine harmlose Abhandlung über Gartenbau handelt…
Mache mir Sorgen wegen Philip; er wird mir mit jedem Tag fremder. Ich wünsche, wir wären nicht nach Chapelwaite zurückgekehrt. Der Sommer ist heiß, drückend und erfüllt von düsteren Vorzeichen…
Robert erwähnt das infame Buch nur noch zweimal in seinem Tagebuch (offensichtlich hat er bis zuletzt dessen wirkliche Bedeutung nicht erkannt). Aus dem Eintrag vom 4. September:
Ich habe Goodfellow gebeten, als P.s Vermittler in der Kaufsache zu fungieren, obwohl mich mein gesunder Verstand laut davor warnt. Was nützen alle Bedenken? Hat er nicht eigenes Geld, wenn ich mich weigern würde? Außerdem habe ich Philip das Versprechen abringen können, als Gegenleistung
diese unselige Taufe zu widerrufen… aber er ist so hektisch, fast fieberhaft; ich traue ihm nicht. Ich bin völlig ratlos …
___________
Und schließlich, am 16. September:
Das Buch ist heute eingetroffen, mit einem Brief von Goodfellow, in dem er mir mitteilt, daß er keine Geschäfte mehr mit mir machen wolle…P. war über alle Maßen erregt; riß mir das Buch einfach aus den Händen. Es ist in einem Mischmasch aus Latein und einer Runenschrift geschrieben, die ich nicht lesen kann. Es kam mir fast warm vor, als ich es anfaßte, und schien in meinen Händen zu vibrieren, als ob es eine gewaltige Macht enthielte…Ich erinnerte P. an sein Versprechen, die Taufe zu widerrufen, doch er stieß nur ein häßliches, irres Lachen aus, schwenkte das Buch vor meinem Gesicht herum und schrie immer wieder: »Wir haben es! Wir haben es! Der Wurm! Das Geheimnis des Wurms!«
Er ist jetzt fort, ich nehme an, zu seinem verrückten Meister, und habe ihn heute noch nicht wieder gesehen…
___________
Das Buch wird danach nicht mehr erwähnt, aber ich habe gewisse Schlußfolgerungen gezogen, die zumindest wahrscheinlich scheinen. Erstens, daß dieses Buch, wie Mrs. Cloris gesagt hat, der Grund für den Streit zwischen Robert und Philip war; zweitens daß es eine Quelle böser Zauberei ist und möglicherweise druidischen Ursprungs (viele der druidischen Blutrituale wurden von den Römern, die Britannien eroberten, im Namen der Wissenschaft schriftlich festgehalten); und drittens, daß Boon und Philip die Absicht hatten, das Buch für ihre Zwecke zu benutzen. Vielleicht hatten sie auf irgendeine verdrehte Weise Gutes im Sinn, aber ich bezweifle es. Ich glaube, daß sie sich schon lange zuvor irgendwelchen anonymen Mächten, die hinter dem Rand des Universums existieren, verschrieeben hatten; Mächte, die vielleicht außerhalb der Zeitstrukture existieren. Die letzten Einträge in Robert Boones Tagebuch verleihen diesen Mutmaßungen einen düsteren Schein der Bestätigung, und ich möchte sie für sich sprechen lassen:
Ein entsetzliches Geschwätz heute in Preacher’s Corners. Frawley, der Schmied, ergriff mich am Arm und wollte wissen, »was Ihr Bruder und dieser verrückte Antichrist da oben vorhaben«. Frömmler Randall redet von Zeichen am Himmel, die ein großes, nahe bevorstehendes Unglück ankündigen. Es ist ein Kalb mit zwei Köpfen geboren worden.
Was mich betrifft, so weiß ich nicht, was bevorsteht; vielleicht, daß mein Bruder wahnsinnig wird. Sein Haar ist praktisch über Nacht grau geworden, und seine Augen sind große, blutunterlaufene Kreise, aus denen das wohltuende Licht eines gesunden Geistes gewichen zu sein scheint. Er grinst und flüstert vor sich hin und hat, aus einem Grund, der nur ihm bekannt ist, angefangen, in unseren Keller hinunterzusteigen, wenn er nicht in Jerusalem’s Lot ist.
Die Ziegenmelker sammeln sich um das Haus und auf dem Rasen; ihre vereinten Rufe aus dem Nebel vermischen sich mit dem Donnern des Meeres zu einem schauerlichen Kreischen das jeden Gedanken an Schlaf ausschließt.
___________
27. Oktober 1789
Bin heute abend P. gefolgt, als er sich auf den Weg nach Jerusalem’s Lot machte, wobei ich genügend Abstand hielt, um nicht entdeckt zu werden. Die verfluchten Ziegenmelker flogen in Schwärmen durch den Wald und erfüllten die Luft mit einem tödlichen, unheilvollen Gesang. Ich wagte nicht, die Brücke zu überschreiten; der Ort lag völlig im Dunkeln, mit Ausnahme der Kirche, die von einem geisterhaften, rötlichen Leuchten erhellt wurde, das die hohen, spitzen Fenster in die Augen der Hölle verwandelte. Stimmen hoben und senkten sich in einer Satanslitanei, manchmal erklang Lachen, manchmal Schluchzen. Der Boden unter meinen Füßen schien zu ächzen und sich zu heben, als trüge er ein schreckliches Gewicht, und ich floh, verwirrt und voller Entsetzen; die höflischen, kreischenden Schreie der Ziegenmelker klangen schrill in meinen Ohren, als ich durch den von Schatten erfüllten Wald rannte.
Alles strebt dem Höhepunkt zu, den ich noch nicht kenne. Ich wage nicht zu schlafen, aus Angst vor den Träumen, die kommen, aber ich will auch nicht wach bleiben, aus Angst vor dem Schrecklichen, das vielleicht kommt. Die Nacht ist voll greulicher Geräusche, und ich fürchte—
Und doch drängt es mich, wieder hinauszugehen, zu beobachten und zu erfahren. Es scheint, als ob Philip — und der alte Mann mich rufen.
Die Vögel
verflucht verflucht verflucht
___________
Hier endet das Tagebuch von Robert Boone.
Hast Du bemerkt, Bones, daß er am Schluß davon spricht, daß Philip selbst ihn zu rufen schien? Meine Schlußfolgerung basiert auf diesen Zeilen, auf dem, was Mrs. Cloris und die anderen gesagt haben, aber in erster Linie auf den Horrorwesen im Keller, die tot sind und dennoch leben. Unsere Linie ist eine unselige, Bones. Ein Fluch liegt auf uns, der sich nicht begraben lassen will; er lebt ein schreckliches Schattenleben in diesem Haus und jenem Dorf. Und wieder hat der Zyklus seinen Höhepunkt fast erreicht. Ich bin der letzte vom Blute der Boones. Ich fürchte, daß etwas dies weiß und daß ich mich inmitten eines bösen Bestrebens befinde, das sich mit dem gesunden Verstand nicht fassen läßt. Der Tag der Wiederkehr ist Abend von Allerheiligen, das ist heute in einer Woche.
Wie soll ich weiter verfahren? Wärst Du nur hier bei mir, um mir Rat zu geben und mir zur Seite zu stehen! Wärst Du doch nur hier!
Ich muß alles wissen; ich muß zu dem verlassenen Dorf zurückgehen. Möge Gott mir beistehen!
CHARLES.
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
25. Oktober ‘50
Mr. Boone hat fast den ganzen Tag geschlafen. Sein Gesicht ist blaß und schmal. Ich fürchte, daß ein Wiederauftreten des Fiebers unvermeidlich ist.
Als ich seine Wasserkaraffe mit frischem Wasser auffüllte, entdeckte ich zwei Briefe an Mr. Granson in Florida. Er hat vor nach Jerusalem’s Lot zurückzugehen; es wird sein Tod sein, wenn ich es zulasse. Ob ich es wagen kann, heimlich nach Preacher’s Corners zu gehen und einen Wagen zu mieten? Ich muß, was aber, wenn er erwacht? Wenn ich bei meiner Rückkehr entdecken müßte, daß er fort ist?
Die Geräusche in unseren Wänden haben wieder angefnagen. Gott sei Dank schläft er noch! Mein Geist schreckt zurück vor dem Gedanken daran, was sie bedeuten.
___________
Später
Ich habe ihm auf einem Tablett sein Abendessen gebracht. Er hat vor, später aufzustehen, und ich weiß, was er plant, trotz seiner Ausflüchte. Dennoch werde ich nach Preacher’s Corners gehen. Ich habe bei meinen Sachen noch ein paar der Schlafmittel, die er während seiner jüngsten Krankheit verschrieben bekommen hat; er hat eins davon ahnungslos mit dem Tee zu sich genommen. Jetzt schläft er wieder.
Der Gedanke, ihn mit den Wesen alleinzulassen, die hinter unseren Wänden rumoren, beängstigt mich, doch der Gedanke, ihn noch einen Tag länger innerhalb dieser Wände zu lassen, beängstigt mich noch viel mehr. Ich habe ihn eingeschlossen.
Gott gebe, daß er dort immer noch liegt und schläft, wenn ich mit dem Wagen zurückkehre!
___________
Noch später
Gesteinigt! Sie haben mich gesteinigt wie einen wilden, tollwütigen Hund! Diese Monster, diese Teufel, die sich Menschen nennen. Wir sind Gefangene hier—
Die Vögel, die Ziegenmelker, haben angefangen, sich zu sammeln.
26. Oktober 1850
Lieber Bones,
der Abend bricht bald herein, und ich bin soeben aufgewacht, nachdem ich die letzten vierundzwanzig Stunden fast ganz verschlafen habe. Obwohl Cal nichts gesagt hat, vermute ich, daß er mir ein Schlafpulver in den Tee gegeben hat, weil er wußte, was ich vorhatte. Er ist ein guter und treuer Freund, der nur Beste für mich will, und deshalb werde ich nichts sagen.
Mein Entschluß steht jedoch fest. Morgen ist der Tag. Ich bin ruhig und entschlossen, aber ich meine auch, wieder den tückischen Beginn des Fiebers zu spüren. Wenn es so ist, dann muß es morgen geschehen. Vielleicht wäre es heute abend noch besser, doch nicht einmal das Feuer der Hölle selbst könnte mich dazu bewegen, nach Anbruch der Abenddämmerung noch einen Fuß in jenes Dorf zu setzen.
Sollte ich nicht mehr schreiben, möge Gott Dich segnen und beschützen.
CHARLES.
Postskriptum — Die Vögel haben ihr Geschrei begonnen, und die fürchterlichen‘ schlurfenden Geräusche haben wieder angefangen. Cal glaubt, ich würde es nicht hören, aber ich höre es doch.
C.
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
27. Oktober ‘50, 5 Uhr morgens
Er will sich nicht von seinem Entschluß abbringen lassen. Also gut. Ich werde mit ihm gehen.
4. November 1850
Lieber Bones,
bin schwach, doch geistig klar. Ich bin mir nicht sicher, welches Datum wir heute haben, aber nach dem Stand der Gezeiten und dem Sonnenuntergang in meinem Kalender müßte es stimmen. Ich sitze an meinem Schreibtisch, von wo aus ich Dir zum erstenmal aus Chapelwaite geschrieben habe, und schaue auf die dunkle See hinaus, über der die letzten Lichtsstrahlen rasch schwächer werden. Ich werde nie wieder die Sonne sehen. Heute ist meine Nacht; ich werde sie den Schatten überlassen, die da sind.
Wie das Meer gegen die Felsen schlägt! Es schleudert Wolkenfetzen aus Wasserschaum hoch in den dunkler werdenden Himmel und läßt den Boden unter meinen Füßen erzittern. Im Fensterglas sehe ich mein Spiegelbild, das Gesicht blaß wie das eines Vampirs. Seit dem siebenundzwanzigsten Oktober bin ich ohne Nahrung und wäre auch ohne Wasser gewesen, hätte Cal nicht an jenem Tag die Karaffe neben mein Bett gestellt.
O, Cal! Er ist nicht mehr, Bones. Er ist an meiner Stelle gestorben, an der Stelle dieses armen Teufels mit zündholdürren Armen und einem Totenschädel, dessen Spiegelbild das dunkle Glas zurückwirft. Und döch ist er vielleicht der Glücklichere von uns beiden, denn ihn quälen keine Alpträume, wie sie mich in den letzten Tagen gepeinigt haben — merkwürdige verzerrte Formen und Gestalten, die in den Traumkorridoren des Deliriums lauern. Auch jetzt zittert meine Hand; ich habe die Seite mit Tintenflecken beschmiert.
Calvin stellte mich an jenem Morgen, gerade als ich mich davonschleichen wollte, zur Rede — und ich hatte gedacht, ich wäre so schlau gewesen. Ich hatte ihm erklärt, ich sei zu dem Schluß gelangt, daß wir abreisen müßten, und ihn gebeten, nach Tandrell zu gehen, das ungefähr zehn Meilen entfernt liegt und wo wir nicht so bekannt waren, um einen Einspänner zu mieten. Er war einverstanden, und ich sah ihm nach, wie er über die Küstenstraße davonging. Als er außer Sicht war, machte ich mich rasch fertig, zog Mantel und Schal über (denn das Wetter war frostig geworden; in der scharfen Brise jenes Morgens lag der erste Hauch des bevorstehenden Winters). Für einen kurzen Augenblick wünschte ich mir, jetzt ein Gewehr zu haben, doch dann mußte ich über meinen Wunsch lachen. Was nützt schon ein Gewehr in einer solchen Sache?
Ich verließ das Haus durch die Vorratskammer. Draußen blieb ich noch einmal stehen, um einen letzten Blick auf das Meer und den Himmel zu werfen; um noch einmal frische Luft einzuatmen, denn schon sehr bald würde sie von jenem gräßliche Gestank abgelöst werden; um eine Möwe zu betrachten, die suchend unter den Wolken kreiste.
Ich drehte mich um — und sah mich Calvin McCann gegenüber.
»Sie gehen nicht allein«, sagte er, und ich habe sein Gesicht noch nie so entschlossen gesehen wie in diesem Moment.
»Aber Calvin —« begann ich.
»Nein, kein Wort mehr! Wir gehen zusammen und tun zusammen, was getan werden muß, oder ich bringe Sie mit Gewalt ins Haus zurück. Sie sind nicht gesund, und Sie dürfen nicht allein gehen.«
Ich kann unmöglich den Widerstreit der Gefühle beschreiben, die sich meiner bemächtigten: Verwirrung, Verstimmung, Dankbarkeit — doch das stärkste von allen war Liebe.
Schweigend machten wir uns auf den Weg, vorbei an dem Gartenaus und der Sonnenuhr und über die überwucherte Grenze des Besitzes in den Wald hinein. Alles war totenstill — kein einziger Vogel sang, und nicht einmal eine Waldgrille zirpte. Die Welt schien in einen Mantel des Schweigens gehüllt zu sein. Da war nur der allgegenwärtige Geruch nach Salz und ein ferner, schwacher Geruch nach Holzrauch. Der Wald war eine Schwelgerei in leuchtenden Farben, doch für mich schien Scharlachrot alles andere zu überdecken.
Bald war der Geruch nach Salz verschwunden, und seine Stelle nahm ein anderer, bedrohlicherer Geruch ein; jener Geruch der Fäulnis, den ich schon erwähnte. Als wir den Steg erreichten, der über den Royal führt, wartete ich darauf, daß Cal erneut versuchen würde, mir mein Vorhaben auszureden, doch er sagte nichts. Er blieb stehen, blickte auf jenen düsteren Kirchturm, der dem blauen Himmel über ihm zu spotten schien und dann auf mich. Wir setzten unseren Weg fort.
Mit raschen, aber angsterfüllten Schritten näherten wir uns James Boons Kirche. Die Tür stand von unserem letzten Besuch noch ein Stück offen, und dahinter gähnte tiefe Finsternis. Als wir die Stufen hinaufstiegen, hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz schwer wie Blei; meine Hand zitterte, als ich die Hand nach dem Griff ausstreckte und die Tür aufzog. Der Geruch, der uns aus dem Innern entgegenströmte, war intensiver und übler als je zuvor.
Wir betraten den dämmrigen Vorraum und begaben und ohne zu zögern in den Hauptraum.
Ein Bild der Verwüstung bot sich uns.
Irgend etwas Gewaltiges war hier an der Arbeit gewesen und hatte wild gewütet. Kirchenstühle waren umgestürzt und wie Mikadostäbchen übereinandergeworfen worden. Das unselige Kreuz lag an der Ostwand, und ein gezacktes Loch im Putz zeugte von der Gewalt, mit der es durch die Luft geschleudert worden war. Die Öllampen waren heruntergerissen worden, und der Geruch nach Walöl vermischte sich mit jenem schrecklichen Gestank, der über dem Dorf lag. Und den Mittelgang hinunter lief, wie ein gespenstischer Hochzeitsteppich, eine schwarze Schleimspur, die von dunklen Blutfäden durchzogen war. Unsere Augen folgten ihr bis zur Kanzel — soweit wir sehen konnten, war sie allein von der Zerstörung ausgenommen worden. Auf ihr lag der Körper eines geschlachteten Lamms, das uns über jenes gotteslästerliche Buch hinweg aus glasigen Augen anstarrte.
»Mein Gott«, flüsterte Calvin.
Wir traten näher, wobei wir vermieden, mit dem Schleim auf dem Boden in Berührung zu kommen. Die Wände warfen das Geräusch unserer Schritte zurück und schienen sie in ein gigantisches Gelächter zu verwandeln.
Gemeinsam stiegen wir die Kanzel hinauf. Das Lamm war nicht aufgerissen und auch nicht angefressen; es sah eher so aus, als sei es so lange gedrückt worden, bis seine Adern gewaltsam geplatzt waren. Blut lag in dicken und ekelhaften Pfützen auf dem Pult selbst und an seinem Fuß…doch wo es auf dem Buch lag, war es durchsichtig, und man konnte die unleserlichen Runen erkennen, als sehe man durch farbiges Glas!
»Müssen wir es anfassen?« fragte Cal entschlossen.
»Ja. Ich muß es haben.«
»Was wollen Sie tun?«
»Was schon vor sechzig Jahren hätte getan werden sollen. Ich werde es vernichten.«
Wir rollten das tote Lamm von dem Buch herunter, und es es schlug mit einem graßlichen, dumpfen Laut auf dem Boden auf. Die blutbesudelten Seiten schienen jetzt von einem eigenen roten Leuchten erfüllt.
In meinen Ohren begann es zu klingen und zu dröhnen; es schien, als ginge ein leiser Gesang von den Wänden aus. Der verwirrte Ausdruck in Cals Gesicht sagte mir, daß er das gleiche hörte wie ich. Unter uns bebte der Boden, als wenn das, was in dieser Kirche wohnte, uns jetzt angreifen wollte, um das Seine zu beschützen. Die Struktur des normalen Raums und der normalen Zeit schien sich zu verziehen und Risse zu bekommen; die Kirche schien von Geistern zu wimmeln und erfüllt vom ewigen, kalten Feuer der Hölle. Ich glaubte, James Boon zu sehen, ungestalt und abstoßend, wie er um den Körper einer auf dem Rücken liegenden Frau herumstolzierte, und dahinter meinen Großonkel Philip als Akoluth. Er trug eine schwarze Kapuze mit Soutane und hielt ein Messer und eine Schale in den Händen.
»Deum vobiscum magna vermis …«
Die Worte zitterten und verzerrten sich auf der Seite vor mir, die mit dem Blut des Opfertieres getränkt war, das Loblied auf eine Kreatur, die irgendwo hinter den Sternen existiert…
Eine blinde, durch Inzucht entstandene Gemeinde, die sich in einem dämonischen Lobgesang wiegt; entstellte Gesichter, die von einer gierigen, namenlosen Erwartung erfüllt sind…
Und das Lateinische wurde von einer älteren Sprache abgelöst, eine Sprache, die schon uralt war, als Ägypten jung war und es die Pyramiden noch nicht gab, als diese Erde noch in einem formlosen, siedenden Firmament leeren Gases hing:
»Gyagin vardar Yogsoggoth! Verminis! Gyagin! Gyagin! Gyagin!«
Die Kanzel begann, sich zu bewegen, zu bersten, hob sich hoch…
Calvin stieß einen Schrei aus und nahm den Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen. Ein gewaltiges, unheilvolles Zittern durchlief den Narthex, als ob ein Schiff in einem Sturm unterging. Ich ergriff das Buch und hielt es von mir weg; es schien erfüllt von der Hitze der Sonne, und ich dachte, daß ich verglühen und geblendet werden müßte.
»Laufen Sie!« schrie Calvin. »Laufen Sie weg!«
Doch ich stand da wie erstarrt, und die Gegenwart des Fremden erfüllte mich wie ein biblisches Werkzeug, das Jahre — ja Generationen — gewartet hätte.
»Gyagin vardar!« schrie ich. »Diener von Yogsoggoth, dem Namenlosen! Der Wurm von jenseits des Raums! Sternenesser! Blender der Zeit! Verminis! Die Stunde Deines Erscheinens ist da, die Zeit ist gekommen! Verminis! Alyah! Gyyagin!«
Calvin versetzte mir einen Stoß, und ich stolperte. Die Kirche schien sich um mich zu drehen, und ich stürzte zu Boden, wobei ich mit dem Kopf gegen eine umgeworfene Kirchenbank schlug. Rotes Feuer erfüllte meinen Kopf — und schien mich gleichzeitig in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Ich tastete nach den Schwefelhölzern, die ich mitgebracht hatte.
Ein unterirdisches Donnern erfüllte die Kirche. Putz fiel herunter. Die rostige Glocke im Turm schlug in Sympathieschwingung ein ersticktes Teufelscarillon an.
Mein Zündholz flammte auf. Genau in dem Augenblick, als ich es an das Buch hielt, barst die Kanzel auseinander und wurde in die Luft katapultiert. Darunter tauchte ein riesiges, schwarzes Maul auf, an dessen Rand Cal wankend stand, die Hände ausgestreckt, das Gesicht in einem wortlosen Schrei verzerrt, den ich auf ewig hören werde.
Und dann erhob sich eine gewaltige Wege von grauem, zitterndem Fleisch. Der Gestank wureie zum Alptraum. Aus der Öffnung unter der Kanzel quoll eine klebrige, geleeartige Masse, eine riesengroße und greuliche Form, die direkt aus den Tiefen der Erde aufzusteigen schien. Und in einer plötzlichen, furchtbaren Erkenntnis begriff ich, was kein Mensch gewnßt haben konnte: nämlich daß es nur ein Ring, ein Segment eines Riesenwurms war, der Jahre in finsteren Kammern unter jener verfluchten Kirche sein Dasein geführt hatte!
Das Buch in meinen Händen ging in Flammen auf, und das Wesen schien über mir einen lautlosen Schrei auszustoßen. Calvin wurde flüchtig getroffen und mit gebrochenem Genick wie eine Puppe durch die Kirche geschleudert.
Es verschwand — das Wesen zog sich zurück und hinterließ nur ein riesiges, zersplittertes Loch, das von schwarzem Schleim umgeben war. Noch einmal erklang ein lauter, quäkender Schrei, der in unvorstellbaren Fernen zu verhallen schien, und dann war es verschwunden.
Ich sah zu Boden. Das Buch war zu Asche verbrannt.
Ich fing an zu lachen und dann zu heulen wie ein geprügelter Hund.
Mein Verstand verließ mich; mit blutender Schläfe setzte ich mich auf den Boden und schrie und lallte in jene gottlosen Schatten, während Calvin, Arme und Beine von sich gestreckt, in der gegenüberliegenden Ecke lag und mich aus glasigen Augen, in denen noch sein Entsetzen zu sehen war, anstarrte.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich in diesem Zustand da saß. Doch als ich wieder zur Besinnung kam, waren die Schatten um mich herum länger geworden, und ich fand mich im Dämmerlicht dort sitzen. Eine Bewegung hatte meine Aufmerksamkeit erregt, eine Bewegung in jenem Loch, das im Boden des Narthex war.
Eine Hand tastete über die geborstenen Holzplanken.
Mein irres Lachen erstickte mir in der Kehle. Alle Hysterie schmolz in betäubte Gefühllosigkeit.
Ganz langsam, entsetzlich langsam, zog sich eine verweste Gestalt aus der Dunkelheit empor, und ein Kopf, der teilweise nur noch aus nackten Knochen bestand, starrte mich an. Käfer krabbelten über die fleischlose Stirn. Eine vermoderte Soutane schlotterte um die halb verfaulten Schlüsselbeine. Nur die Augen lebten — rote Höhlen, aus denen mehr als bloßer Wahnsinn leuchtete, als sie mich anstarrten; in ihnen funkelte das eitle Leben der weglosen Öde hinter dem Rand des Universums.
Sie kam, um mich in die Dunkelheit hinunterzuzerren.
Ich floh schreiend und ließ den Leichnam meines lebenslangen Freundes unbeachtet an diesem Ort des Grauens zurück. Ich rannte, bis die Luft wie glühendes Magma in meinen Lungen und meinem Gehirn brannte. Ich rannte, bis ich dieses besessene und verfluchte Haus und mein Zimmer erreicht hatte, wo ich zusammenbrach und bis heute wie ein Toter gelegen habe. Ich rannte davon, weil ich sogar in meinem irren Zustand und obwohl jene tote und doch belebte Gestalt halb verwest war, dennoch die Familienähnlichkeit bemerkt hatte. Aber nicht mit Philip oder Robert, dessen Porträts in der oberen Galerie hängen. Jenes vermoderte Gesicht gehörte James Boon, dem Hüter des Wurms!
Er lebt noch immer in den gewundenen, finsteren Gägen unter Jerusalem’s Lot und Chapelwaite — und auch Es lebt immer noch. Die Zerstörung des Buches hat Ihm zwar eine Niederlage beigebracht, aber es existieren noch andere Exemplare.
Doch ich bin das Tor, und ich bin der letzte vom Blute Boones. Zum Wohl der ganzen Menschheit muß ich sterben…und die Fesseln für immer brechen.
Ich gehe jetzt hinunter zum Meer, Bones. Meine Reise, wie meine Geschichte, ist hier zu Ende. Möge Gott Euch beschützen und Euch Seinen Frieden geben.
CHARLES.
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Die merkwürdigen Briefe erreichten schließlich Mr. Everett Granson, an den sie adressiert waren. Es wird vermutet, daß Charles Boone infolge eines neuerlichen Anfalls jenes unseligen Gehirnfiebers, an dem er schon einmal, nach dem Tod seiner Frau 1848, gelitten hatte, den Verstand verloren und seinen Begleiter und langjährigen Freund, Mr. Calvin McCann, ermordet hat.
Die Einträge in Mr. McCanns Tagebuch smd faszinierende Fälschunge, die Charles Boone zweifellos selbst begangen hat in dem Bestreben: seine eigenen paranoiden Selbsttäuschungen zu untermauern.
In zumindest zwei Punkten aber lassen sich Charles Boones Ausführungen widerlegen. Erstens, als der Ort Jerusalem’s Lot »wiederentdeckt« wurde (ich benutze den Ausdruck natürlich in historischem Sinn), war der Boden des Narthex zwar sehr wohl verrottet, wies aber keine Spuren einer Zerstörung oder größerer Beschädigungen auf.
Die alten Kirchenstühle waren tatsächlich umgestürzt und mehrere Fenster zerbrochen, doch dies ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Werk von Vandalen aus den umliegenden Orten gewesen, die im Laufe der Jahre hier gewütet haben. Unter den älteren Bewohnern von Preacher’s Corners und Tandrell kursieren immer noch haltlose Gerüchte über Jerusalem’s Lot (vielleicht ist es eine solche harmlose Überlieferung gewesen, die Charles Boones Geist auf jenen fatalen Weg gebracht hat), aber sie sind offensichtlich kaum von irgendeiner Bedeutung.
Zum zweiten war Charles Boone nicht der letzte seiner Linie. Sein Großvater, Robert Boone, hat wenigstens zwei uneheliche Söhne gezeugt.
Der eine starb bereits im frühen Kindesalter. Der zweite nahm den Namen Boone an und ließ sich in Central Fall, Rhode Island, nieder. Ich bin der letzte Nachkomme dieses Zweigs der Booneschen Linie, ein Cousin dritten Grades von Charles Boone. Diese Briefe befinden sich seit zehn Jahren in meinem Besitz.
Ich biete sie zur Veröffentlichung anläßlich meines Einzugs in den Familiensitz der Boones, Chapelwaite, an, in der Hoffnung, daß der Leser Verständnis für Charles Boones arme, irregeleitete Seele findet. Soweit ich es sagen kann, hatte er nur in einer Sache recht: Dieses Haus benötigt dringend die Dienste eines Kammerjägers.
Den Geräuschen nach zu urteilen, müssen ein paar große Ratten in den Wänden ihr Unwesen treiben.
Unterzeichnet
James Robert Boone
2. Oktober 1971.
Spätschicht
Zwei Uhr nachts. Freitag.
Hall saß im dritten Stock auf der Bank neben dem Aufzug. Nur hier konnte man gelegentlich in Ruhe eine rauchen. Aber schon stand Warwick vor ihm. Hall war alles andere als erfreut. Während der Spätschicht hatte der Vorarbeiter im dritten Stock nichts zu suchen. Um diese Zeit saß er gewöhnlich in seinem Büro Erdgeschoß und trank Kaffee aus der riesigen Kanne, die immer auf seinem Schreibtisch stand. Außerdem war es warn.
Es war der heißeste Juni, den Gates Falls je erlebt hatte. Das Thermometer neben dem Aufzug hatte einmal sogar um drei Uhr morgens schon vierunddreißig Grad angezeigt. Er bedauerte jetzt schon die Leute der Schicht von fünfzehn bis dreiundzwanzig Uhr. Zu der Zeit könnte es höchstens in der Hölle heißer in als in dieser verdammten Spinnerei.
Hall bediente den Picker, eine gewaltige, 1934 in Cleveland gebaute Maschine, deren Herstellerfirma schon lange nicht mehr existierte. Er arbeitete erst seit April in der Spinnerei und bekam deshalb nur den Mindestlohn von einem Dollar achtundsiebzig die Stunde. Er kam damit aus. Keine Frau, keine feste Freundin, keine Alimente. Er hatte sich während der letzten drei Jahre treiben lassen. Per Anhalter war er von Berkeley (Student), nach Lake Tahoe (Aushilfskellner), Galveston (Schauermann), Miami (Koch in einem Schnellimbiß), Wheeling (Taxifahrer und Tellerwäscher) gefahren und schließlich in Gates Falls gelandet, wo er jetzt den Picker bediente. Er hatte sich vorgenommen, erst im Winter weiterzuziehen. Er war ein Einzelgänger, und am besten gefielen ihm die Stunden von dreiundzwanzig bis sieben Uhr, wenn sich der hektische Betrieb in der großen Spinnerei ein wenig abgekühlt hatte, von der jetzt herrschenden Hitze einmal abgesehen.
Nur die Ratten störten ihn.
Die lange, nur vom flackernden Licht einiger Neonlampen erhellte Flucht des dritten Stocks lag verlassen da. Im Gegensatz zu den übrigen Stockwerken war es hier relativ ruhig und kaum besucht — jedenfalls von Menschen. Bei den Ratten lag die Sache anders. Die einzige Maschine im dritten war der Picker. Sonst diente das Stockwerk als Lagerraum für die Zentnersäcke mit Fasern, die Hall alle irgendwann in seiner großen über Zahnräder angetriebenen Maschine bearbeiten mußte. Wie dicke Würste lagen die Säcke in langen Reihen aufgestapelt. Einige (besonders die mit der nicht mehr gefragten groben Wolle und dem unsortierten Material, für das es keine Interessenten gab) lagerten hier schon seit Jahren. Sie boten idealen Unterschlupf für die Ratten, riesige fettbäuchige Tiere mit wütenden Augen, deren Fell von Läusen und sonstigem Ungeziefer wimmelte.
Hall hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, während der Pausen ein kleines Arsenal von leeren Getränkedosen anzulegen, die er aus den Abfallbehälterh holte. Wenn wenig zu tun war, warf er mit ihnen nach den Ratten und suchte die Dosen später wieder zusammen. Diesmal allerdings hatte Mister Vorarbeiter ihn erwischt. Statt den Aufzug zu benutzen, war dieser falsche Hund die Treppe raufgeschlichen.
»Was machen Sie denn da, Hall?«
»Die Ratten«, sagte Hall und merkte gleich, wie lahm diese Entschuldigung klingen mußte, denn die Ratten waren verschwunden und hockten schon längst wieder in ihren Nestern. »Wenn ich eine sehe, werfe ich mit Dosen.«
Warwick nickte nur kurz. Er war ein großer fetter Kerl mit Bürstenhaarschnitt. Die Ärmel hatte er aufgekrempelt in die Krawatte gelockert. Er sah Hall scharf an. »Wir bezahlen Sie nicht dafür, daß Sie Dosen nach den Ratten werfen, Mister. Auch nicht, wenn Sie sie wieder aufsammeln.«
»Harry hat schon seit zwanzig Minuten keinen Auftrag runtergeschickt«, sagte Hall und dachte: Hättest du Scheißkerl nicht in deiner Bude bleiben und Kaffee trinken können? »Was ich nicht habe kann ich auch nicht durch die Maschine schicken.«
Warwick nickte, als interessierte ihn das Thema nicht mehr. »Vielleicht sollte ich nach oben gehen und mit Wisconsky reden«, sagte er. »Ich wette fünf zu eins, daß er ‘ne Illustrierte liest, während sich das Zeug in seinen Behältern stapelt.«
Hall sagte nichts.
Plötzlich zeigte Warwick mit dem Finger. »Da ist eine! Die müssen Sie erwischen!«
Hall schleuderte die Dose, die er noch in der Hand hielt, mit aller Kraft. Die Ratte, die sie von einem der Säcke aus mit ihren klugen Augen beobachtet hatte, quiekte leise und schoß davon. Warwick warf den Kopf zurück und lachte, als Hall hinter der Doese herrannte.
»Ich wollte Sie wegen etwas anderem sprechen«, sagte Warwick.
»Tatschlich?«
»Nächste Woche sind die Feiern anläßlich des Unabhängigkeitstages.« Hall nickte. Dann war die Spinnerei von Montag bis Samstag geschlossen — wer mindestens ein Jahr hier war, bekam bezahlten Urlaub, aber für ihn bedeutete es eine Woche ohne Lohn. »Wollen Sie dann arbeiten?«
Hall zuckte die Achseln. »Was denn?«
»Wir werden das ganze Untergeschoß reinigen. Das ist schon seit zwölf Jahren nicht mehr gemacht worden. Überall Dreck. Wir werdeen mit Schläuchen arbeiten.«
»Hat sich die Gewerbeaufsicht bei der Direktion beschwert?«
Warwick hielt Halls Blick stand. »Wollen Sie nun oder nicht? Zwei Dollar die Stunde. Am vierten Juli doppelter Lohn. Wir arbeiten in der Spätschicht, weil es dann etwas kühler ist.«
Hall rechnete kurz. Das wären etwa fünfundsiebzig Dollar nach Abzug der Steuern. Besser während der Feiertage arbeiten als eine Woche auf Null.
»Geht in Ordnung.«
»Dann melden Sie sich nächsten Montag unten in der Färberei.«
Hall schaute ihm nach, als er zur Treppe ging. Auf halbem Wege blieb Warwick stehen und drehte sich um. Er sah Hall an. »Haben Sie nicht mal studiert?«
Hall nickte.
»Okay, Student, ich werde es mir merken.«
Er ging. Hall setzte sich und zündete sich noch eine Zigarette an. Er hatte schon wieder eine Dose in der Hand und hielt nach den Ratten Ausschau. Er konnte sich so recht vorstellen, wie es im Untergeschoß aussehen würde — eigentlich war es das Kellergeschoß, denn es lag noch tiefer als die Färberei. Feucht, dunkel, voll Spinnen und verrottetem Material, und dann das Sickerwasser vom Fluß — und Ratten. Vielleicht sogar Fledermäuse, die Flieger unter den Nagetieren. Pfui Teufel.
Hall warf mit der Dose nach einer Ratte und lächelte dünn, als Warwicks Stimme von oben durch die Leitungsschächte drang. Er las gerade Harry Wisconsky die Leviten.
Okay, Student, ich werde es mir merken.
Abrupt wich das Lächeln aus seinem Gesicht, und er drückte die Zigarette aus. Nach wenigen Sekunden schickte Harry grobes Nylon durch das Gebläse nach unten, und Hall machte sich an die Arbeit. Die Ratten kamen aus ihren Löchen und sprangen am hinteren Ende des großen Raumes auf die Säcke. Aus ihren schwarzen Augen sahen sie ihn unverwandt an. Sie wirkten wie ein unheimliches Geschworenengericht.
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Elf Uhr abends. Montag.
Es waren etwa sechsunddreißig Mann, die wartend herumsaßen, als Warwick kam. Er trug ein Paar alte Jeans, die in hohen Gummistiefeln steckten. Hall hatte gerade Harry Wisconsky zugehört, der ungeheuer fett, ungeheuer faul und ungeheuer mürrisch war.
»Das wird ‘ne üble Sauarbeit«, sagte er, als Warwick hereinkam. »Wartet nur ab. Wenn wir fertig sind, sehen wir schwärzer aus als Mitternacht in Persien.«
»Kommen Sie!« sagte Warwick. »Wir haben unten sechzig Glühbirnen aufgehängt. Das gibt genügend Licht, daß ihr sehen könnt, was ihr tut. Ihr da hinten« — er zeigte auf eine Gruppe von Leuten, die sich gegen die Trockengestelle gelehnt hatten — »ihr schließt die Schläuche an das Hauptrohr neben dem Treppenschacht an. Dann konnt ihr sie über die Treppe nach unten ausrollen. Wir haben ungefähr siebzig Meter pro Mann. Das dürfte reichlich sein. Kommt bloß nicht auf die Idee, euch genseitig zu beepntzen. Das könnte im Krankenhaus enden. Die Dinger haben enormen Druck.«
»Irgend jemand wird sich schon verletzen«, prophezeite Wisconsky finster. »Wartet nur ab.«
»Ihr anderen«, sagte Warwick und zeigte auf die Gruppe, zu der Hall und Wisconsky gehörten. »Ihr kümmert euch um das Gerümpel. Je zwei nehmen einen Elektrokarren. Da stehen alte Büromöbel, Säcke mit Stoffen, kaputte Maschinenteile und verschiedenes andere. Wir schaffen die Sachen zum Luftschacht im Westflügel. Weiß jemand nicht, wie der Karren funktioniert?«
Niemand hob die Hand. Die Elektrokarren waren batteriebetriebene Miniaturkippfahrzeuge. Nach längerem Einsatz entwickelten sie einen widerwärtigen Gestank, der Hall an durchgeschmorte Stromkabel erinnerte.
»Okay«, sagte Warwick. »Wir haben das Untergeschoß in Abschnitte eingeteilt und sind am Donnerstag fertig. Am Freitag holen wir das Gerümpel dann mit dem Flaschenzug raus. Noch Fragen?«
Es gab keine. Hall sah den Vorarbeiter prüfend an und hatte die plötzliche Ahnung, daß sich etwas Unheimliches ereignen würde. Der Gedanke gefiel ihm. Er mochte Warwick nicht besonders.
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Zwei Uhr nachts. Dienstag.
Hall war erschöpft, und er war es leid, Wisconskys ständiges Gejammere zu hören. Er hatte nicht übel Lust, ihn zu verprügeln. Aber das wäre sinnlos. Dann hätte er nur einen weiteren Grund, sich zu beklagen.
Hall hatte gewußt, daß es schlimm werden würde, aber dies war mörderisch. Zum Beispiel hatte er den grauenhaften Gestank nicht erwartet. Der faulige Geruch des Flusses mischte sich mit dem der vermodernden Textilien. Hinzu kam das verrottete Mauerwerk und der Gestank von Pflanzenresten. In der hinteren Ecke, wo sie angefangen hatten, entdeckte Hall eine Kolonie riesiger weißer Pilze, die aus dem aufgerissenen Beton herauswuchsen. Als er an einem rostigen Zahnrad zerrte, waren seine Hände mit ihnen in Berührung gekommen. Sie fühlten sich eigenartig warm und geschwollen an wie das Fleisch eines Mannes, der an Wassersucht leidet.
Die Glühbirnen konnten die zwölf Jahre alte Dunkelheit nicht bannen. Sie konnten sie nur zurückdrängen und den widerlichen Unrat in fahles gelbes Licht tauchen. Mit seiner hohen Decke, den riesigen ausrangierten Maschinenteilen, die ie nie würden von der Stelle rücken können, mit seinen feuchten moosbedeckten Wänden sah der Raum aus wie das zertrümmerte Mittelschiff einer geschändeten Kirche. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch den atonalen Chor des Wassers, das aus den Schläuchen in die halb verstopften Abflüsse strömte, um sich dann unten in den Fluß zu ergießen.
Und dann die Ratten. Sie waren so groß, daß die im dritten Stock dagegen wie Zwerge wirkten. Der Himmel mochte wissen, was es hier unten für sie zu fressen gab. Immer wenn die Arbeiter Bretter umdrehten oder Säcke wegschoben, stießen sie auf riesige Nester aus zerfetztem Zeitungspapier und beobachteten mit atavistischem Ekel, wie die jungen Ratten mit ihren geschwollenen und von der ewigen Dunkelheit blinden Augen in Ritzen und Spalten verschwanden.
»Laß uns eine rauchen«, sagte Wisconsky. Er wirkte ein wenig außer Atem. Das konnte Hall sich nicht erklären, denn Wisconsky hatte die ganze Nacht nur so getan, als ob er arbeitete. Immerhin, warum sollten sie keine Pause einlegen? Es war gerade niemand in der Nähe.
»Okay.« Er lehnte sich gegen den Elektrokarren und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich hätte mich von Warwick nicht überreden lassen sollen«, sagte Wisconsky mißmutig. »Diese Arbeit ist unzumutbar, aber er war neulich so wütend, als er mich oben im vierten im Scheißhaus sitzen sah, ohne daß ich die Hose runter hatte. Der Kerl war vielleicht sauer.«
Hall sagte nichts. Er dachte an Warwick und an die Ratten. Seltsam, wie das eine mit dem anderen zusammenzuhängen schien. Nach ihrem langen Aufenthalt im Keller der Spinnerei schienen sich die Ratten gm Menschen kaum noch zu erinnern. Sie waren dreist und hatten nicht die geringste Angst. Eine hatte sich wie ein Eichhörnchen auf die Hinterbeine gesetzt, und als Hall so nahe heran war, daß er nach ihr treten konnte, hatte sie sich auf seinen Stiefel gestürzt und in das Leder gebissen. Hier gab es Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Wie viele schiedene Krankheiten mochten sie in dieser schwarzen Höhle wohl mit sich herumschleppen? Und Warwick. Irgend etwas an ihm—
»Ich brauche das Geld«, sagte Wisconsky. »Aber, bei Gott, Kumpel, die Arbeit kann man einem Menschen nicht zumuten. Diese Ratten.« Er sah sich ängstlich um. »Sieht fast so aus, als könnten sie denken. Stell dir bloß vor, wenn wir nun klein wären und sie groß —«
»Halt endlich das Maul«, sagte Hall.
Wisconsky sah ihn gekränkt an. »Tut mir leid, Kumpel. Es ist ja nur weil…« Seine Worte verloren sich. »Mein Gott, dieser Gestank. Das kann man einem Menschen doch nicht zumuten!« Eine Spinne kroch vom Rand des Karrens auf seinen Arm. Mit einem unterdrückten Entsetzensschrei fegte er sie weg.
»Los jetzt«, sagte Hall und trat seine Zigarette aus. »Je eher daran, desto eher davon.«
»Hoffentlich«, sagte Wisconsky kläglich. »Hoffentlich.«
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Vier Uhr morgens. Dienstag.
Frühstück.
Hall und Wisconsky saßen mit drei oder vier anderen Männern zusammen und hielten ihre Sandwiches in schwarzen Händen. Sie waren nicht einmal von dem industriellen Reininigungsmittel sauber geworden. Während er aß, schaute Hall zu dem gläsernen Büro des Vorarbeiters hinüber. Warwick trank Kaffee und aß mit offensichtlichem Appetit kalte Hamburger.
»Ray Upson mußte nach Hause gehen«, sagte Charlie Brochu.
»Hat er gekotzt?« fragte jemand. »Das wäre mir fast passiert.«
»Nein. Ray muß schon Kuhmist fressen, bevor er kotzt. Eine Ratte hat ihn gebissen.«
Nachdenklich wandte Hall den Blick von Warwick. »Tatsächlich?« fragte er.
»Ja.« Brochu schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm zusammengearbeitet. So was Entsetzliches habe ich noch nie gesehen. Das Biest kam plötzlich durch ein Loch aus einem der alten Säcke. So groß wie ‘ne Katze. Verbiß sich sofort in seine Hand und fing an zu fressen.«
»Mein Gott«, sagte einer der Männer und wurde ganz grün im Gesicht.
»Ja«, sagte Brochu. »Ray hat geblutet wie ein Schwein. Glaubt ihr, daß das Vieh losließ? Kein Stück. Ich mußte drei- oder viermal mit einem Brett zuschlagen. Ray wäre fast verrückt geworden. Er hat auf der Ratte herumgetrampelt, bis sie nur noch ein pelziger Brei war. So was hab ich noch nicht erlebt. Warwick hat ihn verbunden und nach Hause geschickt. Hat ihm gesagt, er soll morgen zum Arzt gehen.«
»Wie nett von diesem Scheißkerl«, sagte jemand.
Als ob er es gehört hätte, stand Warwick auf, reckte sich und trat an die Tür seines Büros. »Wir wollen langsam weitermachen.«
Widerwillig standen die Männer auf. Sie versuchten, Zeit zu schinden, indem sie sich mit dem Verstauen ihrer Essensgefäße nicht sonderlich beeilten und aus dem Automaten noch Getränke und Süßigkeiten zogen. Dann machten sie sich auf den Weg nach unten. Trostlos hallten ihre Schritte über die Eisenroste der Treppe.
Warwick überholte Hall und schlug ihm auf die Schulter. »Na, wie sieht’s aus, Student?« Er wartete die Antwort nicht ab.
»Komm jetzt«, sagte Hall geduldig zu Wisconsky, der sich die Stiefel zuschnürte. Sie gingen die Treppe hinunter.
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Sieben Uhr morgens. Dienstag.
Hall und Wisconsky verließen gemeinsam die Spinnerei. Es schien Hall fast, als hätte er den fetten Polen irgendwie geerbt. Winsconsky war so dreckig, daß es fast komisch wirkte. Sein dickes Mondgesicht war so beschmiert wie das eines kleinen Jungen, den ein größerer gerade verprügelt hat.
Es gab keinen der üblichen groben Scherze. Niemand zog einem anderen das Hemd aus der Hose, und keiner fragte, wer sich denn zwischen eins und vier um Tonys Frau kümmerte. Nur Schweigen und hin und wieder ein hustendes Geräusch, wenn jemand auf den verschmutzten Fußboden rotzte.
»Soll ich dich mitnehmen?« fragte Wisconsky zögernd.
»Danke.«
Sie sprachen nicht, als sie die Mill Street hinauf und über die Brücke fuhren. Sie verabschiedeten sich nur kurz, als Wisconsky ihn vor seiner Wohnung absetzte.
Hall sofort unter die Dusche. Er dachte immer noch an Warwick.
Er versuchte, sich darüber klar zu werden, was an dem Vorarbeiter ihn so eigenartig faszinierte und ihm das Gefühl gab, daß sie irgendwie zusammengehörten.
Er lag kaum im Bett, als er auch schon einschlief, aber sein Schlaf war unruhig, und mehr als einmal schreckte er hoch: Er träumte von Ratten.
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Ein Uhr nachts. Mittwoch.
Die Arbeit mit den Schläuchen war angenehmer.
Sie konnten nicht hinein, bevor die Leute eine Sektion entrümpelt hatten, und oft waren sie mit einer schon fertig, bevor die nächste ausgeräumt war. Das bedeutete jedesmal eine Zigarettenpause. Hall betätigte die Düse an einem der langen Schläuche, während Wisconsky hin und her lief und darauf achtete, daß sich der Schlauch nicht verhedderte. Nach Bedarf drehte er den Wasserhahn auf oder zu und räumte Hindernisse aus dem Weg.
Warwick hatte schlechte Laune, denn die Arbeit ging nicht voran. Wenn es so weiterlief wie bisher, bestand nicht die geringste Aussicht, am Donnerstag fertigzuwerden.
In der nächsten Sektion lagen in einer Ecke Büromöbel aus dem neunzehnten Jahrhundert wild durcheinander — zertrümmerte Rollschränke, verrottete Akten, geheftete Rechnungen, zerbrochene Stühle.
Ein Paradies für Ratten. Zu Dutzenden rannten sie pfeifend zwischen dem Gerümpel hin und her. Als zwei Männer gebissen wurden, weigerten sich die anderen weiterzuarbeiten. Warwick mußte erst dicke Gummihandschuhe aus der Färberei holen lassen, wo mit Säure hantiert wurde.
Hall und Wisconsky standen mit ihren Schläuchen bereit, als Carmichael, ein rothaariger, stiernackiger Kerl, plötzlich fluchend zurücksprang und sich mit den Fäusten auf die Brust schlug.
Eine riesige Ratte mit graugestreiftem Fell und häßlichen funkelnden Augen hatte sich in sein Hemd verbissen und hing dort. Dabei zappelte sie mit den Hinterpfoten. Es gelang Carmichael, sie abzuschütteln, aber sein Hemd hatte ein großes Loch und aus einer Wunde oberhalb der einen Brustwarze floß Blut. Die Wut wich aus seinem Gesicht. Er wandte sich zur Seite und übergab sich.
Hall richtete den Wasserstrahl auf die Ratte, ein altes, langsames Tier, das immer noch ein Stück von Carmichaels Hemd zwischen den Zähnen hatte. Der Druck schleuderte sie gegen die Wand, wo sie schlaff liegenblieb.
Mit seltsam verzerrtem Gesicht kam Warwick herbei. Er schlug Hall auf die Schulter. »Na, Student, das macht wohl mehr Spaß, als Dosen nach den kleinen Tierchen zu schmeißen.«
»Kleine Tierchen ist gut«, sagte Wisconsky. »Das Ding ist mindestens dreißig Zentimeter lang.«
»Den Schlauch dort rüber«, sagte, Warwick und zeigte auf den Möbelhaufen. »Aus dem Weg, Jungs.«
»Mit Vergnügen«, murmelte jemand.
Carmichael baute sich vor Warwick auf. Er wirkte krank, und sein Gesicht zuckte. »Ich verlange eine Entschädigung! Ich werde nicht eher —«
»Klar«, sagte Warwick lächelnd. »Sie hat dich in die Titten gebissen. Und jetzt aus dem Weg, sonst klebst du gleich an der Wand.«
Hall richtete den Schlauch auf die Trümmer und legte los. Der Strahl explodierte förmlich. Weiß schäumend riß er einen Schreibtisch um und ließ zwei Stühle zersplittern. Überall rannten Ratten. So große hatte Hall noch nie gesehen. Er hörte die entsetzten Schreie der Männer, als die widerlichen Kreaturen mit ihren großen Augen und glatten fetten Leibern sich in Sicherheit brachten. Eine der Ratten war so groß wie ein gesunder sechs Wochen alter Hund. Hall machte weiter, bis er keine mehr sah. Dann stellte er das Wasser ab.
»Okay«, rief Warwick. »Schafft das Gerümpel raus!«
»Ich habe mich nicht als Kammerjäger einstellen lassen«, sagte Ippeston aufsässig. Hall hatte vor einer Woche mit ihm ein paar getrunken. Er war noch jung und trug eine dreckige Baseballmütze und ein T-Shirt.
»Waren Sie das, Ippeston?« fragte Warwick freundlich.
Ippeston zögerte, aber dann trat er vor. »Sie haben mich zum Saubermachen herbestellt und nicht, um Tollwut oder Typhus zu kriegen. Sie sollten besser auf mich verzichten.«
Von den anderen kam zustimmendes Gemurmel. Wisconsky sah Hall verstohlen an, aber Hall inspizierte die Düse an seinem Schlauch. Sie hatte das Kaliber eines Fünfundvierzigers, und wahrscheinlich konnte man mit ihr jeden Mann von den Füßen holen.
»Sie wollen also die Uhr stechen, Cy?«
»Ich hätte nicht übel Lust«, sagte Ippeston.
Warwick nickte. »Okay. Wer will, kann gehen. Aber dieser Laden ist nicht gewerkschaftlich organisiert. Wer heute abhaut, braucht nicht wiederzukommen. Auch nicht nächste Woche. Dafür werde ich sorgen.«
»Scheißkerl«, murmelte Hall.
Warwick fuhr herum. »Sagten Sie was, Student?«
Hall sah ihn unschuldig an. »Ich hab mich nur geräuspert, Vorarbeiter.«
Warwick lächelte. »Ihnen hat wohl was nicht geschmeckt?«
Hall schwieg.
»Okay, weitermachen!« brüllte Warwick.
Sie machten sich wieder an die Arbeit.
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Zwei Uhr nachts. Donnerstag.
Hall und Wisconsky arbeiteten wieder mit den Elektrokarren und suchten Gerümpel zusammen. Der Haufen im Westflügel hatte schon eine beachtliche Höhe erreicht, aber sie waren noch nicht halb fertig.
»Fröhlicher Vierter Juli«, sagte Wisconsky, als sie die Arbeit unterbrachen, um eine zu rauchen. Sie arbeiteten in der Nähe der Nordwand und waren weit von der Treppe entfernt. Hier war es fast dunkel, und irgendwie ließ die Akustik die andern Männer Meilen weit weg erscheinen.
»Danke.« Hall zog an seiner Zigarette. »Ich habe heute nacht nicht viele Ratten gesehen.«
»Das haben die andern auch nicht«,’ sagte Wisconsky. »Vielleicht sind sie endlich schlau geworden.«
Sie standen am Ende eines bizarren Ganges, der zwischen den Haufen alter Akten und Rechnungen, den vermoderten Stoffsäcken und zwei uralten Webstühlen hindurchführte. »Pfui Teufel«, sagte Wisconsky und spuckte aus. »Dieser Warwick —«
»Wohin sind wohl die Ratten verschwunden?« fragte Hall wie zu sich selbst. »In den Wänden können sie nicht sein—« Er betrachtete das feuchte bröckelnde Mauerwerk. »Da würden sie ersaufen. Überall ist das Flußwasser eingesickert.«
Etwas Schwarzes, Flatterndes schoß plötzlich von oben auf sie herab. Wisconsky schrie auf und riß die Hände über den Kopf.
»Eine Fledermaus«, sagte Hall, als Wisconsky sich wieder aufrichtete.
»Eine Fledermaus! Eine Fledermaus!« tobte Wisconsky. »Was hate eine Fledermaus im Keller zu suchen? Sie soll in einem Baum oder unter der Dachrinn hängen und —«
»Es war eine große«, sagte Hall leise. »Und was ist eine Fledermaus anderes als eine Ratte mit Flügeln?«
»Mein Gott«, stöhnte Wisconsky. »Wie ist sie denn —«
»Reingekommen? Vielleicht genauso wie die Ratten rausgekommen sind.«
»Was ist da hinten los?« schrie Warwick. »Wo seid ihr?«
»Leck mich am Arsch«, sagte Hall leise.
»Waren Sie das, Student?« rief Warwick. Seine Stimme klang, schon näher.
»Alles in Ordnung!« brüllte Hall. »Ich habe mir nur das Scheinbein gestoßen!«
Warwick stieß ein kurzes bellendes Lachen aus. »Wollen Sie das Verwundetenabzeichen?«
Wisconsky sah Hall an. »Warum redest du solche Scheiße?«
»Sieh dir das an.« Hall kniete sich hin und zündete ein Streichholz an. Im nassen und bröckelnden Zement zeichnete sich ein Quadrat ab.
»Klopf mal drauf.«
Wisconky tat es. »Holz«, sagte er.
Hall nickte. »Darunter liegt ein Träger. Ich habe schon ein paar mehr von gesehen. Unter diesem Teil des Kellers ist noch ein Raum.«
»Oh Gott«, sagte Wisconsky angewidert.
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Drei Uhr dreißig morgens. Donnerstag.
Sie arbeiteten in der Nordostecke des Gebäudes. Ippeston und Brochu standen mit den Hochdruckschläuchen bereit. Plötzlich blieb Hall stehen und zeigte auf den Fußboden. »Ich wußte, daß wir das Ding finden.«
Sie standen über einer Klapptür mit einem rostigen Eisenring.
Hall ging auf Ippeston zu und sagte: »Stell das Wasser ab.« Als der Schlauch nur noch tröpfelte, brüllte er: »He! He! Warwick! Kommen Sie doch mal her!«
Durch das Wasser patschend kam Warwick angerannt und bedachte Hall mit einem bösen Lächeln. »Ist Ihnen der Schnürsenkel aufgegangen, Student?«
»Sehen Sie sich das an«, sagte Hall und stieß mit dem Fuß gegen die Klapptür. »Darunter liegt noch ein Keller.«
»Na und?« fragte Warwick. »Wir haben noch keine Paus Stu —«
»Da unten sind Ihre Ratten. Da hocken sie, Wisconsky und ich haben sogar eine Fledermaus gesehen.«
Einige andere Männer hatten sich um sie versammelt und betrachteten die Klapptür.
»Interessiert mich nicht«, sagte Warwick. »Unsere Arbeit ist hier im Untergeschoß.«
»Sie werden ungefähr zwanzig Kammerjäger brauchen, aber richtige«, sagte Hall. »Das wird die Geschäftsleitung ‘ne schöne Stange Geld kosten. Schade, was?«
Jemand lachte. »Das kann man wohl sagen.«
Warwick sah Hall an, als sei dieser ein seltenes Insekt. »Sie sind wirklich ein komischer Fall«, sagte er, und seine Stimme klang fasziniert. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, wie viele Ratten da unten sind.«
»Ich war heute nachmittag und gestern in der Bibliothek«, sagte Hall. »Gut, daß Sie mich immer wieder daran erinnern, daß ich mal studiert hab. Ich habe ein paar Magistratsverordnungen gelesen, Warwick. Sie stammen aus dem Jahr 1911. Damals war diese Spinnerei noch zu klein, als daß man sich groß um sie kümmerte. Und wissen Sie, was ich festgestellt habe?«
Warwick sah ihn kalt an. »Machen Sie, daß Sie rauskommen, Student. Sie sind gefeuert.«
»Ich habe festgestellt«, fuhr Hall fort, als hätte er nichts gehört, »ich habe festgestellt, daß es in Gates Falls gewisse Verordnungen gibt, die Ungeziefer betreffen. Das schreibt man U-n-g-e-z-i-e-f-e-r, falls Ihnen das Wort nicht geläufig ist. Gemeint sind Tiere, die Krankheiten übertragen, wie Fledermäuse, Stinktiere, streunende Hunde — und Ratten. Besonders Ratten. Das Wort Ratten tauchte in zwei Paragraphen nicht weniger als dreizehnmal auf, Vorarbeiter. Sobald ich diesen Laden verlassen habe, werde ich mich mit der zuständigen Behörde in Verbindung setzen und berichten, wie es hier aussieht.«
Er machte eine Pause und freute sich über Warwicks wutverzerrtes Gesicht.
»Es wird ein leichtes sein, gegen diesen Laden eine Verfügung zu erwirken. Dann werden Sie verdammt länger schließen, als nur bis Samstag, Mister Vorarbeiter. Und ich habe schon so eine Ahnung, was Ihr Boss dazu sagen wird, wenn er aufkreuzt. Hoffentlich haben Sie regelmäßig Ihre Arbeitslosenversicherung bezahlt, Warwick.«
Warwicks Hände ballten sich zu Fäusten. »Sie verdammte Rotznase, ich sollte Sie —« Er sah sich die Klapptür an, und plötzlich lächelte er wieder. »Betrachten Sie sich als neu eingestellt, Student.«
»Ich wußte, daß Sie Vernunft annehmen würden.«
Warwick nickte und hatte immer noch dieses seltsame Lächeln im Gesicht. »Sie sind doch so schlau, Hall. Ich finde, Sie sollten selbst hinuntersteigen. Dann haben wir wenigstens einen Studierten, der uns einen fundierten Bericht geben kann. Sie und Wisconsky.«
»Ich nicht!« rief Wisconsky. »Ich nicht, ich —«
Warwick sah ihn an. »Sie was?«
Wisconsky hielt den Mund.
»Gut«, sagte Hall vergnügt. »Wir brauchen drei Taschenlampen. Im Hauptbüro habe ich doch ein paar mit sechs Batterien oder irre ich mich?«
»Wollen Sie sonst noch jemanden mitnehmen?« fragte Warwick entgegenkommend. »Suchen Sie sich einen Mann aus.«
»Sie«, sagte Hall leise, und auch er hatte wieder diesen seltsamen Ausdruck im Gesicht. »Nur, damit die Geschäftsleitung vertreten ist. Sonst sehen Wisconsky und ich am Ende zu viele Ratten.«
Jemand lachte laut. Es hörte sich nach Ippeston an.
Warwick schaute in die Runde. Die Männer starrten verlegen auf ihre Stiefelspitzen. Dann zeigte er auf Brochu, »Brochu, gehen Sie ins Büro und holen Sie drei Taschenlampen. Sagen Sie dem Wachmann von mir, er soll Sie reinlassen.«
»Warum hast du mich in diese Sache reingezogen?« klagte Wisconsky, an Hall gewandt. »Du weißt doch, wie ich diese Ratten hasse —«
»Das war ich doch nicht«, sagte Hall und sah Warwick an.
Warwick gab den Blick zurück. Keiner von beiden schaute weg.
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Vier Uhr morgens. Donnerstag.
Brochu kam mit den Taschenlampen. Er gab sie an Hall, Wisconsky und Warwick weiter.
»Ippeston, gib Wisconsky den Schlauch.« Ippeston gehorchte. Die Düse zitterte in der Hand des Polen.
»Okay«, sagte Warwick zu Wisconsky. »Du gehst in der Mitte. Wenn du Ratten siehst, gibst du ihnen Saures.«
Natürlich, dachte Hall. Und wenn es dort Ratten gibt, wird Warwick sie nicht bemerken. Auch Wisconsky wird sie nicht bemerken, wenn er zehn Dollar extra in seiner Lohntüte findet.
Warwick zeigte auf zwei Männer. »Luke aufmachen.«
Einer packte den Eisenring und riß daran. Zuerst glaubte Hall, daß der Mann es nicht schaffen würde, aber mit einem eigenartigen Knarren gab die Klapptür nach. Der zweite schob von unten und fuhr mit einem Aufschrei zurück. Über seine Hände krochen riesige blinde Käfer.
Ächzend riß der andere die Tür ganz auf und ließ sie fallen. Die Unterseite war mit schwarzen Pilzen bedeckt, eine Sorte, die Hall noch nie gesehen hatte. Die Käfer fielen in die Tiefe oder rannten über den Fußboden, wo sie von den Männern zertreten wurden.
»Seht euch das an«, sagte Hall. An der Unterseite der Klapptür war ein altes verrostetes Schloß angeschraubt. Es war zerbrochen. »Das dürfte doch nicht unten sitzen«, sagte Warwick. »Es müßte oben sein. Warum —«
»Dafür kann es viele Gründe geben«, sagte Hall. »Vielleicht sollte niemand die Tür von hier oben öffnen können — jedenfalls nicht, als das Schloß noch neu war. Vielleicht sollte auch nichts von unten nach oben kommen können.«
»Aber wer hat abgeschlossen?« fragte Wisconsky.
»Oh«, sagte Hall spöttisch und sah Warwick an. »Das ist ein Geheimnis.«
»Hört ihr?« flüsterte Brochu.
»O Gott«, schluchzte Wisconsky. »Ich geh da nicht runter!«
Ein leises Geräusch, als warteten sie. Ein Huschen und Tripplen von tausend Pfoten. Das Quietschen der Ratten.
»Könnten auch Frösche sein«, meinte Warwick.
Hall lachte laut.
Warwick leuchtete mit seiner Lampe nach unten. Eine Holztreppe, deren Stufen sich nach unten durchbogen, führte in die Dunkelheit hinab. Ratten waren nicht zu sehen.
»Die Treppe hält nicht«, entschied Warwick.
Brochu trat zwei Schritte vor und sprang auf der obersten Stufe und ab. Sie knarrte, aber sie hielt.
»Wer hat dir gesagt, daß du das tun sollst?« fragte Warwick.
»Sie waren nicht dabei, als Ray von der Ratte gebissen wurde«, sagte Brochu leise.
»Gehen wir«, sagte Hall.
Warwick warf noch einen höhnischen Blick auf die Umstehenden und trat mit Hall an die Luke. Widerwillig schloß Wisconsky sich ihnen an. Sie stiegen einzeln in die Dunkelheit hiban, zuerst Hall, dann Wisconsky und als letzter Warwick. Im Strahl ihrer Lampen erkannten sie die Unebenheiten und Verwerfungen des Betonfußbodens. Der Schlauch plumpste wie ein ungefüge Schlange hinter Wisconsky die Stufen herab.
Als sie unten angekommen waren, leuchtete Warwick mit seiner Lampe in die Ecken. Sie sahen ein paar verrottete Kisten und einige Fässer. Sonst nichts.
Das Sickerwasser vom Fluß stand in Pfützen und reichte ihnen bis an die Knöchel.
»Ich höre sie nicht mehr«, flüsterte Wisconsky.
Langsam entfernten sie sich von der Treppe unter der Luke, und ihre Füße schlurften durch den Schlamm. Hall blieb stehen und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf eine riesige Holzkiste, die eine Aufschrift trug. »Elias Varney«, las er, »1841. Gab es die Spinnerei damals schon?«
»Nein«, sagte Warwick. »Sie wurde erst 1897 gebaut. Aber ist das nicht scheißegal?«
Hall antwortete nicht. Sie gingen weiter. Der untere Keller dehnte sich weiter aus als erwartet. Hier stank es noch schlimmer. Fäulnis und Moder. Irgendwo tropfte Wasser. Sonst war es still.
»Was ist denn das?« fragte Hall und zeigte auf einen Betonpfeiler, der seitlich in den Keller hineinragte. Vor ihnen lag Dunkelheit, und Hall meinte, leise Geräusche zu hören.
Warwick betrachtete den Pfeiler. »Das ist… nein, das kann nicht stimmen.«
»Die Außenwand der Spinnerei, nicht wahr? Und vor uns …«
»Ich geh zurück«, sagte Warwick plötzlich und drehte sich um.
Hall packte ihn im Genick. »Sie gehen nirgends hin, Vorarbeiter.«
Warwick sah ihn an, und. sein Grinsen war in der Dunkelheit deutlich zu erkennen.
»Sie sind ja verrückt, Student. Reif fürs Irrenhaus.«
»Schubsen Sie mich nicht, alter Freund«, sagte Hall. »Schön weitergehen.«
Wisconsky stöhnte auf. »Hall —«
»Gib her.« Hall nahm den Schlauch. Er ließ Warwicks Genick los und richtete den Schlauch auf seinen Kopf. Wisconsky rannte plötzlich zur Luke zurück. Hall drehte sich nicht einmal um. »Nach Ihnen, Vorarbeiter.«
Warwick ging zwischen den Wandvorsprüngen hindurch, an denen die Spinnerei über ihnen endete. Hall ließ den Strahl seiner Taschenlampe spielen und empfand kalte Befriedigung — seine Ahnung hatte sich erfüllt. Stumm wie der Tod kamen die Ratten von allen Seiten dichtgedrängt auf sie zu. Tausende von Augen sahen ihn gierig an. Bis hinten an die Wand wimmelte es von Ratten. Einige reichten ihm fast bis an die Knie.
Dann hatte auch Warwick sie bemerkt und blieb stehen. »Sie sind überall um uns herum, Student.« Seine Stimme klang ruhig und kontrolliert, aber er konnte sein Entsetzen nicht verbergen.
»Ja«, sagte Hall. »Gehen Sie weiter.«
Sie gingen weiter, und der Schlauch schleifte hinter ihnen her. Hall schaute sich einmal um und bemerkte, daß die Ratten ihnen den Rückweg durch den Gang abgeschnitten hatten. Einige fingen an, am Material des Schlauchs zu nagen.
Eine sah ihn an, und ihm schien, als grinste sie. Jetzt sah er auch die Fledermäuse, die von der Decke hingen. Sie waren so groß wie Rabenkrähen.
»Da!« rief Warwick und richtete den Strahl seiner Lampe ein paar Meter voraus.
Ein grünlich vermoderter Schädel starrte sie aus leeren Augenhöhlen an. Weiter hinten sah Hall einen Ellenknochen, ein Becken und Teile eines Brustkorbs. »Weitergehen«, sagte Hall. Er fühlte Wahnsinn in sich aufsteigen, Wahnsinn in düsteren Farben. Bei Gott, du wirst vor mir den Verstand verlieren, Vorarbeiter.
Sie gingen an den Skelettresten vorbei. Die Ratten rückten nicht näher an sie heran. Der Abstand schien sich nicht zu verringern. Vor ihnen sah Hall eine über den Weg laufen. Sie war nur als Schatten zu erkennen, aber er sah ihren zuckenden rosafarbenen Schwanz. Er war so dick wie ein Telefonkabel.
Vor ihnen stieg der Fußboden steil an, um dann wieder abzufallen. Hall hörte ein leises, raschelndes Geräusch. Etwas Großes mußte dieses Geräusch verursacht haben. Etwas, das vielleicht kein lebender Mensch je gesehen hatte. Vielleicht hatte er in all den unsteten Jahren auf so etwas nur gewartet, fuhr es Hall durch den Sinn.
Die Ratten kamen jetzt näher. Sie bewegten sich auf den Bäuchen vorwärts. »Sehen Sie sich das an«, sagte Warwick kalt.
Hall sah es. Mit den Ratten hier unten war etwas geschehen. Eine grauenhafte Mutation, die es unter freiem Himmel nie gegeben hätte. Die Natur hätte es nicht zugelassen. Hier unten aber zeigte die Natur ein anderes, ein gespenstisches Gesicht.
Die Ratten war riesig, einige fast einen Meter hoch, aber sie hatten keine Hinterbeine mehr und waren blind wie Maulwürfe, genau wie ihre fliegenden Vettern. Mit widerwärtiger Hast schoben sie sich vorwärts.
Warwick drehte sich um und sah Hall an. Mit schierer Willenskraft brachte er ein Lächeln zustande. Hall konnte nicht anders. Er mußte den Mann bewundern. »Wir können nicht weitergehen, Hall. Das müssen Sie einsehen.«
»Ich glaube, die Ratten wollen was von Ihnen«, sagte Hall.
Warwick verlor die Selbstkontrolle. »Bitte«, sagte er. »Bitte.«
Hall lächelte. »Weitergehen.«
Warwick schaute zurück. »Sie nagen am Schlauch. Wenn sie durch sind, können wir nicht mehr zurück.«
»Ich weiß. Gehen Sie weiter.«
»Sie sind wahnsinnig —« Eine Ratte schob sich über Warwicks Fuß, und er kreischte auf. Hall lächelte und ließ den Lichtstrahl kreisen. Überall Ratten. Eine war schon auf weniger als einen halben Meter herangekommen.
Warwick ging weiter, und die Ratten zogen sich zurück.
Sie stiegen die kleine Erhebung hinauf und schauten nach unten. Warwick erreichte die Stelle als erster. Hall sah, daß sein Gesicht kalkweiß wurde. Speichel lief ihm über das Kinn. »Oh. Mein Gott.«
Er wollte zurücklaufen.
Hall öffnete die Düse, find der Hochdruckstrahl traf Warwicks Brust und riß ihn von den Füßen.
Aus der Tiefe übertönte ein langgezogener Schrei das Geräusch des Wassers. Klatschende Laute.
»Hall!« Ein Ächzen. Ein unheimliches Quietschen, das den ganzen Raum zu füllen schien.
Plötzlich ein nasses, reißendes Geräusch. Wieder ein Schrei, diesmal schwächer. Etwas Riesiges regte sich dort unten. Deutlich hörte Hall das Knacken brechender Knochen.
Von irgendeinem abnormen Ortungsorgan gelenkt, fiel eine blinde Ratte ohne Beine Hall an und biß zu. Wie abwesend drehte er das Wasser auf und spülte sie davon. Der Druck war nicht mehr ganz so stark wie vorher.
Er an den Rand und schaute hinab.
Die Ratte füllte den ganzen Abflußschacht am hinteren Ende dieses widerlichen Grabes aus. Eine riesige pulsierende graue Masse, ohne Augen und mit völlig zurückgebildeten Beinen. Als Halls Lichtstrahl sie traf, wimmerte sie ekelerregend. Es war die Rattenkönigin, die Magna Mater. Ein riesiges namenloses Wesen; dessen Nachkqmmen wohl eines Tages Flügel haben würden Warwicks Überreste wirkten neben ihr fast zwergenhaft, aber das mußte Täuschung sein. Es war der Schock, eine Ratte zu sehen, die größer war als ein Holsteiner Kalb.
»Alles Gute, Warwick«, sagte Hall. Die Ratte hockte jetzt über dem Vorarbeiter und riß Fleisch von einem seiner schlaffen Armen.
Hall wandte sich ab und rannte zurück. Mit dem Wasserstrahl wehrte er die Ratten ab, aber der Druck wurde immer geringer. Einige bissen ihn in die Beine. Eine andere hing an seinem Schenkel und riß seine Kordhose auf. Er schlug sie mit der Faust weg.
Er hatte etwa dreiviertel des Weges geschafft, als er in der Dunkelheit ein gewaltiges Surren hörte. Er schaute hoch, und ein riesiges fliegendes Wesen klatschte ihm ins Gesicht.
Die mutierten Fledermäuse hatten ihre Schwänze noch nicht verloren. Dieses Exemplar ringelte seinen Schwanz um Halls Genick und würgte ihn, während es gleichzeitig versuchte, ihn in den Hals zu beißen. Dabei krallte es sich in den Fetzen seines Hemdes fest und schlug mit den häufigen Schwingen.
Hall riß den Schlauch hoch und schlug immer wieder zu. Das Wesen fiel von ihm ab, und er zertrat es. Ihm war kaum bewußt, daß er dabei laut kreischte. Und jetzt kamen die Ratten. Sie liefen über seine Füße und kletterten an seinen Beinen hoch. Er rannte taumelnd weiter und konnte einige Ratten abschütteln. Die anderen bissen ihn in Bauch und Brust. Eine sprang auf seine Schulter und steckte die Schnauze in sein Ohr.
Dann traf er auf die zweite Fledermaus. Quietschend saß sie einen Augenblick auf Halls Kopf, und im Davonfliegen riß sie ihm ein großes Stück aus der Kopfhaut.
Er spürte, wie sein Körper erstarrte. Er hörte das Pfeifen und Quietschen von Hunderten von Ratten. Noch einmal bäumte er sich auf, dann sank er in die Knie. Er fing an zu lachen. Es war ein schauriges kreischendes Lachen. Überall die pelzigen Leiber.
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Fünf Uhr morgens. Donnerstag.
»Jemand müßte runtergehen«, sagte Brochu zaghaft.
»Ich nicht«, flüsterte Wisconsky. »Ich nicht.«
»Nein, du natürlich nicht, du Fettsack«, sagte Ippeston verächtlich.
»Gehen wir«, sagte Brogan und ergriff einen Schlauch. »Ich, Ippeston, Dangerfield, Nedeau. Stevenson, du gehst ins Büro und holst noch ein paar Taschenlampen.«
Ippeston starrte nachdenklich in die Dunkelheit hinab. »Wahrscheinlich machen sie nur eine Zigarettenpause«, sagte er. »Ein paar Ratten. Daß ich nicht lache.«
Stevenson brachte die Taschenlampen. Kurz darauf stiegen die Männer nach unten.
Nächtliche Brandung
Nachdem der Bursche gestorben war, und der Gestank seines verbrannten Fleisches sich verzogen hatte, gingen wir alle zurück hinunter zum Strand. Corey hatte sein Radio mit, einen dieser koffergroßen Transistorkästen, für die man an die vierzig Batterien braucht und mit denen man Tonbänder aufnehmen und abspielen kann. Man konnte nicht gerade behaupten, daß die Klangwiedergabe besonders gut gewesen wäre, aber auf jeden Fall war das Ding laut. Vor dem Auftauchen von A6 war Corey ziemlich wohlhabend gewesen, doch das zählte nicht mehr. Selbst sein riesiger Radio-Recorder war kaum mehr als ein hübsch anzusehender Haufen Schrott. Es gab nur noch zwei Rundfunkstationen, die sendeten und die wir empfangen konnten. Die eine war der Sender WKDM in Portsmouth — betrieben von irgendeinem Steinzeitdiskjockey, der auf so ‘nem bescheuerten Religionstrip war. Er spielte eine Perry-Como-Platte, sprach ein Gebet, lamentierte ein bißchen, spielte eine Jonny-Ray-Platte, las aus Psalmen (komplett mit jedem Sela genau wie James Dean in Jenseits von Eden), dann lamentierte er wieder zur Abwechslung. So richtig was zum Wohlfühlen und sich die Zeit vertreiben. Eines Tages sang er »Bringing in the Sheaves« mit einer krächzenden, faden Stimme, über die Needles und ich uns fast totlachten.
Der Sender in Massachusetts war besser, doch den bekamen wir nur nachts fein. Es waren ein paar Kids, die das Programm machten. Ich schätze, sie übernahmen die Sendeanlagen von WRKO oder WBZ, nachdem alle abgehauen oder gestorben waren. Sie meldeten sich mit irgendwelchen witzigen Sendernamen wie WDOPE oder KUNT oder WA6 und ähnlichem. Richtig spaßig, ehrlich — man konnte sich kaputtlachen. Das war die Station, der wir auf unserem Rückweg zum Strand lauschten. Ich ging Hand in Hand mit Susie; Kelly und Joan waren uns ein Stück voraus, und Needles hatte bereits die Dünenkuppé überschritten und war außer Sicht. Carey bildete die Nachhut und schwenkte sein Radio hin und her. Die Stones sangen gerade »Angie«.
»Liebst du mich?« fragte Susie gerade. »Das ist alles, was ich wissen möchte — liebst du mich?« Susie brauchte permanente Bestätigung. Ich war ihr Teddybär.
»Nein«, antwortete ich. Sie wurde allmählich fett, und wenn sie lange genug lebte, womit nicht zu rechnen war, würde sie richtig aus dem Leim gehen. Schon jetzt wurde sie immer geschwätziger.
»Du bist ein Schwein«, sagte sie und fuhr sich mit einer Hand ins Gesicht. Ihre lackierten Fingernägel schimmerten schwach im Licht eines Halbmondes, der vor etwa einer Stunde aufgegangen war.
»Fängst du jetzt wieder an zu weinen?«
»Sei still!« Ihre Stimme klang so, als würde sie jeden Moment wieder losflennen.
Wir überwanden den Dünenkamm, und ich legte eine Rast ein. Ich mußte immer eine Pause einlegen. Vor A6 war dies ein öffentlicher Strand gewesen. Er wimmelte von Touristen, Picknickern, rotznasigen Kindern und fetten, schwabbeligen Großmüttern mit sonnenverbrannten Ellbogen, Bonbonpapier und Dauerlutschern im Sand, dann die reizenden Leute, die miteiander schmusend auf ihren Strandlaken herumlagen, und darüber der Abgasgestank vom Parkplatz, vermischt mit dem Geruch nach Seetang und Sonnenöl.
Doch nun waren der Dreck und der ganze Mist verschwunden. Der Ozean hatte alles verschlungen, ebenso lässig und beiläufig, wie man eine Handvoll Cracker vertilgt und sich nichts dabei denkt. Es gab keine Menschen mehr, die zurückkamen und alles wieder verdreckten. Nur uns, und wir waren nicht genug, um soviel Schmutz zu hinterlassen. Auch wir liebten den Strand, glaube ich zumindest — hatten wir ihm nicht gerade erst eine Art von Opfer dargebracht? Sogar Susie, das Biest Susie mit ihrem fetten Arsch und der roten Jeans mit den weiten Beinen.
Der Sand war weiß und dünenartig gewellt, lediglich begrenzt durch die Flutlinie — ein gewundener Strang aus Seetang, Kelp und Treibholz. Das Mondlicht umnähte alles mit tintigen, schlangenförmigen Schatten. Der einsame Wachturm der Strandaufsicht stand weiß und skelettartig rund fünfzig Yards von den Umkleidekabinen entfernt und wies zum Himmel wie ein entfleischter Fingerknochen.
Und dazu die Brandung, die nächtliche Brandung, die Schaumwolken vor sich hertrieb und, so weit unser Auge reichte, in endlosen Attacken gegen die Landzungen anrannte. Möglich, daß die Wassermassen am Abend vorher sich auf halbem Wege Von England nach hier befunden hatten.
»›Angie‹ von den Stones«, sagte die krächzende Stimme in Coreys Radio. »Ich weiß, daß ihr alle drauf abgefahren seid; ’s war ‘ne Stimme aus der Vergangenheit, der goldenen, kam direkt vom Friedhof, eine Scheibe, die’s voll bringt. Ich bin Bobby Eigentlich sollte Fred jetzt am Mikro sitzen, aber Fred hat die Grippe. Der ist total aufgebläht.« Darauf begann Susie zu kichern, wobei die ersten Tränen noch zwischen ihren Wimpern funkelten. Ich beeilte mich, zum Strand zu kommen, um sie zu beruhigen.
»Warte!« rief Corey. »Bernie? He, Bernie, warte auf mich!«
Der Typ im Radio verlas ein paar schmutzige Limericks, und im Hintergrund fragte ein Mädchen, wo er das Bier hingepackt hätte. Er entgegnete darauf etwas, doch da waren wir bereits am Strand.
Ich schaute mich nach Corey um, wie er zurechtkam. Er rutschte auf seinem Hintern runter, wie immer, und er wirkte dabei so lächerlich, daß er mir sogar ein wenig leidtat.
»Lauf ein Stück mit mir«, sagte ich zu Susie.
»Warum?«
Ich gab ihr einen Klaps auf den Hintern, und sie kreischte auf. »Weil es ein gutes Gefühl ist zu laufen.«
Wir rannten. Sie blieb zurück, keuchte wie ein Pferd und rief hinter mir her, auf sie zu warten, doch ich verdrängte sie aus meinem Kopf. Der Wind pfiff an meinen Ohren vorbei und blies mir die Haare aus der Stirn. Ich konnte das Salz in der Luft riechen, scharf und klar. Die Brandung donnerte. Die Wogen waren wie schaumiges, schwarzes Glas. Ich schleuderte die Gummisandalen von den Füßen und stampfte barfuß über den Strand, ohne auf den stechenden Schmerz einer gelegentlichen Muschel unter meinen Sohlen zu achten. Mein Blut rauschte.
Und dann war da der Schuppen, und Needles war bereits drin, und Kelly und Joan standen Hand in Hand daneben und sahen zum Wasser. Ich vollführte eine Rolle vorwärts, spürte, wie Sand in meinen Kragen rieselte, und prallte gegen Kellys Beine. Er fiel auf mich und drückte mein Gesicht in den Sand, während Joan schallend lachte.
Wir standen auf und grinsten uns gegenseitig an. Susie hatte die Lust am Laufen verloren und stapfte auf uns zu. Corey hatte sie fast eingeholt.
»Das war’n Feuer«, sagte Kelly.
»Meint ihr, er ist den ganzen Weg von New York hergekommen, wie er es erzählt hat?« fragte Joan.
»Weiß ich nicht.« Ich wußte nicht, was das überhaupt ausgemacht hätte. Er hatte hinter dem Lenkrad eines großen Lincoln gesessen, als wir ihn fanden, halb bewußtlos und delirierend. Sein Kopf war zur Größe eines Fußballs aufgedunsen, und sein Hals sah aus wie eine prall gestopfte Wurst. Er hatte sich Captain Trips gefangen und ohnehin keinen weiten Weg mehr vor sich. Deshalb brachten wir ihn zum Aussichtspunkt oberhalb des Strandes und verbrannten ihn. Er meinte, sein Name sei Alvin Sackheim. Er rief dauernd nach seiner Großmutter. Er glaubte, Susie sei seine Großmutter. Das fand sie besonders lustig, Gott weiß warum. Die seltsamsten Dinge kommen Susie lustig vor.
Es war Coreys Idee, ihn zu verbrennen, dabei war es im Anfang eher ein Scherz. Er hatte im College haufenweise Bücher über Hexerei und Schwarze Magie gelesen und schlich die ganze Zeit um Alvin Sackheims Lincoln herum, starrte uns geheimnisvoll an und redete uns ein, wir sollten den dunklen Göttern ein Opfer darbringen, damit deren Geister uns vor A6 beschützten.
Natürlich glaubte keiner von uns an einen solchen Blödsinn, doch unsere Rederei darüber wurde immer ernsthafter. Es war etwas Neues, eine Abwechslung, und am Ende redeten wir nicht mehr, sondern taten es wirklich. Wir fesselten ihn an dieses Beobachtungsding dort oben — man muß eine Münze werfen und kann an klaren Tagen damit bis zum Portland-Leuchtfeuer rüberschauen. Zum Festbinden nahmen wir unsere Gürtel, und dann suchten wir abgestorbene Buschäste und Treibholz zusammen und benahmen uns dabei wie Kinder bei einer neuen Art von Versteckspiel. Die ganze Zeit, während wir herumliefen, hing oder lehnte Alvin Sackheim an dem Pfosten mit dem Fernglas und unterhielt sich murmelnd mit seiner Großmutter. Susies Augen fingen richtig an zu leuchten, und ihr Atem beschleunigte sich. Das Ganze machte sie richtig an. Als wir die Senke jenseits der Buschreihen durchstöberten, drängte sie sich mir plötzlich entgegen und küßte mich. Sie hatte zuviel Lippenstift aufgelegt, und es war genauso, als küßte man einen fettigen Teller.
Ich stieß sie weg, und das war der Moment, als sie anfing zu schmollen.
Wir wanderten zurück, wir alle, und stapelten trockene Äste und Zweige um Alvin Sackheim auf. Needles zündete den Scheiterhaufen mit seinem Zippo-Sturmfeuerzeug an, und schon loderten die Flammen hoch. Am Ende, kurz bevor seine Haare Feuer fingen, begann der Kerl zu schreien. Ein Geruch lag in der Luft wie nach süßem, chinesischem Schweinefleisch.
»Hast du ‘ne Zigarette, Bernie?« fragte Needles.
»Hinter dir liegen an die fünfzig Stangen.«
Er grinste und zerquetschte eine Mücke, die sich auf seinem Arm niedergelassen hatte. »Ich hab’ jetzt keine Lust, mich zu bewegen.«
Ich gab ihm was zu rauchen und ließ mich nieder. Susie und ich hatten Needles in Portland getroffen. Er hockte auf dem Bordstein vor dem State Theater und spielte Leadbelly-Songs auf einer großen alten Gibson-Gitarre, die er irgendwo hatte mitgehen lassen. Die Melodien hallten die ganze Congress Street rauf und runter, als spielte er in einem Konzertsaal.
Susie blieb vor uns stehen, sie war immer noch außer Atem. »Du bist widerlich, Bernie.«
»Hör doch auf, Susie. Dreh die Platte um. Diese Seite stinkt.«
»Bastard. Du saublöder, gefühlloser Hurensohn. Schwein!«
»Verschwinde«, sagte ich, »oder ich verhelf dir zu ’nem blauen Auge, Susie. Sag Feigling!«
Sie fing wieder an zu weinen. Darin war sie richtig gut. Corey kam heran und versuchte, einen Arm um sie zu legen. Sie rammte ihm den Ellbogen in den Unterleib, und er spuckte ihr ins Gesicht.
»Ich bringe dich um!« Sie stürzte sich auf ihn, kreischend und heulend, und ruderte mit den Händen in der Luft herum. Corey wich zurück, fiel beinahe hin, dann wandte er sich um und nahm die Beine in die Hand. Susie verfolgte ihn und kreischte hysterisch Schimpfworte hinter ihm her. Needles legte den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Die Stimmen aus Coreys Radio durchdrangen schwach das Rauschen der Brandung.
Kelly und Joan hatten sich von uns entfernt. Ich konnte sie unten dicht am Wasser sehen, wo sie engumschlungem dahinschlenderten. Sie sahen aus wie ein Werbefoto im Schaufenster eines Reisebüros — Machen Sie Urlaub im traumhaften Lorca. Es war gut so. Zwischen ihnen schien es gut zu laufen.
»Bernie?«
»Was ist?« Ich saß da und rauchte und dachte über Needles nach, der sein Feuerzeug auf und zu schnippte, das Reibrad drehte und mit dem Feuerstein Feuer machte wie ein Höhlenmensch.
»Jetzt hab’ ich’s«, sagte Needles.
»Tatsächlich?« Ich sah ihn an. »Bist du sicher?«
»Klar bin ich sicher. Ich hab’ Kopfschmerzen. Mein Magen tut weh. Und es brennt beim Pinkeln.«
»Vielleicht ist es nur die Hongkong-Grippe. Susie hatte Hongkong-Grippe. Sie fragte nach einer Bibel.« Ich lachte. Das war, als wir noch die Universität besuchten, etwa eine Woche, bevor sie ganz geschlossen wurde und etwa einen Monat, bevor man die Leichen in Kipplastwagen abtransportierte und mit Sprengladungen in Massengräbern bestattete.
»Sieh doch«, Er zündete ein Streichholz an und hielt es unter seinen Jochbogen. Ich konnte die ersten dreieckigen Flecken erkennen, die erste Schwellung. Es war tatsächlich A6.
»Okay«, sagt ich.
»Ich fühl nach gar nicht so schlecht«, meinte er. »Rein geistig, meine ich. Bei dir sieht’s wohl anders aus. Du denkst viel darüber nach. Da bin ich ganz sicher.«
»Nein; stimmt nicht.« Eine Lüge.
»Und wie du drüber nachdenkst. Wie dieser Kerl heute abend. Auch darüber denkst du nach. Wahrscheinlich haben wir ihm einen Gefallen getan. Ich glaube, daß er noch nicht wußte, was mit ihm geschah.«
»Er wußte es.«
Er zuckte die Achseln und drehte sich auf seine Seite. »Ist auch egal.«
Wir rauchten, und ich sah zu, wie die Brandung den Strand hinaufrollte und wieder zurückfloß. Needles hatte Captain Trips. Das ließ wieder die Wirklichkeit über uns hereinbrechen. Es war bereits Ende August, und schon in zwei Wochen würde die erste Herbstkühle sich breitmachen. Zeit, sich unter ein schützendes Dach zu verziehen. Winter. Zu Weihnachten tot, vielleicht wir alle. In irgendeinem Zimmer, daneben Coreys sündteurer Radiorecorder auf einem Regal voll mit Romanbüchern des Reader’s Digest und über allem das fahle Licht der entkräfteten Wintersonne, die sinnlose Fensterrahmenmuster auf den Teppich zeichnet.
Die Vision war so eindringlich, daß ich erschauerte. Niemand sollte schon im August an den Winter denken. Es ist genauso, als watschelte eine Weihnachtsgans über das eigene Grab.
Needles lachte. »Siehst du? Du denkst doch daran.«
Was sollte ich darauf erwidern? Ich stand auf. »Ich seh mal nach Susie.«
»Möglich, daß wir die letzten Menschen auf der Erde sind, Bernie. Hast du jemals daran gedacht?« In dem schwachen Mondlicht sah er fast halbtot aus mit Rändern unter den Augen und bleichen, reglosen Fingern wie Bleistifte.
Ich ging hinunter zum Wasser und schaute hinaus. Dort war nichts zu sehen, außer ruhelosen, rollenden Wellenbuckeln, die von zarten Schaumkränzen bedeckt waren. Das Donnern der Brecher war hier unten überwältigend, mächtiger als die Welt. Es war, als stünde man inmitten eines Gewitters. Ich schloß die Augen und wiegte mich auf meinen nackten Füßen. Der Sand war kalt und feucht und wie festgestampft. Und wenn wir wirklich die letzten Menschen auf der Erde waren, was machte es schon aus? Dies hier würde weitergehen, solange es einen Mond gab, der das Wasser anzog.
Susie und Corey waren am Strand. Susie ritt auf ihm, als wäre er ein widerspenstiger Hengst, der mit dem Kopf voran durch die kochenden Wellen stürmte. Corey ruderte und planschte. Sie waren beide völlig durchnäßt. Ich ging weiter und stieß sie mit dem Fuß hinunter. Corey entfernte sich wild um sich spritzend auf allen Vieren und spuckte und brüllte dabei.
»Ich hasse dich!« schrie Susie mich an. Ihr Mund war eine düster grinsende Schlange. Er sah aus wie der Eingang zu einem Kuriositätenkabinett.
Als ich noch ein Kind war, nahm meine Mutter uns Winzlinge mit zum Harrison State Park, und dort gab es ein Kuriositätenkabinett mit einem riesigen Clownsgesicht als Fassade, und man betrat die Bude durch den Mund des Clowns.
»Komm schon, Susie. Auf, Hundchen!« Ich streckte meine Hand aus. Sie griff mißtrauisch danach und erhob sich. Feuchter Sand klebte an ihrer Bluse und auf der Haut.
»Du brauchtest mich nicht wegzustoßen, Bernie. Du brauchst noch nicht einmal …«
»Komm schon.« Sie war ganz anders als eine Musikbox. Man brauchte nie eine Münze hineinzuwerfen, und niemals konnte ihr Stecker aus der Steckdose gezogen werden.
Wir wanderten über den Strand hinauf zum Kaufhaus. Der Mann, der den Laden leitete, hatte sich darüber ein kleines Apartement eingerichtet. Ein Bett stand dort. Sie hatte wirklich kein Bett verdient, doch Needles hatte darin ganz recht. Es machte keinen Unterschied. Es war gleichgültig. Niemand kümmerte sich mehr darum, wie das Spiel endete.
Die Treppe befand sich an der Außenwand des Gebäudes, doch blieb einen Moment stehen und betrachtete durch das geborstene Schaufenster die verstaubten Waren, die zu plündern niemand sich die Mühe gemacht hatte — stapelweise Sweatshirts (mit der Schrift »Anson Beach« und einem Bild mit Himmel und Wellen auf der Brust), goldglänzende Armbänder, die einem schon am zweiten Tag das Handgelenk grün färbten, glitzernde Blechohrringe, Strandbälle, schmuddelige Ansichtskarten, dilettantisch bemalte Tonmadonnen, Erbrochenes aus Plastik (Täuschend echt! Erschrecken Sie damit die eigene Ehefrau!), Wunderkerzen für einen 4. Juli, der niemals mehr stattfinden würde, Strandlaken mit verführerischen Bikinischönheiten, die sich inmitten Hunderter Namen berühmter Seebäder räkelten, Fähnchen (Erinnerung an Anson Beach und Park), Luftballons, Badekleidung. Im vorderen Teil des Ladens war eine Imbißstube eingerichtet, in deren Fenster ein großes Schild verkündete: KOSTEN SIE UNSERE SPEZIAL MUSCHELSUPPE.
Als ich noch die High-School besuchte, war ich oft zum Anson Beach gekommen. Das war sieben Jahre vor A6, und ich ging damals mit einem Mädchen namens Maureen. Sie war ziemlich groß. Sie hatte einen Badeanzug mit pinkfarbenen Karos. Ich sagte ihr immer, er sähe aus wie eine Tischdecke. Wir waren auf dem Gehsteig vor dem Gebäude spazierengegangen, barfuß, die Bohlen heiß und sandig unter unseren Fußsohlen. Die Spezial Muschelsuppe hatten wir nie versucht.
»Wonach hältst du Ausschau?«
»Nach nichts. Komm weiter.«
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Ich hatte einen verschwitzten, häßlichen Traum mit Alvin Sackheim. Er hockte aufrecht hinter dem Lenkrad seines blitzenden gelben Lincoln und sprach von seiner Großmutter. Er war nicht mehr als ein aufgedunsener schwarzer Kopf und ein verkohltes Skelett. Er stank verbrannt. Er redete und redete, und nach einer Weile konnte ich kein einziges Wort mehr verstehen. Heftig atmend wachte ich auf.
Susie lag auf meinen Schenkeln, blaß und angedunsen. Meine Uhr verkündete 3:50, doch sie war stehengeblieben. Draußen war es noch dunkel. Die Brandung donnerte und rauschte, Hochflut. Das hieß etwa 4:15 Uhr. Bald schon hell. Ich stieg aus dem Bett und ging zur Tür. Die Meerbrise umfächelte angenehm meinen erhitzten Körper. Trotz allem wollte ich nicht sterben.
Ich ging rüber in die Ecke und holte mir ein Bier. Drei oder vier Kästen Budweiser waren an der Wand aufgestapelt. Das Bier war warm, weil es keinen Strom mehr gab. Doch ich hab’ nichts gegen warmes Bier wie viele andere Leute. Es schäumt nur etwas stärker. Bier ist Bier. Ich ging hinaus auf den Treppenabsatz und setzte mich nieder und riß den Verschluß auf.
Da waren wir also, die gesamte menschliche Rasse, ausgelöscht, und zwar nicht von Atomwaffen oder biologischen Kriegswaffen oder von der Umweltverschmutzung oder irgend etwas Großem. Nur von der Grippe. Ich würde am liebsten irgendwo, vielleicht in den Salzseen um Bonneville, ein riesiges Zeichen auslegen. Eine Bronzeinschrift. Drei Meilen lang. Und in mächtigen Lettern würde sie verkünden, um alle möglicherweise zur Landung ansetzenden Besucher von anderen Sternen zu warnen: NUR VON DER GRIPPE.
Ich warf die Bierdose über das Geländer. Sie landete mit einem hohlen Scheppern auf dem Zementweg, der das Gebäude umrundete. Der Schuppen war ein dunkles Dreieck auf dem Sand. Ich überlegte, ob Needles wohl wach war. Ich fragte mich, ob ich es wäre.
»Bernie?« Sie stand in der Tür und trug eines meiner Hemden. Ich hasse das. Sie stinkt wie ein Schwein.
»Du magst mich nicht mehr besonders, nicht wahr, Bernie?«
Ich erwiderte nichts. Es gab Zeiten, da empfand ich einfach für alles Mitleid. Sie verdiente mich nicht mehr, als ich sie verdiente.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
»Ich glaube, für uns beide ist es nicht breit genug.«
Sie gab einen erstickten Schluckauflaut von sich und schickte sich an, wieder ins Haus zurückzugehen.
»Needles hat A6«, sagte ich.
Sie verharrte und starrte mich an. Ihr Gesicht blieb sehr ruhig. »Mach keine Witze, Bernie.«
Ich zündete eine Zigarette an.
»Das ist unmöglich! Er hatte —«
»Ja, er hatte A2. Hongkong-Grippe. Genau wie du und ich und Corey und Kelly und Joan.«
»Aber das würde doch bedeuten, daß er nicht —«
»— immun ist.«
»Ja. Dann könnten wir es bekommen.«
»Vielleicht hat er gelegen, als er sagte, er hätte A2 gehabt. Damit wir ihn damals bei uns aufnahmen«, meinte ich.
Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Sicher, das ist es. An seiner Stelle hätte ich auch gelogen. Niemand ist gerne allein.« Sie zögerte. »Kommst du zurück ins Bett?«
»Nicht gerade jetzt.«
Sie ging hinein. Ich brauchte ihr nicht zu erklären, daß A2 keine Garantie vor A6 war. Das wußte sie. Sie hatte es nur verdrängt. Ich saß da und beobachtete die Brandung. Sie hatte tatsächlich den höchsten Punkt erreicht. Vor Jahren war Anson der einzige halbwegs anständige Ort im Staat zum Wellenreiten gewesen. Der Point war ein düsterer, kantiger Klotz gegen den Himmel. Ich dachte, ich könnte den hoch oben liegenden Beobachtungsstand erkennen, doch das war wahrscheinlich reine Einbildung. Manchmal nahm Kelly Joan dorthin mit. Ich glaube nicht, daß sie in jener Nacht dort oben waren.
Ich legte mein Gesicht in die Hände und betastete es, spürte die Haut, ihre Körnung und Struktur. Alles verging so schnell, und es war so gemein — es lag keine Würde darin.
Die Brandung rollte herein und herein. Endlos. Sauber und tief. Wir waren im Sommer hergekommen, Maureen und ich, im Sommer nach der High-School, im Sommer vor dem College und vor der Wirklichkeit und ehe A6 aus Südostasien herüberkam und die Welt wie ein Leichentuch zudeckte, Juli, wir hatten Pizza gegessen und lauschten ihrem Radio, ich hatte Öl auf ihrem Rücken verteilt, sie hatte Öl auf meinem Rücken verteilt, es war heiß gewesen, der Sand hell, die Sonne wie ein Brennglas.
Ich bin das Tor
Richard und ich saßen auf meiner Veranda und schauten über die Dünen auf den Golf hinaus. Der Rauch seiner Zigarre hing träge in der Luft, und die Moskitos blieben in gemessener Entfernung. Das Wasser war ein kaltes Blaugrün, der Himmel ein tieferes, echteres Blau. Eine angenehme Kombination.
»Du bist das Tor«, wiederholte Richard nachdenklich. »Du also sicher, daß du den Jungen umgebracht hast. Oder hast du das Ganze vielleicht nur geträumt?«
»Ich habe es nicht geträumt. Und ich habe ihn auch nicht umgebracht. Das habe ich dir doch schon erzählt. Sie waren es. Ich bin nur das Tor.«
Richard seufzte. »Hast du ihn begraben?«
»Ja.«
»Weißt du noch wo?«
»Ja.« Ich griff in die Brusttasche und holte eine Zigarette raus. Mit den Bandagen an den Händen war das gar nicht so einfach. Das Jucken war unerträglich. »Wenn du das Grab sehen willst, müssen wir deinen Buggy nehmen. Du kannst mich doch nicht«— ich zeigte auf meinen Rollstuhl — »auf diesem Ding durch den Sand rollen.«
Richards Buggy war ein 1959er VW mit riesigen Reifen. Mit dem Ding sammelte er Treibholz. Er war Immobilienmakler in Maryland gewesen, und seit er sich aus dem Gewerbe zurückgezogen hatte, lebte er in Key Caroline. Aus dem Treibholz schnitzte er Figuren, die er im Winter zu unverschämten Preisen an Touristen verkaufte.
Er zog an seiner Zigarette und schaute auf das Wasser hinaus. »Noch nicht. Willst du mir nicht alles noch einmal erzählen?«
Ich seufzte und versuchte, mir die Zigarette anzuzünden. Er nahm mir die Streichhölzer weg und tat es selbst. Ich zog zweimal an der Zigarette und atmete den Rauch tief ein. Das Jucken an meinen Fingern machte mich fast wahnsinnig.
»Okay«, sagte ich. »Gestern abend um sieben war ich hier draußen und schaute auf den Golf hinaus und tauchte. Genau wie jetzt.«
»Geh weiter zurück«, bat er.
»Weiter?«
»Erzähl mir von dem Flug.«
Ich schüttelte den Kopf. »Richard, darüber haben wir uns doch schon hundertmal unterhalten. Da ist nichts —«
Sein zerfurchtes Gesicht wirkte so rätselhaft wie seine Treibholzfiguren. »Vielleicht erinnerst du dich dann«, sagte er. »Vielleicht fällt dir dabei etwas ein.«
»Meinst du wirklich?«
»Es ist doch möglich. Und wenn du fertig bist, suchen wir das Grab.«
»Das Grab«, sagte ich. Es klang hohl und entsetzlich und dunkel. Dunkler noch als der ganze schreckliche Ozean, durch den Cory und ich vor fünf Jahren hindurch mußten. Dunkel, dunkel, dunkel.
Unter den Bandagen starrten meine neuen Augen blind in die Dunkelheit, die ihnen eben diese Bandagen aufzwang. Sie juckten.
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Eine Saturn 16 trug Cory und mich in die Umlaufbahn. Die Kommentatoren nannten sie die Empire-State-Building-Rakete. Sie war wirklich ein Ungetüm. Verglichen mit ihr wirkte die alte Saturn 1-B wie eine Redstone. Die 16 startete aus einem sechzig Meter tiefen Schacht, denn sonst hätte sie das halbe Cape Kennedy mitgerissen.
Während der Erdumkreisung überprüften wir alle Systeme und schwenkten dann auf unsere Flugbahn ein. Unser Ziel war die Venus. Wir ließen einen Senat zurück, der darüber zerstritten war, ob er noch weitere Raumfahrtprojekte finanzieren solle, und einen Haufen NASA-Leute, die händelingend hofften, daß wir etwas finden würden. Irgend etwas.
»Ganz gleich was«, sagte Don Lovinger gern, wenn er ein paar getrunken hatte. Dieser Wichtigtuer vertrat bei dem Projekt Zeus die Privatindustrie. »Ihr seid hervorragend ausgerüstet«, sagte er. »Ihr habt fünf hochgezüchtete TV-Kameras und ein hübsches kleines Teleskop mit Millionen von Linsen und Filtern. Ihr müßt Gold oder Platin finden. Besser noch findet ihr ein paar kleine blaue Männchen, die wir studieren und denen wir uns überlegen fühlen können. Und wenn ihr nur Rotkäppchen und den bösen Wolf findet, wäre das besser als gar nichts.«
Wenn es nur möglich gewesen wäre, hätten Cory und ich den Leuten gern den Gefallen getan. Im Raumfahrtprogramm lief überhaupt nichts mehr. Von Borman, Anders und Lovell, die 1968 den Mond umrundeten und eine öde leere Welt vorfanden, die wie verdreckter Strandsand aussah, bis zu Markham und Jacks, die zwanzig Jahre später auf dem Mars landeten, wo sie nur trockene Wüste und ein paar Flechten sahen, war das gesamte Raumfahrtprogramm nichts als ein teurer Fehlschlag gewesen. Und es hatte Tote gegeben. Pedersen und Lederer sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit um die Sonne zu kreisen. Bei dieser zweitletzten Apollomission hatte plötzlich überhaupt nichts mehr funktioniert. Das kleine Raumobservatorium, in dem John Davis sich auf einer Umlaufbahn befand, wurde — die Wahrscheinlichkeit war eins zu tausend — von einem Meteoriten durchlöchert. Nein, das Raumfahrtprogramm gab nichts mehr her. Wie die Dinge standen, war unser Flug zur Venus wahrscheinlich unsere letzte Chance, den Leuten zu sagen, daß wir es von Anfang an gewußt hätten.
Der Hinflug dauerte sechzehn Tage — wir aßen eine Menge Konzentrate, spielten oft Rommé und steckten uns immer wieder gegenseitig mit einer Erkältung an — und vom Technischen her war das Ganze Routine. Am dritten Tag verloren wir Luftfeuchtigkeitskonverter. Bis zum Wiedereintritt war das, von Kleinigkeiten abgesehen, auch schon alles. Wir sahen die Venus von einem Stern zur Größe einer Vierteldollarmünze anwachsen, und schließlich hing sie als milchige Kristallkugel vor uns. Die Leute von der Kontrolle in Huntsville erzählten uns Witze und umgekehrt. Wir hörten Musik von Wagner und von den Beatles und überwachten die automatisch ablaufenden Experimente, vorn Messen der Solarwinde bis zu Navigationsexperimenten. Wir veranlaßten zwei geringfügige Kurskorrekturen, und am neunten Tag ging Cory nach draußen und schlug so lange gegen die einfahrbare DESA, bis sie endlich funktionierte. Es geschah absolut nichts Ungewöhnliches, bevor wir…
»DESA«, sagte Richard. »Was ist das?«
»Ein Experiment, das kein Ergebnis brachte. Eine NASA-Bezeichnung für Raumantenne — wir funkten Pi in Hochfrequenzschwingungen, für den Fall, daß jemand zuhörte.« Ich rieb die Finger an der Hose, aber es half nicht. Das Jucken wurde eher noch schlimmer. »Etwas Ähnliches wie das Radioteleskop in West Virginia«, fuhr ich fort, »mit dem Signale aus dem All aufgefangen werden können. Wir haben allerdings nicht gelauscht, sondern selbst gesendet. Hauptsächlich zielten wir dabei auf die äußeren Planeten — Jupiter, Saturn, Uranus. Falls es dort intelligente Wesen gibt, müssen sie gepennt haben.«
»Ging nur Cory nach draußen?«
»Ja. Und wenn er irgendeine interstellare Pest eingeschleppt haben sollte… die Telemetrie hat es nicht registriert.«
»Trotzdem —«
»Es spielt keine Rolle«, sagte ich wütend. »Nur das Hier und Jetzt ist wichtig. Sie haben den Jungen gestern abend umgebracht, Richard. Es war kein schöner Anblick — es war entsetzlich. Sein Kopf…explodierte. Als ob jemand ihm das Gehirn herausgekratzt und eine Handgranate in den Schädel gesteckt hätte.«
»Erzähl die Geschichte Zu Ende«, sagte er.
Ich lachte hohl. »Was gibt es da zu erzählen?«
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Wir gingen in eine exzentrische Bahn um den Planeten. Eine extreme Bahn, die immer schwieriger wurde, drei zwanzig mal sechsundsiebzig Meilen. Das war bei der ersten Umrundung. Bei der zweiten erreichten wir einen noch höheren Wert für die größte Erdferne, und die größte Erdnähe war geringer. Wir hatten maximal vier Umläufe. Wir haben alle vier gemacht. Wir konnten den Planeten gut beobachten.
Wir machten über sechshundert Aufnahmen und verschossen weiß wie viele Meter Film.
Die Wolkendecke besteht zu gleichen Teilen aus Methan, Ammoniak, Staub und fliegender Scheiße. Der ganze Planet sieht aus wie der Grand Canyon im Windkanal. Cory schätzte die Windgeschwindigkeit in Bodennähe auf etwa 600 Meilen pro Stunde. Wir hörten die Signale unserer Sonde, bis sie gelandet war. Dann gab sie ein Kreischen von sich und verstummte. Wir sahen keine Vegetation und auch sonst keine Anzeichen von Leben. Das Spektroskop registrierte nur Spuren von wertvollen Mineralien. Das also war die Venus. Nichts als nichts — und dennoch hatte ich Angst. Es war, als umkreiste man mitten im Raum ein Haus, in dem es spukte. Ich weiß, es klingt recht unwissenschaftlich, aber ich hatte eine panische Angst. Ich war erleichtert, als wir wieder auf dem Rückweg waren. Wenn unsere Raketen nicht gezündet hätten…wahrscheinlich hätte ich mir auf dem Weg nach unten die Kehle durchgeschnitten. Die Venus ist anders als der Mond. Der Mond ist zwar öde und irgendwie antiseptisch. Die Welt, die wir sahen, war völlig anders als alles, was je ein Mensch gesehen hat. Vielleicht ist es gut, daß der Planet eine Wolkendecke hat. Er wirkt wie ein Schädel, von dem alles Fleisch abgenagt wurde — besser kann ich es nicht beschreiben.
Auf dem Rückweg erfuhren wir, daß der Senat die Zuweisungen für die Welraumerforschung halbiert hatte. »Jetzt sind wir nur noch mit Wettersatelliten im Geschäft«, sagte Cory, oder soähnlich. Aber ich war eigentlich ganz froh. Gehören wir wirklich dort draußen hin?
Zwölf Tage später war Cory tot und ich lebenslang ein Krüppel. Der ganze Ärger fing nach dem Wiedereintritt an. Der Fallschirm funktionierte nicht ordnungsgemäß. Eine der kleinen Ironien des Lebens! Wir waren über einen Monat im Raum gewesen. Wir waren weiter gelangt als je ein Mensch vor uns, und alles mußte so enden, weil irgendein Idiot seine Kaffeepause nicht abwarten konnte und deshalb ein paar Leinen durcheinanderbrachte.
Eine verdammt harte Landung. Einer der Hubschrauberpiloten sagte, es habe ausgesehen, als fiele ein Riesenbaby vom Himmel und zöge die Plazenta hinter sich her. Beim Aufschlag verlor ich das Bewußtsein.
Ich kam erst wieder zu mir, als sie mich über das Deck der Portland trugen. Der rote Teppich, auf dem wir hätten gehen sollen, war noch gar nicht ausgerollt. Ich blutete. Sie trugen mich über einen roten Teppich, der nicht halb so rot war wie ich, ins Lazarett…
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»Zwei Jahre blieb ich im Bethesda-Hospital. Ich bekam eine Tapferkeitsrnedaille, einen Haufen Geld und diesen Rollstuhl. Ein Jahr darauf kam ich hierher. Ich beobachte gern die Raketenstarts.«
»Ich weiß«, sagte Richard und schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Zeig mir deine Hände.«
»Nein!« Meine Antwort kam schnell und scharf. »Sie dürfen sie nicht sehen. Das habe ich dir doch gesagt.«
»Es ist fünf Jahre her«, sagte Richard. »Warum denn immer noch, Arthur? Kannst du mir das erklären?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch nicht! Was es auch ist, vielleicht wirkt es lange nach. Und wer will behaupten, daß ich es dort draußen gekriegt habe? Was es auch ist, es kann mich auch in Fort Lauderdale erwischt haben. Oder vielleicht sogar hier auf dieser Veranda. Weiß ich das?«
Richard seufzte und schaute auf das Wasser hinaus, daas die sinkende Sonne jetzt in rötliches Licht tauchte. »Es fällt mir schwer, Arthur, aber ich möchte nicht gerne glauben, daß du im Begriff bist, den Verstand zu verlieren.«
»Wenn ich unbedingt muß, zeige ich dir meine Hände«, sagte ich. Der Satz kostete mich einige Anstrengung. »Aber nur, wenn ich muß.«
Richard stand auf und nahm seinen Stock. Er sah alt und gebrechlich aus. »Ich hole den Buggy. Wir werden nach dem Jungen suchen.«
»Danke, Richard.«
Er auf dem ausgefahrenen Sandweg davon, der zu seiner Hütte führte. Hinter der großen Düne, die sich an Key Caroline entlangzog, war gerade noch das Dach zu sehen. Über dem Wasser zum Kap hin hatte der Himmel eine häßliche violette Farbe angenommen, und in der Ferne hörte ich es leise donnern.
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Ich wußte nicht, wie der Junge hieß, aber ich sah ihn hin und wieder, wenn er mit einem Sieb unter dem Arm den Strand entlangging. Er war von der Sonne fast schwarzgebrannt und trug immer nur alte abgeschnittene Jeans. Am anderen Ende von Key Caroline liegt ein öffentlicher Badestrand, und ein fleißiger junger Mann kann am Tag gut und gern fünf Dollar zusammenbekommen, wenn er nur geduldig den Sand nach Münzen durchsiebt. Gelegentlich winkte ich ihm zu, und er winkte zurück. Eine unverbindliche Bekanntschaft. Wir waren Fremde und doch Brüder, denn wir wohnten hier das ganze Jahr über und hatten mit den Touristen nichts zu schaffen, die viel Geld ausgaben, Cadillacs fuhren und auch sonst großspurig auftraten. Ich nahm an, daß er in einem der Häuser wohnte, die in etwa achthundert Metern Entfernung um das kleine Postamt herumstanden.
Als er an jenem Abend vorbeikam, hatte ich schon eine Stunde reglos auf der Veranda gesessen und die Szenerie beobachtet. Vorher hatte ich die Bandagen abgenommen. Das Jucken war unerträglich geworden. Ein wenig besser wurde es nur, wenn meine Hände ihre Augen benutzen konnten.
Ein unbeschreibliches Gefühl — ich kam mir vor wie ein Portal, das ein wenig offenstand und durch das meine Hände eine Welt erblickten, die sie haßten und fürchteten. Aber das Schlimmste war, daß ich auch selbst irgendwie sehen konnte. Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn stecke im Kopf einer Stubenfliege, und diese Stubenfliege schaute Sie aus tausend Augen an. Dann würden Sie vielleicht begreifen, warum ich meine Hände bandagierte, selbst wenn niemand sie sehen konnte.
In Miami fing es an. Dort hatte ich mit einem Mann namens Cresswell zu tun. Der Mann ist hoher Marineoffizier und muß mich einmal im Jahr überprüfen. Schließlich bin ich im Zusammenhang mit der Raumfahrt Geheimnisträger. Was erwartet der Kerl? Verschlagene Blicke? Kainszeichen auf der Stirn? Das mag der Himmel wissen. Jedenfalls ist meine Pension so hoch, daß es mir fast peinlich ist.
Cresswell und ich saßen auf dem Balkon seines Hotelzimmers und tranken. Wir diskutierten das Raumfahrtprogramm der Vereinigten Staaten. Es war etwa Viertel nach drei. Meine Finger begannen zu jucken. Nicht etwa allmählich. Nein, es war, als würde Strom eingeschaltet. Das sagte ich Cresswell.
»Sie haben auf dieser skrofulösen kleinen Insel wohl giftige Blätter angefaßt«, sagte er grinsend.
»Das einzige Laubwerk auf Key Caroline ist ein lächerliches Fächerpalmengestrüpp«, sagte ich. »Vielleicht kommt das Jucken nur alle sieben Jahre.« Ich betrachtete meine Hände. Sie waren völlig normal. Aber sie juckten.
Später unterschrieb ich dann wieder das gleiche Formular (»Ich versichere hiermit an Eides Statt, daß ich weder Informationen erhalten noch weitergegeben habe, die geeignet wären …«) und fuhr nach Hause. Ich habe einen alten Ford mit Handgas. Auch die Bremsen betätige ich mit der Hand. Ich hänge an dem Schlitten. Er gibt mir das Gefühl, nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Der Rückweg über die Route 1 ist weit, und als ich endlich die Ausfahrt nach Key Caroline erreichte, war ich dem Wahnsinn nahe. Meine Hände juckten wie verrückt. Wenn Sie jemals an sich selbst erlebt haben, wie eine tiefe Schnittwunde oder eine Operationsnaht verheilt, wissen Sie ungefähr, wie dieses Jucken sich anfühlt. Es war, als kröchen Lebewesen über meine Hände und bohrten sich in das Fleisch.
Die Sonne war fast untergegangen, und im trüben Licht der Armaturenbrettbeleuchtung betrachtete ich lange meine Hände. Die Fingerspitzen waren jetzt rot, und ich sah wie mit dem Zirkel gezogene winzige rote Kreise. Sie saßen ein wenig oberhalb der Fingerkuppen, von denen man Abdrücke nehmen kann, und an denen man Hornhaut kriegt, wenn man Gitarre spielt Auch zwischen dem ersten und zweiten Glied der Daumen und Finger und zwischen zweitem Glied und Knöchel entdeckte ich diese roten Kreise. Ich hob die Finger der rechten Hand an die Lippen und ließ sie angewidert fallen. Mich packte dumpfes Entsetzen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Die Stellen mit den roten Flecken fühlten sich heiß an, als hätte ich Fieber, aber die übrige Haut war weich und kalt wie die eines verrotteten Apfels.
Während ich weiterfuhr, versuchte ich, mir einzureden, daß ich tatsächlich irgendwelche giftigen Pflanzen angefaßt haben mußte. Aber dann kam mir ein entsetzlicher Gedanke. In meiner Kindheit hatte ich eine Tante. Sie verbrachte die letzten zehn Jahre ihres Lebens völlig isoliert in einem Zimmer im Obergeschoß unseres Hauses. Meine Mutter trug ihr das Essen hinauf, und ihr Name durfte nicht erwähnt werden. Später erfuhr ich, daß sie an der Hansenschen Krankheit litt — Lepra.
Als ich zu Hause war, rief ich Dr. Flanders an, der auf dem Festland wohnte. Es meldete sich nur der Telefonauftragsdienst. Dr. Flanders sei zum Angeln gefahren. Wenn es aber dringend sei, dann könnte man Dr. Ballanger —
»Wann ist Dr. Flanders zurück?«
»Spätestens morgen nachmittag. Würde das…?«
»Aber ja.«
Nachdenklich legte ich auf und rief wenig später Richard an. Ich ließ es ein dutzendmal klingeln. Nichts. Unentschlossen saß ich eine Weile herum. Das Jucken war schlimmer geworden. Es ging jetzt vom Fleisch selbst aus.
Ich rollte mit meinem Stuhl an das Bücherregal und zog das zerfledderte medizinische Wörterbuch heraus, das ich schon seit Jahren hatte. Ich fand keine Erklärung für meine Symptome. Alle zu vage. Es hätte alles Mögliche oder gar nichts sein können.
Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Ich hörte die alte Schiffsuhr drüben in der Ecke ticken. Das pfeifende Dröhnen eines Jets, der gerade in Richtung Miami startete. Den leisen Hauch meines Atems.
Ich starrte immer noch auf das Buch in meiner Hand.
Mir kam eine grauenhafte Erkenntnis, langsam erst und dann auf einen Schlag. Ich hatte die Augen geschlossen und doch sah ich das Buch! Was ich sah, war verschwommen und monströs, das verzerrte vierdimensionale Abbild eines Buchesr, dennoch als solches deutlich zu erkennen.
Und ich war nicht der einzige Betrachter.
Ich riß die Augen auf und spürte, wie sich mir das Herz zusammenzog. Dieses Gefühl ließ nach, wenn es auch nicht ganz wich. Ich betrachtete die aufgeschlagenen Seiten und sah mit eigenen Augen das Schriftbild und die Diagramme. Eine alltägliche Sache. Aber gleichgzeitig sah ich alles von unten, aus einem anderen Winkel und aus anderen Augen. Und ich sah kein Buch mehr, sondern etwas Schauriges, Fremdartiges und Unheilkündendes.
Ich schlug die Hände vor die Augen und sah mein Wohnzimmer als Horrorvision.
Ich schrie.
Durch die Risse im Fleisch meiner Finger schauten Augen mich an. Ich sah, wie das Fleisch sich öffnete und zurückschob, damit diese toten Augen an die Oberfläche gelangten.
Aber nicht deshalb schrie ich. Ich hatte mir selbst ins Gesicht gesehen und ein Ungeheuer erblickt.
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Die Schnauze des Buggy tauchte über dem Hügel auf, und Richard hielt vor meiner Veranda. Der Motor lief unregelmäßig, und es gab ein paar Fehlzündungen. Ich fuhr mit dem Rollstuhl die Schräge neben der Treppe hinab, und Richard half mir in den Wagen.
»Okay, Arthur«, sagte er. »Dies ist deine Party. Wohin?«
Ich zeigte zum Wasser hinunter, wo die große Düne auslief. Richard nickte Die Hinterräder drehten durch und ließen den Sand spritzen. Normalerweise machte ich hämische Bemerkunngen über Richards Fahrkünste, aber heute abend versagte ich mir das. Ich mußte an zu viele Dinge denken. Und dann war das Gefühl: Sie wollen nicht im Dunkeln bleiben. Ich spürte, wie sie versuchten, durch die Bandagen hindurchzuschauen, wie sie mich veranlassen wollten, die Bandagen abzunehmen.
Holpernd und rüttelnd dröhnte der Buggy durch den Sand zum Wasser hinunter. Auf dem Weg nach unten schien er manchmal fast abheben zu wollen. Blutrot ging links die Sonne unter. Direkt vor uns zogen Gewitterwolken auf. Blitze zuckten über der See.
»Nach rechts«, sagte ich. »Bei dem Schuppen dort.«
Richard brachte den Buggy neben den verrotteten Überresten des Schuppens zum Stehen. Er griff nach hinten und hielt plötzlich einen Spaten in der Hand. Ich zuckte zusammen. »Wo?« fragte Richard ohne jede Regung.
»Gleich hier.« Ich zeigte ihm die Stelle.
Er stieg aus und ging langsam durch den Sand. Dann stieß er den Spaten in den Boden. Er grub lange. Der Sand, den er hinter sich warf, war feucht. Die Gewitterwolken waren dunkler geworden und standen hoch über uns, und unter ihrem Schatten wirkte die See um so bedrohlicher. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch das erlöschende Rot der sinkenden Sonne.
Lange bevor er aufhörte zu graben, wußte ich schon, daß er den Jungen nicht finden würde. Sie hatten ihn fortgeschafft. Denn gestern abend waren meine Hände nicht bandagiert gewesen. Deshalb hatten sie auch sehen können. Schlimmer noch: Sie hatten gehandelt. Und wenn sie mich dazu bringen konnten, den Jungen zu töten, dann konnten sie mich auch dazu veranlassen, ihn wegzuschaffen. Selbst im Schlaf.
»Hieer liegt der Junge nicht, Arthur.« Er warf die dreckige Schaufel in den Buggy und ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen. Die aufziehenden Wolken zeichneten Schatten in den Sand, die sich ständig veränderten. Der Wind fegte den Sand gegen die verrosteten Blechfeile des Buggys. Meine Finger juckten.
»Sie haben mich als Werkzeug benutzt«, sagte ich dumpf. »Und ich habe ihn von hier entfernt. Sie gewinnen die Oberhand, Richard. Mit Gewalt öffnen sie das Tor. Ganz langsam nur, aber sie öffnen es. Hundertmal am Tag sehe ich etwas mir völlig Vertrautes — einen Spachtel, ein Bild oder nur eine Dose Bohnen. Ich stehe direkt vor diesen Dingen und weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Ich strecke die Hände aus und zeige es ihnen, und genau wie sie sehe ich etwas Obszönes, etwas Verbogenes, etwas Groteskes —«
»Arthur«, sagte er. »Arthur, hör auf. Laß diesen Unfug.« Im Licht der sinkenden Sonne sah ich das Mitleid in seinem Gesicht. »Du sagst, du hättest vor etwas gestanden. Du sägtest, du hättest die Leiche des Jungen von hier fortgeschafft. Du kannst doch nicht gehen, Arthur. Von der Hüfte abwärts bist du tot.«
Ich griff an das Armaturenbrett des Buggy. »Dieses Ding ist auch tot. Aber wenn man einsteigt, kann man es in Bewegung setzen. Man kann es sogar zwingen, jemanden zu töten, und selbst wenn es wollte, könnte es das nicht verhindern.« Ich hörte, wie laut und hysterisch meine Stimme klang. »Ich bin das Tor. Begreifst du das denn nicht? Sie haben den Jungen umgebracht, Richard! Sie haben die Leiche fortgeschafft!«
»Du solltest einen Arzt aufsuchen«, sagte er leise. »Wir fahren jetzt zurück. Wir—«
»Erkundige dich doch! Erkundige dich nach dem Jungen! Es müßte sich doch feststellen lassen —«
»Du kennst doch noch nicht einmal seinen Namen.«
»Er muß aus dem Dorf stammen. Es besteht nur aus ein paar Häusern. Erkundige dich —«
»Als ich den Buggy holte, habe ich mit Maud Harrington telefoniert. Ich kenne in der ganzen Gegend keine neugierigere Frau. Sie weiß alles. Ich habe sie gefragt, ob jemand vielleicht seinen Sohn vermißt. Nicht, daß sie wüßte.«
»Aber er muß von hier sein. Ganz bestimmt!«
Er griff nach dem Zündschlüssel, aber ich legte ihm die auf den Arm. Er sah mich an, und ich löste meine Bandagen.
Ich ging nicht zum Arzt, und ich rief Richard auch nicht wieder an. Drei Wochen lang hatte ich Bandagen an den Händen, wenn ich das Haus verließ. Drei Wochen lang hoffte ich, daß es verschwinden würde. Eine irrationale Verhaltensweise, wie ich zugeben muß. Wenn ich ein ganzer Mann gewesen wäre, der seine Beine nicht durch einen Rollstuhl hätte ersetzen müssen, und der normal gelebt hätte, wäre ich wohl zu Dr. Flanders gegangen oder hätte mich an Richard gewandt. Ich hätte es dennoch getan, wenn ich nicht dauernd an meine Tante hätte denken müssen, die man praktisch gefangengehalten hatte und die bei lebendigem Leibe verfault war. Wie die Dinge standen, schwieg ich verzweifelt und hoffte, daß ich eines Morgens wie aus einem Alptraum erwachen würde und alles wäre vorbei.
Und ganz allmählich spürte ich sie. Eine anonyme Intelligenz. Ich fragte mich eigentlich nie, wie sie aussahen oder woher sie gekommen waren. Das mochte auf sich beruhen. Ich war jedenfalls ihr Tor, ihr Fenster zur Welt. Und ich empfand ihren Ekel und ihr Entsetzen und wußte, daß unsere Welt zutiefst von der ihren verschieden sein mußte. Ich erkannte ihren blinden Haß. Ihr Fleisch steckte in meinem. Ich begann zu ahnen, daß sie mich benutzten, mich manipulierten.
Als der Junge vorbeiging und wie üblich lässig die Hand zum Gruß hob, war ich schon fast entschlossen, Cresswell im Marinenministerium anzurufen. In einem hatte Richard recht gehabt — was immer mich befallen hatte, mußte ich mir im Raum oder während dieser wahnsinnigen Bahn um die Venus zugezogen haben. Die Marine würde mich beobachten lassen, aber sie würde mich nicht von vornherein für verrückt erklären. Ich würde nicht mehr voller Entsetzen in kreischender Dunkelheit hochschrecken und meine verzweifelten Schreie unterdrücken müssen, während sie mich immer und immer wieder anstarrten.
Meine Hände streckten sich nach dem Jungen aus, und ich merkte, daß ich sie nicht bandagiert hatte. Im fahlen Licht der sinkenden Sonne sah ich die stummen Blicke der Augen. Sie waren groß und weit aufgerissen, und ihre Regenbogenhäute schimmerten golden. Einmal war ich mit einem gegen die Spitze eines Bleistifts gestoßen, und rasender Schmerz war durch meinen Arm gefahren. Das Auge hatte mich mit unterdrücktem Haß angestarrt. Ich habe mir nie wieder den Finger gestoßen.
Und nun beobachteten sie den Jungen. Ich spürte meine Gedanken abschweifen. Wenig später hatte ich mich nicht mehr in der Gewalt. Das Tor war offen. Ich taumelte durch den Sand auf ihn zu, und spürte meine Beine nicht mehr. Sie waren wie totes Treibholz. Meine Augen waren wie versiegelt, und ich sah nur mit jenen fremden Augen — ich sah einen monströsen Alabasterstrand, über dem purpurn der Himmel hing, sah die Überreste eines verrotteten Schuppens, der das Skelett einer unbekannten fleischfressenden Kreatur hätte sein können, sah ein grauenhaftes Wesen, das sich bewegte und atmete, das ein Gerät aus Holz und Draht unter dem Arm trug, das aus geometrisch unmöglichen rechten Winkeln konstruiert war.
Ich fragte mich, was der unglückliche fremde Junge wohl dachte, als er mit dem Sieb unter dem Arm und den von Touristenmünzen ausgebeulten Taschen vor mir stand, was er dachte, als er mich wie einen blinden Dirigenten auf sich zutaumeln sah, die Hände über einem wahnsinnigen Orchester erhoben, was er dachte, als das letzte Tageslicht auf meine Hände fiel, die rot und aufgerissen von der Last ihrer Augen glänzten, was er dachte, als diese Hände ruckartige Bewegungen machten, kurz bevor ihm der Kopf platzte.
Ich wußte, was ich selbst dachte.
Ich dachte, ich hätte über den Rand des Universums geschaut und die Feuer der Hölle gesehen.
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Als ich die Bandagen löste, zerrte der Wind an ihnen und ließ sie wie kleine Wimpel fliegen. Die Wolken hatten den letzten roten Glanz der sinkenden Sonne ausgelöscht, und die Dünen lagen unter dunklen Schatten. Über uns raste und kochte der Himmel.
»Du mußt mir eins versprechen, Richard«, schrie ich über den Wind hinweg. »Du mußt sofort wegrennen, wenn es so aussieht, als versuchte ich…dir etwas zu tun. Hast du mich verstanden?«
»Ja.« Der Wind ließ sein offenes Hemd flattern. Sein Gesicht war unbewegt, und von seinen eigenen Augen waren nur noch die Höhlen zu erkennen.
Die letzte Bandage fiel.
Ich sah Richard an, und auch sie sahen Richard an. Ich sah ein Gesicht, das ich seit fünf Jahren kannte und das mir vertraut war. Sie sahen einen verzerrten lebenden Monolithen.
»Da hast du deinen Willen«, sagte ich heiser. »Jetzt siehst du sie.«
Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. In seinem Gesicht flackerte ungläubiges Entsetzen auf. Blitze zuckten vom Himmel. Hoch in den Wolken rollte der Donner, und das Wasser war zurückgewichen wie das des Styx, des Flusses der Unterwelt.
»Arthur—«
Wie abscheulich er aussah! Wie hatte ich nur in seiner Nähe leben, je mit ihm sprechen können? Er war kein menchliches Wesen, sondern eine stumme Pestilenz. Er war—
»Lauf! Lauf, Richard!«
Und er lief. In riesigen Sätzen rannte er davon. Vor dem drohenden Himmel wurde er zu einem grotesken Knochengerüst. Meine Hände flogen hoch. Schreiend riß ich sie in einer bizarren Geste über den Kopf, und meine Finger griffen nach dem einzigen, das mir in dieser Alptraumwelt noch vertraut war — sie griffen nach den treibenden Wolken.
Die Wolken brüllten ihr Echo.
Ein gewaltiger blauweißer Blitz fuhr herab, als sei dies das Ende der Welt. Er traf Richard, er hüllte Richard völlig ein. Dann erinnerte ich mich nur noch an elektrischen Ozongestank und an den Gestank von verbranntem Fleisch.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich ruhig auf meiner Veranda und schaute zu der großen Düne hinüber. Der Sturm hatte sich gelegt, und die Luft war angenehm kühl. die schmale Sichel des Mondes hing am Himmel. Der Sand schien unberührt — Richard und sein Buggy waren nirgends zu sehen.
Ich betrachtete meine Hände. Die Augen waren geöffnet, aber ihr Blick war glas1g. Sie hatten 51ch verausgabt. Sie schliefen.
Ich wußte nur zu gut, was zu tun war. Bevor das Tor sich weiter öffnete, mußte ich es schließen. Für immer. Ich bemerkte schon strukturelle Veränderungen an den Händen selbst. die Finger fingen an, kürzer zu werden… und sich zu verändern.
Im Wohnzimmer war ein kleiner Kamin, in dem ich gelegentlich ein Feuer anzündete, wenn sich die feuchte Kühle Floridas allzusehr bemerkbar machte. Auch jetzt zündete ich eins an. Ich beeilte mich. Sie konnten mir jeden Augenblick auf die Schliche kommen.
Als das Feuer hell brannte, fuhr ich nach draußen an das Kerosinfaß und überschüttete meine Hände mit dem Brennstoff. Sie wurden sofort wach und schrien vor Schmerz. Ich hätte den Weg ins Wohnzimmer und an das Feuer fast nicht mehr geschafft.
Aber ich schaffte ihn.
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Das alles liegt schon sieben Jahre zurück.
Ich bin immer noch hier, und immer noch beobachte ich die Raketenstarts. In letzter Zeit sind sie häufiger. Die jetzige Regierung hat wieder größeres Interesse an der Raumfahrt. Es wurde sogar davon gesprochen, daß es weitere bemannte Venussonden geben soll.
Ich habe den Namen des Jungen ermittelt, wenn das auch keine Rolle spielt. Seine Mutter hatte geglaubt, er habe auf dem Festland einen Freund besucht. So wurde die Polizei erst am darauffolgenden Montag alarmiert. Richard — nun, die meisten hatten Richard ohnehin für einen komischen alten Trottel gehalten. Sie glaubten, er sei wieder in Maryland oder habe sich mit irgendeiner Frau zusammengetan.
Ich selbst wurde stillschweigend geduldet, obwohl die Leute mich für ziemlich exzentrisch halten. Welcher Astronaut schreibt schließlich ständig an seine gewählten Vertreter in Washington, um ihnen zu sagen, daß die Mittel für die Erforschung des Weltraums bessere Verwendung finden könnten?
Ich komme mit diesen Haken ganz gut zurecht. Etwa ein Jahr lang hatte ich entsetzliche Schmerzen, aber der menschliche Körper kann sich an fast alles anpassen. Ich rasiere mich mit ihnen und kann mir sogar die Schuhe zubinden. Und, wie Sie sehen, schreibe ich auf meiner Schreibmaschine sauber und gleichmäßig. Ich glaube nicht, daß es mir Schwierigkeiten bereiten wird, den Lauf meiner Schrotflinte in den Mund zu nehmen und den Abzug zu betätigen. Es hat nämlich vor drei Wochen wieder angefangen.
In einem perfekten Kreis wachsen zwölf goldene Augen aus meiner Brust.
Der Wäschemangler
Officer Hunton erreichte gerade in dem Augenblick die Wäscherei, als der Krankenwagen abfuhr — langsam, ohne Sirene oder Blaulicht. Das ließ nichts Gutes ahnen. Drinnen war das Büro voll von schweigend umherlaufenden Leuten, einige weinten. An den Waschanlagen selbst stand niemand; die großen Waschautomaten am Ende des Raumes liefen noch. Hunton wurde mißtrauisch. Die Menge müßte doch eigentlich an der Unfallstelle stehen und nicht im Büro. Das war nun einmal so — der Mensch hat den instinktiven Drang, die Überreste betrachten zu wollen. Hier mußte es also schon sehr schlimm sein. Hunton fühlte, daß sich sein Magen verkrampfte, wie immer, wenn es ein besonders grausamer Unfall war. Vierzehn Jahre lang menschliche Überreste von Autobahnen und Straßen oder von Bürgersteigen am Fuße sehr hoher Gebäude zu entfernen — selbst eine so lange Zeit hatte dieses kleine Problem in seinem Bauch nicht lösen können, als wenn sich dort etwas Ungesundes festgesetzt hätte.
Ein Mann in einem weißen Hemd sah Hunton und näherte sich ihm widerwillig. Es war ein bulliger Kerl, der Kopf saß ihm fast auf den Schultern, und an Nase und Wangen waren die Äderchen geplatzt — entweder wegen zu hohen Blutdrucks oder zu vielen Begegnungen mit deem Whisky. Er versuchte, Worte zu formulieren, aber nach zwei Versuchen unterbrach Hunton ihn schnell:
»Sind Sie der Besitzer? Mr. Gartley?«
»Nein…nein. Ich bin Stanner. Der Vorarbeiter. Gott, dieser —«
Hunton nahm sein Notizbuch. »Bitte zeigen Sie mir die Unfallstelle, Mr. Stanner, und erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Stanner schien noch bleicher zu werden; aber die Flecken auf seiner Nase und seinen Wangen leuchteten wie Muttermale. »M — muß ich wirklich?«
Hunton zog die Augenbrauen hoch. »Ich fürchte, ja. Der Anrufer sagte, es sei schlimm.«
»Schlimm —« Stanner schien mit einem Würgen zu kämpfen; einen Moment lang hüpfte sein Adamsapfel rauf und runter, wie ein Affe auf der Kletterstange. »Mrs. Frawley ist tot. Herrgott, ich wünschte, Bill Gartley wäre hier.«
»Was ist passiert?«
Stanner erwiderte: »Kommen Sie besser hier herüber.«
Er führte Hunton an einer Reihe von Büglern und einem Hemdfaltgerät vorbei und hielt dann an einer Maschine, die die Wäsche markierte. Mit zittriger Hand fuhr er sich über die Stirn. »Sie müssen selbst rübergehen, Officer. Ich kann mir das nicht noch mal anschauen. Es macht mich …ich kann einfach nicht. Tut mir leid.«
Hunton ging mit einem leichten Gefühl der Verachtung für den Mann um die Maschine herum. Diese Kerle machen dicke Geschhäfte, manipulieren das Kontrollverfahren, leiten glühendheißen Dampf durch selbstgeschweißte Leitungen, arbeiten ohne den geringsten Schutz mit gefährlichen Reinigungsmitteln, und plötzlich wird jemand verletzt. Oder stirbt. Und dann können sie nicht hinschauen. Sie können einfach nicht …
Hunton sah es.
Die Maschine lief noch. Keiner hatte sie abgestellt. Er sollte sie später noch gründlich kennenlernen: Es war ein Hadley-Watson-6-Gang-Bügel- und Faltautomat. Ein langer und schwerfälliger Name. Die Leute, die hier in Dampf und Feuchtigkeit arbeiteten, hatten einen besseren Namen dafür: der Mangler.
Hunton blickte versunken, erstarrt, und zum ersten Mal in seinen vierzehn Jahren als Polizeibeämter hielt er sich krampfhaft die Hand vor den Mund und übergab sich.
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»Du hast nicht gerade viel gegessen«, meinte Jackson.
Die Frauen waren im Haus, wuschen das Geschirr ab und unterhielten sich über ihre Babies, während John Hunton und Mark Jackson in der Nähe eines duftenden Grills in Gartenstühlen saßen. Hunton lächelte leicht über diese Untertreibung. Er hatte gar nichts gegessen.
»Heute war es schlimm«, antwortete er. »Das Allerschlimmste seit Jahren.«
»Autounfall?«
»Nein. Betriebsunfall.«
»Dreckig?«
Hunton antwortete nicht sofort, aber sein Gesicht zuckte unwillkürlich. Er nahm sich ein Bier aus der Kühlbox zwischen ihnen, öffnete es und trank es halb leer. »Ich vermute, ihr College-Profs versteht nicht viel von Industriewäschereien?«
Jackson kicherte. »Der hier schon. Ich habe als Student mal einen Sommer in einer gearbeitet.«
»Danh kennst du die Maschine, die man Schnellbügler nennt?«
Jackson nickte. »Sicher. Sie lassen feuchte Mangelwäsche durchlaufen, hauptsächlich große Stücke und Leinen. Eine riesige, lange Maschine.«
»Genau«, erwiderte Hunton. »Eine Frau namens Adelle Frawley wurde von so einer Maschine erfaßt. In der Blue–Ribbon-Wäscherei, auf der anderen Seite der Stadt. Sie wurde richtig reingezogen.«
Jackson sah plötzlich krank aus. »Aber…das kann doch gar nicht passieren, Johnny. Wegen des Sicherheitsriegels. Wenn einer Frau, die Wäsche in die Maschine eingibt, versehentlich die Hand reinrutscht, springt der Riegel sofort auf und stoppt die Maschine. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.«
Hunton nickte. »Das ist sogar gesetzlich vorgeschrieben. Aber trotzdem ist es passiert.«
Hunton schloß die Augen find sah den Hadley-Watson-Schnellbügler im Geiste vor sich, so wie er heute nachmittag dagestanden hatte. Ein langer, rechteckiger Kasten, gut zehn Meter von einem Ende zum anderen. Dort, wo die Wäsche in die Maschine eingegeben wird, verläuft ein Fließband aus Segeltuch unter dem Sicherheitsriegel her leicht nach oben und dann wieder abwärts. Das Band transportiert ohne Unterbrechung die bügelfuchten, knittrigen Wäschestücke zwischen sechzehn riesige Walzen, die den Hauptteil der Maschine ausmachen.
Acht Walzen oben und acht Walzen unten pressen die Wäsche wie dünnen Schinken zwischen Lagen überhitzten Brotes. Die Walzen können auf eine maximale Trockenstufe von 300 Grad gebracht werden. Der Druck auf die Wäsche liegt bei 800 Pfund pro Quadratzentimeter, um auch die kleinste Falte rauszubügeln.
Und Mrs. Frawley wurde irgendwie erfaßt und reingezogen. Die stählernen, asbestverkleideten Druckwalzen waren so rot wie Ziegellack, und der aufsteigende Dampf aus der Maschine stank ekelerregend nach heißem Blut. Teile ihrer weißen Bluse und blauen Hose und sogar abgerissene Stücke ihres BHs und Slips wurden 30 Fuß weiter hinten, am anderen Ende der Maschine ausgeworfen. Die größeren, blutgetränkten Kleidunsstücke wurden mit geradezu grotesker Ordentlichkeit autotisch gefaltet. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste.
»Die Maschine versuchte einfach alles zu falten«, sagte er zu Jackson und fühlte, wie ihm etwas Bitteres vorn Magen hochstieg. »Aber ein Mensch ist kein Stück Wäsche, Mark. Was ich sah … was von ihr übrigblieb …« Wie Stanner, der arme Vorarbeiter, konnte er den Satz nicht beenden. »Sie trugen es in einem Korb hinaus«, fuhr er leise fort.
Jackson pfiff. »Und wer bekommt jetzt eins aufs Dach? Die Wäscherei oder die Kontrolleure?«
»Weiß ich noch nicht genau«, gab Hunton zurück. Dieses unheimliche Bild stand ihm immer noch vor Augen. Das Bild dieses keuchenden, krächzenden, zischenden Manglers, an dessen grünen Seitenwänden das Blut in kleinen Bächen herunterlief, der Gestank ihres verbrannten Körpers …»Kommt darauf an, wer diesen verdammten Sicherheitsriegel genehmigt hat und unter welchen Umständen.«
»Falls die Geschäftsleitung was damit zu tun hat, können sie sich da raus winden?«
Hunton lächelte trocken. »Die Frau ist tot, Mark. Falls Gartley und Stanner die Maschine tatsächlich auch nur im geringsten manipuliert haben, wandern sie ins Gefängnis. Egal en sie im Stadtrat kennen.«
»Glaubst du, sie haben was manipuliert?«
Hunton dachte an die Blue-Ribbon-Wäscherei; schlecht beleuchtet, die Fußböden naß und rutschig, einige Maschinen unglaublich veraltet und quietschend. »Ich halte es für wahrscheinlich«, erwiderte er ruhig.
Sie standen auf und gingen ins Haus. »Erzähl mir später, wie es ausgegangen ist, Johnny«, meinte Jackson noch. »Es interessiert mich.«
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Hunton irrte sich, was den Mangler betraf; die Sache war eindeutig ohne Fremdverschulden — ohne wenn und aber. Sechs staatliche Aufsichtsbeamte der technischen Überwachung untersuchten den Mangler Stück für Stück vor der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache. Das Endergebnis ergab absolut nichts.
Tod durch Unfall.
Er war sprachlos. Nach der Untersuchung hängte er sich an Roger Martin, einen der Kontrolleure. Martin war ein großer, schlanker Mann und trug eine Brille, dick wie Brenngläser. Während Huntons Fragen spielte er an einem Kugelschreiber herum.
»Nichts? Absolut nichts, was mit der Maschine zu tun hat?«
»Nichts«, erwiderte Martin. »Natürlich haben wir uns besonders auf den Sicherheitsriegel konzentriert. Er arbeitet einwandfrei. Sie haben doch die Zeugenaussage dieser Mrs. Gillian gehört. Mrs. Frawley muß ihre Hand zu weit reingeschoben haben. Das hat aber niemand genau gesehen; sie waren alle mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt. Plötzlich fing sie an zu schreien. Ihre Hand war schon drin, und die Maschine erfaßte ihren Arm. Sie versuchten, sie rauszuziehen, anstatt das Ding abzustellen — reine Panik. Eine andere Frau, Mrs. Keene, sagte aus, sie hätte versucht, die Maschine auszustellen, aber in der Aufregung den Startknopf mit dem Ausknopf verwechselt. Und dann war es auch schon zu spät.«
»Also hat der Sicherheitsriegel doch nicht funktioniert«, erwiderte Hunton kategorisch. »Es sei denn, sie hatte ihre Hand drüber und nicht drunter?«
»Das geht gar nicht. Uber dem Sicherheitsriegel ist eine Chrom-Mangan-Verkleidung. Und der Sicherheitsriegel selbst hat nicht versagt. Er ist mit der Maschine gleichgeschaltet. Wenn er defekt ist, schaltet die Maschine automatisch ab.«
»Also, wie um Gottes willen ist es dann passiert?«
»Das wissen wir eben nicht. Meine Kollegen und ich sind der Auffassung, daß es nur eine Möglichkeit gegeben haben kann, wie der Schnellbügler Mrs. Frawley getötet hat; sie muß von oben reingefallen sein. Aber sie stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Ein Dutzend Zeugen können das bestätigen.«
»Sie beschreiben da einen unmöglichen Unfall«, meinte Hunton leicht gereizt.
»Nein. Nur eines verstehen wir nicht.« Er hielt inne, zögerte und sagte dann: »Ich werde Ihnen jetzt was erzählen, Hunton, da Sie sich diesen Fall offensichtlich sehr zu Herzen nehmen. Wenn Sie es aber irgend jemandem gegenüber erwähnen, werde ich alles ableugnen. Ich mag diese Maschine nicht. Sie schien sich …fast über uns lustig zu machen. Ich habe in den letzten fünf Jahren über ein Dutzend Schnellbügler regelmäßig überprüft. Einige sind in einem derart miserablen Zustand, daß ich dort noch nicht mal einen Hund frei herumlaufen lassen würde — das Gesetz ist bedauerlicherweise sehr lasch. Aber es gibt nun mal Maschinen für den ganzen Bügel-Kram. Doch diese hier… ist wie ein Gespenst. Ich weiß nicht warum, aber sie ist eins. Ich glaube, wenn ich nur irgendwas gefunden hätte, selbst die kleinste Kleinigkeit, hätte ich die sofortige Stillegung angeordnet. Verrückt, was?«
»Mir ging’s genauso«, antwortete Hunton.
»Lassen Sie mich Ihnen von einer Sache erzählen; die vor zwei Jahren in Milton passiert ist«, fuhr der Überwachungsbeamte fort. Er nahm seine Brille ab und polierte sie gemächtlich an seiner Weste.
»Ein gewisser Fella hatte einen alten Kühlschrank in seinem Hof abgestellt. Die Frau, die uns anrief, berichtete, ihr Hund sei dort hineingeraten und erstickt. Wir informierten den zuständigen Polizeibeamten darüber, daß das Ding auf die städtische Müllkippe gebracht werden müsse. Schön für Fella, schade um den Hund. Er lud den Schrank in seinen Kleintransporter und schaffte ihn am nächsten Morgen au die Müllkippe. An diesem Nachmittag meldete eine Frau uas de Nachbarschaft ihren Sohn als vermißt.«
»Guter Gott«, erwiderte Hunton, Böses ahnend.
»Der Kühlschrank war auf der Müllkippe, und das Kind lag drin, tot. Nach Aussage der Mutter ein cleveres Kerlchen. Sie sagte, er würde genauso wenig in einem leeren Kühlschrank spielen, wie er mit einem fremden Mann mitgehen würde. Nun, er hatte drin gespielt. Wir schrieben die Sache ab. Fall abgeschlossen?«
»Ich vermute«, sagte Hunton.
»Nein. Am nächsten Tag wollte der Verwalter des Müllplatzes die Kühlschranktüre abmontieren. Städtische Verordnung Nr. 58 über die Unterhaltung öffentlicher Müllabladeplätze.« Martin blickte ihn ausdruckslos an. »Er fand sechs tote Vögel darin. Möwen, Sperber, ein Rotkehlchen. Und er sagte, die Tür schloß sich um seinen Arm, während er die Tiere herauskehrte. Hat sich höllisch erschrocken. Der Mangler in der Blue-Ribbon-Wäscherei kommt mir ebenso komisch vor, wie diese Geschichte hier. Hunton, ich mag diesen Mangler nicht.«
Sie blickten sich wortlos an in dem leeren Untersuchuchungszimmer, etwa sechs Häuserblocks von dem Hadley-Watsoson-6-Gang-Bügel- und Faltautomaten entfernt, der in der geschäftigen Wäscherei dampfend Wäschestücke mangelte.
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Innerhalb einer Woche hatte er den Fall unter dem Streß alltäglicher Polizeiarbeit vergessen. Er wurde erst wieder daran erinnert, als er mit seiner Frau abends zu Mark Jackson auf eine Partie Whist und Bier ging.
Jackson begrüßte ihn: »Hast du dich schon mal gefragt ob es in der Maschine, von der du mir neulich erzähltest, vielleicht spukt Johnny?«
Hunton stutzte. »Was?«
»Na, der Schnellbügler in der Blue-Ribbon-Wäscherei. Ich vermute, diesmal hast du das Geschrei nicht mitbekommen.«
»Welches Geschrei?« fragte Hunton interessiert.
Jackson reichte ihm die Abendzeitung und zeigte auf einen Bericht auf Seite zwei unten. Eine Dampfleitung war über dem Schnellbügler abgerissen, aufgeplatzt und hatte drei von sechs Frauen verbrüht, die am vorderen Teil der Maschine gearbeitet hatten, dort, wo die Wäsche eingegeben wird. Der Unfall passierte um 15.45 Uhr und wird auf einen Anstieg des Dampfdrucks durch den Kessel der Wäscherei zurückgeführt. Eine Der Frauen, Mrs. Annette Gillian, wurde mit Verbrennungen zweiten Grades in das City-Receiving-Hospital eingeliefert.
»Komischer Zufall«, knurrte Hunton kurz angebunden, doch plötzlich fielen ihm Martins Worte in dem leeren Untersuchungszimmer wieder ein: Es ist ein Gespenst …Und die Geschichte über den Hund und den Jungen und die Vögel in dem ausrangierten Kühlschrank.
In dieser Nacht spielte er sehr schlecht Karten.
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Gillian saß aufgestützt im Bett und las in einer Illustrierten, als Hunton in das Vier-Bett-Krankenzimmer trat. Ein großer Verband bedeckte ihren Arm und die seitliche Halspartie. Die andere Zimmergenossin, eine junge Frau mit bleichem Gesicht, schlief.
Mrs. Gillian schaute auf die blaue Uniform und lächelte zögernd. »Wenn Sie zu Mrs. Cherinikov möchten, müssen Sie später noch mal wiederkommen. Sie hat gerade Medikamente bekommen.«
»Nein, ich komme zu Ihnen, Mrs. Gillian.« Ihr Lächeln schwand ein wenig. »Ich bin inoffiziell hier — das heißt, ich bin neugierig wegen des Unfalls in der Wäscherei. John Hunton.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. Das war genau das Richtige. Mrs. Gillian strahlte übers ganze Gesicht und erwiderte den Gruß unbeholfen mit ihrer gesunden Hand.
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, fragen Sie ruhig. Guter Gott, ich dachte schon, mein Andy hätte wieder Schwierigkeiten in der Schule.«
»Was ist passiert?«
»Nun, wir ließen Tücher durchlaufen, und der Bügler explodierte irgendwie — oder es schien jedenfalls so. Ich war mit meinen Gedanken schon auf dem Nachhauseweg und bei meinen Hunden, die ich noch ausführen wollte, als es plötzlich donnerte und knallte wie bei einer Bombe. Vor lauter Dampf konnte man kaum sehen, und dann dieses Zischen … schrecklich.« Ihr Lächeln zitterte bei dem bloßen Gedanken daran. »Es war so, als ob der Mangler geatmet hätte. Wie ein Drachen. Und Alberta — das ist Alberta Keene — schrie, daß irgendwas explodierte, alle liefen schreiend durcheinander, und plötzlich fing Ginny Jason an zu kreischen, sie hätte sich verbrannt. Ich lief weg, fiel aber hin. Bis dahin wußte ich noch gar nicht, daß es mich am schlimmsten erwischt hatte. Gott sei Dank ist es nicht noch schlimmer. Dieser glühende Dampf ist 300 Grad heiß.«
»In der Zeitung stand, eine Dampfleitung sei runtergekommen. Was bedeutet das?«
»Die Oberleitung mündet in diesen elastischen Schlauch, der die Maschine versorgt. George — Mr. Stanner — meinte, es müsse einen Hitzestau im Kessel gegeben haben. Die Leitung war richtig aufgeplatzt.«
Hunton fielen keine Fragen mehr ein. Er wollte gerade gehen, als sie nachdenklich sagte:
»Eigentlich hatten wir nie Ärger mit dieser Maschine. Erst kürzlich fing das Theater an. Die Dampfleitung platzte. Dann dieser schreckliche Unfall mit Mrs. Frawley. Und kleinere Sachen. Wie an dem Tag, als sich Essies Kleid im Kettenantrieb verhedderte. Das hätte gefährlich werden können, hätte sie es nicht herausgerissen. Schrauben und anderes Zeug fielen heraus. Oh, Herb Diment — er ist der Handwerker der Wäscherei — hatte alle Hände voll zu tun. Tücher verfingen sich im Faltgerät. George sagt, das passiert nur, weil sie zuviel Bleichmittel beim Waschen verwenden; aber früher‘ ist nie etwas vorgekommen. Jetzt hassen es die Mädchen, überhaupt an dem Mangler zu arbeiten. Essie behauptet sogar, es wären immer noch kleine Stücke von Adelle Frawley darin, und es sei gottlos oder so was. Als wenn ein Fluch auf der Maschine läge. Seit dem Tag, an dem Sherry ihre Hand an einer der Schraubzwingen schnitt.«
»Sherry?« fragte Hunton.
»Sherry Ouelette. Hübsches kleines Ding. Ist gerade mit der Schule fertig. Eine gute Kraft. Aber manchmal ein wenig ungeschickt. Sie wissen ja, wie junge Mädchen sind.«
»Sie hat ihre Hand an etwas geschnitten?«
»So schlimm war es nun auch wieder nicht. Da sind solche Schraubzwingen, um die Fließbänder zu regulieren. Sherry stellte die Schrauben ein, damit wir eine schwerere Ladung durchlaufen lassen konnten und träumte wahrscheinlich gerade von irgendeinem Jungen. Sie schnitt sich in den Finger und blutete fürchterlich.« Mrs. Gillian blickte verdutzt. »Erst danach fielen die Schrauben heraus. Adelle war…wie Sie wissen…eine Woche später. Als wenn die Maschine Blut geleckt und Gefallen daran gefunden hätte. Haben Frauen nicht manchmal komische Gedanken, Officer Hinton?«
»Hunton«, erwiderte er nachdenklich und starrte über ihren Kopf hinweg ins Leere.
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Ironicherweise traf er Mark Jackson ausgerechnet im Waschsalon in dem Block, der ihre beiden Häuser trennte, und noch immer er war das der Platz, wo der Cop und der Englischprofessor ihre interessantesten Gespräche führten.
Jetzt saßen sie nebeneinander in nüchternen Plastikstühlen, und ihre Wäsche drehte sich hinter den gläsernen Bullaugen der Münzwaschautomaten. Jacksons Taschenbuchausgabe von Miltons gesammelten Werken lag vernachlässigt neben ihm, während er Huntons Bericht über Mrs. Gillian lauschte.
Als Hunton fertig war, meinte Jackson: »Ich habe dich schon mal gefragt, ob es in dem Mangler vielleicht spukt. Ich meinte das nur halb zum Scherz. Ich frage dich jetzt noch mal.«
»Nein«, antwortete Hunton unsicher. »Sei nicht albern.«
Jackson betrachtete nachdenklich die sich drehende Wäsche.
»Spuk ist nicht das richtige Wort. Sagen wir lieber ein Fall von Besessenheit. Es gibt fast ebenso viele Zaubersprüche, um Dämonen zu rufen, wie um sie auszutreiben. Fraziers ›Der goldene Zweig‹ ist voll davon. Druidische und aztekische Überlieferungen enthalten jede Menge weitere. Sogar noch ältere sind aufgezeichnet, bis zurück ins alte Ägypten. Fast alle können erstaunlicherweise auf gemeinsame Grundlagen zurückgeführt werden. Der häufigste Zauber ist natürlich das Blut einer Jungfrau.« Er blickte Hunton an: »Mrs. Gillian sagte doch, der Ärger fing an, nachdem sich diese Sherry Oueiette versehentlich geschnitten hatte.«
»Ach, hör auf«, brummte Hunton zurück.
»Du mußt zugeben, sie scheint genau der richtige Typ zu sein«, erwiderte Jackson.
»Ich gehe gleich zu ihr«, antwortete Hunton mit einem leicht gequälten Grinsen. »Ich kann es mir genau vorstellen: Miss Ouelette, ich bin Officer John Hunton. Ich untersuche gerade einen Bügelautomaten wegen eventueller dämonischer Besessenheit und hätte gerne gewußt, ob Sie noch Jungfrau sind. Glaubst du, ich kann Sandra und den Kindern noch rechtzeitig auf Wiedersehen sagen, bevor sie mich in die Klapsmühle stecken?«
»Ich würde jederzeit mit dir wetten, daß du bald aufhörst, so zu reden«, meinte Jackson ohne jede Ironie. »Ich meine es wirklich ernst, Johnny. Diese Maschine jagt mir eine Heidenangst ein, obwohl ich sie noch nie gesehen habe.«
»Na gut, der Unterhaltung zuliebe«, erwiderte Hunton, »Was gibt es also sonst noch für sogenannte gemeinsame Grundlagen?«
Jackson zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen, ohne nähere Studien. Die meisten angelsächsischen Hexenformeln schreiben Friedhofsdreck oder ein Krötenauge vor. Europäische Zaubersprüche erwähnen oft die glorreiche Hand, was tatsächlich als Hand eines Toten interpretiert werden kann, oder eines von den Rauschmitteln, die in Verbindung mit dem Hexensabbath gebraucht werden — meist Belladonna oder ein e Psilocybin-Derivat Es kann noch mehr geben.«
»Und du glaubst, das ist alles in dem Bügelautomaten? Himmel, Mark! Ich wette, im Umkreis von 500 Meilen gibt es kein Belladonna. Oder glaubst du vielleicht, jemand hat seinem Onkel Fred die Hand abgehackt und sie in die Faltmaschine gesteckt?«
»Wenn siebenhundert Affen siebenhundert Jahre lang getippt hätten—«
»Hätte sicher einer von ihnen auch Shakespeares Werke geschrieben«, schloß Hunton griesgrämig. »Geh zum Teufel. Du bist dran, drüben im Drugstore Zehncentstücke für die Trockner zu holen.«
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Seltsam wie George Stanner seinen Arm im Mangler verlor.
Am Montagmorgen um sieben Uhr war die Wäscherei bis auf Stanner und Herb Diment, dem VIartungsmann, wie ausgestorben. Sie bereiteten gerade das Ölen der Lager des Bügelautomaten vor, das zweimal im Jahr fällig ist. Diment stand am hinteren Teil der Maschine, schmierte vier Nebenlager und dachte daran, wie unangenehm jede Arbeit an diesem Ding ihm neuerdings war, als der Mangler plötzlich losröhrte.
Er hielt vier der Treibriemen hoch, um an den darunterliegenden Motor zu kommen. Auf einmal liefen ihm die Bänder in die Hand, schnitten ihm in das Fleisch seines Handtellers und zogen ihn mit sich.
Sekunden bevor sie seine Hände in die Faltmaschine zogen, konnte er sich mit einem heftigen Ruck befreien.
»Um Himmels willen, George!« brüllte er. »Stell das verdammte Ding ab!«
George Stanner begann zu schreien.
Es war ein schriller, aufheulender, unerträglicher Schrei, der die Wäscherei durchdrang und von den stählernen Waschmaschinen, den grinsenden Öffnungen der Dampressen und den leeren Augen der Trockner widerhallte. Stanner holte stöhnend Luft und schrie aus vollem Hals: »Oh mein Gott, mich hat’s erwischt! MICH HAT’S ERWISCHT —«
Die Walzen produzierten mehr Dampf. Das Faltgerät knirschte und stampfte. Lager und Motor schienen aus einem verborgenen Leben heraus zu heulen und zu schreien.
Diment raste zum anderen Ende der Maschine.
Die erste Walze war bereits dunkelrot gefärbt. Diment stöhnte und schluckte. Der Mangler schnaufte, stampfte und zischte.
Ein tauber Beobachter hätte zunächst meinen können, Stanner hätte sich nur in seltsamer Lage über die Maschine gebückt. Aber dann hätte selbst er die hervorquellenden weit aufgerissenen Augen seines Gesichtes gesehen, den durch anhaltendes Schreien schmerzverzerrten Mund. Der Arm war bereits unter dem Sicherheitsbügel und zwischen der ersten Walze verschwunden; das Hemd war an der Schulternaht gerissen, und sein Oberarm schwol grotesk an, als das Blut langsam weiter nach oben gepreßt wurde.
»Stell ihn ab!« kreischte Stanner. Es knackte laut, als sein Ellbogen brach.
Diment drückte den Ausknopf.
Doch der Mangler surrte, brummte und drehte sich weiter.
Ungläubig hieb Diment immer und immer wieder auf die Taste — keine Reaktion.
Die Haut an Stanners Arm glänzte und war stark gespannt. Jeden Augenblick würde sie unter dem Druck der Walze reißen; und noch immer war er bei vollem Bewußtsein und schrie. Dhnent hatte das alptraumhafte Bild eines Mannes vor Augen, der von einer Dampfwalze zerquetscht wird und von dem nichts als ein Schatten übrigbleibt.
»Die Sicherungen —« kreischte Stanner. Sein Kopf wurde langsam niedergedrückt, während er immer weiter hineingezogen wurde.
Diment wirbelte herum und rannte in den Kesselraum, Stanners Schreie verfolgten ihn wie wahnsinnige Geister. Der Gestank von Blut und heißem Dampf stieg in die Luft.
An der linken Wand hingen drei schwere, graue Kästen, die sämltiche Sicherungen der Wäscherei enthielten. Diment riß sie auf, brach die langen, zylinderförmigen Sicherungen wie ein Verrückter heraus und schleuderte sie über seine Schultern hinweg auf den Boden. Die Oberlichter gingen aus; dann der Lufkompressor; als nächstes — mit einem gewaltigen, langsam ausklignden Aufheulen der Kessel selbst. Doch der Mangler lief immer weiter. Stanners Schreie hatten sich in blubberndes Stöhnen verwandelt.
Diments Blick fiel auf eine Axt in einem Glaskasten. Er schanppte sie mit einem leisen Seufzer und rannte zurück. Stanners Arm war schon fast bis zur Schulter drin. Innerhalb weniger Sekunden würde sein gekrümmter, überdehnter Hals gegen den Sicherheitsbügel gedrückt werden.
»Ich kann es nicht…«, stammelte Diment, die Axt in der Hand. »Mein Gott, George, ich kann nicht, ich —«
Die Maschine wurde zum Schlächter. Der Faltautomat spuckte Ärmelstücke aus, Fleischfetzen, einen Finger. Stanner stieß einen gewaltigen, aufheulenden Schrei aus, und da ließ Diment die Axt mit einem kräftigen Schlag in die verschwommene Dunkelheit der Wäscherei niedergehen. Zweimal. Und noch einmal.
Stanner fiel bewußtlos zu Boden. Blut spritzte aus dem Stumpf unterhalb der Schulter. Der Mangler zog das, was noch übrig war, in sich hinein… und stand plötzlich still.
Weinend zog Diment seinen Gürtel aus den Schlaufen und machte eine Aderpresse.
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Hunton telefonierte mit Roger Martin, dem Kontrolleur. Jackson beobachtete ihn, während er der dreijährigen Patty Hunton geduldig immer wieder einen Ball zuwarf.
»Er hat alle Sicherungen rausgerissen?« fragte Hunton. »Und der Ausknopf hat einfach nicht funktioniert, hm? … Wurde die Maschine inzwischen abgestellt? …Gut. Großartig, was?…Nein, nicht offiziell.« Hunton runzelte die Stirn und blickte zu Jackson herüber: »Denkst du noch an den Kühlschrank, Roger? … Ja. Ich auch. Auf Wiederhören.«
Er legte auf und sah Jackson an. »Komm, wir statten dem Mädchen mal einen Besuch ab, Mark.«
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Sie besaß ein eigenes Apartment (die Art, wie sie die beiden hereinbat, zögernd, aber dennoch zeigend, daß sie die Besitzerin war, ließ Hunton vermuten, daß es ihr noch nicht lange gehörte). In dem sorgfältig eingerichteten Wohnzimmer setzte sie sich ihnen unbequem gegenüber.
»Ich bin Officer Hunton, und das ist mein Kollege, Mr. Jackson. Wir kommen wegen des Unfalls in der Wäscherei.« Ihm war nicht sehr wohl in seiner Haut, bei diesem dunkelhaarigen, schüchternen, hübschen Mädchen.
»Schrecklich«, murmelte Sherry Ouelette. »Das ist meine erste Arbeitsstelle. Mr. Gartley ist mein Onkel. Ich mochte die Stelle, weil ich mir dadurch diese Wohnung leisten und meine eigenen Freunde empfangen konnte. Aber jetzt…es ist so gespenstisch dort.«
»Die Sicherheitsbehörde hat den Bügler wegen der anstehenden gründlichen Untersuchungen stillgelegt«, erklärte ihr Hunton. »Wußten Sie das?«
»Sicher«, seufzte sie unruhig. »Ich weiß nur nicht, was ich —«
»Miss Ouelette«, unterbrach Jackson sie. »Sie hatten einen Unfall mit dem Bügler, nicht wahr? Schnitten sich Ihre Hand an einer Schraubzwinge, glaube ich?«
»Noch nicht mal, ich habe mir in den Finger geschnitten.« Ihr Gesicht verfinsterte sich plötzlich. »Damit fing alles an.« Sie sah die beiden traurig an. »Manchmal habe ich das Gefühl, die Mädchen mögen mich gar nicht mehr so gern… Als wenn ich schuld daran wäre.«
»Ich muß Ihnen eine schwere Frage stellen«, begann Jackson langsam. »Eine Frage, die Ihnen nicht gefallen wird. Die Frage ist sehr persönlich und scheint nichts mit dem Fall zu tun zu haben, ich kann Ihnen versichern, sie hat etwas damit zu tun. Antworten werden weder in einer Akte, noch in irgendeinem Bericht auftauchen.«
Sie blickte ihn ängstlich an. »H-habe ich etwas angestellt?«
Jackson lächelte und schüttelte den Kopf; sie entspannte sich. Lieber Gott, ich danke dir für Mark, dachte Hunton.
Ich sage das nur, weil die Antwort Ihnen helfen könnte, Ihre hübsche, kleine Wohnung hier zu behalten, Ihren Job zurückzubekommen und in der Wäscherei wieder alles so laufen zu lassen wie früher.
»Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen«, antwortete sie.
»Sherry, sind Sie noch Jungfrau?«
Sie blickte völlig entgeistert, total geschockt, als wenn ein Priester ihr erst die Kommunion erteilt und sie anschließend auf den Kopf geschlagen hätte. Dann hob sie den Blick, zeigte auf ihr ordentliches Apartment, so als wenn sie fragen wollte, wie sie glauben könnten, daß das ein Platz für Schäferstündchen wäre.
»Ich hebe mich für meinen Mann auf«, erklärte sie schlicht.
Hunton und Jackson blickten sich ruhig an, und in dieser Sekunde wußte Hunton, daß alles wahr sein mußte: Ein Teufel hatte Besitz von dem leblosen Stahl, den Zähnen und den Gängen des Manglers ergriffen, und ihn in etwas verwandelt, das ein Eigenleben besaß.
»Ich danke Ihnen«, antwortete Jackson ruhig.
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»Was jetzt?«, fragte Hunton rauh, als sie zurückfuhrem. »Einen Priester finden, der ihm den Teufel austreibt?«
Jackson prustete. »Da wirst du aber lange suchen müssen, bis du einen findest, der dir nicht mal eben ein paar fromme Blättchen zu lesen gibt, während er in der Klapsmühle anruft. Das ist allein unser Spiel, Johnny.«
»Können wir es denn schaffen?«
»Vielleicht. Das Problem ist folgendes: Wir wissen, irgend etwas ist in dem Mangler. Wir wissen aber nicht, was.« Hunton lief es kalt den Rücken herunter, als wenn er von einem fleischlosen Finger berührt worden wäre. »Es gibt jede Menge Dämonen. Gehört der, mit dem wir uns befassen, zum Kreis von Bubastis oder Pan? Baal? Oder der christlichen Gottheit, die wir Satan nennen? Wir wissen es nicht. Wenn der Dämon absichtlich eingesetzt worden wäre, hätten wir eine bessere Chance. Aber das scheint mir eher ein Fall von zufälliger Besessenheit zu sein.«
Jackson fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das Blut einer Jungfrau, ja. Aber darauf allein können wir uns nicht beschränken… Wir müssen sicher sein, ganz sicher.«
»Warum?« fragte Hunton geradeheraus. »Warum sammeln wir nicht einfach einen Stapel exorzistischer Formeln und probieren sie aus?«
Jacksons Gesicht wurde eisig. »Denk nicht, wir spielen Räuber und Gendarm, Johnny. Glaub das um Himmels willen nicht. Der exorzistische Ritus ist verdammt gefährlich. Etwa so wie kontrollierte Kernspaltung. Wir könnten einen Fehler machen und uns selbst zerstören. Der Dämon ist in dieser Maschine gefangen. Aber gib ihm eine Chance und —«
»Er könnte ausbrechen?«
»Er würde liebend gern ausbrechen«, erwiderte Jackson grimmig. »Und er liebt es, zu töten. Das haben wir ja schon gemerkt.«
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Als Jackson am nächsten Abend herüber kam, hatte Hunton seine Frau und seine Tochter ins Kino geschickt. Sie hatten das Wohnzimmer ganz für sich, und darüber war Hunton erleichtert. Er konnte noch immer kaum glauben, in was er da hereingeraten war.
»Ich habe meinen Schülern frei gegeben«, sagte Jackson, »und den Tag mit den beschissensten Büchern verbracht, die du dir vorstellen kannst. Heute nachmittag habe ich den Computer mit über dreißig Geheimnissen gefüttert, wie man Dämonen ruft. Ich habe ein paar Gemeinsamkeiten herausgefunden. Erstaunlich wenige.«
Er zeigte Hunton die Liste: Blut einer Jungfrau, Friedhofsdreck, die glorreiche Hand, Fledermausblut, Nachtmoos, ein Pferdehuf, Krötenauge. Es standen noch mehr drauf, aber sie waren alle zweitrangig.
»Pferdehuf«, meinte Hunton nachdenklich. »Komisch —«
»Wirklich sehr gewöhnlich —«
»Könnten alle diese Dinge — jedes von ihnen — auch frei interpretiert werden?« unterbrach Hunton.
»Daß zum Beispiel Nachtmoos durch bei Nacht gepflückte Flechten ersetzt werden kann?«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Jackson. »Magische Formeln sind häufig zweideutige und dehnbare Begriffe. Die schwarzen Künste haben immer sehr viel Kreativität erlaubt.«
»Ersetze Pferdehuf durch Wackelpeter«, fuhr Hunton fort. »Sehr beliebt in Lunchpaketen. Ich habe einen Karton davon unter der Wäscheablage des Manglers gesehen, an dem Tag, als Mrs. Frawley starb. Gelatine wird aus Pferdehufen hergestellt.«
Jackson nickte. »Sonst noch was?«
»Fledermausblut…na ja, es ist ein großer Raum. Jede Menge dunkler Ecken und Ritzen. Fledermäuse erscheinen wahrscheinlich, obwohl ich bezweifle, daß die Geschäftsleitung das eingesteht. Es hätte sich durchaus eine in der Maschine verfangen können.«
Jackson legte seinen Kopf zurück und preßte seine blutunterlaufenen Augen aufeinander. »Es paßt alles zusammen… es paßt alles zusammen.«
»Wirklich?«
»Ja. Die glorreiche Hand können wir getrost ausschließen, glaube ich. Es hat sicherlich niemand vor Mrs. Frawleys Tod eine Hand in den Bügler gesteckt, und Belladonna gibt’s in diesem Gebiet hier bestimmt nicht.«
»Friedhofsdreck?«
»Was glaubst du?«
»Das müßte schon ein teuflischer Zufall sein«, meinte Hunton. »Der nächste Friedhof ist Pleasant Hill, und der ist fünf Meilen vom Blue Ribbon entfernt.«
»Okay«, erwiderte Jackson. »Ich habe den Operator — der glaubte, ich bereite mich auf Allerheiligen vor — eine positive Zusammenstellung aller auf der Liste stehenden primären und sekundären Elemente erstellen lassen. Etwa zwei Dutzend, völlig bedeutungslose, habe ich bereits gestrichen. Die restlichen fallen in ganz klare Kategorien. Die Elemente, die wir isoliert haben, sind in einer dieser Kategorien enthalten.«
»Was ist es für eine?«
Jackson grinste. »Eine einfache. Der Mythos ist hauptsächlich in Südamerika verbreitet, mit Ausläufern bis in die Karibik. Verwandt mit Voodoo. Die Literatur, die ich darüber habe, sieht diese Götter als absolute Dilettanten an, verglichen mit wirklichen Größen wie Saddath oder dem Namenlosen. Dieses Ding in der Maschine wird sich davonschleichen wie ein Tyrann aus der Nachbarschaft.«
»Wie wollen wir es anstellen?«
»Weihwasser und etwas heilige Eucharistie müßten genügen. Und wir können aus dem Dritten Buch Moses vorlesen. Strenge weiße Magie.«
»Bist du sicher, daß es nicht schlimmer wird?«
»Stell dir nicht vor, wie es sein könnte«, sagte Jackson nachdenklich. »Ich gebe gerne zu, daß ich über die glorreiche Hand besorgt war. Das ist strenge Schwarze Magie.«
»Würde Weihwasser es nicht aufhalten?«
»Ein Dämon, der in Verbindung mit der glorreichen Hand gerufen wird, könnte einen Stapel Bibeln zum Frühstück essen! Wir kämen in ganz schöne Schwierigkeiten, wenn wir auch noch damit herumexperimentieren würden. Besser, diese verdammte Hand völlig wegzulassen.«
»Gut, bist du vollkommen sicher —«
»Nein, aber ziemlich. Es paßt alles zu gut zusammen.«
»Wann?«
»Je schneller, desto besser«, erwiderte Jackson; »Wie kommen wir rein? Schlagen wir ein Fenster ein?«
Hunton lächelte, griff in seine Tasche und ließ einen Schlüssel vor Jacksons Nase baumeln.
»Woher hast du den? Gartley?«
»Nein, von einem Kontrolleur namens Martin.«
»Weiß er, was wir vorhaben?«
»Ich glaube, er vermutet es. Vor ein paar Wochen hat er mir eine komische Geschichte erzählt.«
»Über den Mangler?«
»Nein. Über einen Kühlschrank. Komm jetzt.«
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Adelle Frawley war tot; Zusammengenäht von einem geduldigen Leichenbestatter, lag sie in ihrem Sarg. Und doch war vielleicht noch immer etwas von ihrem Geist in der Maschine verblieben, und wenn ja, dann schrie er auf. Sie hätte es wissen können, hätte sie warnen können. Sie neigte zu Magenverstimmungen, und gegen dieses gewöhnliche Leiden hatte sie ein gewöhnliches Magenmittel genommen: E-Z-Gel, für neunundsiebzig Cents in jedem Drugstore erhältlich. Auf der Schachtelseite stand eine Warnung: E-Z-Gel nicht anwenden bei grünem Star, da die aktiven Bestandteile des Präparates eine Verschlimmerung dieses Zustandes hervorrufen. Unglücklicherweile litt Adelle Frawley nicht unter diesen Beschwerden.
Sie hätte sich vielleicht noch an den Tag erinnern können, kurz bevor sich Sherry Ouelette in die Hand schnitt, als ihr versehentlich ein ganzes Päckchen E-Z-Gel-Tabletten in den Mangler fiel. Aber sie war tot und wußte nicht, daß der aktive Bestandteil, der ihr Sodbrennen änderte, ein Derivat von Belladonna war, in manchen europäischen Ländern drolligerweise als die glorreiche Hand bekannt.
Plötzlich wurde die gespenstische Stille in der Blue-Ribbon-Wäscherei von einem gräßlichen, glucksenden Geräusch unterbrochen — eine Fledermaus flatterte wie verrückt um ihr Nest zwischen der Isolierung über den Trocknern und ließ sich dann auf einer Stange nieder; den blinden Kopf von den Flügeln umhüllt.
Das Geräusch erinnerte fast an ein Kichern.
Ruckartig und knirschend begann der Mangler zu laufen —; Bänder liefen in der Dunkelheit, Zahnräder trafen sich, griffen mahlend ineinander, schwere, zerdrückende Walzen drehten sich.
Er war bereit für sie.
Als Hunton auf den Parkplatz fuhr, war es kurz nach Mitternacht, und der Mond versteckte sich hinter einer vorbeiziehenden Wolkendecke. Hunton machte eine Vollbremsung und knipste gleichzeitig die Scheinwerfer aus; Jacksons Stirn knallte fast gegen das Armaturenbrett.
Er machte die Zündung aus, und das gleichmäßig Stampf-Zisch-Stampf wurde lauter. »Es ist der Mangler«, begann er langsam. »Es ist der Mangler. Läuft von selbst. Mitten in der Nacht.«
Sie saßen einen Moment lang ganz still und fühlten die Angst in ihnen hochsteigen.
»Also dann«, sagte Hunton. »Bringen wir’s hinter uns.«
Sie stiegen aus und gingen zu dem Gebäude hinüber. Das Geräusch des Manglers wurde immer lauter. Als Hunton den Schlüssel in das Schloß der Eingangstür steckte, hatte er den Eindruck, daß die Maschine wirklich lebte, daß sie in tiefen Zügen atmete und mit zischendem, sardonischem Geflüster zu sich selbst sprach.
»Ich bin plötzlich ganz schön froh, einen Bullen bei mir zu haben«, meinte Jackson. Er nahm die braune Tasche, die er bei sich hatte, von einer Hand in die andere. Sie enthielt ein kleines Marmeladenglas mit Weihwasser, eingewickelt in Wachspapier, und eine Gideon Bibel.
Sie gingen hinein, und Hunton knipste den Lichtschalter neben der Tür an.
Das kalte Licht der Neonlichter flackerte auf. Im gleichen Augenblick stand der Mangler still. Eine Dunstglocke hing über seinen Walzen. Er erwartete sie in dieser neuen, unheimlichen Stille.
»Gott, ist das ein häßliches Ding«, flüsterte Jackson.
»Komm«, erwiderte Hunton. »Bevor wir völlig die Nerven verlieren.«
Sie gingen hinüber. Der Sicherheitsriegel lag in seiner normalen Position über dem Förderband.
Hunton Streckte eine Hand aus. »Nah genug, Mark. Gib mir das Zeug und sag mir, was ich tun soll.«
»Aber—«
»Kein Aber.«
Jackson gab ihm die Tasche, und Hunton stellte sie auf den Wäschetisch vor der Maschine. Er reichte Jackson die Bibel.
»Ich fange jetzt an zu lesen«, sagte Jackson. »Wenn ich dir ein Zeichen gebe, sprenkelst du das Weihwasser über die Maschine. Du sagst: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, gehe fort von diesem Platz, Du Unreiner. Verstanden?«
»Ja.«
»Wenn ich das zweite Mal auf dich zeige, brichst du die Hostie und wiederholst die Zauberformel.«
»Woher wissen wir, daß es klappt?«
»Das wirst du schon sehen. Dieses Zeug da drin ist fähig, jedes Fenster hier zu durchbrechen, um rauszukommen. Wenn es beim ersten Mal nicht funktioniert, mathen wir eben so lange weiter, bis es klappt.«
»Ich habe ganz schön Schiß«, meinte Hunton.
»Wenn ich ehrlich bin, ich auch«, gab Jackson zu.
»Was ist, wenn wir mit der glorreichen Hand falsch liegen?«
»Das tun wir nicht«, erwiderte Jackson. »Fangen wir an.«
Er begann. Gespenstisch hallte seine Stimme in der leeren Wäscherei wider. »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben und Dir keine eigenen Götter schaffen. Ich bin der Herr, Dein Gott …«
Die Worte fielen wie Steine in diese Stille, die plötzlich von einer grabähnlichen Kälte erfüllt wurde. Der Mangler stand still und ruhig unter den Neonlichtern, und Hunton hatte den Eindruck, als ob er grinste.
»…und das Land wird Dich ausspucken, weil Du es geschändet hast, so wie es schon Völker vor Dir ausspie.« Jackson blickte auf, sein Gesicht war gespannt, und er gab das Zeichen.
Hunton sprenkelte Weihwasser über das Förderband. Dort, wo das Weihwasser die Segeltuchbänder berührt hatte, stieg rötlicher Rauch auf. Plötzlich erwachte der Mangler zum Leben.
»Wir haben’s geschafft!« rief Jackson über den Krach der Maschine hinweg. »Er läuft!«
Mit erhobener Stimme las Jackson noch einmal. Er zeigte auf Hunton, und dieser zerbröselte die Hostie. Doch während er das tat, fuhr ihm der eiskalte Schrecken in die Knochen. Er hatte plötzlich das lebhafte Gefühl, daß es schiefgelaufen war, daß die Maschine es darauf ankommen lassen wollte — und die Stärkere war.
Jacksons Stimme wurde immer lauter und hatte schon fast den Höhepunkt erreicht.
Funken sprühten über den Bogen zwischen dem Hauupt- und dem Nebenmotor; der Geruch von Ozon erfüllte den Raum, ähnlich wie der Gestank heißen Blutes. Der Hauptmotor begann zu qualmen; die Maschine lief jetzt mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit; hätte ein einziger Finger das Hauptförderband berührt, wäre der ganze Körper innerhalb von fünf Sekunden hineingezogen und in einen blutigen Fleischfetzen verwandelt worden. Unter ihren Füßen zitterte und bebte der Beton.
Ein Hauptlager flog, dunkelrot glühend und blitzend, auseinander. Die frische Luft roch nach Gewitter, der Magler lief immer schneller und schneller, Bänder, Walzen und Zahnräder rasten mit einer Geschwindigkeit, die sie ineinanderlaufen, verschmelzen und sich verwandeln ließ. —
Hunton, der die ganze Zeit wie hypnotisiert dagestanden hatte, trat plötzlich einen Schritt zurück. »Geh weg!« schrie er durch den Lärm.
»Wir haben es fast geschafft!« brüllte Jackson zurück. »Warum —«
Mit lautem Beben riß der Boden an ihnen vorbei auf und klaffte immer weiter auseinander. Zementsplitter wurden explosionsartig durch die Luft geschleudert.
Jackson blickte auf den Mangler und schrie.
Er versuchte, sich irgendwie aus dem Beton zu befreien, wie ein Dinosaurier, der versucht, einer Teergrube zu entrinnen. Es war kein Bügelautomat mehr, ständig veränderte und verwandelte er sich. Das 550-Volt-Kabel fiel, blaues Feuer speiend, in die Walzen und wurde zerstört. Zwei Feuerbälle starrten sie einen Moment lang wie flammende Augen an, Augen, die kalt und hungrig waren.
Eine weitere defekte Leitung riß auf. Der Mangler hatte sich aus den Betonverankerungen gelöst und beugte sich ihnen triumphierend entgegen. Er günste sie heimtückisch an; der Sicherheitsriegel war hochgeklappt, und Hunton sah ein klaffendes, hungriges, mit Dampf gefülltes Maul.
Blitzschnell drehten sie sich um und wollten weglaufen, als der Boden genau vor ihren Füßen aufriß. Hinter ihnen ertönte lautes Gebrüll, der Mangler hatte sich jetzt vollständig befreit. Hunton sprang über den aufgespaltenen Boden, doch Jackson stolperte und fiel der Länge nach hin.
Als Hunton sich umwandte, um ihm zu helfen, fiel ein riesiger, formloser Schatten auf ihn und verdeckte die Neonlichter.
Der Schatten legte sich langsam über Jackson, der auf dem Rücken lag und starr vor Entsetzen aufblickte — die perfekte Opferung. Hunton sah nur etwas Schwarzes, Verschwommenes, das sich riesengroß vor ihnen aufbaute, ein offenes Maul mit einer Zunge aus Segeltuch, und elektrische Augen, groß wie Fußbälle, die sie böse anfunkelten.
Er rannte los: Jacksons Todesschrei verfolgte ihn.
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Als Roger Martin endlich die Tür aufmachte, schlief er noch halb, doch als Hunton ins Zimmer taumelte, war er mit einem Schlag hellwach.
Huntons wahnsinniger, schreckgeweiteter Blick durchbohrte ihn, seine Hände krallten sich in Martins Morgenmantel. Auf der Wange hatte Hunton eine kleine, blutende Schnittwunde, ansonsten war sein Gesicht über und über mit schmutzig-grauem Zementstaub bedeckt.
Seine Haare waren ganz grau.
»Hilf mir…um Gottes willen, hilf mir. Mark ist tot. Jackson ist tot.«
»Beruhige dich«, erwiderte Martin. »Komm mit ins Wohnzimmer.«
Hunton folgte ihm weinend.
Martin schenkte ihm einen doppelten Jim Beam ein. Hunton hielt das Glas mit beiden Händen fest und würgte den puren Whisky mit einem einzigen Schluck herunter. Das Glas fiel unbeachtet auf den Teppich, und seine zitternden Hände griffen wieder nach Martins Kragen.
»Der Mangler hat Mark Jackson getötet. Er…er, o mein Gott, er könnte ausbrechen! Wir müssen verhindern, daß er da rauskommt! Wir müssen …Wir…oh —«
Hunton schluchzte laut vor sich hin.
Martin wollte ihm nachschenken, aber Hunton wehrte ab. »Wir müssen ihn verbrennen«, fuhr er fort. »Verbrennen, bevor er raus kann. Oh, was ist, wenn er ausbricht. O Gott, was ist, wenn —« Seine Augen zuckten plötzlich, blickten glasig, verdrehten sich, und er fiel ohnmächtig zu Boden.
Mrs. Martin stand in der Tür und klammerte sich an den Kragen ihres Morgenmantels. »Wer ist das, Rog? Ist er verrückt? Ich dachte —« Sie erschauerte.
»Ich glaube nicht, daß er verrückt ist.« Der Ausdruck nackter Angst im Gesicht ihres Mannes beunruhigte sie plötzlich. »Lieber Gott, ich hoffe nur, er kam früh genug.«
Er ging zum Telefon, nahm den Hörer ab — und erstarrte.
Von der Ostseite des Hauses, von der auch Hunton gekommen war, näherte sich ein schwaches, langsam anschwellendes Geräusch. Ein gleichmäßiges, schleifendes, immer lauter werdendes Trampeln. Durch das halb geöffnete Wohnzimmerfenster drang Martin ein schwerer Geruch in die Nase. Es roch nach Ozon… oder Blut.
Er stand da, mit dem nutzlos gewordenen Telefonhörer in der Hand, während das Geräusch immer lauter und lauter wurde, knirschend und fauchend, etwas Heißes und Damfpendes auf der Straße. Der Gestank von Blut erfüllte das Zimmer.
Er ließ den Hörer fallen.
Es war schon zu spät.
Das Schreckgespenst
»Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich meine Geschichte erzählen will«, sagte der Mann auf Dr. Harpers Couch. Er hieß Lester Billings und stammte aus Waterbury in Connecticut. Nach den Angaben, die Schwester Vickers notiert hatte, war er achtundzwanzig Jahre alt, arbeitete in einem Industriebetrieb in New York, war geschieden und Vater von drei Kindern. Alle tot.
»Ich kann nicht zum Pfarrer gehen, denn ich bin nicht katholisch. Ich kann nicht zum Anwalt gehen, denn ich habe nichts getan, weshalb ich einen Anwalt konsultieren müßte. Ich habe nur meine Kinder umgebracht. Nacheinander. Ich habe sie alle umgebracht.«
Dr. Harper stellte das Tonband an.
Stocksteif lag Billings auf der Couch, und am unteren Ende ragten seine Füße hervor. Er bot das Bild eines Mannes, der gelassen eine Demütigung erträgt. Er hatte die Hände über der Brust gefaltet, wie man es bei Leichen sieht. Seinem Gesicht war keine Regung anzumerken. Er starrte zur weißen Stuckdecke hinauf, als spiegelten sich dort dramatische Szenen ab.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie sie wirklich getötet haben, oder —«
»Nein.« Ungeduldig schnippte er mit den Fingern. »Aber ich war verantwortlich. Denny 1967. Shirl 1971. Und in diesem Jahr war es Andy. Ich will es Ihnen erzählen.«
Dr. Harper sagte nichts. Er fand, daß Billings hager und alt aussah. Die Haare fielen ihm schon aus, und er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe. In seinen Augen lag das ganze Elend des ständigen Whiskysaufens.
»Sie wurden ermordet, verstehen Sie? Aber das glaubt keiner. Wenn sie es nur glauben würden, wäre alles in Ordnung.«
»Wieso das?«
»Weil …«
Billings sprach nicht weiter. Er fuhr plötzlich hoch und stützte sich auf die Ellenbogen. Er starrte zur gegenüberliegenden Wand. »Was ist das?« brüllte er. Seine Augen waren schwarze Schlitze.
»Was ist was?«
»Die Tür da.«
»Der Schrank«, sagte Dr. Harper. »Da hängt mein Mantel, und da stehen meine Galoschen.«
»Aufmachen. Das will ich sehen.«
Wortlos stand Dr. Harper auf, ging durch das Zimmer und öffnete den Schrank. Auf einem der vier oder fünf Bügel hing ein brauner Regenmantel, und unten standen schwarzglänzende Galoschen. In einer steckte eine zusammengerollte New York Times. Sonst nichts.
»Zufrieden?« fragte Dr. Harper.
»Ja.« Billings ließ sich auf die Couch zurücksinken.
»Sie behaupteten eben«, sagte Dr. Harper, als er wieder zu seinem Stuhl ging, »daß Sie keine Schwierigkeiten mehr hätten, wenn sich der Mord an Ihren Kindern beweisen ließe. Wieso?«
»Ich würde in den Knast gehen«, sagte Billings schnell. »Lebenslänglich. Und im Knast kann man in alle Räume sehen. Alle Räume.« Er lächelte dümmlich.
»Wie wurden Ihre Kinder ermordet?«
»Drängen Sie mich doch nicht!« Billings fuhr herum und sah Harper traurig an.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Ich bin keiner von den Typen, die herumlaufen und behaupten, sie seien Napoleon. Oder die behaupten, daß sie nur deshalb Heroin spritzen, weil ihre Mutter sie nie geliebt hat. Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben werden. Scheißegal. Hauptsache, ich kann es erzählen.«
»Dann tun Sie’s doch.« Dr. Harper holte seine Pfeife aus der Tasche.
»Ich habe Rita 1965 geheiratet — ich war einundzwanzig und sie achtzehn. Sie war schwanger. Mit Denny.« Seine Lippen verzogen sich zu einem öligén Grinsen, das sofort wieder erlosch. »Ich mußte die Universität verlassen und mir einen Job suchen, aber das machte mir nichts aus. Ich liebte sie beide. Wir waren sehr glücklich.
Kurz nach Dennys Geburt wurde Rita wieder schwanger, und Shirl kam im Dezember 1966. Andy wurde 1969 im Sommer geboren. Zu der Zeit war Denny schon tot. Andy war ein Betriebsunfall. So ähnlich drückte Rita sich aus. Sie jammerte immer, daß es keine sicheren Verhütungsmittel gibt. Aber es war schlimmer als ein Betriebsunfall. Mit Kindern hat ein Mann einen Klotz am Bein. Besonders, wenn der Mann gescheiter ist als die Frau. Finden Sie das nicht auch?«
Harper bezog nicht Stellung. Er räusperte sich nur.
»Das spielt aber keine Rolle. Ich habe den Jungen trotzdem geliebt.« Er sagte es fast boshaft. Ganz, als hätte er sein Kind geliebt, um seine Frau zu ärgern.
»Wer hat die Kinder umgebracht?« fragte Harper.
»Das Schreckgespenst«, sagte Lester Billings hastig. »Das Schreckgespenst hat sie alle umgebracht. Es kam einfach aus dem Schrank und tötete sie.« Wieder rutschte er auf der Couch hin und her und günste. »Sie halten mich für verrückt. Das sehe ich Ihnen an. Aber das ist mir egal. Ich will es Ihnen nur erzählen, und dann zur Hölle mit mir.«
»Ich höre«, sagte Dr. Harper.
»Es fing an, als Denny fast zwei Jahre alt war. Shirl war noch ein Baby. Denny weinte, als Rita ihn zu Bett brachte. Unsere Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, müssen Sie wissen. Shirl schlief bei uns. Zuerst dachte ich, daß er nur deshalb heulte, weil wir ihm nicht mehr die Flasche gaben. Rita sagte: Ist das denn so wichtig? Gib ihm doch die Flasche. Eines Tages wird er sie von selbst leid. Aber so kann aus Kindern nichts werden. Man sieht ihnen alles nach und verwöhnt sie. Und dann machen sie einem Kummer. Schwängern Mädchen, wissen Sie, oder spritzen Heroin. Oder sie werden schwul. Können Sie sich vorstellen, daß Sie eines Morgens aufwachen und feststellen, daß Ihr Kind — Ihr Sohn — schwul ist?
Als das nicht aufhörte, brachte ich ihn immer selbst zu Bett. Und wenn er nicht aufhörte zu heulen, hab ich ihn verprügelt. Und Rita sagte mir, daß er immer wieder nach ›Licht‹ gerufen hätte. Ich hab das nicht kapiert. Wer versteht schon, was Kinder sagen, wenn sie noch so klein sind? Das weiß nur eine Mutter.
Rita wollte, daß wir eine Lampe brennen lassen. Sie kennen doch diese Tischlampen mit Mickymausfiguren. Ich habe das aber nicht zugelassen. Ein Kind muß seine Angst vor der Dunkelheit überwinden, solange es noch klein ist, sonst verliert es sie nie.
Jedenfalls starb er im Sommer nach Shirls Geburt. Ich hatte ihn abends ins Bett gebracht, und er fing sofort wieder an zu heulen. Diesmal verstand ich, was er sagte. Er zeigte auf den Schrank, als er es sagte. ›Schreckgespenst‹, sagte der Junge. ›Schreckgespenst, Daddy.‹
Ich machte das Licht aus, ging in unser Schlafzimmer und fragte Rita, wieso sie dem Jungen solche Worte beibringt. Am liebsten hätte ich ihr eine aufs Maul gehauen, aber ich tat es nicht. Sie sagte, sie hätte ihm das Wort nicht beigebracht, und ich nannte sie eine dreckige Lügnerin.
Ein schlimmer Sommer für mich, wissen Sie. Ich hatte keine Arbeit. Endlich fand ich einen Job. Ich mußte in einem Lagerhaus Pepsi-Cola-Kästen auf Lastwagen laden. Ich war dauernd müde. Shirl wachte jede Nacht auf und heulte. Rita nahm sie dann immer auf den Arm und heulte auch. Zuweilen hatte ich nicht übel Lust, alle beide aus dem Fenster zu schmeißen. Verdammt, Kinder können einen manchmal verrückt machen. Man möchte sie umbringen.
Das Kind weckte mich morgens pünktlich um drei Uhr. Ich ging ins Badezimmer. Ich war noch schlaftrunken, wissen Sie, und Rita bat mich, nach Denny zu schauen. Ich sagte ihr, sie soll es gefälligst selbst tun und ging wieder ins Bett. Ich war schon fast eingeschlafen, als sie plötzlich schrie.
Ich stand auf und ging hinein. Das Kind lag tot auf dem Rücken. Es war weiß wie Mehl, außer wo das Blut… ausgetreten war. Hinten an den Beinen, am Kopf, am Ar— an den Hinterbacken. Es hatte die Augen weit geöffnet. Das war ja das Schreckliche. Sie waren weit geöffnet und glasig, wie die Augen an einem Elchkopf, den sich jemand über den Kamin gehängt hat. Oder wie die Bilder von den toten Vietnamesenkindern. So darf doch kein amerikanisches Kind aussehen. Tot auf dem Rücken. Es hatte Windeln und Gummihosen an, weil er sich in den letzten Wochen immer wieder naßgemacht hatte. Entsetzlich. Wie habe ich das Kind geliebt.«
Billinggs schüttelte langsam den Kopf. Wieder verzog er die Lippen zu einem widerwärtigen schmierigen Grinsen.
»Rita schrie wie verrückt. Sie wollte Denny hochnehmen und ihn schütteln, aber das ließ ich nicht zu. Die Polizei sieht es nicht gern, wenn man Spuren verwischt oder was verändert. Das weiß ich genau.«
»Wußten Sie zu der Zeit schon, daß es das Schreckgespenst war?« fragte Harper ruhig.
»O nein. Zu der Zeit noch nicht. Aber ich sah etwas. Es war für mich in dem Augenblick ohne Bedeutung, aber ich habe es nicht vergessen.«
»Was war das?«
»Die Schranktür war offen. Nicht weit, nur einen Spalt. Aber ich wußte, daß ich den Schrank geschlossen hatte. Ich bewahre dort Plastiksäcke von der chemischen Reinigung auf. Wenn ein Kind damit spielt, ist es plötzlich passiert. Es erstickt. Wußten Sie das?«
»Und was geschah dann?«
Billings zuckte die Achseln. »Wir haben ihn begraben.«
Unglücklich betrachtete er die Hände, die Erde auf drei kleine Särge geworfen hatten.
»Wurde denn kein Arzt zugezogen?«
»Natürlich.« Billings sah Harper höhnisch an. »Irgend so ein Hinterwäldler kam. Ein Arschloch mit einem Stethoskop und einer schwarzen Tasche voll Pillen. Apnoe nannte er das! Bei Babys gelegentlich auftretende unzureichende Steuerung des Atems durch das Gehirn. Haben Sie solche Scheiße schon mal gehört? Der Junge war schon drei Jahre alt!«
»Apnoe tritt gewöhnlich nur während des ersten Lebensjahres auf«, sagte Harper vorsichtig. »Aber diese Diagnose hat man schon bei Kindern bis zu fünf Jahren auf den Totenschein gelesen, weil man keine bessere wußte —«
»Scheiße!« zischte Billings wütend.
Harper zündete sich die Pfeife wieder an.
»Einen Monat nach der Beerdigung ließen wir ShIrl in Dennys früherem Zimmer schlafen. Rita wehrte sich erbittert, aber ich hatte das letzte Wort. Es tat mir ja selbst leid. Mein Gott, wie gern hatte ich es, wenn die Kinder bei uns im Zimmer schliefen. Aber man darf Kinder nicht übermäßig verhätscheln. So macht man aus ihnen seelische Krüppel. Als ich noch ein Kind war, nahm meine Mutter mich an den Strand mit. Und dann schrie sie sich heiser. ›Geh nicht so weit raus! Bleib da weg! Denk an die Strömung! Nur bis zum Hals ins Wasser! Du hast vor einer Stunde erst gegessen!‹ Mein Gott, ich mußte mich sogar vor Haifischen in acht nehmen. Und was war der Erfolg? Mir wird übel, wenn ich Wasser nur von weitem sehe. Das ist die reine Wahrheit. Ich kriege Krämpfe, wenn ich an einen Strand gehe. Als Denny noch lebte, verlangte Rita mal von mir, daß ich mit ihr und den Kindern nach Savin Rock fahre. Mir wurde speiübel. Nein, man darf Kinder nicht verhätscheln. Und man darf sich selbst auch nicht verweichlichen. Das Leben geht weiter. Shirl mußte dann in Dennys Bett schlafen. Die alte Matratze haben wir natürlich weggeworfen. Ich wollte nicht, daß meine Tochter sich vielleicht ansteckt.
So vergeht ein Jahr. Und eines Abends, als ich Shirl ins Bett bringe, fängt sie an zu jaulen und zu schreien und zu weinen. ›Schreckgespenst, Daddy, Schreckgespenst, Schreckgespenst!‹
Ich war entsetzt. Genau wie bei Denny. Und ich erinnerte mich an die Schranktür, die einen Spalt offenstand, als wir ihn fanden. Ich wollte sie für die Nacht in unser Schlafzimmer mitnehmen.«
»Taten Sie das?«
»Nein.« Billings betrachtete wieder seine Hände, und sein Gesicht zuckte. »Wie konnte ich Rita gegenüber zugeben, daß ich unrecht hatte? Ich mußte stark sein. Wo sie doch selbst so schlapp ist … wenn ich daran denke, daß sie ohne weiteres mit mir ins Bett ging, als wir noch nicht verheiratet waren.«
»Andererseits sind Sie ohne weiteres mit ihr ins Bett gegangen«, sagte Harper.
Billings Bewegungen erstarrten, und. ganz langsam drehte er sich zu Harper um. »Sie wollen wohl besonders schlau sein, was?«
»Durchaus nicht«, sagte Harper.
»Dann lassen Sie es mich doch auf meine Weise erzählen«, keifte Billings. »Ich bin hergekommen, um mir alles von der Seele zu reden. Meine Geschichte zu erzählen. Ich will nicht über mein Sexualleben reden, wenn Sie das vielleicht geglaubt haben. Rita und ich hatten ein ganz normales Sexualleben. Ohne jede Sauerei. Ich weiß, daß einige Leute geil darauf sind, darüber zu reden, aber zu denen gehöre ich nicht…«
»Okay«, sagte Harper.
»Okay«, wiederholte Billings mit halbherziger Arroganz. Er schien den Faden verloren zu haben. Unruhig schaute er zum Schrank hinüber. Die Tür war fest geschlossen.
»Soll ich ihn öffnen?« fragte Harper.
»Nein!« sagte Billings schnell. Er lachte nervös. »Wozu soll ich mir Ihre Galoschen ansehen?«
»Das Schreckgespenst hat auch meine Tochter geholt«, sagte Billings dann. Er wischte sich über die Stirn, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. »Einen Monat später. Aber vorher passierte noch etwas anderes. Ich hörte eines Abends ein Geräusch. Und dann fing sie an zu schreien. Ich öffnete rasch die Tür — das Flurlicht brannte — und…sie saß in ihrem Bettchen und weinte, und…etwas bewegte sich. Hinten im Schatten, am Schrank. Etwas rutschte da herum.«
»War die Schranktür offen?«
»Nur einen Spalt.« Billings leckte sich die Lippen. »Shirl schrie immer noch vom Schreckgespenst. Und sie sagte noch etwas anderes, das sich wie ›Pranke‹ anhörte. Kleine Kinder sprechen manche Worte noch falsch aus. Rita rannte nach oben und fragte, was los sei. Ich sagte, die Kleine hätte sich nur vor dem Schatten der Zweige an der Decke gefürchtet.«
»Schrank?« fragte Harper.
»Was?«
»Schrank… vielleicht wollte sie ›Schrank‹ sagen.«
»Vielleicht«, meinte Billings. »Vielleicht wollte sie das. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, es war das Wort ›Pranke‹.« Sein Blick richtete sich wieder auf die Schranktür. »Klauen, lange Klauen.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Haben Sie in den Schrank hineingeschaut?«
»J-ja.« Billings hatte die Hände so fest vor der Brust verschränkt, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»War denn etwas darin? Sehen Sie das —«
»Ich habe gar nichts gesehen!« schrie Billings plötzlich. Und Worte sprudelten aus ihm hervor, als ob man aus den Tiefen seiner Seele einen schwarzen Korken herausgezogen hätte:
»Ich fand sie, als sie starb, wissen Sie. Und sie war schwarz. Ganz schwarz. Sie war an ihrer eigenen Zunge erstickt und schwarz wie ein Negerdarsteller im Varieté. Und sie starrte mich an. Ihre Augen sahen aus wie die Augen von ausgestopften Tieren. Entsetzlich. Sie glänzten wie lebende Murmeln, und sie sagten, es hat mich gekriegt, Daddy, du hast mich umgebracht, du hast ihm geholfen, mich umzubringen …« Er verstummte, und eine einzige große Träne lief ihm über die Wange.
»Es war ein Gehirnkrampf«, fuhr Billings fort. »Das kriegen Kinder manchmal. Falsche Signale aus dem Gehirn. In Hartford wurde eine Obduktion durchgeführt, und man sagte uns, sie sei durch die Krämpfe an ihrer eigenen Zunge erstickt. Ich mußte allein nach Hause gehen, denn sie hatten Rita Beruhigungsmittel gegeben. Sie war völlig verstört. Ich ging allein zum Haus zurück, und ich weiß, daß ein Kind nicht gleich Krämpfe kriegt, nur weil sein Gehirn mal nicht richtig funktioniert. Man kann ein Kind aber so sehr erschrecken, daß es Krämpfe kriegt. Und ich mußte in das Haus zurück, wo das Gespenst war.«
Er flüsterte: »Ich schlief auf der Couch und ließ das Licht an.«
»Geschah irgend etwas?«
»Ich hatte einen Traum«, sagte Billings. »Ich war in einem dunklen Raum, und da war etwas, das ich nicht…das ich nicht richtig erkennen konnte. Im Schrank. Es machte ein Geräusch…ein quietschendes Geräusch. Es erinnerte mich an ein Comic-heft, das ich als Kind mal gelesen habe. Geschichten aus der Gruft, wenn Sie das vielleicht kennen. Von einem gewissen Graham Ingles. Der konnte die grausigsten Dinge der Welt zeichnen. Mein Gott! In dieser Geschichte ertränkte eine Frau ihren Mann. Sie band ihm Betonklötze an die Füße und stieïhn in einen Teich. Aber er kam wieder. Er war ganz verfault und schwarzgrün, und die Fische hatten eins seiner Augen gefressen, und in seinen Haaren hingen Wasserpflanzen. Er kam wieder und tötete sie. Und als ich mitten in der Nacht aufwachte, dachte ich, daß er sich über mich beugte. Mit Klauen…mit langen Klauen.«
Dr. Harper sah auf die in seinen Schreibtisch eingelassene Digitaluhr. Lester Billings hatte fast eine halbe Stunde lang geredet. »Wie war die Einstellung Ihrer Frau gegenüber, als sie wieder nach Hause kam?« fragte Dr. Harper.
»Sie liebte mich immer noch«, sagte Billings nicht ohne Stolz. »Sie tat immer noch alles, was ich ihr sagte. Das gehört sich auch für eine Frau, nicht wahr? Diese Feministinnen machen mich krank. Das Wichtigste im Leben ist, daß jemand weiß, wo er steht. Daß er eine…seine … äh …«
»Daß er seinen Platz im Leben kennt?«
»Das wollte ich sagen!« Billings schnippte mit den Fingern. »Genau das. Und eine Frau muß ihrem Mann gehorchen. Oh, in ersten vier oder fünf Monaten danach war sie zu nichts zu gebrauchen. Sie schlich im Haus herum, sang nicht, sah nicht fern, und sie lachte auch nicht. Aber ich wußte, daß sie darüber hinwegkommen würde. Wenn sie noch so klein sind, hängt man noch nicht so sehr an ihnen. Nach einiger Zeit muß man ein Bild aus der Schublade holen, damit man weiß, wie sie überhaupt ausgesehen haben.«
»Sie wollte noch ein Kind«, fügte er finster hinzu. »Ich hielt das für keine gute Idee. Jedenfalls vorläufig nicht. Ich sagte ihr, daß wir den Verlust erst verarbeiten müßten und uns endlich einmal Zeit füreinander nehmen sollten. Das hatten wir vorher nicht gekonnt. Wenn wir ins Kino gehen wollten, mußten wir uns einen Babysitter besorgen. Wir konnten nicht in die Stadt zur Oper fahren, wenn ihre Eltern nicht die Kinder hüteten. Meine Mutter wollte mit uns nichts zu tun haben. Sie müssen wissen, daß Denny gleich nach der Hochzeit geboren wurde. Sie sagte, Rita sei ein Flittchen, eine gewöhnliche kleine Nutte. Ist das nicht ein Ding. Einmal erzählte sie mir die Krankheiten auf, die man kriegen kann, wenn man zu einer Nut…zu einer Prostituierten geht. Wie dann der Schwa…der Penis eines Tages eine winzige wunde Stelle hat und schon am nächsten Tag abfault. Sie ist nicht einmal zur Hochzeit gekommen.«
Billings trommelte sich mit den Fingern auf die Brust.
»Ritas Arzt hatte ihr diese Spirale angedreht. Narrensicher, sagte der Arzt. Er steckt es der Frau einfach in die… an die richtige Stelle. Wenn da irgend etwas drinsteckt, kann das Ei nicht befruchtet werden. Man merkt nicht einmal, daß das Ding da steckt.« Er starrte verzückt gegen die Decke. »Also weiß kein Mensch, ob es da steckt oder nicht. Und im nächsten Jahr wird sie schon wieder schwanger. Das war vielleicht narrensicher.«
»Keine Verhütungsmethode ist perfekt«, sagte Harper, »Die Pille ist es nur zu achtundneunzig Prozent. Die Spirale kann sich durch Krämpfe oder starke Menstruationsblutungen lösen. In besonderen Fällen wird sie ganz einfach ausgeschieden.«
»Ja. Oder man nimmt sie raus.«
»Durchaus möglich.«
»Und was nun? Sie strickt kleine Kleidungsstücke, singt unter der Dusche und frißt eine saure Gurke nach der anderen. Sie setzt sich auf meinen Schoß und erzählt mir, daß alles Gottes Wille gewesen sei. Was für ein Schwachsinn!«
»Das Kind wurde also im Jahr nach Shirls Tod geboren, und zwar gegen Ende des genannten Jahres?« wollte Harper wissen.
»So ist es. Es war ein Junge. Sie nannte ihn Andrew Lester Billings. Ich selbst wollte nichts damit zu tun haben, wenigstens zuerst nicht. Ich sagte mir: Sie hat sich absichichtlich schwängern lassen, also ist es ganz allein ihre Sache. Ich weiß, das hört sich nicht gut an, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß ich eine Menge durchgemacht hatte.
Aber ich gewöhnte mich an ihn. Er war der einzige aus dem Wurf, der mit ähnlich sah. Denny hatte seiner Mutter ähnlich gesehen und Shirl niemandem, außer vielleicht meiner Großmutter Ann. Aber Andy war mir wie aus dem Gesicht geschnitten.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, spielte ich mit ihm in seinem Laufstall. Er nahm meinen Finger und gluckste und lächelte. Schon mit neun Wochen lächelte er seinen Dad an. Können Sie sich das vorstellen?
Dann habe ich eines Abends in irgendeinem Laden ein Mobile gekauft, das ich dem Kind über das Bett hängen wollte. Ausgerechnet ich! Kinder machen sich nichts aus Geschenken. Erst wenn sie alt genug sind, daß sie danke sagen können. Das war immer mein Motto. Trotzdem kaufe ich diesen albernen Scheißdreck. Und plötzlich weiß ich, daß ich ihn mehr liebe, als meine anderen Kinder. Zu der Zeit hatte ich schon einen neuen Job. Nicht schlecht. Ich verkaufte Bohrer für Cluett and Sons. Das lief gut, und als Andy ein Jahr alt war, zogen wir nach Waterbury. An die alte Wohnung hatten wir zu viele schlimme Erinnerungen.
Und da gab es zu viele Schränke.
Das nächste Jahr war unser bestes. Ich würde jeden Finger der rechten Hand dafür geben, wenn ich es noch mal erleben könnte. Der Krieg in Vietnam war noch nicht zu Ende, und die Hippies liefen immer noch nackt herum, und die Nigger machten Krawall. Aber das alles berührte uns gar nicht. Wir lebten in einer ruhigen Straße und hatten nette Nachbarn. Wir waren glücklich. Ich fragte Rita einmal, ob sie sich keine Sorgen machte. Sie wissen ja, aller guten Dinge sind drei. Aber davon wollte sie nichts wissen. Sie sagte, Andy sei etwas ganz Besonderes. Gott würde ihn schützen.«
Wieder starrte Billings traurig gegen die Decke.
»Das letzte Jahr war nicht so gut. Irgend etwas am Haus war plötzlich anders. Ich stellte meine Schuhe nicht mehr in den Schrank, sondern ließ sie im Flur. Ich wollte die Schranktür nicht mehr öffnen. Ich dachte immer: Wenn es nun im Schrank hockt? Geduckt, und bereit, mich sofort anzuspringen, sobald ich die Tür öffne? Und ich meinte auch, quietschende Geräusche zu hören, als ob etwas Schwarzgrünes und Nasses sich im Schrank leise regte.
Rita fragte mich, ob ich nicht zuviel arbeitete, und ich brüllte sie an. Ganz wie früher. Mir drehte sich der Magen um, wenn ich zur Arbeit ging und die beiden alleinlassen mußte, aber ich war froh, wenn ich das Haus verlassen konnte. Gott verzeihe mir, aber ich war heilfroh, daß ich wegkonnte. Ich hoffte schon, daß es vielleicht unsere Spur verloren hatte, als wir umzogen. Es mußte uns jagen, nachts durch die Straßen schleichen, vielleicht aus der Kanalisation hervorkriechen. Unsere Witterung aufnehmen. Es dauerte ein Jahr, aber es hat uns gefunden. Es ist wieder hier, dachte ich. Es will Andy und mich. Wenn man lange genug an etwas denkt, dachte ich, dann wird es Wirklichkeit. Vielleicht existieren all die Ungeheuer wirklich, vor denen wir als Kinder Angst hatten. Frankenstein und der Wolfsmann und die Mumie. Vielleicht gibt es sie wirklich. Vielleicht waren sie es, die die Kinder umbrachten, von denen man glaubte, sie seien in Kiesgruben verschüttet worden oder in Teichen ertrunken, und die doch nie gefunden wurden. Vielleicht …«
»Sollten Sie nicht noch etwas erwähnen, Mr. Billings?«
Billings schwieg lange — auf der Digitaluhr liefen zwei Minuten ab. Dann sagte er plötzlich: »Andy ist im Februar gestorben. Rita war nicht da. Ihr Vater hatte sie angerufen. Ihre Mutter war bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Keiner glaubte, daß sie durchkommen würde. Es war am Tag nach Neujahr. Rita kam abends mit dem Bus zurück.
Ihre Mutter starb nicht, aber zwei Monate lang blieb ihr Zustand kritisch. Ich fand eine tüchtige Frau, die tagsüber bei Andy blieb. Nachts war ich mit dem Jungen allein. Und immer wieder gingen die Schranktüren auf.«
Billings leckte sich die Lippen. »Das Kind schlief bei mir im Zimmer. Es ist komisch, aber einmal fragte Rita mich, ob er nicht lieber in einem anderen Zimmer schlafen solle. Spock oder irgendein Quacksalber hatte ihr gesagt, daß es nicht gut ist, wenn die Kinder bei den Eltern schlafen. Dann könnten sie ein sexuelles Trauma kriegen und dergleichen. Aber wir taten es nur, wenn er schon schlief. Ich wollte ihn nicht im anderen Zimmer schlafen lassen. Ich hatte Angst, nach dem, was mit Denny und Shui passiert war.«
»Aber Sie taten es doch?« fragte Dr. Harper.
Wieder Schweigen. Billings kämpfte mit sich.
»Ich mußte es!« brüllte er endlich. »Ich mußte es! Es war alles in Ordnung, als Rita noch da war, aber als sie weg war, wurde es immer frecher. Es fing an…« Augenrollend sah er Harper an fletschte die Zähne zu einem bösen Grinsen. »Ach, Sie glauben es ja doch nicht. Ich weiß, was Sie denken. Sie halten mich für verrückt. Für Sie bin ich nur ein weiterer Fall in Ihrer Kartei. Das weiß ich, aber Sie waren ja nicht dabei, Sie widerlicher arroganter Seelenschnüffler…
Einmaal flogen nachts alle Türen im Haus weit auf, und eines morgens fand ich eine Dreckspur quer durch den Flur, vom Kleiderschrank bis zur Haustür. War es verschwunden? War es gekommen? Ich weiß es nicht! Bei Gott, ich weiß es einfach nicht! Alle Schallplatten waren zerkratzt und mit Schleim bedeckt, die Spiegel zerbrochen…und die Geräusche…die Geräusche …«
Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Man wacht morgens um drei auf und starrt in die Dunkelheit und sagt sich: ›Es ist nur die Uhr.‹ Aber dann hört man neben dem Geräusch, daß sich etwas leise bewegt. Aber ganz leise auch wieder nicht, denn es will ja, daß man es hört. Ein schleimiges gleitendes Geräusch, wie von Klauen, die sich über das Treppengeländer schieben. Und man schließt die Augen und weiß: Es ist schlimm genug, es zu hören, aber es zu sehen …
Und immer hat man Angst, daß das Geräusch plötzlich aufhört, daß es über einem lacht, daß man einen Lufthauch wie von verfaultem Kohl ins Gesicht bekommt, daß sich einem Hände um die Kehle legen.«
Billings war leichenblaß. Er zitterte.
»Ich brachte ihn also in das andere Zimmer. Ich wußte, daß es ihn holen würde, denn er war schwächer. Und das tat es auch. Gleich in der ersten Nacht hörte ich ihn laut kreischen, und als ich zu ihm hineinlief, stand er im Bett und schrie:
›Schreckgespenst, Daddy…Schreckgespenst…will mit Daddy gehen, will mit Daddy gehen‹.« Billings’ Stimme klang hoch und schrill wie die eines Kindes. Sein Gesicht bestand nur noch aus Augen. Er schien auf der Couch zusammenzuschrumpfen.
»Aber ich nahm ihn nicht mit«, fuhr er mit seiner Kinderstimme fort. »Das konnte ich nicht tun. Und eine Stunde später wieder ein Schrei. Ein entsetzlicher, gurgelnder Schrei. In diesem Augenblick wußte ich, wie sehr ich ihn liebte. Ich machte nicht einmal Licht, ich rannte los. Und, o mein Gott, es hatte ihn. Es schüttelte ihn, schüttelte ihn, wie ein Terrier einen alten Lappen schüttelt. Und ich sah etwas mit gräßlichen abfallenden Schultern und dem Kopf einer Vogelscheuche, und ein Gestank wie nach toten Mäusen hing in der Luft. Und ich hörte…« Seine Stimme verlor sich, und als er weitersprach, nahm sie wieder den Tonfall eines Erwachsenen an. »Ich hörte, wie Andys Genick brach.« Billings’ Stimme war kalt und tot. »Es war ein Geräusch, als ob Eis knackt, wenn man im Winter auf einem Teich schlittschuhläuft.«
»Und was geschah dann?«
»Ich rannte weg«, sagte Billings mit derselben kalten und toten Stimme. »Wenn das keine Feigheit war. Ich rannte zu einem Imbiß, der die ganze Nacht geöffnet ist, und trank sechs Tassen Kaffee. Dann ging ich nach Hause. Es dämmerte schon. Noch bevor ich nach oben ging, rief ich die Polizei an. Er lag auf dem Fußboden und starrte mich an. Eine einzige Anklage. Aus einem Ohr war etwas Blut gelaufen. Eigentlich nur ein Tropfen. Und die Schranktür war offen — aber nur einen Spalt.«
Er schwieg. Harper schaute auf die Digitaluhr. Fünfzig Minuten waren vergangen.
»Lassen Sie sich von der Schwester einen Termin geben«, sagte er. »Besser mehrere. Dienstags und donnerstags?«
»Ich wollte Ihnen nur meine Geschichte erzählen«, sagte Billings. »Ich mußte es mir von der Seele reden. Die Polizei hab ich belogen, wissen Sie. Ich habe ihnen erzählt, daß er versucht haben muß, nachts aus dem Bett zu klettern…und sie schluckten es. Warum auch nicht, denn es sah doch ganz so aus. Ein Unfall wie bei den anderen. Aber Rita wußte es. Rita …wußte … es.«
Er hielt sich den rechten Arm vor die Augen und fing an zu weinen.
»Mr. Billing, wir müssen uns noch über vieles unterhalten«, sagte Dr. Harper nach einer Weile. »Ich glaube, wir können Sie von ihren Schuldgefühlen befreien, aber Sie müssen sie auch loswerden wollen.«
»Glauben Sie etwa, daß ich sie nicht loswerden will?« rief Billings und nahm den Arm von den Augen. Sie waren rot und wund und blickten gekränkt.
»Da bin ich noch nicht ganz sicher«, sagte Harper ruhig. »Immer dienstags und donnerstags?«
Nach längerem Schweigen murmelte Billings: »Verdammter Quacksalber. Okay, meinetwegen.«
»Dann machen Sie mit der Schwester einen Termin aus. Guten Tag.«
Billings lachte hohl, und ohne sich umzuschauen verließ er rasch das Behandlungszimmer.
Das Vorzimmer war nicht besetzt. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel: »Bin in einer Minute zurück.«
Billings drehte sich um und ging wieder in das Behandlungszimmer. »Doktor, Ihre Schwester ist nicht…«
Der Raum war leer.
Aber die Schranktür war offen. Nur einen Spalt.
»Wie schön«, sagte die Stimme aus dem Schrank. »Wie schön.« Die Worte klangen, als kämen sie aus einem Mund voll verfaulter Wasserpflanzen.
Billings blieb wie angewurzelt stehen, als sich die Schranktür öffnete. Er spürte schwach die Wärme zwischen den Beinen, als er sich naßmachte.
»Wie schön«, sagte das Schreckgespenst, als es aus dem Schrank trat.
In einer verfaulten Klauenhand hielt es noch Dr. Harpers Maske.
Graue Masse
Seit einer Woche war Schnee vorausgesagt, und am Donnerstag kam er dann auch. Und wie! Um vier Uhr nachmittags lag er schon zwanzig Zentimeter hoch, und es sah nicht so aus, als sollte es aufhören zu schneien. Die üblichen fünf oder sechs Leute hatten sich in Henrys Lokal am Stammtisch versammelt. Der Laden hieß »Nachteule« und war der einzige kleinere Laden diesseits von Bangor, der rund um die Uhr geöffnet hatte.
Henry macht keinen gewaltigen Umsatz — hauptsächlich versorgt er die Jungs vom College mit Bier und Wein —, aber er kommt zurecht. Und auch wir Sozialrentner treffen uns hier und erzählen uns, wer in letzter Zeit gestorben ist, und wie die Welt zum Teufel geht.
Heute nachmittag stand Henry hinter dem Tresen. Bills Pelham, Bertie Connors, Carl Littlefield und ich hockten am Ofen. Kein einziger Wagen zeigte sich draußen auf der Ohio Street, und die Schneepflüge hatten reichlich zu tun. Der Sturm hatte Schneewehen aufgetürmt, die aussahen wie die Rücken von Dinosauriern.
Henry hatte den ganzen Nachmittag nur drei Kunden — wenn man den blinden Eddie mitzählt. Eddie ist ungefähr siebzig, und er ist nicht völlig blind. Er stößt nur dauernd irgendwo an. Er kommt ein- oder zweimal die Woche herein, steckt sich ein Brot unter den Mantel und verschwindet wieder. Sein Gesichtsausdruck läßt vermuten, daß er dabei denkt: Seht mal, ihr dummen Schweine, ich habe euch schon wieder angeschissen.
Bertie fragte Henry einmal, warum er sich das gefallen ließe.
»Das will ich dir erzählen«, sagte Henry. »Vor ein paar Jahren brauchte die Air Force zwanzig Millionen Dollar, um den Prototyp eines Flugzeugs zu bauen, das ihre Ingenieure entworfen hatten. Es kostete am Ende fünfundsiebzig Millionen, aber das verdammte Ding flog nicht. Das war vor zehn Jahren, als der blinde Eddie und ich noch wesentlich jünger waren. Ich wählte damals die Politikerin, die das Projekt befürwortete, der blinde Eddie nicht. Und seitdem bezahle ich sein Brot.«
Bertie sah nicht so aus, als hätte er auch nur die Hälfte verstanden, aber er lehnte sich zurück und dachte über die Geschichte nach.
Jetzt ging die Tür wieder auf, und ein eisiger Windstoß fuhr in den Raum. Ein kleiner Junge betrat den Laden und stampfte sich den Schnee von den Stiefeln.
Nach ein paar Sekunden erkannte ich ihn. Es war Richie Grenadines Junge, und er sah aus, als hätte er eben das Baby am falchen Ende geküßt. Sein Adamsampfel ging auf und ab, und sein Gesicht war weiß wie Wachs.
»Mr. Parmalee«, sagte er zu Henry und ließ die Augen rollen wie Kugellager. »Sie müssen kommen. Sie müssen ihm sein Bier bringen. Ich geh nicht mehr zurück. Ich hab Angst.«
»Nun mal langsam«, sagte Henry, band sich die weiße Schlachterschürze ab und kam hinter dem Tresen hervor. »Was ist los? Ist Daddy wieder besoffen?«
Als er das sagte, fiel mir ein, daß Richie ziemlich lange nicht mehr hiergewesen war. Gewöhnlich kommt er einmal am Tag und kauft einen Kasten von dem Bier, das gerade am billigsten ist. Er ist ein großer fetter Kerl mit Schweinsbacken und Armen so dick wie Oberschenkel. Im Biersaufen war Richie auch immer ein Schwein. Aber während der Arbeit im Sägewerk in Clifton konnte er damit umgehen. Dann hatte Richie einen Arbeitsunfall. Er verhob sich an einer zu schweren Ladung. Vielleicht hat er es auch nur so dargestellt. Jedenfalls brauchte er nicht mehr zu arbeiten, und das Sägewerk zahlte ihm eine Rente. Er hatte was am Rücken. Und er wurde immer fetter. Er war lange nicht hiergewesen. Ich hatte allerdings gelegentlich seinen Sohn gesehen, wenn er für seinen Vater den täglichen Kasten Bier holte. Ein netter Junge. Henry verkaufte ihm das Bier natürlich, denn er wußte, daß der Junge ja nur tat, was sein Vater sagte.
»Natürlich ist Daddy wieder besoffen«, hörte ich den Jungen sagen, »aber darum geht es gar nicht. Es ist… es ist…oh mein Gott, es ist so entsetzlich.«
Henry merkte, daß der Bengel anfing zu heulen. Deshalb sagte er schnell: »Carl, kannst du einen Augnblick aufpassen?«
»Gern.«
»So, Timmy, jetzt komin mal mit ins Lager und erzähl mir, was los ist.«
Er ging mit dem Jungen weg, und Carl stellte sich hinter den Tresen. Nach einer Weile setzte er sich auf Henrys Schemel. Eine Zeitlang schwiegen alle. Wir hörten sie hinten sprechen, Henrys tiefe bedächtige Stimme und Timmy Grenadines hellen Sopran. Der Junge sprach sehr schnell. Dann fing er an zu weinen. Bill Pelham räusperte sich und stopfte seine Pfeife.
»Ich habe Richie ein paar Monate nicht gesehen«, sagte ich.
»Kein großer Verlust«, brummte Bill.
»Zuletzt war er… ja, Ende Oktober war er hier«, sagte Carl. »Kurz vor Allerheiligen. Kaufte einen Kasten Schlitz-Bier. Mein Gott, war der Kerl fett geworden!«
Viel mehr war nicht zu sagen. Der Junge weinte immer noch, aber gleichzeitig redete er. Draußen heulte der Wind, und im Radio wurde wieder Schnee angesagt. Bis morgen früh etwa fünfzehn Zentimeter. Es war Mitte Januar, und ich fragte mich, wer üßerhaupt Richie seit Ende Oktober gesehen hatte — abgesehen von seinem Sohn natürlich.
Sie redeten noch eine ganze Weile, aber dann kamen Henry und der Junge wieder in den Laden. Der Junge hatte den Mantel abgelegt, aber Henry seinen angezogen. Der Junge wirkte erleichtert, als sei das Schlimmste für ihn vorbei, aber seine Augen waren gerötet, und wenn er einen ansah, schlug er sofort die Augen nieder.
Henry wirkte besorgt. »Ich denke, ich schicke Timmy nach oben. Meine Frau kann ihm einen Käsetoast machen oder sonstwas. Ein paar von euch können vielleicht zu Richies Wohnung mitkommen. Timmy sagt, er braucht Bier. Das Geld hat er mir schon gegeben.« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Er gab es auf.
»Klar«, sagte Bertie. »Was für Bier? Ich hole es.«
»Nimm Harrow-Supreme«, sagte Henry. »Steht links hinten.«
Auch ich stand auf. Bertie und ich würden wohl mitgehen. Carls Arthritis machte ihm besonders an kalten Tagen zu schaffen, und Billy Pelham kann seinen rechten Arm nicht mehr so recht gebrauchen.
Bertie brachte vier Sechserpacks Harrow, und ich verstaute sie in einem Karton, während Henry den Jungen nach oben in die Wohnung brachte.
Er machte alles mit seiner Alten klar und kam wieder runter. Er sah sich noch einmal um, ob die Tür nach oben dicht war. Billy meldete sich zu Wort. »Was ist los? Hat er den Jungen schon wieder verprügelt?«
»Nein«, sagte Henry. »Ich werde euch vorläufig nichts erzählen, sonst haltet ihr mich für verrückt, aber ich werde euch etwas zeigen. Das Geld, mit dem Timmy das Bier bezahlt hat.« Er zog vier Dollarnoten aus der Tasche und hielt sie an den Ecken fest. Die Scheine waren mit grauem Schleim bedeckt, ähnlich wie die obere Schicht, wenn man eine vergammelte Konserve öffnet. Er legte sie auf den Tresen und lächelte komisch. Dann sagte er zu Carl: »Niemand darf sie anfassen. Schon gar nicht, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was das Kind mir erzählt hat!«
Und er ging an die Spüle neben der Fleischtheke und wusch sich die Hände.
Ich stand auf, zog mir meine warme Jacke an und knöpfte sie zu. Es hatte keinen Zweck, einen Wagen zu nehmen. Richie wohnte in einem Block in der Curve Street. Nicht weit, aber ein wenig abseits. Die Schneepflüge konnten dort noch nicht gewesen sein.
Als wir hinausgingen, rief Bill Pelham uns nach: »Seid bloß vorsichtig.«
Harry nickte nur und stellte den Karton Bier auf den kleinen Handkarren, der immer neben der Tür stand, Dann marschierten wir los.
Mit aller Wucht schlug uns der eisige Wind ins Gesicht, und ich wickelte mir sofort den Schal um die Ohren. Wir blieben eine Weile im Eingang stehen, während Berti sich die Handschuhe anzog. Sein Gesicht zuckte gequält, und ich verstand sehr gut, daß er sich nicht sonderlich wohl fühlte. Junge Leute haben gut lachen. Es macht ihnen nichts aus, den ganzen Tag skizulaufen oder mit diesen verdammten wespenflügeligen Schneemobilen in der Gegend herumzufahren. Aber wenn man erst einmal siebzig ist, und das ohne Ölwechsel, geht einem der Nordostwind durch Mark und Bein.
»Ich will euch nicht erschrecken, Jungs«, sagte Henry und hatte immer noch dieses seltsame, angewiderte Lächeln auf den Lippen. »Aber ich werde euch alles zeigen. Und unterwegs werde ich euch erzählen, was der Junge mir gesagt hat … das müßt ihr nämlich wissen, versteht ihr?«
Und er zog eine Pistole Kaliber .45 aus der Tasche. Seit er den Laden rund um die Uhr geöffnet hielt, lag das Ding ständig schußbereit unter seinem Tresen. Ich weiß nicht, woher er die Waffe hat, aber ich weiß, daß er sie einmal zog, als ein Kerl reinkam und Geld wollte. Der Junge verschwand wesentlich schneller als er gekommen war. Henry war schon kaltblütig. Einmal schmiß er einen Studenten raus, der unbedingt mit einem Scheck bezahlen wollte.
Der Junge ging raus, als säße ihm der Arsch schief. Anschließend machte er sich in die Hose.
Ich erzähle das alles nur, weil Henry Bertie und mir zeigen wollte, daß die Sache nicht lustig war, und das glaubten wir ihm gern.
Wir machten uns also auf den Weg und stemmten uns wie die Waschfrauen gegen den Wind. Henry schob den Karren und erzählte uns, was der Junge gesagt hatte. Der Wind wollte die Worte wegreißen, bevor wir sie hörten, aber wir verstanden das meiste — wir verstanden mehr, als uns lieb war. Ich war verdammt froh, daß Henry seine Kanone in der Manteltasche stecken hatte.
Der Junge sagte, es muß das Bier gewesen sein — man weiß ja, daß hin und wieder eine Dose schlecht ist. Schal oder sauer oder grün wie die Pinkelflecken in der Unterwäsche eines Iren. Jemand hat mir mal gesagt, daß ein winziges Loch genügt, und schon kommen Bakterien rein und verursachen seltsame Veränderungen. Das Loch mag so klein sein, daß kein Bier rausläuft, aber die Bakterien kommen rein, und Bier ist für einige der kleien Dinger hervorragende Nahrung.
Jednfalls sagte der Junge, Richie hätte an jenem Oktoberabend wie immer einen Karton Golden Light mit nach Hause gebracht. Während Timmy seine Hausaufgaben machte, fing Richie an zu saufen.
Timmy wollte gerade ins Bett gehen, als er Richie sagen hörte: »Mein Gott, hier stimmt was nicht.«
Timmy fragte: »Was ist denn, Daddy?«
»Das Bier«, sagte Richie. »Verdammt, das ist der schlechteste Geschmack, den ich je im Mund hatte.«
Man könnte sich fragen, warum in aller Welt Richie das Bier getrunken hat, wenn es so schlecht schmeckte, aber man muß Richie Grenadine einmal Bier trinken gesehen haben. Ich war an einem Nachmittag in Wallys Kneipe und habe gesehen, wie er eine Wahnsinnswette gewann. Er wettete mit einem Kerl, daß Richie in einer Minute zwanzig Glas Bier trinken könne. Von den Einheimischen ging keiner darauf ein, aber dieser Handelsvertreter aus Montpelier legte eine Zwanzigdollarnote hin und Richie legte seine daneben. Er trank alle zwanzig und hatte noch sieben Sekunden Zeit.
Als er rausging, war er allerdings nicht mehr sonderlich gut zu Fuß. Deshalb glaube ich, daß er die Dose wohl schon ausgesoffen hatte, bevor sein Verstand ihn warnte.
»Ich muß kotzen«, sagte Richie. »Paß auf!«
Als er die Toilette erreichte, war der Anfall aber schon vorüber. Der Junge sagte, er habe an der Dose gerochen, und sie habe gerochen, als sei etwas hineingekrochen und gestorben. Und oben an der Dose seien graue Tropfen gewesen.
Zwei Tage später kam der Junge aus der Schule, und Richie saß vor der Glotze und sah sich irgendeine Schnulze an. Es war erst Nachmittag, aber alle Vorhänge in der ganzen Wohnung waren zugezogen.
»Was ist los?« fragte Timmy, denn Richie trudelte selten vor neun Uhr abends zu Hause ein.
»Ich sehe fern«, sagte Richie. »Heute hatte ich keine Lust auszugehen.«
Timmy schaltete das Licht über der Spüle an, und Richie brüllte ihn an: »Mach das verdammte Licht aus!«
Das tat Timmy, und er hat nicht erst gefragt, wie er deenn im Dunkeln seine Hausaufgaben machen soll. Wenn Richie in einer solchen Stimmung ist, fragt man ihn am besten überhaupt nichts.
»Geh los und hol mir einen Karton Bier«, sagte Richie. »Geld liegt auf dem Küchentisch.«
Als der Junge zurück kam, saß sein Vater immer noch im Dunkeln, nur, daß es jetzt auch draußen dunkel war. Das Fernsehen war ausgeschaltet. Das Kind bekam es mit der Angst — und wem würde es nicht ähnlich gehen? Die ganze Wohnung dunkel, und Daddy hockte wie ein großer Klumpen in der Ecke.
Timmy stellte also das Bier auf den Tisch, denn er wußte, daß Richie es nicht gern so kalt trank, davon bekam er Kopfschmerzen. Als der Junge in die Nähe des Alten kam, bemerkte er einen fauligen Geruch, wie von altem Käse, den jemand übers Wochenende auf dem Tisch stehengelassen hat. Er dachte sich aber weiter nichts dabei, denn der Alte war nie besonders sauber. Statt dessen ging Timmy in sein Zimmer, schloß die Tür, und machte seine Hausaufgaben. Nach einer Weile hörte er, wie Richie die erste Dose des Abends aufriß.
Und so ging es zwei Wochen lang. Der Junge stand morgens auf und ging in die Schule, und wenn er nach Hause kam, saß Richie vor dem Fernsehgerät, und das Biergeld lag auf dem Tisch.
Die Wohnung roch immer übler, und Richie zog die Vorhänge überhaupt nicht mehr auf. Ungefähr Mitte November durfte Timmy in seinem Zimmer nicht mehr arbeiten. Das Licht, das unten durch den Türspalt fiel, störte Richie. Wenn er für seinen Vater Bier geholt hatte, ging Timmy also immer ein paar Häuser weiter zu einem Freund.
Als Timmy eines Tages von der Schule nach Hause kam — es war vier Uhr nachmittags und schon fast dunkel —, sagte Richard: »Dreh das Licht an.«
Das Kind drehte das Licht über der Spüle an, und was sah der völlig verdutzte Junge? Richie hatte sich total in eine Wolldecke eingewickelt.
»Sie mal«, sagte Richie, und eine Hand schob sich unter der Decke hervor. Aber es war gar keine Hand. Es war etwas Graues; mehr konnte das Kind nicht sagen. Es sah überhaupt nicht wie eine Hand aus. Es war nur ein grauer Klumpen.
Jedenfalls bekam Timmy Grenadine einen fürchterlichen Schrecken. »Was ist mit dir los, Daddy?« fragte er.
Und Richie sagte: »Weiß nicht. Aber es tut nicht weh. Es fühlt sich …gar nicht schlecht an.«
Und Timmy sagte: »Ich hole Dr. Westphail.«
Und die ganze Wolldecke fing an zu zittern, als ob sich darunter etwas Entsetzliches schüttelte. Und Richie sagte: »Untersteh dich! Wenn du das tust, fasse ich dich an, und du wirst genauso enden wie ich.« Und er ließ die Decke für einen Augenblick vom Gesicht gleiten.
Inzwischen waren wir an der Ecke von Harlow und Curve Street angekommen, und es war jetzt noch kälter, als das Thermometer vor Henrys Laden angezeigt hatte. Man möchte so etwas kaum glauben, und doch, es gibt seltsame Dinge in der Welt.
Ich kannte mal einen Mann namens George Kelso, der bei den Stadtwerken in Bangor beschäftigt war. Fünfzehn Jahre lang reparierte er Hauptwasserrohre und elektrische Kabel und dergleichen, und keine zwei Jahre vor seiner Pensionierung gab er plötzlich seinen Job auf. Frankie Haldeman, der ihn kannte, sagte, George sei lachend und scherzend wie immer in Essex in einen Abwasserschacht hineingestiegen, und als er nach fünfzehn Minuten wieder herauskam, war sein Haar schlohweiß, und seine Augen blickten so irre, als hätte er durch ein Fenster direkt in die Hölle gesehen.
Er ging sofort zur Garage der Stadtwerke und stempelte seine Karte. Anschließend ging er in Wallys Kneipe und fing an zu saufen. Zwei Jahre später hatte er sich totgesoffen. Frankie sagte, er hätte versucht, mit ihm darüber zu reden, und einmal hatte George auch etwas gesagt, als er ziemlich voll war. George hatte sich auf seinem Hocker umgedreht und Frankie Haldeman gefragt, ob er schon mal eine Spinne gesehen hätte, so groß wie ein mittlerer Hund, in einem Netz mit lauter jungen Spinnen, alle in Seidenfäden eingehüllt. Was hätte Frankie darauf antworten sollen? Ich sage nicht, daß es stimmt. Ich sage nur, daß es in einigen Ecken der Welt Dinge gibt, die einen Mann in den Wahnsinn treiben können, wenn er sie vor sich sieht.
Trotz des Windes, der durch die Straße fegte, blieben wir einen Augenblick an der Ecke stehen.
»Was hat er gesehen?« fragte Bertie.
»Er konnte seinen Daddy noch erkennen«, antwortete Henry, »aber er sagte, es war, als steckte er in einer grauen gallertartigen Masse … alles eine Art Brei. Seine Kleidung klebte ihm in und an der Haut, ale sei sie auf seinem Körper geschmolzen.«
»Heiliger Himmel«, sagte Bertie.
»Dann zog er die Decke wieder vor das Gesicht und brüllte den Jungen an, er solle das Licht ausmachen.«
»Wie Schwamm«, sagte ich.
»Ja«, sagte Henry. »So ungefähr.«
»Mach die Pistole klar«, sagte Bertie.
»Ja, das ist wohl besser«, sagte Henry, und wir gingen die Curve Street hinunter.
Das Etagenhaus, in dem Richie Grenadine seine Wohnung hatte, lag fast ganz oben am Hügel. Es war eine dieser viktorianischen Scheußlichkeiten, die um die Jahrhundertwende von den Papierbaronen errichtet wurden. Sie wurden fast alle später zu Mehrfamilienhäusern umgebaut. Als Bertie Luft geholt hatte, sagte er uns, daß Richie im dritten Stock unter dem Fenstergiebel wohnt, der wie eine Augenbraue versteht. Bei Der Gelegenheit fragte ich Henry, was denn mit dem Jungen geschehen sei.
Etwa in der dritten Novemberwoche kam der Junge eines Nachmittags nach Hause und stellte fest, daß nicht nur die Vorhänge zugezogen waren. Darüber hinaus hatte Richie vor sämltiche Fenster Wolldecken genagelt. Es stank schlimmer als je zuvor. Es war ein saurer Gestank, ähnlich dem von Obst, das man mit Hefe gären läßt.
Ungefähr eine Woche später befahl Richie dem Jungen, das Bier auf dem Herd warmzumachen. Könnt ihr euch das vorstellen? Das Kind ganz allein in der Wohnung, und sein Vater verwandelt sich in—…nun, in irgend etwas …und er muß das Bier anwärmen, und muß dann zuhören, wie er es trinkt — hört den widerlichen, erstickten schlürfenden Geräusche. Ganz wie bein einem alten Mann, der seinen Fischbrei ißt. Könnt ihr euch das vorstellen?
Und so ging es bis heute. Nur heute war die Schule wegen des Schneesturms früher aus.
»Der Junge behauptet, daß er gleich nach Hause gegangen sei«, sagt Henry. »Oben im Treppenhaus brannte kein Licht. Der Junge meint, daß sein Vater die Birne zerschlagen haben muß. Er mußte sich bis an die Tür vortasten.
Er hört, daß sich drinnen etwas bewegt, und plötzlich fällt ihm ein, daß er ja gar nicht weiß, was sein Vater die Woche über treibt. Er hat seit einem Monat nicht mehr gesehen, daß sein Vater aus diesem Stuhl aufsteht, und ein Mensch muß doch auch schlafen und manchmal zur Toilette gehen.
Mitten in der Tür ist ein Guckloch, und innen müßte es eine Klappe haben, mit der man es verschließen kann, aber die war schon abgebrochen, als sie einzogen. Der Junge schleicht sich also zur Tür und legt das Auge an das Guckloch.«
Wir hatten inzwischen den Eingang erreicht, und das Haus ragte vor uns auf wie ein riesiges häßliches Gesicht mit den Fenstern im dritten Stock als Augen. Ich schaute nach oben, und richtig, die Fenster waren pechschwarz, als hätte jemand sie überrmalt — oder Decken davorgenagelt.
»Er brauchte eine Minute, um seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Und dann sah er einen großen, dicken Klumpen, der überhaupt nicht mehr wie ein Mensch aussah, über den Fußboden gleiten, wobei er eine graue schleimige Spur hinter sich herzog. Und dann streckte der Klumpen den Arm aus — oder etwas Ahnliches wie einen Arm — und riß ein Brett aus der Wand. Und holte eine Katze heraus« Henry schwieg ein paar Sekunden. Bertie schlug die Hände aneinander, und es war verdammt kalt auf der Straße, aber keiner von uns war bereit, jetzt schon hinaufzugehen. »Eine tote Katze«, fuhr Henry fort, »die schon verwest war. Sie war ganz aufgedunsen und steif, sagt der Junge, und kleine weiße Dinger krochen auf ihr herum…«
»Um Gottes willen«, sagte Bertie. »Aufhören!«
»Und dann aß sein Daddy sie.«
Ich mußte schlucken, aber ich hatte einen Kloß im Hals und einen ekelhaften Geschmack im Mund.
»Timmy nahm das Auge vom Guckloch«, sagte Henry leise. »Und er rannte.«
»Ich glaube nicht, daß ich raufgehen kann«, sagte Bertie.
Henry sagte nichts. Er sah Bertie nur an, dann mich und dann wieder Bertie.
»Wir sollten raufgehen«, sagte ich. »Schließlich haben Richies Bier.«
Bertie sagte nichts. Wir gingen die Stufen hoch und durch die Eingangstür. Ich roch es sofort.
Wissen Sie, wie eine Obstbrennerei im Sommer riecht? Man erkennt dabei nie den Geruch von Äpfeln. Im Herbst ist es besser. Dann riechen sie scharf und würzig, und der Geruch sticht einem in die Nase. Aber im Sommer riecht es ganz einfach gemein. Dieser Geruch war genauso, nur noch schlimmer.
Im unteren Treppenhaus gab es Licht, eine trübe Birne unter Milchglas, die nur schwach schimmerte. Und dann die Treppe, die in die Schatten hinaufführte.
Henry stellte den Karren ab, und während er den Karton mit Bier aufnahm, drückte ich auf den Knopf für das Licht im zweiten Stock. Aber die Birne war kaputt, wie der Junge gesagt hatte.
Bertie zitterte. »Ich trage das Bier. Kümmere du dich um deine Pistole.«
Henry machte keine Einwände. Er reichte ihm den Karton, und wir gingen nach oben. Zuerst Henry, dann ich, und als letzter Bertie mit dem Karton unter dem Arm. Als wir im zweiten Stock angekommen waren, stank es entsprechend schlimmer. Nach faulen, gegorenen Äpfeln, und in das Ganze michte sich ein noch widerwärtigerer Gestank.
Als ich noch draußen in Levant wohnte, hatte ich mal einen Hund. Er hieß Rex und war ein gutmütiger Trottel, aber er nahm sich nicht genügend vor den Autos in acht. An einem Nachmittag, als ich noch arbeitete, erwischte es ihn. Er kroch unter das Haus und starb dort. Mein Gott, was für ein Gestank. Ich mußte zuletzt runter und ihn mit einer Stange rausholen. Hier stank es genauso, nach Aas und Verwesung.
Bis dahin hatte ich noch gedacht, daß das alles ein schlechter Witz sein könnte, aber jetzt wußte ich es besser.
»Mein Gott, warum beschweren sich die Nachbarn denn nicht?« fragte ich.
»Welche Nachbarn?« fragte Henry zurück, und wieder lächelte er dieses seltsame Lächeln.
Ich schaute mich um und sah, daß das Treppenhaus einen dreckigen und unbenutzten Eindruck machte. Die Türen zu allen drei Wohnungen im zweiten Stock waren versiegelt.
»Wer mag wohl der Eigentümer sein?« fragte Bertie und stelle seinen Kartonäuf einem Treppenpfosten ab. Er holte tief Luft. »Vielleicht Gaiteau? Ich bin erstaunt, daß er ihn nicht rausschmeißt.«
»Wer sollte denn raufgehen und ihn zur Räumung zwingen?« fragte Henry. »Du etwa?«
Bertie sagte nichts.
Dann gingen wir die nächste Treppe hinauf, die noch schmaler und steiler als die letzte war. Gleichzeitig wurde es heißer. Es hörte sich an, als ob die gesamte Klimaanlage in dem Gebäude klapperte und zischte. Der Gestank war entsetzlich, und ich hatte das Gefühl, als rührte mir jemand mit einem Stock im Magen herum.
Oben war ein kurzer Flur und eine Tür mit einem Guckloch in der Mitte.
Bertie schrie leise auf und flüsterte: »Seht nur, worin wir gehen!«
Ich schaute nach unten und sah, daß sich kleine Pfützen von diesem schleimigen Zeug gebildet hatten. Hier schien früher ein Teppich gewesen zu sein, aber das graue Zeug hatte ihn weggefressen.
Henry trat an die Tür, und wir folgten ihm. Ich weiß nicht, wie es Bertie erging, aber ich schlotterte. Ohne zu zögern, hob Henry seine Waffe und schlug mit dem Griff gegen die Tür.
»Richie?« rief er, und seine Stimme vertiet nicht die geringste Angst, obwohl sein Gesicht leichenblaß war. »Hier ist Henry Parmalee von der Nachteule. Ich bringe dir dein Bier.«
Etwa eine Minute lang hörten wir nichts, und dann sagte eine Stimme: »Wo ist Timmy? Wo ist mein Junge?«
Ich wäre fast jetzt schon weggelaufen. Die Stimme hatte nichts Menschliches. Sie klang tief und hohl, wie durch klebrigen Talg gesprochen.
»Er ist in meinem Laden«, sagte Henry, »und ißt gerade was Vernünftiges. Bei dem armen Kerl kann man ja schon die Rippen zählen, Richie.«
Eine Weile nichts. Dann waren grauenhafte quietschende Geräusche zu hören, als liefe ein Mann mit Gummistiefeln durch Schlamm. Dann hörten wir diese verweste Stimme direkt hinter der Tür.
»Mach die Tür auf, und schieb das Bier durch«, sagte sie. »Du mußt aber alle Ringverschlüsse öffnen. Ich kann es nicht.«
»Sofort«, sagte Henry. »Wie ist dein Zustand, Richie?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte die Stimme, und sie klang fürchterlich gierig.
»Schieb das Bier durch und verschwinde.«
»Es sind also nicht mehr nur tote Katzen, was?« sagte Henry und seine Worte klangen traurig. Er hielt nicht mehr den Griff der Pistole hoch, sondern hatte die Waffe umgedreht.
Und plötzlich durchfuhr es mich wie ein Lichtblitz. Ich stellte eine Gedankenverbindung her, was Henry währscheinlich schon während seines Gesprächs mit Timmy gelungen war. Den Gestank von Fäulnis und Verwesung empfand meine Nase doppelt so stark, als ich mich erinnerte: Zwei junge Mädchen und ein alter Weinsäufer von der Heilsarmee waren in den letzten drei Wochen verschwunden — alle nach Einbruch der Dunkelheit.
»Schiebe es rein, oder ich komme raus und hole es«, sagte die Stimme.
Henry bedeutete uns, zurückzutreten, und wir gehorchten.
»Das kannst du gern tun, Richie.« Er spannte die Waffe.
Lange Zeit geschah nichts. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte das Gefühl, daß alles vorüber sei. Dann flog die Tür so plötzlich und heftig auf, daß sie sich durchbog, bevor sie gegen die Wand knallte. Und Richie kam raus.
Es ddauerte nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde, und Bertie und ich rannten wie Schulkinder die Treppe hinunter, vier oder fünf Stufen auf einmal, bis wir durch die Tür sausten und draußen im Schnee landeten.
Als wir hinunterrasten, hörten wir Henry dreimal feuern. Die Schüsse hallten wie Bombenexplosionen im leeren Treppenhaus dieses verfluchten Gebäudes.
Was wir in den ein oder zwei Sekunden sahen, wird mir für den Rest meines Lebens reichen. Es war eine riesige graue Gallertmasse, eine Gallertmasse, die wie ein Mann aussah und eine widerliche Schleimspur hinter sich herzog.
Aber das war nicht das Schlimmste. Seine Augen waren flach und gelb und wild, und aus ihnen sprach keine menschliche Seele. Aber es waren keine zwei Augen, sondern vier. Und direkt in der Mitte zwischen den beiden Augenpaaren verlief ein faseriger Strich von oben nach unten, und rotes, pulsierendes Fleisch zeigte sich, wie bei einem Längsschnitt im Bauch eines Schweines.
Es teilte sich, wissen Sie. Es teilte sich in zwei Wesen.
Bertie und ich sprachen nicht, als wir zum Laden zurückgingen. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf ging, aber ich weiß sehr wohl, woran ich dachte: an das Einmaleins. Zwei mal zwei sind vier, vier mal zwei sind acht, acht mal zwei sind sechzehn, sechzehn mal zwei sind —
Wir erreichten den Laden. Carl und Billy sprangen auf und fingen sofort an zu fragen. Keiner von uns antwortete. Wir drehten uns nur um und warteten, ob vielleicht Henry aus dem Schnee auftauchen und in den Laden kommen würde. Ich war inzwischen bei 32 768 mal zwei smd das Ende der Menschlichkeit angekommen, und so saßen wir gemütlich bei reichlich Bier und warteten gespannt darauf, wer zurückkommen würde. Und hier sitzen wir immer noch.
Ich hoffe, es wird Henry sein. Das dürfen Sie mir glauben.
Schlachtfeld
»Mr. Renshaw?«
Er war schon auf halbem Wege zum Aufzug, als er den Portier seinen Namen rufen hörte. Ungeduldig blickte er sich um und wechselte Seinen Reisekoffer von der einen in die andere Hand. In der Brusttasche seines Mantels knisterte der schwere, mit Zwanzig- und Fünfzigdollarnoten prall gefüllte Umschlag. Der Job war auftragsgemäß erledigt und, selbst nach Abzug der fünfzehn Prozent, die die Organisation als Vermittlungsgebühr einbehalten hatte, außerdrdentlich gut bezahlt worden. Alles, was er jetzt noch brauchte, war eine heiße Dusche, ein Gin Tonic und viel, viel Schlaf.
»Was gibt’s?«
»Ein Paket für Sie, Sir. Würden Sie bitte den Empfang quittieren?«
Während er unterschrieb, warf Renshaw einen forschenden Blick auf das rechteckige Paket. Die gestochene Handschrift, mit der sein Name und seine Adresse in den aufgeklebten Adressenvordruck eingetragen waren, kam ihm bekannt vor. Behutsam schob er das Paket auf der marmorierten Oberfläche des Rezeptionsschalters hin und her und hörte, wie sein Inhalt klirrte.
»Soll ich es Ihnen nach oben bringen lassen, Mr. Renshaw?«
»Danke, ich nehme es schon.«
Der Karton war etwa fünfzig Zentimeter breit, und er konnte ihn gerade mit einem Arm halten. Im Aufzug setzte er ihn auf den mit weichen Teppich ausgelegten Boden ab und steckte seinen Schlüssel in den Schalter für die Penthouse-Etage, der über den anderen Knöpfen angebracht war.
Geräuschlos und beinahe unmerklich glitt der Aufzug nach oben. Renshaw schloß die Augen. Vor der dunklen Leinwand seiner Erinnerung ließ er die Geschehnisse der vergangenen Tage noch einmal Revue passieren. Der Job hatte wie immer mit einem Anruf von Cal Bates begonnen.
»Bist du gerade abkömmlich, Johnny?«
Er war es, zweimal im Jahr, für ein Mindesthonorar von 10 000 Dollar. Er erledigte seine Sache immer gut und zuverässig, doch was seine Auftraggeber am meisten an ihm schätzten, war sein raubtierhafter Instinkt. John Renshaw war ein Bussard in Menschengestalt, den sowohl seine Veranlagung als auch sein soziales Umfeld zu zwei Dingen mehr als zu allem anderen befähigt hatten: zu töten und zu überleben.
Wenige Tage nach Bates Anruf hatte er einen bräunlich-gelben Umschlag in seinem Briefkasten gefunden. Dieser enthielt ein Photo, einen Namen und eine Adresse. Er speicherte das alles in seinem Gedächtnis und behielt nichts davom zurück außer einem Häufchen Asche, das zusammen mit den verkohlten Überresten des Couverts im Müllcontainer verschwand.
Diesmal zeigte das Photo das Gesicht eines bläßlichen Geschäftsmannes aus Miami namens Hans Morris, Inhaber der Morris Spielwarenfabrik. Irgend jemandem war er anscheinend im Wege, und dieser Jemand hatte sich an die Organisation gewandt, die sich wiederum in der Person von Cal Bates mit ihm in Verbindung gesetzt hatte.
Peng. Von Beileidsbezeugungen am Grabe bitten wir abzusehen.
Lautlos glitt die Tür des Lifts zur Seite. Renshaw hob sein Paket auf und trat in den Gang hinaus. Dann öffnete er die Tür zu seiner Penthousewohnung und ging hinein. Es war drei Uhr nachmittags, und der große Wohnraum war überflutet vom hellen Licht der Aprilsonne. Er blieb einen Augenblick stehen, blinzelte, setzte dann sein Paket auf dem Couchtisch ab und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Den Umschlag mit dem Geld legte er auf den Karton und ging hinüber zum Balkon.
Er öffnete die verglaste Schiebetür und trat hinaus ins Freue. Trotz der Sonne war es kühl, und ein schneidender Wind bohrte sich messerscharf durch den dünnen Stoff seines Trenchcoats. Dennoch blieb er eine Weile draußen stehen und ließ den Blick über die Stadt schweifen, mit der gleichen Selbstzufriedenheit und Genugtuung, wie sie ein General empfinden mochte, der nach gewonnener Schlacht auf das eroberte Land schaut. Wie ein Heer von Ameisen krabbelten die Autos unten in den Straßen; und im grellen Licht der Nachmittagssonne flimmertn die Konturen der Bay Bridge wie eine Fata Morgana am Horizont.
Nach Osten hin erstreckten sich die metallenen Wipfel eines riesiegen Antennenwaldes auf den Dächern der ärmlicheren, schmutzigeren Häuser, die hier und da von den kolossalen Wolkenkratzern der City verdeckt wurden. Hier oben aber war es schön, besser jedenfalls als unten in der Gosse.
Nach einer Weile ging Renshaw zurück in die Wohnung und begab sich ins Bad, wo er lange und ausgiebig duschte.
Als er vierzig Minuteh später mit einem Glas Gin in der Hand auf der Couch saß und das Paket betrachtete, streckten bereits die ersten Schatten ihre langen Finger über den weinroten Teppichboden aus. Der schönste Teil des Nachmittags war vorrüber.
Eine Bombe. Natürlich war es keine, aber man mußte sich so verhalten, als wäre es zumindest möglich. Nur so hatte man die Garantie dafür, daß man am Leben blieb, während andere sich bereits auf dem Weg ins Reich des ewigen Müßiggangs befanden.
Wenn es also eine Bombe wäre, dann hätte sie keinen Zeitzünder. Nicht das leiseste Ticken war zu hören in diesem geheimnisvollen Quader. Obwohl, heutzutage gab es Quarzuhren. Sie liefen zuverlässiger und weniger unberechenbar als die besten Uhrwerke von Westelox oder Big Ben.
Renshaw warf einen Blick auf den Poststempel. Miami, 15. April. Das war vor fünf Tagen. Ein Zeitzünder war demnach auszuchließen. Er hätte bereits in der Aufbewahrung explodieren können.
Ja, Miami …Und dann diese gestochene Handschrift … Hatte nicht auf dem Schreibtisch dieses bläßlichen Spielwarenfabrikanten eine gerahmte Photographie gestanden, die eine noch hagerere, noch blassere Gestalt mit einem schmucklosen Kopftuch zeigte? Und hatte er nicht in der unteren rechten Ecke eine mit gestochener Handschrift gekritzelte Widmunng gelesen? »Alles Liebe von deinem treuesten Mädchen — Mutter.«
Was für einen Einfall hatte das treueste Mädchen da gehabt? Vielleicht ein selbstgebasteltes Killervernichtungsgerät? Mit verschränkten Armen und äußerster Konzentration saß Renshaw da und betrachtete das Paket. Die Frage, wie es Morris’ treuestem Mädchen beispielsweise gelungen war, seine Adresse ausfindig zu machen, stellte er zunächst zurück! Dergleichen Probleme waren jetzt zweitrangig und würden später immer noch gelöst werden können. Cal Bates würde sich eine Antwort einfallen lassen müssen. Im Augenblick war das nebensächlich.
Mit einer fahrigen, beinahe motorischen Bewegung griff er in seine Westentasche und zog seinen kunststoffgebundenen Taschenkalender hervor. Er schob ihn zwischen Packpapier und Kordel, mit der der Karton verschnürt war. Mit dem scharfen Rand des Kalenders löste er das Klebeband, das die Papierlaschen an den Seiten hielt, bis sie absprangen und gegen die Kordel hingen.
Dann hielt er einen Augenblick inne, tat einen tiefen Atemzug und wanderte um den Tisch herum. Kordel, Packpapier, Pappe. Sonst nichts.
Draußen dämmerte es bereits, und das Zwielicht warf lange graue Schatten in den Raum, die mit langen Spinnenbeinen über den Boden krochen.
Plötzlich rutschte eine der Papierlaschen unter der Kordel durch, öffnete sich ein wenig und gab ein Stück des Inhalts frei. Es sah aus wie die mattgrüne Oberfläche einer Metallbox, allem Anschein nach mit Scharnieren versehen. Renshaw holte ein Taschenmesser und durchtrennte die Kordel. Sie sprang ab, und nachdem er das restliche Papier mit der Spitze seines Messers aufgerissen hatte, lag die Box vor ihm.
Sie war grün und am Rand schwarz, und in ihren Deckel waren mit weißen Buchstaben die Worte graviert:
VIETNAM - FELDKISTE
darunter stand: 20 INFANTRISTEN, 10 KAMPFHUBSCHRAUBER, 2 ARTILLERISTEN, 2 GRANATWERFER, 2 SANITÄTER, 4 JEEPS. Und darunter: 1 FLAK-Vorrichtung. Und wiederum darunter, in einer Ecke: MORRIS’ SPIELWARENFABRIK, MIAMI, FLORIDA. Renshaw steckte die Hand nach der Kiste aus, zuckte jedoch sofort zurück. Irgend etwas in ihrem Inneren hatte sich bewegt. Ohne ersichtliche Eile stand er auf und ging, ohne den Tisch aus den Augen zu lassen, rückwärts durch das Zimmer an der Küche vorbei in den Flur. Dort knipste er das Licht an.
Die Vietnam-Feldkiste bewegte sich ruckweise, so daß das Packpapier unter ihr raschelte. Plötzlich kippte sie und fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Dort kam sie auf einer der Schmalseiten zu stehen, und ihr an zwei Scharnieren befestigter Deckel klappte einige Zentimeter auseinander.
Winzige Fußsoldaten, nur etwa drei Zentimeter groß, krabbelten ins Freie. Mit aufgerissenen Augen stand Renshaw da und sah ihnen zu. Nicht einen Augenblick lang fragte er sich, ob das, was sich dort abspielte, Traum oder Wirklichkeit war. Das einzige, was ihn beschäftigte, war die Frage, wie er sich retten, die Situation in den Griff bekommen könnte.
Die Soldaten trugen Uniformen, Helme und Tornister in Miniaturausgabe. An ihren Schultern hingen streichholzdünne Maschinengewehre. Zwei von ihnen hatten Renshaw sofort gesehen und spähten zu ihm herüber. Ihre winzigen, stecknadelkopfgroßen schwarzen Augen funkelten böse.
Erst zählte er fünf, dann zehn, dann zwölf, schließlich alle zwanzig. Einer von ihnen gestikulierte wild, anscheinend, um den anderen Befehle zu erteilen. Sie nahmen entlang der Kante des Kistendeckels Aufstellung und begannen wie auf Kommando zu schieben. Millimeter für Millimeter weitete sich die Öffnung.
Renshaw ging wieder hinüber zur Couch und bewaffnete sich mit einem Kissen. Dann bewegte er sich langsam auf die Kiste zu.
Der Kommandeur der Truppe drehte sich um und machte ein Zeichen. Sogleich fuhren auch die anderen herum, die Maschinengewehre im Anschlag. Renshaw hörte leise, beinahe lustig hell klingende Geräusche, so, als fielen eine Handvoll Murmeln auf einen gepflasterten Gehsteig. Dann hatte er das Gefühl, als fiele ein Schwarm Wespen über ihn her. Er schleuderte das Kissen und traf. Er zersprengte die geordnete Reihe der kleinen Soldaten und warf sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Dann schlug es gegen die Kiste, deren Deckel sich durch den Stoß weit öffnete.
Ein heller zirpender Ton, und wie eine dicke Wolke kleiner olivgrüner Insekten schwirrten mehrere winzige Helikopter in die Höhe. Sekunden später hörte Renshaw das Surren ihrer Propeller dicht an seinem Ohr und sah, wie aus den zurückgeschobenen Seitentüren funkengroße Mündungsfeuer aufblitzen. Seine Brust, sein rechter Arm und die rechte Partie seines Halses wurden wie von feinen Nadelstihen durchbohrt. Er holte aus und konnte tatsächlich einen der Hubschrauber erwischen, zugleich aber durchzuckte ihn ein jäher Schmerz. Blut quoll zwischen seinen brennenden Fingern hervor. Die messerscharfen Propeller hatten seine Haut zerfetzt und bis auf die Knochen durchschlagen. Die Innenfläche seiner Hand war übersät von diagonal verlaufenden blutigen Streifen.
Die anderen Hubschrauber befanden sich nun außer Reichweite und umkreisten Renshaws Kopf in sicherer Entfernung wie Bienen einen Honigtopf. Deijenige von ihnen, den er hatte erwischen können, war auf den Boden gefallen und lag reglos da.
Plötzlich schrie er laut auf vor Schmerz. Ein kleiner Soldat stand auf seinem Schuh und rammte ohne Unterlaß sein Bajonett in Renshaws Fußgelenk. Keuchend hob er sein Gesichtchen und verzog es zu einem satanischen Grinsen.
Renshaw holte aus und schleuderte das Männchen mit dem Fuß quer durch den Raum. Sein winziger Körper schmetterte gegen die Wand und fiel auf den Boden. Er blutete nicht, hinterließ jedoch eine eigenartig klebrige purpurfarbene Schmierspur. Sekunden später gab es einen leisen Puff, eine Detonation‘ und einen Augenblick lang wurde ihm schwarz vor Augen.
Ein Soldat mit einem Granatwerfer hatte sich über den Rand der Kiste gezogen. Eine fadendünne Rauchwolke kräuselte sich noch über der Mündung seiner Waffe. Renshaw sah an seinem Hosenbein hinunter und entdeckte ein pfenniggroßes Loch, dessen Ränder versengt und ausgefranst waren. Die bloße Haut darunter war verkohlt.
Der kleine Bastard hat mich angeschossen!
Er machte kehrt und lief in den Flur, von dort aus in sein Schlafzimmer. Einer der Hubschrauber verfolgte ihn, und er spürte den leichten Lufthauch, den seine Propeller verursachten, dicht an seinem Kinn. Er hörte das stoßweise Knattern von Maschinengewehren, dann drehte der Helikopter ab.
Die Waffe, die er unter seinem Kopfkissen aufbewahrte, war eine Magnum 44, so großkalibrig, daß sie in alles, was sie traf, faustgroße Löcher zu reißen vermochte.
Renshaw blickte sich um, den Revolver hielt er mit beiden Händen umklammert. Er war realistisch genug zu wissen, daß es galt, mit Kanonenkugeln auf Spatzen zu schießen — und sie zu treffen.
Zweei der Kampfhubschrauber surrten durch die offene Tür ins Zimmer. Auf der Bettkante sitzend hob Renshaw seine Waffe, zielte und feuerte. Einer der beiden Hubschrauber torkelte, explodierte sofort und löste sich in Nichts auf. Das wären schon zwei, dachte Renshaw. Dann nahm er den nächsten ins Visir, den Finger am Abzug.
Er ist so flink! Wenn er nur nicht so verdammt flink wäre!
Mit einem unerwarteten fatalen Schwung drehte der Helikopter auf ihn zu, während seine Propellerchen mit rasender Geschwindigkeit rotierten. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte Renshaw einen Soldaten an der Türöffnung, der immer neue Maschinengewehrsalven auf ihn abfeuerte. Geblendet warf er sich auf den Boden, die Hände schützend vor das Gesicht gehalten, und krümmte sich vor Schmerz.
Meine Augen! Der Bastard hat es auf meine Augen abgesehen!
Er kroch über den Boden und brachte sich mit dem Rücken zur Wand mühsam in eine sitzende Stellung. Den Revolver hielt er in Brusthöhe im Anschlag.
Der Helikopter aber trat den Rückzug an. Sekundenlang schwebte er auf- und abtanzend in der Luft, bemüht, der übermächtigen Abwehr seines Gegners keine Angriffsfläche zu bieten. Dann schwenkte er ab ins Wohnzimmer.
Renshaw versuchte, sich aufzurichten. Als er sein Gewicht auf das verletzte Bein verlagern wollte, zuckte er zusammen. Die Wunde blutete jetzt heftiger. Warum auch nicht, dachte er grimmig, wer wird schon von einem Granatwerfer getroffen und könnte später noch davon erzählen?
Mit herzlichen Grüßen von Mutter, dem treuesten Mädchen. Treu war sie, in der Tat. Das und noch vieles mehr. Er zog den Kopfkissenbezug ab und riß ihn in schmale Streifen, mit denen er sein verletztes Bein notdürftig verband. Dann nahm er den Rasierspiegel vom Nachttisch und ging zurück bis zur Wohnzimmertür. Den Spiegel hielt er leicht abgewinkelt in Auenhöhe vor sich und spähte so unbemerkt ins Innere des Raumes.
Verflucht wollte er sein, wenn die nicht am Fuße der Kiste so etwas wie ein Lager errichtet hatten. Die vier kleinen Jeeps, jeder gerade zehn Zentimeter groß, brausten mit gewichtiger Geschäftigkeit umher. Ein Sanitäter verarztete den Soldaten, den Renshaw mit dem Fuß gegen die Wand geschleudert hatte, und über dem Camp, etwa in Tischhöhe, kreisten die verbliebenen acht Helikopter und sicherten die kleine Armee aus der Luft.
Dann aber schienen sie auf den Spiegel hinter der Tür aufmerksam geworden zu sein, und schon im nächsten Moment gingen drei der Infanteristen in die Knie und eröffneten das Feuer. Der Spiegel zerbarst in tausend Splitter.
Also gut, wie ihr wollt.
Renshaw schlich zurück zu seinem Nachttisch und holte die schwere Kramkiste hervor, die Linda ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er hob sie an, nickte befriedigt und trug sie durch die Diele ins Wohnzimmer. Mit einem kräftigen Schwung stemmte er sie hoch und schleuderte sie von sich wie eine Diskusscheibe. Pfeilgerade schoß die Kiste auf das Lager zu und mähte die kleinen Soldaten um wie Kegelklötze. Einer der Jeeps überschlug sich mehrmals. Renshaw wagte sich weiter ins Zimmer vor. Zu seinen Füßen lag einer der winzigen Kämpfer und er zertrat ihn wie einen Wurm.
Die anderen aber hatten sich schon wieder von dem Schlag erholt. Manche von ihnen hatten sich in die formale Gefechtsstellung begeben und feuerten auf Renshaw. Einige hatten Deckung bezogen, andere wiederum waren in die Feldkiste zurückgekrochen. Feine Nadelstiche durchbohrten seine Beine und seinen Unterleib, keiner jedoch reichte höher als bis zum Brustkasten. Vermutlich war die Entfernung zu groß. Um so besser. Er hatte nicht die Absicht, sich in die Flucht schlagen zu lassen. Jetzt ging es ums Ganze.
Der nächste Schuß, den Renshaw abgab, verfehlte sein Ziel nur um Haaresbreite. Sie waren so verdammt klein! Mit dem zweiten aber traf er einen der kleinen Soldaten und riß ihn in Stücke. Jetzt flogen die Kampfhubschrauber zu einer erbarmungslosen Attacke an. Die stecknadelkopfgroßen Kugeln bohrten sich in sein Gesicht ober- und unterhalb der Augen. Während unerträgliche Schmerzen am ganzen Körper ihn peinigten, gelang es ihm doch, nacheinander zwei der Helikopter abzuschießen. Die verbliebenen sechs bildeten zwei Flügel und schwenkten ab.
Renshaws Gesicht war blutüberströmt. Er hob den Arm und wischte es so gut es ging mit dem Ärmel ab. Gerade wollte er den Kampf wieder aufnehmen, als er etwas sah, das seinen Atem stocken ließ. Die Soldaten, die sich nach dem Schlag mit der Kramkiste in die Metallbok zurückgezogen hatten, waren dabei, etwas herauszuschieben. Etwas, das aussah wie …
Ein plötzliches grelles Aufflackern, eine gelbliche Stichflamme, und im nächsten Augenblick splitterten Holz- und Tapetenfetzen aus dem Türrahmen zu seiner Linken.
Ein Raketenwerfer!
Er feuerte einen Schuß in diese Richtung ab, verfehlte jedoch sein Ziel, warf sich herum und rannte ins Bad am Ende der Diele. Er riß die Tür hinter sich ins Schloß und schob den Riegel vor. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegenblickte, war rot wie das eines Indianers. Die Augen starrten glanzlos, der Blick war verschwommen. Ein Indianer in voller Kriegsbemalung, mit roten und weißen Streifen quer über den von winzigen dunklen Einstichen übersäten Wangen. Ein Fetzen Haut hing lose über den Wangenknochen. Tiefe blutige Schrammen zogen sich diagonal verlaufend über seinen Hals.
Ich verliere!
Mit zitternden Fingern fuhr er sich durchs Haar. Der Weg durch die Korridortür auf den Hausflur war versperrt, ebenso unzugänglich waren Küche und Telefon. Wenn er seine Deckung verließ, würde ein gezielter Schuß mit dem Raketenwerfer genügen, um ihm den Kopf von den Schultern zu reißen.
Der verdammte Raketenwerfer stand noch nicht einmal auf der Liste!
Er holte tief Atem, verschluckte sich und rang prustend nach Luft. Mit einem lauten Knall hatte irgend etwas ein faustgroßes Loch in die Tür geschlagen, Stichflammen züngelten hoch und verglimmten in dem zerborstenen Holz. Dann wurde ein weiteres verkohltes Oval aus dem Furnier gerissen, Splitter schleuderten nach innen und fraßen sich wie silberne Pfeile glimmend in den Badevorleger. Er trat sie aus und sah, wie zwei der Kampfhubschrauber durch die Löcher in der Tür drangen und auf ihn zuflogen. Winzige Kugeln schlugen an seine Brust. Aufheulend griff er einen der Helikopter mit der bloßen Hand und nahm in Kauf, daß sich seine Propeller wie die spitzen Zacken eines Stacheldrahtzaunes in seine Handflächen bohrten. Nach dem anderen schlug er, einer verzweifelten Eingebung folgend, mit einem schweren Badetuch. Der Helikopter stürzte ab und kreiselte auf den glatten Fliesen, bis Renshaw ihn in Stücke trat. Er schnaufte wie ein Pferd. Blut rann ihm in ein Auge und vernebelte heiß und ätzend seinen Blick.
Da habt ihr’s! Das fürs erste! Demnächst werdet ihr vorsichtiger sein!
Tatsächlich sah es so aus, als seien sie vorsichtiger geworden. Eine Viertelstunde lang tat sich nichts. Renshaw saß auf dem Rand der Badewanne und dachte fieberhaft nach. Es mußte einen Weg geben, der ihn aus dieser Sackgasse hinausführte. Es mußte! Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, sie zu umgehen und aus dem Hinterhalt anzugreifen…
Da streifte sein Blick das schmale Fenster über der Badewanne. Das war es! Natürlich. Das war seine Chance!
Gerade wollte er nach der Nachfüllflasche für sein Benzinfeuerzeug greifen, die oben auf dem Apothekenschrank stand, als er ein leises Knistern aus Richtung der Tür vernahm. Blitzschnell fuhr er herum, den Revolver im Anschlag… Doch sah er nichts als einen Fetzen Papier, der unter der Tür durchgeschoben wurde.
Meit einiger Genugtuung stellte er fest, daß sie anscheinend selbst zu groß waren, um darunter durchkriechen zu können. Auf dem Zettelchen stand nur eine lapidare Aufforderung, so klein geschrieben, daß er Mühe hatte, sie zu entziffern.
Gib auf
Renshaw grinste böse, griff in seine Westentasche, holte einen Bleistift heraus und verstaute anschließend dort die Benzinnachfüllflasche. Dann kritzelte er etwas auf das Papier und schob es wieder durch die Tür. Seine Antwort lautete:
Ihr könnt mich…
Plötzlich prasselte ein greller Hagel von Raketengeschossen in hohem Bogen durch das Loch in der Tür. Renshaw rettete sich mit einem Sprung zur Seite. Die Geschosse krachten gegen; die hellblauen Kacheln über der Handtuchstange und verwandelten die makellos geflieste Wand in eine trostlose zerklüftete Mondlandschaft.
Unter dem staubigen Regen von Kalk und Granatsplittern zog Renshaw den Kopf ein und versuchte, die Augen mit den Händen zu schützen. Sengende Kugeln bohrten sich durch den Stoff seines Hemdes in den Rücken. Erst als der Geschoßhagel ein bißchen nachgelassen hatte, wagte er eine vorsichtige Beweegung. Er stieg auf den Rand der Wanne und öffnete das Fenster.
Unzählige Sterne glänzten metallisch kalt am Himmel. Die Luke war eng, ebenso schmal wie das Fensterbrett darunter. Aber das war nun einmal nicht zu ändern.
Er quälte sich bis zum Rumpf durch die Fensteröffnung und suchte außen mit den Händen Halt. Die kühle Abendluft traf sein wundes zerkratztes Gesicht wie ein Schlag mit der flachen Hand. Er starrte hinunter. Vierzig Stockwerke lagen unter ihm. Aus dieser Höhe wirkten selbst die breiten Avenues nicht größer als die Schienen einer Spielzeugeisenbahn.