Jerusalem

Selma Lagerlöf

1902

1

In Mittelschwedens schweigender und großartiger Landschaft Dalarne leben die Ingmarsöhne auf ihrem uralten Hof. Die Familie ist bekannt für ihren erdverbundenen, traditionsbewußten Glauben. Doch die veränderten Zeiten haben Unruhe in das Dasein der Menschen von Dalarne gebracht. Auf den weltabgeschiedenen Höfen tragen die Bauern eine religiöse Sehnsucht im Herzen. Und geraten so unter den Einfluß eines charismatischen Führers. Sie verlassen ihre Heimat, um in Jerusalem die Wiederkunft Christi zu erwarten. Doch im Heiligen Land werde die heimatlos Entwurzelten wie feindliche Eindringlinge behandelt.

Einer der Ingmarsöhne bleibt zurück in Dalarne, jedoch um den Hof halten zu können, bricht er ein Verlöbnis und heiratet eine reiche Bauerntochter.

Als das Leid kaum mehr ein Entrinnen kennt, erweist sich die Rückbesinnung auf die alten Lebensordnung nicht nur für ihn, sondern auch schon bald für die Auswanderer als heilende Kraft…

Inhaltsverzeichnis

I  In Dalarne

Einleitung

 Die Ingmarssöhne

  1

  2

  3

  4

Erste Abteilung

 Beim Schulmeister

 Sie sahen den Himmel offen

 Karin Ingmarstochter

 In Zion

 Die wilde Jagd

 Hellgum

 Der neue Weg

Zweite Abteilung

 L’Univers’ Untergang

 Hellgums Brief

 Der große Baumstamm

 Auf dem Ingmarshof

 Hök Matte Eriksson

 Die Auktion

 Gertrud

 Die alte Pröpstin

 Die Abreise

II  Im Heiligen Land

Erste Abteilung

 Mauern von lauterem Gold und Tore von Kristall

 Der Kreuzträger

 Die Gordonisten

 Jerusalem, die heilige Stadt Gottes

 Auf den Flügeln der Morgenröte

 Baram Pascha

 In Gehenna

 Der Paradiesesbrunnen

 Ingmar Ingmarsson

Zweite Abteilung

 Barbro Svenstocher

 Ingmars Brief

 Der Derwisch

 Blumen aus Palästina

 In den Tagen der Armut

 Ingmars Kampf

 Auf dem Ölberg

 »Ja gewiß, wir seh’n uns wieder!«

 Das Kind

 Wieder daheim

Teil I

In Dalarne

Einleitung

Die Ingmarssöhne

1

An einem Sommermorgen war ein junger Mann draußen auf seinem Brachfeld und pflügte. Die Sonne schien freundlich, das Gras war feucht von Tau und die Luft so frisch, daß man es mit Worten nicht beschreiben kann. Die Pferde waren von der Morgenluft etwas ausgelassen und zogen den Pflug wie ein Spielzeug vorwärts. Das war ein ganz anderer Trott als gewöhnlich; der junge Mann mußte beinahe laufen, um ihnen folgen zu können.

Die umgepflügte Erde lag schwarzbraun da und leuchtete vor Feuchtigkeit und Fette, und der Mann, der pflügte, freute sich, hier bald Roggen säen zu können. Er dachte im stillen: »Wie kommt es nur, daß ich mir manchmal so große Sorgen mache und meine, es sei so schwer zu leben? Braucht man etwas anderes als Sonnenschein und schönes Wetter, um so glücklich zu sein wie ein Kind Gottes im Himmel droben?«

Es war ein langes, ziemlich breites Tal, das von vielen gelben und gelbgrünen Saatfeldern durchschnitten war, sowie von gemähten Kleewiesen, blühenden Kartoffeläckern und kleinen, blau blühenden Hanffeldern, über denen zahllose weiße Falter schwebten. Und wie um alles vollkommen zu machen, erhob sich mitten im Talgrund ein mächtiger alter Bauernhof mit vielen grauen Wirtschaftsgebäuden und einem großen, rotangestrichenen Wohnhaus. An der Giebelseite standen zwei hohe, verwachsene Birnbäume, neben der Haustür ein paar junge Birken, auf dem Hofplatz sah man große Stapel Brennholz und hinter der Scheune ein paar riesige Heuschober. Es war ein prächtiger Anblick, wie dies alles mitten aus dem flachen Land aufragte, gleich einem großen Schiff mit Masten und Segeln auf dem weiten Meer.

»Und so einen Hof hast du!« dachte der junge Bauer, der da pflügte. »Gute, wohlgezimmerte Gebäude, einen schönen Viehstand, flinke Pferde und Knechte so treu wie Gold! Du bist mindestens ebenso reich wie der Reichste im Bezirk und brauchst nicht zu befürchten, jemals am zu werden.

Ja, es ist auch nicht die Armut, vor der ich mich fürchte«, sagte er gleichsam als Antwort auf seine eigenen Gedanken. »Ich will zufrieden sein, wenn ich nur ein ebenso braver Mensch werde, wie mein Vater und mein Großvater es waren.

Wie dumm, daß ich auf diese Gedanken kam«, fuhr er fort, »denn ich war vorhin so froh. Aber wenn ich nur an das eine denke: Zu Vaters Zeiten richteten sich alle Nachbarn nach ihm, in allem, was er tat. An demselben Morgen, an dem er die Ernte begann, begannen auch sie, und an demselben Tag, an dem wir auf dem Ingmarshof zu pflügen anfingen, stießen auch sie im ganzen Tal den Pflug in die Erde. Aber nun pflüge ich hier schon seit ein paar Stunden, ohne daß einer auch nur eine Pflugschar gewetzt hätte.

Ich glaube, ich habe den Hof ebenso gut betrieben wie irgendeiner, der Ingmar Ingmarsson geheißen hat«, sagte er. »Ich habe mehr für mein Heu bekommen als der Vater, und ich habe die schmalen, verwucherten Gräben abgeschafft, die zu seiner Zeit die Äcker durchzogen. Und das ist doch auch wahr, daß ich nicht so schlimm mit dem Wald umgehe wie Vater und ihn niederbrenne, um urbares Land zu gewinnen.

Es ist oft recht schwer, daran zu denken«, sagte der junge Mann, »und ich nehme es nicht immer so leicht wie heute. Als Vater und Großvater lebten, da hieß es, die Ingmarssöhne seien so lange auf der Welt, daß sie wüßten, wie Gott es haben wolle, und daß die Leute sie geradezu anflehten, über die ganze Ortschaft zu herrschen. Sie setzten den Pfarrer und den Küster ein, sie bestimmten, wann der Fluß gereinigt und wo das Schulhaus gebaut werden solle. Mich aber fragt keiner um Rat, und ich habe nichts zu bestimmen.

Immerhin ist es merkwürdig, wie leicht einem an einem solchen Morgen die Sorgen erscheinen; nun könnte ich fast über alle zusammen lachen. Und doch habe ich Angst, daß es im Herbst schlimmer für mich werden wird als je zuvor. Wenn ich das tue, woran ich jetzt denke, wird am Sonntag weder der Pfarrer noch der Amtsrichter auf dem Kirchplatz zu mir treten und mir die Hand schütteln, und das haben sie doch bis jetzt beibehalten. Ich werde nicht einmal mehr in den Vorstand des Armenvereins gewählt und niemals Kirchenältester werden.«

Nie geht das Nachdenken so leicht, als wenn man so hinter dem Pflug die Furchen auf und ab geht. Allein ist man, und nichts stört einen, nichts als die Krähen, die in den Furchen laufen und nach Würmern suchen. Dem jungen Bauern schienen die Gedanken so leicht in seinem Kopfe aufzusteigen, als ob sie ihm jemand ins Ohr flüsterte. Und da er selten so deutlich und klar zu denken vermochte wie an diesem Tag, wurde er froh und aufgeräumt. Er fing an zu glauben, daß er sich unnötige Sorgen mache, und sagte sich selbst, es verlange ja niemand von ihm, daß er sich ins Unglück stürze.

Er dachte, wenn sein Vater noch lebte, würde er ihn darüber fragen, wie er ihn früher in allen schwierigen Sachen um Rat gefragt hatte, und er wurde ganz ungeduldig, daß der Vater nicht mehr da war und er sich nicht gleich mit ihm beraten konnte.

»Wenn ich nur den Weg wüßte«, sagte er und lächelte über seinen Gedanken, »dann würde ich gleich zu ihm gehen. Ich möchte wohl wissen, was Groß-Ingmar sagen würde, wenn ich eines schönen Tages daherkäme. Ich denke mir, daß er auf einem großen Hof sitzt, mit vielen Äckern und Wiesen und großen Gebäuden und lauter roten Kühen, keine schwarzen und keine bunten, sondern alle so, wie er sie hier unten haben wollte. Und wenn ich dann in die Groß-Stube trete…«

Der junge Bauer hielt plötzlich mitten auf dem Acker an und lachte. Diese Gedanken bereiteten ihm ein unglaubliches Vergnügen und rissen ihn mit sich fort, so daß er kaum wußte, ob er überhaupt noch auf der Erde sei. Es war ihm, als sei er auf einmal zu seinem alten Vater in den Himmel gekommen.

»Wenn ich dann in die Groß-Stube trete«, fuhr er fort, »sitzen die Bauern rings an den Wänden, alle mit graurotem Haar und weißen Augenbrauen und großen Unterlippen, und alle sehen Vater so ähnlich wie ein Ei dem andern. Wenn ich dann sehe, daß so viele Leute da sind, werde ich schüchtern und bleibe an der Tür stehen. Aber Vater sitzt ganz oben am Tisch, und sobald er mich sieht, sagt er: "Willkommen, Klein-Ingmar Ingmarsson.« — Und dann steht Vater auf und kommt auf mich zu. — »Ich hätte gern ein paar Worte mit Euch geredet, Vater«, sage ich, »aber hier sind so viele Fremde.« — »Ach, die gehören alle zur Familie«, sagt Vater, »die Männer hier haben alle auf dem Ingmarshof gewohnt, und der älteste von ihnen stammt sogar aus der Heidenzeit.« — »Ja, aber ich möchte gerne ein paar Worte mit Euch allein reden.«

Da sieht Vater sich um und überlegt, ob er in die Kammer nebenan gehen soll; aber weil nur ich es bin, geht er mit mit in die Küche. Nun setzt sich Vater auf den Herd, und ich setze mich auf den Haublock. »Das ist ein schöner Hof, den Ihr da habt, Vater«, sage ich. — »Ja, er ist schon recht«, sagt Vater. »Aber wie steht es daheim auf dem Ingmarshof?« — »Da steht es gut«, sage ich. »Im vorigen Jahr bekamen wir zwölf Kronen für das Schiffspfrund Heu.« — »Ist das möglich?« sagt Vater. »Ich glaube, du bist hierhergekommen, um mich zum besten zu haben, Klein-Ingmarl!«

»Aber mir geht es schlecht«, sage ich. »Immerfort muß ich; hören, daß Ihr, Vater, ebenso klug wie der liebe Herrgott selber gewesen seid, aber nach mir fragt niemand.« — »Bist du nicht in den Gemeinderat gewählt worden?« fragt nun der Alte. — »Nein, weder in den Schulrat noch in den Kirchenrat, noch als Schöffe.« — »Was hast du denn dann verbrochen, Klein-Ingmar?« — »Ach, die Leute sagen, wer für anderer Leute Angelengenheiten sorgen will, der muß zuerst seine eigenen Sachen in Ordnung halten.«

Ich denke mir, daß der Alte dann die Augen niederschlägt und eine Weile still überlegt. — »Du mußt sehen, daß du heiratest, Ingmar, und eine gute Frau bekommst«, sagt er schließlich. — »Aber das ist es gerade, was ich nicht kann, Vater«, antworte ich. »Kein noch so armer Bauer im Dorf will mir seine Tochter geben.« — »Erzähl mir nun ordentlich, wie das alles zusammenhängt, Klein-Ingmar«, sagt Vater, und seine Stimme klingt ganz sanft.

»Ja, seht Ihr, Vater, vor vier Jahren, im selben Jahr, wo ich den Hof übernahm, freite ich um Brita auf Bergskog.« — »Laß sehen«, sagt Vater, »wohnt jemand von unserem Geschlecht auf Bergskog?« Er erinnert sich nicht mehr genau, wie es hier unten steht. — »Nein, aber es sind wohlhabende Leute, und Ihr wißt doch sicher noch, daß Britas Vater Reichstagsmitglied ist.« — »Ja ja, ja ja, aber du hättest eine aus unserem eigenen Geschlecht heiraten sollen, so daß du eine Frau bekommen hättest, die alten Brauch und alte Sitte kennt.« — »Das ist sehr wahr, Vater, das wurde mir nachher auch klar.«

Nun sitzen Vater und ich eine Weile schweigend da, aber dann beginnt Vater aufs neue. »Sie war wohl hübsch?« — »Ja«, sage ich, »sie hatte dunkles Haar und helle Augen und Rosen auf den Wangen. Aber sie war auch tüchtig, und die Mutter war sehr erfreut, daß ich sie nehmen wollte. Es wäre auch gut gegangen, aber seht Ihr, der Fehler war der, daß sie mich nicht wollte.« — »Das ist doch wohl einerlei, was so ein junges Ding will.« — »Ja, die Eltern zwangen sie auch, ja zu sagen.« — »Woher weißt du, daß sie gezwungen wurde? Ich dächte, sie hätte froh sein können, einen Mann zu bekommen, der so reich ist wie du, Klein-Ingmar Ingmarsson.«

»Ach nein, froh war sie gerade nicht, aber jedenfalls wurden wir in der Kirche aufgeboten, der Hochzeitstag war bestimmt, und vor der Hocheit zog Brita auf den Ingmarshof, um Mutter zu helfen. Denn Mutter wird nachgerade alt und müde, das kann ich dir sagen.« — »Das alles ist aber doch nicht schlimm, Klein-Ingmar!« sagt Vater, mich gleichsam aufmunternd.

»Aber in dem jahr wollte nichts auf den Äckern wachsen, die Kartoffeln schlugen fehl, und die Kühe wurden krank, so daß Mutter und ich meinten, es wäre besser, wenn die Hochzeit um ein Jahr verschoben würde. Siehst du, ich dachte, die Hochzeit sei nicht so wichtig, weil wir doch schon aufgeboten waren; aber es war wohl altmodisch, so zu denken.« — »Hättest du eine aus unserem Geschlecht genommen, so hätte sie sich schon in Geduld gefaßt«, sagt Vater. — »Ach ja«, antworte ich, »ich merkte wohl, daß Brita dieser Aufschub nicht gefiel, aber seht Ihr, ich glaubte, ich hätte das Geld nicht zur Hochzeit. Wir hatten ja erst im Frühjahr das Begräbnis gehabt, und ich wollte nichts aus der Sparkasse holen.« — »Nein, es war ganz richtig, daß du warten wolltest«, sagt Vater. — »Aber ich hatte doch Angst, Brita würde es nicht gefallen, vor der Hochzeit Kindstaufe halten zu müssen.« — »In erster Linie muß man aber doch daran denken, ob man das Geld dazu hat.«

»Aber mit jedem Tag wurde Brita stiller und sonderbarer, und ich konnte gar nicht begreifen, was mit ihr los war. Ich meinte, sie habe Heimweh, denn sie hing sehr an ihren Eltern und an ihrer Heimat. die wird schon vorübergehen«, dachte ich, »wenn sie sich erst eingewöhnt hat. Es wird ihr mit der Zeit schon auf dem Ingmarshof gefallen.« Damit beruhigte ich mich eine Weile, aber dann fragte ich Mutter, warum Brita so blaß und verstört aussehe. Mutter sagte, sie erwarte ein Kind, aber sicher würde alles wieder besser werden, wenn sie das überstanden hätte. Ich hatte den stillen Verdacht, daß Brita sich ärgerte, weil die Hochzeit verschoben war, aber ich fürchtete mich, sie zu fragen. ihr wißt, Vater, daß Ihr mir immer gesagt habt, in dem Jahr, in dem ich mich verheirate, solle ich das Wohnhaus rot anstreichen lassen. Und gerade zu diesem roten Anstrich hatte ich eben das Geld nicht. »Im nächsten Jahr wird das alles zu machen sein, dachte ich.«

Der junge Bauer schritt weiter und bewegte die Lippen dabei. Er war so in seine Gedanken versunken, daß er das Gesicht seines Vaters wirklich vor sich zu sehen meinte. »Ich muß dem Vater alles deutlich und klar vorlegen«, dachte er, »damit er mir einen guten Rat geben kann.«

»›So verging der Winter, und ich dachte oft, daß ich, wenn Brita fortgesetzt unglücklich wäre, sie lieber aufgeben und nach Bergskog zurückschicken wolle, aber auch dazu war es nun zu spät. Dann kam der Mai heran, und da merkten wir eines Abends, daß sie sich fortgeschlichen hatte. Wir suchten sie die ganze Nacht, und gegen Morgen fand sie eine der Mägde!‹

Nun wird es mir schwer, weiterzureden, und ich schweige, aber da fragt der Vater: ›Sie war doch um Gottes willen nicht tot?‹ — ›Nein, sie nicht‹, sage ich, und Vater merkt, daß meine Stimme zittert. — ›War das Kind geboren worden?‹ sagt Vater. — ›Ja‹, sage ich, ›und sie hatte es erwürgt. Es lag tot neben ihr.‹ — ›Sie war wohl nicht bei Sinnen?‹ — ›Doch, bei Sinnen war sie. Aber sie hatte es getan, um sich an mir zu rächen, weil ich sie mir erzwungen hatte. Sie hätte es aber doch nicht getan, wenn ich sie geheiratet hätte, sagte sie, aber nun, sagte sie, habe sie gedacht, daß ich gar keines haben solle, da ich mein Kind nicht in Ehren gewollt habe.‹ — Nun wird Vater ganz still vor Kummer. ›Hattest du dich auf das Kind gefreut, Klein-Ingmar?‹ fragt er schließlich. — ›Ja‹, sage ich. — ›Dann ist es ein Jammer, daß du dich mit einem so schlechten Frauenzimmer eingelassen hast.‹

›Sie ist wohl jetzt im Zuchthaus?‹ fragt Vater. — ›Ja, sie wurde zu drei Jahren verurteilt.‹ — ›Und darum also will dir keiner seine Tochter geben?‹ — ›Ja. Aber ich habe auch keinen gefragt.‹ — ›Und darum also hast du kein Ansehen im Dorfe?‹ – ›Die Leute meinen, es hätte nicht so mit Brita zu gehen brauchen. Sie sagen, wenn ich so klug gewesen wäre wie Ihr, Vater, dann hätte ich mit ihr gesprochen und herausgebracht, worüber sie sich grämte.‹ — ›Es ist nicht so leicht für einen jungen Mann, sich auf ein schlechtes Frauenzimmer zu verstehen.‹

›Nein, Vater‹, sage ich, ›Brita war nicht schlecht, aber sie war stolz.‹ — ›Das kommt auf eins heraus‹, sagt Vater.

Wie ich nun merke, daß Vater eigentlich meine Partei ergreifen will, sage ich: ›Viele meinen, ich hätte dafür sorgen sollen, daß man nur von einem totgeborenen Kind erfuhr, nichts anderes.‹ — ›Warum sollte sie ihre Strafe nicht leiden?‹ sagt Vater. — ›Sie sagen, wenn es zu Eurer Zeit geschehen wäre, so hättet Ihr dem Mädchen, das sie gefunden hatte, den Mund gestopft, so daß nichts herausgekommen wäre.‹ — ›Und würdest du sie dann geheiratet haben?‹ — ›Nein, dann hätte ich nicht nötig gehabt, sie zu heiraten. Ich hätte nach ein paar Wochen das Aufgebot widerrufen lassen und sie zu ihren Eltern zurückschicken können, weil es ihr bei mir nicht gefiel.‹ — ›Ja, das hättest du allerdings können; aber die Leute konnten nicht verlangen, daß du, da du noch jung bist, so klug wie ein Alter sein solltest!‹ —

›Das ganze Kirchspiel meint, daß ich schlecht an Brita gehandelt habe!‹ — ›Sie hat wohl noch schlechter gehandelt, sie, die Schande über ehrbare Leute gebracht hat!‹ — ›Aber ich habe sie mir doch erzwungen.‹ — ›Ja, darüber hätte sie nur froh sein sollen‹ sagt Vater.

›Ihr meint also nicht, es sei meine Schuld, daß sie ins Gefängnis kam?‹ — ›Ich meine, daß sie sich selbst dahin gebracht hat.‹ — Da richte ich mich auf und sage langsam: ›Ihr meint also nicht, Vater, daß ich etwas für sie zu tun brauche, wenn sie nun zum Herbst herauskommt?‹ — ›Was wolltest du tun, willst du sie etwa heiraten?‹ — ›Ja, das müßte ich wohl?‹ — Vater sieht mich scharf an und fragt mich dann: ›Hast du sie lieb?‹ — ›Nein, sie hat meine Liebe getötet.‹ Da schließt Vater die Augen und sagt nichts, sondern überlegt nur.

›Seht Ihr, ich kann nicht darüber hinwegkommen, Vater, daß ich das Unglück verschuldet habe‹, sage ich. Der Alte sitzt ganz still und gibt keine Antwort. — ›Als ich sie zum letztenmal sah, es war bei der Gerichtsverhandlung, und da war sie ganz unglücklich und weinte bitterlich, daß sie das Kind nicht mehr hatte. — Nicht ein einziges böses Wort gab sie mir, sie nahm alle Schuld auf sich allein. Viele der Anwesenden weinten, Vater, und selbst dem Richter traten beinahe die Tränen in die Augen. Er gab ihr auch nicht mehr als drei Jahre.‹

Aber Vater sagt kein Wort.

›Es wird sehr schwer für sie werden, nun im Herbst, wenn sie heimkommt‹, sage ich. ›Sie werden sich in Bergskog nicht über ihre Heimkehr freuen. Sie meinen, sie habe Schande über sie gebracht, und wer weiß, ob sie es ihr nicht auch vorwerfen. Sie wird immer daheim bleiben müssen und sich kaum in die Kirche wagen dürfen. Es wird in jeder Beziehung sehr schwer für sie werden.‹

Aber Vater gibt keine Antwort.

›Es ist aber auch nicht leicht für mich, sie zu heiraten‹ sage ich. ›Für einen, der einen großen Hof hat, ist es nicht angenehm, eine Frau zu haben, auf die die Knechte und Mägde heruntersehen. — Auch Mutter wäre das nicht recht, und ich glaube nicht, daß wir dann noch angesehene Leute weder zur Hochzeit noch zum Begräbnis zu uns einladen könnten.‹

Noch immer schweigt Vater.

›Seht, beim Thing suchte ich ihr zu helfen, so gut ich konnte; ich sagte zum Richter, daß ich an allem schuld sei, weil ich sie gezwungen hätte. Und ich sagte auch, ich hielte sie für so unschuldig, daß ich sie an demselben Tag heiraten würde, an dem sie ihre Gesinnung gegen mich änderte. Das sagte ich, damit sie eine mildere Strafe bekäme. Aber obgleich sie mir zweimal geschrieben hat, so deutet doch nichts auf eine Sinnesänderung bei ihr hin. Da könnt Ihr doch wohl verstehen, Vater, daß ich nicht verpflichtet bin, sie nur wegen des Geredes zu heiraten.‹

Aber Vater sitzt da und überlegt und ist ganz stumm.

›Ich weiß, daß man das die Sache nach Menschenweise beurteilen heißt, und wir Ingmarssöhne haben immer gut mit dem lieben Gott stehen wollen. Manchmal jedoch denke ich, der liebe Gott würde es vielleicht nicht billigen, daß eine Mörderin so erhöht wird.‹

Aber Vater schweigt nur.

›Ihr müßt daran denken, Vater‹, sage ich, ›wie schwer es für den ist, der einen anderen leiden läßt, ohne zu versuchen, ihm zu helfen. Ich glaube, alle im Dorfe würden es für unrecht halten, aber diese Jahre sind mir zu schwer gefallen, als daß ich nicht versuchen möchte, etwas für sie zu tun, wenn sie frei wird.‹

Vater sitzt ganz unbeweglich.

Da kommen mir fast die Tränen, und ich sage: ›Seht, ich bin ein junger Bursche, und ich verliere sehr viel, wenn ich sie nehme. Die Leute meinen, ich habe zuerst schlecht gehandelt, und wenn ich das tue, so werden sie es für noch verkehrter halten.‹

Aber ich kann Vater nicht dazu bringen, ein einziges Wort zu sagen.

›Und dann habe ich auch gedacht, Vater, es sei doch merkwürdig, daß wir Ingmarssöhne nun seit vielen hundert Jahren auf dem Hofe sitzen, während alle anderen Höfe ihre Besitzer gewechselt haben. Und dann denke ich, es werde wohl deshalb so sein, weil die Ingmarssöhne immer Gottes Wege zu gehen versuchten. Wir Ingmarssöhne haben nicht nötig, die Menschen zu fürchten, wir wollen immer nur die Wege Gottes gehen.‹

Nun schlägt der Greis die Augen auf, und dann sagt er: ›Dies ist eine schwierige Frage, Ingmar, ich glaube, ich will hineingehen und die anderen Ingmarssöhne fragen.‹

___________

Und darauf geht Vater wieder in die Groß-Stube, ich aber bleibe draußen sitzen. Und ich muß warten und warten, aber Vater kommt nicht zurück. Nachdem ich viele Stunden gewartet habe, bin ich es leid und gehe zum Vater hinein. ›Gedulde dich draußen, Klein-Ingmar‹ sagt Vater, ›dies ist eine schwierige Frage.‹ Und ich sehe alle die Alten, wie sie mit geschlossenen Augen dasitzen und nachdenken. Und ich warte und warte, und ich warte wohl noch — —«

Der junge Bauer ging lächelnd hinter dem Pfluge her, der nun ganz langsam weiter zog, als ob die Pferde Ruhe brauchten. Am Grabenrand blieb er stehen und zog die Zügel an; er war ganz ernst geworden.

»Es ist doch merkwürdig, wenn man jemand um Rat fragt, dann merkt man, schon während man fragt, selbst, was recht und was unrecht ist; da sieht man auf einmal, was man in drei langen Jahren nicht herausgefunden hat. Nun mag es gehen, wie Gott will.«

Er fühlte, daß er es tun müsse. Gleichzeitig erschien es ihm aber so schwer, daß ihn aller Mut verließ, wenn er daran dachte.

»Gott helfe mir!« dachte er — —

Ingmar Ingmarsson war indes nicht der einzige, der in dieser frühen Morgenstunde unterwegs war.

Auf einem Pfad, der sich zwischen den Kornäckern hinschlängelte, kam ein alter Mann. Es war nicht schwer zu erraten, was er für ein Gewerbe hatte, denn er trug einen langen Malerpinsel über der Schulter und war von der Mütze bis zu den Schuhen mit roter Farbe bespritzt. Er sah sich oft um, wie es die herumwandernden Tüncher zu tun pflegen, um einen unangestrichenen Hof oder einen, an dem alle Farbe verblaßt oder abgewaschen ist, zu entdecken. Er glaubte bald da, bald dort einen solchen zu sehen, konnte sich aber nicht recht für den einen oder den anderen entscheiden. Schließlich erreichte er eine kleine Anhöhe und erblickte von da den Ingmarshof, der groß und mächtig im Tale lag. »Ach, du lieber Gott!« rief er laut und blieb vor Freude stehen, »das Wohnhaus dort ist seit hundert Jahren nicht mehr gestrichen werden, es ist in ganz schwarz vor Alter, und die Wirtschaftsgebäude haben noch nie eine Farbe gesehen. Und solch eine Menge Häuser!« rief er aus. »Hier hab ich ja Arbeit bis in den Herbst hinein!«

Er war noch nicht lange weitergegangen, da sah er einen Mann, der ein Feld umpflügte. »Sieh, da ist ein Bauer, der hier ansässig ist und die Gegend kennt«, dachte der Tüncher, »von ihm kann ich erfahren, was ich über den Hof wissen muß.« Er bog vom Weg ab auf das Feld zu und fragte Ingmar, was das für ein großer Hof sei, und ob er glaube, daß der Besitzer ihn anstreichen lassen wolle.

Ingmar Ingmarsson fuhr zusammen und starrte den Mann an, als ob er ein Geist sei. »Ich glaube wahrhaftig, es ist ein Maler«, dachte er, »und er kommt gerade jetzt!« Er war ganz überwältigt und konnte keine Antwort herausbringen.

Er erinnerte sich ganz deutlich daran, daß der Vater, sooft jemand zu ihm sagte: »Ihr solltet doch Euer altes, häßliches Haus anstreichen lassen«, stets erwidert hatte, er werde es in dem Jahr tun lassen, in dem Ingmar Hodnzeit mache.

Der Maler fragte ein zweites und drittes Mal, aber Ingmar stand ganz still da, als ob er ihn nicht verstände.

Sind sie da droben im Himmel nun mit der Antwort fertig geworden? fragte er sich. Ist dies eine Botschaft vom Vater, daß ich in diesem Jahr heiraten soll?

Er war so betroffen von diesem Gedanken, daß er dem Mann ohne weiteres die Arbeit zusagte.

Alsdann ging er tief bewegt und beinahe glücklich hinter seinem Pflug her. »Es wird dir nun nicht mehr so schwer werden, es zu tun, jetzt, wo du sicher weißt, daß der Vater es will«, sagte er.

2

Ein paar Wochen später war Ingmar mit dem Putzen seines Pferdegeschirrs beschäftigt. Er schien schlechter Laune, und die Arbeit ging ihm nur langsam von der Hand. »Wenn ich der liebe Gott wäre …«, dachte er und rieb das Lederzeug: »Wenn ich der liebe Gott wäre, dann würde ich dafür sorgen, daß eine Sache in demselben Augenblick, in dem sie beschlossen ist, auch getan wird. Ich würde den Leuten nicht so lang Zeit lassen, sich zu besinnen und über alles, was im Weg steht, nachzugrübeln. Ich würde ihnen gar nicht erst Zeit lassen, das Geschirr zu putzen und den Wagen anzustreichen; ich würde sie gleich vom Pflug wegholen.«

Er hörte einen Wagen auf der Straße daherrollen, schaute auf und erkannte sofort Pferd und Fuhrwerk. »Der Reichstagsabgeordnete von Bergskog kommt hierher«, rief er in die Küche hinein, wo seine Mutter an der Arbeit war. Gleich darauf hörte man sie das Feuer schüren und die Kaffeemühle in Gang setzen.

Der Reichstagsabgeordnete fuhr auf den Hof; hier blieb er sitzen, ohne abzusteigen. »Nein, ich danke, ich will nicht hinein«, sagte er, »denn ich möchte nur ein paar Worte mit dir reden, Ingmar. Ich habe nur wenig Zeit, denn ich muß in die Gemeinderatssitzung.« — »Mutter wird gleich mit dem Kaffee fertig sein«, sagte Ingmar. — »Danke, aber ich muß zu rechter Zeit da sein.« — »Es ist lange her, seit Sie das letzte Mal hier waren«, versuchte Ingmar ihn zu überreden.

Seine Mutter trat nun auch vor die Tür und bat den Mann, hereinzukommen. »Der Herr Reichstagsabgeordnete wird doch nicht wegfahren wollen, ohne eine Tasse Kaffee getrunken zu haben«, sagte sie. Ingmar schlug das Spritzleder zurück und der Reichstagsabgeordnete stand auf. »Ja, wenn Mutter Märta selbst darum bittet, muß ich wohl gehorchen«, sagte er.

Er war ein schöner, stattlicher Mann, der sich rasch und leicht bewegte und einem ganz anderen Menschenschlag anzugehören schien als Ingmar und seine Mutter, die beide häßlich waren, mit verschlafenen Gesichtern und schwerfälligen Gliedmaßen. Aber er empfand große Ehrerbietung vor dem altansässigen Geschlecht auf dem Ingmarshof und hätte gerne sein schönes Äußere drangegeben, um so auszusehen wie Ingmar und selbst einer der Ingmarssöhne zu sein. Seiner Tochter gegenüber hatte er stets Ingmars Partei ergriffen, und es wurde ihm ganz leicht ums Herz, als er sich nun so gut aufgenommen sah.

Als Mutter Märta nach einer Weile den Kaffee brachte, rückte er mit seinem Anliegen heraus.

»Ich möchte«, begann er und räusperte sich, »ich möchte gerne mitteilen, was wir mit Brita vorhaben.« Die Tasse, die Mutter Märta in der Hand hielt, zitterte ein wenig, so daß der Löffel auf der Untertasse klirrte: darauf trat eine drückende Stille ein. — »Wir meinen, es wäre das beste, wenn sie nach Amerika ginge.« Er hielt aufs neue inne, und wieder trat Stille ein. Da seufzte er über diese schwerfälligen Menschen. »Wir haben schon die Fahrkarte für sie gekauft.« — »Sie kommt doch wohl zuerst nach Hause?« sagte Ingmar. — »Nein, was sollte sie denn daheim?«

Ingmar verfiel wieder in Schweigen. Seine Augen waren fast geschlossen, und er saß so ruhig da, als ob er schliefe. An seiner Stelle begann nun Mutter Märta zu fragen: »Sie wird aber doch Kleider brauchen?« — »Das ist schon alles in Ordnung, es steht ein gepackter Koffer bei Kaufmann Löfberg, wo wir einkehren, wenn wir in der Stadt sind.« — »Und ihre Mutter geht nicht hin, um sie noch zu sehen?« — »Doch, sie möchte gern, aber ich sagte, es sei besser, wenn die beiden sich nicht sähen.« — »Ja, das ist wohl möglich.« — »Die Fahrkarte und das Geld liegen beim Kaufmann Löfberg für sie bereit; sie bekommt also alles, was sie nötig hat.

Ich dachte, Ingmar müßte es wissen, damit er sich die Sache nicht mehr zu Herzen nimmt«, sagte der Abgeordnete. Nun schwieg Mutter Märta auch, das Kopftuch war ihr in den Nacken geglitten; sie saß da und betrachtete ihre Schürze. »Nun muß Ingmar an eine neue Heirat denken.« Mutter und Sohn schwiegen beide gleich tapfer. »Mutter Märta braucht eine Hilfe in dem großen Haushalt, und Ingmar muß dafür sorgen, daß sie ein ruhiges Alter bekommt.« Der Abgeordnete schwieg und fragte sich, ob sie seine Worte gehört hätten. »Ich und meine Frau möchten ja alles wiedergutmachen«, fügte er schließlich hinzu.

Ingmar aber fühlte eine große Freude in seinem Herzen aufsteigen. Brita sollte nach Amerika, und er brauchte sie nicht zu heiraten. Es würde keine Mörderin auf dem alten Ingmarshof Hausmutter werden. Er hatte so still dagesessen, weil er es nicht passend fand, seine Freude sogleich zu zeigen. Aber jetzt schien es ihm an der Zeit, etwas zu sagen.

Der Abgeordnete war nun auch verstummt, er wußte, daß er den Ingmarsleuten Zeit lassen mußte, sich zu besinnen. Und endlich sagte denn auch Ingmars Mutter: »Ja, nun hat Brita ihre Strafe verbüßt, jetzt kommt die Reihe an uns andere.« Die Alte wollte damit sagen, wenn der Abgeordnete irgendeine Hilfe von den Ingmarssons verlange, und zwar zum Lohn dafür, daß er ihnen den Weg geebnet hatte, so würden sie sich dem nicht entziehen, aber Ingmar faßte die Worte anders auf. Er fuhr zusammen, und es war, als erwachte er aus einem Schlaf. »Was würde Vater dazu sagen?« dachte er. »Wenn ich ihm nun die Sache vorlegte, was würde er dazu sagen?« — »Du darfst nicht glauben, daß du Gottes Gerechtigkeit spotten kannst«, sagt Vater da. »Du darfst nicht glauben, daß er es ungestraft hingehen läßt, wenn du Brita alle Schuld allein tragen läßt. Wenn ihr Vater sie verstoßen will, um sich dir angenehm zu machen und Geld von dir zu leihen, so sollst doch du die Wege Gottes gehen, du Klein-Ingmar Ingmarsson.«

»Ich glaube wirklich, der alte Vater wacht in dieser Sache über mich«, dachte er, »er hat gewiß Britas Vater hierhergeschickt, um mir zu zeigen, wie häßlich es ist, ihr allein alle Schuld aufzuladen, der Ärmsten. Er wird wohl gesehen haben, daß ich in den letzten Tagen wenig Lust zu der Reise in die Stadt hatte.«

Ingmar stand auf, goß Kognak in seinen Kaffee und erhob die Tasse: »Nun danke ich schön, daß der Herr Abgeordnete heute hierhergekommen ist«, sagte er und stieß mit ihm an.

3

Den ganzen Vormittag hatte sich Ingmar eifrig an den Birken vor der Haustüre zu schaffen gemacht. Zuerst hatte er ein Gerüst aufgeschlagen, und dann bog er die Birkenwipfel so zusammen, daß sie eine Pforte bildeten. Die Bäume ließen sich nur widerwillig biegen, rissen sich immer wieder los und richteten sich kerzengrade auf. »Was machst du hier?« fragte Mutter Märta. — »Ach, ich meine, sie könnten nun auch eine Weile so wachsen«, sagte Ingmar.

Es wurde Mittag, und als das Essen vorüber war, gingen die Dienstboten auf den Hofplatz hinaus, um zu schlafen. Ingmar Ingmarsson schlief auch, aber er lag in einem breiten Bett in der Kammer neben der Groß-Stube. Die einzige, die nicht schlief, war die Hausmutter; sie saß in der Groß-Stube und strickte.

Da öffnete sich leise die Tür, und ein altes Weib trat mit zwei großen Körben herein, die sie an einem Joch über dem Nacken trug. Sie grüßte leise, setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und hob, ohne ein Wort zu sagen, den Deckel von den Körben. Der eine war mit Zwieback und Brezeln gefüllt, der andere mit frisch gebackenen Weißbroten. Die Hausmutter trat schnell näher, um sich etwas auszusuchen. Sonst konnte sie mit ihren Groschen recht genau sein, aber einem guten Kaffeebrot vermochte sie nicht leicht zu widerstehen.

Während sie unter den Broten wählte, unterhielt sie sich mit der Alten, die sehr redselig war, wie die meisten ihres Schlags, die von einem Hof zum andern wandern und viele Menschen sehen. — »Ihr seid eine kluge Frau, Kajsa, auf die man sich verlassen kann«, begann Mutter Märta.

»O ja«, entgegnete Kajsa, »wenn ich nicht über das, was ich weiß, schweigen könnte, so würden sich viele in den Haaren liegen.« — »Aber manchmal schweigt ihr zuviel, Kajsa.« — Die Alte sah auf und verstand sofort, was Mutter Märta meinte. »Ja, Gott sei mir gnädig«, sagte sie, indem ihr die Tränen in die Augen traten. »Ich sprach mit der Frau des Abgeordneten auf Bergskog, aber ich hätte zu Euch gehen sollen.« — »Soso, Ihr habt also mit der Frau des Reichstagsabgeordneten gesprochen?« Es lag eine unendliche Verachtung in dem Ton, mit dem sie das lange Wort aussprach.

Ingmar Ingmarsson fuhr aus dem Schlaf auf, als sich die Tür zur Groß-Stube leise öffnete. Es trat zwar niemand ein, aber die Tür blieb angelehnt. Er wußte nicht, ob sie von selbst aufgegangen war, oder ob sie jemand geöffnet hatte. Aber schläfrig wie er war, blieb er ruhig liegen und hörte nur, daß nebenan gesprochen wurde.

»Sagt mir nur, Kajsa, woher Ihr erfahren habt, daß Brita Ingmar nicht mochte«, sagte die Mutter. — »Ach, es hieß ja von Anfang an, daß die Eltern sie gezwungen hätten«, meinte die Alte ausweichend. — »Sprecht nur geradeheraus, Kajsa; wenn ich frage, braucht Ihr keine Umschweife zu machen, um die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, ich werde das schon ertragen können, was Ihr sagen könnt.«

»Nun, ich muß sagen, daß sie jedesmal verweint aussah, sooft ich zu jener Zeit nach Bergskog kam. Und einmal, als sie und ich in der Küche auf Bergskog allein waren, sagte ich zu ihr: ›Du bekommst einen schönen Mann, Brita!‹ — Sie sah mich an, als ob sie glaubte, ich wollte sie verspotten. Und dann sagte sie: ›Ja, das kannst du schon sagen, schön ist er.‹ Dies sagte sie so, daß ich Ingmar Ingmarsson vor mir sah. Schön ist er allerdings nicht, aber daran hatte ich vorher gar nicht gedacht, denn ich habe immer große Achtung vor den Ingmarssons gehabt. Aber nun konnte ich mich nicht enthalten, ein wenig zu lachen. Da sah mich Brita an und sagte noch einmal: ›Ja, Schön ist er‹; dann aber wandte sie sich rasch ab, stürzte in die Kammer nebenan, und ich hörte sie weinen.

Aber als ich ging, dachte ich bei mir selbst: Es wird schon recht werden, denn alles wird recht bei den Ingmarssöhnen. Ich wunderte mich nicht über die Eltern, denn wenn ich eine Tochter gehabt hätte, und Ingmar Ingmarsson hätte um sie geworben, dann hätte ich auch nicht eher geruht, als bis sie ja gesagt hätte.«

Ingmar lag auf dem Bett und hörte zu: »Das tut Mutter absichtlich«, dachte er. »Sie wundert sich über die Reise in die Stadt, die ich morgen antreten will. Mutter denkt, ich will hinfahren und Brita holen.«

»Als ich dann Brita wiedersah«, fuhr das Weib fort, »war sie schon hierher auf den Ingmarshof gezogen. Ich konnte sie nicht gleich fragen, wie es ihr geht, denn es waren so viele Leute in der Stube, aber als ich den Hof verließ und auf das Gehölz zuging, kam sie mir nach. ›Kajsa‹, sagte sie, ›bist du kürzlich in Bergskog gewesen?‹ — ›Vorgestern war ich dort‹, sagte ich. — ›Ach, du lieber Gott, du warst erst vorgestern dort, und mir ist, als wäre ich seit vielen Jahren nicht mehr daheim gewesen.‹ — Ich wußte nicht recht, was ich ihr antworten sollte; sie sah aus, als würde sie sofort in Tränen ausbrechen, was ich auch immer sagen mochte. ›Du kannst doch einmal nach Hause gehen und deine Eltern besuchen‹ sagte ich. — ›Nein‹ sagte sie, ›ich glaube, ich komme nie mehr nach Hause.‹ — ›Geh du nur einmal heim‹ sagte ich zu ihr, ›es ist so schön da oben, der ganze Wald ist voller Beeren, und die Meilerplätze sind ganz rot von Preiselbeeren.‹ — ›Du liebe Zeit!‹ rief sie, und ihre Augen wurden ganz groß, ›gibt es schon Preiselbeeren?‹ — ›Ja, und du wirst dich schon einen Tag frei machen können, so daß du hingehen und dich daran sattessen kannst.‹ — ›Nein, ich glaube nicht, daß ich es tue‹, sagte sie. ›Gehe ich heim, dann wird es nur schlimmer, wenn ich wieder hierher zurückkomme.‹

›Ich habe immer gehört, daß man es bei den Ingmarssöhnen gut hat‹ sagte ich. ›Es sind gute Leute.‹ — ›Ja‹ antwortete sie, ›es sind gute Leute.‹ — ›Es sind die besten Leute im Dorf‘‹ sagte ich. ›Sie sind rechtschaffen.‹ — ›Ja, es wird ja nicht als Unrecht angesehen, wenn man eine Frau gegen ihren Willen nimmt.‹ — ›Und klug sind sie auch.‹ — ›Ja, aber sie verschweigen das, was sie wissen.‹ — ›Sagen sie nie etwas?‹ — ›Keiner von ihnen redet mehr als das Allernotwendigste.‹

Nun mußte ich gehen, aber da fiel mir noch etwas ein, und ich fragte sie: ›Soll die Hochzeit hier oder daheim bei dir gefeiert werden?‹ — ›Sie soll hier auf dem Hof gefeiert werden, denn hier ist besser Platz dazu.‹ — ›Dann sorge nur dafür, daß die Hochzeit nicht allzulange hinausgeschoben wird‹ sagte ich. — ›Sie soll in vier Wochen sein‹ erwiderte sie.

Aber als ich Brita verlassen wollte, fiel mir ein, daß man auf dem Ingmarshof eine schlechte Ernte gehabt hatte, und ich sagte, ich sei nicht sicher, daß die Hochzeit noch in diesem Jahr stattfinden werde. — ›Dann muß ich ins Wasser gehen‹ sagte Brita.

Einen Monat später hörte ich, daß die Hochzeit verschoben sei, und ich fürchtete, es könnte schlimm ablaufen, deshalb ging ich nach Bergskog und redete mit der Frau des Abgeordneten. — ›Das ist nicht recht von den Leuten auf dem Ingmarshof‹, sagte ich. — ›Nun, wir müssen zufrieden sein, wie sie es einrichten‹, sagte sie. ›Wir danken Gott jeden Tag dafür, daß wir unsere Tochter so gut versorgt wissen.‹«

»Mutter hätte sich nicht so viele Mühe zu machen brauchen«, dachte Ingmar Ingmarsson, »denn hier auf dem Hof ist niemand, der in die Stadt fahren und Brita holen will. Sie hätte nicht nötig gehabt, wegen der Ehrenpforte zu erschrecken, das ist nur etwas, was ein Mann tut, um zu Gott sagen zu können: ›Ich war ja bereit dazu! Du konntest doch daran sehen, daß es meine Absicht war.‹ Es aber wirklich tun, das ist etwas anderes.«

»Als ich Brita zum letztenmal sah«, fuhr Kajsa fort, »war es Winter, und es lag hoher Schnee. Ich ging auf einem schmalen Pfad mitten im wilden Wald; es war sehr schwer zu gehen, denn es hatte zu tauen begonnen, und meine Füße glitten im geschmolzenen Schnee aus. Da erblickte ich einen Menschen, der auf dem Schnee saß und sich ausruhte, und als ich näher kam, erkannte ich Brita. ›Bist du allein hier im Wald?‹ fragte ich sie. — ›Ja‹, sagte sie. Da blieb ich stehen und sah sie an, denn ich konnte nicht begreifen, was sie hier wollte. ›Ich will sehen, ob ich hier nicht einen steilen Felsen finde‹, sagte Brita dann. — ›Daß Gott erbarm, du wirst dich doch nicht hinabstürzen wollen!‹ sagte ich, denn sie sah aus, als ob sie nicht länger leben wollte.

›Doch‹, sagte sie, ›wenn ich nur einen Felsen fände, der hoch und steil genug wäre, dann würde ich mich hinabstürzen.‹ — ›Du sollst dich schämen, Brita, so wie es um dich steht.‹ — ›Siehst du, Kajsa, ich bin eben schlecht.‹ — ›Ja, es scheint so.‹ — ›Ich tue gewiß noch einmal etwas Böses, so daß es besser wäre, ich stürbe.‹ — ›Was sind das für Reden, Kind?‹ — ›Ja, ich wurde schlecht, als ich da hinunterzog.‹ Dann trat sie ganz nahe zu mir mit verstörten Augen und sagte: ›Sie sinnen nur darauf, wie sie mich quälen, und ich denke nur daran, wie ich sie auch quälen kann.‹ — ›Gewiß nicht, Brita, es sind gute Leute.‹ — ›Sie sinnen nur darauf, wie sie Schande über mich bringen können.‹ — ›Hast du ihnen das gesagt?‹ — ›Ich spreche nie mit ihnen. Ich denke nur darüber nach, wie ich ihnen Böses zufügen kann.

Ja, ich denke darüber nach, öb ich den Hof anzünden soll; ich weiß, er hängt sehr daran. Ich überlege auch, ob ich den Kühen Gift geben soll; sie sind so häßlich und alt und weiß um die Augen herum, als wären sie mit ihm verwandt.‹ — ›Hunde, die hellen, beißen nicht‹ sagte ich. — ›Etwas Böses muß ich ihm antun‹, sagte sie, ›eher finde ich keine Seelenruhe.‹ — ›Du weißt selbst nicht, was du sagst‹, warnte ich, ›ja, du wirst deiner Seelenruhe schließlich für immer ein Ende machen.‹

Da begann sie auf einmal zu weinen. Sie wurde weich und sagte, es sei so schwer für sie, mit all den bösen Gedanken, die sie überfielen, fertig zu werden. Dann begleitete ich sie zurück auf den Ingmarshof, und als wir uns trennten, versprach sie mir, daß sie nichts Böses tun wolle, wenn ich nur meinen Mund halten würde.

Und dann überlegte ich eifrig, mit wem ich darüber sprechen könnte«, sagte Kajsa, »denn es kam mir so schwierig vor, zu so vornehmen Leuten zu gehen wie Ihr…«

In diesem Augenblick läutete die Eßglocke auf dem Stallgebäude; die Mittagsruhe war vorüber. Mutter Märta verabschiedete Kajsa rasch. »Hört, Kajsa, meint Ihr, daß es jemals zwischen Ingmar und Brita wieder gut werden könnte?« — »Was?« sagt die Alte betroffen. — »Ich meine, — wenn sie nun nicht nach Amerika ginge, ob Ihr glaubt, daß sie ihn nehmen würde?« — »Wie soll ich das wissen? Nein, ich glaube es eigentlich nicht.« — »Würde sie wohl nein sagen?« — »Ja, das würde sie.«

Nebenan saß Ingmar und ließ die Beine über die Bettkante herunterhängen. »Nun, Ingmar«, sagte er zu sich selbst und schlug mit der Faust auf die Bettkante, »das war es wohl, was dir nottat, und jetzt, denke ich, wirst du morgen reisen. Aber wie kann Mutter nur glauben, sie könnte mich zurückhalten, indem sie mir zeigt, daß Brita mich nicht liebt.«

Wieder und wieder schlug er auf die Bettkante, wie wenn er in seinen Gedanken etwas Hartes niederschlüge, das ihm Widerstand leistete. »Nun will ich es doch noch einmal versuchen. Wir Ingmarssöhne fangen wieder von vorne an, wenn etwas schiefgegangen ist. — Kein rechter Kerl kann sich darein finden, daß ein Frauenzimmer aus Groll gegen ihn den Verstand verliert.«

Noch nie hatte er seine Niederlage so tief gefühlt, und er brannte vor Sehnsucht nach irgendeiner Genugtuung.

»Das wäre doch des Teufels, wenn ich Brita nicht lehren könnte, auf dem Ingmarshof wieder glücklich zu sein«, sagte er.

Er versetzte der Bettkante einen letzten Schlag, ehe er aufstand, um an seine Arbeit zu gehen.

»So wahr ich dastehe, Groß-Ingmar hat Kajsa hergeschickt, um mich zu dieser Reise in die Stadt zu bringen.«

4

Ingmar Ingmarsson hatte die Stadt erreicht und ging nun langsam auf das große Bezirksgefängnis zu, das auf einem kleinen Hügel über den städtischen Anlagen hoch anfragte. Er sah sich nicht um, sondern schleppte sich mit tiefgesenkten Augenlidern mühsam vorwärts wie ein Greis.

In Anbetracht der ernsten Angelegenheit hatte er die schöne Volkstracht seines Heimatdorfes abgelegt und trug einen schwarzen Tuchanzug und ein gestärktes Vorhemd, das schon etwas zerknittert war. Ihm war sehr feierlich zumut, aber gleichzeitig auch ängstlich und widerwillig.

Nun erreichte Ingmar den kiesbestreuten Platz vor dem Gefängnis; er bemerkte einen Schutzmann und fragte, ob Brita Erikstochter wirklich heute entlassen werde. »Ja, ich glaube, es wird heute jemand frei«, sagte der Schutzmann. — »Es ist eine, die wegen Kindsmord gesessen hat«, klärte ihn Ingmar auf. — »Jawohl, ja; sie wird heute vormittag entlassen.«

Ingmar ging nicht weiter, sondern stellte sich neben einem Baum auf, um zu warten; nicht ein einziges Mal wandte er die Augen von dem Gefängnistor ab. »Manche von denen, die da hineingegangen sind, mögen es nicht all zu gut gehabt haben«, dachte er. »Ich will zwar nicht übertreiben«, fuhr er fort, »aber doch hat es vielleicht mancher, der da hineingegangen ist, leichter gehabt als ich, der hier außen steht.«

»Ja, ja, nun hat Groß-Ingmar mich doch hierhergebracht, um die Braut aus dem Gefängnis zu holen«, sagte er dann. »Aber ich könnte nicht behaupten, daß Klein-Ingmar froh darüber wäre; es wäre ihm lieber, wenn die Braut durch eine Ehrenpforte geschritten käme, ihre Mutter neben sich, um sie dem Bräutigam zuzuführen. Und dann hätten sie mit einer großen Hochzeitsgesellschaft in die Kirche fahren sollen. Und die Braut hätte schön geschmückt neben ihm sitzen und unter der Brautkrone lächeln sollen.«

Das Tor öffnete sich mehrere Male; es kam ein Pfarrer, es kam die Frau des Gefängnisdirektors sowie deren Mägde, die in die Stadt gingen. Schließlich kam Brita. Als das Tor aufging, fühlte Ingmar, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. »Jetzt kommt sie«, dachte er. Seine Augen schlossen sich, er war wie gelähmt und rührte sich nicht. Als er sich ermannte und aufsah, stand sie auf der Stufe vor dem Tor.

Er sah, wie sie einen Augenblick stehenblieb. Sie schob das Kopftuch zurück, und schaute mit klaren Augen in die Ferne. Das Gefängnis lag hoch über der Stadt, und über Wälder und Hügel hinweg konnte sie die heimatlichen Berge sehen.

Nun sah Ingmar, daß sie wie von einer unsichtbaren Macht geschüttelt und gebeugt wurde. Sie schlug die Hände vors Gesicht und setzte sich auf die Stufe.

Von seinem Platz aus hörte er ganz deutlich, daß sie schluchzte.

Da schritt er über den Kiesplatz, stellte sich neben sie und wartete. Sie weinte so heftig, daß sie nichts hörte, und er mußte lange dastehen. — »Weine nicht so, Brita«, sagte er schließlich. Sie sah auf. »Ach Gott im Himmel, bist du hier?« rief sie. Im selben Augenblick stand alles, was sie ihm angetan hatte, deutlich vor ihr, und ebenso deutlich, was es ihn gekostet haben mußte, hierherzukommen. Sie stieß einen Freudenschrei aus, warf sich ihm an den Hals und schluchzte aufs neue.

»Ach, wie sehr habe ich gewünscht, daß du hiersein möchtest!« sagte sie. — Ingmars Herz begann heftig zu klopfen, weil sie sich über sein Kommen freute. — »Was sagst du, Brita, hast du dich nach mir gesehnt?« sagte er gerührt. — »Ja, ich hätte dich gern um Verzeihung gebeten.«

Da richtete sich Ingmar in seiner ganzen Größe auf und wurde so kalt wie ein Steinbild. — »Das hat wohl Zeit«, sagte er, »ich meine, wir sollten jetzt nicht länger hier stehenbleiben.« — »Nein, das ist kein Platz zum Verweilen«, antwortete sie demütig. — »Ich bin bei Kaufmann Lövberg abgestiegen«, sagte Ingmar im Weitergehen. — »Dort steht auch mein Koffer.« — »Ja, ich habe ihn dort stehen sehen«, sagte Ingmar, »er ist zu groß, um ihn hinten auf den Wagen zu stellen, wir müssen ihn hierlassen, bis wir ihn holen lassen können.« — Brita blieb stehen und sah Ingmar an. Es war die erste Anspielung, daß er die Absicht habe, sie mit sich nach Hause zu nehmen. — »Ich habe heute einen Brief von meinem Vater bekommen; er schrieb, du meintest auch, ich solle nach Amerika auswandern.« — »Ich meinte, es würde nichts schaden, wenn du die Wahl hättest; es war ja nicht sicher, ob du mit mir gehen wolltest.« Sie merkte wohl, daß er nicht sagte, er wünsche es, aber das konnte seinen Grund auch darin haben, daß er sie nicht aufs neue zwingen wollte. Sie wurde sehr bedenklich. Es war gewiß nichts Beneidenswertes, eine Frau wie sie auf den Ingmarshof heimzuführen. »Sag ihm, daß du nach Amerika willst, das ist der einzige Dienst, den du ihm erweisen kannst«, sagte sie zu sich selbst. »Sag es ihm, sag es ihm«, trieb sie sich selbst an. Während sie noch so dachte, hörte sie jemand sagen: »Ich fürchte, ich bin nicht stark genug, um nach Amerika auszuwandern, es heißt, man müsse dort hart arbeiten.« Und dabei kam es ihr vor, als hätte nicht sie, sondern jemand ganz anderes so gesprochen. — »Ja, das heißt es«, sagte Ingmar leise. Sie schämte sich, daß sie gerade heute morgen zum Pfarrer gesagt hatte, sie gehe nun als ein neuer und besserer Mensch in die Welt hinaus. Sehr unzufrieden mit sich selbst wanderte sie schweigend weiter und überlegte, wie sie ihre Worte wieder zurücknehmen könnte, aber sobald sie etwas Derartiges sagen wollte, hielt sie der Gedanke zurück, daß es schwärzester Undank von ihr wäre, ihn wieder zurückzuweisen. Offenbar hatte er sie noch immer lieb. »Wenn ich nur in seinen Gedanken lesen könnte«, dachte sie.

Da sah Ingmar, daß sie stehenblieb und sich an eine Mauer lehnte. — »Ich werde ganz verwirrt von all dem Lärm und den vielen Menschen.« Er streckte die Hand aus, die sie ergriff, und dann gingen sie Hand in Hand durch die Straße. »Nun sehen wir aus wie ein Brautpaar«, dachte Ingmar, aber er überlegte die ganze Zeit, wie es wohl gehen würde, wenn er heimkäme, und wie er mit seiner Mutter und all den andern zurechtkommen würde.

Als sie das Lövbergsche Haus erreicht hatten, sagte Ingmar, daß sein Pferd nun ausgeruht habe und daß er vorschlage, wenn es Brita recht sei, die ersten Wegstrecken noch heute zurückzulegen. Da dachte sie, jetzt sei der Augenblick gekommen, ihm zu danken und zu sagen, daß sie nicht wolle. Sie flehte zu Gott, er möge ihr doch kundtun, ob Ingmar nur aus Barmherzigkeit gekommen sei. Mittlerweile zog Ingmar den Wagen aus dem Schuppen heraus. Er war frisch angestrichen, das Spritzleder leuchtete, und die Sitze hatten neue Bezüge bekommen. Vorn am Wagendach steckte ein kleiner, halbverwelkter Wiesenblumenstrauß. Als Brita diesen sah, blieb sie stehen und überlegte; Ingmar aber ging in den Stall, schirrte das Pferd an und zog es heraus. Da sah sie einen ebensolchen halbverwelkten Strauß an dem Kummet stecken und fing an zu glauben, daß er sie wirklich liebhabe und daß es das beste wäre, zu schweigen. Sonst könnte er sich vielleicht denken, sie sei undankbar und verstehe auch nicht, wie groß das war, was er ihr bot.

Sie fuhren auf der Straße hin, und um das Schweigen zu beenden, begann sie ihn über dies und jenes daheim auszufragen. Mit jeder neuen Frage erinnerte sie ihn an irgend jemand, vor dessen Urteil ihm bange war. »Wie der sich verwundern wird«, dachte er, »wie der sich über mich lustig machen wird!« Er gab ihr nur einsilbige Antworten, und wieder und wieder war es ihr, als sollte sie ihn bitten, wieder umzukehren. Er will mich nicht haben, er hat mich nicht lieb; er tut es nur aus Barmherzigkeit!

Bald hörte sie auf zu fragen, in tiefem Schweigen fuhren sie eine Meile um die andere dahin. Aber als sie an ein Gasthaus kamen, standen Kaffee und neugebackenes Brot für sie bereit, und auf dem Kaffeebrett lagen wieder Blumen. Sie begriff, daß er es so bestellt hatte, als er am vorhergehenden Tag vorbeigekommen war. War das auch nur Güte und Barmherzigkeit? War er gestern froh gewesen? War er seines Entschlusses erst heute überdrüssig geworden, als er sie aus dem Gefängnis kommen sah? Aber morgen, wenn er es wieder vergessen hatte, da würde es schon recht werden!

Brita war weich geworden vor Reue und Demut. Sie wollte ihm keinen neuen Kummer bereiten. Vielleicht, daß er sie doch wirklich — —

Sie blieben in einer Herberge über Nacht, brachen aber früh wieder auf, und gegen zehn Uhr waren sie so weit gekommen, daß sie die Kirche ihres Heimatdorfes sehen konnten. Als sie daran vorüberfuhren, war der Weg voller Kirchgänger, und die Glocken läuteten. »Lieber Gott, es ist Sonntag!« sagte Brita und faltete unwillkürlich die Hände. Sie vergaß alles über dem Wunsch, zur Kirche zu fahren und Gott zu danken.

Das neue Leben, das sie nun ab jetzt führen würde, hätte sie so gern mit einem Gottesdienst in der alten Kirche eingeweiht.

»Ich möchte so gern in die Kirche gehen«, sagte sie zu Ingmar. In diesem Augenblick dachte sie gar nicht daran, daß es ihm schwerfallen könnte, sich dort mit ihr zu zeigen; sie war ganz von Andacht und Dankbarkeit erfüllt. — Ingmar war nahe daran, es ihr rundweg abzuschlagen, er traute sich den Mut nicht zu, den scharfen Blicken und klatschsüchtigen Zungen zu begegnen. »Aber einmal muß es ja doch sein«, dachte er und bog in den Kirchenweg ein. »Es wird immer schlimm sein, wann es auch geschehen mag.«

Als sie den Hügel zur Kirche hinanfuhren, saßen auf dem Steinmäuerchen eine Menge Menschen, die auf den Beginn des Gottesdienstes warteten und indes die Ankommenden betrachteten. Als sie nun Ingmar und Brita erkannten, begannen sie zu flüstern und einander anzustoßen und auf die beiden zu deuten. Ingmar sah Brita an; sie saß mit gefalteten Händen und sah aus, als wüßte sie nicht, wo sie sei. Sie sah die Menschen nicht, aber Ingmar sah sie dafür um so besser, einige davon liefen sogar hinter dem Wagen her. Er wunderte sich nicht darüber, daß sie nachliefen und daß sie ihn anstarrten! Sie wußten nicht, ob sie recht gesehen hatten, denn sie konnten sich natürlich nicht denken, daß er mit ihr, die ihr Kind erwürgt hatte, in Gottes Haus gefahren kommen werde. »Das ist zuviel«, dachte er, »ich ertrage es nicht.«

»Es ist am besten, du gehst gleich in die Kirche, Brita«, sagte er, als er ihr beim Aussteigen half. — »Jawohl«, antwortete sie, denn sie war gekommen, um dem Gottesdienst beizuwohnen, und nicht, um andere Menschen zu treffen. Ingmar ließ sich reichlich Zeit, um das Pferd auszuspannen und zu füttern. Viele Blicke waren auf Ingmar gerichtet, aber niemand redete ihn an. Als er endlich fertig war und in die Kirche ging, saßen die meisten auf ihren Plätzen, und man hatte schon angefangen zu singen. Während er nun den breiten Gang hinaufschritt, schaute er nach der Frauenseite hinüber. Alle Bänke waren besetzt, mit Ausnahme einer einzigen, und in dieser saß nur eine Person. Er sah sogleich, daß es Brita war, und erriet, daß niemand neben ihr sitzen wollte. Er ging noch ein paar Schritte weiter, dann wandte er sich nach der Frauenseite und setzte sich neben Brita. Brita machte große Augen, als er zu ihr trat. Sie hatte vorher gar nichts bemerkt, jetzt aber erriet sie, weshalb sie allein auf der Bank saß. Da verwandelte sich die feierliche Sonntagsfreude, die sie vorhin empfunden hatte, in tiefe Traurigkeit. Was sollte nur daraus werden? Ach, sie hätte nie mit ihm zurückkehren sollen!

Die Tränen traten ihr in die Augen, und um nicht zu weinen, nahm sie ein altes Gesangbuch, das vor ihr lag, und begann darin zu lesen. Sie blätterte die Evangelien samt den Episteln durch, vermochte aber vor lauter Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, kein Wort zu unterscheiden. Da leuchtete plötzlich etwas Hochrotes vor ihren Augen auf; es war ein Buchzeichen mit einem roten Herzen darauf, das zwischen den Blättern lag. Sie nahm es und schob es Ingmar hin.

Sie sah, daß er es in seiner großen Hand hielt und es verstohlen betrachtete. Gleich nachher lag es auf dem Boden. »Was soll aus uns werden, was soll aus uns werden?« dachte Brita und weinte in das Gesangbuch hinein.

Sie verließen die Kirche, sobald der Pfarrer von der Kanzel gestiegen war. Ingmar spannte in aller Eile an, und Brita half ihm dabei. Als der Segen gesprochen und die Schlußverse gesungen waren und die Leute allmählich aus der Kirche strömten, waren Brita und Ingmar schon unterwegs. Beide hatten ungefähr denselben Gedanken. Wer ein solches Verbrechen begangen hat, darf nicht mehr unter anderen Menschen leben. Sie fühlten es alle beide, daß sie da in der Kirche gesessen hatten, als stünden sie am Pranger. »Das können wir beide nicht aushalten«, dachten sie.

Mitten in ihrem Kummer erblickte Brita den Ingmarshof, und sie erkannte ihn fast nicht wieder, so rotleuchtend lag er da. Es fiel ihr ein, daß es immer geheißen hatte, der Hof werde rot angestrichen werden, wenn Ingmar Hochzeit feiere. Und damals war die Hochzeit verschoben werden, weil er das Geld fürs Anstreichen nicht ausgeben wollte. Ach, Brita fühlte, daß er alles recht gut hatte machen wollen, daß es ihm dann aber doch zu schwer geworden war.

Als sie auf den Ingmarshof fuhren, saßen die Bewohner eben beim Mittagessen. »Da ist der Herr«, sagte einer der Knechte und schaute hinaus. Mutter Märta stand auf, hob aber kaum die schläfrigen Augenlider. »Ihr bleibt alle hier«, befahl sie. »Es braucht keiner vom Tisch aufzustehen.«

Die alte Frau ging schwerfällig durch die Stube. Den Leuten, die ihr nachsahen, fiel es auf, daß sie, um noch gebieterischer auszusehen, im Sonntagsstaat war, mit einem seidenen Schal um die Schultern und einem seidenen Tuch auf dem Kopf. Sie stand schon an der Haustür, als der Wagen hielt.

Ingmar sprang schnell ab, aber Brita blieb sitzen. Er ging auf ihre Seite hinüber und knöpfte das Spritzleder auf. »Willst du nicht aussteigen?« — »Nein, ich will nicht.« — Sie war in Tränen ausgebrochen und hielt die Hände vors Gesicht. — »Ich hätte nie zurückkommen sollen«, sagte sie schluchzend. — »Ach, steig jetzt nur aus«, sagte Ingmar. — »Laß mich in die Stadt zurückfahren, ich bin nicht gut genug für dich.« — Vielleicht dachte Ingmar »darin hat sie recht«; er sprach es aber nicht aus, sondern hielt das Spritzleder zurück und wartete. — »Was sagt sie?« fragte Mutter Märta von der Haustüre her. — »Sie sagt, sie sei nicht gut genug für uns«, sagte Ingmar, denn Brita konnte vor lauter Weinen kein deutliches Wort hervorbringen. — »Und warum weint sie?« fragte die Alte. — »Weil ich eine arme Sünderin bin«, schluchzte Brita, die Hände auf das Herz gedrückt; sie meinte, es müsse ihr vor Schmerz brechen. — »Was sagt sie?« fragte die Alte wieder. — »Weil sie eine arme Sünderin ist«, sagt sie, wiederholte Ingmar.

Als Brita hörte, daß er ihre Worte mit kalter, gleichgültiger Stimme wiederholte, ging ihr plötzlich die Wahrheit auf. Nein, er hätte nicht dastehen und ihre Worte der Mutter wiederholen können, wenn er sich etwas aus ihr gemacht, wenn er auch nur die geringste Spur von Liebe für sie gefühlt hätte. Nun brauchte sie nicht mehr zu fragen, sie wußte jetzt, wie sich alles verhielt.

»Warum steigt sie nicht aus?« fragte die Alte.

Nun unterdrückte Brita ihre Tränen und antwortete selbst mit lauter Stimme: »Weil ich Ingmar nicht ins Unglück bringen will.« — »Ich denke, sie hat recht«, sagte die Mutter, »laß sie gehen, Klein-Ingmar. Sonst gehe ich, das mußt du wissen, denn mit so einer schlafe ich nicht eine einzige Nacht unter demselben Dach.«

»Laß uns um Gottes willen von hier fortkommen!« jammerte Brita. — Ingmar stieß einen Fluch aus, wandte den Wagen und sprang hinauf. Er war der ganzen Sache überdrüssig und wollte nicht länger dafür kämpfen.

Als sie wieder auf der Fahrstraße waren, begegneten ihnen jeden Augenblick Leute, die aus der Kirche kamen. Das war Ingmar peinlich, und er bog plötzlich in einen schmalen Waldweg ein, der in früheren Zeiten eine Landstraße gewesen war. Er war steinig und holperig, aber mit einem Einspänner konnte man schon darauf fahren.

Gerade, als er in diesen Weg einbog, rief ihn jemand an. Er sah sich um; es war der Postbote, der ihm einen Brief übergab. Ingmar nahm ihn, steckte ihn in die Tasche und fuhr in den Wald hinein.

Sobald er so weit gekommen war, daß ihn von der Landstraße aus niemand mehr sehen konnte, hielt er an und zog den Brief hervor. In demselben Augenblick legte Brita die Hand auf seinen Arm. »Lies ihn nicht«, sagte sie. — »Soll ich ihn nicht lesen?« — »Nein, er ist es nicht wert.« — »Wie kannst du das wissen?« — »Der Brief ist von mir.« — »Dann kannst du mir ja selbst sagen, was darin steht.« — »Nein, das kann ich nicht.«

Er sah sie an; sie wurde glühend rot, und ihre Augen waren ganz verstört vor Angst. »Ich glaube, ich will den Brief doch lesen«, sagte Ingmar. Er wollte ihn öffnen, aber sie versuchte, ihn ihm zu entreißen. Er widersetzte sich, und es gelang ihm, den Umschlag aufzuschlitzen. —

»Ach du lieber Gott«, jammerte sie, »mir wird doch auch nichts erspart!«

»Ingmar«, flehte sie, »lies ihn in ein paar Tagen, wenn ich abgereist bin.« Er hatte den Brief schon ausgebreitet und begann zu lesen. Sie deckte das Blatt mit der Hand zu. »Höre mich, Ingmar, der Gefängnispfarrer war es, der mich dazu brachte, den Brief zu schreiben, und er versprach, ihn erst abzuschicken, wenn ich schon auf dem Dampfschiff sei. Nun hat er ihn zu früh abgeschickt, und du hast kein Recht, ihn jetzt schon zu lesen. Laß mich nur erst fort sein, bevor du ihn liest.«

Ingmar warf ihr einen zornigen Blick zu, er sprang vom Wagen, um ungestört zu sein, und schickte sich an, den Brief zu lesen. Sie war jetzt in ebenso großer Aufregung wie früher manchmal, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. — »Es ist nicht wahr, was darin steht! Der Pfarrer hat mich dazu überredet! Ich liebe dich nicht, Ingmar!« Mit einem großen, verwunderten Blick schaute er von dem Brief auf. Da verstummte sie, und die Demut, die sie im Gefängnis gelernt hatte, überkam sie von neuem und zwang sie zur Ruhe. Nun, es war ja nicht mehr, als sie verdient hatte.

Ingmar plagte sich mit dem Lesen des Briefes. Plötzlich knitterte er ihn ungeduldig zusammen, und aus seinem Hals drang ein röchelnder Laut. »Ich kann nicht klug daraus werden!« rief er und stampfte auf den Boden. »Es fließt mir alles ineinander.«

Er ging um den Wagen herum, trat zu Brita und faßte sie heftig beim Arm. »Ist das wahr, was da in dem Brief steht, daß du mich liebhast?« Seine Stimme klang zomig und rauh, und er sah schrecklich aus. »Steht in dem Brief, daß du mich liebhast?« wiederholte er heftig. — »Ja«, antwortete sie tonlos.

Er schüttelte ihren Arm und schleuderte ihn weg. — »Du lügst also, du lügst also!« sagte er. Er brach in ein lautes, rohes Gelächter aus, und es verzerrte sein Gesicht gräßlich. »Gott weiß es«, sagte sie feierlich, »daß ich ihn jeden Tag darum gebeten habe, dich vor meiner Abreise noch einmal sehen zu dürfen!« — »Wo willst du denn hin?« — »Ich soll doch nach Amerika.« — »Den Teufel sollst du, ja!«

Ingmar war ganz von Sinnen; er wankte ein paar Schritte in den Wald hinein; hier warf er sich auf den Boden nieder, und nun war die Reihe an ihm, zu weinen. Brita ging ihm nach und setzte sich neben ihn; sie war froh, daß sie es kaum über sich brachte, nicht hell aufzulachen. — »Ingmar, Klein-Ingmar«, sagte sie und nannte ihn bei seinem Kosenamen. — »Du, die mich für so häßlich hält!« — »Ja, das tue ich wahrhaftig!« — Ingmar stieß ihre Hand zurück. — »Laß mich dir alles erklären.« — »Ja, tu das!« — »Erinnerst du dich daran, was du vor drei Jahren bei der Gerichtsverhandlung sagtest?« — »Ja.« — »Daß du mich heiraten wolltest, wenn ich meinen Sinn ändern würde?« — »Ja, ich erinnere mich.« — »Damals begann ich, dich liebzugewinnen, denn ich hätte nie geglaubt, daß irgendein Mensch so etwas sagen könnte. Übermenschlich war es, daß du das zu mir sagen konntest, Ingmar, nach allem, was ich getan hatte. Als ich dich damals ansah, dachte ich, du seist schöner als alle anderen, du seist klüger als alle die anderen und du seist der einzige, mit dem es sich gut leben ließe. Ich gewann dich innig lieb, und ich dachte, du gehörtest zu mir und ich zu dir. Und im Anfang betrachtete ich es als eine ausgemachte Sache, daß du kommen würdest und mich holen; aber später wagte ich nicht mehr, daran zu glauben.«

Ingmar hob den Kopf. »Warum hast du mir nicht geschrieben?«

»Ich habe ja geschrieben.« — »Und batest mich um Verzeihung; das war doch nichts, um darüber zu scheiben.« — »Worüber hätte ich denn sonst schreiben sollen?« — »Über das andere.« — »Hätte ich das tun dürfen, ich?« — »Nun wäre ich beinahe nicht gekommen.« — »Aber Ingmar, ich durfte dir doch keinen Antrag machen, nach allem, was ich dir angetan hatte! Am letzten Tag im Gefängnis schrieb ich dir auch nur, weil der Pfarrer sagte, ich müsse es tun. Er nahm den Brief zu sich und versprach mir, daß du ihn nach meiner Abreise bekommen solltest. Und nun hat er ihn schon abgeschickt.«

Ingmar ergriff ihre Hand, legte sie auf die Erde und schlug darauf. »Ich hätte Lust, dich selbst zu schlagen.« — »Du darfst mir tun, was du willst, Ingmar.« Er schaute ihr in das Gesicht, dem das Leiden eine neue Schönheit verliehen hatte, dann richtete er sich auf und beugte sich über sie. »Es war aber nahe daran, daß ich dich hätte reisen lassen.« — »Du konntest es aber doch nicht unterlassen, zu kommen.« — »Ich muß dir sagen, daß ich dich gar nicht liebhatte.« — »Das verstehe ich recht wohl.« — »Ich war so froh, als ich hörte, daß du nach Amerika solltest.« — »Ja, Vater schrieb, du freutest dich darüber.« — »Wenn ich Mutter ansah, dachte ich, ich könnte ihr eine wie du nicht als Schwiegertochter bringen.« — »Nein, das geht auch nicht, Ingmar.« — »Ich habe deinetwegen so viel Verdruß gehabt; niemand wollte mich mehr ansehen, weil ich so schlecht an dir gehandelt hatte.« — »Ich glaube, jetzt schlägst du mich, Ingmar, wie du vorhin schon sagtest.« — »Ja, kein Mensch kann sich das vorstellen, wie böse ich auf dich bin.«

Sie saß ganz ruhig da. »Wenn ich bedenke, wie es mir nun seit vielen Tagen und Monaten zumute war«, begann er aufs neue. — »Aber Ingmar!« — »Ach, deshalb bin ich nicht böse, aber ich hätte dich ja abreisen lassen können.« — »Hattest du mich nicht lieb, Ingmar?« — »O nein!« — »Auch während der Fahrt nicht?« — »Nicht einen Augenblick! Du warst mir nur zuwider!« — »Wann kam es denn wieder?« — »Als ich den Brief bekam.« — »Ja, ich sah ja wohl, daß es bei dir vorbei war; und deshalb meinte ich, es sei eine Schande für mich, wenn du erfährst, daß es bei mir begonnen hatte.«

Ingmar lachte still vor sich hin. »Was hast du, Ingmar?« — »Ich denke daran, daß wir aus der Kirche geflohen sind und vom Ingmarshof fortgejagt wurden.« — »Und darüber lachst du?« — »Ja, ist es nicht zum Lachen? Wir müssen wohl wie andere Landstreicher auf freiem Feld übernachten. Das sollte der Vater sehen!« — »Jetzt lachst du wohl, Ingmar, aber es geht nicht, es geht nicht, und das ist meine Schuld.« — »Es wird schon gehen«, sagte er, »denn nun kümmere ich mich keinen Pfifferling um jemand anders als um dich.«

Brita war dem Weinen nahe vor lauter Angst, aber er wollte nur immer wieder hören, wie sie an ihn gedacht und sich nach ihm gesehnt hatte. Allmählich beruhigte er sich wie ein Kind, das einem Wiegenlied lauscht. Es war eben alles ganz anders, als Brita es sich gedacht hatte. Sie hatte gedacht, wenn sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis mit ihm zusammenträfe, würde sie sogleich von ihrer Schuld sprechen und ihm sagen, wie sehr diese sie bedrücke und wie schlecht sie selbst sei. Ihm oder der Mutter oder wer auch immer käme, würde sie sagen, daß sie wohl wisse, wie tief sie unter ihnen stehe, und wie sie ja nicht glauben sollten, sie rechne sich ihnen ebenbürtig. Und nun hatte sie von all dem gar nichts zu ihm sagen können.

Da unterbrach er sie plötzlich und sagte leise: »Du möchtest mit etwas sagen.« — »Ja, ich möchte gern.« — »Etwas, woran du immerfort denkst?« — »Ja, Tag und Nacht.« — »So sag es jetzt, dann tragen wir es zu zweien.« Er sah ihr in die Augen, die einen ängstlichen, verstörten Ausdruck hatten, die aber ruhiger wurden, während sie sprach. »Jetzt ist es dir leichter«, sagte er, als sie fertig war. — »Ja, nun ist es mir, als sei es ganz verschwunden«, sagte sie. — »Das kommt daher, daß wir es nun zu zweien tragen. Nun willst du vielleicht nicht mehr fortgehen.« — »Ach nein, ich möchte so gerne bleiben«, sagte sie und faltete die Hände.

»Dann fahren wir jetzt heim«, erklärte Ingmar und stand auf. — »Nein, das wage ich nicht«, sagte Brita. — »Ach, Mutter ist nicht so gefährlich, wenn sie erst begriffen hat, daß man selbst weiß, was man will.« — »Nein, niemals will ich sie aus ihrer Heimat vertreiben. Ich weiß mir keinen anderen Rat, als daß ich nach Amerika reise.« — »Ich will dir etwas sagen«, sagte Ingmar und lächelte geheimnisvoll, »du brauchst keine Angst zu haben, es gibt einen, der uns hilft.« — »Wer ist das?« — »Es ist der Vater, er sorgt schon dafür, daß es geht.«

Da kam jemand auf dem Waldpfad gegangen. Es war Kajsa; aber die beiden erkannten sie kaum, denn sie hatte weder Joch noch Körbe bei sich. — »Guten Tag, guten Tag!« begrüßten sie die Alte; und diese trat zu ihnen und drückte ihnen die Hände. »Ja, hier sitzt ihr, während alle Knechte vom Ingmarshof auf der Suche nach euch sind. — Ihr hattet es so eilig, aus der Kirche herauszukommen«, fuhr die Alte fort, »daß ich euch nicht mehr erreichen konnte, aber ich wollte doch Brita begrüßen, und so ging ich nach dem Ingmarshof, und gleichzeitig mit mir kam auch der Pfarrer, und er trat in die Groß-Stube, ehe ich nur guten Tag zu ihm sagen konnte. Und noch ehe er Mutter Märta die Hand gereicht hatte, rief er ihr zu: ›Jetzt, Mutter Märta, werdet Ihr Freude an Ingmar erleben, jetzt sieht man, daß er vom alten Stamm ist, nun müssen wir anfangen, ihn Groß-Ingmar zu nennen!‹

Mutter Märta sagt ja nie viel, sie stand da und knüpfte nur ihr Kopftuch auf und zu. ›Was sagt der Herr Pfarrer?‹ fragte sie schließlich. — ›Er hat Brita heimgeholt‹, sagte der Pfarrer, ›und glaubt mir, Mutter Märta, dafür wird er geehrt werden, solang’ er lebt.‹ — ›Ach nein, ach nein‹ sagte die Alte. — ›Ich wäre beinahe in der Predigt steckengeblieben, als ich sie in der Kirche sitzen sah, das war eine bessere Predigt, als ich eine halten kann. Ingmar wird uns allen zum guten Beispiel, gerade wie sein Vater es auch war.‹ — ›Das sind schwere Nachrichten, die der Herr Pfarrer bringt‹, sagte Mutter Märta. — ›Ist er denn noch nicht heimgekommen?‹ — ›Nein, er ist nicht daheim, aber sie sind vielleicht zuerst nach Bergskog gefahren.‹«

»Hat Mutter das gesagt?« rief Ingmar. — »Ja, gewiß, und während wir auf euch warteten, schickte sie einen Boten nach dem anderen auf die Suche nach euch.«

Kajsa sprach noch weiter, aber Ingmar hörte nicht mehr, was sie sagte; seine Gedanken waren weit weg. — »Dann trete ich in die Groß-Stube«, dachte er, »wo der Vater mit all den Ingmarssöhnen sitzt. — ›Guten Tag, Groß-Ingmar Ingmarsson‹, sagt Vater und geht mir entgegen. Guten Tag, Vater, und schönen Dank für die Hilfe.« — »Ja, nun machst du eine gute Heirat« sagt Vater, »und dann kommt alles andere von selbst.« — »Ich wäre nie so weit gekommen, wenn Ihr mir nicht beigestanden hättet« sage ich. — »Das war keine Kunst« sagt Vater. »Wir Ingmarssöhne brauchen nur die Wege Gottes zu gehen.«

Erste Abteilung

Beim Schulmeister

In dem Kirchspiel, in dem die alten Ingmarssöhne lebten, war im Anfang der achtziger Jahre kein Mensch, der sich hätte denken können, daß er je einen neuen Glauben annehmen oder einer neuen Art Gottesdienst beiwohnen könnte. Die Leute hatten wohl davon reden hören, daß in den anderen Kirchspielen in Dalarne da und dort Sekten entstanden und daß es Menschen gab, die in die Flüsse und Teiche stiegen, um sich mit der neuen Taufe der Baptisten taufen zu lassen; aber sie lachten alle darüber und sagten: »So etwas paßt vielleicht für die, die in Äppelbo und in Gagnef wohnen, aber das wird nie zu uns kommen.«

Ebenso wie die Leute an anderen alten Gebräuchen festhielten, so hielten sie auch streng darauf, daß man jeden Sonntag in die Kirche ging. Wer kommen konnte, der kam, selbst im Winter bei der allerstrengsten Kälte. Und gerade im Winter war es beinahe notwendig, denn man hätte es nicht aushalten können, bei vierzig Grad Kälte in der ungeheizten Kirche zu sitzen, wenn sie nicht mit Menschen ganz dicht besetzt gewesen wäre.

Aber man darf nicht glauben, daß die Leute so zahlreich kamen, weil man einen so ausgezeichneten Pfarrer hatte. Der Seelsorger, der auf den alten Propst in Groß-Ingmars Jugendzeit folgte, war zwar ein guter Mann, aber niemand hätte von ihm sagen können, daß er eine besondere Gabe habe, das Wort Gottes auszulegen. Zu jener Zeit ging man in die Kirche, um Gott zu ehren, und nicht, um sich an einer schönen Predigt zu erfreuen. Wenn man sich nachher auf der stürmischen Landstraße heimwärts kämpfte, dachte man: »Gott hat es wohl bemerkt, daß du bei diesem kalten Wetter in der Kirche warst.«

Das war es, worauf es ankam, im übrigen aber konnte niemand etwas dafür, wenn der Pfarrer wieder genau dasselbe gesagt hatte, was man ihn, seit er ins Dorf gekommen war, an jedem Sonntag wiederholen hörte.

Aber um die Wahrheit zu sagen, so war der Zusammenhang wohl der, daß die meisten mit dem, was sie zu hören bekamen, vollkommen zufrieden waren. Sie wußten, daß das, was der Pfarrer ihnen vorlas, das Wort Gottes war, und deshalb fanden sie es schön. Nur der Schulmeister und der eine oder andere der alten, klugen Bauern sagten gelegentlich einmal zueinander: »Unser Pfarrer hier hat eigentlich nur eine einzige Predigt. Er spricht beinahe von nichts anderem als von Gottes Versehung und Gottes Lenkung. Das geht noch an, solange die Sekten sich fernhalten; denn gegenwärtig ist diese Festung schlecht verwahrt, und beim ersten Angriff wird sie fallen.«

Es verhielt sich auch in der Tat so, daß die herumreisenden Prediger immer an dem Kirchspiel vorbeizogen. Es nütze nichts, dorthin zu gehen, sagten sie. Die Leute wollten da nichts von einer Erweckung wissen. Die Laienprediger und die Erweckten der Nachbardörfer hielten denn auch die alten Ingmarssons und die übrigen Dorfbewohner für große Sünder, und wenn sie die Kirchenglocken des Dorfes läuten hörten, sagten sie, sie läuteten die Melodie: »Schlafet in euren Sünden, schlafet in euren Sünden!«

Alle im Dorfe, die Kleinen und die Großen, waren sehr aufgebracht, als sie hörten, wie die Leute über ihre Glocken sprachen. Wußten sie doch, daß kein Mensch im ganzen Kirchspiel es versäumte, ein Vaterunser zu beten, wenn die Kirchenglocken läuteten. Und jeden Abend, wenn die Betglocke erklang, wurde in und außer dem Hause jegliche Arbeit unterbrochen; die Männer nahmen die Hüte ab, die Frauen verneigten sich, und alle standen so lange still, als man braucht, um ein Vaterunser zu beten. Und wer je in diesem Dorfe gewohnt hatte, mußte zugeben, nie so deutlich gefühlt zu haben, daß Gott »das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit« gehört, als wenn an den Sommerabenden plötzlich die Sensen ruhten, die Pflüge mitten in den Furchen anhielten und die Erntewagen auf dem Weg zur Scheune stehenblieben, und das alles nur um einiger Glockenschläge willen. Es war, als wüßten die Leute, daß gerade da Gott auf einer Abendwolke über das Dorf hinschwebe, groß und mächtig und gut und Segen über die ganze Gegend ausstreuend.

In diesem Dorf gab es noch keinen Schullehrer, der auf einem Seminar gewesen war, sondern man hatte einen altmodischen Schulmeister, einen Bauern, der sich seine Kenntnisse selbst erworben hatte. Er war ein tüchtiger Mann, der ganz allein mit mehr als hundert Kindern fertig wurde; seit mehr als dreißig Jahren war er nun Schulmeister hier und genoß das größte Ansehen. Der Schulmeister war auch beinahe davon überzeugt, daß er für das Wohl und Wehe des ganzen Dorfes verantwortlich sei, und nun wurde er unruhig, weil man einen Pfarrer hatte, der durchaus nicht predigen konnte. Er verhielt sich indes ruhig, solange in den Dörfern nur von der Einführung einer neuen Taufe die Rede war, aber als er hörte, daß die Reihe nun auch an das Abendmahl gekommen sei und daß die Leute sich da und dort in den Häusern versammelten, um das Abendmahl zu nehmen, konnte er nicht mehr gleichgültig zusehen. Er selbst war arm, aber es gelang ihm, von einigen der ersten Bauern Geld für den Bau eines Missionshauses zu erhalten, »Ihr kennt mich«, sagte er zu ihnen, »ich will nur predigen, um die Leute in dem alten Glauben zu stärken. Denn wohin soll es führen, wenn die Laienprediger uns mit der neuen Taufe und dem neuen Abendmahl überfallen und dann niemand da ist, der den Leuten sagt, was wahre und was falsche Lehre ist?«

Der Schulmeister war beim Pfarrer und bei jedermann sonst recht gut angeschrieben. Er und der Pfarrer gingen sehr oft lange zwischen dem Pfarrhof und der Schule auf und ab, als könnten sie mit dem, was sie einander zu sagen hatten, nie fertig werden. Der Pfarrer kam häufig abends zum Schulmeister, saß dann in der Küche an dem großen Herd und plauderte mit Mutter Stina, des Schulmeisters Frau. Bisweilen kam er sogar jeden Abend. Es war immer so traurig bei ihm daheim, seine Frau lag beständig zu Bett, und so herrschte weder Ordnung noch Gemütlichkeit in seinem Hause.

Es war an einem Winterabend. Der Schulmeister und seine Frau saßen still und ernst neben dem Herd, und in einer Ecke spielte ein zwölfjähriges Mädchen, das Gertrud hieß und die Tochter des Schullehrers war. Sie war ganz hellblond, beinahe weißhaarig, hatte rosige, runde Wangen, sah aber weder so aufgeweckt noch so altklug aus, wie es sonst die Art der Schulmeisterskinder ist.

Der Winkel, in dem sie saß, war ihr Spielkämmerchen. Da hatte sie eine Menge verschiedener Sachen zusammengetragen; kleine Scherben farbigen Glases, zerbrochene Tassen und Teller, runde Steine vom Flußufer, kleine Holzklötze und vielen anderen, ähnlichen Kram.

Nun hatte sie schon lange ruhig weiterspielen dürfen; weder Vater noch Mutter hatten sie gestört. Sie saß auf dem Boden, baute eifrig mit ihren Holzklötzen und Glasscherben und fürchtete nur, an ihre Aufgaben und ihre Arbeit erinnert zu werden. Doch nein, das war herrlich, es sah nicht danach aus, als ob aus der Rechenstunde beim Vater heute abend etwas werden würde.

Sie hatte da in ihrem Winkel eine große Arbeit vor; nämlich nichts weniger, als ein ganzes Dorf zu bauen. Das ganze Kirchspiel samt Kirche und Schule sollte geschaffen werden. Der Fluß und die Brücke mußten auch dabeisein; sie wollte es ganz so machen, wie es war.

Sie hatte auch schon ein großes Stück fertig. Die hohe Bergkette, die das ganze Tal umgab, war aus großen und kleinen Steinen errichtet. In alle Zwischenräume hatte sie kleine Tannenzweige gesteckt, die den Wald vorstellen sollten, und droben gegen Norden ragten zwei spitzige Steine auf, die stellten den Klackberg und den Olofshut vor, die zu beiden Seiten des Flusses einander gerade gegenüberstanden und das ganze Tal beschatteten.

Das runde Tal zwischen den Bergen war mit Erde aus einem der Blumentöpfe der Mutter bedeckt, und soweit war alles recht, aber es gelang ihr nicht, alles so grün und fruchtbar zu machen, wie es sein sollte. Da tröstete sie sich mit dem Gedanken, es sei Frühling, ehe Gras und Getreide aufgegangen seien.

Den Fluß, der breit und schön durch das Kirchspiel floß, hatte sie dagegen mit einem langen, schmalen Glasscherben ganz deutlich angeben können, und die schwankende Floßbrücke, die die beiden Teile des Kirchspiels miteinander verband, lag sehon lange bereit und schwamm auf dem Wasser.

Die abgelegenen Höfe und Weiler hatte sie auch schon durch rote Ziegelstückchen bezeichnet. Weit im Norden, von Äckern und Wiesen umgeben, lag der Ingmarshof, aber der Ort Kolaaos lag ganz im Osten drohen am Bergabhang und das Sägewerk von Bergsaana am weitesten gegen Süden, wo sich der Fluß mit Stromschnellen und Fällen zum Tal hinausdrängte und die Bergkette durchbrach.

Mit dem Äußeren war sie nun eigentlich fertig. Die Landstraßen zogen sich, gut mit Kies und Sand bestreut, zwischen den Höfen hin und den Fluß entlang. Bei den Höfen und um die Häuser herum standen da und dort kleine Bäume. Das Mädchen brauchte nur einen Blick auf sein Gebilde aus Steinen und Erde und Tannenzweiglein zu werfen, und sogleich sah es das ganze Kirchspiel vor sich. Es meinte, es sei über alle Maßen schön.

Ein ums andere Mal hob die kleine Gertrud auch den Kopf, um die Mutter zu rufen und ihr das Wunderwerk zu zeigen, aber sie unterließ es jedesmal, denn sie fand es doch am klügsten, die Eltern nicht an ihre Gegenwart zu erinnern.

Was nun noch zu tun blieb, war das Schwerste von allem, nämlich das Kirchdorf selbst zu bauen, das sich mitten im Kirchspiel zu beiden Seiten des Flusses ausbreitete. Sie mußte die Steine und Glasscherben oftmals verschieben, ehe sie Ordnung in all den Wirrwarr brachte. Das Haus des Schultheißen wollte den Kaufladen auf die Seite drängen, und das des Landrichters fand keinen Platz neben dem des Doktors. Und wie schwer war es schon allein, sich an all das zu erinnern, was da war: die Kirche und der Pfarrhof, die Apotheke und das Postamt, die großen Bauernhöfe mit ihren Wirtschaftsgebäuden, das Wirtshaus, der Hof des Jägermeisters, die Telegraphenstation — — —

Endlich lag das ganze Dorf mit seinen weißen und roten Häusern im Grünen eingebettet da. Nun fehlte nur noch eins.

Sie hatte sich mit all diesem so sehr beeilt, um an den Bau des Schulhauses zu kommen, das ja auch im Ort stehen mußte. Für die Schule brauchte sie sehr viel Platz. Sie sollte sich am Flußufer erheben; ein mächtiges, weißes, zweistöckiges Haus mit einem großen Garten und einer Fahnenstange mitten im Hof.

Ihre besten Klötze hatte sie für die Schule aufgehoben, und doch saß sie lange da und überlegte, wie sie damit zurechtkommen sollte. Am liebsten hätte sie das Schulhaus ganz so gebaut, wie es war; mit einem großen Schulzimmer in jedem Stock und mit der Küche und der Stube, wo sie und die Eltern wohnten.

»Aber das wird bestimmt sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und man wird mich wohl nicht so lange in Frieden lassen«, dachte sie.

Da erklangen Schritte auf dem Flur, jemand stampfte draußen den Schnee von den Schuhen, und sogleich fing das Mädchen wieder zu bauen an. Nun war ja der Pfarrer da und unterhielt sich mit Vater und Mutter, nun hatte sie den ganzen Abend für sich. Und sie begann mit frischem Mut, den Grund zu einem Schulhaus zu legen, das so groß war wie das halbe Dorf.

Die Mutter hatte die Schritte auf dem Flur auch gehört. Sie stand auf und rückte einen alten Lehnstuhl an den Herd. Zugleich wandte sie sich an ihren Mann. »Willst du es ihm heute abend sagen?« — »Ja«, antwortete der Schulmeister, »sobald ich Gelegenheit finde.« Der Pfarrer trat ein, verblasen und erfroren und froh, sich in einer warmen Stube an den Ofen setzen zu können. Er war wie gewöhnlich sehr redselig. Man konnte sich wirklich keinen angenehmeren Mann denken als den Pfarrer, wenn er so kam, um über alles mögliche zu plaudern. Er sprach außerordentlich gewandt und offen über alles, was zu dieser Welt gehörte, und es war kaum zu glauben, daß dies derselbe Mann sein sollte, dem das Predigen so schwer wurde. Redete man mit ihm jedoch über geistige Dinge, so bekam er einen roten Kopf, suchte nach Worten und sagte nie etwas, das des Anhörens wert war, höchstens, wenn er davon sprach, wie Gott regiere.

Als nun der Pfarrer so dasaß, wandte sich der Schulmeister an ihn und sagte erfreut: »Nun muß ich dem Herrn Pfarrer mitteilen, daß ich ein Missionshaus bauen will.«

Der Pfarrer erblaßte, er sank in dem Lehnstuhl, den Mutter Stina für ihn hingestellt hatte, förmlich zusammen.

»Was sagen Sie, Storm?« fragte er. »Soll hier ein Missionshaus gebaut werden? Was wird dann aus der Kirche und aus mir? Sollen wir fort?«

»Die Kirche und den Pfarrer haben wir trotzdem noch recht nötig,«, sagte der Schulmeister entschieden. »Meiner Ansicht nach wird das Missionshaus die Kirche stützen. Es ziehen so viele Irrlehrer im Land umher, daß die Kirche wahrlich einer Hilfe bedarf.«

»Ich glaubte, Sie wären mein Freund, Storm«, sagte der Pfarrer betrübt.

Vor ein paar Augenblicken war er sicher und froh hereingekommen, nun war er auf einmal so zusammengefallen, als sei es aus mit ihm.

Der Schulmeister verstand wohl, warum der Pfarrer so verzweifelt war. Er und jedermann sonst wußte, daß der Pfarrer einst einen ausgezeichneten Lernkopf gehabt, aber in seinen jungen Jahren zu ausgiebig gelebt hatte, bis er schließlich vom Schlag getroffen werden war, von dem er sich nie wieder ganz erholen konnte. Oftmals vergaß er selbst, daß er nur noch eine Ruine von einem Menschen war, aber sooft ihn etwas daran erinnerte, bemächtigte sich seiner eine düstere Verzweiflung.

Nun saß er fast wie tot im Lehnstuhl, und lange wagte niemand ein Wort zu sagen. So dürfe der Pfarrer die Sache nicht auffassen, sagte der Schulmeister endlich und versuchte, so leise und freundlich als möglich zu sprechen.

»Still, Storm«, sagte der Pfarrer, »ich weiß, daß ich kein hervorragender Prediger bin, aber ich hätte nicht geglaubt, daß Sie mir das Amt abnehmen wollten.«

Storm streckte abwehrend die Hände aus, wie um zu sagen, daß so etwas gewiß nicht seine Absicht sei, aber er wagte kein Wort zu sagen.

Der Schulmeister war ein Mann von sechzig Jahren, aber noch in seiner vollen Kraft, trotz aller Arbeit, die er sich auferlegte. Zwischen ihm und dem Pfarrer bestand ein großer Gegensatz. Storm war so groß wie der größte Mann in Dalarne, die Stirn war von schwarzen Locken umrahmt, die Haut so dunkel wie Kupfer und das Gesicht scharf geschnitten. Er sah wie ein Riese aus neben dem Pfarrer, der klein war, mit eingefallener Brust und kahlem Scheitel.

Die Frau Schulmeisterin meinte, daß ihr Mann, weil er der Stärkere sei, auch der Nachgiebige sein müsse. Sie gab ihm ein Zeichen, daß er einlenken solle; aber so betrübt er auch war, so machte er doch keine Miene, von seinem Vorsatz abzustehen.

Der Schulmeister begann nun sehr langsam und deutlich zu sprechen. Er sagte, es werde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis sich das sektiererische Treiben auch in diese Gemeinde eindränge. Und er sagte, man brauche einen Ort, wo man mit dem Volk in einfacherer Weise reden könne, als es sich in der Kirche schicke, einen Ort, wo man sich seinen Text selbst wählen, die ganze Bibel erklären und die Gemeinde über die Bedeutung aller schwierigen Stellen aufklären könne.

Seine Frau machte ihm ein Zeichen, daß er schweigen solle; sie fühlte, wie der Pfarrer bei jedem Wort dachte: »Ich habe also keine Unterweisung gegeben, ich bin kein Schutz gegen den Unglauben gewesen, ich muß wahrlich recht schlecht sein, wenn mein eigener Schullehrer, ein Mann, der nur ein selbstgelehrter Bauer ist, glaubt, daß er besser predigen könne als ich.«

Aber der Schulmeister schwieg nicht, er sprach weiter von all dem, was getan werden müsse, um die Herde zu beschützen, damit die Wölfe nicht über sie herfielen.

»Aber ich sehe gar keine Wölfe«, sagte der Pfarrer.

»Ich weiß, daß sie unterwegs sind«, erwiderte Storm.

»Und Sie, Storm, Sie allein sind es, der ihnen die Tür öffnet.«

Der Pfarrer richtete sich im Lehnstuhl auf; die Worte des Schulmeisters hatten ihn erzürnt; er bekam einen roten Kopf und gewann einen Teil seiner Würde zurück.

»Lieber Storm, lassen Sie uns nicht weiter über die Sadte reden«, sagte er.

Darauf wandte er sich an die Hausmutter und begann mit ihr über die schöne Braut, die sie kürzlich geschmückt hatte, zu scherzen; denn Mutter Stina schmückte alle Bräute des Dorfs zu ihrer Hochzeit. Aber die Bauernfrau verstand, welch furchtbarer Schmerz über sein eigenes Unvermögen in ihm erweckt worden war; sie weinte aus Mitleid und konnte vor lauter Tränen nicht antworten, so daß der Pfarrer die Unterhaltung fast ganz allein führen mußte.

Die ganze Zeit aber dachte der Pfarrer: »Ach, ach, hätte ich doch noch die Kraft und Stärke meiner Jugend! Dann würde ich diesen Bauern bald davon überzeugen, wie schlecht er handelt.«

Plötzlich wandte er sich aufs neue an den Schullehrer. »Wo haben Sie denn das Geld her, Storm?«

»Wir haben eine Gesellschaft gegründet«, antwortete Storm und nannte einige der Bauern, die ihm ihre Hilfe versprochen hatten. Er wollte dem Pfarrer damit beweisen, daß es lauter Leute seien, die weder dem Pfarrer noch der Kirche zu schaden trachteten.

»Ist Ingmar Ingmarsson auch dabei?« fragte der Pfarrer, und es war, als hätte er einen neuen Todesstoß erhalten. »Storm und Ingmar Ingmarsson«, dachte er, »auf diese beiden habe ich vertraut wie auf keinen andern.«

Aber er sagte nichts mehr darüber, sondern wandte sich wieder an die Hausmutter und sprach mit ihr. Er bemerkte wohl, daß sie weinte, tat jedoch, als sehe er es nicht.

Nach einer kleinen Weile fing er aber doch wieder mit dem Schulmeister an:

»Geben Sie es auf, Storm!« bat er. »Geben Sie es um meinetwillen auf. Es würde ihnen auch nicht gefallen, wenn jemand eine Schule neben der Ihrigen errichtete.«

Der Schulmeister schaute zu Boden und überlegte. »Ich kann nicht, Herr Pfarrer«, sagte er dann und versuchte, mutig und ruhig auszusehen.

Der Pfarrer sagte nichts mehr, und wohl zehn Minuten lang war es totenstill im Zimmer.

Dann stand er auf, zog seinen Pelz an, setzte die Mütze auf und ging zur Tür.

Den ganzen Abend hatte er nach Worten gesucht, die Storm beweisen sollten, daß er unrecht tue, und zwar nicht allein ihm, dem Pfarrer, sondern der ganzen Gemeinde, die er mit diesem Unternehmen verderben werde. Und obgleich sich die Worte und Gedanken in seinem Gehirn drängten, so konnte er sie doch nicht aussprechen und keine Ordnung hineinbringen, weil er ein gebrochener Mann war.

Auf dem Weg zur Tür bemerkte er Gertrud, die in ihrer Ecke saß und mit ihren Klötzchen und Glasscherben spielte. Er blieb stehen und sah sie an. Sie hatte offenbar kein Wort von der Unterhaltung gehört, ihre Augen glänzten vor Freude, und ihre Wangen waren röter als gewöhnlich.

Der Pfarrer wurde von dem Gegensatz zwischen dieser großen Sorglosigkeit und seinem eigenen schweren Kummer betroffen, und er trat zu ihr. »Was machst du denn da?« fragte er.

Das Mädchen war längst mit dem ganzen Dorf fertig geworden. Sie hatte es sogar schon zerstört und mit etwas Neuem begonnen.

»Wenn der Herr Pfarrer nur ein klein wenig früher gekommen wäre!« sagte das Kind. »Ich hatte so ein schönes Dorf mitsamt der Kirche und dem Schulhaus.«

»Wo ist es denn nun?«

»Ach, das Dorf habe ich wieder zerstört, und nun bin ich dabei, Jerusalem zu bauen, und — — —«

»Was sagst du?« rief der Pfarrer. »Willst du damit sagen, daß du das Dorf zerstört hast, um Jerusalem zu bauen?«

»Ja«, antwortete Gertrud. »Es war ein sehr schönes Dorf, aber wir haben gestern in der Schule von Jerusalem gehört, und nun habe ich das Dorf zerstört, um dafür Jerusalem zu bauen.«

Der Pfarrer blieb stehen und betrachtete das Kind. Er strich sich über die Stirn, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen. »Es muß wahrlich ein Größerer sein als du, der durch deinen Mund spricht«, sagte er.

Die Worte des Kindes erschienen ihm so merkwürdig, daß er sie einmal übers andere vor sich hin sagte. Während er dies tat, glitt er in seinen gewöhnlichen Gedankengang hinein und begann, sich darüber zu verwundern, wie Gott die Welt regiere und welche Mittel er anwende, um seinen Willen durchzusetzen.

Er trat wieder zum Schulmeister und sagte mit seiner gewöhnlichen freundlichen Stimme und mit einem ganz neuen klaren Ausdruck in den Augen:

»Ich bin nicht mehr böse auf Sie, Storm, Sie tun wohl nur, was Sie tun müssen. Mein Lebtag habe ich darüber nachgedacht, wie Gott die Welt regiert, aber ich bin nie zu einer rechten Klarheit gekommen. Auch dies hier verstehe ich nicht, aber das verstehe ich, daß Sie tun, was Sie tun müssen.«

Sie sahen den Himmel offen

In dem Frühjahr, in dem das Missionshaus gebaut wurde, trat plötzlich Tauwetter ein, und der Fluß schwoll hoch an. Es war erstaunlich, all das Wasser zu sehen, das dieser Frühling brachte. Es regnete vom Himmel herunter, es kam in großen Strömen von den Bergen herabgestürzt, es rieselte aus der Erde heraus, in jedem Wagengeleise und in jeder Pflugfurche stand Wasser. Und alles Wasser vereinte sich mit dem Fluß, der wuchs und wuchs und immer eiliger dahinrauschte. Er war nicht dunkel und klar und ruhig wie gewöhnlich, sondern gelb-grau von all dem erdigen Wasser, das hineinströmte, und wie er nun daherrauschte, voller Balken und Eisschollen, sah er merkwürdig unheimlich und drohend aus.

Im Anfang kümmerten sich die Erwachsenen nicht viel um das Frühjahrshochwasser; nur die Kinder liefen ans Ufer, sobald sie eine freie Stunde hatten, und besahen den rasenden Strom und all das, was er mit sich führte.

Bald waren es auch nicht mehr bloß Balken und Eisschollen; da kam noch ganz anderes! Es kamen Waschbrücken und Badehütten, und eine kleine Weile später kamen Boote und Stücke von zerstörten Floßbrücken.

»Er nimmt wohl bald auch unsere Brücke mit! Ja, ganz gewiß!« sagten die Kinder. Sie waren ein wenig ängstlich, aber die Freude darüber, daß etwas so Merkwürdiges geschehen könnte, überwog.

Plötzlich kam eine große Tanne mit allen Wurzeln und Zweigen dahergesegelt, und hinter ihr schwamm eine Espe mit weißem Stamm; vom Ufer aus konnte man sehen, daß die dicken Zweige große Knospen hatten, die in dem langen Bad aufgequollen waren. Und dicht hinter den Bäumen kam ein kleiner, umgestürzter Heuschuppen. Er war noch mit Heu und Stroh gefüllt und schwamm auf dem Dach wie ein Boot auf seinem Kiel.

Aber als solche Dinge vorbeitrieben, kamen die Erwachsenen auch in Bewegung. Man begriff, daß der Fluß irgendwo weiter nördlich über seine Ufer getreten sein mußte, und eilte zum Strand hinunter mit Stangen und Bootshaken, um Hausgeräte und Gebäude ans Land zu ziehen.

Weit drohen im Norden des Bezirks, wo das Land nur spärlich bebaut war und nur wenige Menschen wohnten, stand Ingmar Ingmarsson allein am Flußufer. Er war nun nahe an sechzig und sah sogar noch etwas älter aus. Das Gesicht war grob geschnitten und gefurcht, der Rücken gebeugt, und er sah noch ebenso unbeholfen und hilflos aus wie früher.

Er stand da und stützte sich auf einen langen, schweren Bootshaken, während er mit trägem und schläfrigem Blick über den Fluß hinschaute.

Der Fluß brauste und schäumte und zog mit all dem, was er von den Ufern geraubt hatte, stolz an ihm vorüber. Es war, als wollte er den Bauern wegen seiner Langsamkeit verhöhnen, und er schien zu sagen: »Du bist nicht der Richtige, um mir von meiner Fracht etwas zu entreißen.«

Ingmar Ingmarsson ließ Floßbrücken und Bootsrümpfe dicht an sich vorüberschwimmen, ohne einen Versuch zu machen, sie herauszuziehen. »Das wird schon drunten im Kirchdorf geborgen werden«, dachte er.

Trotzdem wandte er kein Auge vom Fluß, sondern beobachtete alles, was vorüberkam. Plötzlich erschien ein gutes Stück weiter drohen auf dem Strom etwas leuchtend Gelbes auf ein paar zusammengenagelten Brettern, und er entdeckte es augenblicklich. »Ja, darauf habe ich schon lange gewartet«, sagte er dann laut zu sich selbst. Er konnte noch nicht erkennen, was das Gelbe war, aber für den, der weiß, wie die kleinen Kinder in Dalarne gekleidet sind, war es leicht zu erraten. »Das sind ein paar Kinder, die auf einer Waschbrücke saßen und spielten«, dachte er, »und nicht genug Verstand hatten, ans Land zu gehen, ehe der Fluß sie ergriff.«

Es dauerte auch nicht lange, bis der Bauer sah, daß er recht geraten hatte. Er konnte deutlich drei kleine Kinder in gelben Frieskleidern und gelben, runden Mützen erkennen, die auf dem Fluß dahergesegelt kamen, und zwar auf einer schlecht gezimmerten Brücke, die von der Strömung und von anprallenden Eisstücken allmählich auseinandergerissen wurde.

Die Kinder waren zwar noch weit entfernt, aber Ingmar wußte, daß eine Strömung im Fluß gerade auf die Uferstelle zutrieb, an der er stand. Wenn es nun Gottes Wille war, daß die Brücke, auf der die Kinder saßen, in diese Strömung geriet, dann war es möglich, daß er sie an Land ziehen konnte.

Er stand unbeweglich da und schaute auf den Fluß. Da war es, als habe jemand der Brücke einen Stoß versetzt, sie änderte den Kurs und wandte sich seinem Ufer zu. Die Kinder kamen so nahe, daß er ihre kleinen, angstvollen Gesichter sehen und ihr Weinen hören konnte.

Aber sie waren doch zu weit draußen, als daß er sie vom Ufer aus mit dem Bootshaken hätte erreichen können. Da eilte er hinunter ins Wasser und begann, in den Fluß hinauszuwaten.

Während er dies tat, hatte er ein sonderbares Gefühl; es war ihm, als ob ihm jemand zuriefe: »Du bist kein junger Mann mehr, Ingmar, du setzest vielleicht damit dein Leben aufs Spiel!«

Er besann sich einen Augenblick und überlegte, ob er recht tue, sein Leben zu wagen. Seine Frau, die er einst aus dem Gefängnis geholt hatte, war im letzten Winter gestorben, und seit sie von ihm gegangen war, war er von dem Wunsch beseelt, ihr bald nachzufolgen. Aber andererseits war der Sohn, der den Hof übernehmen sollte, noch nicht erwachsen. Er mußte wohl um des Sohnes willen noch durchhalten.

»Es mag nun jedenfalls gehen, wie Gott will«, sagte er.

Und nun war Groß-Ingmar nicht mehr unbeholfen und langsam. Als er in den brausenden Strom hineinschritt, stieß er beständig die Stange in den Boden, um nicht von der Strömung mit fortgerissen zu werden, und gab genau acht auf die Eisschollen und Balken, die an ihm vorbeischwammen, damit sie ihn nicht umrissen. Und als dann die Brücke kam, stemmte er seine Füße fest in den Flußgrund, streckte den Bootshaken aus und schlug ihn in die Brücke ein.

»Haltet euch gut fest!« rief er den Kleinen zu, denn in demselben Augenblick machte die Brücke eine große Wendung und krachte in allen Fugen. Aber das ärmliche Machwerk hielt, und Groß-Ingmar brachte es aus der schlimmsten Strömung heraus. Dann ließ er es los, denn er wußte, daß es nun von selbst vollends ans Ufer treiben würde.

Wieder stieß er die Stange fest in den Boden und wandte sich, um selbst ans Land zurückzugeben. Aber dabei gab er nicht acht auf einen großen Balken, der dahergesaust kam. Er prallte auf ihn auf und stieß ihn in die Seite gerade unter dem Arm. Es war ein furchtbarer Stoß; der Balken war mit großer Wucht dahergekommen, und Groß-Ingmar schwankte im Wasser hin und her. Aber er stützte sich noch immer auf den Bootshaken und erreichte das Ufer. Als er am Ufer stand, wagte er es kaum, seinen Körper zu befühlen, er meinte, der ganze Brustkasten müsse ihm eingedrückt sein. Sein Mund füllte sich schnell mit Blut. Nun ist es aus mit dir, Groß-Ingmar, dachte er. Er konnte keinen Schritt mehr machen, sondern sank zu Boden.

Die kleinen, geretteten Kinder stießen ein Angstgeschrei aus, so daß Leute herbeikamen und Groß-Ingmar nach Hause geschafft wurde. — — —

Vom Ingmarshof aus wurde der Pfarrer geholt, der dann den ganzen Nachmittag dort blieb. Als er am Abend zurückkam, ging er zu Schulmeisters hinüber. Er hatte im Lauf des Tages Dinge erfahren, über die er einfach noch mit jemand sprechen mußte.

Der Schulmeister und Mutter Stina waren tief betrübt, denn sie hatten schon von Ingmar Ingmarssons Tod gehört. Der Pfarrer dagegen ging mit leichten Schritten dahin, und es lag etwas Freudiges und Klares über ihm, als er bei den beiden eintrat.

Der Schulmeister fragte ihn sogleich, ob er noch zur rechten Zeit gekommen sei. — »Ja«, antwortete der Pfarrer, »aber man hatte mich da nicht nötig.« — »Nicht?« fragte Mutter Stina. — »Nein«, sagte der Pfarrer und lachte geheimnisvoll, »er konnte ebensogut ohne mich fertig werden!«

»Es ist oft recht schwer, an einem Sterbebett zu sitzen«, sagte der Pfarrer. — »Jawohl, jawohl«, stimmte der Schulmeister bei. — »Ja, und besonders, wenn es der erste Mann im Dorf ist, der stirbt.« — »Jawohl.« — »Aber es kann auch ganz anders sein, als man sich gedacht hat.«

Hierauf schwieg der Pfarrer eine Weile und sah geradeaus, seine Augen leuchteten etwas heller als sonst hinter der Brille.

»Haben Sie, Storm, oder Sie, Mutter Stina, auch von dem merkwürdigen Erlebnis gehört, das Groß-Ingmar in seiner Jugend gehabt hat?« fragte der Pfarrer. — Der Schulmeister antwortete, daß man ja allerlei von Groß-Ingmar gehört habe. — »Jawohl, aber dies ist das Allermerkwürdigste; ich habe es erst heute droben auf dem Ingmarshof gehört.

Groß-Ingmar hat einen guten Freund, der ein Häusler auf seinem Hof ist«, fuhr der Pfarrer fort. — »Ja, das weiß ich«, sagte der Schulmeister. »Er heißt Ingmar, und die Leute nennen ihn Stark-Ingmar, um einen Unterschied zwischen den beiden zu machen.« — »Ja, der ist es«, sagte der Pfarrer, »der Vater nannte ihn Ingmar aus Hochachtung für seinen Herrn.

Aber da geschah es einmal, als Groß-Ingmar noch jung war — es war im Sommer und an einem Samstagabend, und er und sein Freund Stark-Ingmar hatten eben Feierabend gemacht —, daß sie ihre Sonntagskleider anzogen und ins Kirchdorf hinuntergingen, um sich einen recht vergnügten Abend zu machen.«

Der Pfarrer hielt inne und dachte nach. »Ich kann mir denken, welch ein herrlicher Abend das gewesen sein muß«, sagte er; »ganz still und klar, ein Abend, an dem Erde und Himmel die Farbe vertauschen, so daß der Himmel in ein helles Grün übergeht und die Erde sich mit einem leichten Nebel bedeckt, der allem ein weißes oder bläuliches Aussehen verleiht.

Aber als Groß-Ingmar und Stark-Ingmar ins Dorf kamen und über die Brücke gehen wollten, war es ihnen, als ob jemand zu ihnen sagte, sie sollten die Augen aufheben. Das taten sie, und da sahen sie den Himmel offen über sich. Das ganze Himmelsgewölbe war wie ein Vorhang auf die Seite geschoben, und die beiden standen Hand in Hand und sahen in die Herrlichkeit des Himmels hinein.

Haben Sie ie so etwas gehört, Mutter Stina, oder Sie, Storm?« fragte der Pfarrer. »Die beiden, Groß-Ingmar und Stark-Ingmar, standen da auf der Brücke und sahen den Himmel offen.

Sie haben eigentlich niemals mit jemand darüber gesprochen, was sie gesehen hatten, sondern nur zu ihren Kindern und nächsten Anverwandten gesagt, daß sie einmal dagestanden und den Himmel offen gesehen hätten. Kein Fremder hat es je früher erfahren, und es ist ihr größter Schatz und ihr Heiligtum gewesen, daß sie des Himmels Herrlichkeit gesehen hatten.«

Wieder schaute der Pfarrer eine Weile zu Boden, dann seufzte er tief auf. »Ich habe noch nie so etwas gehört«, sagte er, und seine Stimme bebte ein wenig, als er fortfuhr: »Ich hätte gern mit Groß-Ingmar und Stark-Ingmar dort auf der Brücke gestanden und den Himmel offen gesehen.

Heute nun, sobald man Groß-Ingmar auf den Hof geschafft hatte«, sagte der Pfarrer, »befahl er, daß man Stark-Ingmar holen sollte; das tat man sofort, und gleichzeitig schickte man auch nach dem Doktor und nach mir. Aber Stark-Ingmar war nicht daheim. Er war weit droben im Wald beim Baumfällen und nicht leicht zu finden. Man schickte einen Boten nach dem andern aus, und Groß-Ingmar war sehr besorgt, daß er ihn vor seinem Tode nicht mehr sehen würde.

Es dauerte sehr lange; ich kam, und der Doktor kam, aber Stark-Ingmar war nicht zu finden.

Groß-Ingmar kümmerte sich nicht viel um uns andere; er war dem Tode nahe. ›Nun sterbe ich bald, Herr Pfarrer‹, sagte er. ›Wenn ich doch nur Ingmar vorher noch sehen könnte.‹

Er lag auf dem breiten Bett in der Kammer, und die schönste Decke, die sie hatten, war über ihn gebreitet worden. Er lag mit offenen Augen da und schaute die ganze Zeit nach etwas aus, das weit entfernt war und das kein anderer sah. Die drei geretteten Kinder hatte man zu ihm aufs Bett gehoben, sie saßen zusammengekauert und ruhig zu seinen Füßen. Wenn er dazwischen einmal die Blicke von dem abwandte, was er in weiter Ferne sah, fielen sie auf die Kinder, und dann ging ein Strahlen über sein ganzes Gesicht.

Schließlich hatte man den Häusler doch gefunden, und Groß-Ingmar schaute lächelnd vor sich hin, als er Stark-Ingmars schwere Schritte in der Groß-Stube vernahm.

Als der Mann an sein Bett trat, ergriff der Kranke seine Hand und streichelte sie sachte; dann fragte er ihn:

›Weißt du noch, du, Stark-Ingmar, wie wir da drunten auf der Kirchenbrücke standen und den Himmel offen sahen?‹

›Ja, wahrlich weiß ich es noch, wie wir beide in den Himmel hineinsahen‹, antwortete Stark-Ingmar.

Da wandte sich Groß-Ingmar ganz zu ihm hin; er lächelte, und sein Gesicht strahlte, als habe er die größte Freude zu verkünden. — ›Ich gehe nun dorthin‹, sagte er dann zu Stark-Ingmar.

Da beugte sich der Häusler vor und sah ihm tief in die Augen. ›Und ich komme nach‹ sagte er. Groß-Ingmar nickte ihm zu. ›Aber du weißt, daß ich nicht kommen kann, ehe dein Sohn von der Wallfahrt zurück ist.‹

›Ja, das weiß ich‹, sagte Groß-Ingmar und nickte ihm zu.

Nachdem er dies gesagt hatte, tat er noch ein paar tiefe Atemzüge, und dann war er tot.«

Die Schulmeistersleute stimmten mit dem Pfarrer überein, daß dies ein schöner Tod sei. Alle drei saßen lange Zeit still da.

»Aber«, sagte Mutter Stina plötzlich, »was meinte denn Stark-Ingmar mit dem, was er von der Wallfahrt gesagt hat?«

Ein wenig verwirrt sah der Pfarrer auf. »Ich weiß es nicht, Groß-Ingmar starb gleich nachher, und ich habe noch nicht Zeit gehabt, darüber nachzudenken«, sagte er und versank in Gedanken. »Es waren recht merkwürdige Worte, da haben Sie recht, Mutter Stina.«

»Der Herr Pfarrer weiß doch, daß es heißt, Stark-Ingmar könne in die Zukunft sehen.«

Der Pfarrer strich sich nachdenklich über die Stime, wie um seine Gedanken zu ordnen. »Es gibt nichts Merkwürdigeres, als wenn man bedenkt, wie Gott die Welt regiert«, sagte er dann. »Nein, es gibt nichts Merkwürdigeres auf der Welt.«

Karin Ingmarstochter

Es war an einem Vormittag im Herbst. Die Schule hatte angefangen, aber es war gerade Vormittagspause. Der Schulmeister und Gertrud traten in die Küche; sie setzten sich an den Tisch, und Mutter Stina schenkte ihnen Kaffee ein.

Ehe sie ihre Tassen geleert hatten, bekamen sie Besuch.

Es war Halver Halvorsson, ein junger Bauer, der einen Kaufladen im Kirchdorf eröffnet hatte. Er stammte vom Timshof und wurde deshalb meistens Tims Halvor genannt. Er war ein großer, hübscher Mensch, sah aber niedergeschlagen aus. Mutter Stina bot ihm auch Kaffee an; er setzte sich, an den Tisch und begann ein Gespräch mit dem Schulmeister.

Die Hausmutter saß auf dem Kanapee am Fenster und strickte. Sie saß so, daß sie auf die Straße hinausschauen konnte. Auf einmal wurde sie ganz rot im Cesicht und beugte sich vor, um besser zu sehen. Aber sie versuchte sofort, wieder ruhig auszusehen, und sagte gleichgültig: »Ich glaube, wir bekommen vornehmen Besuch.« Der Kaufmann hörte, daß ein ungewohnter Ton in ihrer Stimme lag; er stand auf und sah hinaus. Da sah er eine große, etwas vorgebeugte Frau mit einem halbwüchsigen Jungen auf die Schule zukommen.

»Wenn ich nicht falsch sehe, so ist es Karin Ingmarstochter«, sagte Mutter Stina. — »Ja, gewiß ist es Karin«, sagte der Kaufmann. Er sagte nichts weiter, sondern wandte sich vom Fenster ab und sah sich in der ganzen Stube um, als spähe er nach einem Ausgang. Aber dann ging er ruhig an seinen alten Platz zurück.

Die Sache verhielt sich nämlich so, daß im vergangenen Sommer, als Groß-Ingmar noch lebte, Halvor um Karin Ingmarstochter gefreit hatte. Er hatte zwar schon viel früher um sie geworben, aber es hatte viele Wenn und Aber gegeben. Das alte Geschlecht hatte nicht gewußt, ob er gut genug sei, und zwar nicht um des Geldes willen, denn Halvor war reich, sondern weil sein Vater dem Trunk ergeben gewesen war, und man fürchtete, dies könnte sich vererben. Schließlich aber war es doch bestimmt werden, daß er Karin bekommen sollte.

Der Hochzeitstag war festgesetzt und das Aufgebot beim Pfarrer bestellt, aber ehe das Brautpaar zum erstenmal von der Kanzel verkündet wurde, machten Karin und Halvor eine Reise nach Falun, um die Eheringe und das Gesangbuch zu kaufen. Sie waren drei Tage fort, und als sie zurückkamen, erklärte Karin ihrem Vater, sie könne Halvor nicht heiraten. Sie konnte sich über nichts weiter beklagen, als daß sich Halvor während der Reise einmal betrunken hatte, und deshalb fürchtete sie, er könnte wie sein Vater werden. Groß-Ingmar sagte, er werde seine Tochter nicht zwingen, und so wurde Halvor verabschiedet.

Aber Halvor war ganz außer sich. »Du tust mir eine Schmach an, die ich nicht ertragen kann«, sagte er zu Karin. »Was müssen die Leute von mir denken, wenn du mich so verwirfst? So darf man nicht mit einem ehrenhaften Mann umgehen.«

Aber Karin ließ sich nicht erweichen, und Halvor war seither mißmutig und unglücklich gewesen; er konnte das Unrecht, das ihm die Ingmarssöhne angetan hatten, nicht vergessen.

Und da kam nun Karin, und hier saß Halvor. Was sollte jetzt daraus werden?

Soviel war gewiß, daß von einer Versöhnung keine Rede sein konnte, denn seit dem vorigen Herbst war Karin mit Eljas Elof Ersson verheiratet. Sie und ihr Mann wohnten auf dem Ingmarshof und verwalteten ihn, seit Groß-Ingmar im Frühjahr gestorben war. Groß-Ingmar hatte fünf Töchter und einen Sohn hinterlassen, aber der Sohn war noch zu jung, um den Hof zu übernehmen.

Jetzt trat Karin in die Küche. Sie war erst Anfang der Zwanzig, aber sie hatte gewiß nie richtig jung ausgesehen. Von vielen anderen Leuten wäre sie wohl für häßlich erklärt werden, denn sie schlug ihrem Geschlecht nach, hatte schwere Augenlider, rötliches Haar und einen strengen Zug um den Mund; aber den Schulmeistersleuten gefiel es, daß sie den alten Ingmarssöhnen ähnlich sah.

Karin verzog keine Miene, als sie Halvor erblickte, sondern ging langsam und ruhig von einem zum andern, um sie zu begrüßen. Als sie Halvor die Hand reichte, streckte er die seinige nur so weit vor, daß sich ihre äußersten Fingerspitzen berührten.

Karin hatte immer eine etwas vorgebeugte Haltung, und als sie nun zu Halvor trat, schien sie den Kopf noch tiefer zu senken als für gewöhnlich, aber Halvor stand aufrechter und größer da, als es sonst seine Art war.

»So, Ihr seid also heute unterwegs, Karin?« sagte Mutter Stina zu ihr und rückte den pfarrherrlichen Lehnstuhl für sie herbei.

»Ja«, antwortete sie, »die Wege sind jetzt nicht mehr so schlecht, seit es gefroren hat.« — »Ja, es hat heute nacht fest gefroren«, sagte der Schulmeister.

Aber danach wurde es still in der Stube, keines wußte noch etwas zu sagen, und die Stille währte mehrere Minuten.

Dann erhob sich Halvor, und die andern fuhren auf, als erwachten sie aus einem tiefen Schlaf.

»Nun muß ich in meinen Laden zurück«, sagte er. — »Ach, es wird wohl keine so große Eile haben«, sagte Mutter Stina. — »Ich werde Halvor doch nicht etwa vertreiben«, sagte Karin, und ihre Stimme klang sehr demütig, als sie dies sagte.

Sobald sich Halvor entfernt hatte, war der Bann gebrochen, und der Schulmeister wußte sofort, wovon er reden sollte. Er betrachtete den Jungen, der mit Karin gekommen war und den vorher niemand beachtet hatte. Es war ein kleiner Bursche, der nicht viel älter sein konnte als Gertrud. Er hatte ein offenes, weiches Kindergesicht, aber zugleich auch etwas Altkluges, und es war nicht schwer zu erraten, welchem Geschlecht er angehörte.

»Mir scheint, Ihr bringt mir einen Schüler, Karin«, sagte der Schulmeister. — »Es ist mein Bruder, er ist jetzt der Ingmar Ingmarsson«, antwortete Karin. — »Er ist freilich etwas klein für diesen Namen«, bemerkte der Schulmeister. — »Ja, Vater starb viel zu früh« — »Das ist ein wahres Wort«, sagten der Schulmeister und seine Frau wie aus einem Mund.

»Er ist in die Lateinschule in Falun gegangen«, sagte Karin. »Deshalb ist er nicht früher hierher zum Herrn Schulmeister gekommen.« — »Könnt Ihr es denn nicht einrichten, daß er jetzt im Herbst auch wieder dorthin kommt?« — Karin senkte die schweren Augenlider und seufzte tief, gab aber keine Antwort. »Es heißt, er lernt recht gut«, sagte sie dann. — »Ja, ich fürchte nur, daß er hier bei mir nichts mehr lernen kann. Er weiß gewiß ebensoviel wie ich selbst.« — »Ach, ich weiß, daß der Herr Schulmeister mehr weiß als so ein kleiner Bursche.«

Wieder trat eine Stille ein, bis Karin aufs neue begann. »Ich meine nicht nur, daß er hier in die Schule gehen soll, ich möchte den Herrn Schulmeister und Mutter Stina auch fragen, ob er hier wohnen darf.«

Der Schulmeister und seine Frau sahen einander betroffen an, und keines wußte etwas zu antworten. — »Aber wir haben ja selbst so wenig Platz«, sagte Storm schließlich.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht Butter und Milch und Eier statt Bezahlung geben.« — »Ach, was das anbelangt…« —

»Es wäre ja eine sehr große Gefälligkeit«, sagte die reiche Bäuerin.

Aber Mutter Stina begriff, daß Karin sie nicht um etwas so Außerordentliches bitten würde, wenn sie die Hilfe nicht dringend nötig hätte. Deshalb entschied sie die Sache rasch.

»Ihr braucht uns nicht länger darum zu bitten«, sagte sie. »Für die Ingmarssöhne tun wir alles, was wir können.«

»Ich danke Euch«, sagte Karin.

Mutter Stina und Karin sprachen dann noch lange miteinander darüber, wie Ingmar es haben solle, Storm aber nahm Ingmar mit ins Schulzimmer hinauf. Dort setzte sich dieser auf die Bank neben Gertrud. Am ganzen ersten Tag sprach er nicht ein einziges Wort.

Tims Halvor hielt sich eine ganze Woche lang vom Schulhaus fern, als fürchte er, dort wieder mit Karin zusammenzutreffen. Aber eines Vormittags, als es in Strömen regnete und keine Kunden zu erwarten waren, überfiel ihn tiefe Niedergeschlagenheit. »Ich tauge zu gar nichts, niemand hat Achtung vor mir«, dachte er in dieser selbstquälerischwen Art, die ihm zur Gewohnheit geworden war, seit Karin die Verlobung aufgelöst hatte.

Endlich entschloß er sich, zu Mutter Stina hinüberzugehen, um mit einem frohen und freundlichen Menschen ein wenig zu plaudern.

Er verschloß seinen leeren Kaufladen, knöpfte seinen Mantel fest zu und arbeitete sich durch Regen und Wind und pattschende Wasserlachen zum Schulhaus durch.

Halvor fühlte sich so wohl im Schulhaus, daß er noch dasaß, als es zur Vormittagspause läutete und Storm mit den zwei Kindern zum Kaffee hereinkam.

Sie begrüßten ihn alle drei, und Halvor stand vor dem Schulmeister auf, aber als Ingmar ihm die Hand reichen wollte, hatte er sich schon wieder gesetzt und sprach so eifrig mit Mutter Stina, daß er den Jungen gar nicht zu bemerken schien. Ingmar blieb einen Augenblick ganz ruhig stehen, dann trat er an den Tisch und setzte sich. Er seufzte ein paarmal, ganz wie seine Schwester letzthin, als sie hier gesessen hatte.

»Halvor will uns seine neue Uhr zeigen«, sagte Mutter Stina. Darauf zog Halvor eine neue silberne Uhr aus der Tasche und zeigte sie. Sie war sehr schön, ganz klein und mit einer vergoldeten Blume auf dem Deckel. Der Schulmeister machte die Uhr auf, ging dann in die Schule hinüber und holte ein Vergrößerungsglas, klemmte es in das Auge und betrachtete das Uhrwerk genau. Er war ganz entzückt davon, blieb lange davor stehen und hatte große Freude daran, zu sehen, wie die Räder ineinandergriffen. Noch nie habe er eine so gute Arbeit gesehen, meinte er. Endlich gab er Halvor die Uhr zurück, und dieser steckte sie wieder ein, sah aber weder so vergnügt noch so stolz aus, wie die Leute es sonst zu sein pflegen, wenn man das lobt, was sie sich angeschafft haben.

Ingmar schwieg, während er aß, aber als er seine Kaffeetasse ausgetrunken hatte, fragte er Storm, ob er sich auf Uhren verstehe. — »Ja«, antwortete der Schulmeister, »du weißt doch, daß ich mich auf alles verstehe.«

Da zog Ingmar eine Uhr aus seiner Westentasche; es war eine große, runde, silberne Zwiebel, häßlich und klobig, besonders jetzt, wo man eben Halvors neue Uhr gesehen hatte. Die Kette, an der die Uhr hing, war ebenfalls häßlich und plump. Auf dem Deckel war keine Verzierung, sondern nur eine große Beule. Die Uhr war überhaupt nicht mehr viel wert; das Glas fehlte über den Zeigern, und das Email auf dem Zifferblatt war ebenfalls schadhaft.

»Sie steht«, sagte der Schulmeister und hielt sie ans Ohr. — »Ja«, sagte der Junge, »ich möchte auch nur wissen, ob man sie wieder instandsetzen kann.«

Der Schulmeister öffnete die Uhr, und da rasselte es in ihr, als ob alle Räder lose wären. »Du hast wohl Nägel mit dieser Uhr eingeschlagen«, sagte er, »der kann ich nicht mehr helfen.« — »Meinen Sie, daß der Uhren-Erich ihr helfen könnte?« — »Ebensowenig wie ich, das beste wäre, sie nach Falun zu schicken und ein neues Werk einsetzen zu lassen.« — »Ja, das dachte ich auch schon«, sagte Ingmar und steckte die Uhr wieder ein.

»Was hast du nur mit der Uhr gemacht?« fragte der Schulmeister. Der Junge saß da und schluckte, als ob ihm das Weinen nahe sei.

»Es ist Vaters Uhr«, sagte er. »Sie wurde so zugerichtet, als der Balken den Vater traf.« Nun wurden plötzlich alle ganz still und aufmerksam, Ingmar aber überwand sich und fuhr fort:

»Wir hatten gerade Osterferien, so daß ich daheim war, als es geschah, und ich war der erste, der an den Fluß zu Vater hinunterkam. Da lag Vater und hielt die Uhr in der Hand. ›Nun ist es aus mit mir, Ingmar‹, sagte er, ›es tut mir leid, daß die Uhr entzwei ist, denn ich möchte, daß du sie jemand gibst, dem ich einmal unrecht getan habe, und daß du ihn von mir grüßest.‹ Dann sagte er mir, wer die Uhr haben sollte.

Er gebot mir, dafür zu sorgen, daß sie in Falun hergerichtet werde, ehe ich sie dem, der sie bekommen sollte, gebe. Aber ich kam ja gar nicht mehr nach Falun, und nun weiß ich nicht, was ich tun soll.«

Der Schulmeister dachte sogleich darüber nach, ob er nicht jemand wisse, der in der nächsten Zeit in die Stadt reisen würde, aber Mutter Stina fragte den Jungen:

»Wer ist es, Ingmar, der die Uhr haben soll?« — »Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf«, sagte der Junge. — »Ist es nicht Tims Halvor, der hier sitzt?« — »Ja, der ist es«, antwortete Ingmar leise. — »Dann gib Halvor die Uhr so, wie sie ist«, sagte Mutter Stina, »das wird ihm am liebsten sein.« Ingmar stand gehorsam auf, nahm die Uhr, fuhr mit dem Rockärmel ein paarmal darüber hin, um sie so schön wie möglich zu machen, und ging dann mit langen Schritten zu Halvor hin. — »Ich soll dich von Vater grüßen und dir dies geben«, sagte er und reichte ihm die Uhr.

Halvor hatte die ganze Zeit still und düster dagesessen, und als der Junge nun mit der Uhr zu ihm trat, legte er die Hand über die Augen, als wollte er nichts sehen. Ingmar stand geraume Zeit vor ihm und hielt ihm die Uhr hin. Schließlich schaute er die Hausmutter an, als ob er sie um Hilfe bäte. — »Selig sind die Friedfertigen«, sagte diese. Da machte Halvor eine Bewegung mit der Hand, wie um die Uhr zurückzuweisen. Aber nun versuchte auch der Schulmeister, sich ins Mittel zu legen. — »Ich meine, Ihr könntet keine bessere Genugtuung verlangen, Halvor«, sagte er, »und ich habe immer gesagt, daß Ingmar Ingmarsson, wenn er am Leben geblieben wäre, Euch längst die Ehrenrettung hätte zuteil werden lassen, die Ihr verdient habt.«

Nun sahen die übrigen Anwesenden, daß Halvor mit der Hand, die er nicht vor die Augen hielt, fast widerwillig die Uhr ergriff und an sich nahm. Gleich darauf schob er sie unter Rock und Weste und versteckte sie dort.

»Diese Uhr entreißt ihm niemand mehr«, sagte der Schulmeister lachend, als er sah, wie fest Halvor Wams und Rock zuknöpfte. — Halvor lachte auch. Dann stand er auf, reckte sich und tat einen tiefen Atemzug. Ein helles Rot überzog seine Wangen, und mit großen, glänzenden Augen schaute er sich um. — »Ich glaube, Halvor ist so zumut’, als hätte man ihm ein neues Leben geschenkt«, sagte die Schulmeisterin.

Nun zog Halvor seine eigene neue Uhr aus dem Wams und trat auf Ingmar zu, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte.

»Nachdem ich nun die Uhr deines Vaters von dir angenommen habe, mußt du diese hier von mir annehmen‘«, sagte er.

Mit diesen Worten legte er die Uhr auf den Tisch und verließ ohne ein Wort des Abschieds die Stube. Den ganzen Tag trieb er sich draußen umher. Ein paar Bauern, die gekommen waren, um bei ihm ihre Einkäufe zu machen, warteten vom Mittag bis zum Abend vor dem verschlossenen Laden, aber kein Tims Halvor ließ sich blicken.

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Elof Ersson vom Eljashof, der Karin Ingmarstochter geheiratet hatte, war der Sohn eines Geizhalses. Er hatte es sehr schlecht bei seinem Vater gehabt. Als Kind hatte er sich kaum satt essen dürfen, und auch als erwachsener junger Mann wurde er noch immer unterdrückt. Der Alte jagte ihn unaufhörlich an die Arbeit, nie durfte er auf den Tanzboden gehen, und selbst am Sonntag hatte er keine Ruhe. Und auch nachdem Eljas Elof schließlich geheiratet hatte, war er nicht sein eigener Herr, denn da mußte er auf den Ingmarshof ziehen und hatte den Schwiegervater über sich. Und auf dem Ingmarshof kannte man auch nichts als Arbeit und Sparsamkeit. Aber solange Ingmar Ingmarsson lebte, schien Eljas Elof ganz zufrieden zu sein, er plagte sich vom Morgen bis zum Abend und verlangte nichts Besseres. Es hieß allgemein, nun hätten die Ingmarsleute einen Schwiegersohn nach ihrem Herzen bekommen, denn Elof Ersson wisse nicht, daß es außer der Arbeit noch etwas anderes auf der Welt gäbe.

Aber sobald Groß-Ingmar tot war, fing der Schwiegersohn das Trinken an und begann auch sonst ein wildes Leben zu führen. Er machte mit allen leichtsinnigen Burschen des Kirchspiels Bekanntschaft, lud sie auf den Ingmarshof ein oder trieb sich mit ihnen in Spielstuben oder Wirtshäusern umher. Er versäumte die Arbeit vollständig und betrank sich jeden Tag. In kurzer Zeit wurde er ein regelrechter Trunkenbold.

Als seine Frau Karin ihn zum erstenmal betrunken sah, wurde sie wie versteinert. »Das ist die Strafe Gottes, weil ich Halvor unrecht getan habe«, dachte sie sogleich.

Ihrem Mann machte sie nicht viel Vorwürfe und hielt ihm auch keine Strafpredigten. Sie sah bald, daß er ein Baum war, dem die Axt schon an die Wurzel gelegt war, und daß sie von ihm nie Schutz oder Schirm zu erwarten hatte.

Aber Karins Schwestern waren nicht so klug wie sie. Sie empfanden das ausschweifende Leben des Schwagers als eine Schande und waren unglücklich darüber, daß man vom Ingmarshofe bis auf die Straße hinaus Lärmen und Trinklieder hörte. Bald verspotteten, bald ermahnten sie ihn, und obgleich der Schwager im Grunde ein gutmütiger Mensch war, geriet er doch bisweilen in heftigen Zorn. So gab es viel Unfrieden im Haus.

Nun dachte Karin nur daran, ihre Schwestern aus dem Hause zu schaffen, damit diese von dem Elend, in dem sie selbst lebte, befreit würden. Im Lauf des Sommers feierte sie die Hochzeit der beiden ältesten, die beiden jüngsten aber schickte sie nach Amerika, wo sie reiche Verwandte hatten.

Allen Schwestern wurde ihr Erbteil, das sich auf zwanzigtausend Kronen belief, ausbezahlt. Karin selbst hatte den Hof bekommen, aber es war bestimmt, daß der junge Ingmar mit seinen zwanzigtausend Kronen den Hof einlösen sollte, sobald er mündig wäre, und dann sollten Karin und Eljas Elof ihren Wohnsitz anderswo aufschlagen.

Es war merkwürdig, daß Karin, die so unentschlossen und schüchtern aussah, die Kraft hatte, nicht allein so viele Vögel aus dem Nest hinauszusenden, sondern ihnen auch noch Männer und Aussteuern und Fahrkarten nach Amerika zu verschaffen. Denn sie mußte dies alles allein besorgen; von ihrem Mann hatte sie nicht die geringste Hilfe.

Aber wer Karin am meisten Sorge machte, das war ihr Bruder, er, der nun Ingmar Ingmarsson war. Dieser trat Karins Mann schärfer entgegen als eines der anderen Geschwister, und zwar tat er es nicht mit Worten, sondern mit der Tat. Einmal goß er allen Branntwein aus, den Eljas Elof ins Haus geschafft hatte, und ein anderes Mal ertappte ihn der Schwager dabei, wie er seine Getränke mit Wasser verdünnte.

Als es Herbst wurde, wollte Karin, daß Ingmar, wie schon seit mehreren Jahren, wieder in die Lateinschule nach Falun gehen sollte, aber ihr Mann, der Ingmars Vormund war, schlug es rundweg ab.

»Ingmar soll ein Bauer werden wie ich und sein Vater und mein Vater«, sagte Eljas Elof. »Was soll er in der Lateinschule? Im Winter gehen er und ich in den Wald und setzen Kohlenmeiler, das ist die beste Gelehrsamkeit, die er erwerben kann. Als ich so alt war wie er, schlief ich den ganzen Winter hindurch in der Kohlenbrennerhütte.«

Karin konnte ihn nicht bewegen, seine Ansicht zu ändern, sondern mußte sich darein finden, daß Ingmar auf dem Hof verblieb.

Eljas Elof gab sich nun alle Mühe, Ingmar zu gewinnen. Besonders nahm er ihn jetzt oft mit, wenn er ausfuhr. Der Junge tat es nur ungern, denn er wollte nicht an den Trinkgelagen des Schwagers teilnehmen. Aber dann versprach der andere hoch und heilig, daß er gewiß nicht weiterfahren werde als bis zur Kirche oder bis zum Kaufladen; wenn er jedoch Ingmar erst sicher auf dem Wagen hatte, fuhr er weit fort, zu den Schmieden beim Gut Bergsaana oder ins Wirtshaus in Karmsund.

Karin freute sich darüber, daß der Mann den Jungen mitnahm. Sie betrachtete es als eine gewisse Sicherheit dafür, daß er nicht in einem Straßengraben liegenbleiben oder das Pferd zuschanden fahren werde.

Aber einmal, als Eljas erst morgens um acht Uhr heimkam, saß Ingmar neben ihm auf dem Wagen und schlief fest.

»Komm und hilf mir, ihn hineintragen«, sagte Eljas zu Karin. »Der Junge hat sich betrunken und kann weder stehen noch gehen.«

Karin war so entsetzt, daß sie förmlich zusammensank. Sie mußte sich einen Augenblick auf die Treppenstufen setzen, ehe sie helfen konnte, Ingmar hineinzutragen.

Als sie ihn aufhob, sah sie, daß er nicht schlief, sondern wie tot war, ganz kalt und vollständig ohne Bewußtsein. Karin nahm ihn auf den Arm und trug ihn in die Kammer. Da schloß sie sich mit dem Knaben ein und versuchte, ihn wieder ins Leben zurückzurufen.

Bald nachher kam Karin in die Groß-Stube, wo Eljas beim Frühstück saß. Sie trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. — »Du tust gut daran, dich ordentlich satt zu essen«, sagte sie, »denn wenn mein Bruder stirbt, so wirst du bald geringere Kost bekommen als die auf dem Ingmarshof.« — »Ach, Unsinn«, sagte der Mann, »so ein bißchen Branntwein kann ihm nichts schaden.« — »Aber es ist doch so, wie ich sage«, erwiderte Karin, während sie ihre harten, mageren Hände auf seine Schultern preßte. »Stirbt er, dann bekommst du deine zwanzig Jahre Zuchthaus, Eljas.«

Als Karin wieder bei dem Jungen eintrat, war er zum Bewußtsein gekommen, aber noch ganz wirr im Kopf, konnte kein Glied rühren und litt große Schmerzen. »Glaubst du, daß ich sterben muß, Karin?« fragte er. — »Nein, gewiß nicht«, sagte sie und setzte sich neben ihn. — »Ich wußte nicht, was das war, was sie mir gaben«, sagte er. — »Gott sei gedankt dafür«, antwortete Karin ernst. — »Schreibe es den Schwestern, wenn ich sterbe«, sagte der Junge. »Schreib, ich hätte nicht gewußt, daß es Branntwein war.« — »Ja«, sagte Karin. — »Ich wußte es nicht, ich schwöre es dir.«

Ingmar fieberte den ganzen Tag und redete irre.

»Sag es nur Vater nicht«, sagte er zu der Schwester. — »Nein, niemand wird es ihm sagen.« — »Aber wenn ich nun sterbe, dann erfährt es Vater doch, und ich muß mich vor ihm schämen.« — »Es war ja nicht deine Schuld«, sagte Karin. — »Aber Vater denkt vielleicht, ich hätte mich vor allem, was Eljas mir gab, hüten sollen. — Meinst du, das ganze Dorf weiß, daß ich betrunken war«, fragte er wieder. »Was sagen die Knechte, und was sagt die alte Lisa? Und was sagt Stark-Ingmar?«

»Nichts sagen sie«, erwiderte Karin.

»Aber du, Karin, du mußt ihnen erklären, wie es zugegangen ist. Siehst du, sie hatten die ganze Nacht hindurch getrunken, und ich saß im Halbschlummer in der Ecke auf einer Bank. Es war im Wirtshaus zu Karmsund. Da weckte mich Eljas und sagte ganz freundlich: ›Wach auf, Ingmar, da hast du etwas, um dich zu erwärmen. Hier, trink, es ist nur Wasser und Zucker!‹ — Mich fror tüchtig, als ich aufwachte, und als ich kostete, was er mir reichte, fand ich nur, daß es warm und süß schmeckte. Und dann war es doch etwas anderes gewesen, was er für mich zusammengebraut hatte. Ach, was wird der Vater nun sagen!«

Karin öffnete die Tür. Eljas saß noch draußen, und sie dachte, es wäre ihm nur heilsam, wenn er hörte, was hier gesprochen wurde.

»Wenn nur der Vater noch lebte, Karin! Wenn doch nur der Vater noch lebte!« — »Was dann, Ingmar?« — »Glaubst du nicht, daß er Eljas totschlüge?« Da brach Eljas in ein rohes Gelächter aus, und der Junge wurde totenblaß, als er es hörte, so daß Karin schnell die Tür wieder schloß.

Nach diesem Vorfall wurde Eljas indes so zahm, daß er sich nicht widersetzte, als Karin Ingmar bei den Schulmeistersleuten unterbrachte.

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In der ersten Zeit, nachdem Tims Halvor die Uhr bekommen hatte, waren immer viele Leute in seinem Laden. Kein Bauer kam in das Kirchdorf, ohne daß er einen Einkauf bei Halvor machte, um die Geschichte von Groß-Ingmars Uhr zu hören. Stundenlang lehnten sich die Bauern, die durchfurchten, ernsten Gesichter auf Halvor gerichtet, in ihren langen, weißen Pelzmänteln über den Ladentisch und lauschten eifrig der Erzählung. Und zum Schluß zog dann Halvor die Uhr aus der Tasche und zeigte das verbogene Gehäuse und das zersprungene Zifferblatt. — »Soso, da also hat ihn der Balken getroffen?« sagten die Bauern, und es war, als sähen sie den ganzen Vorgang von Groß-Ingmars Tod vor sich. »Ja, der Besitz dieser Uhr, das ist etwas Großes für dich, Halvor.«

Wenn Halvor die Uhr vorzeigte, gab er sie nie aus der Hand, sondern hielt sie die ganze Zeit an der Kette fest; nicht einen einzigen Augenblick ließ er sie los.

Eines Tages war Halvor auch wieder wie gewöhnlich von einem Haufen Bauern umgeben. Er erzählte und erzählte, schließlich wurde die Uhr vorgezeigt. Und sogleich überkam es alle wie Andacht, und es herrschte eine fast lautlese Stille, während einer nach dem andern die Uhr betrachtete.

Gerade, während dies geschah, trat Eljas in den Laden; die Uhr nahm jedoch die Aufmerksamkeit aller so in Anspruch, daß niemand ihn beachtete. Und da er die Geschichte von seines Schwiegervaters Uhr auch gehört hatte, begriff er augenblicklich, was hier vorging. Er war nicht neidisch auf Halvor, sondern es kam ihm nur sehr lächerlich vor, ihn und die andern so andächtig um die alte, schlechte silberne Uhr versammelt zu sehen.

Eljas schlich sich hinter die Männer, die über den Tisch gebeugt standen, packte mit einem raschen Griff die Uhr und riß sie an sich. Es war nur ein Scherz von Eljas; er dachte nicht daran, Halvor die Uhr wegzunehmen, sondern wollte ihn nur ein wenig ärgern.

Halvor wollte die Uhr wieder ergreifen, aber Eljas ging ein paar Schritte rückwärts und hielt sie dabei hoch in der Hand, wie man einem Hund ein Stück Zucker hinhält. Halvor stützte sich auf den Ladentisch und schwang sich hinüber. Er sah so böse aus, daß Eljas Angst bekam und zur Tür lief, anstatt stehenzubleiben und ihm die Uhr zurückzugeben.

Vor der Tür war eine hölzerne Treppe mit ausgetretenen Stufen. Eljas geriet mit einem Fuß in ein Loch, strauchelte, fiel rückwärts die Treppe hinunter und blieb auf der Erde liegen. Halvor warf sich über ihn, entriß ihm zuerst die Uhr und gab ihm dann ein paar tüchtige Rippenstöße.

»Du brauchst nicht so hart zuzuschlagen«, sagte Eljas. »Sieh lieber nach, was mit meinem Rücken geschehen ist.«

Da hörte Halvor auf, zu schlagen, aber Eljas rührte weder Arm noch Bein, um sich aufzuriehten. — »Hilf mir auf«, bat er. — »Du wirst dir wohl selbst helfen können, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast«, sagte Halvor. — »Ich bin nicht betrunken«, erwiderte Eljas, »aber als ich auf die Treppe herauskam, war es mir, als ob Groß-Ingmar mir entgegentrat und mir die Uhr nahm, deshalb fiel ich so unglücklich zu Boden.«

Da bückte sich Halvor, um den erbärmlichen Kerl, der da vor ihm lag, aufzuheben. Hierauf mußte Eljas nach Hause gefahren werden; er hatte sich das Rückgrat verletzt und sollte nie wieder auf seinen Füßen stehen können.

Von dieser Zeit an lag Eljas immer zu Bett; er war gelähmt und konnte sich nicht bewegen. Aber sprechen konnte er, und den lieben langen Tag hindurch bettelte er um Branntwein.

Der Doktor hatte Karin strengstens verboten, ihrem Manne geistige Getränke zu geben, weil er sich sonst in kurzer Zeit zugrunde richten würde. Da versuchte Eljas sich das, wonach ihn verlangte, zu erzwingen, indem er besonders bei Nacht immerfort schrie und johlte. Er führte sich wie ein Wahnsinniger auf, so daß niemand schlafen konnte.

Dies war Karins schwerste Lebenszeit. Ihr Mann quälte sie oft so, daß sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können. Er erfüllte den Hof mit giftigen Worten und bösen Flüchen, daß es die reine Hölle war.

Da bat Karin die Schulmeistersleute, Ingmar ganz zu sich zu nehmen. Sie wollte den Bruder nicht einen einzigen Tag auf dem Hofe haben, nicht einmal zu Weihnachten.

Alle Dienstleute auf dem Ingmarshof standen in irgendeiner Verwandtschaft mit den Ingmarssons und hatten ihr ganzes Leben auf dem Hofe zugebracht. Und wenn sie nicht so fest mit den Ingmarssons verwachsen gewesen wären, hätten sie es jetzt nicht länger ausgehalten.

Denn es gab nicht viele Nächte, in denen Eljas sie ruhig schlafen ließ, und immer wieder verfiel er auf etwas Neues, womit er Karin so quälte, daß sie schließlich seinen Bitten nachgeben mußte.

In diesem Elend verbrachte Karin einen Winter, einen Sommer und noch einen Winter.

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Es gab einen Ort, an den sich Karin Ingmarstochter flüchtete, um allein zu sein und über ihr Unglück nachzugrübeln. Das war ein schmales Bänkchen hinter dem kleinen Hopfengarten; tief vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände gestützt, saß sie hier oft und starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Man hatte übrigens von hier aus einen weiten Blick. Die Kornfelder breiteten sich zu ihren Füßen bis zum Walde aus mit den ansteigenden Hügeln und dem Klackgebirge.

An diesem Platz saß Karin auch eines Abends im April. Sie fühlte sich schwach und mutlos, wie es den Menschen oft geht, wenn der Schnee erst halb geschmolzen ist und so recht naß und schmutzig aussieht und die Erde noch nicht vom Frühlingsregen reingewaschen werden ist. Die Sonne schien warm, aber der Nordwind wehte gleichzeitig ungehindert über Karin hin, denn die beschützenden Hopfenranken wuchsen noch nicht in die Höhe, sondern lagen noch im Winterschlaf unter ihrer Decke aus Tannenzweigen. Es war ein recht scharfer Wind, und allerlei Fetzen und Papierschwitzel und vertrocknetes Gras wirbelten über das Feld hin. Drüben über den Bergen stand der Dunstrauch der Schneeschmelze, die Birken bekamen schon braune Wipfel, aber am Waldrand lag noch hoher Schnee. Ja, nun wird es bald Frühling werden, dachte Karin und fühlte sich dabei müder als je; ihr war, als könnte sie nicht noch einen Sommer überleben.

Sie dachte daran, was nun alles auf sie einstürmen würde. Das Säen und die Heuernte, die Frühjahrsbäckerei und die Frühjahrswäsche, das Weben und Kleidermachen; nein, es erschien ihr unmöglich, das alles fertigzubringen.

»Nun, es tut ja nichts, wenn ich sterbe«, sagte sie leise. »Mir kommt es vor, als lebte ich nur dafür, um Eljas daran zu hindern, sich zu Tode zu trinken.«

Plötzlich schaute sie auf, es war ihr, als hätte jemand ihren Namen gerufen. Gerade vor ihr stand Halvor Halvorsson. Er lehnte am Zaun und sah sie an.

Karin wußte nicht, wann er gekommen war; es sah aus, als hätte er schon lange hier gestanden.

»Ich dachte mir, daß du hier sitzen würdest«, sagte Halvor. — »So, dachtest du das?« — »Ja, ich erinnerte mich aus alten Tagen, daß du dich, wenn du eine freie Stunde hattest, hierherflüchtetest, um dich zu grämen.« — »Ach, damals gab es nicht viel, worüber ich mich hätte grämen müssen.« — »Den Kummer, den du damals nicht hattest, den bildetest du dir ein.«

Wie nun Karin Halvor so vor sich sah, dachte sie, er werde sie wohl für recht dumm halten, daß sie ihn nicht geheiratet habe, solch einen stolzen und stattlichen Mann, wie er einer war. »Nun hat er mich da, wo er mich haben will«, dachte sie, »und er ist gekommen, um sich über mich lustig zu machen.«

»Ich war bei Eljas und habe mit ihm gesprochen«, sagte Halvor. »Eigentlich wollte ich auch nur mit ihm allein sprechen.«

Karin gab keine Antwort, aufrecht und steif, mit niedergeschlagenen Augen und die Hände übereinandergelegt, saß sie da und wartete auf all den Hohn, den Halvor nun über sie ausgießen würde.

»Ich sagte zu ihm«, fuhr Halvor fort, »daß ich mich teilweise für sein Unglück verantwortlich fühle, weil er doch vor meinem Hause zu Schaden gekommen ist.« — Halvor hielt inne, als wartete er auf ein Zeichen der Billigung oder der Mißbilligung; aber Karin blieb stumm. — »Deshalb fragte ich ihn«, fuhr Halvor fort, »ob er nicht eine Zeitlang zu mir kommen wolle. Das wäre doch eine Veränderung für ihn, und er würde dort mehr Leute sehen als hier.«

Nun schlug Karin die Augen auf, sonst aber blieb sie unbeweglich sitzen.

»Wir haben nun ausgemacht«, sagte Halvor, »daß du ihn morgen zu mir fahren läßt. Ich weiß, er willigt ein, weil er denkt, er könne sich bei mir Branntwein verschaffen, aber das verstehst du doch, Karin, daß davon keine Rede ist, nein, nicht einen Tropfen, bei mir so wenig wie bei dir. Nun, morgen kommt er also. Ich gebe ihm die Stube hinter dem Laden und habe ihm versprochen, daß die Tür zum Laden offenstehen soll, so daß er die Leute sehen kann.«

Bei den ersten Worten, die Halvor sagte, hatte sich Karin gefragt, ob er sich das ausgedacht hatte, um sie zu verhöhnen, aber allmählich verstand sie, daß er es ernst meinte.

Karin war immer der Ansicht gewesen, Halvor habe nur um sie geworben, weil sie reich war und aus einer guten Familie stammte. Nie hatte sie an die Möglichkeit gedacht, daß er sie um ihrer selbst willen liebhaben könnte. Sie wußte recht wohl, daß sie nicht zu den Mädchen gehörte, die den Männern gefallen, und sie selbst war auch weder in Halvor noch in Eljas verliebt gewesen.

Aber als Halvor nun kam und ihr helfen wollte, diese Last zu tragen, wurde Karin von etwas so Großem und Unerhörtem ganz überwältigt.

Halvor mußte sie also lieben, ja, er mußte sie lieben, wenn er auf diese Weise seinen Beistand anbot.

Karins Herz begann plötzlich sehr heftig und unruhig zu schlagen. Es regte sich etwas in ihr, was sie noch nie empfunden hatte. Sie wußte nicht, was es war, bis sie plötzlich begriff, daß Halvors Güte ihr erfrorenes Gemüt erwärmt hatte, so daß die Liebe zu ihm in ihr aufzulodern begann.

Halvor erklärte ihr nun seinen Plan näher — er fürchtete, sie könnte Einwendungen machen. »Es ist ja auch schwer für Eljas«, sagte er, »er kann schon eine Veränderung brauchen. Und so ungebärdig, wie er gegen dich gewesen ist, wird er gegen mich nicht sein. Es ist etwas anderes, wenn ein Mann im Haus ist, vor dem er sich fürchtet.«

Karin wußte nicht, was sie tun sollte, es war ihr, als könnte sie nicht ein Wort sagen und keine Bewegung machen, ohne Halvor merken zu lassen, daß sie ihn liebte. Aber etwas mußte sie doch sagen.

Schließlich schwieg Halvor und sah sie an.

Karin erhob sich scheinbar widerwillig, trat zu Halvor und streichelte ihm sanft die Hand.

»Gott segne dich, Halvor!« sagte sie mit gebrochener Stimme. »Gott segne dich!«

Wie vorsichtig sie aber auch war, so mußte Halvor doch etwas gemerkt haben, denn er ergriff rasch ihre Hände und zog sie an sich. — »Nein, nein!« rief sie entsetzt, indem sie sich losriß und davoneilte.

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Eljas zog also zu Halvor und lag den ganzen Sommer in der Ladenstube. Er fiel übrigens Halvor nicht allzulange zur Last, denn er starb schon im Herbst.

Kurz nachher sagte Mutter Stina zu Halvor: »Nun mußt du mir etwas versprechen.« Halvor fuhr zusammen und schaute auf. »Du mußt mir versprechen, Geduld mit Karin zu haben.« — »Gewiß werde ich Geduld mit ihr haben«, sagte Halvor verwundert. — »Ja, es ist der Mühe wert, sie zu gewinnen, und sollte man auch sieben lange Jahre auf sie warten müssen.«

Aber es war nicht so leicht für Halvor, Geduld zu üben; denn bald hörte er davon reden, daß der und jener um sie werbe, ja, das Gerede begann schon vierzehn Tage nach Eljas Begräbnis.

An einem Senntagnachmittag saß Halvor auf den Stufen vor seinem Haus und betrachtete die Vorübergehenden. Es kam ihm vor, als ob ungewöhnlich viele schöne Gefährte nach dem Ingmarshof führen. In einem saß einer der Inspektoren von Bergsaana, dann fuhr der Sohn des Wirts in Karmsund vorüber, und schließlich kam Berger Sven Persson, ein Großbauer aus dem Nachbarkirchspiel. Er war der reichste Bauer in Westdalarne, ein kluger und hochangesehener Mann. Jung war er allerdings nicht mehr, war auch schon zweimal verheiratet gewesen und nun wiederum Witwer.

Als Berger Sven Persson vorüberfuhr, konnte Halvor nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Er ging die Straße entlang. Bald hatte er die Brücke überschritten und war auf der Seite des Flusses, wo der Ingmarshef lag. »Ich möchte wissen, wo alle diese Wagen hinfahren«, sagte er. Er ging den Spuren nach, und je weiter er ging, desto erregter wurde er. »Ich weiß, daß es dumm ist«, sagte er, und Mutter Stinas Warnung fiel ihm ein. »Ich will auch nur bis zum Hofter gehen und sehen, was sie da droben vorhaben.«

Berger Sven Persson und ein paar andere Männer saßen in der Groß-Stube auf dem Ingmarshof und tranken Kaffee. Ingmar Ingmarsson, der noch immer in der Schule wohnte, war an diesem Sonntag daheim. Er saß mit den andern am Tisch und mußte den Wirt machen, denn Karin war nicht anwesend; sie hatte sich damit entschuldigt, daß sie in der Küche zu tun habe, weil die Mägde ins Missionshaus gegangen seien, um den Schulmeister predigen zu hören.

Es war totenstill im Zimmer; alle tranken ihren Kaffee, ohne ein Wort zu sagen. Die Freier waren einander fast ganz fremd, und jeder wartete nur auf eine Gelegenheit, um in die Küche hinauszugehen und allein mit Karin sprechen zu können.

Da ging die Tür auf, und es trat noch ein Gast ein. Ingmar Ingmarsson ging ihm entgegen und führte ihn an den Tisch. »Dies ist Tims Halvor Halvorsson«, sagte er zu Berger Sven Persson. Sven Persson stand nicht auf, er grüßte ihn nur mit einer leichten Handbewegung und sagte scherzhaft: »Es ist ja sehr erfreulich, mit einem so berühmten Mann zusammenzutreffen.« Ingmar Ingmarssen rückte Halvor einen Stuhl hin, und zwar so laut, daß Halvor nicht zu antworten brauchte.

Von dem Augenblick an, als Halvor eingetreten war, wurden alle Freier auf einmal gesprächig und großsprecherisch. Sie begannen, sich gegenseitig zu loben und einander Schmeicheleien zu sagen, es war, als hätten sie verabredet, daß sie zusammenhalten wollten, bis sie Halvor verscheucht hätten. — »Das ist ein prächtiges Pferd, mit dem Sie heute gefahren sind, Herr Gemeinderatsvorsteher«, begann der Inspektor. Berger Sven Persson ging auf das Spiel ein und sprach von einem Bären, den der Inspektor im vergangenen Winter erlegt hatte. Hierauf priesen beide dem Wirtssohn von Karmsund gegenüber das neue Wohnhaus, das sein Vater baute. Schließlich vereinigten sich alle drei und rühmten Berger Sven Perssons Reichtum. Sie wurden sehr beredt, und mit jedem Wert gaben sie Halvor zu verstehen, daß er ein viel zu geringer Mann sei, um sich mit ihnen messen zu können. Halvor fühlte sich auch sehr unbedeutend und bereute bitter, daß er gekommen war.

Nun trat Karin ein und bot noch mehr Kaffee an. Als sie Halvors ansichtig wurde, freute sie sich im ersten Augenblick über sein Kommen, aber gleich darauf fand sie, wie schlecht es aussähe, daß er so schnell nach dem Todesfall zu ihr gekommen war.

Wenn er es so eilig hatte, würden die Leute sagen, er habe Eljas schlecht gepflegt, um ihn bald loszuwerden und Karin zu bekommen.

Ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn er zwei, drei Jahre gewartet hätte, das wäre lange genug gewesen, um den Leuten verständlich zu machen, daß er Eljas nicht aus Ungeduld etwas Böses zugefügt habe, »Warum diese Eile?« dachte sie. »Er muß doch wissen, daß ich keinen andern nehme als ihn.«

Als Karin eintrat, wurde es wieder still in der Stube, und keiner dachte nunmehr an etwas anderes, als aufzupassen, wie sie und Halvor einander begrüßten. Aber sie berührten einander kaum mit den Fingerspitzen. Als der Gemeinderatsvorsteher dies sah, machte er seiner Freude in einem kurzen scharfen Pfiff Luft, während der Inspektor in lautes Gelächter ausbrach. Halvor wandte sich ruhig an ihn: »Warum lacht der Herr Inspektor?« fragte er leise. Und der Inspektor wußte nicht gleich, was er antworten sollte. Etwas Verletzendes wollte er nicht sagen, weil Karin dabei war. — »Er dachte an einen Jagdhund, der einen Hasen aufgestöbert hat, ihn aber von einem andern fangen läßt«, sagte der Wirtssohn bedeutungsvoll.

Karin war dunkelrot geworden, während sie den Kaffee einschenkte. Nun sagte sie entschuldigend: »Berger Sven Persson und ihr andern müßt mit Kaffee vorliebnehmen, wir geben keine geistigen Getränke mehr auf dem Hof.« — »Das tue ich bei mir daheim auch nicht«, sagt der Gemeinderatsvorsteher. Der Inspektor und der Wirt schwiegen, aber es war ihnen ganz klar, daß Sven Persson einen großen Schritt vorwärts getan hatte. Und sogleich fing er an, auch von der Enthaltsamkeitsfrage und ihrem Nutzen zu sprechen. Karin blieb stehen und hörte zu; sie stimmte in allem, was er sagte, mit ihm überein. Der Bauer erkannte sofort, daß das die richtige Art war, sie zu gewinnen, und verbreitete sich daher weitläufig über Branntwein und Trunksucht. Karin erkannte alle eigenen Gedanken wieder, die in den letzten Jahren in ihr aufgestiegen waren, und freute sich, daß ein so mächtiger und kluger Mann sie mit ihr teilte.

Mitten im Gespräch sah der Gemeinderatsvorsteher zu Halvor hinüber. Niedergeschlagen und ärgerlich saß dieser da, die Kaffeetasse stand unberührt vor ihm. »Ja, gewiß ist es hart für ihn«, dachte Berger Sven Persson, »besonders, wenn es wahr ist, was die Leute sagen, daß er nämlich bei Eljas ein wenig nachgeholfen hat, und eigentlich war es doch nur eine gute Tat, daß er Karin von dem schrecklichen Menschen befreite.« Und weil er dachte, er habe das Spiel beinahe gewonnen, fühlte er sich freundlich gegen Halvor gestimmt. Er hob ihm seine Tasse entgegen und sagte: »Dein Wohl, Halvor! Du bist Karin sicherlich eine große Hilfe gewesen, indem du dich des erbärmlichen Kerls, mit dem sie verheiratet war, angenommen hast.« Halvor blieb ruhig sitzen, sah den andern unverwandt an und überlegte, wie er diese Worte aufnehmen sollte. Aber der Inspektor brach wieder in ein Gelächter aus. »Ja, eine gute Hilfe«, rief er lachend, »eine recht gute Hilfe!«

Ehe das Lachen wieder verstummte, war Karin verschwunden, wie ein Schatten war sie zu der Tür, die in die Küche führte, hinausgeglitten.

Dicht hinter der Tür blieb sie stehen, um alles, was in der Groß-Stube geredet wurde, verstehen zu können. Sie war ärgerlich und verzweifelt, weil Halvor zu früh gekommen war. Auf diese Weise würde sie ihn wohl nie heiraten können, die Verleumdung war ja schon unterwegs. »Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll, ihn noch einmal zu verlieren«, dachte sie und preßte die Hand aufs Herz.

Im Anfang war es ganz still in der Stube, dann aber hörte sie, daß ein Stuhl zurückgeschoben wurde und jemand aufstand. »Willst du schon gehen, Halvor?« fragte der junge Ingmar. — »Ja«, antwortete Halvor, »ich kann nicht länger bleiben, grüße Karin von mir zum Abschied.« — »Du kannst doch selbst in die Küche gehen und dich verabschieden, Halvor.« — »Nein«, hörte sie Halvor sagen, »Wir beide haben einander nichts mehr zu sagen.«

Karins Herz begann heftig zu klopfen, und die Gedanken jagten sich wie nie vorher. Jetzt war Halvor böse auf sie, und das war nicht zum Verwundern. Sie hatte ja kaum gewagt, ihm die Hand zu geben, und als die anderen ihn verspotteten, hatte sie ihn nicht verteidigt, sondern geschwiegen und sich davongeschlichen.

Und nun glaubte er, sie habe ihn nicht lieb; nun ging er davon und kam nie wieder! Nein, sie wußte nicht, wie sie so hatte handeln können, obwohl sie ihn so sehr liebte.

Plötzlich war ihr, als hörte sie die Worte, die ihr Vater zu sagen pflegte: daß die Ingmarssöhne nichts nach den Menschen zu fragen brauchten, sondern nur auf Gottes Wegen wandeln sollten.

Da machte Karin rasch die Tür wieder auf und stand vor Halvor, noch ehe er die Stube verlassen hatte.

»Gehst du schon, Halvor? Ich dachte, du würdest zum Abendbrot dableiben!« Halvor sah sie verwundert an. Sie war ganz verwandelt, rot und wann stand sie vor ihm und hatte einen rührenden, zärtlichen Ausdruck, den er nie vorher an ihr gesehen hatte. — »Ich habe die Absicht, zu gehen und nie wiederzukommen«, sagte Halvor; er verstand nicht, was sie wollte. — »Ach, bleib doch da und trinke deinen Kaffee aus!« sagte Karin.

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Tisch. Wohl errötete und erblaßte sie dabei abwechselnd, der Mut verließ sie mehrere Male, aber sie gab nicht nach, obgleich Hohn und Verachtung das Bitterste war, das ihr begegnen konnte. »Nun soll er wenigstens sehen, daß ich die Last mit ihm teilen will«, dachte sie.

»Berger Sven Perssen und ihr andern«, sagte Karin, »Halvor und ich haben zwar noch nicht miteinander darüber gesprochen, weil ich ja erst seit kurzem Witwe bin, aber ich glaube, es ist am besten, wenn jedermann erfährt, daß ich Halvor lieber heirate als irgendeinen andern.« Sie hielt inne, weil ihr die Stimme versagte. »Die Leute mögen nun darüber reden, was sie wollen, aber Halvor und ich haben nichts Böses getan.«

Als sie das gesagt hatte, trat Karin näher zu Halvor, wie um gegen die bösen Werte, die sie nun hören würde, Schutz zu suchen.

Alle schwiegen eine Weile, hauptsächlich vor Verwunderung über Karin, die in diesem Augenblick mehr wie ein junges Mädchen aussah als je vorher in ihrem Leben.

Halvor sagte mit bebender Stimme: »Als ich deines Vaters Uhr bekam, Karin, da glaubte ich, daß ich nie etwas Größeres erleben könnte, aber das, was du jetzt getan hast, ist das Größte, was einem Manne widerfahren kann.«

Aber Karin wartete mehr auf die Worte der andern als auf die Halvors; die Angst verließ sie nicht.

Da erhob sich Berger Sven Perssen — er war in vieler Hinsicht ein ausgezeichneter Mann —. »Dann müssen wir alle Karin und Halvor Glück wünschen«, sagte er freundlich, »denn das weiß jeder, wen Karin Ingmarstochter erwählt, der ist ohne Fleck und Tadel.«

In Zion

Niemand darf sich darüber wundern, wenn ein alter Dorfschulmeister manchmal ein wenig selbstbewußt wird. Da hat er nun sein ganzes Leben lang Kenntnisse und Gelehrsamkeit unter seinen Mitmenschen verbreitet; er sieht, daß alle Bauern nur gerade von dem leben, was er ihnen gegeben hat, und daß keiner mehr weiß, als was er, der Schulmeister, ihn einst gelehrt hat. Kann er da etwas dafür, daß er alle Gemeindemitglieder, und wenn sie auch noch so alt werden, als Schulkinder betrachtet und daß er denkt, er sei klüger als alle anderen? Ja, so einem richtigen, alten Schulmeister fällt es hin und wieder geradezu schwer, jemand als erwachsen zu behandeln, denn in seinen Augen sieht jeder noch ebenso aus wie in seinen Kinderjahren, mit runden Kinderwangen und Grübchen darin und frommen, ruhigen Kinderaugen.

Es war an einem Sonntag im Winter, gleich nach dem Gottesdienst. Der Pfarrer und der Schullehrer unterhielten sich noch in der kleinen, gewölbten Sakristei, und im Laufe des Gesprächs waren sie auf die Heilsarmee gekommen.

»Das ist doch eine höchst merkwürdige Sache«, sagte der Pfarrer, »nie hätte ich gedacht, daß ich so etwas zu sehen bekäme.« Der Schulmeister sah den Pfarrer streng an; es kam ihm vor, als spreche dieser ungebührlich. Er, der Pfarrer, konnte doch wirklich nicht meinen, daß solch eine Verrücktheit in ihrer Gemeinde Einlaß fände.

»Ich glaube auch nicht, daß der Herr Pfarrer sie zu sehen bekommt«, sagte er mit Nachdruck.

Der Pfarrer, der sich seiner Schwäche und Unfähigkeit wohl bewußt war, ließ zwar meistens den Schulmeister nach eigenem Gutdünken regieren, aber er konnte es doch nicht unterlassen, ihm zu widersprechen. »Sind Sie denn so sicher, daß wir von der Heilsarmee verschont bleiben, Storm?« sagte er. — »Doch«, antwortete Storm, »wo der Pfarrer und der Schulmeister zusammenhalten, da kann sich so ein Ungeziefer nicht eindrängen.« — »Es ist mir eigentlich nicht bewußt, daß Sie es so ganz mit mir halten, Storm«, sagte der Pfarrer ein wenig spitz. »Sie predigen ja auf eigene Faust drüben in Ihrem Zion.« — Der Schulmeister schwieg zuerst, dann sagte er sehr leise: »Der Herr Pfarrer hat mich ja noch nie predigen hören.«

Dieses Missionshaus war ein böser Stein des Anstoßes. Der Pfarrer hatte nie einen Fuß über seine Schwelle gesetzt. Aber da es nun einmal zur Sprache gekommen war, bekamen die beiden alten Freunde Angst, sie könnten am Ende etwas Verletzendes gesagt haben. »Ich bin doch wohl ungerecht gegen Storm«, dachte der Pfarrer, »in den vergangenen vier Jahren, seit er am Sonntagnachmittag Bibelstunde im Missionshaus hält, habe ich am Sonntagvormittag mehr Leute in der Kirche als je zuvor, und ich habe auch nie eine Spur von einer Spaltung in der Gemeinde gemerkt. Er hat keine Störung hervorgerufen, wie ich es erwartet hatte, und er ist wirklich ein treuer Freund und Diener; ich will versuchen, ihm zu beweisen, wie hoch ich ihn schätze.«

Und dieser kleine Zwist war Veranlassung, daß der Pfarrer am Nachmittag Storms Bibelstunde beiwohnte. »Ich will Storm eine recht große Freude machen«, dachte er. »Ich will hingehen und hören, wie er dort in seinem Zion predigt.«

Auf dem Weg dahin gedachte der Pfarrer der Zeit, als das Missionshaus gebaut wurde. Nein, wie schwirrte es da durch die Luft von Prophezeiungen, und wie sicher war er gewesen, daß Gott etwas Großes damit im Sinn habe! Aber seither hatte man gar nichts mehr davon gehört. »Der liebe Gott hat es sich wohl anders überlegt«, dachte er und lachte zugleich im stillen darüber, daß er solch sonderbare Gedanken über den lieben Gott hatte.

Des Schulmeisters »Zion« war ein großer Saal mit hellen Wänden. An der Langseite hingen Holzschnitte von Luther und Melanchthon mit pelzverbrämten Mützen. An dem Deckengesims waren Bibelsprüche gemalt, umrahmt von Blumen und himmlischen Posaunen und Trompeten, und über einer kleinen Erhöhung an dem einen Ende des Saals hing ein Ölfarbendruck, der den guten Hirten darstellte.

Der große, kahle Raum war voller Menschen, und mehr brauchte es nicht, um einen frohen Eindruck heworzurufen.

Die meisten waren schön gekleidet; sie trugen die alte Tracht des Kirchspiels, und die gestärkten, weitabstehenden weißen Kopftücher der Frauen erweckten die Vorstellung, als ob der Saal voll großer, weißbeschwingter Vögel wäre.

Storm hatte seinen Vortrag schon begonnen, als er den Pfarrer eintreten und sich auf die erste Bank setzen sah. »Du, Storm, du bist doch ein merkwürdiger Mensch«, dachte er bei sich selbst. »Alles gelingt dir. Da kommt nun sogar der Pfarrer und erweist dir die Ehre, dir zuzuhören!«

Seit Einführung dieser Bibelstunde hatte der Schulmeister die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite durchgenommen. An diesem Abend nun sprach er über das himmlische Jerusalem und die ewige Seligkeit aus der Offenbarung Johannis. Und so glücklich war er über des Pfarrers Anwesenheit, daß er dachte: »Was mich betrifft, so würde ich mir im ewigen Leben kein besseres Los wünschen, als auf einem Katheder zu stehen und kluge und folgsame Kinder zu unterrichten; und wenn Gott der Herr dazwischen einmal hereinkäme und mir zuhörte, wie der Pfarrer eben jetzt, wäre niemand glückseliger als ich.«

Der Pfarrer seinerseits war betroffen, als er von Jerusalem reden hörte, und aufs neue wurde er von seinen sonderbaren Ahnungen ergriffen.

Da, mitten unter dem Vortrag, ging plötzlich die Tür auf, und eine Menge Leute traten ein. Es waren ungefähr zwanzig Personen, die jedoch beim Eingang stehenblieben, um nicht zu stören. »Ei sieh«, dachte der Pfarrer, »ich wußte doch, daß heute etwas geschehen würde.«

Und sobald Storm Amen gesagt hatte, erhob sich aus der Gruppe an der Tür eine Stimme, die sagte: »Ich bitte um die Erlaubnis, einige Worte reden zu dürfen.«

Die Stimme klang außerordentlich sanft und freundlich. »Das kann nur Hök Matts Eriksson sein«, dachte der Pfarrer, und viele andere dachten dasselbe. Im ganzen Dorf hatte keiner eine so freundliche Kinderstimme.

Im nächsten Augenblick drängte sich ein kleiner Mann mit gutem Gesicht an die Estrade vor, und ihm folgte eine Schar Männer und Frauen, die ihn zu begleiten schienen, um ihn zu unterstützen, und die ihm Mut zuzusprechen schienen. Der Pfarrer, der Schulmeister und die ganze Versammlung saßen unbeweglich da. »Hök Matte kommt, um ein großes Unglück anzuzeigen«, dachten sie. »Entweder ist der König gestorben, oder es ist Krieg ausgebrochen, oder vielleicht hat sich irgendein unglücklicher Mensch im Fluß ertränkt.«

Hök Matts sah indes nicht aus, als hätte er eine schlimme Botschaft mitzuteilen. Er war feierlich und bewegt, aber doch so froh, daß er ein Lächeln fast nicht unterdrücken konnte. — »Ich möchte dem Schulmeister und der Versammlung mitteilen«, sagte er, »daß vor kurzem an einem Sonntag, als ich mit meinen Dienstleuten in der Stube saß, der Geist über mich kam, so daß ich anfing zu predigen. Das Glatteis hatte uns verhindert, hierherzukommen und Storm zu hören; wir sehnten uns alle nach dem Wort Gottes, und da kam es über mich, daß ich selbst reden konnte. Nun habe ich an den beiden letzten Sonntagen gepredigt, und nun haben meine Hausgenossen und Nachbarn zu mir gesagt, ich sollte hierhergehen und mich vor allen Leuten hören lassen.«

Hök Matts sagte ferner, er sei sehr erstaunt, daß die Gabe des Predigers auf einen so geringen Mann wie ihn gefallen sei. »Aber der Schulmeister ist ja selbst nichts anderes als ein Bauer«, fügte er zutraulich hinzu.

Nach dieser Einleitung faltete Hök Matts die Hände und wollte anfangen zu predigen. Aber nun hatte sich der Schulmeister von der ersten Überraschung erholt. — »Ist es deine Absicht, Hök Matts, heute hier zu predigen?« unterbrach er ihn. — »Ja, allerdings ist das meine Absicht«, antwortete der Mann. Er wurde ängstlich wie ein Kind, als er Storms düstere Miene sah. — »Es war meine Absicht, den Schulmeister und die anderen vorher um Erlaubnis zu bitten«, sagte er demütig. — »Nein, wir sind für heute fertig«, sagte Storm entschieden.

Dem kleinen, freundlichen Mann traten die Tränen in die Augen, und er sagte bittend: »Wenn ich nur ganz wenige Worte sagen dürfte. Es ist etwas, das über mich gekommen ist, während ich hinter dem Pflug her ging oder den Kohlenmeiler bewachte, und nun will es heraus.« — Aber der Schulmeister, der heute einen so ehrenvollen Tag gehabt hatte, kannte kein Erbarmen. »Matts Eriksson, du kommst mit deinen eigenen Betrachtungen hierher und sagst, es sei Gottes Wort«, antwortete er zurechtweisend.

Hök Matts wagte nicht zu widersprechen, und der Schulmeister schlug das Gesangbuch auf. — »Wir singen jetzt Nummer 187«, sagte er. Mit lauter Stimme las er das Lied vor und begann dann zu singen: »Ich hebe meine Augen auf zu Jerusalem.«

Beim Singen aber dachte er: »Es ist nur gut, daß der Pfarrer gerade heute kam und sieht, daß ich Ordnung in meinem Zion halte.«

Aber der Gesang war kaum beendet, als sich einer der Zuhörer erhob. — Ljung Björn Olofsson war es, ein stolzer, stattlicher Mann, der mit einer der Ingmarstöchter verheiratet war und einen großen Hof mitten im Dorf besaß.

»Wir hier unten«, sagte Ljung Björn ganz ruhig, »wir meinen, der Herr Schulmeister hätte uns um unsere Meinung fragen sollen, ehe er Matts Eriksson abwies.«

»Meinst du, mein Junge?« sagte der Schulmeister im selben Ton, in dem er mit einem naseweisen Schulbuben gesprochen hätte. »Dann will ich dir nur mitteilen, daß hier in diesem Saal außer mir niemand etwas zu sagen hat.«

Ljung Björn wurde dunkelrot; er hatte ganz gewiß nicht die Absicht gehabt, mit dem Schulmeister Streit anzufangen, sondern nur daran gedacht, den Schlag für Hök Matts, der ein guter Mann war, zu mildern, und es war nur natürlich, daß er sich über die Antwort, die ihm zuteil geworden war, ärgerte. Aber ehe er sich zu einer Entgegnung gesammelt hatte, ergriff einer von denen, die mit Hök Matts gekommen waren, das Wort.

»Ich habe Hök Matts schon zweimal predigen hören, und ich muß sagen, daß es ganz merkwürdig ist, wenn man ihm zuhört. Ich glaube auch, es würde für alle, die hier anwesend sind, von Nutzen sein, wenn sie ihn hörten.«

Sofort antwortete der Schulmeister in einem freundlicheren und zugleich ermahnenden Ton, gerade als ob er einen Jungen in der Schule zurechtwiese:

»Aber Küster Larsson, du verstehst doch wohl, daß das unmöglich ist. Lasse ich Hök Matts heute predigen, dann kommst du, Krister, am nächsten Sonntag und willst uns predigen, und dann du, Ljung Björn, am übernächsten und so fort.« Als der Schulmeister das sagte, lachten mehrere Zuhörer, aber aus Ljung Björns Mund erklang die Antwort scharf und hart: »Ich weiß nicht, warum Krister oder ich nicht ebenso geschickt zum Predigen sein sollten wie der Schulmeister.«

Da stand Tims Halvor auf, und um die Leute zu beruhigen und einem Streit zuvorzukommen, sagte er: »Aber die, die das Geld gegeben haben, um diesen Betsaal zu bauen, müssen doch wohl um Erlaubnis gefragt werden, ehe ein neuer Prediger reden darf.« — Doch nun war Krister Larsson auch böse geworden und erklärte sofort: »Ich erinnere mich, daß wir, als wir dies Haus bauten, übereinkamen, daß es ein freier Predigtsaal und keine Kirche sein solle, wo nur ein einziger Mann das Wort Gottes verkündigen darf.«

Als Küster das sagte, atmeten alle Anwesenden tief auf. Vor nur einer Stunde wäre es niemand eingefallen, auch nur zu wünschen, es möchte ein anderer als der Schulmeister hier predigen, aber nun dachten sie: »Es wäre ganz angenehm, etwas Neues zu hören, wir möchten wohl gern dort hinter dem Katheder neue Worte hören und ein neues Gesicht sehen.«

Es wäre aber vielleicht doch nicht zu einem Streit gekommen, wenn nicht auch Kolaas Gunnar anwesend gewesen wäre. Der war auch ein Schwager von Halvor, ein langer, magerer Mensch, von dunkler Gesichtsfarbe und mit stechenden Augen. Er hatte den Schulmeister gern, wie die anderen auch, aber noch lieber war ihm ein ordentlicher Streit: »Ja, als dies Haus gebaut wurde, war viel von Freiheit die Rede«, sagte er, »aber seit es fertig ist, habe ich nicht ein einziges freies Wort hier gehört.«

Jetzt bekam der Schulmeister einen roten Kopf. Das war die erste Äußerung, die von Bosheit und Aufsässigkeit zeugte. »Ich will dir etwas sagen, Kolaas Gunnar«, begann er, »hier hast du die Predigt von der wahren Freiheit vernommen, so wie Luther sie gepredigt hat, aber niemals hat hier Freiheit geherrscht, solche Neuigkeiten zu verkündigen, die an einem Tag stehen und am andern wieder fallen.«

»Der Herr Schulmeister will uns glauben machen, daß alles Neue falsch sei, sobald es die Lehre angeht«, erwiderte der Mann ruhiger, als ob er seine Heftigkeit bereute. »Er will allerdings, daß wir bei der Viehzucht neue Methoden anwenden und bei der Landwirtsschaft neue Maschinen anschaffen, aber von den neuen Werkzeugen, womit Gottes Boden umgepflügt wird, erfahren wir nichts.«

Der Schulmeister dachte, Kolaas Gunnar habe es nicht so böse gemeint, als es klang. »Meinst du damit«, versuchte er zu scherzen, »daß hier eine andere als die lutherische Lehre gepredigt werden soll?« — »Es handelt sich hier nicht um eine neue Lehre«, fuhr nun Gunnar mit scharfer Stimme auf, »sondern darum, wer predigen darf, und soviel ich weiß, ist Matts Eriksson ein ebenso guter Lutheraner wie der Herr Schulmeister und der Herr Pfarrer.«

Der Schulmeister hatte einen Augenblick den Pfarrer ganz vergessen, nun sah er diesen an.

Der Pfarrer saß, das Kinn auf den Griff seines Stocks gestützt, ruhig und unbeweglich mit einem sonderbaren Glanz in den Augen da, und Storm sah, daß seine Blicke immerfort auf ihm ruhten und ihn keine Sekunde verließen.

»Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn er nicht gerade an diesem Abend gekommen wäre«, dachte der Schulmeister.

Es fiel ihm auf, daß das, was hier geschah, Ähnlichkeit mit früheren Erlebnissen hatte. An schönen, sonnigen Frühlingstagen geschah es zuweilen, daß sich ein Vögelchen vor das Fenster des Sehulzimmers setzte und sang und sang. Und auf einmal begannen alle Kinder um einen freien Nachmittag zu bitten, sie hörten auf zu lernen, wurden unruhig und lärmend und wagen kaum mehr zu bändigen. Etwas Ähnliches war es, was die Versammlung nach Hök Matts Ankunft heute überfallen hatte. Aber der Schulmeister dachte, nun wolle er dem Pfarrer und allen miteinander zeigen, daß er der Mann dazu sei, den Aufruhr zu unterdrücken.

»Fürs erste will ich sie sich selbst überlassen, bis die Rädelsführer sich müde geschrien haben«, dachte er und setzte sich ganz ruhig auf den Stuhl, der hinter dem Tisch mit dem Glas Wasser stand.

Aber gleicheitig brach ein rasender Sturm um ihn her los, denn nun wurden alle von dem Gedanken ergriffen: Wir sind ja alle ebensogut wie der Schulmeister. Warum soll er allein uns sagen dürfen, was wir glauben und was wir nicht glauben sollen?

Das waren zwar für die meisten ganz neue Gedanken, aber man hörte es doch ihren Worten an, daß sie in ihnen gekeimt und gesproßt hatten, seit der Schulmeister das Missionshaus gebaut und ihnen gezeigt hatte, daß auch ein einfacher und geringer Mann das Wort Gottes auslegen könne.

Nach einer Weile dachte der Schulmeister: »Nun hat sich die Jugend wohl ausgetobt, jetzt ist es Zeit, ihnen zu zeigen, wer Herr in diesem Haus ist.«

Er stand auf, schlug mit der Hand kräftig auf den Tisch und rief mit starker Stimme: »Nun ist es genug! Was ist das für ein Spektakel! Ich gehe jetzt fort, und ihr müßt auch gehen, damit ich abschließen kann.«

Einige erhoben sich wirklich, denn sie waren alle zu Storm in die Schule gegangen und wußten, wenn er auf den Tisch schlug, so war das ein Zeichen, dem man gehorchen mußte; aber die meisten blieben trotzdem sitzen.

»Der Herr Schulmeister vergißt, daß wir jetzt erwachsene Männer sind«, sagten sie. »Er glaubt, wir müßten folgen, nur weil er auf das Katheder schlägt.«’

Sie fuhren fort, darüber zu reden, daß sie neue Prediger hören wollten, und sie verhandelten, wen man berufen solle, ja, sie stritten sich schon darüber, ob es einer von den Walden— strömianern oder ein Laienprediger der evangelischen National- vereinigung sein sollte.

Der Schulmeister starrte die Versammlung an, als sähe er etwas Unheimliches. Bis jetzt hatte er in jedem menschlichen Gesicht immer nur das Kind gesehen. Aber nun verschwanden alle die runden, weichen Kinderwangen und die hellen Kinderlocken und die frommen Kinderaugen, und der Schulmeister sah nur noch eine Schar erwachsener Menschen mit ernsten, barschen Gesichtern und fühlte, daß er über diese keine Macht hatte. Er wußte kaum noch, wie er mit ihnen reden sollte. Der Lärm dauerte fort und wurde immer lauter. Der Schulmeister schwieg und ließ sie toben. Kolaas Gunnar und Ljung Björn und Krister Larsson waren die Anführer. Hök Matts, der ja den Anlaß zu dem Aufruhr gegeben hatte, erhob sich wieder und wieder und bat sie, zu schweigen, aber niemand hörte auf ihn.

Wieder richtete der Schulmeister seinen Blick auf den Pfarrer. Der saß noch ebenso ruhig da, mit demselben Glanz in den Augen, und sah ihn an. »Er denkt wohl an den Abend vor vier Jahren, als ich ihm erklärte, daß ich ein Missionshaus bauen wolle«, dachte der Schulmeister.

»Ja, er hatte recht«, dachte Storm weiter, »nun sind sie da, die Irrlehren und der Aufruhr und die Zersplitterung, und dies alles wäre vielleicht nie gekommen, wenn ich nicht so darauf versessen gewesen wäre, mein Zion zu bauen.«

Als das dem Schulmeister klargeworden war, hob er den Kopf und richtete sich gerade auf. Aus der Tasche zog er einen kleinen Schlüssel aus glänzendem Stahl, mit dem er das Missionshais auf- und zuzuschließen pflegte. Er hob den Schlüssel ins Licht, so daß er glänzte und im ganzen Saal gesehen werden konnte.

»Nun lege ich diesen Schlüssel hier auf den Tisch«, sagte er, »und nehme ihn nicht wieder zu mir. Denn ich sehe, daß ich allem, was ich damit ausschließen wollte, gerade Einlaß verschafft habe.«

Hierauf legte der Schulmeister den Schlüssel nieder, nahm seinen Hut und ging direkt auf den Pfarrer zu. »Ich muß Ihnen vielmals danken, Herr Pfarrer, daß Sie heute abend kamen, um mich zu hören«, sagte er, »denn wenn Sie heute nicht gekommen wären, hätten Sie mich niemals predigen hören.«

Die wilde Jagd

Es gab viele, die meinten, Eljas Elof Ersson dürfte eigentlich keine Ruhe im Grabe haben, weil er sich so schlecht gegen Karin und den jungen Ingmar Ingmarsson benommen hatte.

Absichtlich schien er Karins Geld verschleudert zu haben, damit sie es nach seinem Tode recht schwer haben sollte. Den Hof hatte er so mit Schulden belastet, daß ihn Karin den Gläubigern hätte überlassen müssen, wenn nicht Halvor Halvorsson reich genug gewesen wäre, den Hof zu kaufen und die Schulden zu bezahlen. Aber Ingmar Ingmarssons zwanzigtausend Kronen, die Eljas zu verwalten gehabt hatte, waren vollständig verschwunden. Die einen glaubten, Eljas habe sie vergraben, andere meinten, er habe sie verschenkt. Nur eines war sicher, daß sie nirgends zu finden waren. Niemand hatte eine Ahnung davon gehabt, wie die Dinge standen; erst bei der Inventur war es an den Tag gekommen. Die Gerichtsvollstrecker hatten das Geld tagelang gesucht, aber es war und blieb verschwunden.

Als Ingmar erfuhr, daß er nun arm sei, beratschlagte er mit Karin, was er anfangen sollte. Ingmar sagte, er möchte am liebsten Schullehrer werden. Er bat Karin, ihn auch ferner beim Schulmeister zu lassen, bis er alt genug sei, um ins Lehrerseminar einzutreten. Drunten im Kirchdorf sagte er, könne er vom Schulmeister und vom Pfarrer die nötigen Bücher leihen, und er könne auch Storm in der Schule beim Unterricht helfen; das sei eine gute Übung.

Karin besann sich lange, ehe sie ihre Einwilligung gab, schließlich aber sagte sie:

»Du hast wohl keine Lust mehr, hierzubleiben, da du jetzt nicht mehr der Herr des Hofes werden kannst?«

Als Schulmeisters Gertrud erfuhr, daß Ingmar wieder zu ihnen komme, machte sie ein verdrossenes Gesicht. Sie dachte, wenn überhaupt ein Junge bei ihnen wohnen solle, dann hätte es ebensogut der hübsche Bertil des Gemeinderatsvorstehers oder der lustige Gabriel, Hök Matts Erikssons Sohn, sein können.

Gabriel und Bertil konnte Gertrud nämlich recht gut leiden, aber was sie über Ingmar dachte, darüber war sie sich selbst nicht recht klar. Sie hatte ihn gern, weil er die Aufgaben mit ihr machte und ihr wie ein Sklave gehorchte, aber manchmal war sie seiner auch überdrüssig, weil er so schwerfällig und langsam war und nicht mit ihr spielen konnte. Bald bewunderte sie ihn, weil er fleißig und gelehrig war, bald verachtete sie ihn, weil er sich nie verteidigte, wenn er angegriffen wurde.

Gertrud hatte immer den Kopf voll lustiger Einfälle und allerlei Phantasien, die sie Ingmar anvertraute, und wenn er dann einmal ein paar Tage weg war, wurde sie unruhig und meinte, sie habe niemand, mit dem sie sich unterhalten könne. Kam er dann aber zurück, so wußte sie nicht recht, wonach sie sich eigentlich gesehnt hatte.

Das Mädchen hatte nie Rücksicht darauf genommen, daß Ingmar reich war und zu den besten Familien des Dorfes gehörte; sie behandelte ihn eher so, als sei er ein wenig geringer als sie. Aber als sie nun hörte, daß er arm geworden war, weinte sie, und als er ihr sagte, daß er nicht daran denke, den Hof wiederzugewinnen, sondern Schulmeister werden wolle, wurde sie darüber so böse, daß sie sich kaum mehr beherrschen konnte.

Gott mochte wissen, wie hoch er in ihren Träumen schon gestiegen war!

Die Kinder im Schulhaus erhielten eine strenge Erziehung. Sie wurden stets zur Arbeit angehalten und hatten selten ein Vergnügen. Darin trat indes in dem Frühjahr, als Storm aufhörte, im Missionshaus zu predigen, eine Veränderung ein. Da sagte nämlich bisweilen Mutter Stina zu ihrem Mann: »Storm, nun dürfen wir die Jungen jung sein lassen. Denk an dich und mich! Als wir siebzehn Jahre alt waren, tanzten wir manches Mal von Sonnenuntergang bis Tagesanbruch.«

An einem Sonnabend, als der junge Hök Gabriel Mattsson und des Schultheißen Gunhild zu Besuch gekommen waren, wurde sogar im Schulhaus getanzt.

Gertrud war ganz ausgelassen vor Freude darüber, daß sie tanzen durfte, aber Ingmar wollte nicht mittun. Er nahm ein Buch in die Hand, setzte sich auf das Kanapee am Fenster und fing an zu lesen. Gertrud kam immer wieder, um ihn von seinem Buch wegzulocken, aber er saß mürrisch und schüchtern da und weigerte sich, mitzugehen. Mutter Stina seufzte, wenn sie ihn ansah. »Man merkt, daß er aus einem alten Geschlecht stammt«, dachte sie. »Es heißt, solche Menschen können nie recht jung sein.«

Den drei anderen aber gefiel es so gut, daß sie davon sprachen, am nächsten Sonnabend auf einen Tanzboden zu gehen, und schließlich fragten sie die Schulmeistersleute, was sie dazu meinten.

»Ja, wenn ihr auf Stark-Ingmars Tanzboden geht, dann habt! ihr von mit aus die Erlaubnis«, sagte Mutter Stina, »denn ich weiß, daß ihr dort anständige und bekannte Leute trefft.«

Storm stellte noch eine andere Bedingung. »Ich lasse Gertrud nicht zum Tanz gehen, wenn nicht Ingmar mitgeht und auf sie aufpaßt.«

Da stürmten alle drei auf Ingmar los. Er aber schlug es ihnen rundweg ab, hielt die Augen auf das Buch geheftet und las weiter. »Ach, es lohnt sich nicht, ihn darum zu bitten«, sagte Gertrud da in einem so sonderbaren Ton, daß er die Augen aufschlug und sie ansah. Wie hübsch sie doch nach dem Tanz aussah! Aber ihr Mund lachte spöttisch, und die Augen funkelten, als sie sich von ihm abwandte. Man konnte ihr deutlich ansehen, wie tief sie ihn verachtete, ihn, der häßlich und sauertöpfisch dasaß und nicht jung sein konnte. Ingmar mußte schnell einwilligen — einen andern Ausweg gab es nicht für ihn.

Ein paar Tage später saßen Gertrud und ihre Mutter in der Küche bei der Arbeit. Auf einmal merkte Gertrud, daß die Mutter unruhig wurde. Sie hielt den Spinnrocken an und lauschte zwischen jedem Wort, das sie sagte. — »Ich begreife nicht, was das ist«, sagte sie. »Hörst du nichts, Gertrud?« — »Ja«, antwortete Gertrud, »es ist jemand in der Schulstube.« — »Wer kann denn um diese Zeit dort sein? Und höre nur, wie es schlurft und raschelt und von einer Ecke in die andere fährt.«

Ja, es raschelte und schlurfte und fuhr in der großen, leeren Stube herum, daß es Gertrud und ihrer Mutter ganz unheimlich zumut’ ward. »Es muß doch jemand droben sein«, sagte Gertrud. — »Das ist aber doch nicht möglich«, antwortete Mutter Stina, »und ich kann dir sagen, daß es jeden Abend so geht, seit ihr droben getanzt habt.«

Gertrud sah der Mutter an, daß sie glaubte, es spuke im Schulzimmer seit dem Tanz. Und das wußte sie, wenn Mutter Stina einmal diesen Glauben hatte, dann war es vorbei mit allem, was Tanz und Tanzboden hieß.

»Jetzt gehe ich hinauf und sehe nach, was es ist«, sagte Gertrud; aber die Mutter hielt sie am Kleid fest. — »Ich weiß nicht, ob ich dich gehen lassen soll.« — »Doch, Mutter, es ist am besten, wir erfahren, was es ist.« — »Dann wollen wir wenigstens zusammen gehen.«

Ganz leise schlichen sie die Treppe hinauf; die Tür wagten sie aber nicht aufzumachen, sondern Mutter Stina bückte sich und sah durchs Schlüsselloch.

Lange stand sie so, und einmal war es, als ob sie lachte. »Was ist es, Mutter?« fragte Gertrud. — »Du kannst selbst sehen, aber sei nur recht leise.«

Gertrud bückte sich und sah hinein. Die Tische und Bänke, die sonst die ganze Stube einnahmen, waren zusammengerückt, die Luft war von Staub erfüllt, und mitten drin stand Ingmar und drehte sich mit einem Stuhl im Arm im Kreise herum.

»Ist Ingmar verrückt geworden?« rief Gertrud. — »Still!« sagte die Mutter und zog sie mit sich die Treppe hinunter. »Ich glaube, er versucht, tanzen zu lernen. Er wird es lernen wollen, damit er auch auf den Tanzboden gehen kann«, fuhr sie schmunzelnd fort.

Und dann schüttelte sich Mutter Stina vor Lachen. »Er hat mir beinahe einen Todesschrecken eingejagt«, sagte sie. »Gott sei Dank, daß er auch einmal jung sein kann!« Und nachdem sie sich wieder gefaßt hatte, fuhr sie fort: »Nun sagst du keinem Menschen ein Sterbenswörtchen davon, hörst du, Gertrud?«

Es wurde Sonnabend, und die vier jungen Leute standen auf der Treppe des Schulhauses zum Gehen bereit. Mutter Stina musterte sie; sie waren so schön, daß sie förmlich glänzten. Die jungen Burschen trugen gelbe Lederhosen und grüne Frieswesten mit roten Ärmeln. Gertrud und Gunhild hatten weite, weiße Puffärmel, große rosa Tücher bedeckten fast den ganzen Oberkörper, die Röcke waren aus gestreiftem Stoff mit einem Baum von rotem Tuch und die großen Schürzen von derselben rosa Farbe wie die Halstücher.

Während die vier durch den schönen Sommerabend dahinwanderten, waren sie zuerst ganz still. Gertrud sah Ingmar bisweilen verstohlen an und dachte daran, wie viele Mühe er sich gegeben hatte, tanzen zu lernen. Woher es nun auch kommen mochte, ob der Gedanke an Ingmar oder die Aussicht auf das Tanzvergnügen schuld daran waren, Gertrud begann jedenfalls zu träumen und zu phantasieren und ließ die andern ein wenig vorausgehen, um ihren Träumen nachhängen zu können. Sie dachte sich eine kleine Geschichte aus, wie es zugegengen war, als die Bäume neue Blätter bekamen.

»Es ist wohl so zugegangen«, dachte sie, »daß die Bäume, die den ganzen Winter hindurch in Frieden und Ruhe geschlafen hatten, plötzlich anfingen, zu träumen. Und da haben sie geträumt, daß es schon hoher Sommer sei. Sie sahen die Felder mit grünem Gras und wogendem Getreide bedeckt, an den Heckenrosenbüschen leuchten frische Blüten. Die Blätter der Wasserlilie bedeckten Gräben und Dämme, die feinen Kletterranken der Linneen bedeckten die Steine, und der Waldboden verschwand ganz unter den Sternmieren und Anemonen. Und zwischen allem, was bekleidet und verhüllt war, sahen sich die Bäume nackt und bloß, und sie schämten sich ihrer Nacktheit, wie man es so oft im Traum tut.

In ihrer Verwirrung dachten die Laubbäume, alles mache sich über sie lustig. Die Hummeln kamen brummend daher und verhöhnten sie, die Krähen lachten sie aus, und die andern Vögel sangen Spottlieder. ›Wo sollen wir etwas hernehmen, um uns zu bedecken?‹ dachten die Bäume ganz verzweifelt. Aber kein einziges Blättchen konnten sie entdecken, weder an Zweig noch Ast, und ihre Angst wurde so groß, daß sie erwachten.

Als sie sich schlaftrunken umschauten, war ihr erster Gedanke: ›Gott sei Dank, daß es nur ein Traum war! Nirgends ist eine Spur vom Sommer zu erblicken. Nur gut, daß wir nicht verschlafen haben.‹

Aber als sie sich weiter umschauten, merkten sie, daß das Eis auf den Seen verschwunden war. Grashalme und Anemonen sproßten aus der Erde hervor, und es gärte und trieb unter ihrer eigenen Rinde. ›Nun haben wir doch verschlafen, wenn es auch noch nicht Sommer ist; wie gut, daß wir erwachten, nun haben wir für ein Jahr genug geschlafen und müssen jetzt unsere Kleider anziehen!‹

Und dann hatten die Birken in aller Eile kleine gelbgrüne, klebrige Blätter herausgesteckt, während sich die Ahornbäume vorläufig nur mit grünen Blüten bekleideten. Die Blätter der Erlen krochen so unfertig und kraus heraus, daß sie wahren Mißgeburten glichen, die Weidenblätter aber waren von Anfang an wohlgeformt, als sie aus den Knospen glitten.«

Gertrud lächelte, während sie sich das ausmalte, und sie wünschte nur, allein mit Ingmar zu sein, um ihm gleich alles erzählen zu können.

Es war ein weiter Weg bis zum Ingmarshof, und sie mußten mehr als eine Stunde zu Fuß gehen. Es ging den Fluß entlang, und Gertrud blieb die ganze Zeit eine Strecke hinter den andern zurück. Jetzt spielten ihre Gedanken mit dem roten Schein des Sonnenuntergangs, der über den Fluß und das Ufer hinleuchtete. Graue Erlenbüschte und lichtgrüne Birken waren wie in rosige Glut getaucht, sie flammten einen Augenblick auf und nahmen ebenso schnell ihre natürliche Farbe wieder an.

Plötzlich blieb Ingmar stehen. Er hatte gerade etwas erzählt, brach aber mittendrin ab und konnte kein Wort weiter hervorbringen. »Was ist?« fragte Gunhild, aber Ingmar starrte nur totenbleich geradeaus. Die andern sahen nichts als eine weite Ebene von Kornfeldern, die von einem Höhenzug begrenzt war. Mitten auf der Ebene lag ein großer Bauernhof. In diesem Augenblick fiel der rote Abendschein auf den Hof, alle Fenster blinkten, und die alten Dächer und Mauern leuchteten in roter Glut.

Gertrud trat rasch näher und warf einen schnellen Blick auf Ingmar, dann zog sie geschwind die andern mit sich fort. »Ihr dürft ihn nicht fragen«, flüsterte sie. »Das dort ist der Ingmarshof, und es wird ihm gewiß recht schwer, ihn zu sehen. Er ist seit zwei Jahren nicht mehr daheim gewesen, nicht ein einziges Mal, seit er arm geworden ist.«

Um Stark-Ingmars Hütte am Waldessaum zu erreichen, mußten sie nun quer über die Ebene am Ingmarshof vorüber.

Ingmar holte sie bald ein und rief ihnen zu: »Es ist besser, wir schlagen diesen Weg hier ein!« Damit führte er sie auf einen Fußpfad, der am Waldessaum hinlief und zu der Hütte führte, ohne daß man den Hof selbst berührte.

»Du kennst doch wohl Stark-Ingmar?« sagte Hök Gabriel Mattsson zu Ingmar. — »Ja, wir sind früher recht gute Freunde gewesen.« — »Ist es wahr, daß er hexen kann?« fragte nun Gunhild. — »Ach nein«, antwortete Ingmar ein wenig zögernd, als ob er doch halb daran glaubte. — »Du darfst schon sagen, was du weißt«, fuhr Gunhild fort. — »Der Schulmeister hat gesagt, wir sollen dergleichen nicht glauben.« — »Der Schulmeister kann keinem Menschen verbieten, zu glauben, was er sieht, und zu glauben, was er weiß.«

Da bekam Ingmar große Lust, von seiner Heimat zu sprechen. Alle Erinnerungen aus seiner Kindheit tauchten vor ihm auf, als er den alten Hof sah.

»Ich kann euch etwas erzählen, was ich selbst erlebt habe«, sagte er.

»Es war in einem Winter, wo Vater und Stark-Ingmar weit drin im Walde bei den Kohlenmeilern waren. Als Weihnachten kam, bot sich Stark-Ingmar an, allein bei den Kohlenmeilern draußen zu bleiben, damit Vater die Festtage daheim verbringen könne. Es wurde denn auch so beschlossen, und am Heiligen Abend schickte Mutter mich mit dem Weihnachtsmahl zu Stark-Ingmar in den Wald. Ich ging sehr früh fort und erreichte den Kohlenmeiler um die Mittagszeit. Als ich ankam, hatten Vater und Stark-Ingmar eben einen Kohlenmeiler fertig gebrannt; sie hatten ihn geöffnet, und die heißen Kohlen lagen zum Abkühlen auf dem Boden ausgebreitet. Es rauchte aus den Kohlenhaufen, und wo die Kohlen dicht beieinander lagen, flammten sie auf, was aber nicht sein durfte. Das war die gefährlichste Zeit des ganzen Kohlenbrennens. Sobald Vater mich erblickte, sagte er auch: ›Ich fürchte, du mußt allein wieder heimgehen, Ingmar, denn ich kann Stark-Ingmar bei dieser Arbeit nicht verlassen.‹ Stark-Ingmar stand auf der andern Seite des Kohlenhaufens mitten im dichten Rauch. ›Jawohl kannst du gehen, Groß-Ingmar, ich habe schon Schwierigeres vollbracht.‹

Nach einer Weile tauchte es etwas weniger aus dem Kohlenhaufen heraus. ›Nun will ich doch sehen, was für ein Weihnachtsgericht Mutter Brita mir geschickt hat‹, sagte Stark-Ingmar und nahm mir das Bündel ab. ›Komm mit, dann kannst du sehen, wie fein dein Vater und ich hier wohnen‹ sagte er. Er zeigte mir die Hütte, wo er und der Vater schliefen. Ein großer Stein bildete die hintere Wand, aber die andern Wände waren aus Tannenzweigen und Schlehdorn zusammengefügt. ›Ja, mein Junge‹ sagte Stark-Ingmar, ›das hast du wohl nicht gedacht, daß dein Vater so ein königliches Schloß hier mitten im Wald hat? Hier kannst du Wände sehen, die Kälte und Unwetter aushalten‹, sagte der Alte und streckte den Arm durch die Tannenzweige ins Freie hinaus.

Vater kam nun auch herein und lachte. Beide waren ganz schwarz von Ruß und rochen nach dem säuerlichen Kohlenmeilerrauch, aber noch nie hatte ich Vater so vergnügt und lustig gesehen. Keiner von den beiden konnte aufrecht in der Hütte stehen, und es fanden sich nur ein paar Lagerstätten aus Tannenreis und einige Steine, worauf ein Feuer brannte, aber trotzdem waren sie seelenvergnügt. Sie setzten sich nebeneinander auf das Tannenreislager und öffneten das Bündel. ›Ich weiß nicht, ob ich dir etwas davon abgebe‹ sagte Stark-Ingmar zu Vater, ›das ist mein Weihnachtsessen.‹ — ›Du mußt barmherzig sein, denn es ist ja Heiliger Abend‹ sagte Vater. — ›Ja, ja, da darf man so einen armen Kohlenbrenner nicht hungern lassen‹, sagte Stark-Ingmar.

Auf diese Weise machten sie fort. Es war auch ein wenig Branntwein im Körbchen, und ich wunderte mich, daß man am Essen und Trinken so eine Freude haben könne. ›Du mußt deiner Mutter sagen, daß Groß-Ingmar mir alles weggegessen hat‹, sagte Stark-Ingmar zu mir. ›Sie muß morgen noch mehr schicken.‹ — ›Ja, ich sehe, daß es wahr ist‹ sagte ich.

In demselben Augenblick fuhr ich heftig zusammen, denn es knisterte im Feuer, beinahe, als hätte jemand eine Handvoll Kiesel auf die Steinplatte geworfen, worauf es brannte. Vater merkte nichts, aber Stark-Ingmar sagte schnell: ›Aha, steht es so?‹ doch aß er ruhig weiter. Da prasselte es aufs neue, nur viel stärker. Ich sah nichts, aber es war, als hätte jemand kleine Steine mitten ins Feuer geworfen. ›Ja, ja, hat es denn solche Eile?‹ sagte Stark-Ingmar und ging hinaus. ›Ja, die Kohlen haben Feuer gefangen‹ rief er gleich darauf, ›aber bleib du nur sitzen, Groß-Ingmar, ich werde schon allein fertig!‹ Vater und ich saßen ganz still, keiner hatte Lust, etwas zu sagen.

Da kam Stark-Ingmar wieder herein, und das Necken begann aufs neue.

›Ich glaube, ich habe seit vielen Jahren keinen so vergnügten Heiligen Abend gefeiert‹, sagte er. Während er noch sprach, begann das Prasseln wieder. ›Ach so, ist es schon wieder soweit?‹ sagte er. Er ging hinaus, und da hatten die Kohlen aufs neue Feuer gefangen. Als er zurückkam, sagte Vater: ›Du hast wirklich recht gute Hilfe, und ich sehe ein, daß du hier bei den Kohlenmeilern gut allein fertig werden kannst.‹ — ›Ja, geh du nur ruhig heim, Groß-Ingmar, es gibt hier schon welche, die mir helfen.‹ Und so ging der Vater mit mir heim, und alles lief gut ab, und weder früher noch später ist jemals einer von Stark-Ingmars Kohlenmeilern in Brand geraten.«

Gunhild bedankte sich bei Ingmar für seine Erzählung, aber Gertrud schritt schweigend weiter, als ob sie Angst bekommen hätte. Die Dämmerung war mittlerweile angebrachen, und alles, was vorhin rot gewesen war, hatte nun eine bleiche, graue Färbung angenommen. Nur drin im Walde saß da und dort ein einzelnes rotes Blatt, das wie das Auge eines Kobolds leuchtete.

Gertrud war ganz erstaunt über Ingmar, der so lang und so ausführlich erzählt hatte. Und unwillkürlich dachte sie, er trage den Kopf etwas höher und schreite mit schnelleren Schritten dahin. Er sei gleichsam ein anderer geworden, seit er den heimatlichen Boden betreten hatte. Gertrud wußte nicht, warum sie das beunruhigte, warum es ihr eigentlich nich gefiel. Sie nahm sich aber schnell zusammen und begann Ingmar zu necken, indem sie ihn fragte, ob er die Absicht habe, zu tanzen.

Endlich erreichten sie eine kleine, graue Hütte. Es brannte Licht drinnen; die kleinen Fenster ließen wohl nicht genug Tageslicht eindringen. Violinspiel und Tanzschritte drangen zu den Ankommenden heraus, aber trotzdem blieben die jungen Mädchen stehen und fragten: »Ist es hier? Kann man denn hier tanzen?«

Es kam ihnen vor, als ob in dem Häuschen höchstens für ein einziges Paar Platz wäre.

»Ach«, sagte Gabriel, »nur immer zu! Das Haus ist gar nicht so klein, wie es aussieht.«

Die Tür stand offen, und davor standen einige junge Paare, die sich warm getanzt hatten. Die Mädchen hatten die Kopftücher abgenommen und fächelten sich damit, und die Burschen zogen die kurzen, schwarzen Jacken aus, um in den hell-grünen Westen mit den roten Ärmeln zu tanzen.

Die Neuangekommenen drängten sich durch die verschiedenen Gruppen an der Tür hindurch und traten in die Stube. Der erste, den sie sahen, war Stark-Ingmar. Er war ein kleiner, dicker Mann mit einem großen Kopf und einem langen Bart. »Ja, er sieht wirklich aus, als sei er mit Kobolden verwandt«, dachte Gertrud. Stark-Ingmar stand mit der Geige auf dem Herd, wahrscheinlich um den Tanzenden nicht im Wege zu sein.

Das Häuschen hatte mehr Raum, als es von außen den Anschein hatte. Aber es war verfallen und ärmlich, die nackten Bretterwände waren wurmstichig und die Decke rußgeschwärzt. Es gab weder Vorhänge an den Fenstern noch eine Decke auf dem Tisch, man sah gleich, daß Stark-Ingmar ein einsamer Mann war. Seine Kinder waren nach Amerika ausgewandert, und des alten Mannes einziges Vergnügen in seiner Einsamkeit bestand darin, am Sonnabend die Jugend um sich zu versammeln und ihnen auf der Violine zum Tanz aufzuspielen.

Im Zimmer war es dunkel und schwül, Paar an Paar drehte sich im Kreise. Gertrud wurde zuerst fast ohnmächtig, und sie wollte rasch wieder hinausgehen, aber es war ganz unmöglich, sich durch die lebendige Mauer von Menschen, die den Eingang versperrten, hindurchzudrücken.

Stark-Ingmar spielte taktfest und sicher, aber als Ingmar Ingmarsson an der Tür erschien, fuhr er mit dem Fiedelbogen über die Saiten, daß es kratzte und die Tanzenden anhielten. »Nein, nein!« rief er, »es war nichts, tanzt nur weiter!«

Ingmar legte den Arm um Gertrud, um mit ihr den Tanz zu beginnen, und Gertrud tat selbstverständlich sehr überrascht, daß er tanzen wollte. Aber dann blieb sie stehen, denn ein Paar folgte dem andern so dicht auf dem Fuße nach, daß es nicht möglich war, sich dazwischenzuschieben, wenn man nicht von Anfang an dabeigewesen war.

Da unterbrach der alte Stark-Ingmar sein Spiel, schlug mit dem Fiedelbogen auf den Rand des Herds und rief mit gebieterischer Stimme: »Groß-Ingmars Sohn muß Platz haben, wenn in meinem Hause getanzt wird!« Alle sahen auf Ingmar, da wurde er verlegen und kam nicht vom Fleck. Gertrud mußte ihn fest anfassen und in die Reihe hineinziehen.

Sobald der Tanz vorüber war, trat der Häusler zu Ingmar und begrüßte ihn. Als nun Ingmars Hand in der seinigen lag, tat der Alte, als erschrecke er, und ließ sie schnell los. »Ei, ei«, sagte er, »man muß sich wohl in acht nehmen vor den feinen Schulmeistershänden, so ein alter Klodrian wie ich könnte sie leicht zerquetschen.«

Hierauf zog er Ingmar und die mit ihm waren an den Tisch, und ein paar Bauernweiber, die dort saßen und den andern zusahen, jagte er einfach weg. Dann ging er an einen Schrank und nahm Brot, Butter und ungegorenes Bier heraus. »Ich warte sonst den Leuten nicht auf«, sagte er, »die andern müssen sich mit Spiel und Tanz begnügen, aber Ingmar Ingmarsson soll doch einen Bissen Brot unter meinem Dach essen.«

Während die jungen Leute aßen, zog er einen niederen, dreibeinigen Stuhl herbei, setzte sich Ingmar gerade gegenüber und starrte ihn an. »Und du willst also Schulmeister werden?« fragte er. Eine Weile saß Ingmar mit niedergeschlagenen Augen da; seine Mundwinkel verzogen sich ein wenig, als ob er lachen wollte, aber er antwortete doch betrübt: »Man braucht mich daheim nicht.« — »So, braucht man dich nicht daheim?« sagte der Alte. »Was weißt du, ob der Hof dich nicht nötig hat? Eljas lebte noch zwei Jahre, wer weiß, wie lange Halvor noch am Leben bleibt?« — »Halvor ist ein gesunder, kräftiger Mann«, sagte Ingmar. — »Aber du weißt recht wohl, daß dir Halvor den Hof überläßt, sobald du ihn zurückkaufen kannst.« — »Er wird nicht so verrückt sein, den Ingmarshof wieder herzugeben, nun er ihn einmal in der Hand hat.«

Während dieser Reden hatte Ingmar die Tischkante erfaßt. Es war ein einfacher Tisch mit einer dicken Platte aus Fährenholz. Plötzlich ertönte ein Krach; Ingmar hatte ein Stück von der Ecke abgebrochen.

Stark-Ingmar saß da und sprach mit aufgehobener Hand. — »Nein, niemals wird er dir den Hof abtreten, wenn du Schulmeister wirst.« — »Glaubst du das?« — »Glauben, glauben«, sagte der Alte. »Da hört man, wo du erzogen werden bist. Bist du je hinter dem Pflug hergegangen?« — »Nein«, antwortete Ingmar. — »Hast du je einen Kohlenmeiler aufgerichtet, hast du einmal eine hundertjährige Kiefer gefällt?«

Noch immer saß Ingmar ruhig da, aber die Tischkante krachte unter seinen Fingern. Schließlich wurde der Alte aufmerksam und verstummte plötzlich. »Ei, ei«, sagte er, als er die zersplitterte Tischplatte sah, »ich muß dich doch noch einmal in die Hand nehmen.« Er hob einige der abgebrochenen Stücke auf und hielt sie an die Stelle, wo sie hingehörten. »Nein, so einer! Du kannst dich ja auf dem Jahrmarkt für Geld sehen lassen! Du Schelm!« Er schlug Ingmar auf die Schulter. »Ja, du bist wirklich zu einem Schulmeister wie geschaffen!«

Und in einem Nu war er wieder drohen auf dem Herd und begann zu spielen. Und nun war eine ganz andere Kraft in seinem Spiel. Er stampfte den Takt mit dem Fuß und spielte den Tanz in rasendem Tempo. »Das ist Jung-Ingmars Polka!« rief er. »Juhe! Nun tanzen alle in der Stube für Jung-Ingmar!«

Gertrud und Gunhild waren hübsche Mädchen, und es fehlte ihnen nie an Tänzern. Ingmar tanzte nicht viel; er unterhielt sich meistens mit einigen der älteren Burschen ganz hinten in der Stube. In den Pausen versammelte sich eine Menge Leute um Ingmar, als machte es ihnen Freude, ihn nur anzusehen.

Gertrud kam es vor, als hätte Ingmar sie vollständig vergessen, und es wurde ihr ganz ängstlich zumut. »Jetzt merkt er, daß er der Sohn des großen Ingmar ist, ich aber nur des Schulmeisters Gertrud bin«, dachte sie.

Und sie war selbst erstaunt darüber, daß ihr dieser Gedanke so weh tat.

In den Pausen gingen die jungen Leute in die Frühlingsnacht hinaus, wo es indes bitter kalt war, so daß man sich leicht erkälten konnte. Es war stockfinster draußen, aber da niemand Lust hatte, sich auf den Heimweg zu machen, sagten alle: »Wir wollen noch ein wenig dableiben, bald geht der Mond auf, jetzt ist es zu dunkel.«

Einmal, als Ingmar gerade neben Gertrud unter der Tür stand, trat der Häusler zu ihnen und zog ihn mit sich fort. »Komm, ich will dir etwas zeigen«, sagte er.

Er nahm Ingmar bei der Hand und führte ihn durch ein Gebüsch nach der hinteren Seite der Hütte. »Bleib nun stehen und sieh hier hinunter«, sagte er. Ingmar sah in eine Schlucht hinab, auf deren Boden etwas Weißes ganz undeutlich schimmerte.

»Das ist gewiß der Langfors«, sagte er. — »Ja, du kannst dich darauf verlassen, daß es der Langfors ist«, sagte der Häusler, »aber was meinst du wohl, wozu solch ein Wasserfall benützt werden könnte?« — »Oh, man könnte ein Sägewerk oder eine Mühle hier errichten«, sagte Ingmar. — Der Alte klopfte Ingmar lachend auf die Schulter und puffte ihn in die Seite, so daß er ihn beinahe in die Schlucht hinunterstieß. »Aber wer soll hier ein Sägewerk errichten? Wer soll hier reich werden? Wer soll den Ingmarshof zurückkaufen?« — »Ja, ja, ich denke eben auch darüber nach«, sagte Ingmar. Da begann der Häusler einen großen Plan zu entwickeln, den er sich ausgedacht hatte. Ingmar solle Tims Halvor überreden, an dem Wasserfall ein Sägewerk zu errichten, und dann solle Ingmar es pachten. Schon seit mehreren Jahren hatte der Alte über nichts anderes nachgegrübelt, als etwas ausfindig zu machen, wodurch Groß-Ingmars Sohn wieder zu Reichtum gelangen könnte.

Ingmar sah lange in die Schlucht hinunter. »Nein, nun komm, nun wollen wir wieder hineingehen und tanzen«, sagte Stark-Ingmar. Aber Jung-Ingmar rührte sich nicht von der Stelle, und der alte Häusler wartete geduldig. »Wenn er von der rechten Sorte ist, dann gibt er weder heute noch morgen eine Antwort; die Alten müssen sich gedulden.«

Während sie so dastanden, ertönte plötzlich das laute, zornige Bellen eines Hundes. »Hörst du etwas, Ingmar?« fragte der Häusler. — »Ja, ein Hund treibt sich im Wald umher«, antwortete Ingmar. Sie hörten, daß das Bellen näher kam; es kam rasch auf sie zu, als ob die Jagd gerade über die Hütte weggehen sollte. Der Alte ergriff Ingmar beim Handgelenk. »Komm, komm«, sagte er, »mach, daß du hineinkommst, sag ich!« — »Was gibt es denn?« fragte Ingmar. — »Komm ins Haus hinein«, antwortete der Häusler, »sei still und geh hinein.«

Während sie die paar Schritte nach dem Hause eilten, erklang das heftige Bellen ganz in ihrer Nähe. »Was ist das für ein Hund?« fragte Ingmar einmal ums andere. — »Hinein mit dir, nur hinein!« Der Häusler puffte Ingmar in den kleinen Flur hinein, er selbst blieb auf der Schwelle stehen und machte sich daran, die Haustür zu schließen. »Wenn noch jemand draußen ist«, rief er mit lauter Stimme, »dann soll er hereinkommen!« Er hielt die Tür halb offen, die Leute eilten von allen Seiten herbei. »Macht nur, daß ihr hereinkommt!« rief er. »Rasch!« Er stampfte vor Ungeduld auf den Boden.

Mittlerweile wurde es den Menschen in der Stube ganz ängstlich zumute, und alle wollten wissen, was bevorstehe. Endlich war der letzte hereingekommen, und der Häusler schloß die Tür und legte den Riegel vor. »Seid ihr verrückt, daß ihr draußen bleiben wollt, wenn sich der Berghund hören läßt?« fragte er. Zugleich erklang das Bellen dicht vor der Hütte; es lief ein paarmal rund ums Haus herum; ein heftiges, unheimliches Bellen. — »Ist es kein richtiger Hund?« fragte ein Bursche. — »Du kannst hinausgehen und ihn locken, wenn du Lust dazu hast, du, Nils Jansson.«

Alle horchten schweigend auf das Bellen, das unaufhörlich rund um das Haus herumlief. Es schien ihnen, als würde es nun wild und unheimlich; sie schauderten, und viele wurden totenblaß. Nein, das war kein gewöhnlicher Hund, das konnte man hören. Es war gewiß irgendein Ungeheuer, das der Hölle entsprungen war.

Der kleine, alte Häusler war der einzige, der sich zu bewegen wagte; zuerst zog er die Läden zu, dann blies er die Lichter aus. »Nein, nein«, riefen die Frauen, »nicht auslöschen!« — »Ihr müßt mich das tun lassen, was für uns alle das Beste ist«, sagte der Alte. Jemand hielt ihn am Rock fest. — »Tut er uns etwas, dieser Berghund?« — »Der nicht«, antwortete der Alte, »aber das, was nachkommt.« — »Was kommt denn nach?« — Der Alte blieb stehen und lauschte. »Nun müssen wir alle ganz still sein«, sagte er.

Sofort wurde es totenstill in der Stube, so daß man nicht einen Atemzug hörte. Noch einmal erklang das Bellen des Hundes rund um das Haus herum. Dann nahm es an Stärke ab, und man konnte verfolgen, wie der Hund über das Langforsmoor hinweg- und den Berg auf der andern Seite des Tals hinaufjagte. Dann wurde es ganz still.

Da konnte einer der Burschen sich nicht enthalten, zu sagen: »Nun ist der Hund fort.« Ohne ein Wort zu erwidern, streckte Stark-Ingmar die Hand aus und gab ihm eine Maulschelle. Darauf wurde es wieder ganz still.

In weiter Ferne vom Gipfel des Klackbergs erklang jetzt ein lauter Ton. Es war wie ein Windstoß, aber es konnte auch ein Hornsignal sein. Ab und zu hörte man einen langgezogenen Ton, dann Lärm und Hufschlag und Schnauben. Vom Berg herunter kam es mit großem Getöse. Sie hörten es am Bergabhang, sie hörten es am Waldessaum, sie hörten es, als es über ihnen war. Es war wie ein Donner, der über die Oberfläche der Erde hinrollt, es war, als komme der ganze Berg herunter und stürze sich ins Tal. Und als es ganz dicht bei ihnen war, senkten alle die Köpfe und zogen die Schultem ein. »Sie zerschmettem uns, sie zerschmettern uns!« dachten sie dann.

Aber es war weniger Angst vor dem Tod, die sie empfanden, sondern vielmehr ein Grauen, daß es der Fürst der Hölle sein könnte, der mit seinem ganzen Heer durch die Nacht dahinsause. Was sie am meisten entsetzte, war, daß sie mitten in dem Getöse Angst- und Klagerufe vernahmen. Es feuchte und jammerte, es heulte und lachte, es pfiff und johlte. Und als das, was soeben noch wie ein heftiges Gewitter geklungen hatte, ganz nahe herbeigekommen war, da hörte man, daß es aus Klagen und Verwünschwngen zusammengesetzt war, aus Heulen und Raserei, aus schriller Hornmusik, aus knisterndem Feuer, aus dem Heulen der Geister, dem Hohnlachen der Teufel und dem Sausen großer Flügel.

Sie fühlten, daß alle Schrecken des Abgrundes in dieser Nacht losgelassen waren und sich über sie herstürzten.

Die Erde erbebte unter ihnen, und das Haus schwankte einen Augenblick, als wollte es einstürzen. Es war, als ob wilde Pferde über die Hütte hinwegsetzten — ihre Hufe schlugen dröhnend aufs Dach — als ob Geister heulend um die Ecken sausten und Fledermäuse und Eulen mit schweren Flügelschlägen gegen den Schornstein schlügen.

Während das vor sich ging, legte plötzlich jemand seinen Arm um Gertrud und zwang sie auf die Knie nieder. Und sie hörte Ingmar flüstern: »Laß uns niederknien, Gertrud, und zu Gott beten.«

Einen Augenblick vorher hatte Gertrud gemeint, sie müsse sterben, so entsetzlich war die Angst, die sie ergriffen hatte. »Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben«, dachte sie, »aber das Entsetzliche ist, daß die bösen Mächte über uns und uns nahe sind.« Aber sobald sie Ingmars Arm um ihre Schultern fühlte, begann ihr Herz wieder zu schlagen, und ihr Körper war nicht länger steif und unbeweglich. Sie drückte sich ganz dicht an ihn. Wenn er sie nur festhielt, dann fürchtete sie sich nicht mehr. Es war sonderbar; er selbst fürchtete sich wohl auch, und doch ging so viel Sicherheit von ihm aus. Dann endlich nahm der entsetzliche Lärm ab, und man hörte, wie er davonzog. Er nahm denselben Weg wie vorhin der Hund, über das Langforsmoor und zu den Wäldern unter dem Olofhut hinauf. Aber trotzdem blieb es still und ruhig in Stark-Ingmars Haus; niemand bewegte sich, niemand sagte ein Wort, es war, als ob niemand die Kraft hätte, ein Glied zu rühren. Beinahe hätte man glauben können, der Schreck habe alles Leben ausgelöscht. Nur ab und zu hörte man einen schweren Atemzug, der erkennen ließ, daß noch jemand lebte. Aber lange, lange bewegte sich niemand. Die einen lehnten sich an die Wand, andere waren auf die Bänke gesunken, die meisten aber knieten in angstvollem Gebet auf dem Boden. Alle waren unbeweglich, von Entsetzen gelähmt.

Stunde auf Stunde verging, und während dieser Zeit ging mancher in sich und beschloß, von nun an ein neues Leben zu führen; ein Leben, das näher bei Gott und weiter entfernt von seinen Feinden wäre. Denn jeder einzelne der Anwesenden dachte: »Ganz sicher ist etwas, was ich getan habe, der Grund, warum das über uns gekommen ist. Es geschieht um meiner Sünde willen. Ich habe es wohl gehört, wie die Vorüberjagenden mich riefen, mich verhöhnten, wie sie meinen Namen schrien.«

Und was Gertrud betrifft, so hatte sie nur einen Gedanken: »Nun weiß ich, daß ich nicht ohne Ingmar leben kann, sondern immer mit ihm zusammen sein muß, um der Sicherheit willen, die von ihm ausgeht.«

Allmählich begann der Tag zu grauen, die schwache Morgendämmerung drang in die Stube herein und beleuchtete die vielen bleichen Gesichter. Dann begann ein Vogel zu zwitschern und dann noch einer, Stark-Ingmars Kuh brüllte nach Futter, und seine Katze, die an den Tanzabenden nie in der Stube schlief, kam an die Tür und miaute.

Aber niemand bewegte sich, ehe die Sonne hinter den Bergen im Osten aufgegangen war. Dann erst schlich sich einer nach dem andern fort, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu verabschieden. Vor dem Hause fanden sie ein Bild der Zerstörung. Die große Fichte, die dicht neben dem Hauseingang gestanden hatte, war mit allen Wurzeln ausgerissen und lag am Boden; Zweige und Heckenpfähle lagen ringsherum auf der Erde zerstreut, ein paar Fledermäuse und Eulen hatten sich an der Hauswand zerschmettert.

Weit hinauf am Klackberg waren die Bäume umgerissen, so daß es aussah, als führte jetzt eine große, breite Straße aufwärts.

Niemand wagte, sich lange umzuschauen, alle beeilten sich, ins Dorf hinabzukommen. Während sie dahinschritten, erwachte der Morgen ringum. Es war Sonntag, und die Leute standen spät auf, aber da und dort war doch schon jemand auf und fütterte das Vieh. Die Sonntagskleider über dem Arm, trat ein alter Mann vor seine Tür, um den Staat auszulüften und auszubürsten. Aus einem andern Haus kamen Vater und Mutter und Kinder schon sonntäglich gekleidet heraus; sie wollten wohl im Nachbardorf einen Besuch machen. Es war ein großer Trost, zu sehen, daß die Leute alle so ruhig waren und keine Ahnung hatten von dem Entsetzlichen, was sich in dieser Nacht im Wald zugetragen hatte.

Endlich kamen sie an den Fluß, wo die Wohnhäuser dichter standen, und schließlich erreichten sie das Dorf. Wie froh waren sie, als sie die Kirche und alles andere sahen! Es war ihnen eine große Beruhigung, daß sie hier unten alles unverändert vorfanden. Das Schild am Kaufladen glänzte wie sonst auch, das Horn auf dem Posthaus saß auf seinem alten Platz, und der Hund des Wirts schlief wie gewöhnlich vor seiner Hütte.

Es war auch ein Trost, ein wildes Kirschbäumchen zu sehen, das ausgeschlagen hatte, seit sie zuletzt hier vorübergegangen waren, sowie die grünen Bänke im Pfarrgarten, die gestern abend noch spät herausgesetzt werden sein mußten.

All das war beruhigend, aber trotzdem wagte niemand ein Wert zu sprechen, ehe sie daheim angelangt waren.

Als Gertrud auf der Vortreppe des Schulhauses stand, sagte sie zu Ingmar:

»Nun habe ich zum letztenmal getanzt, Ingmar!«

»Ja«, antwortete Ingmar, »ich auch.«

»Und, Ingmar«, sagte Gertrud, »du wirst Pfarrer werden, nicht wahr? Und wenn du kein Pfarrer werden kannst, so mußt du wenigstens Schullehrer werden. Gegen die Macht des Bösen sollte man mit allen Kräften ankämpfen.«

Ingmar sah Gertrud fest an. »Diese Stimmen«, fragte er, »was sagten diese Stimmen zu dir, Gertrud?«

»Sie sagten zu mir, ich sei in das Netz der Sünde verstrickt, und die Teufel würden kommen und mich holen, weil ich so gerne tanze.«

»Nun will ich dir sagen, was ich gehört habe«, sagte Ingmar. »Mir war, als ob all die alten Ingmarssöhne mir drohten und mich verfluchten, weil ich etwas anderes werden wollte als ein Bauer und mir ein anderes Arbeitsfeld suchen wollte als den Wald und das Ackerfeld.«

Hellgum

In der Nacht, in der die Jugend bei Stark-Ingmar tanzte, war Halvor nicht daheim, und die Ingmarstochter Karin lag allein in ihrer Kammer. Mitten in der Nacht hatte sie einen schweren Traum. Ihr träumte, Eljas sei noch am Leben und halte ein großes Trinkgelage. Sie hörte, daß drin in der Groß-Stube die Gläser klangen, lautes Lachen ertönte und Trinklieder angestimmt wurden.

Es kam ihr vor, als ob der Lärm, den Eljas und seine Kameraden machten, immer lauter würde, und schließlich hörte es sich an, als ob sie Tische und Bänke entzweischlügen. Darüber erschrak Karin so sehr, daß sie erwachte.

Aber obgleich sie wach war, hörte das Getöse um sie herum doch nicht auf. Die Erde erbebte, die Fenster klirrten, die Ziegel flogen von den Dächern herunter, und der alte Bimbaum an der Giebelseite schlug mit seinen dürren Zweigen gegen die Mauer.

Es war, als bräche der Morgen des Jüngsten Tages an.

Da, gerade als das Getöse am heftigsten war, zersprang eine Fensterscheibe, und die Glasscherben flogen klirrend zu Boden. Ein heftiger Wind sauste ins Zimmer herein, und Karin hörte dicht an ihrem Ohr ein Lachen, dasselbe Lachen, das sie eben im Traum gehört hatte.

Karin glaubte, sie müsse sterben; noch nie hatte sie so ein Entsetzen empfunden. Ihr Herz hörte auf zu schlagen, und ihr Körper wurde steif und eiskalt.

Das Getöse hörte indes schnell auf, und Karin kam wieder zu sich. Die kalte Nachtluft strömte in die Stube herein, und nach einer Weile entschloß sie sich, aufzustehen, um das Loch in der Fensterscheibe zu verstopfen. Aber als sie aus dem Bett steigen wollte, versagten ihr die Beine, und sie merkte, daß sie nicht gehen konnte.

Karin rief nicht um Hilfe, sondern legte sich leise wieder nieder. »Wenn ich mich beruhigt habe, werde ich schon wieder gehen können«, dachte sie. Nach einer Weile machte sie einen neuen Versuch, aber ihre Beine waren völlig kraftlos und versagten den Dienst. Sie konnte sich nicht darauf stützen, sondern fiel um und blieb neben dem Bett liegen.

Am nächsten Morgen, als die Dienstboten aufgestanden waren, wurde nach dem Doktor geschickt. Er kam auch schnell, konnte aber nicht verstehen, was mit Karin vorgegangen war. Sie war weder krank noch gelähmt, und er meinte, es sei wohl eine Folge des Schreckens, den sie gehabt habe. »Es wird bald wieder besser werden«, tröstete er.

Karin hörte den Doktor an, ohne ein Wort zu erwidern. Sie wußte, daß Eljas in der Nacht in der Stube gewesen war und daß er ihr das angetan hatte. Sie war überzeugt, daß sie nie wieder würde gehen können.

Den ganzen Vormittag war Karin schweigsam und nachdenklich. Sie versuchte zu ergründen, warum Gott ihr diese Heimsuchung geschickt hatte, und sie ging streng mit sich selbst ins Gericht, konnte aber keine Sünde finden, die eine so harte Strafe verdient hätte. »Gott ist ungerecht gegen mich«, dachte sie.

Am Nachmittag ließ sich Karin in Storms Missionssaal fahren, wo der Prediger Dagson predigte. Sie hoffte, Dagson werde ihr erklären können, warum sie so hart gestraft wurde.

Dagson war ein beliebter Prediger, aber noch nie hatte er so viele Zuhörer gehabt wie an diesem Tage. Nein, was für eine Menschenmenge stand um das Missionshaus herum! Und niemand sprach von etwas anderem als davon, was in der vergangenen Nacht bei Stark-Ingmar geschehen war.

Die ganze Gemeinde war aufgeschreckt worden und nun zusammengekommen, um ein Wort Gottes zu hören, das ihre Furcht verjagen könnte.

Nicht der vierte Teil der Anwesenden konnte ins Haus hinein, aber die Fenster und Türen standen weit offen, und Dagson hatte eine laute Stimme, so daß ihn auch die Außenstehenden hören konnten.

Der Prediger wußte, was geschehen war und wonach die Leute sich sehnten. Er begann seine Rede mit furchtbaren Worten über die Hölle und den Fürsten der Finsternis. Er erinnerte an den, der in der Dunkelheit umhergehe und die Seelen fange, der die Schlingen des Lasters lege und die Netze der Sünde ausbreite.

Die Zuhörer schauderten und sahen die Welt von Teufeln erfüllt, die die Menschen lockten und versuchten. Überall war Sünde und Gefahr. Man wanderte über Fallgruben, und man war wie die Tiere des wilden Waldes, die gejagt und gehetzt werden.

Als Dagson so redete, hallte seine Stimme durch den Saal wie ein wilder Sturm, und seine Worte waren wie Feuerflammen.

Dagsons Rede erinnerte an einen Waldbrand; mitten unter diesen Teufeln und in all diesem Rauch und Feuer hatte man das Gefühl, als ob der Wald ringsum in Flammen stünde, als ob Feuer durch das Moos kröche, wo man den Fuß hinsetzte, und als ob Rauchwolken aufstiegen, die man einatmen müsse; es war, als ob die Hitze einem das Haar versengte, das Knistern des Feuers einem in den Ohren tönte und als ob die Funken jeden Augenblick die Kleider in Brand setzen würden.

Auf solche Weise jagte Dagson seine Zuhörer durch Feuer, Rauch und Verzweiflung hindurch. Feuer vor sich, Feuer hinter sich und Feuer auf allen Seiten; nirgends etwas anderes als Verderben.

Aber durch all diese Schrecken hindurch führte er sie dann schließlich zu einem grünen Platz mitten im Walde, da war nur Ruhe, Kühle und Sicherheit. Und mitten auf der blühenden Waldwiese saß Jesus. Er streckte seine Arme den gehetzten Menschen entgegen, und sie ließen sich zu seinen Füßen nieder, und alle Gefahr war vorüber, und es gab keinen Schrecken und keine Verfolgung mehr.

Dagson sprach so, wie er es selbst fühlte. Wenn er sich nur zu Jesu Füßen niederlegen durfte, kamen Ruhe und Frieden über ihn, und er fürchtete sich vor keiner Gefahr des Lebens mehr.

Nachdem Dagson geendet hatte, ging eine heftige Bewegung durch die Zuhörer. Mehrere traten vor und dankten ihm, während andern die Tränen aus den Augen stürzten. Sie sagten, durch diese Predigt seien sie zum rechten Glauben an Gott erweckt werden.

Aber Karin Ingmarstochter saß unbeweglich da, und als Dagson seine Rede schloß, hob sie die schweren Augenlider und sah ihn mit einem Blick an, der ihm vorzuwerfen schien, daß sie leer ausgegangen sei.

Da erhob sich draußen vor dem Missionshaus eine starke Stimme und rief so laut, daß die ganze Versammlung die Worte verstand:

»Weh, weh, weh über die, die Steine statt Brot geben!«

Karin konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte, sie mußte still sitzen bleiben, während die andern hinausstürmten.

Später erfuhr sie von ihrem Gesinde, daß es ein großer, dunkler Mann gewesen sei, den niemand gekannt habe. Er und eine schöne blonde Frau seien während der Predigt in einem Einspänner vorübergefahren. Sie hätten angehalten und zugehört, und als sie dann weiterfuhren, sei der Mann aufgestanden und habe jene Worte gerufen.

Einige meinten, die Frau sei ihnen bekannt vorgekommen. Sie sagten, es müsse eine der Ingmarstöchter gewesen sein, die in Amerika verheiratet waren, und der Mann neben ihr sei also wohl ihr Mann gewesen. Aber es sei nicht so leicht, jemand wiederzuerkennen, den man in der gewöhnlichen Dorftracht als junges Ding gekannt habe und der nun erwachsen und in städtischen Kleidern zurückkomme.

Karin dachte über Dagson genau wie der Fremde; das konnte man daraus entnehmen, daß sie sich nie mehr ins Missionshaus fahren ließ.

Im Lauf des Sommers hörte sie einen Prediger der Baptisten, der ins Kirchspiel gekommen war und hier predigte und taufte, und als auch die Heilsarmee im Ort Versammlungen abhielt, ließ sie sich einmal hinfahren.

Eine große religiöse Bewegung ging durch das Kirchspiel. Bei allen Versammlungen geschahen Erweckungen und Bekehrungen, alle schienen gerade das zu finden, wonach sie gesucht hatten.

Aber keiner von denen, die Karin hörte, konnte sie lehren, sich mit dem Strafgericht, das Gott über sie hatte kommen lassen, auszusöhnen.

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Birger Barsson hieß ein Schmied, dessen Werkstatt neben der Landstraße lag. Die Schmiede war klein und dunkel, mit einer Luke anstatt des Fensters und einer niederen Tür. Birger Larsson verfertigte grobe Messer, besserte Schlösser aus, machte Eisenringe für Wagenräder und beschlug Schlittenkufen. Wenn er keine andere Arbeit hatte, machte er auch Nägel.

Eines Sommerabends war die Arbeit in der Schmiede noch in vollem Gang. Birger Larsson selbst schlug auf einem Amboß Nagelköpfe breit, während sein ältester Sohn, der siebzehn Jahre alt war, vor einem andern stand, einen dünnen Eisendraht nach dem anderen zurechthämmerte und in kurze Stücke zerschnitt. Ein zweiter Sohn zog den Blasebalg, während ein dritter Kohlen herbeitrug oder die Eisen umwandte, die in der Esse glühten, und sie den Schmieden hintrug. Der vierte Sohn war kaum sieben Jahre alt; er las die fertigen Nägel auf, kühlte sie in einem Kübel Wasser ab und band sie zusammen.

Mitten unter der Arbeit kam ein fremder Mann vorüber und blieb an der offenen Tür stehen. Es war ein hochgewachsener, dunkler Mann, und er mußte sich tief bücken, um in die Schmiede hineinsehen zu können.

Birger Larsson hielt in der Arbeit inne, um zu fragen, was der Fremde wollte.

»Ihr müßt es nicht übelnehmen, wenn ich hereinschaue, obgleich ich keine Bestellung machen will—«, sagte der Mann. »Ich bin in meiner Jugend selbst Schmied gewesen, und deshalb wird es mir immer schwer, an einer Schmiede vorüberzugehen, ohne hineinzuschauen.«

Birger Larsson warf unwillkürlich einen Blick auf die Hände des Fremden; sie waren groß und sehnig, richtige Schmiedsfäuste.

Nun begann der Schmied den Fremden auszufragen, wer er sei und woher er komme. Der Mann gab freundlich Antwort, ohne sich jedoch zu erkennen zu geben. Birger dachte, es sei ein kluger Mann, und er fand Gefallen an ihm. Er ging mit ihm auf den schwarzen Vorplatz hinaus und prahlte da mit seinen Söhnen. Er sagte, im Anfang habe er schwere Zeiten gehabt, bis die Söhne herangewachsen seien und bei der Arbeit hätten helfen können. Aber nun, seit sie alle mit Hand anlegten, gehe es gut. »Und du wirst sehen, in ein paar Jahren bin ich ein reicher Mann«, schloß Birger seine Erzählung.

Der Fremde lächelte und sagte, es freue ihn, daß Birger an seinen Söhnen eine so gute Hilfe habe. »Nun aber möchte ich dich etwas fragen«, fuhr er fort, indem er seine Hand schwer auf Birgers Schulter legte und ihm tief in die Augen sah. »Da du in den weltlichen Dingen eine so gute Hilfe an deinen Söhnen hast, läßt du sie dir wohl auch in den geistlichen beistehen?« Birger starrte ihn verständnislos an. Da sagte der Fremde: »Ich sehe, daß das eine neue Frage für dich ist, so denke denn darüber nach, bis wir uns wiedersehen.«

Lächelnd ging er seiner Wege. Birger Larsson aber trat wieder in seine Schmiede; er kratzte sich im Haar, das steif war und gelb wie Messing, und begab sich an seine Arbeit.

Die Worte des Fremden beschäftigten ihn mehrere Tage lang unausgesetzt. Was war das nur für eine seltsame Frage? »Dahinter versteckt sich etwas, was ich nicht verstehe«, dachte er.

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Es war am Tag, nachdem der Fremde mit Birger Larsson gesprochen hatte, drunten im Dorf in Tims Halvors früherem Laden, den es nach seiner Verheiratung mit Karin seinem Schwager Kolaas Gunnar überlassen hatte.

Gunnar war verreist, und indessen besorgte seine Frau, Brita Ingmarstochter, den Laden.

Schön und stattlich stand Brita hinter dem Ladentisch. Sie hatte sowohl den Namen als auch das Aussehen von ihrer Mutter, Groß-Ingmars schöner Frau, geerbt. Ein so schönes Mädchen wie Brita war noch nie auf dem Ingmarshof aufgewachsen.

Aber wenn auch Brita ihrem Äußeren nach nicht dem alten Geschlecht nachschlug, so war sie doch ebensogut, rechtschaffen und gewissenhaft wie irgendein anderes Glied der Familie.

In Gunnars Abwesenheit besorgte Brita den Laden auf ihre eigene Art. Wenn zum Beispiel der alte Korporal Fält betrunken und schwankend hereinkam und eine Flasche Bier verlangte, dann schlug es ihm Brita rundweg ab, und als die arme Lena Kolbjörn eine hübsche Brosche kaufen wollte, schickte Brita sie mit fünf Pfund Roggenmehl wieder fort.

Solange Brita im Laden regierte, wagte sich kein Kind herein, um seine mageren Pfennige für Rosinen oder Süßigkeiten zu vergeuden. Und eine Bäuerin, die gekommen war, um von den leichten, dünnen städtischen Stoffen zu kaufen, wurde von Brita mit der Ermahnung weggeschickt, haltbareres, starkes, dauerhaftes Zeug auf ihrem eigenen Webstuhl zu weben.

An diesem Tag hatte Brita nicht viele Kunden; stundenlang saß sie allein da. Sie sank zusammen und starrte vor sich hin, während Verzweiflung in ihren Augen brannte.

Endlich richtete sie sich auf, suchte einen Strick hervor, trug die Leiter aus dem Laden in die Hinterstube und knüpfte aus dem Strick eine Schlinge, die sie an einem Haken an der Decke befestigte.

Brita war ganz in ihre Vorbereitungen vertieft und hatte bald alles bereit. Sie wollte eben den Kopf durch die Schlinge stecken, als sie einen Blick zurück warf.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein hoher, dunkler Mann trat herein. Er war in den Laden gekommen, ohne daß sie ihn gehört hatte, und als er niemand darin fand, war er um den Ladentisch herumgegangen und hatte die Tür zur Hinterstube geöffnet.

Brita stieg schweigend die Leiter wieder herunter. Der Mann sagte nichts zu ihr, sondern ging langsam wieder in den Laden zurück, und Brita folgte ihm nach. Sie hatte den Mann noch nie gesehen, er hatte schwarzes, lockiges Haar, einen dichten Vollbart, scharfe Augen und große, sehnige Hände. Er war gut angezogen, bewegte sich aber wie ein Arbeiter. Er setzte sich auf einen zerfetzten Stuhl in der Nähe der Tür und sah Brita unverwandt an.

Die Bauersfrau stand ruhig hinter dem Ladentisch und stellte keine Frage an ihn, sondern wünschte nur, daß er wieder gehe. Der Mann aber sah sie immerfort an, und es war Brita, als hielten seine Augen sie fest, so daß sie sich nicht bewegen konnte.

Schließlich wurde Brita doch ungeduldig, und sie sagte zu sich selbst: »Ich bin erstaunt, daß du glaubst, es würde etwas nützen, wenn du dasitzest und mich bewachst. Du wirst begreifen, daß ich das, was ich vorhabe, doch tue, sobald ich allein bin.«

Ruhig stand Brita da, und hielt ein stummes Zwiegespräch mit dem Mann. »Wenn es sich um etwas handelte, das ein Ende nehmen oder einen Übergang bilden würde, dann dürftest du mich schon daran hindern, aber es ist ganz hoffnungslos.«

Aber der Mann blieb sitzen und sah sie noch immer unverwandt an.

»Ich will dir etwas sagen — es schickt sich für uns vom Ingmarshof nicht, daß wir einen Laden halten«, fuhr Brita in ihren Gedanken fort. »Du glaubst gar nicht, wie schön ich es mit Gunnar hätte, ehe wir den Laden übernahmen. Die Leute rieten mir freilich ab, ihn zu heiraten, denn sie konnten ihn nicht leiden wegen seiner schwarzen Haare, seiner stechenden Augen und seiner scharfen Zunge. Aber wir hatten uns lieb und gaben uns nie ein böses Wert, bis Gunnar den Laden übernahm.«

»Erst da«, fuhr Brita in ihrer stummen Rede fort, »ging es nicht mehr so gut bei uns. Ich wollte, er sollte den Laden nach meiner Art führen, denn ich kann es nicht leiden, wenn er Wein und Bier an die Trinker verkauft, und ich meine, er sollte die Leute nur das kaufen lassen, was ihnen nützlich und notwendig ist. Aber das hält Gunnar für unvernünftig. Und da keiner von uns nachgeben will, streiten wir immerfort, und nun liebt er mich nicht mehr.«

Sie sah den Mann mit verstörten Augen an, gleichsam erstaunt darüber, daß er ihren Bitten nicht nachgebe.

»Aber das wirst du doch begreifen, daß ich die Schande nicht überleben kann, wenn er die armen Leute durch den Vogt ausplündern läßt und ihnen die einzige Kuh oder ihre wenigen Schafe nimmt? Das kann nie wieder gut werden, verstehst du das denn nicht? Warum gehst du denn nicht, damit ich ein Ende machen kann?«

Aber während der Mann so dasaß und Brita anstarrte, wurde diese immer ruhiger, und schließlich begann sie leise vor sich hin zu weinen. Sie war gerührt darüber, daß der Fremde sitzen blieb und sie bewachte. Das war sehr viel von jemand, der sie gar nicht kannte.

Sobald der Mann sah, daß Brita weinte, stand er auf und ging zur Tür, und als er auf der Schwelle stand, wandte er sich um, sah Brita noch einmal durchdringend an, räusperte sich und sagte mit tiefer Stimme: »Tu dir nicht selbst ein Leid an, die Zeit ist nahe, da du in Gerechtigkeit leben wirst.«

Hierauf ging er. Seine Schritte dröhnten auf der Vortreppe und auf dem Weg, während er sich entfernte.

Brita eilte in die Hinterstube, nahm den Strick ab und stellte die Leiter wieder in den Laden. Dann setzte sie sich still auf eine Truhe und rührte sich mehrere Stunden lang nicht von der Stelle.

Sie hatte das Gefühl, als wäre sie lange in dunkler Nacht umhergewandert, und zwar in einer so dunklen Nacht, daß man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Sie hatte sich verirrt, wußte nicht, wohin sie gekommen war, und fürchtete bei jedem Schritt, den sie machte, in einem Sumpf zu versinken oder in einen Abgrund zu stürzen. Aber nun hatte ihr jemand zugerufen, daß sie nicht weitergehen, sondern sich niedersetzen sollte und warten, bis es Tag würde. Sie freute sich, daß sie die gefährliche Wanderung nicht fortsetzen mußte, und nun saß sie da und wartete auf die Morgendämmerung.

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Stark-Ingmar hatte eine Tochter, die hieß Anna Lisa. Sie war seit vielen Jahren in Chicago und hatte sich dort mit einem Schweden namens Johan Hellgum verheiratet, der einer kleinen Gemeinde mit eigenem Glauben und eigener Lehre vorstand. Am Tage nach der vielbesprochenen Nacht, in der die jungen Leute bei Stark-Ingmar getanzt hatten, war diese Anna Lisa mit ihrem Mann heimgekehrt, um ihren alten Vater zu besuchen.

Hellgum benutzte seine freie Zeit, um lange Fußwanderungen in der Umgegend zu machen, und da ließ er sich mit allen Menschen, denen er begegnete, in ein Gespräch ein. Zuerst sprach er immer von ganz alltäglichen Dingen mit ihnen, aber beim Abschied legte er ihnen seine große Hand schwer auf die Schulter und sagte ein paar Worte zur Ermunterung und zur Erweckung.

Stark-Ingmar sah nicht viel von seinem Schwiegersohn. In jenem Jahr war der Alte eifrig beschäftigt, mit dem jungen Ingmar Ingmarsson, der wieder auf den Hof gezogen war, ein Sägewerk am Langfors zu errichten. Das war ein stolzer Tag für Stark-Ingmar, als die Sägemühle fertig war und der erste Balken von den knirschenden Sägeblättern in weiße Bretter zerschnitten wurde.

Eines Abends, als der Alte von der Arbeit nach Hause ging, begegnete ihm Anna Lisa. Sie sah ängstlich aus, und es schien, als ob sie sich vor ihm verstecken wollte.

Stark-Ingmar beschleunigte seine Schritte, kam an sein Haus und blieb plötzlich mit gerunzelter Stirn davor stehen. Dicht neben dem Eingang hatte von jeher ein großer Heckenrosenbusch gestanden. Der war ihm lieber gewesen als sein Augapfel, und er hatte nie erlaubt, daß auch nur eine einzige Blüte oder ein Blatt gepflückt oder ihm sonst ein Schaden zugefügt Werde.

Stark-Ingmar hatte ihn so gut gepflegt, weil er wußte, daß unterirdische Geister darunter wohnten.

Aber nun war der Busch abgehauen, und selbstverständlich hatte es der Schwiegersohn getan, dieser Prediger, der den Busch nicht hatte leiden können.

Stark-Ingmar hatte seine Axt in der Hand, und seine Finger umschlossen den Stiel fester, als er ins Haus trat.

Hier saß Hellgum, die Bibel vor sich. Er schlug die Augen auf und sah Stark-Ingmar durchdringend an. Dann fuhr er mit lauter Stimme fort, aus der Bibel vorzulesen:

»Dazu, daß ihr gedenket, wir wollen tun wie die Heiden und, wie andre Leute in Ländern, Holz und Stein anbeten; das soll euch fehlen.

So war ich lebe, spricht der Herr, ich will über euch herrschen mit starker Hand und ausgestrecktem Arm und mit ausgeschüttetern Grimm …«

Ohne ein Wort zu sagen, verließ Stark-Ingmar das Haus und schlief in dieser Nacht in der Scheune. Zwei Tage später zog er mit Ingmar hinauf in den Wald zum Kohlenbrennen und Baumfällen. Die beiden hatten im Sinn, den ganzen Winter fortzubleiben.

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Ein paarmal war Hellgum bei Bauernversammlungen aufgetreten und hatte seine Lehre verkündigt, die, wie er sagte, das einzig richtige Christentum sei. Aber Hellgum war nicht so beredt wie Dagson, und er hatte nicht einen einzigen Anhänger gewonnen. Wer ihm auf Wegen und Stegen begegnet war und ihn nur ein paar Worte hatte sagen hören, hatte allerdings große Dinge von ihm erwartet. Aber als Hellgum dann einen langen Vortrag halten sollte, drückte er sich schwerfällig aus, der Atem versagte ihm, und er wirkte ermüdend auf die Zuhörer.

Gegen Ende des Sommers war Karin Ingmarstochter äußerst niedergedrückt, und nur selten hörte man sie ein Wort sagen. Sie konnte noch immer nicht gehen und saß den ganzen Tag unbeweglich in ihrem Stuhl. Sie suchte auch keine weiteren Prediger auf, sondern saß allein daheim und grübelte über ihr Unglück nach. Dazwischen sagte sie wohl einmal zu Halvor, sie habe ihren Vater immer sagen hören, die Ingmarssons brauchten sich vor nichts zu fürchten, wenn sie nur Gottes Wege gingen, aber nun wisse sie, daß selbst das nicht wahr sei.

In seiner Ratlosigkeit schlug ihr Halvor einmal vor, sie solle doch mit dem neuen Prediger reden, aber Karin entgegnete schnell, daß sie keine Hilfe mehr bei Predigern suchen wolle.

Eines Sonntags, Ende August, saß Karin allein am Fenster der großen Stube. Eine tiefe Stille herrschte über dem ganzen Hof, und Karin wurde es schwer, sich wach zu halten. Immer tiefer sank ihr der Kopf auf die Brust, und schließlich schlief sie ein.

Sie erwachte davon, daß jemand gerade unter ihrem Fenster sprach. Wer es war, konnte sie nicht sehen, aber es war eine starke und tiefe Stimme, und Karin meinte, noch nie eine so schöne Stimme gehört zu haben.

»Ich sehe, du hältst es für undenkbar, daß ein armer, ungelehrter Mann die Wahrheit gefunden haben soll, an der so viele gelehrte Herren Schiffbruch erlitten haben«, sagte die Stimme.

»Ja«, antwortete Halvor, »ich verstehe nicht, wie du so sicher sein kannst.«

»Das ist Hellgum, mit dem Halvor redet«, dachte Karin. Sie versuchte das Fenster zu schließen, konnte es aber von ihrem Platz aus nicht erreichen.

»Aber es steht ja geschrieben«, fuhr Hellgum fort, »wenn jemand dich auf den rechten Backen schlägt, so biete ihm den andern auch dar; desgleichen, daß wir dem Bösen nicht widerstreben sollen, und noch vieles von derselben Art. Das sind aber lauter Vorschriften, die niemand halten kann. Wolltest du das versuchen, so würden die Leute kommen und dir deine Äcker und deinen Wald nehmen, sie würden dir deine Kartoffeln stehlen und deinen Roggen auf dem Rücken davontragen, wenn du dein Eigentum nicht verteidigst, ja, ich glaube, sie würden dir den ganzen Ingmarshof nehmen.«

»Das könnte schon sein«, erwiderte Halvor.

»Dann hat also Christus gar nichts mit diesen Worten gemeint, sondern nur so ins Blaue hineingeredet.«

»Ich weiß nicht, wo du hinauswillst.«

»Ja, siehst du, da ist auch noch etwas anderes, was man bedenken muß«, sagte Hellgum. »Und das ist, daß wir so unendlich weit mit unserm Christentum gekommen sind. Keiner stiehlt mehr, keiner mordet mehr, keiner übervorteilt die Witwen und Waisen, keiner haßt oder verfolgt den andern mehr. Es kommt nie vor, daß einer unter uns unrecht tut, weil wir ja eine so gute Religion haben.«

»Nun, es ist allerdings vieles da, was nicht so ist, wie es sein sollte«, gab Halvor leise zu; seine Worte klangen schläfrig und teilnahmslos.

»Aber wenn du eine Dreschmaschine hast, die nicht ordentlich arbeitet, so siehst du doch nach, wo der Fehler steckt? Und du gibst nicht eher Ruhe, als bis du weißt, was nicht in Ordnung daran ist. Und da du nun siehst, daß die Leute gar nicht dazu zu bringen sind, ein richtiges christliches Leben zu führen, so müßtest du eigentlich nachsehen, ob sich bei diesem Christentum nicht irgendwo ein Fehler findet.«

»Ich kann nicht glauben, daß Christi Lehre unrichtig sei«, sagte Halvor.

»Nein, von Anfang an war sie ganz gut, aber es könnte ja sein, daß sie aus dem Geleise gekommen wäre. Es könnte ja ein Rad zerbrochen sein, siehst du, nur ein einziges kleines Rädchen, und dann steht gleich das ganze Werk still.«

Er schwieg eine Weile, wie wenn er nach Worten und Beweisen suchte:

»Nun will ich dir erzählen, wie es mir vor ein paar Jahren ergangen ist. Damals versuchte ich es zum erstenmal, getreu nach den Vorschriften Jesu zu leben, und weißt du, womit es endete? Damals arbeitete ich in einer Fabrik, und als die Kameraden herausfanden, wie es mit mir bestellt war, luden sie mir zuerst einen großen Teil ihrer eigenen Arbeit auf, dann nahmen sie mir meinen Platz, und schließlich verdächtigten sie mich einer Betrügerei, die einer von ihnen begangen hatte, so daß ich ins Gefängnis kam.«

»Man kommt nicht immer mit so schlechten Menschen zusammen«, meinte Halvor noch immer gleichgültig.

»Da sagte ich zu mir selbst: ›Es wäre nicht so schwer, ein Christ zu sein, wenn man ganz allein auf der Welt wäre und keine Mitmenschen hätte.‹ Ich war geradezu froh, daß ich im Gefängnis saß, denn da konnte ich ein rechtschaffenes Leben führen, ohne gestört oder beunruhigt zu werden. Aber dann dachte ich, in der Einsamkeit ein rechtschaffenes Leben führen, das sei wie eine Mühle, die sich drehe, ohne Korn zwischen ihren Steinen zu haben. Ich dachte, da Gott so viele Menschen auf die Welt gesetzt habe, so werde es doch wohl auch seine Absicht sein, daß sie einander Hilfe und Schutz gewähren und ihnen nicht Verderben bringen sollten. Und da endlich, da verstand ich, daß der Teufel etwas aus der Bibel entfernt haben müsse, damit das Christentum auf Abwege gerate.«

»Dazu hätte der Teufel gar nicht die Macht«, sagte Halvor.

»Doch, denn er hat wirklich etwas weggenommen, nämlich die Worte: ›Ihr, die ihr ein christliches Leben führen wollt, sollt Hilfe bei euren Nächsten suchen.‹«

Halvor gab keine Antwort, aber Karin nickte beifällig. Sie hatte sehr aufmerksam zugehört, und es war ihr kein Wort entgangen.

»Sobald ich aus dem Gefängnis entlassen werden war«, fuhr Hellgum fort, »ging ich zu einem Kameraden und bat ihn, mir beizustehen, um ein rechtschaffenes Leben zu führen, und sobald wir zu zweit waren, ging es gleich besser. Und bald kam ein dritter und dann ein vierter, die sich uns anschlossen, und es ging immer besser. Jetzt sind wir zu dreißig, die in Chicago beieinander wohnen. Wir teilen alles miteinander, und einer wacht über den andern, und der Weg der Gerechtigkeit liegt eben und gerade vor uns. Wir können echt christlich aneinander handeln, denn der eine Bruder mißbraucht die Güte des andern nicht und tritt ihn in seiner Demut nicht nieder.«

Als Halvor noch immer schwieg, versuchte Hellgum ihn weiter zu überreden: »Du weißt doch, Halvor, wer etwas Großes vollbringen will, der tut sich mit andern zusammen und läßt sich von ihnen helfen. Du kannst den Hof hier auch nicht allein besorgen, und wenn du eine Fabrik einrichten wolltest, müßtest du viele Aktionäre auftreiben, und bedenke doch, wieviel Menschen du nötig hättest, wenn du eine Eisenbahn bauen wolltest.

Aber das Schwierigste von allem, das ist das christliche Leben selbst, und das willst du auf eigene Faust ohne die Hilfe anderer führen? Oder du versuchst es vielleicht gar nicht, weil du im voraus weißt, daß es dir nicht gelingt.

Die einzigen nun, die den rechten Weg eingeschlagen haben, das sind die, die drüben in Chicago mit mir zusammenhalten. Diese Vereinigung ist das richtige neue Jerusalem, das vom Himmel herniedergekommen ist. Und du kannst es daran erkennen, daß die Gaben des Heiligen Geistes, die über die ersten Christen ausgegossen waren, auch über uns ausgegossen sind. Denn einige von uns hören Gottes Stimme; andere sagen wahr, und wieder andere heilen Kranke.«

»Kannst du Kranke gesund machen?« unterbrach ihn Halvor rasch.

»Ja«, sagte Hellgum, »ich kann die gesund machen, die an mich glauben.«

»Es ist sehr schwer, etwas anderes zu glauben als das, was man als Kind gelernt hat«, meinte Halvor nachdenklich.

»Ich sage dir aber ganz gewiß, Halvor, daß du uns bald helfen wirst, das neue Jerusalem aufzubauen«, sagte Hellgum.

Darauf wurde es ganz still, und kurz nachher hörte Karin, daß Hellgum sich verabschiedete.

Nach einer Weile kam Halvor zu Karin herein. Als er sie am offenen Fenster sitzen sah, sagte er: »Du hast sicher alles gehört, was Hellgum gesagt hat?« — »Ja«, antwortete seine Frau. — »Hast du auch gehört, wie er sagte, er könne den heilen, der an ihn glaube?«

Karin errötete ein wenig; Hellgums Lehre hatte ihr besser gefallen als alles, was sie im Lauf des Sommers gehört hatte. Es schien ihr ein gesunder und praktischer Sinn darin zu liegen, der ihr einleuchtete. Da handelte es sich um Tätigkeit und Arbeit und nicht um eine Empfindsamkeit, auf die sie sich nicht verstand. Aber sie wollte es nicht zugestehen; sie wollte nun einmal nichts mehr mit Predigern zu tun haben. »Ich will keinen andern Glauben haben als Vater«, sagte sie.

Ein paar Wochen später saß Karin wieder in der Groß-Stube. Der Herbst war angebrachen, der Wind brauste um das Haus, und das Feuer knisterte im Kamin. Niemand war außer ihr im Zimmer als ihr Töchterchen, das beinahe ein Jahr alt war und eben das Gehen gelernt hatte. Das Kind saß zu Füßen der Mutter und spielte.

Als Karin nun so dasaß, ging die Tür auf, und ein großer, dunkler Mann trat herein. Er hatte lockiges Haar, scharfe Augen und große, sehnige Schmiedsfäuste. Bevor er anfing zu sprechen, erriet sie schon, daß es Hellgum war.

Nachdem er sie begrüßt hatte, fragte er nach Halvor, und Karin sagte ihm, daß er zu einer Versammlung gefahren sei, aber bald zurückkommen würde.

Hellgum setzte sich; er verhielt sich schweigsam, nur ab und zu warf er einen raschen Blick auf Karin.

»Ich habe gehört, daß du krank bist«, begann er nach einer Weile. — »Ja«, antwortete Karin, »seit einem halben Jahr kann ich keinen Schritt mehr gehen.« — »Ich habe mir vorgenommen, mit dir zu beten«, sagte der Prediger. Karin gab keine Antwort, sie schlug die Augen nieder und verschloß sich gleichsam in sich selbst. »Du hast vielleicht gehört, daß Gott mir die Gnade verliehen hat, Kranke heilen zu können?«

Nun schlug Karin die Augen auf und warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Ich danke Euch, daß Ihr an mich gedacht habt, aber daraus kann nichts werden, denn ich wechsle meinen Glauben nicht leicht«, sagte sie. — »Es ist aber möglich, daß dir Gott trotzdem hilft, weil du immer versucht hast, ein rechtschaffenes Leben zu führen«, sagte er. — »Ach, ich bin ganz gewiß nicht so gut bei Gott angeschrieben, daß er mir helfen würde.«

Darauf schwiegen beide eine Weile, dann fragte Hellgum: »Hast du dich noch nie gefragt, warum diese Heimsuchung über dich gekommen ist?« Karin gab keine Antwort, sie schien sich von neuem in sich selbst verschlossen zu haben. — »In meinem Innern ist eine Stimme. die mir sagt, daß Gott das getan hat, damit sein Name noch mehr geehrt werde«, sagte Hellgum.

Als Karin das hörte, geriet sie in Zorn. Ein paar scharfe, rote Flecgen zeigten sich auf ihren Wangen, und sie fand es höchst anmaßend von Hellgum, zu glauben, daß die Krankheit über sie gekommen sei, damit er Gelegenheit finde, ein Wunder zu tun.

Der Prediger stand auf, trat zu Karin und legte ihr seine Hand auf den Kopf. »Willst du, daß ich für dich bete?« fragte er. In demselben Augenblick fühlte Karin einen Strom von Leben und Gesundheit durch ihren Körper dringen, aber sie war so zornig über Hellgums Aufdringlichkeit, daß sie heftig seine Hand abschüttelte und den Arm erhob, als wollte sie ihn schlagen; Worte fand sie in der Eile nicht.

Hellgum zog sich bis zur Tür zurück. »Man soll nicht zurückweisen, was Gott einem schickt«, sagte er. — »Nein«, erwiderte Karin, »was Gott schickt, das muß man auch annehmen.«

»Ich sage dir, heute wird diesem Haus Heil widerfahren«, sagte der Mann. Karin erwiderte nichts darauf. »Denk an mich, wenn dir geholfen wird«, sagte Hellgum und verließ mit diesen Worten die Stube.

Karin saß aufrecht in ihrem Stuhl; die roten Flecken brannten noch lange auf ihren Wangen. »Kann man mich nicht einmal in meinem eigenen Haus in Frieden lassen!« dachte sie. »Es ist schrecklich, wie viele Menschen glauben, sie seien von Gott berufen.«

Da sah Karin plötzlich, daß sich ihr kleines Mädchen vom Boden aufgerichtet hatte und zum Kamin hinkroch. Die Kleine hatte soeben das Feuer entdeckt, sie jauchzte vor freude und lief und kroch, so schnell sie konnte, darauf zu.

Karin rief sie zurück, aber das Kind hörte nicht; es gab sich alle Mühe, auf den Kaminsockel zu klettern, fiel zwar ein paarmal zurück, erreichte aber doch endlich die Steinplatte, auf der das Feuer brannte.

»Ach Gott, ach Gott, hilf mir!« schrie Karin. Sie begann laut zu rufen, obgleich sie wußte, daß kein Mensch in der Nähe war.

Das Kind beugte sich lachend über das Feuer; da fiel ein brennendes Holzscheit aus der Glut und gerade auf ihr gelbes Kleidchen.

Aber plötzlich stand Karin aufrecht da, lief zum Kamin und riß das Kind weg.

Erst als sie alle Funken von dem Kleidchen abgeschüttelt, das Kind untersucht und unverletzt gefunden hatte, besann sie sich auf das, was geschehen war. Daß sie auf ihren Beinen stand, daß sie gegangen war und noch immer gehen konnte! Karin befand sich in der größten Gemütsbewegung, die sie je im Leben durchgemacktt hatte, und zugleich fühlte sie sich unbeschreiblich glücklich.

Sie erkannte, daß sie unter Gottes besonderer Obhut und Fürsorge stand und daß er einen heiligen Mann Gottes in ihr Haus geschickt hatte, um ihr zu helfen.

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In diesen Tagen stand Hellgum oft in der kleinen Laube vor Stark-Ingmars Haus und blickte ins Weite. Die Landschaft ringsum wurde mit jedem Tag schöner. Die ganze Erde war gelb, und alle Bäume waren leuchtend rot oder glänzend gelb. Da und dort leuchtete ein Laubwald auf wie ein wogendes Meer von flüssigem Gold. Überall auf den mit Fichten bewachsenen Höhen sah man gelbe Stellen von Laubbäumen, die sich zwischen die Nadelhölzer verirrt hatten.

Wie selbst eine ärmliche, graue Hütte leuchten und strahlen kann, wenn Feuer darin brennt, so flammte diese arme schwedische Landschaft in seltener Pracht. Alles war gelb und so wunderbar strahlend, wie man sich nur eine Landschaft auf der Oberfläche der Sonne denken könnte.

Aber als Hellgum das sah, dachte er, die Zeit sei nahe, da Gott dies Land von Heiligkeit erstrahlen lassen werde und da alle Worte, die er im Lauf des vergangenen Sommers ausgestreut hatte, aufgehen und die herrliche Erstlingsfrucht der Gerechtigkeit tragen würden.

Und siehe da, eines Abends kam Halvor zu ihm und lud ihn und Anna Lisa auf den Ingmarshof ein.

Als sie den großen Hofplatz betraten, war alles fein geputzt und geschmückt. Alle dürren Blätter unter den Birken waren weggekehrt, und die Gerätschaften und Arbeitswagen, die sonst den Hof füllten, waren aufdie Seite gestellt. »Es kommen gewiß recht viele Gäste«, dachte Anna Lisa. In diesem Augenblick öffnete Halvor die Tür.

Es waren viele Leute drin, die alle feierlich auf den Bänken saßen und aussahen, als erwarteten sie jemand. Und Hellgum erkannte sogleich die vornehmsten Leute des Dorfes.

Die ersten, die er bemerkte, waren Ljung Björn und seine Frau, Märta Ingmarstochter, sowie Kolaas Gunnar und seine Frau. Dann sah er Krister Larsson und Israel Tomasson mit ihren Frauen, die auch zu der Ingmarsfamilie gehörten. Dann bemerkte er Hök Matts Eriksson und dessen Sohn Gabriel, des Bürgermeisters Gunhild und viele andere. Es waren etwa zwanzig Personen.

Nachdem Hellgum und Anna Lisa bei allen herumgegangen waren und sie begrüßt hatten, sagte Tims Halvor: »Hier sind einige von denen versammelt, die darüber nachgedacht haben, was Hellgum uns im Sommer gesagt hat. Die meisten von uns gehören einer alten Familie an, die immer Gottes Wege gehen wollte, und wenn uns Hellgum dabei helfen kann, dann wollen wir ihm folgen.«

Am nächsten Morgen verbreitete sich das Gerücht im Kirchspiel, daß auf dem Ingmarshof eine Sekte gegründet werden sei, die behaupte, im Besitz des einzig wahren Christentums zu sein.

Der neue Weg

Es war im nächsten Frühling, gleich nachdem der Schnee geschmolzen war. Ingmar und Stark-Ingmar waren vor kurzem ins Tal herabgekommen, um die Sägemühle in Gang zu setzen. Den ganzen Winter hindurch hatten sie droben im Wald gelebt, um Kohlen zu brennen und Bäume zu fällen, und als Ingmar nun wieder ins Flachland herunterkam, fühlte er sich wie ein Bär, der eben aus seiner Höhle herausgekrochen ist. Er konnte sich kaum daran gewöhnen, die Sonne am weiten Himmel strahlen zu sehen, und blinzelte mit den Augen, als könnte er das Licht nicht ertragen. Auch das Tosen des Wasserfalls und die menschlichen Stimmen zu hören, tat ihm weh, und all der Lärm, der ihm drunten auf dem Hof um die Ohren brauste, war ihm eine Qual. Gleichzeitig war er aber doch außerordentlich glücklich über das alles. Zwar zeigte er es beileibe nicht in seinem Gang und in seinem Wesen, Gott bewahre! Aber in diesem Frühling fühlte er sich ebenso jung wie die frischen Triebe an den Birken.

Nicht zu sagen, wie gut es ihm schmeckte, wieder in einem frischgemachten Bett zu schlafen und wohlzubereitete Speisen zu verzehren. —

Und dann daheim zu sein bei Karin, die zärtlicher für ihn sorgte als eine Mutter. Sie hatte ihm neue Kleider machen lassen, und oft kam sie von der Küche herein und steckte ihm einen Leckerbissen zu, gerade als sei er noch ein kleiner Junge.

Und welch merkwürdige Dinge waren geschehen, während er droben im Wald gehaust hatte! Ingmar war am Tag nach der großen Versammlung fortgegangen und seither nicht wieder daheim gewesen, und über Hellgums Lehre waren nur einige unbestimmte Gerüchte zu ihm gedrungen. Wenn er aber jetzt Halvor und Karin davon reden hörte, wie glücklich sie seien, und sah, wie sie und ihre Freunde einander zu helfen versuchten, Gottes Wege zu gehen, so war er geradezu erbaut davon. »Wir hoffen ganz sicher, daß du dich uns auch anschließt«, sagte Karin. Und Ingmar antwortete, er habe wirklich Lust dazu, wollte es sich aber vorher noch reiflich überlegen. »Den ganzen Winter hindurch habe ich mich danach gesehnt, daß du kommen solltest und auch an unserer Glückseligkeit teilnehmen«, sagte Karin, »denn wir leben nun nicht länger auf der Erde, sondern in dem neuen Jerusalem, das vom Himmel herabgekommen ist.«

Ingmar war auch recht erfreut, als er hörte, daß sich Hellgum noch immer in der Gegend befand. Im vergangenen Sommer war dieser nämlich oft zum Sägewerk gekommen und hatte sich mit Ingmar unterhalten, und da waren die beiden recht gute Freunde geworden. Ingmar bewunderte Hellgum und hielt ihn für den vortrefflichsten Mann, den er je kennengelernt hatte. Noch nie war ihm einer begegnet, der so männlich, so beredt und seiner selbst so sicher gewesen war.

Manchmal, wenn Ingmar sehr viel zu tun hatte, zog Hellgum den Rock aus und half ihm in der Sägemühle; dann verstummte Ingmar vollständig vor lauter Verwunderung, denn noch nie hatte er jemand gesehen, der so fest zupacken konnte.

Jetzt war Hellgum ein paar Tage verreist, aber er wurde bald zurückerwartet.

»Ja, Wenn du erst mit Hellgum darüber gesprochen hast, dann wirst du schon zu uns übertreten«, sagte Karin. Und das glaubte Ingmar auch, obgleich ihm nicht ganz wohl dabei war, sich an etwas anzuschließen, dem der Vater nicht zugestimmt hätte. —

»Aber gerade Vater hat uns ja gelehrt, daß wir immer die Wege Gottes gehen sollen«, sagte Karin.

Ja, alles miteinander war recht und gut, und Ingmar hätte nie geglaubt, daß es so herrlich war, wieder unter Menschen zu sein. Nur eins vermißte er, nämlich, daß niemand von Schulmeisters Gertrud sprach. Das tat ihm leid, denn er hatte Gertrud set einem ganzen Jahr nicht mehr gesehen. Früher hatte er nie darauf zu warten brauchen, denn im vorigen Jahr war kaum ein Tag vergangen, ohne daß jemand von Storms gesprochen hätte.

Es war wohl nur Zufall, daß jedermann über sie schwieg; aber es kann doch höchst unbehaglich sein, wenn man sich scheut, nach etwas zu fragen, und niemand von selbst das Gespräch auf das bringt, was man am liebsten hören möchte.

Aber wenn auch Ingmar glücklich und zufrieden war, so war das bei Stark-Ingmar durchaus nicht der Fall. Der Alte war sauertöpfisch und mürrisch, und es hielt schwer, ihm etwas recht zu machen. — »Ich glaube, du sehnst dich in den Wald zurück«, sagte Ingmar eines Nachmittags zu ihm, als sie auf ihren Stämmen saßen und das Vesperbrot verzehrten. — »Ja, weiß Gott, das tue ich«, sagte der Alte. »Ich wollte, ich wäre gar nicht heruntergekommen.«

»Was ist dir denn nicht recht daheim?« fragte Ingmar.

»Und das fragst du?« erwiderte Stark-Ingmar. »Ich glaubte, du wüßtest ebensogut wie ich, daß es um Hellgum schlimm steht.« Aber Ingmar sagte, er habe im Gegenteil gehört, Hellgum sei ein großer Mann geworden. — »Ja, er ist ein so großer Mann geworden, daß er das ganze Dorf durcheinandergebracht hat.«

Ingmar fand es merkwürdig, daß Stark-Ingmar keine Spur von Liebe zu seinem eigenen Geschlecht zeigte, sondern sich nur immer um den Ingmarshof und die Ingmarssöhne kümmerte, und er hielt es für seine Pflicht, den Schwiegersohn in Schutz zu nehmen.

»Ich glaube, es ist eine gute Lehre«, sagte Ingmar. — »So, das glaubst du?« sagte der Alte und sah ihn grimmig an. »Meinst du, daß Groß-Ingmar auch so gedacht hätte?« — Darauf antwortete Ingmar, der Vater wäre sicher damit einverstanden gewesen, daß man ein rechtschaffenes Leben führte. — »So, du glaubst also, Groß-Ingmar hätte mitgetan, alle Leute für Teufel und Antichristen zu erklären, die nicht zu dieser Sekte gehören, und daß er sich geweigert hätte, mit seinen alten Freunden umzugehen, weil diese an ihrem alten Glauben festhielten?« — »Ich kann nicht glauben, daß sich Leute wie Hellgum und Halvor und Karin so aufführen«, sagte Ingmar. — »Du kannst es ja versuchen, dich ihnen zu widersetzen, dann wirst du schon sehen, was du ihnen wert bist.«

Ingmar schnitt große Stücke von seinem Butterbrot ab und stopfte sich den Mund damit voll. Es war recht verdrießlich, daß Stark-Ingmar so schlecht gelaunt war.

»Ach ja«, sagte der Alte nach einer Weile, »so geht es. Hier sitzt du nun, der Sohn des großen Ingmar, und hast nichts zu sagen. Aber meine Anna Lisa und ihr Mann, die leben unter vornehmen Leuten. Die Großen des Dorfs bücken und verneigen sich vor ihnen, und sie werden überall eingeladen.«

Ingmar aß ruhig weiter. Er dachte, darauf brauchte er nicht zu antworten.

Aber Stark-Ingmar begann aufs neue: »Ja, eine schöne Lehre ist es, das ist ganz gewiß wahr, deshalb hat sich auch das halbe Dorf an Hellgum angeschlossen. Soviel Macht wie Hellgum hat noch nie jemand hier im Dorf gehabt, nicht einmal Groß-Ingmar. Er trennt das Kind von seinen Eltern, indem er predigt, wer ihn anhöre, könne nicht unter Sündern leben. Hellgum braucht nur zu winken, so verläßt der Bruder den Bruder, der Freund den Freund und der Bräutigam die Braut. Er hat es so weit gebracht, daß im vergangenen Winter in jedem Hof Zank und Streit herrschten. Ja, Groß-Ingmar wäre über so etwas erfreut gewesen, jawohl! Er wäre mit Hellgum durch dick und dünn gegangen. Ja, ja, ganz sicher!«

Ingmar schaute die Schlucht hinauf und hinab, am liebsten wäre er davongelaufen. Er fühlte ja wohl, daß Stark-Ingmar übertrieb, aber es verdarb ihm immerhin die gute Laune.

»O ja«, sagte der Alte, »ich will nicht leugnen, daß es erstaunlich ist, was Hellgum zuwege bringt: wie er es erreicht, daß die Leute zusammenhalten und daß die, die früher nichts voneinander wissen wollten, jetzt Freunde sind. Und wie er von den Reichen nimmt und den Armen gibt, und wie er sie dazu bringt, übereinander zu wachen! Ich meine ja nur, es ist schade für die andern, daß sie Teufelskinder genannt werden und nicht auch mitspielen dürfen, aber das denkst du natürlich nicht.«

Ingmar war böse auf den Alten, weil er so schlecht von Hellgum sprach.

»Und wie friedlich haben wir früher hier im Dorf gelebt!« sagte Stark-Ingmar. »Das ist nun alles vorbei. Zu Groß-Ingmars Zeiten hielt man hier so fest zusammen, daß es hieß, hier wohnten die einträchtigsten Leute in ganz Dalarne. Aber nun sind sie alle geschieden in Engel und Teufel, in Schafe und Böcke.«

»Wenn wir nur die Säge in Gang setzen könnten«, dachte Ingmar, »damit ich dieses Geschwätz nicht mehr anzuhören brauchte.«

»Es wird auch nicht mehr lange dauern, bis es zwischen dir und mir aus ist«, fuhr Stark-Ingmar fort. »Wenn du zu den andern übergehst, dann lassen sie dich nicht mehr mit mir verkehren.«

Ingmar stieß einen Fluch aus und stand auf. »Ja, wenn du so weiterfaselst, dann ist es nicht unmöglich, daß es so geht«, sagte er. »Du müßtest doch einsehen, daß es nichts nützt, mich gegen die Meinigen aufzuhetzen sowie gegen Hellgum, denn er ist der trefflichste Mann, den ich kenne.«

Damit brachte Ingmar den Alten zum Schweigen; nach einer Weile hörte Stark-Ingmar auf zu arbeiten und ging fort. Er wolle ins Dorf hinuntergehen und mit seinem Freund, dem Korporal Fält, reden, sagte er. Er habe schon lange mit keinem vernünftigen Menschen mehr geredet. — Ingmar war froh, daß er ging. Es ist gewiß immer so, wenn man lange fort gewesen ist, daß man nichts Unangenehmes hören will, sondern nur wünscht, daß um einen herum alles hell und froh und vergnügt sein soll, dachte er.

Am nächsten Tag kam Ingmar schon morgens um fünf Uhr zum Sägewerk, aber Stark-Ingmar war schon vor ihm da. »Heute kannst du mit Hellgum reden«, sagte der Alte. »Er und Anna Lisa sind gestern abend zurückgekommen. Ich glaube, sie sind von dem großen Gastgelage weggeeilt, nur um dich zu bekehren.«

»Fängst du jetzt wieder damit an?« fragte Ingmar. Die Worte des Alten hatten ihm die ganze Nacht in den Ohren geklungen. Er konnte es nicht unterlassen, darüber nachzugrübeln, wer recht hatte; aber über seine nächsten Verwandten wollte er nichts Böses mehr hören.

Stark-Ingmar schwieg eine Weile, dann begann er vor sich hinzulachen. »Worüber lachst du?« fragte Ingmar. Er war eben im Begriff, die Schleuse aufzuziehen, um die Säge in Gang zu setzen. — »Ach, ich denke bloß an Schulmeisters Gertrud.« — »Was ist mit ihr?« — »Ja, es hieß gestern im Dorf drunten, sie sei die einzige, die etwas über Hellgum vermöge.« — »Was hat denn Gertrud mit Hellgum zu tun?«

Ingmar zog die Schleuse nicht auf; war die Säge erst im Gang, konnte er nichts mehr verstehen. Der Alte sah ihn prüfend an. Ingmar lachte ein wenig. »Du weißt es schon so einzurichten, daß du deinen Willen bekommst«, sagte er.

»Das verrückte Ding, Gunhild, Bürgermeister Lars Clemenssons Tochter, ist schuld daran.« — »Sie ist kein verrücktes Ding«, unterbrach ihn Ingmar. — »Du kannst sie nennen, wie du willst, jedenfalls war sie zufälligerweise auf dem Ingmarshof, als diese Sekte gegründet wurde. Als sie nach Hause kam, sagte sie zu ihren Eltern, sie habe den einzig richtigen Glauben genommen, und nun müsse sie ihr Heim verlassen und auf den Ingmarshof ziehen. Die Eltern fragten sie natürlich, warum sie denn wegziehen wollte, und sie antwortete, damit sie ein rechtschaffenes Leben führen könnte. Sie sagten, das werde sie wohl auch daheim können. — Nein, das könne niemand, wenn er nicht bei denen leben dürfe, die desselben Glaubens seien. — Ja, ob denn dann jedermann auf den Ingmarshof ziehen sollte? fragte der Bürgermeister. — Nein, nur sie, denn die andern hätten wahre Christen bei sich daheim.

Der Bürgermeister ist ja ein braver Mann, und er und seine Frau versuchten, Gunhild im guten wieder zur Vernunft zu bringen, aber Gunhild gab nicht nach, und der Bürgermeister wurde schließlich so aufgebracht, daß er Gunhild in die Kammer einschloß und zu ihr sagte, da müsse sie bleiben, bis sie ihre Torheit abgelegt hätte.«

»Ich dachte, du wolltest von Gertrud sprechen«, unterbrach ihn Ingmar. — »Ich komme schon noch zu Gertrud, wenn du Geduld hast. Übrigens kann ich dir auch jetzt schon mitteilen, daß am Tag darauf, als Gertrud und Mutter Storm in der Küche spannen, die Bürgermeisterin zu ihnen kam. Sie erschraken, als sie sie sahen. ›Was gibt es, was ist geschehen, und warum siehst du so betrübt aus?‹ fragte Mutter Stina. — Da antwortete die Frau: ›Man kann nicht anders aussehen, wenn man das Liebste, das man besaß, verloren hat.‹

Oh, ich hätte große Lust, sie durchzuprügeln«, sagte der Alte. — »Wen?« fragte Ingmar. — »Ach, Hellgum und Anna Lisa«, antwortete Stark-Ingmar, »denn sie waren in der Nacht beim Bürgermeister gewesen und hatten Gunhild entführt.« Nun stieß Ingmar einen Schrei aus. »Ja, ich glaube beinahe, Anna Lisa ist an einen Räuber verheiratet«, sagte wieder der Alte.

»Mitten in der Nacht kamen sie, klopften ans Fenster der Kammer und fragten Gunhild, warum sie nicht auf den Ingmarshof gekommen sei, Sie sagte, daß ihre Eltern sie eingeschlossen hätten. Und da sagte Hellgum, das sei der Teufel, der die Eltern dazu gebracht habe. Die Eltern aber hörten alles mit an.«

»Hörten sie es?« — »Ja, sie lagen in der Stube nebenan, und die Tür war nur angelehnt, und da hörten sie alles, was Hellgum sagte, um die Tochter zu verlocken.« — »Aber sie hätten ihn doch hinauswerfen können.« — »Nein, sie hielten es für besser, Gunhild selbst entscheiden zu lassen; sie hätten ja nie geglaubt, daß diese sie wirklich verlassen würde, denn sie waren immer so gut gegen sie gewesen. Sie erwarteten, sie würde sagen, daß sie ihre alten Eltern nicht verlassen wolle.« — »Und dann ging sie doch?« — »Ja, Hellgum ließ nicht nach, bis sie mit ihm ging. Und als die Eltern hörten, daß sie ihm nicht widerstehen konnte, ließen sie ihre Tochter ziehen.

Aber am Morgen bereute es die Mutter und bat ihren Mann, auf den Ingmarshof zu fahren und die Tochter wieder zu holen. — ›Nein‹ sagte er, ›ich hole sie nicht wieder; ich will sie auch nicht wieder sehen, wenn sie nicht aus freien Stücken wiederkommt.‹

Da ging die Mutter zu Schulmeisters und bat Gertrud, auf den Ingmarshof zu gehen und mit Gunhild zu reden.« — »Und tat es Gertrud?« — »Ja, sie ging hin und redete mit Gunhild, aber Gunhild kümmerte sich nicht um das, was sie sagte.« — »Ich habe aber Gunhild daheim bei uns gar nicht gesehen«, sagte Ingmar nachdenklich. — »Nein, denn nun ist sie wieder bei ihren Eltern daheim.

Es traf sich nämlich, daß Gertrud, als sie von Gunhild wegging, Hellgum begegnete. ›Sieh, da ist der, der all das Elend verschuldet hat‹, dachte sie. Dann ging sie gerade auf ihn zu und redete ihm ordentlich ins Gewissen. Sie war so zornig, daß sie sich nicht davor gefürchtet hätte, ihn zu schlagen.« — »Ja, Gertrud ist nicht auf den Mund gefallen«, sagte Ingmar bewundernd.

»Sie sagte zu Hellgum, sie habe einmal ein Bild gesehen, auf dem ein heidnischer Krieger eine Jungfrau mit sich fortschleppte, die er geraubt hatte, und es komme ihr vor, als ob er sich auch gerade so aufführte.« — »Was sagte Hellgum darauf?« — »Er hörte ihr eine Weile zu, und dann sagte er ganz sanft, sie habe recht, er sei wirklich zu gewalttätig vorgegangen. Und am Nachmittag brachte er Gunhild zu den Eltern zurück und machte alles wieder gut.«

Als Stark-Ingmar seine Erzählung beendet hatte, sah ihn Ingmar lächelnd an. »Ja, Gertrud ist ein Prachtmädel«, sagte er, »aber Hellgum ist auch ein Prachtkerl, obgleich er ein wenig wild ist.« — »Ach, so faßt du es auf?« sagte Stark-Ingmar. »Ich glaubte, du würdest dich darüber wundern, daß Hellgum so nachgiebig gegen Gertrud war.« Darauf schwieg Ingmar.

Stark-Ingmar schwieg auch eine Weile, dann aber begann er von neuem. »Es haben drunten im Dorf viele nach dir gefragt. Sie wollten wissen, auf welche Seite du dich zu stellen gedenkst.« — »Das ist doch wohl einerlei, wohin ich gehöre.«

»Aber ich will dir etwas sagen«, fuhr der Alte fort. »In diesem Dorf sind die Leute daran gewöhnt, daß einer da ist, der sie führt und leitet. Nun aber ist Groß-Ingmar nicht mehr da, der Schulmeister hat seine Macht verloren, und der Pfarrer hat niemals die Kraft dazu gehabt, im Dorf zu regieren. Deshalb folgen sie Hellgum, solange du dich zurückhältst.« — Ingmar ließ die Hände sinken, er sah ganz unglücklich aus. »Aber ich weiß doch gar nicht, wer recht hat.« — »Die Leute hoffen, daß du sie von Hellgum befreist.

Glaube mir, uns beiden, die wir im Winter nicht hier unten waren, ist viel Böses erspart worden. Im Anfang war es wohl am schwersten, bis sich die Leute an die Bekehrungssucht gewöhnt hatten sowie auch daran, Teufel und Höllenhunde genannt zu werden. Aber am schlimmsten war es doch, als auch bekehrte Kinder zu predigen anfingen.« — »Wie, haben denn auch Kinder gepredigt?« fragte Ingmar mißtrauisch. — »Ja, Hellgum hatte ihnen vorgehalten, daß sie Gott dienen sollten, anstatt zu spielen, und da fingen sie an, die Erwachsenen bekehren zu wollen. Sie legten sich in den Hinterhalt und überfielen die Leute, die des Weges kamen. Und dann klang es denen in die Ohren: ›Willst du nicht anfangen, dem Teufel zu widerstehen? Willst du in deinen Sünden weiterleben?‹«

Ingmar wehrte sich in seinem Herzen gegen das, was er vernommen hatte. Er konnte nicht glauben, daß all das, was der Alte ihm erzählte, wahr sei. — »Ach, nun kommst du sicher mit etwas, was dir der Korporal weisgemacht hat«, sagte er.

»Ja, das wollte ich dir gerade erzählen«, sagte der Alte. »Mit Fält ist es auch vorbei. Ach, wenn ich daran denke, daß all dies vom Ingmarshof ausgegangen ist, dann wage ich den Leuten kaum noch in die Augen zu sehen!«

»Ist denn Fält etwas Böses widerfahren?« fragte Ingmar. — »Ach, diese Kinder sind schuld daran. Eines Abends, als sie nichts anderes zu tun wußten, fiel es ihnen ein, Fält bekehren zu wollen. Sie hatten natürlich die andern sagen hören, Fält sei ein großer Sünder.« — »Aber früher hatten doch alle Kinder vor Fält ebenso große Angst wie vor den Hexen«, sagte Ingmar. — »Ja, sie hatten auch tüchtig Angst, aber sie wollten nun eine Heldentat verrichten.

So drangen sie eines Abends bei Fält ein, als dieser gerade in seiner Hütte saß und sich Grütze kochte. Als sie die Tür öffneten und Fält sahen, wie er mit seinem borstigen Schnurrbart und seiner gespaltenen Nase dasaß und mit seinem einen Auge ins Feuer starrte, bekamen sie alle miteinander Angst, und ein paar von den Kleinsten liefen davon. Aber zehn bis zwölf an der Zahl wagten sich hinein, knieten rings um den alten Mann nieder und begannen zu singen und zu beten.«

»Hat er sie denn nicht hinausgeworfen?« fragte Ingmar. — »Hätte er es doch nur getan!« sagte Stark-Ingmar. »Ich verstehe gar nicht, was über ihn gekommen war. Der Ärmste hatte vielleicht eben darangedacht, daß er in seinem Alter einsam und verlassen sei, und dann schonte er sie wohl auch, weil es lauter Kinder waren. Es war ihm wahrscheinlich doch zu Herzen gegangen, daß sie sich immer so sehr vor ihm gefürchtet hatten. Und als er dann alle die aufgehobenen Augen sah, die voller Tränen standen, war er entwaffnet.

Die Kinder erwarteten natürlich nichts anderes, als daß er auffahren und sie schlagen würde. Sie sangen und beteten zwar, aber sie waren natürlich bereit, davonzulaufen, sobald er sich rührte.

Da sahen plötzlich ein paar von ihnen, daß es in Fälts Gesicht sonderbar zuckte. ›Nun kommt’s, nun kommt’s‹, dachten sie und standen auf, um zu entfliehen. Aber der Alte blinzelte, und dann rollte ihm eine Träne aus den Augen. Da riefen die Kinder Halleluja, und nun ist es, wie gesagt, aus mit Fält. Jetzt läuft er immerzu in die Betstunden, fastet und betet und hört Gottes Stimme.«

»Ich kann nicht einsehen, daß das ein Unglück ist«, sagte Ingmar. »Fält war ja nahe daran, sich den Hals abzutrinken.« — »Nun, und du hast ja auch so viele Freunde, daß es dir nichts ausmacht, wenn du einen davon verlierst. Du würdest es vielleicht auch gern sehen, wenn die Kinder den Schulmeister bekehren könnten.« — »Das glaube ich nie und nimmer, daß die armen Kinder sich bis zu Storm wagen würden.« Ingmar war ganz atemlos vor Verwunderung. Es mußte doch wirklich etwas Wahres daran sein, wenn Stark-Ingmar sagte, das Dorf sei von oberst zu unterst gekehrt. — »Aber sie haben es doch gewagt; eines Abends, als Storm gerade in der Schulstube saß und in seine Bücher schrieb, kamen etwa zwanzig und begannen ihm zu predigen.« — »Und was tat Storm?« fragte Ingmar; er konnte nicht anders, er mußte laut herauslachen. — »Zuerst war er so verblüfft, daß er gar nichts sagen noch tun konnte. Aber da war zufälligerweise Hellgum gleichzeitig in die Küche gekommen, um mit Gertrud zu reden.« — »War Hellgum bei Gertrud?« — »Ja, Hellgum und Gertrud sind sehr gute Freunde, seit er ihr damals wegen Gunhild nachgegeben hat.

Als Gertrud den Lärm in der Schulstube hörte, sagte sie zu Hellgum: ›Nun kommen Sie gerade recht, um etwas Neues zu sehen. In Zukunft werden, scheint’s, die Kinder den Schulmeister in die Schule nehmen.‹ Da lachte Hellgum; er verstand wohl, daß das zu weit ging; rasch jagte er die Kinder aus der Schule hinaus, und damit hatte der Unfug ein Ende.«

Ingmar fühlte, daß ihn Stark-Ingmar, während er dies sagte, mit einem ganz eigenen Blick betrachtete. Es war geradeso, wenn ein Jäger vor einem angeschossenen Bären steht und überlegt, ob es nötig sei, ihm noch einen Schuß zu geben.

»Was erwartest du denn eigentlich von mir?« fragte Ingmar. — »Was sollte ich von dir erwarten, du bist ja nur ein Junge, der nichts besitzt, du hast nur zwei leere Hände anzubieten.« — »Ich glaube wahrhaftig, du möchtest, daß ich Hellgum totschlagen soll.« — »Drunten im Dorf heißt es, daß allen geholfen wäre, wenn du Hellgum dazu bringen könntest, die Gegend zu verlassen.« — »Aber es ist doch von jeher so gewesen, daß Spaltungen und Streit ausbrachen, wenn eine neue Lehre verkündigt wurde«, sagte Ingmar. — »Ja, aber es wäre jedenfalls eine gute Gelegenheit für dich, den Leuten zu zeigen, was du taugst«, sagte Stark-Ingmar eigensinnig.

Ingmar wandte dem Alten den Rücken und setzte die Säge in Gang. Vor allem hätte er gern erfahren, wie es Gertrud ging und ob sie sich schon den Hellgumianern angeschlossen hatte, aber er war zu stolz, um seine Unruhe zu verraten.

Um acht Uhr ging Ingmar auf den Ingmarshof, um zu frühstücken. Wie gewöhnlich wurden ihm viele gute Dinge vorgesetzt, und Halvor und Karin waren ganz besonders freundlich zu ihm. Sobald Ingmar die beiden sah, war es ihm, als könnte er von allem, was Stark-Ingmar erzählt hatte, kein Wort glauben. Es wurde ihm leicht ums Herz, und er war fest überzeugt, daß der Alte übertrieben hatte.

Aber bald ergriff ihn die Unruhe um Gertrud aufs neue mit solcher Gewalt, daß er keinen Bissen essen konnte. »Bist du in der letzten Zeit nicht bei Schulmeisters gewesen, Karin?« fragte er plötzlich. — »Nein«, antwortete Karin schnell, »mit solch gottlosen Leuten gehe ich nicht um.«

Ingmar schwieg lange, denn das war eine Antwort, die ihm zu denken gab. War es nun richtiger zu schweigen oder zu reden? Wenn er redete, so überwarf er sich mit seiner Familie; aber das wollte er auch nicht, daß sie glaubten, er sei mit dem einverstanden, was ihm unrecht schien. — »Ich habe bei Schulmeisters noch nie etwas von Gottlosigkeit bemerkt«, sagte er, »und ich habe doch vier Jahre lang dort gewohnt.«

Nun dachte Karin beinahe dasselbe, was Ingmar vorhin gedacht hatte; auch sie wußte nicht, ob sie schweigen oder sprechen sollte. Aber sie mußte ja die Wahrheit sagen, selbst wenn es Ingmar weh tat, und deshalb sagte sie, wenn die Menschen dem Rufe Gottes nicht folgten, dann müßten sie doch gottlos sein.

Halvor erklärte auch: »Es ist doch ungeheuer wichtig, welche Erziehung die Kinder bekommen.« — »Storm hat das ganze Dorf erzogen und dich auch, Halvor.« — »Ja, aber er hat uns doch nicht gelehrt, ein rechtschaffenes Leben zu führen«, sagte Karin. — »Ich meine, danach hättest du doch immer getrachtet, Karin.« — »Ich will dir sagen, Ingmar, was ein Leben nach der alten Lehre bedeutete. Es war, als ginge man auf einem runden Balken, auf dem man den einen Augenblick steht und im andern fällt. Aber wenn ich mich von meinen Mitchristen an den Händen nehmen und mich von ihnen stützen lasse, dann kann ich auf dem schmalen Weg der Gerechtigkeit fortschreiten, ohne zu fallen.«

»Ja«, sagte Ingmar, »aber dann ist es auch keine Kunst.«

»Es ist immer noch schwer genug, aber es ist nicht mehr ganz unmöglich.«

»Aber wie ist es denn nun mit den Schulmeistersleuten?« — »Ja, wer zu uns gehört, nahm seine Kinder aus der Schule. Wir wollen nicht haben, daß die Kinder in der alten Lehre unterrichtet werden.« — »Aber was sagt denn der Schulmeister dazu?« — »Er sagt, das Gesetz verlange, daß die Kinder in die Schule gingen.« — »Ja, das meine ich auch.« — »Dann schickte er den Landvogt zu Israel Tomassons und zu Krister Larssons und ließ die Kinder holen.« — »Und nun seid ihr mit Storms zerfallen?« — »Ja, wir halten fest untereinander zusammen.« — »Ihr seid wohl mit dem ganzen Dorf zerfallen?« — »Wir halten uns von denen fern, die nur zur Sünde verlocken wollen.«

Je länger die drei miteinander redeten, desto leiser sprachen sie. Alle wegen sehr vorsichtig jedes Wort ab, das sie sagten, denn alle drei hatten das Gefühl, daß die Unterhaltung eine betrübliche Wendung zu nehmen drohte.

»Aber von Gertrud kann ich dich grüßen«, sagte Karin, indem sie einen fröhlicheren Ton anzuschlagen versuchte. »Hellgum hat im Winter oft mit ihr gesprochen, und er sagt, sie will sich uns noch heute abend anschließen.«

Ingmars Lippen zitterten. Ihm war, als hätte er den ganzen Tag darauf gewartet, daß er angeschossen würde, und nun kam der Schuß. — »So, sie will sich euch also anschließen«, sagte er mit beinahe. unhörbarer Stimme. »Hier unten geschieht manches, während man droben in der Dunkelheit des Waldes haust.«

Ingmar bekam den Eindruck, daß Hellgum die ganze Zeit versucht hatte, sich an Gertrud heranzumachen, und daß er ihr Schlingen gelegt hatte, um sie einzufangen.

»Aber was soll nun aus mir werden?« fragte Ingmar plötzlich in einem sonderbar hilflosen Ton. — »Du sollst dich unserem Glauben anschließen«, sagte Halvor schnell. »Hellgum ist nun zurück, und wenn du erst mit ihm gesprochen hast, wirst du bald bekehrt sein.« — »Es könnte aber doch sein, daß ich mich nicht bekehren lassen möchte«, sagte Ingmar. Da schwiegen Karin und Halvor, und es wurde totenstill in der Stube.

»Es könnte sein, daß ich keinen andern Glauben haben will als den meines Vaters«, fuhr Ingmar fort. — »Du darfst nichts sagen, bis du mit Hellgum gesprochen hast«, sagte Karin. — »Aber wenn ich nicht zu euch übertrete, dann werdet ihr mich wohl nicht mehr unter eurem Dach haben wollen?« sagte Ingmar und stand von seinem Stuhl auf.

Als ihm die beiden darauf keine Antwort gaben, war es Ingmar, als ob alles um ihn herum plötzlich einstürzte. Er richtete sich jedoch sogleich auf und sah mutiger aus. »Es ist am besten, ich schaffe jetzt sofort Klarheit«, dachte er.

»Ich möchte gern wissen, wie es mit der Sägemühle werden soll«, fuhr Ingmar fort. Da sahen Halvor und Karin einander an, beide scheuten sich, etwas zu sagen. — »Du darfst nicht vergessen, Ingmar, daß wir außer dir niemand auf der Welt haben«, sagte Halvor. — »Ja, aber wie soll es mit dem Sägewerk werden?« fragte Ingmar eigensinnig. — »Vor allem sollst du deine Stämme aufarbeiten«, sagte Halvor.

Als Ingmar diese ausweichenden Antworten vernahm, ging ihm plötzlich ein Licht auf. — »Wollt ihr vielleicht Hellgum die Sägemühle in Pacht geben?« Halvor und Karin waren verwirrt durch Ingmars Heftigkeit; seit er das über Gertrud gehört hatte, war er ganz unzugänglich geworden. — »Laß nur Hellgum zuerst mit dir reden«, sagte Karin besänftigend. — »Er wird schon Gelegenheit finden, mit mir zu reden, aber es wäre mir lieb, zu wissen, wonach ich mich zu richten habe.« – »Du weißt doch, daß wir es gut mit dir meinen.« — »Aber ihr wollt Hellgum die Mühle in Pacht geben?« fragte Ingmar. — »Wir hätten Hellgum gern eine passende Arbeit verschafft, damit er hier in Schweden bleiben kann, und da dachten wir, du und er, ihr könntet euch zusammentum falls du zu dem rechten Glauben kommst; Hellgum ist ein sehr tüchtiger Arbeiter.«

»Ich weiß nicht, seit wann du dich fürchtest, offen zu reden, Halvor«, sagte Ingmar. »Ich mödnte jetzt nur wissen, ob Hellgum die Sägemühle bekommen soll oder nicht.« — »Ja, er soll sie haben, wenn du Gott widerstrebst«, sagte Halvor. — »Ich danke dir, Halvor, nun weiß ich doch, wie gut es für mich wäre, wenn ich zu eurem Glauben überträte.« — »Du weißt wohl, daß es nicht so gemeint ist«, sagte Karin. — »Oh, ich verstehe recht gut, wie es gemeint ist«, sagte Ingmar, »nämlich, daß mir Gertrud und die Sägemühle und die alte Heimat hier verlorengehen, wenn ich nicht zu euch übergehe.«

Nach diesen Worten verließ Ingmar schnell die Stube. Er wagte es nicht, länger zu bleiben.

Als er in den Hof hinauskam, dachte er wieder: »Es ist am besten, die Sache wird gleich entschieden. Ich muß wissen, wonach ich mich zu richten habe.«

Mit langen Schritten schlug er die Richtung zum Schulhaus ein.

Als Ingmar das Gartenpförtchen des Schulhauses öffnete, fiel ein leichter Regen, ein richtiger milder, dichter Frühlingsregen. In dem schönen Garten hatte es schon angefangen zu knospen und zu sprossen. Die Wiese wurde so rasch grün, daß man wirklich das Gras wachsen zu sehen meinte. Gertrud stand auf der Vortreppe und sah dem Frühlingsregen zu, und zwei große Faulbäume, an denen überall die jungen Blätter hervorsprossen, breiteten ihre Zweige über sie.

Verwundert blieb Ingmar stehen; alles hier war so schön und friedlich, und noch einmal legte sich die Erregung, in der er sich befand. Gertrud hatte ihn noch nicht gesehen; leise schloß er das Pförtchen und ging auf sie zu.

Aber plötzlich blieb er betroffen stehen und betrachtete Gertrud. Als er sich von ihr getrennt hatte, war sie nicht viel mehr als ein Kind gewesen, aber in dem einen Jahr, in dem er sie nicht gesehen hatte, war sie eine stolze Jungfrau geworden. Sie war groß und schlank und vollständig erwachsen. Der Kopf saß schön auf dem feinen Hals, ihre Haut war weiß und zart wie Flaum, mit frischem Rot auf den Wangen. Die Augen waren tief und sehnsüchtig geworden, und ihr schelmisch froher Ausdruck von früher hatte sich in Ernst und milde Träumerei verwandelt.

Als Ingmar Gertrud so sah, wurde sein Herz von Wonne erfüllt; es wurde still und feierlich um ihn her, und ihm war, als läuteten große Glocken den Sonntagsfrieden ein. Es war so herrlich, daß er versucht war, hinzuknien und Gott zu danken.

Aber als Gertrud Ingmar sah, wurden ihre Züge plötzlich starr, die Augenbrauen zogen sich zusammen, und zwischen ihnen erschien eine feine Falte.

An diesem Tag waren Ingmars Gedanken rascher als sonst. Er sah sofort, daß Gertrud sich nicht über das Wiedersehen freute, und fühlte, wie ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. »Sie wollen sie dir nehmen«, dachte er; »sie haben sie dir schon genommen.«

Der Sonntagsfrieden war fort, und Aufregung und Unruhe kehrten zurück.

Ohne Einleitung fragte Ingmar Gertrud, ob es wahr sei, daß sie gedächte, sich an Hellgum und seine Anhänger anzuschließen. Und Gertrud antwortete, daß es wirklich so sei. Ingmar fragte, ob sie auch bedacht habe, daß die Hellgumianer ihr nur erlauben würden, mit Gesinnungsgenossen zu verkehren. Und Gertrud antwortete leise, daß sie auch das bedacht habe.

»Hast du von deinem Vater und deiner Mutter die Erlaubnis dazu bekommen?« fragte Ingmar. — »Nein«, antwortete Gertrud, »sie wissen noch nichts davon.« — »Aber Gertrud …« — »Still, Ingmar, ich muß es tun, um Ruhe zu bekommen. Gott selbst zwingt mich dazu.« — »Ach«, fuhr Ingmar auf, »das ist nicht Gott, sondern es ist…« Da wandte sich Gertrud heftig nach Ingmar um, und er sagte: »Ich will dir nur sagen, daß ich mich niemals an die Hellgumianer anschließen werde. Wenn du also zu ihnen übergehst, dann sind wir für alle Zeiten geschieden.«

Gertrud sah aus, als ginge sie das nichts an.

»Tu es nicht, Gertrud!« bat Ingmar. — »Glaube ja nicht, ich handle leichtsinnig, ich habe es mir reiflich überlegt.« — »Du mußt es dir noch einmal überlegen.« — Ungeduldig wandte sich Gertrud ab. — »Du mußt wohl die Sache auch um Hellgums willen überlegen«, sagte Ingmar in wachsendem Zorn und ergriff Gertrud am Arm, um sie festzuhalten. — Aber Gertrud schüttelte seine Hand ab. — »Bist du denn ganz von Sinnen, Ingmar?« — »Ja«, antwortete Ingmar, »Hellgum und sein Treiben machen mich verrückt, es muß ein Ende damit haben.« — »Was muß ein Ende haben?« — »Das werde ich dir ein andermal sagen.«

Gertrud zuckte die Achseln. »Leb wohl, Gertrud«, sagte Ingmar, »und das kann ich dir sagen, nie und nimmer kommst du unter die Hellgumianer, merke dir das.« — »Was hast du denn im Sinn?« fragte das Mädchen, das unruhig wurde. — »Leb wohl, Gertrud, und denk an das, was ich dir gesagt habe!« Er war schon drunten auf dem Kiesweg.

Ingmar lenkte seine Schritte nun heimwärts. »Wenn ich nur so klug wäre wie mein Vater«, dachte er unterwegs. »Wenn ich soviel Macht hätte, wie mein Vater hatte. Was soll ich tun? Ich verliere alles, was ich liebhabe, und sehe nirgends einen Ausweg.«

Aber das eine stand fest, wenn ihn all dies Unglück wirklich traf, dann sollte Hellgum nicht mit heiler Haut davonkommen.

Ingmar ging zu Stark-Ingmars Hütte, um Hellgum aufzusuchen. Als er sich der Tür näherte, hörte er mehrere Stimmen laut und eifrig reden. Es schien, als seien Fremde drinnen, und Ingmar drehte sogleich wieder um. Aber gerade als er sich zum Gehen wandte, hörte er einen Mann mit sehr lauter Stimme sagen: »Wir sind drei Brüder, die von weit her gekommen sind, um dich, Johann Hellgum, zur Verantwortung zu ziehen, wegen unseres jüngsten Bruders, der vor zwei Jahren nach Amerika gegangen ist. Dort ließ er sich in deine Gemeinde aufnehmen, und in den letzten Tagen haben wir einen Brief bekommen, daß er wahnsinnig geworden ist, weil er zuviel über deine Lehre nachgegrübelt hat.«

Ingmar ging rasch davon. Es gab also noch andere Leute, die über Hellgum Klage zu führen hatten, und diese standen ihm ebenso hilflos gegenüber wie er.

Nun ging Ingmar zum Sägewerk hinunter. Stark-Ingmar war schon in voller Arbeit. Während die Säge knirschte und der Wasserfall tobte, meinte Ingmar von der Hütte her einen Schrei zu hören. Er gab aber nicht weiter darauf acht. In diesem Augenblick hatte er für nichts anderes Sinn als für den großen Haß, den er gegen Hellgum fühlte. Er rechnete sich fortwährend vor, was Hellgum ihm genommen hatte: Gertrud und Karin, die Sägemühle und die Heimat.

Noch einmal war ihm, als höre er einen Schrei, und zugleich fiel ihm ein, daß die Fremden und Hellgum am Ende in Streit geraten sein könnten. Es wäre kein Schade, wenn sie einander totschlügen, dachte Ingmar.

Da ertönte ein lauter Hilferuf, und nun lief Ingmar schnell den Abhang hinauf.

Je näher er kam, desto deutlicher hörte er Hellgums Hilferufe, und als er die Hütte erreicht hatte, war es ihm, als ob die Erde unter dem Streitgetöse erbebte.

Ingmar öffnete die Türen immer sehr leise, und diesmal tat er es mit doppelter Vorsicht. Ganz leise glitt er in die Stube hinein. Hier stand Hellgum an eine Wand gedrückt und verteidigte sich mit einer kurzen Axt. Die drei Fremden, lauter starke, kräftige Männer, drangen mit Holzscheiten, die sie wie Keulen schwangen, auf ihn ein. Hinten hatten sie nicht bei sich, und daraus konnte Ingmar entnehmen, daß sie nur gekommen waren, um Hellgum eine ordentliche Tracht Prügel zu geben, aber als er sich zur Wehr gesetzt hatte, waren sie von Mordlust ergriffen werden, so daß es nun Hellgums Leben galt.

Sie sahen Ingmar kaum an; es war ja nur ein langer, linkischer Junge, der in die Stube getreten war.

Einen Augenblick blieb Ingmar stehen und sah zu. Das war ja gerade wie in einem Traum, wo das, was man sich am meisten wünscht, vor den Blicken ersteht, ohne daß man begreift, woher es kommt. Ab und zu stieß Hellgum einen Hilferuf aus. »Du mußt nicht glauben, daß ich so dumm bin und dir helfe«, dachte Ingmar.

Nun schlug einer der Männer Hellgum mit so großer Wucht auf den Kopf, daß dieser die Axt losließ und zu Boden fiel. Sogleich warfen die andern die Holzscheite weg, zogen die Messer heraus und stürzten sich auf Hellgum. Da durchzuckte Ingmar ein Gedanke. Es ging eine alte Sage in seiner Familie, daß jedes Glied der Familie einmal in seinem Leben etwas Schändliches oder Unrechtes tun müsse. War vielleicht die Reihe nun an ihm?

Plötzlich fühlte sich einer der Brüder von zwei starken Armen von hinten ergriffen, die ihn aufheben und zum Zimmer hinauswarfen. Der zweite wollte sich eben aufrichten, als es ihm ebenso ging, und der dritte, dem es gelang, auf die Beine zu kommen, bekam einen Stoß, daß er rückwärts den andern nachflog.

Als er alle drei hinausgeworfen hatte, stellte sich Ingmar unter die Tür. »Wollt ihr nicht noch einmal kommen?« rief er lachend. Er hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn sie ihn selbst angegriffen hätten. Es hätte ihm wohl getan, seine ganze Kraft brauchen zu müssen.

Die drei Brüder schienen auch ganz dazu aufgelegt, noch einmal anzufangen, aber plötzlich rief einer von ihnen, sie müßten fliehen, denn er sehe jemand auf dem Pfad hinter dem Erlengebüsch kommen.

Aber sie waren wütend darüber, daß sie Hellgum nicht überwunden hatten, und gerade als sie sich umwandten, um davonzulaufen, sprang einer zurück, fuhr auf Ingmar los und stieß ihm das Messer in den Nacken. — »Das bekommst du, weil du dich in unsere Angelegenheiten gemischt hast!« rief er. Ingmar sank zu Boden, und mit Hohngelächter sprang der Bauer davon.

Ein paar Minuten später stand Karin in der Hütte. Sie fand Ingmar mit einer Wunde im Nacken auf der Schwelle sitzen, und drinnen in der Stube sah sie Hellgum. Er hatte sich wieder aufgerichtet, lehnte sich aber an die Wand. Die Axt hielt er noch immer in der Hand, das Gesicht war ganz mit Blut überströmt.

Karin hatte die Flüchtlinge nicht gesehen, und sie glaubte, Ingmar sei es, der Hellgum überfallen und verwundet habe.

Sie erschrak so, daß ihr die Knie zitterten. »Nein, es ist nicht möglich«, dachte sie, »aus unserer Familie kann keiner zum Mörder werden.« Da fiel ihr plötzlich die Geschichte ihrer Mutter ein, und sie murmelte: »Jaja, daher stammt es.«

An Ingmar vorbei eilte sie nun auf Hellgum zu. — »Nein, nein, Ingmar zuerst!« rief dieser. — »Man darf sich doch nicht des Mörders annehmen, ehe man nach dem Opfer sieht«, sagte Karin. — »Ingmar zuerst! Ingmar zuerst!« brüllte Hellgum. Er war in solcher Aufregung, daß er die Axt vor Karin schwang. »Er ist es ja, der die Mörder geschlagen und mir das Leben gerettet hat!«

Als Karin endlich den Zusammenhang begriff und sich nach Ingmar umwandte, war dieser aufgestanden und hinausgegangen. Karin sah ihn über den Hofplatz wanken.

Sie eilte ihm nach. »Ingmar! Ingmar!« rief sie.

Aber Ingmar ging weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

Mühelos holte Karin ihn ein und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Bleib da, Ingmar«, sagte sie, »damit ich dich verbinden kann.«

Aber Ingmar riß sich los und ging weiter. Wie ein Blinder taumelte er vorwärts, ohne auf Weg und Steg zu achten. Das Blut hatte sich einen Weg durch seine Kleider gebahnt; es rieselte herunter und in den einen Schuh, der bald mit Blut gefüllt war. Bei jedem Schritt wurde das Blut aus dem Schuh herausgedrückt und hinterließ eine rote Spur auf dem Feld.

Händeringend lief Karin hinter Ingmar her. »Bleib da, Ingmar! Bleib da! Wohin willst du? Bleib da, Ingmar!«

Ingmar ging geradenwegs in den Wald hinein. Aber dort waren doch keine Menschen, die ihm hätten helfen können.

Karin sah unverwandt auf seine Schuhe, die voller Blut waren. Mit jedem Augenblick wurden die Fußstapfen röter.

»Nun geht er in den Wald hinein, um sich niederzulegen und sich zu verbluten«, dachte Karin.

»Gott segne dich, Ingmar, daß du Hellgum geholfen hast!« sagte Karin mit weicher Stimme. »Dazu gehörte wirkliche männliche Kraft und ein männlicher Mut.«

Ingmar ging weiter, ohne auf sie zu hören.

Da eilte Karin an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. Er wich auf die Seite, ohne zu ihr aufzusehen, ja er murmelte sogar: »Geh und hilf Hellgum!«

»Höre, was ich dir sage, Ingmar. Halvor und ich waren sehr betrübt über das, was wir heute morgen gesagt haben, und ich war eben auf dem Weg zu Hellgum, um ihm zu sagen, daß du die Mühle behalten sollst.«

»Ja, nun kannst du sie ja Hellgum geben«, erklang Ingmars Stimme.

Er ging immer weiter und stolperte öfter, aber er ging und ging.

Karin lief hinter ihm her und versuchte, ihn zu erweichen. »Du mußt mir verzeihen, daß ich mich einen Augenblick geirrt habe. Ich glaubte, du hättest mit Hellgum Streit gehabt. Es war nicht leicht, etwas anderes zu glauben.«

»Ja, es wurde dir leicht, deinen Bruder für einen Mörder zu halten«, sagte Ingmar, ohne sie anzusehen.

Er ging immer weiter, ohne anzuhalten.

Als Ingmar den Namen Hellgum immer wieder aussprach, wurde es Karin erst richtig klar, wie sehr er ihn haßte. Und gleichzeitig erkannte sie, wie groß es war, was Ingmar getan hatte.

»Es wird überall bekannt werden, was du heute getan hast, und jedermann wird dich dafür loben, Ingmar«, sagte Karin. »Da wirst du doch nicht sterben wollen!«

Sie hörte ihn höhnisch lachen. Er wandte ihr sein bleiches, verzerrtes Gesicht zu. »Willst du nicht endlich gehen! Ich weiß ja doch, wem du am liebsten helfen möchtest.«

Sein Gang wurde immer schwankender, und auf dem Boden zeigte sich nun eine zusammenhängende Blutspur.

Der Blutstrom brachte Karin ganz außer sich. Die große Liebe, die sie von jeher für Ingmar gehabt hatte, flammte mit neuer Stärke auf, als wenn sie von den Blutstreifen genährt würde. Und sie war auch stolz auf Ingmar und betrachtete ihn als kräftigen Sproß an dem alten Stamm.

»Ingmar«, sagte Karin, »ich glaube nicht, daß du es vor Gott und den Menschen verantworten kannst, dein Leben auf diese Weise aufs Spiel zusetzen. Und das sage ich dir, wenn dir irgend etwas wieder Lust zum Leben geben kann, und es steht ganz allein in meiner Macht, so brauchst du es nur zu sagen.«

Da blieb Ingmar stehen; er umschlang einen Baumstamm, um sich aufrecht zu halten, und sie hörte ihn mißtrauisch lachen, als er sagte:

»Du würdest vielleicht auch Hellgum nach Amerika zurückschicken?«

Karin sah auf die Blutlache und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, um sich klarzumachen, was der Bruder verlangte. Das hieß wohl, sie sollte den schönen Paradiesgarten, in dem sie den Winter über gelebt hatte, wieder verlassen und das Leben in der alten, elenden Welt der Sünde von neuem beginnen.

Ingmar wandte sich ganz um; sein Gesicht war wachsgelb, die Haut an den Schläfen eingefallen und die Nase wie bei einem Toten. Aber die große Unterlippe schob sich gebieterischer vor als je, und der scharfe Zug um den Mund wurde sehr deutlich. Es war unwahrscheinlich, daß er seine Forderung aufgeben würde.

»Ich glaube nicht, daß Hellgum und ich hier im Dorf miteinander leben können«, sagte Ingmar, »aber ich sehe schon, daß ich weichen muß.«

»Nein«, sagte Karin schnell, »wenn ich dich nur pflegen darf, damit du am Leben bleibst, dann verspreche ich dir, dafür zu sorgen, daß Hellgum abreist.«

»Gott kann einen andern Helfer für uns finden«, dachte Karin, während sie das sagte, »aber ich sehe keinen andern Ausweg, als das zu tun, was Ingmar will.«

___________

Ingmar war verbunden und zu Bett gebracht werden. Die Wunde war nicht gefährlich; er sollte sich nur ein paar Tage ruhig verhalten. Er lag droben in der Oberstube, und Karin saß an seinem Bett.

Den ganzen Tag hindurch redete Ingmar im Fieber, er durchlebte alles noch einmal, was ihm am Tage geschehen war, und Karin wurde es bald klar, daß es nicht allein Hellgum und die Sägemühle waren, die ihm so viel Kummer gemacht hatten.

Am Abend war er wieder klar und ruhig, und da sagte Karin zu ihm: »Es ist jemand da, der gerne mit dir reden möchte.« Ingmar antwortete, er sei zu müde, um mit jemand sprechen zu können. — »Aber ich glaube, daß es dir guttun würde.«

Gleich darauf trat Gertrud ins Zimmer. Sie sah sehr feierlich und bewegt aus. Ingmar hatte Gertrud von jeher liebgehabt, er hatte sie auch schon geliebt, als sie noch neckisch und launisch gewesen war, damals hatte sich jedoch bei ihm stets etwas gegen die Liebe gesträubt. Jetzt aber war ein schweres Jahr voller Sehnsucht und Unruhe über Gertrud hingegangen, und das hatte sie so verändert, daß es ihn heftig verlangte, sie zu gewinnen.

Als Gertrud ans Bett trat, bedeckte er die Augen mit der Hand.

»Willst du mich nicht sehen?« fragte sie.

Ingmar schüttelte den Kopf, er war jetzt wie ein launisches Kind.

»Ich möchte dir nur ein paar Worte sagen«, sagte Gertrud.

»Du kommst wohl, um mir mitzuteilen, daß du dich an die Hellgumianer angeschlossen hast?«

Gertrud ließ sich neben dem Bett auf die Knie nieder; sie zog Ingmars Hand von den Augen weg.

»Es ist etwas, wovon du nichts weißt, Ingmar.« Er sah sie fragend an, sagte aber nichts. Gertrud errötete und zögerte, dann aber sagte sie: »Im vorigen Jahr, gerade als du von uns wegzogst, hatte ich angefangen, dich auf die richtige Weise liebzuhaben.«

Ingmar wurde rot und lächelte ein wenig vor Freude, aber sogleich wurde er wieder ernst und mißtrauisch. — »Ich habe sehr großes Heimweh nach dir gehabt, Ingmar.« — Ingmar lächelte ungläubig, streichelte aber ihre Hand zum Dank dafür, daß sie gut gegen ihn sein wollte. — »Und du kamst nicht ein einziges Mal zu mir«, klagte sie; »es war, als sei ich gar nicht mehr für dich da.«

»Ich wollte dich nicht wiedersehen, ehe ich ein wohlhabender Mann war, der um dich freien könnte«, sagte Ingmar, als ob das etwas Selbstverständliches sei.

»Aber ich dachte, du hättest mich vergessen.« Tränen traten in Gertruds Augen. »Du weißt gar nicht, was ich für ein jahr durchgemacht habe. Hellgum ist sehr gut gegen mich gewesen und hat mich getröstet. Er sagte, mein Herz würde still werden, wenn ich es Gott ganz hingäbe.«

Nun sah Ingmar sie mit einer ganz neuen Erwartung im Blick an.

»Als du heute morgen kamst, erschrak ich. Ich fürchtete, ich würde dir nicht widerstehen können, und dann würde der Kampf von neuem beginnen.«

Jetzt breitete sich ein strahlendes Lächeln über Ingmars Gesicht aus. Aber er schwieg noch immer.

»Heute abend erfuhr ich jedoch, daß du dem beigestanden hast, den du haßt, Ingmar. Und da konnte ich nicht mehr.« Gertrud wurde dunkelrot. »Ich fühlte, daß ich nicht die Kraft habe, etwas zu tun, das mich von dir scheiden würde.«

Und zugleich neigte sie sich über Ingmars Hand und küßte sie.

Aber in Ingmars Ohren klang es, als ob große Glocken einen hohen Festtag einläuteten. Sonntagsfrieden und Sonntagsruhe erfüllten sein Herz; süß wie Honig lag die Liebe auf seiner Zunge und verbreitete sich erfrischend und heilend durch sein ganzes Sein.

Zweite Abteilung

L’Univers’ Untergang

In einer nebligen Sommernacht des Jahres 1880, also ein paar Jahre, bevor der Schulmeister sein Missionshaus zu bauen begann und Hellgum von Amerika nach Schweden zurückkehrte, fuhr der große französische Passagierdampfer »L’Univers« auf der Fahrt von New York nach Le Havre über den Atlantischen Ozean.

Es war gegen vier Uhr morgens, und die meisten der Passagiere und der Schiffsmannschaft lagen in ihren Kojen und schliefen. Das große Deck war fast ganz leer. Gerade vor Tagesanbruch drehte und wandte sich ein französischer Matrose in seiner Hängematte, ohne wieder einschlafen zu können. Die See war etwas bewegt, und das Holzwerk des Schiffes krachte und ächzte unaufhörlich, aber sicher war es nicht das, was den Franzosen am Wiedereinschlafen hinderte.

Er und seine Kameraden lagen in einem großen, aber sehr niedrigen Raum, der durch eine Bretterwand vom Zwischendeck abgeteilt war. Es brannten ein paar Laternen, so daß der Matrose die grauen Hängematten unterscheiden konnte, die in dichten Reihen nebeneinander hingen und mit den schlafenden Seeleuten hin und her schwankten. Ab und zu fuhr ein kühler Windstoß durch eine der Luken so feucht herein, daß das ganze Meer, das sich draußen unter dem Nebel in kleinen Wogen kräuselte, vor dem inneren Auge des Matrosen aufstieg.

»Es geht doch nichts über das Meer«, dachte der alte Seemann.

Während er so dachte, wurde es plötzlich sonderbar still ringsum. Er hörte nichts mehr, weder das Stampfen der Maschine noch das Rasseln der Ketten am Steuer noch das Plätschern der Wellen noch das Rauschen des Windes noch sonst irgend etwas. Er glaubte, das Schiff sei am Ende plötzlich untergegangen und er und seine Kameraden würden nun nie in ein Leichentuch gehüllt noch in einen Sarg gelegt werden, sondern müßten für ewige Zeiten hier in diesen grauen Kojen tief unten im Meer hängenbleiben.

Früher hatte er sich immer davor gefürchtet, sein Grab in den Wellen finden zu müssen. Nun aber war ihm der Gedanke ganz angenehm. Er freute sich, daß das bewegliche, durchsichtige Wasser über ihm war und keine schwarze, schwere Kirchhofserde.

»Es geht doch nichts über das Meer«, dachte er noch einmal.

Aber dann stieg ein Gedanke in ihm auf, der ihn beunruhigte. Er hatte ja die Letzte Ölung nicht empfangen, und nun grübelte er darüber nach, ob wohl seine Seele Schaden nehmen würde, weil sie auf dem Meeresgrunde lag, ohne die heiligen Sterbesakramente empfangen zu haben. Ihm wurde angst, sie werde am Ende den Weg zum Himmel nicht finden.

Da nahm er plötzlich ganz vorn, wo der Schlafraum schmäler wurde, einen schwachen Lichtschein wahr; er richtete sich auf und beugte sich über die Hängematte hinaus, um zu sehen, was es sei. Da sah er ein paar Leute mit brennenden Lichtern daherkommen, und er beugte sich noch weiter vor, um sie näher zu betrachten.

Die Hängematten hingen so dicht nebeneinander und so nahe am Boden, daß jemand, der durch den Raum gelangen wollte, ohne die Schlafenden zu wecken oder zu stoßen, am besten auf der Erde kroch. Der alte Matrose begriff nicht, wer sich hier einen Weg bahnen wollte.

Aber bald sah er, daß es zwei Chorknaben waren, jeder mit einem Wachslicht in der Hand. Er sah ihre langen, schwarzen Mäntel und das kurzgeschnittene Haar ganz deutlich.

Der Matrose war gar nicht erstaunt über das, was er sah; er dachte sogar, es wäre ganz natürlich, daß so kleine Chorknaben mit brennenden Lichtern unter den Hängematten hindurchgehen konnten.

»Ob sie wohl auch einen Priester bei sich haben?« fragte er sich. Zugleich hörte er das Klingeln einer durchdringenden Glocke und sah, daß noch jemand hinter den Knaben kam. Aber es war kein Priester, sondern eine alte Frau, die nicht viel größer war als die Chorknaben.

Die alte Frau kam ihm bekannt vor. »Es muß meine Mutter sein«, dachte er. »Ich kenne niemand, der kleiner wäre als meine Mutter. Und außer ihr könnte niemand so still unter den Hängematten durchschlüpfen, ohne die Matrosen zu wecken.«

Er sah, daß die Mutter ein mit breiten Spitzen besetztes Batisthemd, das wie das Chorhemd eines Priesters aussah, über ihrem schwarzen Kleid trug. In der Hand hielt sie das große Meßbuch mit dem goldenen Kreuz darauf, das er unzählige Male daheim in der Kirche auf dem Altar hatte liegen sehen.

Die Chorknaben stellten die Lichter neben seiner Hängematte auf, dann knieten sie nieder und schwangen ihre Rauchfässer: Der Matrose roch den leichten Duft des Weihrauchs, sah die blauen Rauchwölkchen aufsteigen und hörte die Ketten der Rauchfässer klirren.

Mittlerweile schlug seine Mutter das große Meßbuch auf, und er meinte, sie die Sterbegebete lesen zu hören.

Nun empfand er es gut und friedlich, tot auf dem Meeresgrund zu liegen. Das war viel besser als auf dem Kirchhof.

Er streckte sich in seiner Hängematte aus, und noch lange hörte er die Stimme seiner Mutter lateinische Worte murmeln. Der Weihrauchduft zog über ihn hin, und er lauschte dem Klirren der Ketten an den Räuchergefäßen.

Dann hörte auf einmal alles auf; die Chorknaben nahmen die Lichter und gingen der Mutter voraus, die das Buch mit einem lauten Schlag zuklappte und ihnen folgte. Er sah, daß alle drei unter den grauen Hängematten verschwanden.

Aber in dem Augenblick, wo sie aus seinem Gesichtskreis verschwanden, war es aus mit der Stille ringsum. Er hörte wieder die Atemzüge der Kameraden, das Holzwerk krachte, der Wind heulte, und die Wogen plätscherten. Und er wurde sich bewußt, daß er noch immer zu den Lebenden auf der Oberfläche des Meeres gehörte.

»Jesus, Maria, was bedeutet das, was ich heute nacht gesehen habe?« fragte er sich.

Zehn Minuten nachher wurde L’Univers durch einen heftigen Stoß erschüttert, es war, als würde das ganze Schiff mitten durchgeschwitten.

»Das habe ich erwartet«, dachte der alte Matrose.

Während der entsetzlichen Verwirrung, die nun folgte, als alle andern Matrosen halbnackt aus ihren Kojen stürzten, zog er bedächtig seine besten Kleider an. Er hatte einen Vorgeschmack des Todes auf seinen Lippen, aber dieser war mild und lieblich. Da unten auf dem Meeresgrund kam er sich schon wie daheim vor.

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Als der furchtbare Stoß das Schiff erschütterte, schlief ein kleiner Kajütenjunge in einem Winkel auf Deck neben dem Speisesaal.

Verwirrt setzte er sich auf. Gerade über seinem Kopf war eine kleine, runde Glasscheibe, durch die er hinauslugte. Er konnte aber nichts weiter sehen als Nebel und etwas unförmig Graues, das aus dem Nebel herauszuwachsen schien. Der kleine Schiffsjunge glaubte, große Flügel zu sehen; das war sicher ein schrecklicher Vogel, der sich in der Dunkelheit auf dem Deck niedergelassen hatte. Nun ächzte und schwankte das Schiff unter seinen heftigen Angriffen, bei denen das große Ungetüm mit seinen Krallen und seinem Schnabel und sausenden Flügelschlägen darauf losschlug.

Der kleine Schiffsjungeglaubte, vor Entsetzen sterben zu müssen.

Aber im nächsten Augenblick war er vollständig wach und bemerkte, daß ein großes Segelschiff vor dem Dampfschiff lag und immer dagegenschlug. Er sah große Segel und ein fremdes Schiffsdeck, auf dem Männer in langen Lederjacken wie in wahnsinniger Angst hin- und herliefen. Der Wind hatte sich erhoben, und die unzähligen Segel waren so stark geschwellt, daß man auf ihnen wie auf einem Trommelfell hätte trommeln können. Die Masten schwankten, und Rahen und Taue zersprangen mit Geknall, das wie Schüsse klang.

Der große Dreimaster, der im Nebel gerade auf L’Univers aufgelaufen war, hatte sich mit seinem Bugspriet so in die Seite des Dampfers eingekeilt, daß er nicht mehr loskommen konnte. Der Passagierdampfer neigte sich stark auf die Seite, aber seine Schraube arbeitete weiter, so daß er mit dem Segelschiff fortgetrieben wurde.

»Lieber Gott!« rief der kleine Kajütenwächter, indem er auf Deck hinausstürzte. »Das arme Schiff ist mit uns zusammengestoßen und muß nun untergehen.«

Nicht einen Augenblick dachte er daran, daß der Dampfer in Gefahr sein könnte, denn der war ja so ungeheuer groß und stark.

Nun kamen auch die Offiziere des Schiffes herbeigeeilt. Aber als sie sahen, daß es nur ein Segelschiff war, das mit L’Univers zusammengestoßen war, beruhigten sie sich völlig und trafen mit größter Sicherheit die nötigen Vorbereitungen, um beide Fahrzeuge voneinander loszumachen.

Der kleine Schiffsjunge stand auf Deck; er war barfuß, und sein Hemd flatterte im Winde, aber er winkte den unglücklichen Leuten auf dem Segelschiff zu, daß sie auf den Dampfer herüberkommen sollten, um sich zu retten.

Im Anfang schien niemand auf ihn achtzugeben, aber bald sah er, daß ihm von drüben ein großer, rotbärtiger Mann zuwinkte.

»Komm herüber, Junge!« rief der Mann und lief dicht an die Reling vor. »Das Dampfschiff sinkt!«

Aber der kleine Schiffsiunge dachte keinen Augenblick daran, auf das Segelschiff hinüberzugehen. Er schrie so laut er konnte, die Schiffbrüchigen sollten sich doch auf L’Univers herüberretten.

Die andern Matrosen auf dem Segelschiff arbeiteten eifrig mit Stangen und Bootshaken, um von dem Dampfer loszukommen, aber den Rotbärtigen schien ein merkwürdiges Mitleid mit dem kleinen Schiffsjungen ergriffen zu haben. Er hielt die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund und schrie: »Komm herüber! Komm herüber!«

Der Kleine stand ängstlich und in seinem dünnen Hemd frierend da; er stampfte mit seinen bloßen Füßen auf die Decksplanken und ballte die Fäuste gegen die Mannschaft des Segelschiffs, weil sie ihm nicht folgte und auf das Dampfschiff herüberkam. Ein so großes Dampfschiff wie L’Univers, mit sechshundert Passagieren und zweihundert Mann Besatzung, konnte doch unmöglich untergehen! Und er sah ja, daß der Kapitän und die Matrosen ebenso beruhigt waren wie er selbst.

Plötzlich ergriff der Rothaarige einen Bootshaken und langte damit nach dem Knaben. Er hakte ihn in sein Hemd ein und wollte ihn auf das Segelschiff herüberziehen. Der Junge wurde auch bis an die Reling herangezogen, aber da gelang es ihn, sich wieder frei zu machen. Er wollte sich doch nicht auf das fremde Schiff, das unterzugehen drohte, hinüberziehen lassen!

Gleich darauf ertönte ein neuer, entsetzlicher Krach. Das Bugspriet des Segelschiffes war zerbrochen, und dadurch kamen die beiden Schiffe voneinander los. Als nun das Dampfschiff davonrauschte, sah der Junge, daß das ungeheure Bugspriet vorn an dem Segelschiff herunterhing, und gleichzeitig sah er ganze Wolken von Segeln auf die Mannschaft herabstürzen.

Aber der Dampfer arbeitete mit voller Fahrt, und das fremde Schiff wich zurück in den Nebel. Das letzte, was der Junge von ihm sah, war, daß die Leute sich aus den Haufen von Segeln herausarbeiteten.

Dann verschwand das Schiff schnell, als sei es hinter eine Mauer geglitten. — »Es ist schon untergegangen«, dachte der Junge und lauschte, ob er keine Hilferufe vernehme.

Da ertönte eine rauhe, starke Stimme über das Dampfschiff hin: »Rettet die Passagiere! Setzt die Boote aus!«

Wieder wurde es ganz still; wieder lauschte der Junge auf Hilferufe.

Da erklang die Stimme aufs neue wie aus weiter Ferne:

»Betet zu Gott, ihr seid verloren!«

Im selben Augenblick trat ein alter Matrose zum Kapitän und sagte leise und feierlich: »Wir haben mittschiffs ein großes Leck, wir sinken.«

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Beinahe im gleichen Augenblick, als die Größe der Gefahr bekanntgegeben wurde, erschien eine kleine Dame auf Deck. Sie war vollständig angekleidet und hatte die Hutbänder unter dem Kinn zu einer hübschen Schleife gebunden.

Es war eine kleine, alte Frau mit grauem, lockigem Haar, runden Eulenaugen und roter Gesichtsfarbe. Während der kurzen Zeit, die sie an Bord zugebracht hatte, war es ihr gelungen, mit allen Leuten auf dem Schiff Bekanntschaft zu machen. Jedermann wußte, daß die Dame Miß Hoggs hieß, und allen Menschen, sowohl den Seeleuten als auch den Passagieren, hatte sie mitgeteilt, daß sie noch niemals Angst gehabt habe. Sie wisse nicht, wovor sie sich fürchten solle, meinte sie. Sterben müsse man ja doch einmal, und es sei ihr einerlei, ob das früher oder später geschehe.

Auch jetzt hatte sie keine Angst, sie war nur auf Deck geeilt, um zu sehen, ob da etwas Interessantes vor sich ging.

Das erste, was sie sah, waren zwei Matrosen, die mit wilden, entsetzten Gesichtern an ihr vorbeistürmten. Die Stewards eilten halbangekleidet herbei, um in die Kaiüten hinunterzustürzen und die Passagiere an Deck zu rufen. Ein alter Matrose kam mit einer ganzen Last Rettungsgürtel, die er auf einen Haufen warf. Ein kleiner Schiffsiunge saß im bloßen Hemd weinend in einem Winkel und jammerte, daß er sterben müsse.

Den Kapitän sah sie hoch oben auf der Kommandobrücke, und sie hörte ihn kommandieren: »Maschine stoppen! Setzt die Boote aus!«

Die rußigen Treppen, die in den Maschinenraum führten, stürzten die Heizer und Maschinisten herauf und schrien, das Wasser dringe schon in den Maschinenraum ein.

Miß Hoggs war erst einige Augenblicke auf Deck, als es sich auch schon mit Menschen füllte. Aus der dritten und vierten Klasse stürmten sie in wilden Haufen daher und schrien laut durcheinander, daß man schnell die Boote erreichen müßte, weil sonst nur die Passagiere der ersten und zweiten Klasse gerettet werden würden.

Als aber die Verwirrung immer größer wurde und Miß Hoggs begriff, daß wirklich Gefahr vorhanden war, schlich sie sich auf das oberste Deck über dem Speisesaal, wo ein paar Boote außerhalb der Reling hingen.

Hier oben war kein Mensch, und ohne daß es jemand bemerkte, kletterte Miß Hoggs in eins der Boote, die in ihren Blöcken und Tauen über der schwindelnden Tiefe hingen. Sobald sie das glücklich bewerkstelligt hatte, wünschte sie sich Glück zu ihrer großen Klugheit und Unerschrockenheit.

»Wenn nun das Boot ins Wasser hinabgelassen wird«, dachte sie, »dann drängen die Leute von allen Seiten herbei, um hineinzukommen, und dann gibt es einen entsetzlichen Kampf an den Luken und den Fallreeptreppen.« Sie beglückwünschte sich immer wieder, daß sie daraufgekommen war, das Boot im voraus zu besteigen.

Das Boot, worin Miß Hoggs saß, hing achtern am Schiff, aber wenn sie sich hinausbeugte, konnte sie doch die Fallreeptreppe sehen.

Sie sah nun, daß ein Boot bemannt und zur Treppe hingerudert wurde, damit die Leute einsteigen könnten. Aber plötzlich ertönte ein fürchterlicher Schrei; in der Angst war jemand fehlgetreten und ins Wasser gefallen. Das mußte die andern erschreckt haben, denn das Schiff hallte von lautem Geschrei wider. Die Leute drängten sich in wilder Verwirrung durch die Luken hinaus, stießen einander weg und kämpften sich zur Fallreeptreppe hin. Während dieses Kampfes stürzten viele ins Meer, und andere, die sahen, daß es unmöglich war, die Treppe zu erreichen, stürzten sich sinnlos ins Wasser, um das Boot schwimmend zu erreichen. Aber da ruderte das Boot weg; es war schon sehr schwer beladen, und die Insassen zogen ihre Messer heraus und schnitten denen die Finger ab, die hineinzuklettern versuchten.

Miß Hoggs sah, wie ein Boot nach dem andern heruntergelassen wurde. Sie sah auch, wie ein Boot nach dem andern unter der Last der vielen, die sich hineinstürzten, kenterte.

Die Boote, die neben ihrem hingen, wurden auch heruntergelassen; aber durch irgendeinen Zufall kam niemand zu dem, worin sie saß.

»Gott sei Dank, daß sie mein Boot hängen lassen, bis das Schlimmste vorüber ist!« dachte sie.

Miß Hoggs sah und hörte entsetzliche Dinge, und es war ihr, als schwebe sie über einer wahren Hölle.

Das Deck selbst konnte sie zwar nicht sehen, aber sie meinte, das Getöse eines heftigen Kampfes zu vemehmen. Sie hörte den scharfen Knall von Revolvern und sah leichte blaue Rauchwolken vom Deck aufsteigen.

Endlich kam der Augenblick, wo alles still wurde. »Nun wäre es Zeit, mein Boot herunterzulassen«, dachte Miß Hoggs.

Sie fürchtete sich durchaus nicht, sondern saß ganz still und ruhig da, bis das Dampfschiff sich schließlich auf die Seite legte. Erst da wurde es Miß Hoggs allmählich klar, daß L’Univers sank und daß ihr Boot vergessen worden war.

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Auf dem Dampfschiff war auch eine junge Amerikanerin, eine Mrs. Gordon. Sie wollte nach Europa, um ihre alten Eltern zu besuchen, die seit einigen Jahren in Paris wohnten.

Sie hatte ihre beiden Kinder bei sich, zwei kleine Jungen, die mit ihr in einer Kajüte lagen und ruhig schliefen, als das Unglück geschah.

Die Mutter erwachte sogleich; es gelang ihr, sich und die Kinder notdürftig anzukleiden, dann trat sie vor die Kabinentür auf den schmalen Gang hinaus.

Der Gang war voller Menschen, die alle aus ihren Kajüten herausstürzten, um an Deck zu eilen. Hier war es noch nicht schwierig, vorwärts zu kommen. Auf der Treppe war es viel schlimmer, da herrschte ein fürchterliches Gedränge, weil mehr als hundert Menschen auf einmal hinaufstürmten.

Ihre beiden Kinder an der Hand, blieb die junge Amerikanerin stehen. Sehnsüchtig sah sie die Treppe an und fragte sich, wie sie wohl mit den Kleinen da hinaufgelangen könnte. Sie sah, daß die Menschen sich drängten und stießen und nur an sich selbst dachten. Keiner schien sie auch nur zu sehen.

Aber sie mußte sich nach Hilfe umschauen, denn sie hatte ja die Sorge für die Kinder. Sie hoffte, jemand zu finden, der den einen Jungen auf den Arm nehmen und die Treppe hinauftragen würde, während sie den andern trug.

Aber sie wagte es nicht, jemand anzusprechen. Die Männer kamen in der sonderbarsten Kleidung dahergestürzt, die einen hatten Reisedecken um sich geschlagen, die andern die Überzieher über das Nachthemd gezogen. Mrs. Gordon sah, daß mehrere von ihnen einen Stock in der Hand hielten, und durch die starren Blicke dieser Menschen bekam sie den Eindruck, daß sie alle gefährlich seien.

Vor den Frauen fürchtete sie sich nicht, aber sie sah nicht eine einzige, der sie ihr Kind hätte anvertrauen mögen. Alle hatten die Besinnung verloren und waren so außer sich, daß sie gar nicht begriffen hätten, was sie von ihnen wollte.

Mrs. Gordon sah sich suchend um, ob sie denn nicht eine einzige finde, die noch Vernunft hätte. Aber als sie diese Frauen sah, die einen darauf bedacht, die Blumen zu retten, die sie zum Abschied von New York bekamen hatten, die andern schreiend und händeringend, da wagte sie es nicht, sich an eine von ihnen zu wenden.

Schließlich versuchte sie, einen jungen Mann anzusprechen, der ihr Tischnachbar gewesen war und ihr viel Aufmerksamkeit erwiesen hatte.

»Ach, Mr. Martens …« Aber er sah sie mit demselben bösen, starren Blick an, den sie in den Augen der andern Männer auch gesehen hatte, ja, er erhob sogar den Stock ein wenig, und wenn sie es versucht hätte, ihn aufzuhalten, so hätte er sie sicher geschlagen.

Gleich nachher hörte sie ein Geheul, das heißt, ein Geheul konnte man es eigentlich nicht nennen, sondern ein zorniges Fauchen, wie wenn ein gewaltiger Sturm plötzlich eingedämmt würde. Es kam von den Leuten, die auf der Treppe aufgehalten wurden.

Ein Mann war die Treppe hinaufgetragen werden, ein Krüppel, der nicht gehen konnte. Er war so hilflos, daß ihn sein Diener zu den Mahlzeiten hin und her hatte tragen müssen. Es war ein großer, schwerer Mann, und der Diener hatte ihn mit vieler Mühe auf seinem Rücken die Treppe halb hinaufgetragen. Da hatte er einen Augenblick angehalten, um Atem zu schöpfen, aber die Leute hatten ihn von hinten gestoßen, so daß er in die Knie gesunken war. Nun versperrten er und sein Herr die ganze Breite der Treppe und bildeten ein Hindernis, über das niemand hinwegkommen konnte.

Da sah Mrs. Gordon, wie ein großer, vierschrötiger Mensch sich bükte, den Krüppel aufhob und ihn über das Treppengeländer hinunterwarf. Aber zugleich sah sie auch, daß sich niemand über diese Tat entsetzte oder empörte, so gräßlich sie war. Niemand dachte an etwas anderes, als so rasch wie möglich die Treppe hinaufzukommen. Es war, als sei nur ein Stein, der im Wege gelegen hatte, in den Graben geworfen werden, weiter nichts.

Die junge Amerikanerin sah ein, daß bei diesen Menschen keine Rettung zu erhoffen war; sie und ihre kleinen Kinder waren zum Tod verurteilt.

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Ein junges Paar, das sich auf der Hochzeitsreise befand, war auch an Bord. Die beiden hatten ihre Kajüte weit hinten, und sie hatten so gut geschlafen, daß sie vom Zusammenstoß gar nichts gemerkt hatten. Da hinten entstand auch nachher kein großer Lärm, und da niemand daran dachte, sie zu rufen, schliefen sie noch immer, als die andern schon auf Deck waren und der Kampf um die Rettungsboote begonnen hatte.

Aber sie erwachten, als die Schraube, die die ganze Nacht hindurch unter ihnen gedröhnt hatte, plötzlich stillstand. Der Mann warf ein paar Kleidungsstücke über und eilte hinaus, um zu sehen, was es gäbe.

Nach ein paar Minuten kam er wieder zurück. Er machte die Kajütentüre fest zu, ehe er ein Wort sprach.

»Das Schiff geht unter«, sagte er dann.

Zugleich setzte er sich nieder, und als seine Frau hinauseilen wollte, bat er sie, dazubleiben.

»Alle Rettungsboote sind schon fort«, sagte er, »die meisten Passagiere sind ertrunken, und die, die noch an Bord sind, kämpfen auf Leben und Tod um die letzten Boote.«

Auf einer der Stufen war er über eine totgetretene Frau gestolpert, und von allen Seiten war Todesgeschrei an sein Ohr gedrungen.

»Es gibt keine Rettung für uns«, sagte er. »Geh nicht hinaus, laß uns hier zusammen sterben!«

Sie fand, daß er recht habe, und setzte sich gehorsam neben ihn.

»Du möchtest doch wohl nicht alle diese kämpfenden Menschen sehen?« sagte der Mann. »Und da wir doch sterben müssen, so laß uns lieber einen stillen Tod erleiden.«

Sie fand es nicht zuviel verlangt, daß sie die wenigen Augenblicke, die sie noch zu leben hatten, bei ihm aushalten sollte.

Ach, sie hatte ihm ja ihr ganzes Leben geben wollen, von der ersten Jugend an bis ins hohe Alter!

»Ich hatte gedacht«, sagte er, »du würdest einmal, wenn wir schon viele Jahre miteinander verheiratet wären, an meinem Sterbebett sitzen, und ich würde dir für ein langes, glückliches Leben danken.«

Im selben Augenblick sah sie einen schmalen Streifen Wasser unter der geschlossenen Tür hereinströmen. Das war zuviel für sie.

Verzweifelt streckte sie die Arme aus.

»Ich kann nicht!« rief sie. »Laß mich hinaus! Ich kann nicht hier eingeschlossen sitzen und auf den Tod warten. Ich liebe dich, aber das kann ich nicht!«

Sie stürzte hinaus, gerade als das Schiff vor seinem Untergang ächzte und schwankte.

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Die junge Mrs. Gordon lag im Wasser, der Dampfer war gesunken, ihre Kinder waren ertrunken, und sie selbst war tief, tief drunten im Meer gewesen.

Nun war sie wieder an die Oberfläche heraufgekommen, aber sie wußte, daß sie im nächsten Augenblick wieder sinken würde und daß dann der Tod kam.

Da dachte sie nicht mehr an Mann und Kinder oder an sonst etwas auf dieser Welt, sie dachte nur noch daran, ihre Seele zu Gott zu erheben.

Und ihre Seele stieg hinauf wie ein freigelassener Gefangener. Sie fühlte, wie froh diese Seele war, die schweren Fesseln des menschlichen Lebens abzuwerfen, wie sie sich jubelnd ausbreitete, um nach ihrer wahren Heimat zu ziehen!

»Ist Sterben so leicht!« dachte Mrs. Gordon.

Und während sie so dachte, hörte sie, daß all der wirre Lärm um sie her, das Rauschen der Wagen, das Sausen des Windes, das Jammergeschrei der Ertrinkenden und das Getöse der gegeneinanderstoßenden Wrackstücke, durcheinandergellte. Und alles schien sich ihr zu Tönen zu vereinigen, die sie verstehen konnte, und zwar auf dieselbe Weise, wie formlose Wolken sich manchmal zu Bildern zusammenziehen.

Und das, was sie hörte, klang so:

»Ja, du hast recht, sterben ist leicht, aber leben, das ist schwer.«

»Ja, so ist es«, dachte sie und fragte sich, was denn wohl dazu gehöre, um das Leben ebenso leicht zu machen wie den Tod.

Ringsum kämpften die Schiffbrüchigen um treibende Trümmer und gekenterte Boote. Aber mitten aus diesem wilden Geschrei und den Verwünschungen heraus hörte sie wieder, wie sich das Getöse plötzlich zu lauten Worten vereinigte und ihr antwortete:

»Das, was verlangt wird, damit das Leben ebenso leicht sei wie der Tod, das ist Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit!«

Und es kam ihr vor, als ob der Herr der Welt selbst all diesen Lärm und das Getöse zu seinem Sprachrohr gemacht habe, um ihr zu antworten.

Während diese Worte ihr noch in den Ohren klangen, wurde sie gerettet. Sie wurde in eine kleine Jolle hineingezogen, in der nur drei Menschen saßen. Ein großer, starker Matrose in seinen Sonntagskleidern, eine alte Frau mit runden Eulenaugen und ein kleiner, verweinter Knabe, der nichts auf dem Leibe hatte als ein zerrissenes Hemd.

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Am nächsten Tag gegen Abend fuhr ein norwegisches Segelschiff an den großen Fischereiplätzen und Sandbänken von Neufundland vorüber.

Es herrschte ruhiges, schönes Wetter, die See lag fast spiegelglatt da, und das Schiff kam nur langsam vorwärts. Alle Segel waren aufgezogen, um den letzten Hauch des hinsterbenden Windes aufzufangen.

Die Meeresoberfläche war wunderbar schön; glänzend und himmelblau dehnte sich das Wasser ringsum, und wo die leichte Brise darüber hinstrich, war es weiß wie Silber.

Als diese Abendruhe eine Zeitlang gedauert hatte, sahen die Schiffsleute plötzlich einen dunklen Gegenstand auf dem Wasser hintreiben.

Allmählich kam der dunkle Gegenstand näher, und bald zeigte es sich, daß es eine Leiche war. Der Kutter fuhr ganz dicht daran vorüber, und den Kleidern nach war es die Leiche eines Matrosen.

Mit ruhigem Gesicht und offenen Augen schwamm er auf dem Rücken dahin, er hatte noch nicht so lange im Wasser gelegen, daß der Körper aufgetrieben war. Es sah aus, als ließe er sich mit Wohlgefallen von den kleinen, leicht gekräuselten Wogen dahinschaukeln.

Aber als die Seeleute die Blicke von ihm abwandten, hätten sie beinahe laut aufgeschrien, denn ohne daß sie es bemerkt hatten, war ein neuer Leichnam gerade neben dem Vordersteven aufgetaucht. Sie wären fast darüber hinweggefahren, doch im letzten Augenblick wurde er von den Wellen weggetragen. Alles stürzte an die Reling und starrte aufs Wasser hinunter. Diesmal war es ein Kind, ein feingekleidetes, kleines Mädchen, mit einem Hut auf dem Kopf und in einem blauen Mäntelchen.

»Lieber Gott!« riefen die Seeleute und trockneten sich die Augen. »Ach du lieber Gott, so ein kleines Ding!«

Das Kind schaukelte vorbei und sah zu ihnen herauf mit einem altklugen, ernsten Ausdruck, als hätte es eine wichtige Besorgung zu machen.

Gleich darauf rief einer der Männer, daß er noch eine Leiche sehe, und im selben Augenblick verkündete ein dritter, der nach der andern Seite ausschaute, noch eine. Sie sahen fünf Leichen auf einmal, dann zehn, und dann war es eine ganze Schar, die sie gar nicht zählen konnten.

Das Schiff glitt ganz langsam zwischen all diesen Toten hin, die sich darum scharten, als wollten sie etwas Bestimmtes von ihm.

Die einen kamen in großen Gruppen dahergeschwommen, es sah aus, als seien es Wrackstücke oder etwas Ähnliches, das vom Lande losgerissen worden sei; aber es waren lauter Leichen.

Alle Matrosen betrachteten unverwandt dieses Schauspiel, keiner wagte sich zu rühren. Sie konnten kaum glauben, daß das, was sie sahen, wahr sein könne.

Plötzlich meinten sie, eine ganze Insel aus dem Meer aufsteigen zu sehen. Es sah aber nur aus wie Land, als es näher kam, zeigte es sich, daß es wieder nichts als Leichen waren, die dicht nebeneinander schwammen.

Sie umgeben das Schiff von allen Seiten, sie schienen ihm zu folgen, als wollten sie es auf seiner Fahrt über den Ozean begleiten.

Der Kapitän ließ das Steuer drehen, um Wind in die Segel zu bekommen; aber es half nur wenig. Die Segel hingen schlaff herunter, und die Toten folgten ihnen noch immer.

Die Seeleute wurden immer bleicher und schweigsamer. Der Kutter bewegte sich so langsam vorwärts, daß sie sich nicht von den Toten losmachen konnten. Und die Mannschaft fürchtete, es könnte die ganze Nacht hindurch so bleiben.

Da ging ein schwedischer Matrose zum Vorschiff und betete mit lauter Stimme das Vaterunser. Danach stimmte er ein Kirchenlied an.

Als er mitten drin war, ging die Sonne unter, und die Abendbrise führte das Schiff aus dem Bereich der Toten hinaus.

Hellgums Brief

Eine alte Frau tritt aus einer Hütte mitten im Wald. Obgleich es Werktag ist, trägt sie ihre Sonntagskleider, als wolle sie in die Kirche gehen. Sie zieht den Schlüssel ab und legt ihn an seinen gewohnten Platz unter der Türschwelle.

Als die Alte ein paar Schritte gegangen ist, dreht sie sich um und wirft noch einen Blick auf ihre Hütte, die recht klein und armselig unter den mächtigen, schneebedeckten Tannen liegt.

Mit großer Zärtlichkeit schaut sie auf die kleine Hütte zurück. »Viele glückliche Tage habe ich hier verlebt«, sagt sie feierlich vor sich hin. »Ja, ja, der Herr gibt, und der Herr nimmt.«

Dann geht sie den Waldweg hinunter. Sie ist recht alt und gebrechlich, und doch ist sie eine von denen, die sich aufrecht und gerade halten, wie sehr auch das Alter sie zu beugen versucht.

Sie hat ein schönes Gesicht und weiches, weißes Haar und sieht so freundlich aus, daß es ganz sonderbar ist, ihre Stimme zu hören, die scharf und feierlich und langsam klingt wie die eines alten Propheten.

Die Alte hat einen langen Weg vor sich, denn sie will zu einer Versammlung der Hellgumianer auf dem Ingmarshof. Die alte Eva Gunnarstochter ist eine von denen, die sich am eifrigsten an Hellgums Lehre angeschlossen haben.

»Ach!« denkt sie, während sie auf dem Pfad dahingeht, »das war eine schöne Zeit, als alles noch im Werden war, damals, als sich mehr als das halbe Dorf an Hellgum angeschlossen hatte. Wer hätte geglaubt, daß so viele wieder abtrünnig würden, daß nach knapp fünf Jahren, wenn man die unmündigen Kinder nicht mitrechnet, kaum noch zwanzig da sein würden!«

Ihre Gedanken wandern zu der Zeit zurück, wo sie, die so viele Jahre einsam und vergessen im Waldesdunkel gesessen, auf einmal eine Menge Brüder und Schwestern gewonnen hatte, die sie in ihrer Einsamkeit besuchten, die nie vergaßen, nach dem großen Schneefall einen Weg zu ihrer Hütte zu bahnen, und die ihre kleine Holzlege mit trockenem Brennholz füllten, ohne daß sie darum zu bitten brauchte. Sie denkt an die Zeit, wo Karin Ingmarstochter und ihre Schwestern und viele andere vornehme Leute zu ihr gekommen waren und ihre Liebesmahle in ihrer kleinen, grauen Hütte gehalten hatten.

»Ach, daß doch so viele die Zeit ihrer Heimsuchung nicht erkennen!« denkt sie. »Nun kommt die Strafe über uns. Im nächsten Sommer müssen wir alle verderben, weil nur so wenige dem Ruf Folge geleistet haben und weil die, die dem Ruf gefolgt waren, im Glauben nicht beständig geblieben sind.«

Die Alte grübelt nun über Hellgums Briefe nach, über diese Briefe, die die Hellgumianer als wahre Apostelbriefe betrachten und die man in ihren Versammlungen vorliest, wie man in anderen religiösen Versammlungen aus der Bibel liest.

»Es gab eine Zeit, da war er Milch und Honig«, sagte die Alte. »Er ermahnte uns, mit den Unbekehrten Geduld zu haben und den Abgefallenen Sanftmut zu zeigen, und den Reichen legte er ans Herz, ihre Werke der Barmherzigkeit Gerechten und Ungerechten zu erzeigen. Aber seit einiger Zeit ist er wie Galle und Wermut geworden. Er schreibt von nichts anderem als von Heimsuchungen und Strafgerichten.«

Nun hatte die Alte den Waldessaum erreicht, von dem sie auf das Dorf hinabsehen konnte.

Es war ein sehr schöner Tag im Februar. Der Schnee breitete seine weiße Reinheit über die ganze Landschaft aus, alles Pflanzenleben war in den Winterschlaf versunken, und kein Lüftchen regte sich.

Aber die alte Frau dachte daran, daß diese Landschaft, die nun den ruhigen Winterschlaf schlafe, bald erwachen werde, um mit brennenden Schwefelströmen verbrannt zu werden; sie sah im Geist schon alles ringsum in Flammen eingehüllt, geradeso wie jetzt alles in Schnee gehüllt war.

»Er hat es zwar nicht mit klaren Worten gesagt, aber er schreibt immer von einer großen Heimsuchung. Ach ja, ach ja, wer könnte sich darüber wundern, wenn dieses Kirchspiel wie Bodom bestraft und wie Babylon verheert würde!«

Während die Eva Gunnarstochter nun durch das Dorf wanderte, stellte sie sich bei jedem Haus, auf das ihr Auge fiel, schon vor, wie es bei dem kommenden Erdbeben wanken und einstürzen würde, als sei es aus Sand gebaut. Und wenn ihr Menschen begegneten, dachte sie immer, wie bald die Ungeheuer der Hölle sie jagen und verschlingen würden.

»Sieh, da kommt Schulmeisters Gertrud!« dachte sie, als ihr ein schönes Mädchen auf der Straße entgegenkam. »Ihre Augen glänzen und leuchten wie Sonnenschein auf dem Schnee. Sie ist wohl so glücklich, weil sie im Herbst mit dem jungen Ingmar Ingmarsson Hochzeit macht. Ich sehe, sie trägt einen Pack Garn unter dem Arm, da will sie wohl Bettvorhänge und Leintücher für ihr eigenes Heim weben. Aber ehe die Tücher fertig sind, wird das Verderben über uns sein.«

Die Alte warf düstere Blicke um sich, während sie durch das Kirchdorf wanderte, das sich zu einer ungeahnten Größe entwickelt hatte. Aber alle diese weißen und gelben Höfe mit ihren Holzverkleidungen und hohen Fenstern mußten fallen, ebenso wie ihre eigene ärmliche Hütte, wo die Fenster nur wie Gucklöcher waren und das Moos zwischen den Balken hervorsah.

Mitten im Dorf hielt sie an und stieß ihren Stock hart auf den Boden. Ein heftiger Zorn bemächtigte sich ihrer, und sie rief mit so lauter Stimme, daß die Leute, die in der Nähe waren, stehenblieben und sich umsahen. »Ja, ja, in all diesen Häusern wohnen solche, die das Evangelium Christi verachtet haben und es mit den Feinden des Evangeliums halten! Warum hörten sie die Einladung nicht, warum wandten sie sich nicht von ihren Sünden ab? Darum müssen wir nun alle untergehen! Gottes Hand schlägt hart. Gottes Hand trifft die Gerechten und Ungerechten mit demselben Strafgericht!«

Als die Alte den Fluß überschritten hatte, wurde sie von einigen Hellgumianern eingeholt. Es war der alte Korporal Fält und Kolaas Gunnar mit seiner Frau, Brita Ingmarstochter. Kurz nachher gesellten sich auch noch Hök Matts Eriksson und sein Sohn Gabriel sowie des Bürgermeisters Gunhild zu ihnen.

Es war ein ebenso schöner wie fröhlicher Anblick, alle diese Männer und Frauen in den bunten Farben ihrer Dorftracht über den weißen Schnee wandern zu sehen. Aber Eva Gunnarstochter kamen sie nur wie Gefangene vor, die zum Schafott geführt werden, wie Tiere, die man zur Schlachtbank führt.

Alle Hellgumianer sahen sehr niedergeschlagen aus. Sie gingen und schauten zu Boden wie von Kummer schwer bedrückt. Sie hatten ja alle geglaubt, daß sich das Reich der Verheißung schnell über die ganze Erde verbreiten würde und daß sie den Tag erleben dürften, wo das neue Jerusalem aus den Wolken des Himmels herabfahren würde. Als sie aber nun so wenige geworden waren und nicht umhin konnten, einzusehen, daß ihre Hoffnung getäuscht werden war, schien in ihrem Herzen etwas zerrissen zu sein; langsam und mit schleppenden Schritten wanderten sie dahin, sie seufzten oft und hatten einander nichts zu sagen, denn es war ihnen wirklich Ernst mit der Sache gewesen. Sie hatten ihr Leben eingesetzt, und nun hatten sie es verloren.

»Warum sind sie denn so betrübt?« dachte das Weib. »Und sie denken noch nicht einmal das Schlimmste, denn sie wollen Hellgums Brief nicht richtig verstehen. Ich habe ihnen Hellgums Worte erklärt, aber sie wollen nicht darauf hören. Ja, die in der Ebene unter freiem Hintmel wohnen, wissen nicht, was Angst ist. In ihnen leben andere Gedanken als in denen, die einsam im Dunkel des Waldes sitzen.«

Sie merkte, daß die Hellgumianer besorgt waren, weil Halvor sie an einem Werktag zusammenberufen hatte. Sie fürchteten, er würde ihnen einen neuen Abfall mitzuteilen haben. Unruhig sahen sie einander an und musterten sich mit ängstlichen, mißtrauischen Blicken, die zu fragen schienen: Wie lange wirst du noch treu bleiben? Und wie lange du — und du?

Wäre es da nicht besser, dem Ganzen ein Ende zu machen und die ganze Verbindung aufzulösen, dachten sie, wie es auch besser ist, einen schnellen Tod zu sterben, statt langsam hinzusiechen?

Ach, daß diese Gemeinschaft, dieses Friedensevangelium, dieses selige Leben in Einigkeit und Brüderlichkeit, das sie so hoch schätzten, daß dies nun dem Untergang geweiht sein sollte!

Während diese betrübten Menschen so ihren Weg fortsetzten, wanderte die Sonne mächtig und herrlich wie jemals ihre Bahn an dem hohen, blauen Himmel hin. Vom Schnee stieg eine erfrischende Kühle auf, die Mut und Freudigkeit weckte. Und von den mit dunklen Tannen bekleideten Höhen senkte sich eine beruhigende Stille und ein wohltuender Frieden auf die Landschaft nieder.

Endlich hatten die Leute den Ingmarshof erreicht und traten in das Haus.

In der Groß-Stube auf dem Ingmarshof hing hoch oben an der Wand ein altes Ölgemälde, das vor mehr als hundert Jahren von einem Dorfmaler gemalt werden war. Das Bild stellte eine große, von hohen Mauern umgebene Stadt dar, und über den Mauern sah man die Giebel und Dächer vieler Häuser aufragen. Einige dieser Gebäude waren rote Bauernhäuser mit grünen Rasendächern, andere hatten weiße Mauern und Schieferdächer wie die Herrenhöfe, und wieder andere hatten schwere, kupferbeschlagene Türme wie die Kristinakirche in Falun.

Außen vor der Stadt gingen Herren in Kniehosen und Schnallenschuhen spazieren, Stöcke mit goldenen Knöpfen in der Hand, und zum Stadttor hinaus fuhr eine Kutsche voller Damen mit gepudertem Haar und mit Schäferhüten. Um die Mauer her wuchsen dichtbelaubte Bäume, und durch das hohe, wogende Gras auf der Wiese rieselten glänzende Bächlein.

Unter dem Bild standen mit großen, verschnörkelten Buchstaben die Werte gedruckt: Dies ist Gottes heilige Stadt Jerusalem.

Das alte Gemälde hing so hoch an der Wand, daß es nur selten von jemand beachtet wurde; selbst die meisten von denen, die öfter auf den Ingmarshof kamen, wußten kaum, daß es da war.

Aber an diesem Tag war ein Kranz von grünen Preiselbeerzweigen um das Bild geschlungen, so daß es den Eintretenden gleich in die Augen fallen mußte. Eva Gunnarstochter bemerkte es sofort, und sie dachte: »Sieh, sich! Nun wissen sie hier auf dem Ingmarshef auch schon, daß wir umkommen müssen, und deshalb sollen wir das himmlische Jerusalem betrachten.«

Karin und Halvor begrüßten die Freunde, aber Eva kamen die beiden heute noch schattenhafter und düsterer vor als die andern. »Ja, ja, sie wissen, daß das Ende nahe ist«, dachte sie.

Da Eva die Älteste war, bekam sie ihren Platz ganz oben am Tisch, und vor ihr auf der Tischplatte lag ein geöffneter Brief mit einer amerikanischen Briefmarke.

»Ja, es ist wieder ein Brief von unserem lieben Bruder Hellgum gekommen«, sagte Halvor, »und das ist der Grund, weshalb ich die Brüder und Schwestern zusammengerufen habe.«

»Der Brief enthält also eine wichtige Botschaft, Halvor?« sagte Kelaas Gunnar nachdenklich. — »Ja«, sagte Halvor, »wir bekommen nun Aufklärung darüber, was Hellgum meinte, als er neulich schrieb, es stehe uns eine große Heimsuchung bevor« — »Ich denke, keiner von uns fürchtet sich davor, um des Herrn willen zu leiden«, sagte Gunnar.

Einige Hellgumianer hatten sich verspätet, und man mußte ziemlich lange auf sie warten. Die alte Eva Gunnarstochter betrachtete indessen Hellgums Brief mit verlangendem Blick. Sie dachte an den Brief mit den vielen Siegeln in der Offenbarung und glaubte, daß in demselben Augenblick, in dem eine menschliche Hand den Brief berühre, der Engel der Zerstörung vom Himmel herabfahren würde.

Sie richtete ihren Blick auf das Gemälde von Jerusalem. »Ja«, murmelte sie, »ja, sicherlich werde ich in diese Stadt kommen, deren Tore aus Gold sind und deren Mauern aus gebranntem Glas.« Und sie begann vor sich hin zu sagen: »Und die Fundamente der Mauern der Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Das erste Fundament war ein Jaspis, das anders ein Saphir, das dritte ein Chalzedonier, das vierte ein Smaragd, das fünfte ein Sardonich, das sechste ein Sardis, das siebente ein Chrysolith, das achte ein Beryll, das neunte ein Tapas, das zehnte ein Chrysopras, das elfte ein Hyazinth, das zwölfte ein Amethyst.«

Die Alte war so versunken in ihr geliebtes Buch der Offenbarung, daß sie zusammenfuhr, als ob sie geschlafen hätte, als Halvor Halvorsson nun an den Tisch trat, wo der Brief lag. — »Nun wollen wir mit einem Lied beginnen«, sagte er. »Ich denke, wir singen Nummer 244.«

Und die Hellgumianer sangen:

»O Jerusalem, du schöne,

Da man Gott beständig ehrt

Und das himmlische Getöne:

Heilig, heilig, heilig! hört;

Ach, wann komm ich doch einmal

Hin zu deiner Bürger Zahl?«

Eva Gunnarstochter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, daß der schwere Augenblick noch hinausgeschoben wurde.

»Ach, ach, daß ich alter Tropf mich so vor dem Sterben fürchte!« dachte sie ganz beschämt.

Als das Lied zu Ende war, ergriff Halvor den Brief und entfaltete ihn.

Aber in diesem Augenblick kam der Geist Gottes über Eva Gunnarstochter, so daß sie aufstand und ein langes Gebet sprach, in dem sie um Gnade flehte, daß doch alle die Botschaft, die der Brief enthalte, auf die rechte Weise auffassen möchten. Halvor wartete geduldig mit dem Brief in der Hand, bis sie fertig war.

Dann fing er an, mit einer Stimme zu lesen, als ob er eine Predigt vorläse:

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»Liebe Brüder und Schwestern! Gottes Friede zuvor!

Bis jetzt hatte ich geglaubt, daß ich und Ihr, die Ihr meine Lehre angenommen habt, mit diesem Glauben allein in der Welt dastünden. Aber Gott sei gedankt, nun haben wir hier in Chicago Gleichgesinnte und Brüder gefunden, die nach denselben Vorschriften denken und leben.

Denn Ihr müßt wissen, daß hier in der Stadt Chicago im Anfang der achtziger Jahre ein Mann namens Edward Gordon wohnte. Er und seine Frau waren gottesfürchtig, und all die viele Not, die sich in der Welt findet, ging ihnen sehr zu Herzen, so daß sie Gott anflehten, er möge ihnen Gelegenheit geben, etwas zu ihrer Linderung beizutragen. Da geschah es, daß Edwards Frau eine große Seereise machen mußte, aber sie erlitt Schiffbruch und versank in den Wellen. Als sie sich in äußerster Not befand, sprach Gottes Stimme zu ihr. Und Gottes Stimme befahl, sie solle die Menschen lehren, in Einigkeit beisammen zu leben.

Und die Frau wurde aus dem Meer und aus der Lebensgefahr errettet und kam wieder zu ihrem Mann und verkündigte ihm die Botschaft des Herrn. Da sagte er: ›Das ist eine große Botschaft, die Gott uns geschickt hat, nämlich, daß wir einig leben sollen, und wir wollen sie erfüllen. Es ist ein so großes Gebot, daß sich auf dem ganzen Weltkreis nur ein einziger Platz findet, der würdig wäre, es zu empfangen. Wir wollen deshalb unsere Freunde um uns sammeln, mit ihnen nach Jerusalem ziehen und dieses letzte heilige Gebot Gottes vom Berge Zion verkündigen.‹

Hierauf zogen Edward Gordon und seine Frau mit dreißig andern, die auch dem letzten heiligen Gebot Gottes folgen wollten, nach Jerusalem.

Dort lebten sie alle einträchtig in einem Hause beieinander. Sie teilten Hab und Gut miteinander, hatten alles gemeinsam, dienten einander und wachten einer über den andern.

Und sie nahmen die Kinder der Armen zu sich und pflegten deren Kranke. Sie unterstützten die Altersschwachen und standen allen bei, die in Not waren, ohne irgendeinen Lohn oder eine Gegengabe zu verlangen.

Sie predigten jedoch nicht in den Kirchen oder auf den Märkten, denn sie sagten: ›Unser Leben ist es, das für uns reden muß.‹

Aber die Leute, die von diesem ihrem Lebenswandel hörten, sagten: ›Diese Menschen müssen Narren sein.‹

Und die am lautesten gegen sie schrien, waren die Christen, die nach Jerusalem gezogen waren, um die Juden und Mohammedaner durch Lehre und Predigt zu bekehren. Diese sagten: ›Wer sind die, die nicht predigen? Sicher sind sie hierhergekommen, um ein schlechtes Leben zu führen und ihrer Sinnenlust unter den Heiden zu frönen.‹

Und sie erhoben ein großes Geschrei wider sie, das sogar bis über das Meer und bis in ihre Heimat drang.

Aber unter denen, die nach Jerusalem gezogen waren, befand sich eine Witwe. Sie lebte da mit zwei unmündigen Kindern, und sie war sehr reich. Sie hatte einen Bruder in der Heimat zurückgelassen, und nun sagten alle Leute zu ihm: ›Wie kannst du zulassen, daß deine Schwester und ihre Kinder unter diesen Leuten leben, die einen schlechten Lebenswandel führen? Es sind lauter Tagediebe, die von ihrem Reichtum leben.‹ Und der Bruder verklagte seine Schwester vor Gericht, um sie zu zwingen, ihre Kinder in Amerika erziehen zu lassen.

Und um dieses Prozesses willen reiste die Mutter mit ihren Kindern und mit Edward Gordon und seiner Frau für kurze Zeit nach Chicago zurück. Da hatten sie schon vierzehn Jahre lang in Jerusalem gewohnt.

Als sie nun aus dem fernen Land zurückkehrten, wurde in allen Zeitungen von ihnen berichtet; die einen sagten, sie seien Narren, die andern aber nannten sie Betrüger.«

Nachdem Halvor dies alles vorgelesen hatte, machte er eine Pause und wiederholte mit eigenen Worten den ganzen Bericht, damit ihn alle richtig verstehen konnten.

Dann las er wieder: »Aber seht, nun gibt es in Chicago ein Haus, das Ihr kennt. In diesem Haus wohnen Leute, die Gott in Gerechtigkeit dienen wollen und die alles miteinander teilen und übereinander wachen.

Wir nun, die in diesem Hause wohnen, lasen in einer Zeitung von diesen ›Narren‹, die von Jerusalem heimgekommm seien, und wir fingen an, untereinander zu sagen: ›Diese Menschen haben unsern Glauben; sie haben sich zusammengetan, um ein rechtschaffenes Leben zu führen, und wir möchten die, die unsern Glauben teilen, gerne sehen.‹

Und wir schrieben an sie, daß sie uns besuchen sollten. Und die, so von Jerusalem gekommen waren, folgten der Einladung, und wir verglichen unsern Glauben mit dem ihrigen und sagten: ›Seht, wir denken und glauben dasselbe. Es ist eine Gnade Gottes, daß wir uns gefunden haben.‹

Und sie erzählten uns von der Herrlichkeit der Stadt Gottes, wie sie hellglänzend daliegt auf ihrem weißen Berg, und wir priesen die glücklich, die auf den Wegen wandelten, die Jesus gewandelt war.

Da sagte einer der Unsrigen: ›Warum sollten wir nicht mit euch ziehen, wenn ihr nach Jerusalem zurückkehrt?‹

Sie aber antworteten: ›Ihr dürft uns nicht dahin folgen, dem die heilige Stadt Gottes ist voller Streit und Uneinigkeit, Not und Krankheit, Schlechtigkeit und Armut.‹

Und schnell rief ein anderer der Unsrigen: ›Vielleicht hat Gott euch zu uns geführt, damit wir euch dahin folgen und gegen all das kämpfen sollen!‹

Da hörten wir alle Gottes Stimme durch unsere Herzen brausen: ›Ja, ja, das ist mein Wille!‹

Wir fragten sie, ob sie uns in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollten, obgleich wir arm und unwissend seien, und sie antworteten, daß sie es tun wollten.

Da beschlossen wir, daß wir Brüder und Schwestern sein und alles miteinander teilen wollten, und sie nahmen unsern Glauben an und wir den ihrigen, und die ganze Zeit war der Geist über uns, und wir wurden von großer Freude erfüllt. Und wir sagten: ›Nun sehen wir, daß Gott uns liebhat, weil er uns in dasselbe Land schickt, wohin er einst seinen Sohn gesandt hatte. Und jetzt wissen wir, daß unsere Lehre die rechte ist, nachdem Gott will, daß sie von dem heiligen Berg Zion verkündigt werde.‹

Aber dann sagte einer von denen, die zu uns gehörten: ›Und unsere Brüder daheim in Schweden?‹ Hierauf sagten wir zu den Jerusalemsfahrern: ›Wir sind zahlreicher, als ihr hier seht. Wir haben noch Brüder und Schwestem, die daheim in Schweden leben. Und sie werden durch Abfall schwer heimgesucht und führen einen harten Kampf um die Gerechtigkeit, weil sie unter Sündern leben müssen.‹

Da antworteten die Jerusalemsfahrer: ›Lasset eure Brüder und Schwestern in Schweden nach Jerusalem nachkommen und an der heiligen Arbeit teilnehmen.‹

Und wir waren zuerst sehr erfreut über den Gedanken, daß Ihr zu uns kommen und in Jerusalem ein gemeinsames Leben in Freude mit uns führen würdet, gleich darauf aber wurden wir betrübt und sagten: ›Niemals werden sie ihre großen Höfe verlassen und ihre guten Äcker und ihre gewohnte tägliche Arbeit.‹

Aber die Jerusalemsfahrer antworteten: ›Wir haben keine Äcker und keine großen Höfe anzubieten, aber sie werden auf den Wegen gehen dürfen, auf denen Jesu Füße gewandelt sind.‹

Aber noch immer waren wir im Zweifel und sagten: ›Sicherlich werden unsere Brüder und Schwestern in Schweden niemals in ein fremdes Land ziehen, in dem niemand ihre Sprache versteht.‹

Die Jerusalemsfahrer antworteten: ›Sie werden verstehen lernen, was die Steine des Heiligen Landes von ihrem Erlöser reden.‹

Wir sagten: ›Niemals werden sie ihr Eigentum Fremden überlassen und selbst bettelarm werden. Sie werden ihre Macht und ihr Ansehen nicht aufgeben wollen, denn es sind die vornehmsten Männer und Frauen in ihrem Heimatdorfe.‹

Die Jerusalemsfahrer antworteten: ›Wir haben keine Macht und keine Güter anzubieten, aber wir bieten ihnen an, die Leiden Jesu Christi, unseres Heilands, zu teilen.‹

Als sie das gesagt hatten, wurden wir wieder von großer Freude erfüllt und glaubten, daß Ihr kommen würdet.

Aber nun sage ich Euch, liebe Brüder und Schwestern, sprecht nicht miteinander, wenn Ihr das gelesen und gehört habt, sondern seid stille und merket auf. Und was Gottes Stimme Euch befiehlt, das tut.«

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Halvor faltete den Brief zusammen und sagte: »Nun wollen wir es machen, wie Hellgum uns befiehlt. Wir wollen stille sein und aufmerken.«

Da entstand eine lange Stille in der Groß-Stube auf dem Ingmarshof.

Die alte Eva Gunnarstochter saß wie die übrigen ganz still und wartete, daß Gottes Stimme zu ihr sprechen sollte. Sie verstand das alles auf ihre eigene Weise. »Ja, ja«, dachte sie, »Hellgum will, daß wir nach Jerusalem ziehen, um dem großen Verderben zu entgehen. Der Herr will uns aus der Schwefelflut erretten und uns vor dem Feuerregen bewahren. Und die Gerechten unter uns werden Gottes Stimme hören.«

Die Alte dachte keinen Augenblick daran, daß es für irgend jemand ein Opfer sein könnte, von Haus und Heimat wegzuziehen, wenn es sich um so etwas handelte. Es fiel ihr durchaus nicht ein, daß irgend jemand im Zwiespalt mit sich selbst sein könnte, ob er die grünen Wälder seiner Heimat, den fröhlichen Fluß und die guten Felder verlassen sollte. Mehrere der andern dachten mit Schrecken, daß sie ihre ganze Lebensweise ändern und das väterliche Heim, Eltern und Angehörige verlassen müßten, aber Eva dachte nichts dergleichen. Dieses bedeutete ja, daß Gott sie erretten wollte, so wie er einst Noah und Loth errettet hatte. Sie wurden ja zu einem Leben von überirdischer Herrlichkeit in Gottes heilige Stadt gerufen. Es war ihr gerade, als habe Hellgum geschrieben, sie sollten lebendig in den Himmel aufgenommen werden.

Alle saßen mit geschlossenen Augen da, ganz in sich selbst versunken. Viele litten in ihrem Herzen solche Qual, daß ihnen der helle Schweiß auf der Stime stand. »Ja, das ist jetzt sicher die Prüfung. die uns Hellgum schon prophezeit hat«, seufzten sie.

Die Sonne neigte sich zum Untergang, so daß sie nun gerade über dem Horizont stand und scharfe Strahlen in das Zimmer warf; der Abendschein legte sich blutrot über die vielen blassen Gesichten

Endlich erhob sich Ljung Björns Frau, Märta Ingmarstochter, von ihrer Bank und sank in die Knie. Und die andern taten auch also, bis alle knieten.

Und auf einmal stießen mehrere von ihnen einen tiefen Seufzer aus, und ihre Gesichter erhellten sich plötzlich zu einem Lächeln.

Da sagte Karin Ingmarstochter mit bebender Verwanderung in ihrer Stimme: »ich höre Gottes Stimme, die mich ruft!«

Bürggrmeisters Gunhild streckte die Hände aus vor Entzücken, während ihr die Tränen über die Wangen rollten. »Auch ich darf reisen«, sagte sie. »Gottes Stimme ruft mich.«

Hierauf sprachen Krister Larsson und seine Frau beinahe wie aus einem Mund: »Es tönt in meinem Ohr, daß ich hinziehen soll. Ich höre, daß Gottes Stimme mich ruft.«

Die Berufung kam zu einem nach dem andern, und zugleich verließ sie alle Angst und aller Kummer. Eine große, große Freude erfüllte sie. Sie dachten nicht mehr an ihre Höfe und ihre Anverwandten, sie dachten nur noch daran, daß ihre Gemeinde wieder aufblühen würde und welche Herrlichkeit es sei, dazu berufen zu sein, in Gottes eigener Stadt zu wohnen.

Die meisten hatten nun die Berufung vernommen, aber zu Halvor Halvorsson war sie noch nicht gekommen. Er kämpfte einen harten Kampf im Gebet und wurde tief betrübt, indem er dachte: »Gott will mich nicht rufen, wie er die andern berufen hat. Er sieht, daß ich meine Äcker und Wiesen mehr liebe als sein Wort. Ich bin nicht würdig dazu.«

Da ging Karin Ingmarstochter zu ihm hin und legte ihm ihre Hand auf die Stirn. »Du mußt ganz ruhig sein, Halvor, und in der Stille auf Gottes Stimme warten.«

Halvor faltete seine Hände so heftig, daß die Gelenke krachten. »Vielleicht hält mich Gott nicht für würdig, auch mitzuziehen«, sagte er.

»Doch, Halvor, du darfst mitziehen, aber du mußt ganz stille sein«, sagte Karin. Sie ließ