/ Language: Deutsch / Genre:thriller / Series: Lecter

Das Schweigen der Lämmer

Thomas Harris


Das Schweigen der Lämmer

Thomas Harris

1988

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Zum Gedenken an meinen Vater

Inhaltsverzeichnis

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Hab’ ich menschlicher Meinung zu Ephesus mit wilden Tieren gefochten, was hilft mir’s?

So die Toten nicht auferstehen…

1. Korinther 15.32

Muß ich mir einen Totenkopf in einem Ring anschauen, wo ich doch selbst einen im Gesicht habe?

John Donne, ‘Gebete’

1

Halb in der Erde vergraben im Untergeschoß des Akademiegebäudes in Quantico befindet sich die Abteilung des FBI, die sich mit der Aufklärung von Mordserien auf der Basis der Verhaltensforschung befaßt. Clarice Starling erreichte sie erhitzt nach einem flotten Spaziergang, der sie vom Schießstand an der Hogan’s Alley hergeführt hatte. Das Gras in ihrem Haar und die Grasflecken auf ihrer FBI-Akademie-Windjacke rührten davon her, daß sie sich auf der Anlage bei einer simulierten Festnahme unter Beschuß hatte auf den Boden werfen müssen.

Im Außenbüro war niemand, daher überprüfte sie ihr Spiegelbild kurz in den Glastüren. Sie wußte, daß sie gut aussehen konnte, ohne sich zurechtzumachen. Ihre Hände rochen nach Pulverdampf, doch zum Waschen war keine Zeit — Sektionschef Crawfords Aufforderung hatte jetzt gelautet.

Sie fand Jack Crawford allein in den aneinandergereihten unordentlichen Büros. Er stand telefonierend an einem anderen Schreibtisch als seinem eigenen, und sie hatte Gelegenheit, ihn zum ersten Mal seit einem Jahr flüchtig zu mustern. Was sie sah, beunruhigte sie.

Normalerweise sah Crawford wie ein cleverer Ingenieur mittleren Alters aus, der sich seinen Weg durchs College vielleicht mit Baseballspielen finanziert hatte — ein listiger Fänger und zäh, wenn er den Gegner blockierte. Nun wirkte er dünn, sein Hemdkragen war zu groß, und unter den geröteten Augen hatte er dunkle Tränensäcke. Jeder, der die Zeitungen las, wußte, daß die Abteilung für Verhaltensforschung zur Zeit eins aufs Dach kriegte. Clarice Starling hoffte, daß Crawford nicht blau war. Doch das schien ihr hier höchst unwahrscheinlich.

Crawford beendete sein Telefongespräch mit einem scharfen »Nein«. Er zog ihre Akte unter dem Arm hervor und schlug sie auf.

»Starling, Clarice M., guten Morgen«, sagte er.

»Hallo.« Ihr Lächeln war reine Höflichkeit.

»Alles in Ordnung. Hoffentlich hat der Anruf Ihnen keinen Schrecken eingejagt.«

»Nein.« Stimmt nicht ganz, dachte Starling.

»Von Ihren Ausbildern höre ich, daß Sie sich gut anstellen, oberstes Klassenviertel.«

»Das hoffe ich, sie haben wenigstens nichts Gegenteiliges verlauten lassen.«

»Ich frage sie von Zeit zu Zeit.«

Das überraschte Starling; sie hatte Crawford als einen zweigesichtigen Hurensohn von Werbesergeant abgeschrieben.

Sie hatte Special Agent Crawford kennengelernt, als er Gastdozent an der University of Virginia war. Die Qualität seiner Kriminologieseminare hatte dazu beigetragen, daß sie zum Bureau kam. Sie hatte ihm einen kurzen Brief geschrieben, als sie sich für die Akademie qualifizierte, doch er hatte nie geantwortet, und in den drei Monaten, die sie schon in der Ausbildung in Quantico war, hatte er sie nicht zur Kenntnis genommen.

Wo Starling herkam, bat man nicht um Gefallen oder drängte auf Freundschaft. Doch Crawfords Verhalten verwirrte und bekümmerte sie. Wenn sie ihn persönlich sah, mochte sie ihn. Leider, wie sie feststellte.

Zweifellos stimmte etwas nicht mit ihm. Von seiner Intelligenz abgesehen besaß Crawford eine eigentümliche Cleverneß. Starling hatte sie zuerst in seinem Farbsinn und dem Material seiner Bekleidung bemerkt, selbst im Rahmen des einheitlichen FBI-Standards für Agentenbekleidung. Nun sah er gepflegt, aber langweilig aus, so als wäre er in der Mauser.

»Es hat sich ein Job aufgetan, und ich habe an Sie gedacht«, sagte er. »Es ist nicht wirklich ein Job, es ist eher ein interessanter Auftrag. Schieben Sie Berrys Zeug von dem Stuhl da und setzen Sie sich. Sie geben hier an, daß Sie direkt zur Verhaltensforschung kommen wollen, wenn Sie die Akademie absolviert haben.«

»Ja.«

»Sie haben eine Menge Gerichtsmedizin, aber keine Erfahrung im Gesetzesvollzug. Wir verlangen sechs Jahre, Minimum.«

»Mein Vater war Polizeichef, ich kenne das Leben.«

Crawford lächelte ein wenig. »Was Sie jedoch haben, ist sowohl Psychologie als auch Kriminologie im Hauptfach, und wie viele Sommer, in denen Sie in einem Ärztezentrum für Geisteskrankheiten gearbeitet haben — zwei?«

»Zwei.«

»Ihr juristischer Befähigungsnachweis, ist der gültig?«

»Er gilt noch zwei Jahre. Ich habe ihn bekommen, bevor Sie das Seminar an der UVA abhielten — bevor ich mich zu dieser Ausbildung hier entschloß.«

»Sie wurden vom Einstellungsstopp behindert.«

Starling nickte. »Ich hatte allerdings Glück — ich fand rechtzeitig heraus, daß ich mich für ein Forschungsstipendium für Gerichtsmedizin qualifizieren mußte. So konnte ich im Labor arbeiten, bis es auf der Akademie eine freie Stelle gab.«

»Sie haben mir doch geschrieben, daß Sie hierher kommen wollten, und ich glaube nicht, geantwortet zu haben — ich weiß, ich hab’s nicht getan. Hätte ich aber machen sollen.«

»Sie haben genug anderes um die Ohren.«

»Wissen Sie über VI-CAP Bescheid?«

»Ich weiß, daß es sich dabei um das Violent-Criminal-Apprehension-Programm handelt, das Verhaftungsprogramm für Gewaltverbrechen. Im Law Enforcement Bulletin heißt es, daß Sie an einer Datenbank arbeiten, aber noch nicht einsatzfähig sind.«

Crawford nickte. »Wir haben einen Fragebogen entwickelt. Er läßt sich auf die ganzen bekannten Serientäter der Neuzeit anwenden.« Er reichte ihr ein dickes Bündel Papiere in einem dünnen Einband. »Es gibt einen Abschnitt für Ermittler und einen für überlebende Opfer, falls vorhanden. Der blaue Teil ist für den Mörder zum Beantworten, sofern er will, und der rosafarbene besteht aus einer Reihe von Fragen, die ein Prüfer dem Mörder stellt, um so seine Reaktionen wie auch seine Antworten zu registrieren. Es ist eine Menge Schreibkram.«

Schreibkram. Clarice Starlings Eigennutz schnüffelte vorwärts wie ein eifriger Beagle. Sie roch ein Jobangebot — wahrscheinlich die stumpfsinnige Plackerei, unaufbereitete Daten in ein neues Computersystem einzugeben. Es war verlockend, in was für einer Stellung auch immer in die Abteilung für Verhaltensforschung hineinzukommen. Doch sie wußte, was mit einer Frau passiert, die erst einmal als Sekretärin abgestempelt ist — es haftet ihr bis in alle Ewigkeit an. Eine Wahl bahnte sich an, und sie wollte gut wählen.

Crawford wartete auf etwas — er mußte ihr eine Frage gestellt haben. Starling mußte ihr Gehirn durchforsten, um sich an sie zu erinnern:

»Was für Tests haben Sie vorgelegt? Jemals den Minnesota Multiphasic? Oder Rorschach?«

»MMPI ja, Rorschach nie«, entgegnete sie. »Ich habe Thematische Apperzeption gemacht und Kindern Bender-Gestalt gegeben.«

»Erschrecken Sie leicht, Starling?«

»Noch nicht.«

»Sehen Sie, wir haben versucht, alle zweiunddreißig bekannten Serientäter, die wir in Untersuchungshaft haben, zu befragen und zu untersuchen, um eine Datenbank für psychologische Diagramme in ungelösten Fällen zu erhalten. Die meisten haben mitgemacht — sie werden wohl angetrieben, sich zu produzieren, sehr viele von ihnen. Siebenundzwanzig waren zur Mitarbeit bereit. Verständlicherweise haben vier aus dem Todestrakt, deren Gesuche um Berufung noch in der Schwebe sind, den Mund nicht aufgemacht. Den jedoch, hinter dem wir am meisten her sind, haben wir nicht kriegen können. Ich möchte, daß Sie sich morgen in der Anstalt um ihn bemühen.«

Clarice Starling spürte ein frohes Pochen in der Brust und auch eine gewisse Besorgnis.

»Wer ist der Betreffende?«

»Der Psychiater — Dr. Hannibal Lecter«, antwortete Crawford.

Bei jeder zivilisierten Zusammenkunft folgte auf den Namen stets eine kurze Stille.

Starling sah Crawford unverwandt an, doch auch sie schwieg.

»Hannibal der Kannibale«, sagte sie.

»Ja.«

»Ja, nun — okay, gut. Ich freue mich über die Chance, aber ich frage Sie — warum ich?«

»Hauptsächlich deshalb, weil Sie verfügbar sind«, erwiderte Crawford. »Ich erwarte nicht, daß er behilflich ist. Er hat bereits abgelehnt. Aber das war durch einen Mittelsmann — den Leiter der Anstalt. Ich muß sagen können, daß unser qualifizierter Prüfer ihn aufgesucht und ihn persönlich befragt hat. Es gibt Gründe, die für Sie nicht von Belang sind. Mir bleibt in dieser Abteilung keiner mehr, den ich dafür abstellen kann.«

»Sie stecken in der Klemme — Buffalo Bill — und die Sachen in Nevada«, sagte Starling.

»Sie haben’s erfaßt. Es ist die alte Leier — nicht genügend frische Leichen.«

»Sie sagten, morgen — Sie haben es eilig. Irgendein Zusammenhang mit einem aktuellen Fall?«

»Nein. Wenn es den bloß gäbe.«

»Wenn er sich vor mir drückt, wollen Sie dann trotzdem noch ein psychologisches Gutachten?«

»Nein. Ich stecke bis zur Hüfte in Gutachten, die Dr. Lecter als unzugänglichen Patienten ausweisen, und sie sind alle unterschiedlich.«

Crawford schüttelte sich zwei Vitamin-C-Tabletten in die Handfläche und mixte sich ein Alka-Seltzer am Wasserkühler, um sie hinunterzuspülen. »Es ist lächerlich, wissen Sie; Lecter ist Psychiater, und er schreibt selbst für die psychiatrischen Journale — außergewöhnliches Zeug —, aber es handelt sich nie um seine eigenen kleinen Anomalitäten. Einmal bei einigen Tests — er saß mit einer Blutdruckmanschette um seinen Penis da und schaute sich grausige Bilder an — tat er so, als machte er mit dem Krankenhausleiter, Chilton, mit. Und dann veröffentlichte Lecter als erster das, was er über Chilton erfahren hatte, und machte sich über ihn lustig. Er beantwortet ernsthafte Korrespondenz von Psychiatrie-Studenten auf Gebieten, die in keinem Zusammenhang mit seinem Fall stehen. Und das ist alles, was er tut. Wenn er sich nicht mit Ihnen unterhalten will, möchte ich nur normale Berichterstattung. Wie er aussieht, wie seine Zelle aussieht, was er macht. Sozusagen Lokalkolorit. Geben Sie auf ein- und ausgehende Presseleute acht. Nicht die richtige Presse, die von der Regenbogenpresse. Sie lieben Lecter sogar noch mehr als Prinz Andrew.«

»Hat nicht so ein Schmierblatt ihm fünfzigtausend Dollar für einige Rezepte angeboten? Ich meine mich daran zu entsinnen«, sagte Starling.

Crawford nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, daß der National Tattler jemanden im Anstaltsbereich gekauft hat, und die wissen vielleicht, daß Sie kommen, nachdem ich den Termin ausgemacht habe.«

Crawford beugte sich vor, bis er ihr aus einem halben Meter Entfernung ins Gesicht sah. Sie schaute zu, wie seine Halbbrille die Ringe unter seinen Augen verschwimmen ließ. Er hatte unlängst mit Mundwasser gegurgelt.

»Also. Ich will Ihre volle Aufmerksamkeit, Starling. Hören Sie mir zu?«

»Jawohl, Sir.«

»Seien Sie mit Hannibal Lecter sehr vorsichtig. Dr. Chilton, der Chef der Heilanstalt, wird mit Ihnen die physische Prozedur durchgehen, die Sie anwenden, um sich mit ihm zu befassen. Weichen Sie nicht davon ab. Weichen sie nicht aus irgendeinem Grund davon ab. Falls Lecter überhaupt mit Ihnen spricht, wird er nur versuchen, etwas über Sie herauszufinden. Es ist die Art Neugier, die eine Schlange in ein Vogelnest sehen läßt. Wir beide wissen, daß man in Interviews immer ein bißchen vor und zurück muß, aber Sie erzählen ihm nichts Spezielles über sich. Vermeiden Sie unbedingt, Ihre persönlichen Fakten in seinem Kopf. Sie wissen, was er mit Will Graham angestellt hat?«

»Ich hab’ darüber gelesen, als es passierte.«

»Er hat Will ein Linoleummesser in die Därme gerammt, als Will ihn einholte. Es ist ein Wunder, daß Will nicht gestorben ist. Erinnern Sie sich an den Roten Drachen? Lecter setzte Francis Dolarhyde auf Will und seine Familie an. Dank Lecter sieht Wills Gesicht aus, als hätte Picasso ihn gezeichnet. Er hat eine Krankenschwester in der Anstalt in Stücke gerissen. Machen Sie Ihre Arbeit, vergessen Sie bloß nicht, was er ist.«

»Und das wäre? Wissen Sie es?«

»Ich weiß, daß er ein Monster ist. Darüber hinaus kann niemand was mit Gewißheit sagen. Vielleicht finden Sie es heraus; ich habe Sie nicht aus einem Hut gezogen, Starling. Sie haben mir ein paar interessante Fragen gestellt, als ich an der UVA war. Der Chef möchte Ihren eigenen Bericht über Ihrer Unterschrift sehen — wenn er klar und knapp und übersichtlich ist. Ob er das ist, entscheide ich. Und ich habe ihn Sonntag Punkt 9:00 Uhr. Okay, Starling, machen Sie auf die vorgeschriebene Art und Weise weiter.«

Crawford lächelte sie an, doch seine Augen waren tot.

2

Dr. Frederick Chilton, achtundfünfzig, Verwalter des Baltimore State Hospital für geistesgestörte Straftäter, hatte einen langen, breiten Schreibtisch, auf dem sich keine harten oder scharfen Gegenstände befanden. Einige des Personals nannten ihn ‘den Graben’; andere Mitarbeiter wußten nicht, was das Wort Graben bedeutete. Dr. Chilton blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen, als Clarice Starling sein Büro betrat.

»Wir haben eine Menge Detektive hier gesehen, aber ich kann mich nicht an einen derart attraktiven entsinnen«, sagte Chilton, ohne aufzustehen.

Starling wußte intuitiv, daß der Glanz auf seiner ausgestreckten Hand Lanolin vom Betasten seines Haars war. Sie ließ seine Hand schnell wieder los.

»Miss Sterling, nicht wahr?«

»Starling, Doktor, mit a. Danke für Ihre Zeit.«

»Jetzt muß das FBI also schon auf Mädchen zurückgreifen, ha, ha.« Er hängte das strahlende Lächeln an, mit dem er seine Sätze zu trennen pflegte.

»Das Bureau verbessert sich, Dr. Chilton. Das tut es zweifelsohne.«

»Sind Sie für einige Tage in Baltimore? Wissen Sie, Sie können sich hier genausogut amüsieren wie in Washington oder New York, wenn Sie die Stadt kennen.«

Sie schaute weg, um sich sein Lächeln zu ersparen, und wußte sofort, daß er ihre Abneigung registriert hatte. »Es ist bestimmt eine großartige Stadt, aber meine Anordnungen lauten, Dr. Lecter zu besuchen und noch heute nachmittag Bericht zu erstatten.«

»Könnte ich Sie irgendwo in Washington für ein Weiterverfolgen der Sache telefonisch erreichen, später?«

»Natürlich. Es ist nett von Ihnen, daran zu denken, Spedal Agent Jack Crawford führt die Aufsicht über dieses Projekt, und Sie können mich stets durch ihn erreichen.«

»Ich verstehe«, sagte Chilton. Seine rosagefleckten Wangen harmonierten nicht mit dem unwahrscheinlichen Rotbraun seiner Haarkappe. »Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.« Er ließ sie während der gemächlichen Überprüfung ihres Ausweises stehen.

Dann gab er ihn ihr zurück und erhob sich. »Dies wird nicht lange dauern. Kommen Sie.«

»Ich nahm an, Sie würden mir genaue Anweisungen geben, Dr. Chilton«, sagte Starling.

»Das kann ich tun, während wir auf dem Weg sind.« Auf seine Armbanduhr schauend kam er um seinen Schreibtisch herum. »Ich habe in einer halben Stunde einen Lunch.«

Verdammt, sie hätte ihn besser, schneller durchschauen sollen. Er war möglicherweise kein völliger Trottel. Er wußte vielleicht etwas Zweckdienliches. Sie hätte sich keinen abgebrochen, einmal geziert zu lächeln, auch wenn sie darin nicht gut war.

»Dr. Chilton, ich habe jetzt mit Ihnen einen Termin. Er wurde nach Ihrem Belieben festgesetzt, wenn Sie mir etwas Zeit widmen konnten. Während des Interviews könnten Dinge zur Sprache kommen — unter Umständen muß ich einige seiner Antworten mit Ihnen durchgehen.«

»Das bezweifle ich wirklich, wirklich. Oh, ich muß telefonieren, bevor wir gehen. Ich treffe Sie dann im Außenbüro.«

»Ich würde gern meinen Mantel und Schirm hier lassen.«

»Da draußen«, sagte Chilton. »Geben Sie es Alan im Außenbüro. Er wird es wegpacken.«

Alan trug das an die Insassen ausgegebene schlafanzugähnliche Gewand. Mit dem Zipfel seines Hemds wischte er gerade Aschenbecher aus.

Er rollte die Zunge in der Wange herum, als er Starlings Mantel nahm.

»Danke«, sagte sie.

»Aber bitte, nur zu. Wie oft scheißen Sie?« fragte Alan.

»Was haben Sie gesagt?«

»Kommt es la-a-a-a-ang heraus?«

»Ich häng’ meine Sachen schon selbst irgendwo auf.«

»Man hat nichts im Weg — man kann sich vornüber beugen und zusehen, wie’s herauskommt, und schauen, ob es die Farbe wechselt, wenn es an die Luft kommt, machen Sie das? Sieht es aus, als hätten Sie einen großen braunen Schwanz?«

»Dr. Chilton will Sie in seinem Büro sehen, und zwar sofort«, sagte Starling. »Nein, will ich nicht«, sagte Dr. Chilton. »Häng den Mantel in den Schrank, Alan, und hol ihn nicht heraus, während wir weg sind. Mach schon. Ich hatte eine Ganztagstippse, aber die Kürzungen haben sie mir genommen. Jetzt tippt das Mädchen, das Sie hereingelassen hat, hier täglich drei Stunden, und dann habe ich Alan. Wo sind die ganzen Bürogehilfinnen, Miss Starling?« Seine Brille funkelte sie an. »Sind Sie bewaffnet?«

»Nein, ich bin nicht bewaffnet.«

»Darf ich Ihre Hand- und Ihre Aktentasche sehen?«

»Sie haben meine Ausweispapiere gesehen.«

»Und darin steht, daß Sie Studentin sind. Lassen Sie mich bitte Ihre Sachen sehen.«

Clarice Starling fuhr zusammen, als das erste der schweren Stahltore rasselnd hinter ihr zufiel und der Riegel einschnappte. Chilton ging etwas voraus, den grünen Anstaltskorridor entlang in einer Atmosphäre aus Desinfektionsmittel und fernem Türenknallen.

Starling ärgerte sich über sich selbst, daß sie Chilton erlaubt hatte, ihre Hand- und Aktentasche zu durchwühlen, und sie mußte sich schwer am Riemen reißen, damit sie sich konzentrieren konnte. Es war in Ordnung. Sie spürte ihre Kontrolle fest unter sich, wie einen guten Kiesgrund in einer schnellen Strömung.

»Lecter ist eine beträchtliche Plage«, sagte Chilton über die Schulter. »Ein Krankenpfleger braucht mindestens zehn Minuten täglich zum Entfernen der Drahtösen aus den Monatsschriften, die er erhält. Wir haben versucht, seine Abonnements abzubestellen oder zu reduzieren, doch er verfaßte einen Schriftsatz, und das Gericht überstimmte uns. Früher war der Umfang seiner Privatpost enorm. Sie hat Gott sei Dank nachgelassen, seit er in den Nachrichten von anderen Kreaturen in den Schatten gestellt wird. Eine Zeitlang hat es so ausgesehen, als wollte jeder kleine Student, der eine Magisterarbeit in Psychologie schrieb, etwas von Lecter darin haben. Die Ärztejournale veröffentlichen ihn immer noch, aber es ist nur wegen des Freakwerts seiner Verfasserangabe.«

»Er hat einen guten Artikel über Operationssucht im Journal of Clinical Psychiatry geschrieben, war ich der Meinung«, bemerkte Starling.

»So, waren Sie das? Wir haben versucht, Lecter zu studieren. Wir dachten: ‘Hier bietet sich die Gelegenheit, eine Meilensteinstudie zu machen’ — es ist so selten, einen lebend zu bekommen.«

»Einen was?«

»Einen reinen Soziopathen, denn das ist er ja offensichtlich. Er ist jedoch unergründlich, viel zu intellektuell für die Standardtests. Und, meine Güte, was haßt er uns! Er hält mich für seine Nemesis. Crawford ist sehr schlau — nicht? —, Sie auf Lecter anzusetzen.«

»Wie meinen Sie das, Dr. Chilton?«

»Eine junge Frau, um ‘ihn anzutörnen’, wie man das wohl nennt. Ich glaube, Lecter hat seit Jahren keine Frau gesehen — er hat vielleicht einen flüchtigen Blick von einer der Putzfrauen erhascht. Im allgemeinen lassen wir hier keine Frauen rein. In der Haft bedeuten sie Ärger.«

Mensch, verpiß dich, Chilton. »Ich habe meinen Abschluß an der University of Virginia mit besonderer Auszeichnung gemacht, Doktor. Es ist keine Schule des Charmes.«

»Dann sollten Sie fähig sein, sich an die Regeln zu erinnern: Nicht durch die Gitterstäbe langen, die Gitterstäbe nicht berühren. Sie reichen ihm nur weiches Papier. Keine Kugelschreiber, keine Bleistifte. Zeitweise hat er seine eigenen Filzstifte. Das Papier, das Sie ihm reichen, muß frei sein von Drahtösen, Büroklammern oder Nadeln. Gegenstände werden ihm nur mit dem Schiebetablett fürs Essen gereicht und kommen auf demselben Weg wieder zurück. Keine Ausnahmen. Nehmen Sie nichts an, was er Innern durch das Gitter hinzuhalten versucht. Verstehen Sie mich?«

»Ich verstehe.«

Sie waren durch zwei weitere Tore gegangen und ließen das natürliche Licht hinter sich. Nun befanden sie sich jenseits der Säle, wo Insassen sich unter ihresgleichen mischen können, unten in dem Bereich, wo es keine Fenster und kaum Menschen gab. Die Flurlichter waren mit schweren Gittern bedeckt, wie die Lampen in den Maschinenräumen von Schiffen. Dr. Chilton blieb unter einem von ihnen stehen. Als ihre Schritte innehielten, konnte Starling irgendwo hinter der Mauer das schartige Echo einer vom Schreien ruinierten Stimme hören.

»Lecter ist nie außerhalb seiner Zelle, ohne volle Zwangskleidung und ein Mundstück zu tragen«, sagte Chilton. »Ich zeige Ihnen gleich, warum. Im ersten Jahr nach seiner Einweisung war er ein Muster an Kooperation. Die Sicherheitsvorkehrungen um seine Person wurden geringfügig gelockert — dies war unter der vorhergehenden Verwaltung, wohlgemerkt. Am Nachmittag des 8. Juli 1976 klagte er über Brustschmerzen und wurde ins Behandlungszimmer gebracht. Man nahm ihm die Fesseln ab, damit man ihm leichter ein Elektrokardiogramm machen konnte. Als die Krankenschwester sich über ihn beugte, tat er ihr dies an.« Chilton reichte Starling ein Foto mit Eselsohren. »Es gelang den Ärzten, eins ihrer Augen zu retten. Lecter war die ganze Zeit an die Monitore angeschlossen. Er brach ihr den Kiefer, um an ihre Zunge zu gelangen. Sein Puls stieg nie über fünfundachtzig an, selbst dann nicht, als er die Zunge verschluckte.«

Starling wußte nicht, was schlimmer war, das Foto oder Chiltons Aufmerksamkeit, als er ihr Gesicht mit raschem besitzergreifenden Blick erforschte. Sie dachte an ein durstiges Huhn, das ihr Tränen vom Gesicht pickte.

»Ich halte ihn hier fest«, sagte Chilton und drückte auf einen Knopf neben einer schweren Doppeltür aus Sicherheitsglas. Ein großer Pfleger ließ sie in den dahinterliegenden Trakt.

Starling traf eine unangenehme Entscheidung und blieb direkt hinter der Tür stehen. »Dr. Chilton, wir benötigen diese Testergebnisse wirklich. Wenn Dr. Lecter das Gefühl hat, Sie seien sein Freund — wenn er auf Sie fixiert ist, so wie Sie gesagt haben —, hätten wir vielleicht mehr Glück, wenn ich allein an ihn heranträte. Was meinen Sie?«

Chiltons Wange zuckte. »Dagegen habe ich absolut nichts einzuwenden. Das hätten Sie in meinem Büro vorschlagen können. Ich hätte einen Pfleger mit Ihnen schicken und die Zeit sparen können.«

»Ich hätte es dort vorschlagen können, wenn Sie mir dort genaue Anweisungen gegeben hätten.«

»Ich erwarte nicht, Sie wiederzusehen, Miss Starling — Barnney, wenn sie mit Lecter fertig ist, klingel nach jemandem, der sie hinausbringt.«

Chilton ging davon, ohne sie nochmals anzusehen.

Nun waren nur der große teilnahmslose Pfleger und die lautlose Uhr hinter ihm und seinem Drahtgeflechtschrank mit der chemischen Keule und der Zwangskleidung, mit dem Mundstück und der Tranquilizerpistole. Ein Wandregal enthielt eine lange pfeifenähnliche Vorrichtung mit einem U am Ende, um den Gewalttätigen an die Wand zu fesseln.

Der Pfleger betrachtete sie. »Dr. Chilton hat Ihnen doch erklärt, nicht die Gitter zu berühren?« Seine Stimme war hoch und heiser zugleich. Sie wurde an Aldo Ray erinnert.

»Ja, das hat er mir gesagt.«

»Okay. Es ist an den andern vorbei, die letzte Zelle rechts. Halten Sie sich in der Mitte des Korridors, wenn Sie hinuntergehen, und kümmern Sie sich um nichts. Sie können ihm seine Post bringen, um die Sache gleich richtig anzupacken.« Der Pfleger schien belustigt. »Sie legen sie einfach ins Tablett und lassen sie durchrollen. Wenn das Tablett in der Zelle ist, können Sie es mit der Schnur zurückziehen, oder er kann es zurückschicken. Dort, wo das Tablett draußen hält, kann er Sie nicht erreichen.« Der Pfleger gab ihr zwei Zeitschriften, deren lose Seiten auseinanderfielen, drei Zeitungen und mehrere geöffnete Briefe.

Der Korridor war etwa neunzig Meter lang und hatte auf beiden Seiten Zellen. Einige waren Gummizellen mit einem Beobachtungsfenster, lang und eng wie eine Schießscharte, in der Mitte der Tür. Andere waren normale Gefängniszellen mit einer auf den Korridor gehenden Gitterwand.

Clarice Starling war sich der Gestalten in den Zellen bewußt, doch sie versuchte, nicht zu ihnen hinzusehen. Sie war schon über die Hälfte den Korridor hinunter, als eine Stimme zischte: »Ich kann deine Fotze riechen.« Sie ließ sich nicht anmerken, daß sie es gehört hatte, und ging weiter

In der letzten Zelle war das Licht an. Sie ging auf die Linke Seite des Korridors, um hineinzuschauen, wobei sie wußte, daß ihre Absätze sie ankündigten.

3

Dr. Lecters Zelle lag weit hinter den anderen, blickte nur auf einen Wandschrank auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors und war auch sonst einzigartig. Die Vorderseite bestand aus einer Gitterwand, doch direkt hinter den Gitterstäben, in einer Entfernung, die größer war als die menschliche Reichweite, befand sich eine zweite Schranke, ein vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand gespanntes kräftiges Nylonnetz. Hinter dem Netz konnte Starling einen am Boden festgeschraubten Tisch erkennen, auf dem sich Taschenbücher und Zeitungen stapelten, und einen geraden, ebenfalls festgeschraubten Stuhl.

Dr. Hannibal Lecter selbst lag auf seiner Pritsche gestützt und las in der italienischen Ausgabe der Vogue. Er hielt die losen Seiten in der rechten Hand und legte sie mit der linken nacheinander neben sich. An der linken Hand hatte Dr. Lecter sechs Finger.

Clarice Starling blieb in einiger Entfernung vor dem Gitter stehen, etwa der Länge eines kleinen Foyers entsprechend.

»Dr. Lecter.« Ihre Stimme kam ihr normal vor.

Er sah von seiner Lektüre auf.

Eine angespannte Sekunde lang glaubte sie, daß sein Blick summte, doch was sie hörte, war nur ihr Blut.

»Ich heiße Clarice Starling. Darf ich mich mit Ihnen unterhalten?« Ihre Entfernung und ihr Ton beinhalteten Höflichkeit.

Dr. Lecter erwog dies, den Finger gegen die geschürzten Lippen gepreßt. Dann nahm er sich beim Aufstehen Zeit und kam in seiner Gitterzelle mit sanften Bewegungen nach vorn. Ohne das Nylonnetz anzusehen, hielt er jäh davor inne, als würde er die Entfernung selbst wählen.

Sie konnte sehen, daß er klein und geschmeidig war; in seinen Händen und Armen erkannte sie drahtige Kraft.

»Guten Morgen«, sagte er, als hätte er die Tür geöffnet. In seiner kultivierten Stimme schwang ein leichtes metallisches Schnarren mit, möglicherweise durch Nichtgebrauch.

Dr. Lecters Augen waren kastanienbraun, und sie spiegelten das Licht in roten winzigen Punkten wider. Manchmal schienen die Lichtpunkte wie Funken in seine Iris zu sprühen. Seine Augen umfaßten Starling ganz.

In abgemessener Distanz kam sie näher an die Gitterstäbe heran. Die Härchen auf ihren Vorderarmen stellten sich auf und drückten gegen ihre Ärmel.

»Doktor, wir haben ein schwieriges Problem bei der Erstellung psychologischer Diagramme. Ich möchte Sie um Ihre Hilfe bitten.«

»Wobei ‘wir’ die Abteilung für Verhaltensforschung in Quantico ist. Sie gehören zu Jack Crawfords Leuten, nehme ich an.«

»Das tue ich, ja.«

»Darf ich Ihre Ausweispapiere sehen?«

Darauf war sie nicht gefaßt. »Ich habe sie im… Büro vorgezeigt.«

»Sie wollen damit sagen, Sie haben Sie Dr. phil. Frederick Chilton gezeigt?«

»Ja.«

»Haben Sie seine Papiere gesehen?«

»Nein.«

»Die akademischen geben keinen umfassenden Lesestoff ab, das kann ich Ihnen sagen. Sind Sie Alan begegnet? Ist er nicht reizend? Mit welchem von ihnen würden Sie lieber sprechen?«

»Alles in allem würde ich sagen, mit Alan.«

»Sie könnten eine Reporterin sein, die Chilton für Geld hereingelassen hat. Ich glaube, ich bin dazu berechtigt, Ihre Ausweispapiere zu sehen.«

»Na gut.« Sie hielt ihren laminierten Ausweis hoch.

»Aus dieser Entfernung kann ich ihn nicht lesen, schicken Sie ihn bitte durch.«

»Das kann ich nicht.«

»Weil er hart ist.«

»Ja.«

»Fragen Sie Barney.«

Der Pfleger kam und dachte nach. »Dr. Lecter, ich werde den Ausweis durchschieben. Wenn Sie ihn aber nicht zurückgeben, wenn ich Sie darum bitte — wenn wir alle Mann bemühen und Sie fesseln müssen, um ihn zu kriegen —, dann werde ich sauer sein. Wenn Sie mich soweit bringen, bleiben Sie eingemummt, bis ich wieder besser auf Sie zu sprechen bin. Mahlzeiten durch den Schlauch, Gummihosen zweimal täglich gewechselt — der ganze Kram. Und ich werde Ihre Post eine Woche lang einbehalten. Kapiert?«

»Gewiß, Barney.«

Die Karte rollte auf dem Tablett durch, und Dr. Lecter hielt sie ans Licht.

»Eine Auszubildende? Hier steht ‘Auszubildende’. Jack Crawford hat eine Auszubildende geschickt, um mich zu befragen?« Er klopfte mit der Karte gegen seine kleinen weißen Zähne und atmete ihren Geruch ein.

»Dr. Lecter«, sagte Barney.

»Natürlich.« Er legte die Karte in das Tablett zurück, und Barney zog es nach draußen.

»Ich bin noch in der Ausbildung an der Akademie, ja«, sagte Starling, »aber wir diskutieren hier nicht über das FBI — wir unterhalten uns über Psychologie. Können Sie selbst feststellen, ob ich in dem Fach qualifiziert bin, über das wir uns unterhalten?«

»Hmmmm«, meinte Dr. Lecter. »Eigentlich… ist das ziemlich gerissen von Ihnen. Barney, glauben Sie, Officer Starling könnte einen Stuhl haben?«

»Dr. Chilton hat mir nichts von einem Stuhl gesagt.«

»Was sagen Ihnen Ihre Manieren, Barney?«

»Hätten Sie gern einen Stuhl?« fragte Barney sie. »Wir hätten einen haben können, aber er kriegt ja nie — also, gewöhnlich muß keiner so lang bleiben.«

»Ja, danke«, sagte Starling.

Barney brachte einen Klappstuhl aus dem abgeschlossenen Wandschrank auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors, stellte ihn auf und ließ sie allein.

»Nun«, sagte Lecter und setzte sich seitwärts an seinen Tisch, um ihr das Gesicht zuzuwenden, »was hat Miggs zu Ihnen gesagt?«

»Wer?«

»Der multiple Miggs, in der Zelle dort unten. Er hat Sie angezischt. Was hat er gesagt?«

»Er sagte: ‘Ich kann deine Fotze riechen.’«

»Aha. Ich selbst kann es nicht. Sie benutzen Evyan-Hautcreme, und manchmal tragen Sie L’Air du Temps, aber nicht heute. Heute sind Sie entschieden unparfümiert. Was meinen Sie zu dem, was Miggs gesagt hat?«

»Er ist aus Gründen feindselig, die ich nicht kennen kann. Es ist zu dumm. Er ist feindselig gegen Leute, Leute sind feindselig gegen ihn. Es ist eine Schleife.«

»Sind Sie ihm feindlich gesinnt?«

»Es tut mir leid, daß er gestört ist. Darüber hinaus bedeutet er Lärm. Wie haben Sie von dem Parfüm gewußt?«

»Ein Hauch aus Ihrer Tasche, als Sie Ihre Karte herausholten. Ihre Tasche ist schön.«

»Danke.«

»Sie haben doch Ihre beste Tasche gebracht, oder?«

»Ja.« Es stimmte. Sie hatte für die klassische sportliche Handtasche gespart. Es war das beste Stück, das sie besaß.

»Sie ist viel besser als Ihre Schuhe.«

»Vielleicht bringen die’s auch noch soweit.«

»Das bezweifle ich nicht.«

»Haben Sie die Zeichnungen an Ihren Wänden gemacht, Doktor?«

»Glauben Sie, ich habe einen Dekorateur kommen lassen?«

»Ist die über dem Waschbecken eine europäische Stadt?«

»Es ist Florenz. Das ist der Palazzo Vecchio und der Duomo, vom Belvedere aus gesehen.«

»Haben Sie sie aus dem Gedächtnis gezeichnet, die ganzen Details?«

»Gedächtnis ist das, Officer Starling, was ich statt einer Aussicht habe.«

»Ist die andere eine Kreuzigung? Das mittlere Kreuz ist leer.«

»Es ist Golgatha nach der Kreuzabnahme. Zeichenkreide und Textmarker auf Einwickelpapier. Was der Dieb, dem man das Paradies versprochen hatte, wirklich bekam, als sie das Osterlamm wegführten.«

»Und was war das?«

»Man brach natürlich seine Beine, genau wie seinem Gefährten, der sich über Christus lustig machte. Ist Ihnen das Evangelium des Heiligen Johannes denn gar kein Begriff? Dann schauen Sie sich mal Duccio an — er malt exakte Kreuzigungen. Wie geht es Will Graham? Wie sieht er aus?«

»Ich kenne Will Graham nicht.«

»Sie wissen, wer er ist. Jack Crawfords Protege. Der vor Ihnen. Wie sieht sein Gesicht aus?«

»Ich habe ihn nie gesehen.«

»Man nennt dies ‘alte Beziehungen berühren’, Officer Starling, das macht Ihnen doch wohl nichts aus?«

Schläge des Schweigens, und sie riskierte es.

»Besser noch als das, wir könnten uns hier auf Altes, Sie Berührendes beziehen. Was ich mitgebracht habe…«

»Nein. Nein, das ist dumm und falsch. Gebrauchen Sie Witz nie zum Parieren. Hören Sie, eine witzige Bemerkung zu begreifen und darauf zu antworten, bringt Ihr Gegenüber dazu, die Situation rasch und gesondert zu prüfen, was der Stimmung abträglich ist. Wir bewegen uns nämlich auf der Planke der Stimmung entlang. Sie hatten es gut gemacht, Sie waren liebenswürdig und für Liebenswürdigkeit empfänglich, Sie bewiesen dadurch Vertrauen, daß Sie die peinliche Wahrheit über Miggs gesagt haben, und dann kommen Sie mit einer ungeschickten ‘witzigen’ Einleitung zu Ihrem Fragebogen daher. Das genügt nicht.«

»Dr. Lecter, Sie sind ein erfahrener klinischer Psychiater. Meinen Sie, ich sei dumm genug zu versuchen, Ihnen mit irgendeiner Art von Stimmungsmasche zu kommen? Trauen Sie mir doch ein bißchen was zu. Ich bitte Sie, den Fragebogen zu beantworten, und das tun Sie oder auch nicht. Wäre es denn so schlimm, sich das Ding anzusehen?«

»Officer Starling, haben Sie irgendeines der Schriftstücke gelesen, die unlängst aus der Abteilung für Verhaltensforschung gekommen sind?«

»Ja.«

»Ich ebenfalls. Das FBI weigert sich dummerweise, mir das Law Enforcement Bulletin zu schicken, aber ich bekomme es von Altwarenhändlern, und ich habe die News von John Jay und die psychiatrischen Journale. Sie teilen die Leute, die Mordserien verüben, in zwei Gruppen — organisierte und desorganisierte. Was halten Sie davon?«

»Es ist… grundlegend, offensichtlich sind sie…«

»Stark vereinfachend ist der Begriff, den Sie suchen. In der Tat ist ein Großteil der Psychologie kindisch, Officer Starling, und die in der Abteilung für Verhaltensforschung praktizierte steht auf einer Stufe mit Phrenologie. Als erstes bekommt die Psychologie kein sehr gutes Material. Gehen Sie zur psychologischen Fakultät eines xbeliebigen College und sehen Sie sich die Studenten und den Lehrkörper an: Funkamateurfans und sonstige Enthusiasten, denen es an Persönlichkeit mangelt. Kaum die besten Hirne auf dem Campus. Organisiert und desorganisiert — das zeugt nur so von Inkompetenz.«

»Wie würden Sie die Einteilung ändern?«

»Das würde ich gar nicht.«

»Da wir von Publikationen sprechen, ich habe Ihre Artikel über Operationssucht und linksseitige, rechtsseitige Gesichtsentfaltungen gelesen.«

»Ja, sie waren erstklassig«, erwiderte Dr. Lecter.

»Der Meinung war ich auch, und Jack Crawford ebenso. Er hat mich auf sie hingewiesen. Das ist ein Grund, warum er besorgt darum ist, daß Sie —«

»Crawford der Stoiker ist besorgt? Er muß beschäftigt sein, wenn er Hilfe aus der Studentenschaft heranzieht.«

»Ja, und er möchte —«

»Mit Buffalo Bill beschäftigt.«

»Das nehme ich an.«

»Nein. Nicht ‘Das nehme ich an’. Officer Starling, Sie wissen sehr wohl, daß es Buffalo Bill ist. Ich war der Meinung, Jack Crawford hätte Sie hergeschickt, um mich darüber auszufragen.«

»Nein.«

»Dann tasten Sie sich also nicht daran heran?«

»Nein, ich bin gekommen, weil wir Ihre —«

»Was wissen Sie über Buffalo Bill?«

»Keiner weiß viel.«

»Hat alles in den Zeitungen gestanden?«

»Ich denke schon. Dr. Lecter, ich habe kein vertrauliches Material über diesen Fall gesehen, meine Aufgabe ist —«

»Wie viele Frauen hat Buffalo Bill erledigt?«

»Die Polizei hat fünf gefunden.«

»Alle abgehäutet?«

»Ja, teilweise.«

»Die Zeitungen haben nie seinen Namen erklärt. Wissen Sie, warum er Buffalo Bill heißt?«

»Ja.«

»Erzählen Sie’s mir.«

»Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie sich diesen Fragebogen anschauen.«

»Ich werde ihn mir anschauen, mehr nicht. Na, warum?«

»Es hat als schlechter Scherz in der Mordkommission von Kansas City angefangen.«

»Ja…?«

»Sie nennen ihn Buffalo Bill, weil er seine Beute abhäutet.«

Starling stellte fest, daß sie das Gefühl, sich zu fürchten, gegen das Gefühl, sich billig vorzukommen, eingetauscht hatte. Von den beiden zog sie das Gefühl der Furcht vor.

»Schicken Sie den Fragebogen durch.«

Starling rollte den blauen Abschnitt auf dem Tablett durch. Sie saß still, während Lecter ihn durchblätterte.

Er warf ihn in den Behälter zurück. »Oh, Officer Starling, sind Sie der Ansicht, Sie können mich mit diesem kleinen stumpfen Werkzeug sezieren?«

»Nein. Ich bin der Meinung, Sie können eine gewisse Einsicht beitragen und diese Studie voranbringen.«

»Und was für einen möglichen Grund könnte ich dafür haben?«

»Neugier.«

»Worüber?«

»Darüber, warum Sie hier sind. Darüber, was Ihnen zugestoßen ist.«

»Mir ist nichts zugestoßen, Officer Starling. Ich bin geschehen. Sie können mich nicht auf eine Reihe von Einflüssen reduzieren. Sie haben Gut und Böse für den Behaviorismus aufgegeben, Officer Starling. Sie haben jeden in moralische Gummihosen gesteckt, die behindern — nichts ist je irgend jemandes Schuld. Sehen Sie mich an, Officer Starling. Können Sie es ertragen zu sagen, ich sei böse? Bin ich böse, Officer Starling?«

»Ich glaube, Sie sind destruktiv gewesen. Das ist für mich dasselbe.«

»Böse ist nur destruktiv? Dann sind Stürme böse, wenn das so einfach ist. Und wir haben Feuer, und dann gibt es Hagel. Versicherungsagenten fassen das unter ‘höherer Gewalt’ zusammen.«

»Vorsätzliche —«

»Ich sammle Kircheneinstürze, der Entspannung halber. Haben Sie den neuesten in Sizilien gesehen? Herrlich! Bei einer besonderen Messe fiel die Fassade auf fünfundsechzig Großmütter. War das böse? Wenn ja, wer hat es getan? Wenn Er dort oben ist, findet Er es einfach toll, Officer Starling. Typhus und Schwäne — es kommt alles vom selben Ort.«

»Ich kann es Ihnen nicht erklären, Doktor, aber ich weiß, wer es kann.«

Er gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. Die Hand war wohlgeformt, stellte sie fest, und der Mittelfinger perfekt verdoppelt. Es war die seltenste Form von Polydaktylie.

Als er wieder sprach, war sein Ton leise und angenehm. »Sie würden mich gern quantitativ bestimmen, Officer Starling. Sie sind so ehrgeizig, nicht? Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, mit Ihrer guten Tasche und Ihren billigen Schuhen? Sie sehen wie ein Bauerntrampel aus. Sie sind ein gut geschrubbter, hastender Bauerntrampel mit ein bißchen Geschmack. Ihre Augen sind wie billige synthetische Steine — reiner Oberflächenglanz, wenn Sie sich an eine unbedeutende Antwort heranpirschen. Und hinter ihnen sind Sie gescheit, oder? Verzweifelt darauf bedacht, nicht wie Ihre Mutter zu sein. Gute Ernährung hat Sie mit einem gewissen Körperbau ausgestattet, aber Sie sind erst eine Generation aus den Zechen heraus, Officer Starling. Sind es die Starlings aus West Virginia oder die Starlings aus Okie, Officer? Es war das Hochwerfen einer Münze zwischen College und den Möglichkeiten im weiblichen Armeecorps, nicht wahr? Lassen Sie mich Ihnen etwas Spezielles über Sie selbst sagen, Studentin Starling. In Ihrem Zimmer haben Sie eine Kette aus goldenen Steckperlen, und Sie spüren einen häßlichen kleinen Knuff, wenn Sie sich anschauen, wie geschmacklos sie jetzt sind, ist dem nicht so? Diese ganzen öden Dankeschöns, dieses ganze aufrichtige Gefummel zu erlauben, einmal für jede Perle ganz verschwitzt und klebrig zu werden. Öde, öde, la-a-a-a-n-g-w-e-i-l-i-g. Smart zu sein verdirbt vieles, nicht? Und Geschmack ist nicht nett. Wenn Sie über diese Unterhaltung nachdenken, werden Sie sich an den stummen Schmerz eines verwundeten Tiers in seinem Gesicht erinnern, als Sie ihn loswurden.

Wenn schon die Steckperlen geschmacklos geworden sind, was ereilt dann sonst noch das gleiche Schicksal, während Sie vorankommen? Sie fragen sich doch, des Nachts?« erkundigte Dr. Lecter sich in allerfreundlichstem Ton.

Starling hob das Gesicht, um ihn anzublicken. »Sie sehen sehr viel, Dr. Lecter. Ich werde nichts von dem abstreiten, was Sie gesagt haben. Doch hier nun die Frage, die Sie mir auf der Stelle beantworten, ob Sie es wollen oder nicht: Sind Sie stark genug, dieses dynamische Wahrnehmungsvermögen auf sich selbst zu richten? Es ist schwer, dem zu begegnen. Ich habe das in den letzten paar Minuten herausgefunden. Wie steht’s? Schauen Sie sich an und schreiben Sie die Wahrheit nieder. Was für eine passendere oder komplexere Versuchsperson könnten Sie finden? Vielleicht haben Sie aber auch vor sich selbst Angst.«

»Sie sind zäh, nicht wahr, Officer Starling?«

»Einigermaßen, ja.«

»Und es würde Ihnen sehr mißfallen, sich für gewöhnlich zu halten. Würde das nicht weh tun? Meine Güte! Nun, Sie sind weit davon entfernt, gewöhnlich zu sein, Officer Starling. Sie haben einzig und allein Angst davor. Wie sehen Ihre Steckperlen aus, sieben Millimeter?«

»Sieben.«

»Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Besorgen Sie sich einige lose durchbohrte Tigeraugen und reihen Sie sie abwechselnd mit den Goldperlen auf. Vielleicht wollen Sie sie zwei-und-drei oder eins-und-zwei aufziehen, was immer Ihnen am besten erscheint. Die Tigeraugen nehmen die Farbe Ihrer eigenen Augen und die blonden Strähnen in Ihrem Haar auf. Hat jemand Ihnen je eine Valentinskarte geschickt?«

»Ja.«

»Wir sind schon in der Fastenzeit. Valentinstag ist bereits in einer Woche, hmmmm, erwarten Sie welche?«

»Man kann nie wissen.«

»Nein, das stimmt… Ich habe über den Valentinstag nachgedacht. Er erinnert mich an etwas Komisches. Wenn ich es mir überlege, könnte ich Sie am Valentinstag sehr glücklich machen, Clarice Starling.«

»Wie, Dr. Lecter?«

»Indem ich Ihnen einen wunderschönen Valentinsgruß sende. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Entschuldigen Sie mich nun bitte. Auf Wiedersehen, Officer Starling.«

»Und die Studie?«

»Einmal hat mich ein Meinungsforscher quantitativ zu bestimmen versucht. Ich habe seine Leber mit ein paar Favabohnen und einer großen Amarone verspeist. Gehen Sie zur Schule zurück, kleine Starling.«

Hannibal Lecter, höflich bis zum Schluß, drehte ihr nicht den Rücken zu. Er ging rückwärts von der Schranke zurück, bevor er sich wieder seiner Pritsche zuwendete, und sich, auf dieser liegend, so von ihr entfernte wie ein auf einem Grab liegender Kreuzfahrer aus Stein.

Starling fühlte sich auf einmal leer, als hätte sie Blut gespendet. Sie brauchte länger als gewöhnlich, um die Papiere in ihre Aktentasche zurückzustecken, da sie ihren Beinen nicht sofort traute, Starling war von dem Verlangen durchtränkt, das sie so verabscheute. Sie klappte ihren Stuhl zusammen und lehnte ihn gegen die Tür des Geräteschranks. Sie würde wieder an Miggs vorbei müssen. In einiger Entfernung war Barney anscheinend beim Lesen. Sie könnte ihm zurufen, sie abzuholen. Scheiß auf Miggs. Es war nicht schlimmer, als jeden Tag in der City an einem Trupp Bauarbeiter oder an rüpelhaften Ausfahrern vorbeizugehen. Sie begann wieder den Korridor hinunterzugehen.

Neben ihr zischte Miggs’ Stimme: »Ich hab’ mir ins Handgelenk gebissen, damit ich steeeerrrrrben kann — siehste, wie es blutet?«

Sie hätte Barney rufen sollen, doch erschrocken schaute sie in die Zelle, sah, wie Miggs mit den Fingern schnippte, und spürte die warmen Spritzer auf ihrer Wange und Schulter, bevor sie sich abwenden konnte.

Sie entkam ihm, registrierte, daß es Sperma, kein Blut, war, und Lecter rief nach ihr, sie konnte ihn hören. Dr. Lecters Stimme hinter ihr, das schneidende Schnarren in ihr ausgeprägter: »Officer Starling.«

Er war auf und rief ihr nach, als sie weiterging. Sie kramte in ihrer Tasche nach Papiertüchern.

Hinter ihr: »Officer Starling.«

Sie hatte sich nun voll in der Kontrolle und schritt stetig auf das Tor zu.

»Officer Starling.« Ein neuer Ton in Lecters Stimme.

Sie blieb stehen. Worauf in Gottes Namen bin ich denn so scharf? Miggs zischte etwas, das sie überhörte.

Sie stand erneut vor Lecters Zelle, und ihr bot sich der seltene Anblick, den Doktor aufgebracht zu sehen. Sie wußte, daß er es an ihr riechen konnte. Er konnte alles riechen.

»Es wäre mir lieber gewesen, wenn Ihnen das nicht passiert wäre. Unhöflichkeit empfinde ich als unbeschreiblich häßlich.«

Es war, als hätte das Begehen von Morden ihn von geringerer Grobheit gereinigt. Vielleicht erregte es ihn aber auch, überlegte Starling, sie auf diese besondere Art markiert zu sehen. Sie konnte es nicht sagen. Die Funken in seinen Augen flogen in seine Dunkelheit wie Glühwürmchen in eine Höhle hinunter.

Was immer es ist, verwende es, Jesus! Sie hielt ihre Aktentasche hoch. »Bitte tun Sie dies für mich.«

Vielleicht war sie zu spät dran, er hatte sich wieder beruhigt.

»Nein. Aber ich mache Sie dafür glücklich, daß Sie gekommen sind. Ich werde Ihnen etwas anderes geben. Ich werde Ihnen das geben, was Sie am meisten lieben, Clarice Starling.«

»Was ist das, Dr. Lecter?«

»Aufstieg natürlich. Es entwickelt sich perfekt — ich bin so froh. Der Valentinstag hat mich darauf gebracht.« Für das Lächeln über seinen kleinen weißen Zähnen hätte es einen beliebigen Grund geben können. Er sprach so leise, daß sie ihn kaum hören konnte.

»Suchen Sie in Raspails Wagen nach Ihren Valentinsgrüßen. Haben Sie mich verstanden? Suchen Sie in Raspails Wagen nach Ihren Valentinsgrüßen. Sie gehen jetzt besser, ich glaube nicht, daß Miggs es so bald wieder schaffen könnte, auch wenn er verrückt ist, Sie etwa?«

4

Clarice Starling war aufgeregt, erschöpft und wurde nur von Willenskraft angetrieben. Einige der Dinge, die Lecter über sie gesagt hatte, stimmten, und andere berührten die Wahrheit nur am Rande. Wenige Sekunden lang hatte sie ein fremdes Bewußtsein lose in ihrem Kopf gespürt, das Dinge von den Regalen fegte wie ein Bär in einem Wohnwagen.

Sie haßte das, was er über ihre Mutter gesagt hatte, und sie mußte den Zorn loswerden. Dies war Busineß.

Sie saß in ihrem alten Pinto auf der anderen Straßenseite der Anstalt gegenüber und atmete tief. Als die Fenster sich beschlugen, war sie den Blicken vom Bürgersteig wenigstens etwas entzogen.

Raspail. Sie erinnerte sich an den Namen. Er war ein Patient Lecters und eines seiner Opfer. Sie hatte nur einen Abend mit dem Hintergrundmaterial über Lecter verbracht. Die Akte war mehr als umfassend und Raspail eines von vielen Opfern. Sie mußte die Einzelheiten lesen.

Starling wollte ungestüm an die Sache herangehen, doch sie wußte, daß sie den Druck selbst erzeugte. Der Fall Raspail wurde vor Jahren abgeschlossen. Es war niemand in Gefahr. Sie hatte Zeit. Besser, gut informiert und gut beraten zu sein, bevor sie weiter vordrang.

Crawford würde es ihr unter Umständen wegnehmen und jemand anderem geben. Darauf müßte sie es ankommen lassen.

Sie versuchte ihn von einer Telefonzelle aus anzurufen, erfuhr aber, daß er vor dem Parlamentsunterausschuß um Bewilligung von Geldmitteln für die Rechtsabteilung ersuchte.

Einzelheiten des Falls hätte sie von der Mordkommission der Polizeibehörde von Baltimore bekommen können. Doch Mord ist kein Bundesverbrechen und somit kein Fall fürs FBI, und ihr war klar, daß man ihn ihr sofort entziehen würde, keine Frage.

Sie fuhr nach Quantico zurück, zurück zur Abteilung für Verhaltensforschung mit ihren behaglichen braunkarierten Vorhängen und ihren grauen Akten voller Hölle. Dort saß sie bis in den Abend hinein, nachdem die letzte Sekretärin gegangen war, und ließ den Mikrofilm über Lecter durchlaufen. Der widerspenstige alte Bildschirmapparat leuchtete wie ein Irrlicht in dem verdunkelten Raum, und die Worte und die Bildnegative schwärmten über ihr konzentriertes Gesicht.

Raspail, Benjamin René, weiß, männlich, 46, war Erster Flötist des Baltimorer Philharmonischen Orchesters und Patient in Dr. Hannibal Lecters psychiatrischer Praxis.

Am 22. März 1975 blieb er einer Aufführung in Baltimore fern.

Am 25. März wurde seine Leiche in einer kleinen ländlichen Kirche in der Nähe von Falls Church, Virginia, in einer Kirchenbank sitzend entdeckt, nur mit einer weißen Krawatte und einem Frack bekleidet. Die Autopsie ergab, daß Raspails Herz durchbohrt war und daß ihm die Thymus- und die Bauchspeicheldrüse fehlten.

Clarice Starling, die von klein auf viel mehr über Fleischverarbeitung erfahren hatte, als ihr lieb war, erkannte die fehlenden Organe als das, was der Metzger Bries nannte.

Die Mordkommission von Baltimore war der Ansicht, daß diese Objekte in der Speisenfolge eines Abendessens auftauchten, das Lecter für die Vorsitzende und den Dirigenten der Baltimorer Philharmoniker am Abend nach Raspails Verschwinden gab.

Dr. Hannibal Lecter erklärte, nichts über diese Angelegenheit zu wissen. Die Vorsitzende und der Dirigent der Philharmoniker sagten aus, daß sie sich nicht an die bei Lecters Abendessen gereichten Speisen erinnern könnten, obwohl Lecter für seine vorzüglichen Tafelrunden bekannt war und zahlreiche Artikel zu Feinschmeckermagazinen beigetragen hatte.

Die Vorsitzende der Philharmoniker wurde später wegen Anorexie und Problemen in Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit in einem holistischen Nervensanatorium in Basel behandelt.

Der Polizei von Baltimore zufolge war Raspail Lecters neuntes bekanntes Opfer.

Raspail starb ohne Hinterlassung eines Testaments, und die Prozesse unter seinen Verwandten über den Nachlaß wurden mehrere Monate lang von den Zeitungen verfolgt, bis das öffentliche Interesse nachließ.

Rapails Verwandte hatten sich außerdem mit den Familien anderer Opfer in Lecters Praxis in einem erfolgreichen Prozeß zusammengetan, um die Akten mit den Krankengeschichten und Tonbandaufnahmen des auf Abwege geratenen Psychiaters vernichtet zu sehen. Man könnte nicht wissen, was für peinliche Geheimnisse er vielleicht ausplauderte, lauteten ihre Argumente, und die Akten wurden dokumentarische Belege.

Das Gericht hatte Raspails Rechtsanwalt Everett Yow zum Nachlaßverwalter bestellt.

Sterling würde sich an den Rechtsanwalt wenden müssen, um an den Wagen zu kommen. Der Rechtsanwalt könnte Raspails Andenken schützen und bei ausreichender Vorankündigung Beweismaterial vernichten, um seinen verstorbenen Klienten zu decken.

Starling zog es vor, zuzuschlagen, und sie benötigte Rat und Befugnis. Sie war allein in der Abteilung für Verhaltensforschung und hatte überall freien Zutritt. Sie fand Crawfords Privatnummer im Rolodex.

Sie hörte kein Telefonklingeln, doch plötzlich war seine Stimme da, sehr ruhig und gelassen.

»Jack Crawford.«

»Hier spricht Clarice Starling. Hoffentlich waren Sie nicht gerade beim Abendessen…« Sie mußte in Schweigen hinein fortfahren. »…Lecter hat mir heute etwas über den Fall Raspail gesagt, ich bin im Büro und gehe dem nach. Er teilt mir mit, es sei etwas in Raspails Wagen. Ich müßte über seinen Rechtsanwalt drankommen, und da morgen Samstag ist — kein Unterricht —, wollte ich Sie fragen, ob —«

»Starling, erinnern Sie sich eigentlich daran, was ich Ihnen aufgetragen habe, mit den Informationen über Lecter zu machen?«

Crawfords Stimme war so schrecklich ruhig.

»Ihnen Sonntag Punkt 9:00 Uhr einen Bericht zu liefern.«

»Tun Sie das, Starling. Tun Sie genau das.«

»Jawohl, Sir.«

Das Wählzeichen tat ihr im Ohr weh. Der Schmerz zog sich über ihr Gesicht und ließ ihre Augen brennen.

»O gottverdammte Scheiße«, sagte sie. »Du alter Widerling. Widerlicher Hurensohn. Soll Miggs doch dich anspritzen, und sieh zu, wie dir das gefällt.«

__________

Starling, blankgeschrubbt und mit ihrem FBI-Akademie-Nachthemd bekleidet, arbeitete gerade am zweiten Entwurf ihres Berichts, als ihre Zimmergenossin im Wohnheim, Ardelia Mapp, aus der Bücherei kam. Mapps breites, braunes, überaus vernünftiges Gesicht war einer der willkommeneren Anblicke ihres Tages, Ardelia Mapp sah die Erschöpfung in ihrem Gesicht.

»Was hast du heute gemacht, Mädchen?« Mapp stellte Fragen stets so, als ob die Antworten unmöglich einen Unterschied machen konnten.

»Einem verrückten Mann geschmeichelt, den es überkam,«

»Wenn ich bloß Zeit für ein geselliges Leben hätte — ich weiß nicht, wie du das schaffst, und auch noch die Schule.«

Starling ertappte sich beim Lachen. Ardelia Mapp lachte mit ihr, soviel es der kleine Witz wert war. Starling hörte nicht auf, und sie hörte sich von weit weg, weiterlachend, immer weiterlachend.

Durch Starlings Tränen sah Mapp sonderbar alt aus, und in ihrem Lächeln lag Traurigkeit.

5

Jack Crawford, dreiundfünfzig, las in einem Ohrensessel bei einer niedrigen Lampe im Schlafzimmer seines Hauses. Er saß zwei Doppelbetten gegenüber, beide auf Blöcken zu Krankenhaushöhe erhöht. Ein Bett war sein eigenes; in dem anderen lag seine Frau Bella. Crawford konnte sie durch den Mund atmen hören. Es war zwei Tage her, seit sie sich zum letztenmal hatte rühren oder etwas zu ihm sagen können.

Sie setzte einen Atemzug aus. Über seine Halbbrille blickte Crawford von seinem Buch hoch. Er legte das Buch hin. Bella atmete wieder, ein Flattern und dann ein voller Atemzug. Er stand auf, um seine Hand auf ihre zu legen, um ihren Blutdruck und ihren Puls zu messen. Über die Monate hinweg war er ein Fachmann im Umgang mit der Blutdruckmanschette geworden.

Da er sie nachts nicht allein lassen wollte, hatte er neben ihr ein Bett für sich aufgestellt. Und da er im Dunkeln nach ihrer Hand greifen wollte, mußte sein Bett so hoch wie ihres sein. Abgesehen von der Höhe der Betten und der für Bellas Bedürfnisse notwendigen minimalen sanitären Einrichtung war es Crawford gelungen, dies nicht wie ein Krankenzimmer aussehen zu lassen. Es gab Blumen, aber nicht zu viele. Tabletten waren keine in Sicht — Crawford hatte einen Wäscheschrank auf dem Flur ausgeräumt und ihn mit ihren Medikamenten und Apparaten gefüllt, bevor er sie vom Krankenhaus nach Hause brachte. (Es war das zweite Mal, daß er sie über die Schwelle dieses Hauses getragen hatte, und der Gedanke raubte ihm nahezu jede Kraft.)

Aus dem Süden war eine Warmluftfront heraufgezogen. Die Fenster waren offen, und die Luft von Virginia war mild und frisch. Kleine Frösche quakten einander im Dunkeln zu.

Das Zimmer war makellos sauber, doch auf dem Teppich sah man inzwischen Fusseln — Crawford mochte den lärmenden Staubsauger nicht durchs Zimmer schieben und benutzte einen manuellen Teppichkehrer, der nicht so gut war. Er tappte leise zum Wandschrank und knipste das Licht an. An der Innenseite der Tür hingen zwei Cliptafeln. Auf einer notierte er Bellas Puls und Blutdruck. Seine Zahlen und die der Tagesschwester wechselten sich in einer Reihe ab, die sich über viele gelbe Seiten, viele Tage und Nächte erstreckte. Auf der anderen Tafel hatte die Tagesschwester Bellas Medikation hingeschrieben.

Crawford war fähig, jede Arznei zu verabreichen, die sie unter Umständen in der Nacht brauchte. Den Anleitungen einer Krankenschwester folgend hatte er Injektionen an einer Zitrone und dann an seinen Oberschenkeln geübt, bevor er Bella nach Hause holte.

Crawford stand etwa drei Minuten an ihrem Bett und blickte in ihr Gesicht. Ein herrliches Tuch aus Seidenmoire bedeckte ihr Haar wie einen Turban. Sie hatte darauf bestanden, solange sie dazu in der Lage war. Nun bestand er darauf. Er befeuchtete ihre Lippen mit Glyzerin und entfernte mit seinem breiten Daumen ein Stäubchen aus ihrem Augenwinkel. Sie rührte sich nicht. Es war noch nicht die Zeit, sie umzudrehen.

Am Spiegel überzeugte Crawford sich davon, daß er nicht krank war, daß er nicht mit ihr unter die Erde mußte, daß es ihm selbst gut ging. Er ertappte sich dabei, wie er das tat, und es beschämte ihn. Zurück in seinem Sessel konnte er sich nicht daran entsinnen, was er gelesen hatte. Er tastete nach den Büchern neben sich, um das zu finden, das noch ein bißchen warm war.

6

Am Montag morgen fand Clarice Starling diese Nachricht von Crawford in ihrem Briefkasten:

CS,

machen Sie mit dem Raspail-Wagen weiter. In Ihrer Freizeit. Mein Büro besorgt Ihnen eine Kreditkartennummer für Ferngespräche. Halten Sie mit mir Rücksprache, bevor Sie den Besitz kontaktieren oder irgendwohin gehen. Berichten Sie Mittwoch 16:00 Uhr.

Der Chef hat Ihren Bericht über Lecter mit Ihrer Unterschrift erhalten. Das haben Sie gut gemacht.

JC

SAlC/Abteilung 8

Starling fühlte sich ziemlich gut. Sie wußte, daß Crawford ihr nur eine erschöpfte Maus gab, die sie der Übung halber herumjagen sollte. Er wollte sie aber lehren. Er wollte, daß sie gut abschnitt. Für Starling übertraf das Höflichkeit allemal.

Kaspail war seit acht Jahren tot. Was für ein Beweisstück konnte sich so lang in einem Wagen halten?

Aus familiärer Erfahrung wußte sie, daß ein Gericht zweiter Instanz Überlebenden gestattet, ein Fahrzeug vor der Testamentseröffnung zu verkaufen, da Automobile derart rasch im Wert sinken, und daß das Geld bei einem Dritten als Treuhänder hinterlegt wird. Es schien kaum wahrscheinlich, daß selbst eine so verworrene und umstrittene Erbengemeinschaft wie die von Raspail derart lang an einem Wagen festhalten würde.

Außerdem gab es da das Zeitproblem. Wenn Starling ihre Mittagspause rechnete, hatte sie eine Stunde und fünfzehn Minuten pro Tag frei, um während der Geschäftsstunden das Telefon zu benutzen. Sie würde Crawford am Mittwoch nachmittag Bericht erstatten müssen. Somit blieben ihr zum Aufspüren des Wagens insgesamt drei Stunden und fünfundvierzig Minuten, über drei Tage verteilt, wenn sie ihre Studienperioden verwendete und die versäumte Studienzeit nachts nachholte.

Sie hatte gute Noten aus ihrem Unterricht in Ermittlungsverfahren, und sie würde eine Gelegenheit haben, ihren Ausbildern allgemeine Fragen zu stellen.

Während ihrer Mittagspause am Montag wollte die Zentrale des Kreisgerichts von Baltimore County Starling weiterverbinden und vergaß sie dreimal. Während ihrer Studienperiode erreichte sie einen freundlichen Beamten im Gerichtsgebäude, der die Testamentsunterlagen über Raspails Nachlaß heraussuchte.

Der Beamte bestätigte, daß die Genehmigung für den Verkauf eines Fahrzeugs erteilt worden war, und gab Starling Typ und Seriennummer des Wagens und den Namen eines späteren Besitzers aus den Übereignungspapieren an.

Am Dienstag vergeudete sie die Hälfte ihrer Stunde Mittagspause damit, diesen Namen aufzuspüren. Es kostete sie den Rest ihrer Mittagspause, herauszufinden, daß die Zulassungsstelle für Kraftfahrzeuge des Bundesstaates Maryland nicht dafür ausgerüstet ist, ein Fahrzeug anhand der Seriennummer zu ermitteln, sondern nur anhand der Zulassungsnummer oder des gängigen Nummernschilds.

Am Dienstag nachmittag vertrieb ein Platzregen die Auszubildenden vom Schießstand. In einem Konferenzraum, in dem es vor feuchter Kleidung und Schweiß nur so dampfte, beschloß John Brigham, ehemaliger Ausbilder für Feuerwaffen beim Marineinfanteriekorps, vor der Klasse die Kraft von Starlings Hand zu testen und festzustellen, wie oft sie eine Model 19 Smith & Wesson in sechzig Sekunden abdrücken konnte.

Sie schaffte vierundsiebzig mit der linken Hand, blies sich eine Haarsträhne aus den Augen und ging zur rechten Hand über, während ein anderer Student zählte. Sie war in der Weaver-Position und hatte die Waffe gut im Griff; das Korn war scharf zu sehen, und die Kimme und ihr provisorisches Ziel waren entsprechend undeutlich. Nach dreißig Sekunden ließ sie ihre Gedanken abschweifen, um sich von dem Schmerz abzulenken. Das Ziel an der Wand wurde scharf. Es war eine von der Vollstreckungsabteilung des Interstate Commerce für ihren Ausbilder John Brigham ausgestellte Belobungsurkunde.

Sie fragte Brigham aus dem Mundwinkel heraus, während der andere Student das Klicken des Revolvers zählte.

»Wie macht man die gegenwärtige Zulassung…«

»…fünfundsechzigsechsundsechzigsiebenundsechzigachtundsechzig…«

»… eines Fahrzeugs ausfindig, wenn man nur die Seriennummer…«

»…achtundsiebzigneunundsiebzigachtzigeinundachtzig…«

»… und die Bauart hat? Ein gängiges Nummernschild hat man nicht,«

»… neunundachtzigneunzig. Aus.«

»In Ordnung, Herrschaften«, sagte der Ausbilder, »ich möchte, daß ihr dies zur Kenntnis nehmt. Die Kraft der Hand ist ein Hauptfaktor bei ständigem Gefechtsschießen. Einige von Ihnen, meine Herren, befürchten, als nächstes aufgerufen zu werden. Ihre Sorgen wären berechtigt — Starling ist mit beiden Händen weit über dem Durchschnitt. Weil sie nämlich daran arbeitet. Sie arbeitet daran mit den kleinen Quetschdingern, zu denen Sie alle Zugang haben. Die meisten von Ihnen sind nicht daran gewöhnt, etwas Härteres zu drücken als ihren —« stets auf der Hut vor seiner vertrauten Infanterieterminologie, suchte er nach einem höflichen Vergleich — »als ihre Pickel«, sagte er schließlich. »Mehr Ernst bei der Sache, Starling, auch Sie sind noch nicht gut genug. Ich will diese linke Hand über neunzig sehen, bevor Sie Ihren Abschluß machen. Bilden Sie Paare und timen Sie sich gegenseitig — hopp hopp!«

»Nicht Sie, Starling, kommen Sie her. Was haben Sie sonst noch über das Fahrzeug?«

»Nur die Seriennummer und den Typ, mehr nicht. Einen früheren Besitzer vor fünf Jahren.«

»Gut, hören Sie zu. Die meisten begehen den verd— den Fehler dabei, durch die Zulassungen von einem Besitzer zum nächsten zu hüpfen. Man verheddert sich zwischen den Bundesstaaten. Ich meine, sogar Polizisten tun das manchmal. Und Zulassungen und Nummernschilder sind alles, was der Computer hat. Wir sind alle daran gewöhnt, Nummernschilder oder Zulassungsnummern zu verwenden, nicht die Fahrzeugseriennummern.«

Das Klicken der Übungsrevolver mit den blauen Griffen hallte laut im ganzen Raum, und er mußte ihr ins Ohr brüllen.

»Es gibt eine Methode, die einfach ist. R. L. Polk and Company, die Telefonbücher für Städte herausbringen — sie geben auch eine Liste gängiger Fahrzeugzulassungen nach Bauart und fortlaufender Seriennummer heraus. Sie sind allein auf dem Gebiet. Autohändler lenken ihre Werbung mit ihnen. Wieso haben Sie gewußt, daß Sie mich fragen müssen?«

»Sie waren bei der Vollstreckungsabteilung des Interstate Commerce. Ich hab’ mir gedacht, daß Sie eine Menge Fahrzeuge aufgespürt haben. Danke.«

»Revanchieren Sie sich — bringen Sie diese linke Hand dahin, wo sie sein sollte, damit wir einige von diesen Schwächlingen beschämen können.«

Zurück in ihrer Telefonzelle während der Studienperiode zitterten ihr die Hände, so daß ihre Notizen kaum leserlich waren. Raspails Wagen war ein Ford. In der Nähe der University of Virginia gab es einen Fordhändler, der jahrelang bei ihrem Pinto getan hatte, was er tun konnte. Genauso geduldig ging der Händler nun seine Polk-Listen für sie durch. Er kam mit dem Namen und der Adresse der Person an den Apparat zurück, auf die Benjamin Raspails Wagen zuletzt zugelassen war.

Clarice fühlt sich toll, Clarice hat Kontrolle. Hör mit den Albereien und ruf den Mann bei sich zu Hause an, mal sehen, Nummer neun, Ditch, Arkansas. Jack Crawford wird mich nie da runterfahren lassen, aber wenigstens kann ich bestätigen, wem der Wagen gehört.

Es ging keiner ans Telefon, auch beim zweiten Mal nicht. Das Klingeln hörte sich komisch und weit weg an, ein doppeltes Rrrr-Rrrr wie bei einem Gemeinschaftsanschluß. Sie versuchte es abends und erhielt keine Antwort.

Am Mittwoch in der Mittagspause nahm ein Mann bei Starlings Anruf ab.

»VPOQ spielt die Oldies.«

»Hallo, ich rufe an, um —«

»Aluminiumseitenwandungen sind mir schnurz, und ich will auch nich’ auf ’nem Campingplatz in Florida wohnen, was ham Se sonst noch?«

Aus der Stimme des Mannes hörte Sterling sehr viel Hügelland von Arkansas heraus. In diesem Dialekt konnte sie mit jedem reden, wenn sie wollte, und ihre Zeit war knapp.

»Yessir, wenn Sie mir aushelfen könnten, wär’ ich Ihnen sehr verbunden. Ich versuch’ Mr. Lomax Bardwell zu erwischen. Clarice Starling am Apparat.«

»Es ist Starling noch was«, schrie der Mann seinem übrigen Haushalt zu. »Was woll’n Sie denn von Bardwell?«

»Hier ist das Bezirksbüro Mittlerer Süden der Fordrückrufabteilung. Er hat Anspruch auf kostenlose Reparaturen an seinem LTD, die unter die Garantie fallen?«

»Ich bin Bardwell. Dachte, Sie versuchten mir was bei diesem verbilligten Fernsprechtarif zu verkaufen. Is’ ja viel zu spät für irgend’ne Schadensfestsetzung. Ich brauch’ das Ganze. Ich und meine Alte waren also in Little Rock und scheren dort aus der Southland Mall aus?«

»Yessir.«

»Kommt doch die verdammte Stange durch die Ölwanne raus.

Überall Öl, und dieser Orkin-Laster, der den großen Käfer vorne drauf hat. Er fuhr auf das Öl und schlitterte seitwärts.«

»Herr, erbarme dich.«

»Hat die Fotomat-Kabine vom Zementsockel gehauen, und das Glas fiel raus. Der Fotomat-Typ kam total nebendran rausgelatscht. Mußte ihn von der Straße fernhalten.«

»Na, ich freß ’nen Besen. Was ist dann mit ihm passiert?«

»Was ist mit wem passiert?«

»Dem Wagen.«

»Ich hab’ Buddy Sipper vom Schrottplatz gesagt, er könnte ihn für fuffzig haben, wenn er ihn holen würde. Nehme stark an, er hat ihn auseinandergenommen.«

»Könnten Sie mir sagen, wie seine Telefonnummer lautet, Mr. Bardwell?«

»Was woll’n Se von Sipper? Wenn irgend jemand davon profitiert, sollte ich das sein.«

»Das versteh’ ich, Sir. Ich tu’ nur das, was die mir hier bis fünf Uhr sagen, und die haben gesagt, finde den Wagen. Haben Sie diese Nummer, bitte?« »Ich kann mein Telefonbuch nich’ finden. Es is’ jetzt schon ’ne ganze Weile verschwunden. Sie wissen, wie es mit diesen Enkelchen is’. Sollten Sie von der Auskunft kriegen können, es ist Sipper Salvage.«

»Danke bestens, Mr. Bardwell.«

Der Schrottplatz bestätigte, daß das Fahrzeug zur Wiederverwertung auseinandergenommen und zu einem Würfel gepreßt worden war. Der Vorarbeiter las Starling die Fahrzeugseriennummer aus seinen Unterlagen vor.

Scheißhausmaus, dachte Starling, noch immer nicht ganz aus dem Dialekt heraus. Sackgasse. Was für ein Valentinsgruß.

Starling lehnte den Kopf gegen den kalten Münzfernsprecherin der Telefonzelle. Ardelia Mapp, ihre Bücher auf der Hüfte, klopfte an die Tür der Zelle und reichte eine Orangenlimonade hinein.

»Danke dir, Ardelia. Ich muß noch einen Anruf machen. Wenn ich rechtzeitig damit fertig werde, hol’ ich dich in der Cafeteria ein, okay?«

»Ich hatte ja so gehofft, daß du diesen gräßlichen Dialekt überwinden würdest«, sagte Mapp. »Es gibt Bücher, die dir helfen. Ich benutze nie mehr das farbige Patois meiner Wohngegend. Wenn du weiter mit diesem Akzent redest, werden die Leute dich noch für eine vom Land halten, Mädchen.« Mapp machte die Telefonzellentür zu.

Starling hatte das Gefühl, daß sie versuchen mußte, weitere Informationen aus Lecter herauszuholen. Wenn sie den Termin schon hätte, würde Crawford sie vielleicht in die Anstalt zurück-kehren lassen. Sie wählte Dr. Chiltons Nummer, kam jedoch nur bis zu seiner Sekretärin.

»Dr. Chilton ist mit dem Coroner und dem stellvertretenden Staatsanwalt zusammen«, erklärte die Frau. »Er hat bereits mit Ihrem Supervisor gesprochen, und er hat Ihnen nichts zu sagen. Auf Wiederhören.«

7

»Ihr Freund Miggs ist tot«, sagte Crawford. »Haben Sie mir alles erzählt, Starling?« Crawfords müdes Gesicht war so empfänglich für Signale wie die gewellte Halskrause einer Eule und ebenso frei von Gnade.

»Wie?« Sie fühlte sich wie betäubt, und sie mußte damit fertig werden.

»Hat seine Zunge irgendwann vor Tagesanbruch verschluckt. Lecter hat es ihm vorgeschlagen, glaubt Chilton. Der Nachtpfleger hat Lecter leise mit Miggs sprechen hören. Lecter weiß eine Menge über Miggs. Er hat ein bißchen mit ihm gesprochen, doch der Nachtpfleger konnte nicht hören, was Lecter gesagt hat. Miggs weinte eine Zeitlang, und dann hörte er auf. Haben Sie mir alles erzählt, Starling?«

»Jawohl, Sir. Zwischen dem Bericht und meiner Aktennotiz ist alles da, fast wortwörtlich.«

»Chilton hat angerufen, um sich über Sie zu beschweren…« Crawford wartete und war allem Anschein nach erfreut, als sie nicht antwortete. »Ich habe ihm zu verstehen gegeben, daß ich Ihr Verhalten zufriedenstellend fand. Chilton versucht gerade, einer zivilrechtlichen Untersuchung vorzubeugen.«

»Wird es eine geben?«

»Sicher, wenn Miggs’ Familie es will. Die Abteilung für Zivilrechte wird dieses Jahr wahrscheinlich achttausend vornehmen. Sie werden sich freuen, Miggs mit auf die Liste zu setzen.« Crawford sah sie prüfend an. »Sind Sie in Ordnung?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Sie müssen auf keine bestimmte Weise gefühlsmäßig darauf reagieren. Lecter hat es zu seiner eigenen Belustigung getan. Er weiß, daß man ihm dafür eigentlich nichts anhaben kann, warum also nicht? Chilton nimmt ihm für eine Weile seine Bücher und seinen Toilettensitz weg, mehr nicht, und er bekommt keinen Wackelpudding.« Crawford verknotete die Finger über dem Bauch und verglich seine Daumen. »Lecter hat Sie über mich ausgefragt nicht wahr?«

»Er hat mich gefragt, ob Sie sehr beschäftigt seien. Ich habe ja gesagt.«

»Ist das alles? Sie haben nicht irgendwas Persönliches ausgelassen, weil ich es nicht würde sehen wollen?«

»Nein. Er sagte, Sie seien ein Stoiker, aber das habe ich reingeschrieben.«

»Ja, das haben Sie. Sonst nichts?«

»Nein, ich habe nichts ausgelassen. Sie glauben doch wohl nicht, ich hätte irgendwelchen Klatsch ausposaunt, und daß er sich deshalb mit mir unterhält.«

»Nein.«

»Ich weiß nichts Persönliches über Sie, und wenn dem so wäre würde ich nicht darüber sprechen. Wenn Sie Probleme damit haben, das zu glauben, sollten wir das jetzt klarstellen.«

»Ich bin überzeugt. Nächster Punkt.«

»Sie haben doch etwas geglaubt, andernfalls —«

»Gehen Sie zum nächsten Punkt über, Starling.«

»Lecters Andeutung bezüglich Raspails Wagen ist eine Sackgasse. Vor vier Monaten ist er in Nummer Neun, Ditch, Arkansa, zur Wiederverwertung zu einem Würfel gepreßt und verkauft worden. Wenn ich vielleicht zurückgehe und mit Lecter rede, erzählt er mir mehr.«

»Sie haben den Hinweis voll ausgenutzt?«

»Ja.«

»Warum nehmen Sie an, daß der Wagen, den Raspail fuhr, sein einziger war?«

»Es ist der einzige zugelassene, er war unverheiratet, ich nahm an—«

»Aha, halt!« Crawfords Zeigefinger deutete auf irgendeine unsichtbare Grundregel in der Luft zwischen ihnen. »Sie haben angenommen. Sie haben angenommen, Starling. Schauen Sie her.«

Crawford schrieb annehmen, auf englisch assume, auf einen Stenoblock. Mehrere von Starlings Ausbildern hatten sich dies von Crawford abgeguckt, doch Starling gab nicht zu erkennen, daß sie es schon früher gesehen hatte.

Crawford begann zu unterstreichen. »Wenn ich Sie mit einem Auftrag losschicke, Starling, und Sie nehmen nur an, können Sie einen Esel, ass, aus uns beiden, aus Ihnen u, und mir, me, machen…« Zufrieden lehnte er sich zurück. »Raspail hat Autos gesammelt, haben Sie das gewußt?«

»Nein, sind sie noch im Nachlaß?«

»Ich weiß es nicht. Meinen Sie, es könnte Ihnen gelingen, das herauszufinden?«

»Ja, das kann ich.«

»Wo würden Sie anfangen?«

»Bei seinem Erbschaftsverwalter.«

»Einem Rechtsanwalt in Baltimore, einem Chinesen, wie ich mich zu erinnern glaube.«

»Everett Yow«, sagte Starling. »Er steht im Baltimorer Telefonbuch.«

»Haben Sie irgendeinen Gedanken an das Problem eines Durchsuchungsbefehls für Raspails Wagen verschwendet?«

Manchmal erinnerte Crawfords Ton Starling an die besserwisserische Raupe bei Lewis Carroll.

Starling wagte nicht, es ihm zurückzugeben, jedenfalls nicht sehr.

»Da Raspail verstorben ist und wegen nichts verdächtig wird, ist es eine rechtsgültige Durchsuchung, wenn wir die Genehmigung seines Erbschaftsverwalters zum Durchsuchen des Wagens haben, und das Resultat ist statthafter Beweis in anderen Rechtsdingen«, führte sie an.

»Genau«, erwiderte Crawford. »Ich will Ihnen was sagen: Ich setze die Außenstelle Baltimore davon in Kenntnis, daß Sie dort sein werden. Samstag, Starling, in Ihrer Freizeit. Dann spüren Sie mal das Resultat auf, wenn es eins gibt.«

Crawford unternahm eine geringfügige, erfolgreiche Anstrengung, ihr nicht nachzusehen, als sie ging. Aus seinem Papierkorb gabelte er mit den Fingern einen Knäuel schweren mauvefarbenen Briefpapiers auf. Er strich es auf seinem Schreibtisch glatt. Es ging um seine Frau, und in einnehmender Handschrift stand darauf:

O streitsüchtige Schulen, die da suchen, welch Feuer

Diese Welt verbrennen wird, hätte keine den Geist,

Dies Wissen zu erstreben,

Daß es ihr Fieber sein könnte?

Es tut mir so leid wegen Bella, Jack.

Hannibal Lecter

8

Everett Yow fuhr einen schwarzen Buick mit einem De-Paul-University-Aufkleber auf dem Rückfenster. Sein Gewicht verlieh dem Buick eine leichte Neigung nach links, als Clarice Starling ihm im Regen aus Baltimore hinaus folgte. Es war fast dunkel; Starlings Tag als Ermittlerin war beinahe vorüber, und sie hatte keinen weiteren Tag mehr, um ihn zu ersetzen. Sie mußte ihre Ungeduld bezähmen und klopfte mit den Scheibenwischern im Takt gegen das Lenkrad, während der Verkehr im Schneckentempo die Route 301 hinunterfuhr.

Yow war intelligent, dick und hatte Atmungsbeschwerden. Starling schätzte sein Alter auf sechzig. Bislang war er entgegenkommend gewesen. Der verlorene Tag war nicht seine Schuld; am Spätnachmittag von einer einwöchigen Geschäftsreise nach Chicago zurückgekehrt, war der Rechtsanwalt aus Baltimore direkt vom Flughafen zu seinem Büro gekommen, um Starling zu treffen.

Raspails klassischer Packard war lange vor seinem Tod eingelagert worden, erklärte Yow. Er war nicht zugelassen und nie gefahren worden. Yow hatte ihn ein einziges Mal gesehen, zugedeckt und in einem Lager untergestellt, um sein Vorhandensein für die Liste des Bestandsverzeichnisses über die Erbmasse zu bestätigen, das er kurz nach dem Mord an seinem Klienten aufstellte.

Wenn Ermittlerin Starling einwilligte, nichts, was sie fände, das für die Interessen seines verstorbenen Klienten schädlich sei, »sofort offen zu enthüllen«, würde er ihr das Fahrzeug zeigen, sagte er. Ein Durchsuchungsbefehl und das damit verbundene Aufsehen wäre nicht notwendig.

Für einen Tag genoß Starling die Benutzung eines Plymouth aus dem FBI-Fuhrpark mit einem drahtlosen Telefon, und sie hatte einen von Crawford zur Verfügung gestellten neuen Ausweis. Er lautete einfach auf ERMITTLERIN, FBI — und lief in einer Woche ab, stellte sie fest.

Ihr Ziel war Split City Mini-Storage, ungefähr sechs Kilometer hinter der Stadtgrenze. Während Starling mit dem Verkehr dahinkroch, benutzte sie ihr Telefon, um möglichst viel über die Depotanlagen herauszufinden. Als sie das hohe orangene Schild SPLIT CITY MINI-STORAGE — DEN SCHLÜSSEL BEHALTEN SIE erspähte, hatte sie einige Fakten erfahren.

Split City hatte eine Frachtspeditionslizenz der Interstate Commerce Commission, die auf den Namen Bernard Gary lautete. Eine Bundesanwaltsjury hatte Gary vor drei Jahren um ein Haar wegen zwischenstaatlichen Transports gestohlener Güter verurteilt, und seine Konzession sollte in Kürze wieder überprüft werden.

Yow bog unter dem Schild ein und zeigte einem pickligen jungen Mann in Uniform am Tor seine Schlüssel. Der Pförtner notierte sich ihre Kennzeichen, schloß auf und winkte sie ungeduldig herein, als hätte er Wichtigeres zu tun.

Split City war ein trostloser Ort, durch den der Wind pfiff. Wie der Sonntagsflug scheidungswilliger Paare von La Guardia nach Juarez, war es ein Dienstleistungsbetrieb für die gedankenlose Braunsche Bewegung in der Bevölkerung; ein Großteil seines Geschäfts bestand darin, die nach einer Scheidung übriggebliebenen Güter einzulagern. Seine Einheiten waren mit Couchgarnituren vollgestapelt, mit Frühstücksensembles, verfleckten Matratzen, Spielzeug und den Fotografien von Dingen, die nutzlos geworden waren. Unter den Beamten des Bezirkssheriffs von Baltimore County herrschte die weitverbreitete Ansicht, daß Split City außerdem Güter und wertvolle Entschädigungen der Konkursgerichte verbarg.

Es ähnelte einer militärischen Anlage: gut Zwölftausend Quadratmeter langer Gebäude, von Brandmauern in Einheiten von der Größe einer großzügig angelegten Garage unterteilt und jede Einheit mit einer Rolltür versehen. Die Gebühren waren annehmbar, und ein Teil des Hab und Guts war schon seit Jahren hier. Die Sicherheitsvorkehrungen waren gut. Der Ort war von einer doppelten Reihe hohen Sicherheitszauns umgeben, und zwischen den Zäunen patrouillierten vierundzwanzig Stunden am Tag Männer mit ihren Hunden.

Eine fünfzehn Zentimeter hohe Schicht aus durchweichten Blättern, mit Papierbechern und anderem Abfall vermischt, hatte sich gegen den unteren Teil der Tür von Raspails Lagereinheit, Nummer 31, aufgehäuft. Ein schweres Vorhängeschloß verschloß jede Seite der Tür. Der Türspalt auf der linken Seite war außerdem mit einem Siegel versehen. Everett Yow beugte sich steif über das Siegel. Starling hielt den Regenschirm und eine Taschenlampe in der frühen Dunkelheit.

»Es ist anscheinend nicht geöffnet worden, seit ich vor fünf Jahren hier war«, sagte er. »Sie sehen den Abdruck meines Notarsiegels hier in dem Plastik. Ich hatte damals keine Ahnung, daß die Verwandten derart streitsüchtig sein und die Testamentseröffnung über so viele Jahre hinausziehen würden.«

Yow hielt die Taschenlampe und den Regenschirm, während Starling eine Aufnahme von dem Schloß und dem Siegel machte.

»Mr. Raspail hatte ein Studio mit Büro in der City, das ich aufgab, damit der Besitzer keine Miete zahlen mußte«, sagte er. »Ich hatte die Einrichtung hierher bringen und mit Raspails Wagen und anderen Dingen, die bereits hier waren, einlagern lassen. Wir brachten ein Klavier her, Bücher und Noten und ein Bett, glaube ich.«

Yow probierte einen Schlüssel. »Die Schlösser sind unter Umständen eingefroren. Zumindest dies hier ist äußerst unnachgiebig.« Es bereitete ihm Schwierigkeiten, sich gleichzeitig vorzubeugen und zu atmen. Als er in die Hocke zu gehen versuchte, knarrten seine Knie.

Starling war froh, als sie sah, daß die Vorhängeschlösser schwere amerikanische Standardchromschlösser waren. Sie sahen furchteinflößend aus, doch sie wußte, daß sie die Messingzylinder mühelos mit einem Metallblechschraubenzieher und einem Splitthammer herauslösen konnte — als sie klein war, hatte ihr Vater ihr gezeigt, wie Einbrecher das tun. Das Problem würde darin liegen, Hammer und Schraubenzieher aufzutreiben; ihr kam noch nicht einmal der ständige Plunder in ihrem Pinto zugute.

Sie durchsuchte ihre Handtasche und fand das Enteisungsspray, das sie für die Türschlösser ihres Pintos verwendete.

»Möchten Sie sich kurz in Ihrem Wagen ausruhen, Mr. Yow? Warum wärmen Sie sich nicht ein paar Minuten auf, und ich versuch’ mich mal hier dran. Nehmen Sie den Schirm, es nieselt jetzt nur noch.«

Starling fuhr den FBI-Plymouth dicht an die Tür, um sich seiner Scheinwerfer zu bedienen. Sie zog den Ölmeßstab aus dem Wagen, ließ Öl in die Schlüssellöcher der Vorhängeschlösser tropfen und sprühte dann das Enteisungsmittel hinein, um das Öl zu verdünnen. Mr. Yow lächelte und nickte von seinem Wagen her. Starling war froh, daß Yow ein intelligenter Mann war; sie konnte ihre Arbeit verrichten, ohne ihn zu befremden.

Es war nun völlig dunkel. In dem grellen Leuchten der Scheinwerfer des Plymouth fühlte sie sich bloßgestellt, und der Keilriemen quietschte ihr im Ohr, als der Wagen im Leerlauf lief. Sie hatte das Fahrzeug bei laufendem Motor abgeschlossen. Mr. Yow schien harmlos zu sein, doch sie sah keinen Grund, das Risiko einzugehen, gegen die Tür gequetscht zu werden.

Das Vorhängeschloß hüpfte wie ein Frosch in ihrer Hand und lag dann dort offen, schwer und fettig. Das andere Schloß war nach dem Einweichen einfacher zu öffnen.

Die Tür dagegen wollte nicht hochkommen. Starling zog am Griff, bis helle Punkte vor ihren Augen tanzten. Yow kam zu Hilfe, doch brachte seine Tolpatschigkeit zusammen mit dem kleinen, unzulänglichen Türgriff keinen wesentlichen Fortschritt.

»Vielleicht könnten wir nächste Woche mit meinem Sohn oder mit einigen Handwerkern zurückkommen«, schlug Mr. Yow vor. »Ich würde sehr gern bald nach Hause fahren.«

Starling war sich keineswegs sicher, ob sie je hierher zurückkehren wollte; es wäre für Crawford weniger umständlich, wenn er einfach den Hörer abnahm und die Außenstelle Baltimore damit fertig werden ließ. »Mr. Yow, ich werde mich beeilen. Haben Sie einen Wagenheber in diesem Auto?«

Mit dem Wagenheber unter dem Türgriff benutzte Starling ihr Gewicht auf dem Bolzenschraubenschlüssel, der als Wagenhebergriff diente. Die Tür quietschte fürchterlich und schob sich einen Zentimeter hoch. Sie schien sich in der Mitte nach oben zu biegen.

Die Tür ging einen weiteren Zentimeter hoch und dann noch einen, bis sie den Ersatzreifen darunterschieben konnte, um sie oben zu halten, während sie Mr. Yows und ihren eigenen Wagenheber zu den Seiten der Tür schob und sie dicht bei den Schienen, in denen die Tür verlief, unter den unteren Rand legte.

Abwechselnd mit den Wagenhebern auf jeder Seite arbeitend bewegte sie die Tür zentimeterweise fast einen halben Meter hoch, bis diese blockierte und sich auch nicht durch Starlings ganzes Gewicht auf den Wagenhebergriffen weiter hochschieben ließ.

Mr. Yow kam, um mit ihr unter der Tür durchzuspähen. Er konnte sich jeweils nur einige Sekunden nach vorn beugen.

»Da drinnen riecht es nach Mäusen«, meinte er. »Man hat mir versichert, daß hier Gift für Nagetiere ausgelegt wird. Ich glaube, es ist im Vertrag festgesetzt. Nagetiere seien nahezu unbekannt, hieß es. Ich höre sie aber, Sie auch?«

»Ich höre sie«, bestätigte Starling. Mit ihrer Taschenlampe konnte sie Kartons und einen großen Weißwandreifen unter dem Rand eines Tuchüberzugs ausmachen. Der Reifen war platt.

Sie stieß mit dem Plymouth zurück, bis das Scheinwerferlicht teilweise unter die Tür fiel, und nahm eine der Gummibodenmat-ten heraus.

»Gehen Sie da hinein, Officer Starling?«

»Ich muß mich umsehen, Mr. Yow.«

Er holte sein Taschentuch heraus. »Darf ich vorschlagen, daß Sie sich Ihre Hosenaufschläge eng um die Knöchel binden? Um dem Eindringen von Mäusen vorzubeugen.«

»Danke, Sir, das ist eine sehr gute Idee. Mr. Yow, sollte die Tür herunterkommen oder sich sonst etwas ereignen, wären Sie dann so freundlich, diese Nummer anzurufen? Es ist unsere Baltimorer Außenstelle. Dort weiß man, daß ich jetzt gerade mit Ihnen hier bin, und man wird sich Sorgen machen, wenn man nicht binnen kurzem von mir hört, verstehen Sie?«

»Ja, natürlich. Aber ganz gewiß doch.« Er gab ihr den Schlüssel für den Packard.

Starling plazierte die Gummimatte auf dem nassen Boden vor der Tür und legte sich darauf; ihre Hände umfaßten einen Packen Plastikbeutel für Beweismaterial über dem Objektiv ihrer Kamera, und ihre Aufschläge waren fest mit Yows Taschentuch und ihrem eigenen umwickelt. Sprühregen fiel ihr aufs Gesicht, und der Geruch von Schimmel und Mäusen stach ihr in die Nase. Absurderweise kam Starling Latein in den Sinn.

Es war das Motto des römischen Arztes, am ersten Tag ihrer Ausbildung von ihrem Ausbilder in Gerichtsmedizin an die Tafel geschrieben: Primum non nocere. Als erstes keinen Schaden anrichten.

Er sagte das nicht in einer Garage voller verdammter Mäuse!

Und auf einmal war da die Stimme ihres Vaters, der mit der Hand auf der Schulter ihres Bruders zu ihr sagte: »Wenn du nicht spielen kannst, ohne zu brüllen, Clarice, dann geh ins Haus zurück.«

Starling machte den Kragenknopf ihrer Bluse zu, zog grimmig die Schultern zum Hals hoch und glitt unter der Tür durch.

Sie war unter dem Heck des Packards. Er war dicht an der linken Seite der Lagereinheit geparkt und berührte fast die Wand. Pappkartons waren hoch auf der rechten Seite des Raums aufgestapelt und füllten den Platz neben dem Wagen. Starling schlängelte sich auf dem Rücken entlang, bis ihr Kopf in der engen Lücke zwischen dem Wagen und den Kartons freikam. Viele Spinnen hatten den engen Raum mit ihren Netzen überspannt. Größtenteils Weberknechte, deren Netze mit kleinen zusammengeschrumpften, fest umwickelten Kadavern übersät waren.

Nun, man braucht sich einzig wegen einer braunen Einsiedlerspinne zu ängstigen, und sie würde nicht in voller Sicht bauen, sagte Starling sich. Die übrigen beißen nicht sonderlich.

Es gab etwas Platz neben dem hinteren Kotflügel. Sie wand sich so lange, bis sie unter dem Wagen hervor und mit dem Gesicht dicht neben dem breiten Weißwandreifen war. Trockenfäule hatte sich über ihn ausgebreitet. Sie konnte die Wörter GOODYEAR DOUBLE EAGLE auf ihm lesen. Auf ihren Kopf achtend stand sie in dem engen Raum auf, die Hand vor dem Gesicht, um die Spinnennetze zu zerreißen. Fühlte es sich so an, wenn man einen Schleier trug?

Von draußen Mr. Yows Stimme. »Okay, Miss Starling?«

»Okay«, sagte sie. Beim Klang ihrer Stimme vernahm man leises Trippeln, und im Innern eines Klaviers kletterte etwas über ein paar hohe Töne. Das Scheinwerferlicht von draußen erhellte ihre Beine bis zur Wade.

»Sie haben also das Klavier gefunden, Officer Starling«, rief Mr.

Yow.

»Das war nicht ich.«

»Oh.«

Der Wagen war groß, hoch und lang. Eine 1938er Packard Li- mousine laut Yows Verzeichnis. Sie war mit einer Brücke bedeckt, die Plüschseite nach unten. Sie ließ das Licht ihrer Taschenlampe darüberspielen.

»Haben Sie den Wagen mit dieser Brücke bedeckt, Mr. Yow?«

»Ich habe ihn so gefunden und ihn nie aufgedeckt«, rief Mr. Yow unter der Tür durch. »Ich kann mich nicht mit einem staubigen Teppich abgeben. Raspail hatte das so gemacht. Ich habe mich nur vergewissert, daß der Wagen da war. Meine Packer stellten das Klavier an die Wand, deckten es zu, stapelten weitere Kartons neben dem Wagen und gingen wieder. Ich habe ihnen Stundenlohn gezahlt. Die Kartons enthalten in der Hauptsache Noten und Bücher.«

Die Brücke war dick und schwer, und als sie daran zog, wirbelte im Strahl ihrer Taschenlampe Staub auf. Sie nieste zweimal. Auf den Zehenspitzen stehend konnte sie die Brücke zur Mittellinie des hohen alten Wagens hin falten. An den Rückfenstern waren die Vorhänge zugezogen. Der Türgriff war mit Staub bedeckt. Sie mußte sich über Kartons nach vorn lehnen, um ihn zu erreichen. Nur das Ende des Griffs berührend versuchte sie, ihn nach unten zu drehen. Abgeschlossen. In der Hintertür war kein Schlüsselloch. Sie würde eine Menge Kartons beiseite räumen müssen, um an die Vordertür zu gelangen, und es gab verdammt wenig Platz, um die Kartons woanders hinzustellen. Zwischen dem Vorhang und der Strebe des Rückfensters konnte sie einen kleinen Spalt erkennen.

Starling le hnte sich über die Kartons, um das Auge dicht an die Scheibe zu halten, und leuchtete mit ihrer Lampe durch den Spalt.

Sie konnte nur ihr Spiegelbild sehen, bis sie die Hand über den Lichtkegel wölbte. Ein durch das staubige Glas gebrochener Lichtsplitter bewegte sich über den Sitz. Auf dem Sitz lag ein geöffnetes Album. In dem schlechten Licht waren die Farben schwach, doch sie konnte die auf die Seiten geklebten Valentins-Bilder erkennen. Alte Karten aus Spitze, wie Flaum auf der Seite.

»Vielen Dank, Dr. Lecter.« Beim Sprechen wirbelte ihr Atem den feinen Staub auf der Leiste des Fensters auf und beschlug das Glas. Sie wollte es nicht abwischen und mußte daher warten, bis es sich klärte. Das Licht bewegte sich weiter über eine auf dem Boden des Wagens zerknüllte Schoßdecke und auf das staubig flimmernde Paar lacklederner Männerabendschuhe. Über den Schuhen waren schwarze Socken und über den Socken Smokinghosen mit Beinen darin.

SeitfünfJahrenistniemanddurchdieseTürgekommen — sachte, sachte, keine Panik, Baby.

»Oh, Mr. Yow. Hören Sie, Mr. Yow?«

»Ja, Officer Starling?«

»Mr. Yow, sieht so aus, als säße da jemand in diesem Wagen.«

»O du meine Güte. Vielleicht kommen Sie lieber heraus, Miß Starling.«

»Noch nicht gleich, Mr. Yow. Wenn Sie nur bitte da warten würden.«

Jetzt ist vor allem Denken wichtig. Das Hier und Jetzt ist wichtiger als der ganze Mist, den du deinem Kissen für den Rest deines Lebens erzählst. Saug’s auf und mach dies richtig. Ich will kein Beweismaterial vernichten. Ich will aber etwas Hilfe. Am allermeisten will ich keinen blinden Alarm schlagen. Wenn ich das Baltimorer Büro und die Bullen umsonst hier herauslotse, bin ich erledigt. Ich sehe was, das wie Beine aussieht. Mr. Yow hätte mich nicht hergebracht, wenn er gewußt hätte, daß ’ne Leiche im Wagen sitzt. Sie brachte es fertig, über sich zu lächeln. ‘’ne Leiche’, o wie tapfer. Seit Yows letztem Besuch ist keiner hier gewesen. Alles klar, das bedeutet, die Kartons wurden nach dem, was immer auch im Wagen ist, hierhergebracht. Und das bedeutet, ich kann die Kartons wegschieben, ohne irgendwas Wichtiges zu verlieren.

»In Ordnung, Mr. Yow.«

»Ja? Müssen wir die Polizei rufen oder genügen Sie, Officer Starling?«

»Das muß ich herausfinden. Bitte warten Sie einfach.«

Mit dem Kartonproblem war es wie mit Rubiks Würfel — zum Verrücktwerden. Sie versuchte mit der Taschenlampe unter dem Arm zu arbeiten, ließ sie zweimal fallen und legte sie schließlich oben auf den Wagen. Sie mußte Kartons hinter sich stellen, und einige der kleineren Bücherkartons rutschten unter den Wagen. Eine Art Biß oder Splitter brachte den Ballen ihres Daumens zum Jucken.

Nun konnte sie durch die staubige Scheibe des Seitenfensters vorne beim Beifahrersitz in das Chauffeurabteil sehen. Eine Spinne hatte ihr Netz zwischen dem großen Lenkrad und der Gangschaltung gesponnen. Die Trennscheibe zwischen dem vorderen und hinteren Abteil war geschlossen.

Wenn sie doch bloß daran gedacht hätte, den Wagenschlüssel des Packards zu ölen, bevor sie unter die Tür glitt! Doch als sie ihn ins Schloß steckte, funktionierte er.

Es war kaum Platz, die Tür in dem engen Durchgang mehr als ein Drittel zu öffnen. Sie stieß mit einem dumpfen Schlag gegen die Kartons, der die Mäuse zum Scharren brachte und dem Klavier zusätzliche Töne entlockte. Aus dem Wagen kam ein schaler Geruch von Zerfall und Chemie. Er verhalf ihrem Gedächtnis an einen Ort, den sie nicht benennen konnte.

Sie beugte sich hinein, öffnete die Trennwand hinter dem Fahrersitz und leuchtete mit der Taschenlampe in das hintere Abteil des Wagens. Ein Frackhemd mit Kragenknöpfen war das Helle, das das Licht zuerst fand, kletterte dann rasch an der Vorderseite des Hemds hoch zum Gesicht — kein Gesicht zu sehen — und wieder hinunter, über glitzernde Hemdknöpfe und Satinaufschläge zu einem Schoß mit offenem Reißverschluß und wieder hoch zu der adretten Fliege und dem Kragen, wo der weiße Halsstummel einer Schaufensterpuppe herausragte, über dem Hals jedoch etwas anderes, das kaum Licht reflektierte. Tuch, eine schwarze Kapuze dort, wo der Kopf sein sollte, groß, als bedeckte sie den Käfig eines Papageis. Samt, dachte Starling. Das Gebilde saß auf einem Sperrholzgestell, das an dem Nacken der Schaufensterpuppe befestigt war.

Sie machte mehrere Aufnahmen vom Vordersitz, wobei sie mit dem Blitzlicht scharf einstellte und die Augen beim Aufleuchten des Blitzlämpchens zukniff. Draußen vor dem Wagen richtete sie sich auf. Im Dunkeln dastehend, naß und mit Spinnweben bedeckt, überlegte sie, was zu tun sei.

Auf keinen Fall würde sie den für die Außenstelle Baltimore zuständigen Special Agent herbeizitieren, damit dieser sich eine Schaufensterpuppe mit offenem Hosenlatz und einem Buch mit Valentinsbildern ansah.

Sobald sie den Entschluß gefaßt hatte, auf den Rücksitz zu klettern und die Kapuze von dem Ding zu nehmen, wollte sie nicht länger darüber nachdenken. Sie langte durch die Fahrertrennwand, schloß die Hintertür auf und stellte einige Kartons um, um die Türe öffnen zu können. Es dauerte ihr alles zu lange. Der Geruch vom hinteren Abteil war viel stärker, als sie die Tür endlich aufmachte. Sie langte hinein, hob das Valentinsalbum vorsichtig an den Ecken hoch und schob es auf einen Beweismaterialbeutel oben auf dem Wagen. Einen weiteren Beutel breitete sie auf dem Sitz aus.

Die Wagenfedern ächzten, als sie hineinstieg, und die Gestalt verschob sich leicht, als sie sich neben sie hinsetzte. Die rechte Hand in ihrem weißen Handschuh glitt vom Oberschenkel und lag auf dem Sitz. Sie berührte den Handschuh mit dem Finger. Die Hand darin war steif. Behutsam streifte sie den Handschuh vom Handgelenk. Das Handgelenk war irgendein weißes Synthetikmaterial. In den Hosen war eine Schwellung, die sie einen verrückten Augenblick lang an gewisse Ereignisse in der High School erinnerte.

Unter dem Sitz kamen leise Trippelgeräusche hervor.

Sanft wie eine Liebkosung berührte ihre Hand die Kapuze. Das Tuch bewegte sich mühelos über etwas Hartes und Glattes darunter. Als sie den runden Knauf oben fühlte, wußte sie Bescheid. Sie wußte, daß es ein großes Laborprobenglas war, und sie wußte, was darin sein würde. Mit Furcht, aber wenig Zweifel, zog sie das Tuch weg.

Der Kopf im Glas war sauber unter dem Kiefer abgetrennt worden. Er blickte sie an, die Augen seit langem durch den Alkohol, der ihn konservierte, milchig ausgebrannt. Der Mund stand offen, und die Zunge, sehr grau, ragte ganz leicht heraus. Die Jahre hindurch war der Alkohol bis zu dem Punkt verdunstet, wo der Kopf auf dem Boden des Glases ruhte und sein Schädel durch die Oberfläche der Flüssigkeit in einer Kappe der Verwesung hervorragte. In einem eulenhaften Winkel zum Körper darunter gedreht, glotzte er Starling stupide an. Selbst im Spiel des Lichts über den Zügen blieb er dumm und tot.

In diesem Moment prüfte Starling sich. Sie war zufrieden. Sie war erheitert. Sie überlegte eine Sekunde lang, ob dies achtbare Gefühle seien. Nun, in diesem Moment, in dem sie mit einem Kopf und einigen Mäusen in diesem alten Wagen saß, konnte sie klar denken, und darauf war sie stolz.

»Na, Toto«, sagte sie, »wir sind nicht mehr in Kansas.« Das hatte sie immer unter Streß sagen wollen, doch es zu tun, hinterließ ein Gefühl der Verlogenheit in ihr, und sie war froh, daß keiner es gehört hatte. Es gab Arbeit zu tun.

Vorsichtig setzte sie sich zurück und sah sich um.

Dies war die gewählte und geschaffene Umgebung von jemandem, der tausend Lichtjahre jenseits des Verstands und von dem die Route 301 entlangkriechenden Verkehr entfernt gewesen war.

Getrocknete Blüten hingen schlaff von den Knospenvasen aus geschliffenem Kristall an den Pfeilern herab. Der Tisch der Limousine war heruntergeklappt und mit einer Leinendecke bedeckt. Darauf schimmerte durch Staub eine Karaffe. Zwischen der Karaffe und dem kurzen Kerzenleuchter daneben hatte eine Spinne gebaut.

Sie versuchte sich Lecter oder sonst irgend jemanden vorzustellen, wie er mit ihrem gegenwärtigen Gefährten hier saß und einen Drink nahm und ihm die Valentinsbilder zu zeigen versuchte.

Und was sonst noch? Vorsichtig arbeitend, die Gestalt so wenig wie möglich berührend, durchsuchte sie sie nach einer Identifizierungsmöglichkeit. Es gab keine. In einer Jackentasche fand sie die vom Regulieren der Hosenlänge übriggebliebenen Stoffbänder — die Gesellschaftskleidung war wahrscheinlich neu, als die Gestalt angezogen wurde.

Starling stieß die Schwellung in den Hosen an. Zu hart, selbst für die High School, überlegte sie. Mit den Fingern zog sie den Hosenschlitz auseinander und leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein, auf einen Penis aus poliertem Holz mit Einlegearbeit. Dazu noch von guter Größe. Sie fragte sich, ob sie verdorben sei.

Sorgfältig drehte sie das Glas und untersuchte die Seiten des Kopfes und den Hinterkopf auf Wunden. Es gab keine sichtbaren. Der Name einer Firma für Laborbedarf war in das Glas eingeprägt.

Erneut das Gesicht betrachtend, glaubte sie, daß sie etwas erfuhr, was ihr nutzen würde. Absichtlich dieses Gesicht anzuschauen, mit seiner Zunge, die dort die Farbe wechselte, wo sie das Glas berührte, war nicht so schlimm wie Miggs, der in ihren Träumen seine Zunge verschluckte. Sie hatte das Gefühl, als könne sie sich alles anschauen, wenn sie etwas Positives damit anfangen konnte. Starling war jung.

__________

In den zehn Sekunden, nachdem ihre fahrbare Nachrichteneinheit vom WPIK-TV schleudernd zum Stehen kam, zog Jonetta Johnson ihre Ohrringe an, puderte sich das hübsche braune Gesicht und kundschaftete die Lage aus. Sie und ihr Nachrichtenteam, das den Polizeifunk von Baltimore County abhörte, waren vor den Streifenwagen bei Split City angekommen.

Das einzige, was das Nachrichtenteam im Scheinwerferlicht sah, war Clarice Starling, die mit ihrer Taschenlampe und ihrem kleinen laminierten Ausweis vor der Garagentür stand, das Haar vom Nieselregen an den Kopf geklebt.

Einen Neuling konnte Jonetta Johnson allemal ausmachen. Sie stieg mit dem Kamerateam hinter sich aus und näherte sich Starling. Die hellen Lichter gingen an.

Mr. Yow sank so weit in seinem Buick hinunter, daß nur sein Hut über dem Fensterrahmen sichtbar war.

»Jonetta Johnson, WPIK-Nachrichten, haben Sie einen Mord gemeldet?«

Starling sah nicht sehr nach Gesetz aus, und das wußte sie. »Ich bin FBI-Beamtin, dies ist ein Tatort. Ich muß ihn absichern, bis die Baltimorer Behörden —«

Der Assistenzkameramann hatte den unteren Rand der Garagentür gepackt und versuchte gerade, sie hochzuschieben.

»Halt«, sagte Starling. »Ich rede mit Ihnen, Sir. Halt. Zurück da, bitte. Ich mache keine Scherze mit Ihnen. Gehen Sie mir mal zur Hand.« Sie verspürte den starken Wunsch nach einem Abzeichen, einer Uniform, irgend etwas.

»Okay, Harry«, sagte die Journalistin. »Ach, Officer, wir wollen in jeder Hinsicht kooperieren. Offen gestanden, dieses Team kostet Geld, und ich möchte nur wissen, ob ich es überhaupt hierlassen soll, bis die anderen Beamten kommen. Werden Sie mir sagen, ob eine Leiche da drin ist? Die Kamera läuft nicht, nur zwischen uns. Sagen Sie’s mir, und wir werden warten. Wir werden brav sein, ich verspreche es. Wie steht’s?«

»An Ihrer Stelle würde ich warten«, sagte Starling.

»Danke, das werden Sie nicht bereuen«, sagte Jonetta Johnson.

»Sehen Sie, ich habe einige Informationen über Split City Mini-Storage, die Sie wahrscheinlich gebrauchen könnten. Würden Sie mit Ihrer Taschenlampe auf die Cliptafel leuchten? Mal sehen, ob ich es hier finden kann.«

»Die fahrbare WEYE-Anlage ist gerade ins Tor eingebogen, Joney«, sagte der Mann, Harry.

»Ah, hier ist es. Vor zwei Jahren gab es einen Skandal, als man zu beweisen versuchte, daß Split City Tauschhandel trieb und — was war es gleich, Feuerwerkskörper? — einlagerte.« Jonetta Johnson schaute einmal zu oft über Starlings Schulter.

Starling drehte sich um und sah den Kameramann auf dem Rücken, mit Kopf und Schulter in der Garage; der Assistent hockte neben ihm, bereit, die Minikamera unter der Tür durchzureichen.

»Hey!« sagte Starling. Sie fiel neben ihm auf dem nassen Boden auf die Knie und zog ihn am Hemd. »Sie können da nicht hineingehen. Hey! Ich habe Ihnen doch verboten, das zu tun.«

Und die ganze Zeit über redeten die Männer in einem fort sanft auf sie ein. »Wir werden nichts berühren. Wir sind Profis, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die Polizei wird uns sowieso reinlassen. Es ist in Ordnung, Schätzchen.«

Ihre schmeichlerischen Einschläferungsversuche ließen sie ausrasten.

Sie rannte zu einem Wagenheber am Ende der Tür und betätigte den Griff. Mit schrillem Knirschen senkte die Tür sich fünf Zentimeter. Sie betätigte ihn erneut. Nun berührte die Tür die Brust des Mannes. Als er nicht hervorkam, zog sie den Griff aus der Muffe und trug ihn zu dem flach hingestreckten Kameramann zurück.

Es flammten weitere helle Kamerascheinwerfer auf, und in ihrem grellen Licht schlug sie mit dem Wagenhebergriff fest gegen die Tür über ihm, so daß Staub und Rost auf ihn hinunterrieselten.

»Geben Sie acht«, sagte sie. »Sie hören nicht zu, oder? Kommen Sie da raus. Jetzt. Noch eine Sekunde, und Sie werden wegen der Vernichtung von Beweismitteln verhaftet.«

»Immer mit der Ruhe!« entgegnete der Assistent. Er legte die Hand auf sie. Sie drehte sich zu ihm um. Hinter dem grellen Licht wurden schreiend Fragen gestellt, und sie hörte Sirenen.

»Hände weg und verschwinde, Freundchen.« Sie stand auf dem Knöchel des Kameramanns und blickte dem Assistenten ins Gesicht, den Wagerhebergriff an ihrer Seite herunterhängend. Sie hob ihn nicht hoch. Das war auch gut so. Im Fernsehen sah sie auch so schon schlecht genug aus.

9

Im Halbdunkel schienen die Gerüche des Trakts für Gewaltverbrecher durchdringender. Ein Fernsehapparat, der ohne Ton auf dem Korridor lief, warf Starlings Schatten an die Gitter von Dr. Lecters Zelle.

Sie konnte nicht in das Dunkel hinter den Gittern sehen, doch sie wollte den Pfleger nicht bitten, das Licht von seiner Station aus heller zu stellen. Der ganze Trakt würde sofort erleuchtet, und sie wußte, daß die Polizei von Baltimore County das Licht stundenlang voll angehabt hatte, während sie Lecter schreiend mit Fragen bombardierte. Er hatte sich geweigert zu reden, doch dadurch reagiert, daß er für sie ein Origami-Hühnchen faltete, das pickte, wenn man den Schwanz auf und ab bewegte. Wütend hatte der rangälteste Polizeibeamte das Hühnchen in der Eingangshalle im Aschenbecher zerdrückt, als er Starling mit einer Geste bedeutete, hineinzugehen.

»Dr. Lecter?« Sie hörte ihr eigenes Atmen und Atmen weiter unten den Gang entlang, doch kein Atmen aus Miggs’ leerer Zelle. Miggs’ Zelle war ungemein leer. Sie spürte ihre Stille wie einen Luftzug.

Starling wußte, daß Lecter sie aus dem Dunkel heraus beobachtete. Es vergingen zwei Minuten. Ihre Beine und ihr Rücken schmerzten von ihrem Kampf mit der Garagentür, und ihre Kleidung war feucht. Weit genug vom Gitter entfernt setzte sie sich auf ihren Mantel auf den Boden, die Füße unter sich angezogen, und schob ihr nasses, verschmutztes Haar über ihren Kragen, damit es ihr nicht mehr am Hals klebte.

Hinter ihr auf dem Bildschirm breitete ein Evangelist die Arme aus.

»Dr. Lecter, wir beide wissen, was dies ist. Man ist überzeugt, daß Sie mit mir reden werden.«

Schweigen. Unten im Korridor pfiff jemand ‘Over the Sea to Skye’.

Nach fünf Minuten sagte sie: »Es war sonderbar, dort hinzugehen. Irgendwann würde ich gern mit Ihnen darüber sprechen.«

Starling zuckte zusammen, als das Essenstablett aus Lecters Zelle rollte. In dem Tablett lag ein sauberes, gefaltetes Handtuch.

Sie hatte nicht gehört, daß er sich bewegte.

Sie sah es an, nahm es mit einem merkwürdigen Gefühl der Schwäche und rieb sich das Haar trocken. »Danke«, sagte sie.

»Warum fragen Sie mich nicht nach Buffalo Bill?« Seine Stimme war nahe, auf gleicher Höhe mit ihr. Er mußte ebenfalls auf dem Boden sitzen.

»Wissen Sie etwas über ihn?«

»Vielleicht, wenn ich den Fall sehen würde.«

»Ich habe diesen Fall nicht«, sagte Starling.

»Sie werden diesen hier auch nicht haben, wenn man damit fertig ist, Sie benutzt zu haben.«

»Ich weiß.«

»Sie könnten die Akten über Buffalo Bill bekommen. Die Berichte und die Bilder. Ich würde es gern sehen.«

Darauf wette ich. »Dr. Lecter, Sie haben damit angefangen. Nun erzählen Sie mir bitte was über die Person im Packard.«

»Sie haben eine ganze Person gefunden? Merkwürdig. Ich habe nur einen Kopf gesehen. Wo ist denn Ihrer Meinung nach der Rest hergekommen?«

»Schon gut. Wessen Kopf war es?«

»Was können Sie berichten?«

»Man hat erst die Vorarbeit geleistet. Weißer, etwa siebenund-zwanzig, amerikanische wie auch europäische zahnärztliche Arbeiten. Wer war er?«

»Raspails Liebhaber. Raspail, unser Flötenbläser.«

»Wie haben die Umstände ausgesehen — wie ist er gestorben?«

»Umschweife, Officer Starling?«

»Nein, ich werde es später fragen.«

»Lassen Sie mich Ihnen etwas Zeit ersparen. Ich hab’s nicht getan; es war Raspail. Raspail mochte Matrosen. Dies war ein skandinavischer namens Klaus noch was. Raspail hat mir nie den Nachnamen gesagt.« Dr. Lecters Stimme sank tiefer. Vielleicht lag er auf dem Boden, überlegte Starling.

»Klaus kam von einem schwedischen Boot in San Diego. Raspail lehrte dort einen Sommer am Konservatorium. Der junge Mann machte ihn wild. Der Schwede roch eine gute Sache und haute von seinem Boot ab. Sie kauften so ein scheußliches Wohnmobil und tanzten wie die Sylphiden nackt durch die Wälder. Raspail behauptete, der junge Mann sei untreu, und erwürgte ihn.«

»Hat Raspail Ihnen das erzählt?«

»0 ja, unter dem vertraulichen Siegel der Therapiesitzungen. Es war wohl eine Lüge. Raspail hat die Tatsachen immer ausgeschmückt. Er wollte gefährlich und romantisch erscheinen. Der Schwede starb wahrscheinlich bei irgendeiner banalen erotischen Asphyxiepraktik. Raspail war zu schlaff und schwach, um ihn erwürgt zu haben. Ist Ihnen aufgefallen, wie dicht Klaus unter dem Kiefer abgesäbelt wurde? Wahrscheinlich, um ein durch Hängen erzeugtes hohes Ligaturmal zu entfernen.«

»Aha.«

»Raspails Traum vom Glück war zerstört. Er packte Klaus’ Kopf in eine Bowlingtasche und kam nach Osten zurück.«

»Was hat er mit dem Rest gemacht?«

»Ihn in den Hügeln begraben.«

»Hat er Ihnen den Kopf im Wagen gezeigt?«

»O ja, im Verlauf der Therapie entwickelte er allmählich das Gefühl, daß er mir alles erzählen konnte. Er ging aus, um ziemlich oft bei Klaus zu sitzen, und zeigte ihm die Valentinsbilder.«

»Und dann ist Raspail selbst… gestorben. Warum?«

»Offen gestanden, ich bekam sein Gejammer gründlich satt. Das Beste für ihn, wirklich. Die Therapie brachte nichts. Vermutlich haben die meisten Psychiater ein oder zwei Patienten, die sie gern an mich verweisen würden. Ich habe mich nie zuvor darüber unterhalten, und nun wird es mir langweilig.«

»Und Ihr Abendessen für die Orchesterfunktionäre?«

»Haben Sie noch nie Leute zu Besuch und keine Zeit zum Einkaufen gehabt? Sie müssen sich mit dem begnügen, was im Kühlschrank ist, Clarice. Darf ich Sie Clarice nennen?«

»Ja. Ich glaube, ich werde Sie einfach —«

»Dr. Lecter nennen — das scheint Ihrem Alter und Ihrer Position höchst angemessen«, sagte er.

»Ja.« »Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in die Garage gingen?«

»Ängstlich.«

»Warum?«

»Mäuse und Insekten.«

»Haben Sie etwas, dessen Sie sich bedienen, wenn Sie sich Mut zusprechen wollen?« fragte Dr. Lecter.

»Nichts, das meines Wissens funktioniert, ausgenommen auf das aus zu sein, hinter dem ich her bin.«

»Kommen Ihnen dann Erinnerungen oder anschauliche Dar-stellungen in den Sinn, ob Sie es darauf anlegen oder nicht?«

»Vielleicht. Darüber habe ich nicht nachgedacht.«

»Dinge aus Ihrem frühen Leben.«

»Ich muß mal darauf achten.«

»Was haben Sie empfunden, als Sie von meinem verstorbenen Nachbarn, Miggs, hörten? Sie haben mich nicht darüber gefragt.«

»Darauf wollte ich noch kommen.«

»Waren Sie nicht froh, als Sie es hörten?«

»Nein.«

»Waren Sie traurig?«

»Nein. Haben Sie ihn dazu überredet?«

Dr. Lecter lachte leise. »Fragen Sie mich, Officer Starling, ob ich Mr. Miggs’ Selbstmordverbrechen angestiftet habe? Seien Sie nicht albern. Daß er diese beleidigende Zunge verschluckt hat, hat allerdings eine gewisse angenehme Symmetrie, meinen Sie nicht auch?«

»Nein.«

»Officer Starling, das war eine Lüge. Die erste, die Sie mir unterbreitet haben. Ein trister Anlaß, würde Truman sagen.«

»Präsident Truman?«

»Egal. Warum, glauben Sie, habe ich Ihnen geholfen?«

»Ich weiß nicht.«

»Jack Crawford mag Sie, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht.«

»Das stimmt wahrscheinlich nicht. Hätten Sie gern, daß er Sie mag? Sagen Sie mir, verspüren Sie einen Drang, ihm zu gefallen, und beunruhigt es Sie? Sind Sie vor Ihrem Drang, ihm zu gefallen, auf der Hut?«

»Jeder will gemocht werden, Dr. Lecter.«

»Nicht jeder. Glauben Sie, daß Jack Crawford in sexuellem Sinn auf Sie aus ist? Er ist jetzt bestimmt sehr frustriert. Glauben Sie, er stellt sich… Szenarien, Praktiken… vor, Sie zu ficken?«

»Das ist für mich keine Frage der Neugier, Dr. Lecter, und es ist in etwa das, was Miggs fragen würde.«

»Nicht mehr.«

»Haben Sie ihn dazu angeregt, er solle seine Zunge verschlucken?«

»Dir Interrogativsatz enthält häufig diesen passenden Konjunktiv. Bei Ihrem Akzent riecht das nach harter Arbeit. Crawford mag Sie zweifelsohne und hält Sie für kompetent. Der sonderbare Zusammenfluß von Ereignissen ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, Clarice — Sie haben Crawfords Hilfe und Sie haben meine gehabt. Sie behaupten, Sie wüßten nicht, warum Crawford Ihnen hilft — wissen Sie, warum ich es getan habe?«

»Nein, sagen Sie’s mir.«

»Meinen Sie, es sei deshalb, weil ich Sie gern anschaue und darüber nachdenke, Sie aufzufressen — darüber, wie Sie wohl schmecken würden?«

»Ist es das?«

»Nein. Ich will etwas, das Crawford mir geben kann, und ich will dafür mit ihm einen Tausch machen. Er will mich aber nicht besuchen. Er will mich nicht um meine Hilfe in Sachen Buffalo Bill bitten, obwohl er weiß, daß es bedeutet, daß weitere junge Frauen sterben werden.«

»Das kann ich nicht glauben, Dr. Lecter.«

»Ich will nur etwas ganz Einfaches, und er könnte es beschaffen.« Lecter drehte den Rheostat in seiner Zelle langsam höher. Seine Bücher und Zeichnungen waren verschwunden. Sein Toilettensitz war fort. Chilton hatte die Zelle ausgeräumt, um ihn für Miggs zu bestrafen.

»Seit acht Jahren bin ich in diesem Raum, Clarice. Ich weiß, daß man mich nie und nimmer herausläßt, während ich am Leben bin. Was ich will, ist eine Aussicht. Ich will ein Fenster, wo ich einen Baum sehen kann oder sogar Wasser.«

»Hat Ihr Anwalt ein Gesuch eingereicht?«

»Chilton hat diesen Fernseher, auf einen religiösen Kanal eingestellt, im Korridor aufgestellt. Sobald Sie gehen, stellt der Pfleger den Ton wieder laut, und mein Anwalt kann dem kein Ende bereiten, so, wie das Gericht nun mir gegenüber eingestellt ist. Ich will in einer Bundesanstalt sein, und ich will meine Bücher zurück und eine Aussicht. Ich werde eine gute Gegenleistung dafür erbringen. Crawford könnte das tun. Fragen Sie ihn.«

»Ich kann ihm ausrichten, was Sie gesagt haben.«

»Er wird es nicht zur Kenntnis nehmen. Und Buffalo Bill wird immer weitermachen. Warten Sie, bis er eine skalpiert, und schauen Sie dann, wie es Ihnen gefällt. Mhmmmm… ich werde Ihnen einiges über Buffalo Bill sagen, ohne den Fall je zu Gesicht zubekommen. Und wenn sie ihn in vielen Jahren schnappen, falls sie das je tun, werden Sie sehen, daß ich recht hatte und hätte helfen können. Ich hätte Leben retten können. Clarice?«

»Ja?«

»Buffalo Bill hat ein zweistöckiges Haus«, sagte Dr. Lecter und schaltete sein Licht aus.

Er wollte nichts mehr sagen.

10

Clarice Starling lehnte sich gegen einen Würfeltisch im Kasino des FBI und versuchte einer Vorlesung über die Transaktionen illegaler Gelder beim Glücksspiel Aufmerksamkeit zu schenken. Es waren sechsunddreißig Stunden vergangen, seit die Polizei von Baltimore County ihre eidliche Aussage aufgenommen hatte (über eine kettenrauchende, mit zwei Fingern tippende Schreibkraft: »Schauen Sie, ob Sie das Fenster da aufkriegen, wenn der Rauch Sie stört.«) und sie aus ihrem Gerichtsbezirk mit einer Mahnung entließ, daß Mord kein Bundesverbrechen sei.

Die Nachrichten des Sendernetzes am Sonntagabend zeigten Starlings Streit mit den Kameraleuten vom Fernsehen, und sie hatte das untrügliche Gefühl, daß sie tief in der Scheiße steckte.

Und die ganze Zeit hindurch kein Wort von Crawford oder von der Außenstelle Baltimore. Es war, als ob sie ihren Bericht in ein Loch hinuntergeworfen hätte.

Das Kasino, in dem sie nun stand, war klein — es war in einem Möbelwagenanhänger in Betrieb gewesen, bis das FBI es auffliegen ließ und in der Schule als Lehrmittel aufbaute. Der enge Raum war mit Polizisten aus vielen Verwaltungsbezirken überfüllt; Starling hatte dankend die Sitzplätze von zwei Texas Rangern und einem Detektiv von Scotland Yard abgelehnt.

Der Rest ihrer Klasse befand sich den Gang hinunter im Akademiegebäude und suchte im echten Motelteppich des Schlafzimmers für Sexualverbrechen nach Haaren und bestäubte die ‘Bank in der Stadt X’ mit Pulver für Fingerabdrücke. Starling hatte als Studentin der höheren Semester für Gerichtsmedizin so viele Stunden mit Untersuchungen und Fingerabdrücken verbracht, daß sie statt dessen zu dieser Vorlesung geschickt wurde, die zu einer Vortragsreihe für Polizisten auf Besuch gehörte.

Sie fragte sich, ob es einen anderen Grund dafür gab, daß man sie von der Klasse getrennt hatte: Vielleicht isolieren sie dich, bevor du rausfliegst.

Starling stützte sich mit den Ellbogen auf die das Spielfeld des Würfeltischs umgrenzende Linie und versuchte sich auf die Transaktionen illegaler Gelder beim Glücksspiel zu konzentrieren. Worüber sie jedoch nachdachte, war, wie sehr das FBI es haßte, seine Agenten außerhalb der offiziellen Pressekonferenzen im Fernsehen zu sehen.

Dr. Hannibal Lecter war ein gefundenes Fressen für die Medien, und die Baltimorer Polizei hatte Reportern fröhlich Starlings Namen geliefert. Immer wieder sah sie sich in den Sonntagsabendnachrichten des Sendernetzes. Da war ‘Starling vom FBI’ in Baltimore und hämmerte mit dem Wagenhebergriff gegen die Garagentür, während der Kameramann versuchte, darunter durchzugleiten. Und hier war ‘Federal Agent Starling’, wie sie sich mit dem Wagenhebergriff in der Hand dem Assistenten zuwandte.

Bei der Rivalensendergruppe hatte die Station WPIK, die keinen eigenen Film besaß, ein Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung gegen ‘Starling vom FBI’ und das Bureau selbst angekündigt, da der Kameramann Staub- und Rostteilchen in die Augen bekam, als Starling gegen die Tür schlug.

Jonetta Johnson vom WPIK war landesweit in jedem Fernseher mit der Enthüllung zu sehen, daß Starling die Überreste in der Garage durch ‘eine unheimliche Bindung mit einem Mann gefunden hatte, den Sachverständige als… Monster! gebrandmarkt haben’.

WPIK hatte offensichtlich eine Quelle in der Anstalt.

FRANKENSTEINS BRAUT! schrie der National Tattler von seinen Supermarktregalen.

Vom FBI gab es keinen öffentlichen Kommentar, doch innerhalb des Bureaus gab es bestimmt jede Menge davon, dessen war Starling sicher.

Beim Frühstück hatte einer ihrer Klassenkameraden, ein junger Mann, der reichlich After-shave trug, Starling als ‘Melvin Pelvis’ bezeichnet, eine dumme Wortspielerei mit dem Namen von Melvin Purvis, Hoovers G-Man Nummer eins in den dreißiger Jahren. Was Ardelia Mapp zu dem jungen Mann sagte, ließ ihn erbleichen, und er ließ sein Frühstück unangetastet auf dem Tisch stehen.

Nun fand Starling sich in einem merkwürdigen Zustand, in dem sie nicht überrascht werden konnte. Einen Tag und eine Nacht lang hatte sie sich der klingenden Stille eines Tauchers ausgesetzt gefühlt. Sie hatte vor, sich zu verteidigen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam.

Der Dozent drehte das Rouletterad, während er sprach, ließ jedoch die Kugel nie fallen. Als sie ihn so betrachtete, war Starling überzeugt, daß er die Kugel in seinem Leben nie hatte fallen lassen. Er sagte gerade etwas: »Clarice Starling.« Warum sagte er ‘Clarice Starling’? Das bin ich.

»Ja«, sagte sie.

Der Dozent deutete mit dem Kinn auf die Tür hinter ihr. Da hätten wir’s. Ihr Schicksal schien sich zu vollenden, als sie sich zur Tür umdrehte. Es war jedoch Brigham, der Ausbilder für Geschützwesen, der sich in den Raum lehnte, um über die Menge auf sie zu deuten. Als sie ihn sah, winkte er sie heran.

Eine Sekunde lang glaubte sie, daß man sie hinauswerfen würde, doch das wäre nicht Brighams Job.

»Aufsatteln, Starling. Wo ist Ihre Feldausrüstung?« fragte er auf dem Gang.

»In meinem Zimmer — C-Flügel.«

Dann mußte sie rasch laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Er trug den großen Fingerabdruckkasten aus der Requisiten-kammer — den guten, nicht den Kasten für den Unterricht — und einen kleinen Segeltuchbeutel.

»Sie ziehen heute mit Jack Crawford los. Nehmen Sie Nachtzeug mit. Sie sind vielleicht früher zurück, aber nehmen Sie’s mal lieber mit.«

»Wohin?«

»Einige Entenjäger in West Virginia haben gegen Tagesanbruch im Elk River eine Leiche gefunden. In einer für Buffalo Bill typischen Situation. Hilfssheriffs bringen sie heraus. Es ist finsterste Provinz, und Jack ist nicht geneigt zu warten, bis diese Jungs mit Einzelheiten auftauchen.« Brigham blieb an der Tür zum C-Flügel stehen. »Er braucht jemanden, der ihm helfen kann, unter anderem Abdrücke von einer Wasserleiche zu nehmen. Sie kennen die Routine doch vom Labor her — Sie können das, stimmt’s?«

»Jaaa, lassen Sie mich das Zeug mal checken.«

Brigham hielt den Fingerabdruckkasten auf, während Sterling die Tabletts heraushob. Die dünnen Spritzen zur subkutanen Injektion und die Phiolen waren vorhanden, doch die Kamera fehlte.

»Ich brauch’ die Eins-zu-eins-Polaroid, die CU-5, Mr. Brigham, und Filmpacks und Batterien dafür.«

»Aus der Requisite? Gebongt.«

Er reichte ihr den kleinen Segeltuchbeutel, und als sie sein Gewicht spürte, wurde ihr klar, warum gerade Brigham sie abgeholt hatte.

»Sie haben noch keine Pistole, oder?«

»Nein.«

»Sie müssen doch voll ausgerüstet sein. Dies ist das Holster, das Sie auf dem Schießstand getragen haben. Der Revolver gehört mir. Es ist die gleiche Smith mit K-Rahmen, mit der Sie trainiert haben, doch sie läßt sich leichter bedienen. Probieren Sie sie heute abend in Ihrem Zimmer ohne Patronen aus, wenn Sie Gelegenheit dazu haben. Ich bin in genau zehn Minuten mit der Kamera in einem Wagen hinter dem C-Flügel. Hören Sie, im Blue Canoe gibt es kein Klo. Gehen Sie auf die Toilette, während Sie noch die Gelegenheit dazu haben, lautet mein Rat. Hopphopp, Starling.«

Sie versuchte ihm eine Frage zu stellen, doch er war schon auf dem Weg.

Muß Buffalo Bill sein, wenn Crawford selbst hinfährt. Was zum Teufel ist das Blue Canoe? Man muß sich jedoch aufs Packen besinnen, wenn man packt. Starling packte schnell und gut.

»Ist —«

»Das ist okay«, unterbrach Brigham, als sie in den Wagen stieg. »Der Kolben drückt ein bißchen gegen Ihre Jacke, wenn jemand danach sucht, aber für jetzt ist es in Ordnung.« Sie trug den stupsnasigen Revolver in einem Halfter aus Leder minderer Qualität dicht an den Rippen unter ihrem Blazer, dazu einen Schnellader, der schräg über ihrem Gürtel auf der anderen Seite saß.

Brigham fuhr genau mit Tempolimit zum Behelfsflughafen von Quantico.

Er räusperte sich. »Etwas Gutes am Schießstand ist, Sterling, daß es dort draußen keine Politik gibt.«

»Nein?«

»Sie hatten recht, diese Garage dort oben in Baltimore zu sichern. Etwa wegen des Fernsehens beunruhigt?«

»Sollte ich?«

»Wir sind doch hier unter uns, richtig?«

»Richtig.«

Brigham erwiderte den Gruß eines Angehörigen des Marineinfanteriekorps, der den Verkehr regelte.

»Dadurch, daß er Sie heute mitnimmt, zeigt Jack Vertrauen in Sie, wo es keinem entgehen kann«, sagte er. »Für den Fall, angenommen, daß ein im Amt für Arbeitsmoral und Berufsethos Zuständiger Ihre Akte vor sich und dazu noch Muffensausen hat. Verstehen Sie, was ich Ihnen sage?«

»Mhmmm.«

»Crawford ist ein Typ, der sich voll und ganz einsetzt. Er hat da, wo es darauf ankommt, klargemacht, daß Sie den Tatort sichern mußten. Er hat Sie bloß da hingeschickt — bloß im Sinne von bar Ihrer ganzen sichtbaren Autoritätssymbole, und das hat er auch gesagt. Und es dauerte seine Zeit, bis die Baltimorer Polizei reagierte. Außerdem braucht Crawford heute Ihre Hilfe. Er würde eine Stunde warten müssen, bis Jimmy Price jemanden hier vom Labor bekäme. Sie haben also eine ziemlich schwierige Aufgabe vor sich, Starling. Eine Wasserleiche ist ebenfalls kein Zuckerschlecken. Es ist keine Bestrafung für Sie, doch wenn ein Außenstehender es so sehen müßte, könnte er es als solche interpretieren. Sehen Sie, Crawford ist ein sehr hintergründiger Bursche, aber er ist nicht geneigt, Dinge zu erklären. Deshalb erzähle ich Ihnen das… wenn Sie mit Crawford arbeiten, sollten Sie wissen, wie das ist — wissen Sie es?«

»Wirklich nicht.«

»Neben Buffalo Bill hat er eine Menge anderer Sachen im Kopf. Seine Frau Bella ist wirklich krank. Sie ist… im Endstadium. Er pflegt sie bei sich zu Hause. Wenn es nicht um Buffalo Bill ginge, hätte er Urlaub aus dringenden familiären Gründen genommen.«

»Das hab’ ich nicht gewußt.«

»Darüber wird nicht geredet. Sagen Sie ihm nicht, es täte Ihnen leid oder so, das hilft ihm nicht… sie hatten eine gute Zeit.«

»Ich bin froh, daß Sie es mir gesagt haben.«

Brigham wurde munterer, als sie den Flugplatz erreichten. »Am Ende des Feuerwaffenkurses halte ich ’n paar wichtige Vorträge, Starling, verpassen Sie sie möglichst nicht.« Er nahm eine Abkürzung zwischen einigen Hangars.

»Werd’ ich nicht.«

»Hören Sie, was ich lehre, ist etwas, das Sie wahrscheinlich niemals tun werden müssen. Das hoffe ich jedenfalls. Sie haben jedoch beträchtliche Begabung, Starling. Wenn Sie schießen müssen, können Sie schießen. Machen Sie Ihre Übungen.«

»Jawohl.«

»Stecken Sie ihn auf keinen Fall in Ihre Handtasche.«

»Jawohl.«

»Drücken Sie ihn nachts ein paarmal in Ihrem Zimmer ab. Bewahren Sie ihn so auf, daß Sie ihn leicht finden können.«

»Mach’ ich.«

Auf dem Behelfsflugplatz von Quantico stand eine ehrwürdige zweimotorige Beechcraft mit sich drehenden Funkbaken und offener Tür auf der Rollbahn. Ein Propeller drehte sich bereits und zauste das Gras neben der Rollbahn.

»Das kann doch wohl kaum die Blue Canoe sein«, sagte Starling.

»Doch.«

»Sie ist klein, und sie ist alt.«

»Sie ist alt«, erwiderte Brigham vergnügt. »Die Drogenfahndung hat sie vor langer Zeit in Florida beschlagnahmt, als sie in den Ever Glades runtersackte. Jetzt ist sie allerdings mechanisch intakt. Hoffentlich kommen Gramm und Rudman nicht dahinter, daß wir sie benutzen — wir sollen eigentlich mit dem Bus fahren.« Er hielt neben dem Flugzeug an und holte Starlings Gepäck vom Rücksitz. In einem Durcheinander von Händen brachte er es fertig, ihr das Zeug zu geben und ihr die Hand zu schütteln.

Und dann, ohne es zu wollen, sagte Brigham: »Alles Gute, Starling.« Die Worte waren für seinen Infanteriejargon ungewohnt. Er wußte nicht, wo sie herkamen, und sein Gesicht fühlte sich heiß an.

»Danke… vielen Dank, Mr. Brigham.«

Crawford saß hemdsärmelig und mit Sonnenbrille auf dem Kopilotensitz. Er drehte sich zu Starling um, als er hörte, wie der Pilot die Tür zuknallte.

Sie konnte seine Augen hinter der dunklen Brille nicht sehen, und ihr kam es vor, als würde sie ihn nicht kennen. Crawford sah bleich und unbeugsam aus, wie eine Wurzel, die ein Bulldozer hochschiebt.

»Machen Sie sich’s bequem und lesen Sie«, war alles, was er sagte.

Eine dicke Akte lag auf dem Sitz hinter ihm. Auf dem Einband Stand BUFFALO BILL. Starling drückte sie fest an sich, als die Blue Canoe röhrte und erzitterte und zu rollen begann.

11

Die Ränder der Rollbahn wurden undeutlich und wichen zurück. Im Osten war das Aufleuchten der Morgensonne vor der Chesapeake Bay zu sehen, als das kleine Flugzeug die belebten Flugrouten hinter sich ließ.

Clarice Starling konnte die Schule dort unten erkennen und die sie umgebende Marinebasis in Quantico. Auf der Strecke, wo Überfälle nachgestellt wurden, rauften und rannten winzige Figuren vom Marine Corps.

So sah es von oben aus.

Als sie einmal im Dunkeln nach einer Nachtfeuerübung die verlassene Hogan’s Alley entlangging, da entlangging, um nachzudenken, hatte sie Flugzeuge über sich dröhnen gehört und dann, in der neuen Stille, Stimmen, die im schwarzen Himmel über ihr riefen — Luftlandetruppen bei einem Nachtabsprung, die einander zuriefen, während sie durch die Dunkelheit herunterkamen. Und sie fragte sich, was für ein Gefühl es sei, bei der Flugzeugtür auf das grüne Licht zu warten, was für ein Gefühl es sei, in das brüllende Dunkel zu tauchen.

Vielleicht war es ein Gefühl wie dieses hier.

Sie schlug die Akte auf.

Er hatte es fünfmal getan, ja, und davon wußten sie. Mindestens fünfmal und wahrscheinlich noch öfter hatte er im Verlauf der letzten zehn Monate eine Frau gewaltsam entführt, sie umgebracht und abgehäutet. (Starlings Blick jagte die Autopsieprotokolle zu den freien Histamintests hinunter, um bestätigt zu finden, daß er sie tötete, ehe er das übrige tat.)

Er warf jede Leiche in ein fließendes Gewässer, wenn er mit seinem Job fertig war. Jede Leiche wurde in einem anderen Fluß gefunden, flußabwärts von einer Interstate Highway-Kreuzung, jede in einem anderen Bundesstaat. Jeder wußte, daß Buffalo Bill sehr viel umherreiste. Das war alles, was dem Gesetz über ihn bekannt war, absolut alles, mit Ausnahme dessen, daß er mindestens eine Pistole besaß. Der Lauf hatte sechs Felder und Rillen und wies einen Linksdrall auf — möglicherweise ein Coltrevolver oder eine coltähnliche Waffe. Schleifspuren auf wiederentdeckten Kugeln deuteten darauf hin, daß er es vorzog, .38er Specials in den längeren Kammern einer .357er abzufeuern.

Die Flüsse hinterließen keine Fingerabdrücke, keine Beweisspuren von Haaren oder Fasern.

Beinahe mit Sicherheit war er Weißer: weiß, da Serientäter ge-wöhnlich innerhalb ihrer eigenen Volksgruppe morden und alle Opfer weiß waren; männlich, da Serientäterinnen in unserem Zeitalter praktisch unbekannt sind.

Zwei Großstadtkolumnisten hatten in Cummings’ schrecklichem kleinen Gedicht ‘Buffalo Bill’ eine Schlagzeile gefunden: … wie magst du deinen blauäugigen Jungen Mister Tod.

Jemand, vielleicht Crawford, hatte das Zitat auf die Innenseite der Akte geklebt.

Es gab keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Ort, wo Bill die jungen Frauen entführte, und dem, wo er sie ablud.

In den Fällen, in denen die Leichen rechtzeitig genug für eine genaue Festsetzung der Todeszeit gefunden wurden, erfuhr die Polizei etwas weiteres über den Killer: Bill ließ sie eine Zeitlang am Leben. Diese Opfer starben erst eine Woche bis zehn Tage nach ihrer Entführung. Das bedeutete, daß er einen Ort haben mußte, an dem er sie festhalten konnte, sowie einen Ort, wo er ungestört arbeiten konnte. Es bedeutete, daß er kein ziellos herumreisender Mensch war. Er glich eher einer Falltürspinne. Mit seinen eigenen Verstecken. Irgendwo.

Daß er sie eine Woche oder länger mit dem Wissen festhielt, er würde sie umbringen, erfüllte die Öffentlichkeit mehr als alles andere mit Abscheu.

Zwei wurden erhängt, drei erschossen. Es gab keinen Beweis für Vergewaltigung oder körperlichen Mißbrauch vor dem Tod, und die Autopsieprotokolle verzeichneten keinen Beweis ‘spezifisch genitaler’ Entstellung, auch wenn die Pathologen vermerkten, daß es nahezu unmöglich sei, derartiges bei den verwesteren Leichen zu bestimmen.

Alle wurden nackt gefunden. In zwei Fällen entdeckte man die äußeren Kleidungsstücke der Opfer neben der Straße in der Nähe ihrer Wohnungen, wie Leichenhemden am Rücken entlang aufgeschlitzt.

Verhältnismäßig gefaßt sah Starling die Fotos durch. Rein körperlich gesehen sind Wasserleichen die schlimmste Art von Toten. Sie haben so etwas fürchterlich Mitleiderregendes an sich, wie es häufig bei Mordopfern im Freien der Fall ist. Die Erniedrigung, die das Opfer erleidet, den Elementen und beiläufigen Blicken ausgesetzt zu sein, verärgern einen, wenn der Job einem Ärger gestattet.

Bei Morden in geschlossenen Räumen häufen sich oft Beweise unschöner persönlicher Gewohnheiten eines Opfers — verprügelte Ehepartner, mißhandelte Kinder — und geben einem ein, daß der Tote das längst verdient hatte, und viele Male stimmte das auch.

Dies hatte allerdings keiner verdient. Hier hatten sie noch nicht einmal ihre Haut, als sie an mit Abfall verunzierten Flußufern zwischen den Außenbordmotorölflaschen und Sandwichtüten lagen, die zu dem landesüblichen Dreck gehören. Die Kaltwetterleichen behielten größtenteils ihr Gesicht. Starling rief sich ins Gedächtnis, daß sie die Zähne nicht im Schmerz bleckten, sondern daß Schildkröten und Fische diesen Ausdruck während des Fressens geschaffen hatten. Bill zog die Torsos ab und verschonte die Glieder in der Hauptsache.

Es wäre nicht so schwer gewesen, sie sich anzuschauen, fand Starling, wenn es in dieser Flugzeugkabine nicht so warm wäre und wenn die verdammte Maschine nicht jedesmal so unheimlich gierte, wenn ein Propeller die Luft besser auffing als der andere, und wenn die gottverdammte Sonne nicht so an den verkratzten Fenstern absplittern und wie ein Kopfschmerz stechen würde.

Es ist möglich, ihn dingfest zu machen. Starling klammerte sich an diesen Gedanken, um leichter in dieser immer kleiner werdenden Flugzeugkabine sitzen zu können, den Schoß voller entsetzlicher Informationen. Sie könnte helfen, seinem Tun ein Ende zu setzen. Dann könnten sie diese etwas klebrige Akte mit dem glatten Einband in die Schublade zurücklegen und sie ein für allemal vergessen.

Sie starrte Crawfords Hinterkopf an. Wenn sie Buffalo Bill erwischen wollte, war sie in der richtigen Gesellschaft. Crawford hatte erfolgreiche Jagden nach drei Serientätern organisiert, allerdings nicht ohne Verluste. Will Graham, der schärfste Spürhund, der je in Crawfords Meute mitrannte, war eine Legende in der Akademie; dazu war er jetzt ein Gewohnheitstrinker in Florida mit einem Gesicht, das man sich kaum anschauen konnte, hieß es.

Vielleicht spürte Crawford, daß sie seinen Hinterkopf anstarrte. Er kletterte aus dem Kopilotensitz. Der Pilot betätigte das Trimmsteuer, als Crawford nach hinten zu ihr kam und sich neben ihr anschnallte. Als er seine Sonnenbrille zusammenklappte und seine Zweistärkenbrille aufsetzte, hatte sie das Gefühl, ihn wieder zu kennen.

Als er von ihrem Gesicht auf den Bericht und wieder zurück blickte, zog etwas hinter seinem Gesicht vorbei und war rasch verschwunden. Eine ausdrucksvollere Miene als die Crawfords hätte Bedauern ausgedrückt.

»Mir ist heiß, Ihnen auch?« bemerkte er. »Bobby, es ist verdammt heiß hier drinnen«, rief er dem Piloten zu. Bobby regulierte irgend etwas, und kalte Luft strömte herein. In der feuchten Kabine bildeten sich ein paar Schneeflocken und sanken auf Starlings Haar nieder.

Dann war Jack Crawford auf der Jagd, und seine Augen leuchteten wie ein Wintertag.

Er schlug die Akte bei einer Landkarte der mittleren und östlichen Vereinigten Staaten auf. Darauf waren Stellen, an denen man Leichen entdeckt hatte, markiert — verstreute Punkte, so stumm und gebogen wie Orion.

Crawford nahm einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und zeichnete die neueste Stelle, ihr Ziel, ein.

»Elk River, etwa sechs Meilen unterhalb der US 79«, sagte er. »Bei dieser hier haben wir Glück. Die Leiche hat sich in einer Trottleine verhakt — einer im Fluß ausgelegten langen, straffgezogenen Angelschnur. Sie glauben nicht, daß sie allzulang im Wasser gelegen hat. Sie bringen sie nach Potter, der Kreisstadt. Ich will schnellstens herauskriegen, wer sie ist, damit wir systematisch nach Zeugen der Entführung suchen können. Wir werden die Abdrücke auf einer Überlandleitung zurückschicken, sobald wir sie bekommen.« Crawford neigte den Kopf, um Starling durch den Unterteil seiner Brille anzusehen. »Jimmy Price sagt, Sie können mit einer Wasserleiche umgehen.«

»Eigentlich ist mir noch nie eine ganze Wasserleiche untergekommen«, entgegnete Starling. »Ich habe Fingerabdrücke von den Händen abgenommen, die Mr. Price täglich mit der Post bekam, ’ne ganze Menge davon stammten allerdings von Wasserleichen.«

Diejenigen, die noch nie unter Jimmy Prices Aufsicht gestanden hatten, hielten ihn für einen liebenswerten Brummbär. Wie die meisten Brummbären war er in Wirklichkeit ein ekelhafter alter Mann. Jimmy Price war Supervisor in der Abteilung für latente Fingerabdrücke im FBI-Labor in Washington. Als Studentin der Gerichtsmedizin hatte Starling ihre Praktika bei ihm gemacht.

»Dieser Jimmy«, sagte Crawford liebevoll. »Wie nennen sie diesen Job doch gleich…«

»Die Position heißt ‘Laborwicht’, oder einige bevorzugen ‘Igor’ — das steht auf der Gummischürze gedruckt, die sie einem geben.«

»Genau.«

»Sie kriegen gesagt, Sie sollen so tun, als sezierten Sie einen Frosch.«

»Ich verstehe —«

»Dann bringen sie einem ein Paket von UPS. Sie gucken alle zu — manche kommen eiligst von der Kaffeepause zurück in der Hoffnung, daß man kotzt. Ich bin sehr gut im Abnehmen von Fingerabdrücken von einer Wasserleiche. In der Tat —«

»Gut, nun schauen Sie sich mal dies an. Sein erstes uns bekanntes Opfer wurde letzten Juni im Blackwater River in Missouri gefunden, außerhalb von Lone Jack. Das Bimmel-Mädchen; zwei Monate vorher hatte man sie am 15. April in Belvedere, Ohio, als vermißt gemeldet. Wir konnten nicht viel über die Sache sagen — allein sie zu identifizieren, hat weitere drei Monate gedauert. Die nächste schnappte er sich in der dritten Aprilwoche in Chicago.

Sie wurde im Geschäftsviertel von Lafayette, Indiana, im Wash-bash entdeckt, und zwar bereits zehn Tage nach ihrer Entführung; somit konnten wir feststellen, was mit ihr passiert war. Als nächstes entdeckten wir eine Weiße, Anfang Zwanzig, im Rolling Fork in der Nähe der Interstate 65 abgeladen, ungefähr fünfzig Kilometer südlich von Louisville, Kentucky. Sie ist nie identifiziert worden. Und dann die Varner, die in Evansville, Indiana, entführt und direkt unterhalb der Interstate 70 im östlichen Illinois in den Embarras geworfen wurde.

Dann zog er nach Süden und lud eine im Conasauga unterhalb von Damascus, Georgia, ab, die Interstate 75 runter, das war dieses Kittridge-Mädchen aus Pittsburgh — hier ist ein Foto von ihrer Abschlußfeier. Er hat unerhörtes Glück — es hat ihn nie jemand dabei beobachtet, wie er sich ein Mädchen geschnappt hat. Abgesehen davon, daß die Abladeplätze dicht bei einer Interstate sind, haben wir kein Muster erkannt.«

»Wenn man die Routen mit der höchsten Verkehrsdichte von den Abladeplätzen zurückverfolgt, laufen sie dann überhaupt zusammen?«

»Nein.«

»Was, wenn man… als gegeben voraussetzt…, daß er auf dem gleichen Weg eine Leiche ablädt und eine neue Entführung inszeniert?« fragte Starling, sorgfältig das verbotene Wort annehmen (wir erinnern uns, assume) vermeidend. »Er würde die Leiche doch wohl zuerst absetzen, falls er beim Entführen der nächsten Person in Schwierigkeiten geriete? Wenn er nämlich dabei erwischt würde, wie er jemanden entführt, könnte er mit tätlichem Angriff davonkommen und es auf Null herunterplädieren, wenn er keine Leiche in seinem Wagen hätte. Wenn man also von jedem Schauplatz einer Entführung rückwärts anhand von Meßgeräten Spuren durch den vorhergehenden Abladeplatz zeichnete? Haben Sie das versucht?«

»Das ist eine gute Idee, die er aber auch gehabt hat. Wenn er beides auf gleichem Weg macht, bewegt er sich im Zickzack. Wir haben Computersimulierungen vorgenommen, zuerst mit ihm auf den Interstates in Richtung Westen fahrend, dann nach Osten, dann verschiedene Kombinationen mit den besten Daten, die wir mit den Abladeplätzen und Entführungen in Verbindung bringen können. Sie geben es in den Computer ein, aber es kommt nichts dabei heraus. Er wohnt im Osten, erklärt uns der Computer. Er ist nicht in einem Mondzyklus, erklärt er uns. Daten von Tagungen in den Städten sind nicht mit unseren Daten in Übereinstimmung zu bringen. Nichts Greifbares, Schall und Rauch. Nein, er hat uns kommen sehen, Starling.«

»Sie meinen, er ist zu vorsichtig für einen Selbstmord.«

Crawford nickte. »Entschieden zu vorsichtig. Er hat entdeckt, wie man ein für ihn wichtiges Erfolgserlebnis haben kann, und er will es oft tun. Ich steigere mich nicht in die Hoffnung auf einen Selbstmord.«

Crawford reichte dem Piloten einen Becher Wasser aus einer Thermosflasche. Er gab Starling einen und mixte sich selbst ein Alka-Seltzer.

Ihr Magen hob sich, als das Flugzeug zur Landung ansetzte.

»’n paar Dinge, Starling. Ich erwarte Erstklassiges in Sachen Gerichtsmedizin von Ihnen, doch ich brauche mehr als das. Sie reden nicht viel, und das ist okay. Ich auch nicht. Kommen Sie aber ja nie auf die Idee, mir ein neues Fakt mitteilen zu müssen, bevor Sie es belegen können. Es gibt keine dummen Fragen. Sie werden Dinge sehen, die ich nicht sehe, und ich möchte erfahren, was das für Dinge sind. Vielleicht haben Sie Geschick dafür. Auf einmal haben wir diese Gelegenheit zu sehen, ob dem so ist.«

Wie sie ihm mit sich hebendem Magen und entsprechend ge-spanntem Ausdruck so zuhörte, fragte Starling sich, wie lange Crawford gewußt hatte, daß er sie auf diesen Fall ansetzen würde, wie hungrig nach einer Chance er sie haben wollte. Er war ein Führer, mit dem ach so aufrichtigen Scheißgeschwätz eines Führers, na schön.

»Sie denken eingehend über ihn nach, Sie schauen sich an, wo er gewesen ist. Sie bekommen ein Gespür für ihn«, fuhr Crawford fort. »Sie müssen die ganze Zeit noch nicht einmal eine Abneigung gegen ihn haben, so schwer das auch zu glauben ist. Wenn Sie dann Glück haben, zupft etwas von all dem, was Sie wissen, am Ärmel und versucht Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Geben Sie mir immer Bescheid, wenn es zupft, Starling.

Hören Sie mir zu, ein Verbrechen ist verwirrend genug ohne die komplizierenden Untersuchungen. Lassen Sie sich nicht von einem Rudel Polizisten durcheinanderbringen. Leben Sie direkt hinter Ihren Augen. Hören Sie auf sich selbst. Trennen Sie das Verbrechen von dem, was sich jetzt um Sie herum abspielt. Versuchen Sie nicht, diesem Burschen irgendein Muster oder irgendeine Symmetrie aufzuerlegen. Bleiben Sie offen und lassen Sie es sich von ihm zeigen.

Noch etwas: Eine Untersuchung wie diese ist ein Zoo. Sie verteilt sich auf zahlreiche Verwaltungsbezirke, und ein paar werden von Verlierern geleitet. Wir müssen mit ihnen auskommen, damit sie uns nichts verheimlichen. Wir fliegen nach Potter, West Virginia. Ich weiß nichts über diese Leute, zu denen wir fliegen. Vielleicht sind sie in Ordnung, vielleicht halten sie uns aber auch für die vom Zoll.«

Der Pilot zog einen Kopfhörer vom Ohr und sagte über die Schulter: »Endgültiger Anflug, Jack. Bleibst du da hinten?«

»Yeah«, sagte Crawford. »Die Schule ist aus, Starling.«

12

Hier war nun also die Leichenhalle von Potter, das größte weiße Holzhaus in der Potter Street in Potter, West Virginia, das als Leichenschauhaus für Rankin County dient. Der Coroner war ein Hausarzt namens Dr. Akin. Wenn er verfügte, daß ein Todesfall verdächtig war, wurde die Leiche zum Claxton Regional Medical Center im Nachbarlandkreis geschickt, das einen voll ausgebildeten Pathologen hatte.

Clarice Starling, die vom Flugplatz aus auf dem Rücksitz eines Funkstreifenwagens des Sheriffs nach Potter hineinfuhr, mußte sich dicht an die Gefangenentrennwand lehnen, um den Hilfssheriff am Steuer zu verstehen, als er Jack Crawford diese Dinge erklärte.

In der Leichenhalle war alles für einen Gottesdienst bereit. Die Trauergäste im ländlichen Sonntagsstaat bevölkerten den Bürgersteig zwischen spindeligen Buchsbäumen und bildeten Grüppchen auf den Stufen, während sie auf den Einlaß warteten. Das frisch angestrichene Haus und die Treppe hatten sich im Laufe der Zeit in einander entgegengesetzte Richtungen geneigt und sahen leicht schief aus.

Auf dem Privatparkplatz hinter dem Gebäude, wo die Leichenwagen warteten, standen zwei junge Hilfssheriffs und ein alter mit zwei State Troopern, Leuten der Grenzpolizei, unter einer kahlen Ulme. Es war nicht so kalt, daß ihr Atem dampfen konnte.

Starling schaute sich diese Männer an, als der Streifenwagen auf den Parkplatz einbog, und wußte sofort über sie Bescheid. Sie wußte, daß sie aus Häusern kamen, in denen es Plastikbehälter für die Kleidung statt Wandschränke gab. Und sie wußte ziemlich genau, was in diesen Plastikschränken war. Sie wußte, daß diese Männer Verwandte hatten, die ihre Kleidung in Kleidertaschen an den Wänden ihrer Wohnmobile aufhängten. Sie wußte, daß der ältere Deputy mit einer Pumpe auf der Veranda aufgewachsen und im schlammigen Frühjahr mit seinen Schuhen an den Schnürsenkeln um den Hals hängend zur Straße gewatet war, um den Schulbus zu erwischen, genau wie ihr Vater es getan hatte. Sie wußte, daß sie ihre Mittagsimbisse in Papiertüten zur Schule mitnahmen, die Fettflecken von mehrmaligem Gebrauch aufwiesen, und daß sie die Tüten nach der Mittagspause zusammenfalteten und in die Hintertaschen ihrer Jeans steckten.

Sie fragte sich, wieviel Crawford über sie wußte.

An der Innenseite der Hintertüren im Streifenwagen gab es keine Griffe, wie Starling entdeckte, als der Fahrer und Crawford ausstiegen und auf den rückwärtigen Teil der Leichenhalle zugingen. Sie mußte an die Scheibe schlagen, bis einer der Hilfssheriffs unter dem Baum sie sah, und der Fahrer mit rotem Gesicht zurückkam, um sie herauszulassen.

Die Deputies betrachteten sie von der Seite, als sie vorbeiging.

Einer sagte »Ma’am«. Sie nickte ihnen zu und schenkte ihnen ein knapp bemessenes Lächeln, bevor sie sich Crawford auf der hinteren Veranda anschloß.

Als sie weit genug weg war, kratzte sich einer der jüngeren Hilfsheriffs, ein Neuverheirateter, unter dem Kinn und sagte: »Sie sieht nicht halb so gut aus, wie sie sich einbildet.«

»Na, wenn sie nur meint, sie sähe ziemlich verdammt gut aus, müßte ich ihr beipflichten«, sagte der andere junge Deputy. »Ich würd’ sie mir aufsetzen wie ’ne Mark-Five-Gasmaske.«

»Ich würd’ ebensogern ’ne große Wassermelone nehmen, wenn sie kalt wäre«, sagte der ältere Deputy, halb zu sich selbst.

Crawford unterhielt sich bereits mit dem Sheriff, einem kleinen drahtigen Mann mit einer Brille mit Stahlrand und der Art Stiefel mit Elastikeinsätzen, die in den Katalogen ‘Romeos’ heißen.

Sie waren in den halbdunklen hinteren Korridor der Leichenhalle gegangen, wo ein Colaautomat summte und wahllos merkwürdige Gegenstände gegen die Wand gelehnt standen — eine Nähmaschine mit Fußantrieb und ein Dreirad, eine Rolle Kunstrasen und eine um ihre Pfosten gewickelte gestreifte Segeltuch-markise. An der Wand hing ein braungrundiger Druck der Heiligen Cäcilie. Ihr Haar war um ihren Kopf herum geflochten, und aus dem Nichts schwebten stimmungsvoll Rosen.

»Ich bin Ihnen dafür dankbar, daß Sie uns so schnell Bescheid gegeben haben, Sheriff«, sagte Crawford.

Der Chief Deputy ließ sich auf nichts ein. »Jemand aus dem Büro des Staatsanwalts hat Sie angerufen«, sagte er. »Ich weiß, daß der Sheriff Sie nicht angerufen hat — Sheriff Perkins ist zur Zeit mit Mrs. Perkins auf einer Gesellschaftsreise in Hawaii. Ich habe heute morgen um acht Uhr, also drei Uhr morgens hawaiische Zeit, ein Ferngespräch mit ihm geführt. Er wird mich im Verlauf des Tags zurückrufen, aber er hat mir gesagt, Job Nr. 1 sei, herauszufinden, ob dies eines unserer einheimischen Mädchen ist. Könnte ja sein, daß uns auswärtige Typen einfach etwas untergeschoben haben. Wir kümmern uns erst mal darum, bevor wir irgend etwas anderes machen. Ist schon vorgekommen, daß die den ganzen Weg von Phenix City, Alabama, Leichen hierhergeschleppt haben.«

»Genau da können wir Ihnen helfen, Sheriff. Wenn —«

»Ich habe mit dem Felddienstkommandeur der State Troopers in Charleston telefoniert. Er schickt ein paar Beamte von der Criminal Investigation Section, der Kriminalpolizei — als CIS bekannt. Sie bieten uns die ganze Unterstützung, die wir brauchen.« Der Korridor füllte sich langsam mit Deputy Sheriffs und Troopern; der Chef Deputy hatte ein zu großes Publikum. »Wir werden uns, sobald wir können, mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihnen jede Gefälligkeit erweisen, mit Ihnen in jeder nur möglichen Hinsicht zusammenarbeiten, aber jetzt im Moment —«

»Sheriff, diese Art Sexualverbrechen besitzt einige Aspekte, die ich lieber nur zwischen uns Männern erörtern würde, Sie verstehen doch, was ich meine?« sagte Crawford und deutete mit einer leichten Kopfbewegung Starlings Anwesenheit an. Er drängte den kleineren Mann in ein überladenes Büro vom Gang ab und schloß die Tür. Starling mußte ihren Ärger wohl oder übel vor den schnatternden Hilfssheriffs verbergen. Mit fest zusammengebissenen Zähnen starrte sie die Heilige Cäcilie an und gab das entrückte Lächeln der Heiligen zurück, während sie durch die Tür lauschte. Sie konnte laute Stimmen hören, dann Bruchstücke eines Telefongesprächs. In weniger als vier Minuten waren die beiden wieder auf dem Gang draußen.

Der Mund des Sheriffs war verkniffen. »Oscar, geh vorn raus und hol Dr. Akin. Er ist quasi verpflichtet, diesen Riten beizuwohnen, aber ich glaube nicht, daß sie da draußen schon angefangen haben. Sag ihm, wir haben Claxton am Apparat.«

Dr. Akin, der Coroner, kam in das kleine Büro und stellte einen Fuß auf den Stuhl, während er sich mit einem Fächer gegen die Vorderzähne klopfte und sich kurz telefonisch mit dem Pathologen in Claxton beriet. Anschließend erklärte er sich mit allem einverstanden.

Und so stieß Clarice Starling in einem weißen Holzhaus einer Sorte, die ihr nicht fremd war, in einem Raum zum Einbalsamieren mit Zentifolien auf der Tapete und einem unter seiner hohen Decke hinschimmelnden Bild auf ihren ersten direkten Beweis von Buffalo Bill.

Der fest mit einem Reißverschluß zugezogene hellgrüne Plastiksack war das einzige moderne Objekt im Raum. Er lag auf einem altmodischen Balsamiertisch aus Porzellan, der sich wiederholt in den Glasscheiben der Vitrine widerspiegelte, die Packungen mit Balsamierflüssigkeit und hohlen, kräftigen Metallnadeln enthielt.

Crawford holte den Fingerabdrucktransmitter aus dem Wagen, während Starling ihre Ausrüstung auf dem Abtropfbrett eines großen Doppelbeckens an der Wand auspackte.

Im Raum waren zu viele Leute. Mehrere Hilfssheriffs, der Chief Deputy, alle waren mit ihnen hereingeströmt und machten keine Anstalten zu gehen. Es war nicht richtig. Warum griff Crawford nicht hart durch und wurde sie los?

Die Tapete bauschte sich in einem Windzug, zog sich nach innen, als der Doktor den großen staubigen Frischluftventilator anstellte.

Clarice Starling, die am Waschbecken stand, brauchte nun ein Urbild an Mut, das in der Wirkung treffender und nachhaltiger war als das eines Fallschirmsprungs des Marineinfanteriekorps.

Das Bild kam und half ihr, bewegte sie aber auch tief:

Ihre Mutter, die am Spülbecken stand, Blut aus dem Hut ihres Vaters auswusch, kaltes Wasser über den Hut laufen ließ und sagte: »Wir werden in Ordnung sein, Clarice. Sag deinen Geschwistern, sie sollen sich Gesicht und Hände waschen und sich an den Tisch setzen. Wir müssen reden, und dann werden wir unser Abendessen richten.«

Starling nahm ihr Kopftuch ab, band es sich ums Haar wie eine Berghebamme und nahm ein Paar Chirurgenhandschuhe aus ihrem Köfferchen. Als sie in Potter zum ersten Mal den Mund aufmachte, hatte ihre Stimme einen schärferen Klang als gewöhnlich, und die Kraft dieser Stimme brachte Crawford an die Tür, um zuzuhören. »Meine Herren. Meine Herren! Sie da, Officers und Gentlemen! Hören Sie mal eine Minute her. Bitte. Lassen Sie nun mich nach ihr sehen.« Sie hielt ihnen die Hände vors Gesicht, als sie die Handschuhe anzog. »Es gibt da einiges, was wir für sie tun müssen. Sie haben sie von so weit her gebracht, und ich weiß, daß ihre Angehörigen Ihnen danken würden, wenn sie könnten. Nun gehen Sie bitte hinaus, damit ich mich um sie kümmern kann.«

Crawford sah, wie die Männer unverzüglich ruhig und ehrerbietig wurden und einander flüsternd hinausdrängten: »Los, Jess. Gehen wir auf den Hof raus.« Und Crawford sah, daß die Atmosphäre sich hier in Gegenwart der Toten verändert hatte: daß der Fluß dieses Opfer, wo immer es herkam, wer immer es sein mochte, in diesen Landstrich gebracht und daß Clarice Starling eine besondere Beziehung zu ihm hatte, während es hilflos in diesem Raum lag. Crawford sah, daß Starling an diesem Ort Erbin der Hebammen und der weisen Frauen, der Kräuterheilerinnen und der robusten Landfrauen war, die stets das Nötige getan haben, die die Totenwache halten und, wenn die Wache vorüber ist, die Toten waschen und ankleiden.

Dann waren nur noch Crawford und Starling und der Arzt mit dem Opfer im Raum, und Dr. Akin und Starling sahen einander mit einer Art gegenseitigen Erkennens an. Beide waren auf seltsame Weise erfreut, auf seltsame Weise beschämt.

Crawford nahm ein Glas Wick Vaporub aus der Tasche und reichte es herum. Starling wartete ab, was zu tun sei, und als Crawford und der Doktor es sich um den Rand ihrer Nasenlöcher strichen, machte sie es ihnen nach.

Mit dem Rücken zum Raum grub sie ihre Kameras aus der Ausrüstungstasche auf dem Abtropfbrett. Hinter sich hörte sie, wie der Reißverschluß der Plastikhülle aufgezogen wurde.

Sterling blinzelte die Zentifolien an der Wand an, holte Atem und stieß ihn aus. Sie drehte sich um und sah die Leiche auf dem Tisch an.

»Sie hätten ihr Papiertüten über die Hände streifen sollen«, sagte sie. »Ich ziehe sie ihr über, wenn wir fertig sind.« Starling setzte die Kameraautomatik außer Kraft, um die Belichtung einzugrenzen, und fotografierte die Leiche sorgfältig.

Das Opfer war eine junge Frau mit schweren Hüften, nach Starlings Bandmaß einen Meter siebzig groß. Das Wasser hatte sie dort, wo die Haut fehlte, grau ausgelaugt, doch es war kaltes Wasser gewesen, und sie hatte zweifellos nicht länger als ein paar Tage darin gelegen. Die Leiche war von einer klaren Linie direkt unter den Brüsten bis zu den Knien sauber abgehäutet, etwa die Fläche, die von Hosen und Schärpe eines Stierkämpfers bedeckt wäre.

Ihre Brüste waren klein, und zwischen ihnen, über dem Brustbein, war die offensichtliche Todesursache zu erkennen, eine schartige, sternförmige Wunde, etwa eine Handbreit groß.

Ihr runder Kopf war dicht über den Augenbrauen und Ohren bis zum Nacken auf die Knochen abgehäutet.

»Dr. Lecter hat gesagt, er würde mit Skalpieren anfangen«, sagte Starling.

Crawford stand mit gefalteten Armen da, während sie die Aufnahmen machte. »Nehmen Sie die Ohren mit der Polaroid auf«, war alles, was er sagte.

Er schürzte einzig die Lippen, als er um die Leiche herumging. Starling streifte ihren Handschuh ab, um mit dem Finger die Wade entlangzufahren. Ein Abschnitt der Trottleine mit den dreifachen Angelhaken, die sich in der Leiche verhakt und sie in der Flußströmung festgehalten hatten, war noch um das untere Bein gewickelt.

»Was sehen Sie, Starling?«

»Nun, sie ist keine Einheimische — ihre Ohren sind je dreimal durchstochen, und sie trug Glitzernagellack. Sieht mir nach Stadt aus. Sie hat etwa zwei Wochen alten Haarwuchs an den Beinen. Und sehen Sie, wie weich es nachgewachsen ist? Ich glaube, sie hat sich die Haare an den Beinen mit Wachs entfernt. Die Achselhaare ebenfalls. Schauen Sie, wie sie sich den Flaum auf der Oberlippe gebleicht hat. Sie hat ziemlich auf ihr Äußeres geachtet, aber sie hat sich eine Zeitlang nicht darum kümmern können.«

»Was ist mit der Wunde?«

»Ich weiß nicht«, sagte Starling. »Ich hätte gesagt, eine Austrittsschußwunde, bis auf die Tatsache, daß das da oben wie der Abdruck eines Halsbands und eines Maulkorbs aussieht.«

»Gut, Starling. Es ist eine Kontakteintrittswunde über dem Brustbein. Die Explosionsgase breiten sich zwischen dem Knochen und der Haut aus und sprengen den Stern um das Loch heraus.«

Auf der anderen Seite der Wand keuchte eine Orgel, als der Gottesdienst vor der Leichenhalle begann.

»Unrechtmäßiger Todesfall«, steuerte Dr. Akin kopfnickend bei. »Ich muß mindestens bei einem Teil dieses Gottesdienstes dabeisein. Die Familie erwartet immer von mir, daß ich die letzten Meter mitgehe. Lamar wird Ihnen hier drin helfen, sobald er das musikalische Opfer dargebracht hat. Ich nehme Sie beim Wort, daß Sie Beweismaterial für den Pathologen in Claxton sicherstellen, Mr. Crawford.«

»An der linken Hand hier hat sie zwei Fingernägel abgebrochen«, sagte Starling, als der Doktor weg war. »Sie sind nach hinten hoch im lebenden Fleisch abgebrochen, und es sieht aus, als seien Schmutz oder irgendwelche harten Partikel unter einige der anderen eingedrungen. Können wir Beweismaterial mitnehmen?«

»Nehmen Sie Schmutzproben und ein paar Splitter Nagellack«, sagte Crawford. »Wir sagen’s ihnen, nachdem wir die Ergebnisse erhalten haben.«

Lamar, ein hagerer Leichenhallenassistent mit Säufernase, kam herein, während sie damit beschäftigt war. »Sie müssen wohl mal Maniküre gewesen sein«, sagte er.

Sie waren froh festzustellen, daß die junge Frau keine Fingernagelspuren in den Handflächen hatte — ein Indiz dafür, daß sie, wie die anderen, gestorben war, bevor ihr noch irgend etwas anderes angetan wurde.

»Wollen Sie ihr die Abdrücke mit dem Gesicht nach unten abnehmen?« fragte Crawford.

»Wäre einfacher.«

»Machen wir zuerst die Zähne, und dann kann Lamar uns helfen, sie umzudrehen.«

»Nur Bilder oder eine Tabelle?« Starling befestigte das Zubehör für die Zahnabdrücke an der Vorderseite der Fingerabdruckkamera, innerlich erleichtert, daß alle Teile im Beutel waren.

»Nur Bilder«, entgegnete Crawford. »Eine Tabelle kann einen ohne Röntgenbilder aus dem Konzept bringen. Mit den Bildern können wir einige der fehlenden Frauen eliminieren.«

Lamar war mit seinen Organistenhänden sehr behutsam. Nach Starlings Anweisung öffnete er den Mund der jungen Frau und zog ihre Lippen zurück, so daß Starling ihr die Eins-zu-eins-Polaroid gegen das Gesicht legen konnte, um die Vorderzähne in allen Einzelheiten aufzunehmen. Dieser Teil war leicht, doch sie mußte die Backenzähne mit einem Gaumenspiegel fotografieren und von der Seite auf das Leuchten durch die Wange achten, um sicherzugehen, daß der Röhrenblitz um das Objektiv herum die Mundhöhle beleuchtete. Beim gerichtsmedizinischen Unterricht hatte sie nur gesehen, wie es gemacht wurde.

Starling sah zu, wie der erste Polaroid-Abzug der Backenzähne sich entwickelte, regulierte die Helligkeitskontrolle und versuchte es erneut. Dieser Abzug war besser. Er war sehr gut.

»Sie hat etwas im Hals«, sagte Starling,

Crawford betrachtete das Bild. Es zeigte ein dunkles zylindrisches Objekt direkt hinter dem Gaumensegel. »Geben Sie mir die Taschenlampe.«

»Wenn eine Leiche aus dem Wasser kommt, hängen oft Blätter und so Sachen im Mund«, sagte Lamar und half Crawford beim Betrachten.

Starling nahm eine Zange aus ihrem Beutel. Sie blickte Crawford über die Leiche hinweg an. Er nickte. Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie es hatte.

»Was ist es, eine Art Samenschote?« fragte Crawford.

»Nee, Sir, das ist ein Insektenkokon«, sagte Lamar. Er hatte recht.

Starling legte ihn in ein Glas.

»Vielleicht wollen Sie den County Agent einen Blick drauf werfen lassen«, meinte Lamar.

Mit dem Gesicht nach unten ließen sich von der Leiche mühelos Abdrücke machen. Starling war auf das Schlimmste gefaßt gewesen — es waren jedoch keine der ermüdenden und kniffligen Injektionsmethoden oder Fingerlinge notwendig. Für die Abdrücke verwendete sie dünnes Verarbeitungsmaterial, das in einem wie ein Schuhlöffel geformten Gerät steckte. Sie machte auch einen Satz Fußsohlenabdrücke, für den Fall, daß sie als Beleg nur auf Abdrücke des Opfers als Säugling aus einem Krankenhaus zurückgreifen konnten.

Hoch oben auf den Schultern fehlten zwei dreieckige Stücke Haut. Starling machte davon Aufnahmen.

»Auch abmessen«, sagte Crawford. »Er hat das Mädchen aus Akron geschnitten, als er ihr die Kleider aufschlitzte, nicht viel mehr als ein Kratzer, aber er paßte zu dem Schnitt am Rücken ihrer Bluse, als man diese am Straßenrand fand. Das ist allerdings etwas Neues. Das habe ich noch nicht gesehen.«

»Sieht wie eine Verbrennung über der Wade hinten aus«, sagte Starling.

»Alte Leute kriegen so was viel«, sagte Lamar.

»Was?« fragte Crawford.

»ICH SAGTE, ALTE LEUTE KRIEGEN SO WAS VIEL.«

»Ich hab’ Sie gut gehört, Sie sollen es erklären. Was ist mit alten Leuten?«

»Alte Leute sterben mit einem Heizkissen auf sich, und wenn sie tot sind, verbrennt es sie, selbst wenn es gar nicht so heiß ist. Man verbrennt unter einem Heizkissen, wenn man tot ist. Keine Zirkulation darunter.«

»Wir werden den Pathologen in Claxton bitten, es zu testen und festzustellen, ob es nach dem Tod eingetreten ist«, sagte Crawford zu Starling.

»Auspufftopf, höchstwahrscheinlich«, sagte Lamar.

»Was?«

»AUSPUFF — Auspufftopf. Da haben sie mal Billy Petrie erschossen und ihn in den Kofferraum seines Wagens geworfen. Auf der Suche nach ihm fuhr seine Frau zwei oder drei Tage mit dem Wagen umher. Als sie ihn hierherbrachten, war der Auspufftopf unter dem Autokofferraum heiß geworden und verbrannte ihn genau so wie das hier, nur über seine Hüfte«, sagte Lamar. »Ich kann keine Lebensmittel in den Kofferraum meines Wagens legen, da der Auspuff die Eiscreme schmilzt.«

»Das ist ein guter Gedanke, Lamar, ich wünschte, Sie arbeiteten für mich«, sagte Crawford. »Kennen Sie die Burschen, die sie im Fluß fanden?«

»Jabbo Franklin und sein Bruder Bubba.«

»Was machen sie?«

»Streiten sich im ‘Elch’, machen sich über Leute lustig, die ihnen nichts tun — kommt da jemand nach ’nem simplen Drink in den ‘Elch’, davon geschafft, sich den ganzen Tag die Hinterbliebenen anzusehen, und es heißt ‘Setz dich da hin, Lamar, und spiel ‘Filipino Baby’. Zwingen einen dazu, auf diesem ekligen alten Barklavier immer und immer wieder ‘Filipino Baby’ zu spielen. Das gefällt Jabbo. ‘Na komm, erfind doch irgend ’nen verdammten Text, wenn du ihn nicht kennst’, sagt er, ‘und sieh zu, daß sich das verdammte Ding diesmal reimt.’ Er kriegt einen Scheck von den Veteranen und geht um Weihnachten herum zum Austrocknen ins Krankenhaus der Veterans’ Administration. Hab’ seit fünfzehn Jahren auf diesem Tisch nach ihm Ausschau gehalten.«

»Wir werden Serotonintests für die Angelhakeneinstiche benötigen«, sagte Crawford. »Ich schicke dem Pathologen eine Notiz.«

»Die Haken da sind zu dicht zusammen«, sagte Lamar.

»Was haben Sie gesagt?«

»Die Franklins hatten eine Trottleine mit den Haken zu dicht zusammen ausgelegt. Es ist eine Zuwiderhandlung. Haben sich deshalb wahrscheinlich erst heute morgen gemeldet.«

»Der Sheriff sagte, sie seien Entenjäger.«

»War zu erwarten, daß sie ihm das sagten«, sagte Lamar. »Sie werden Ihnen erzählen, daß sie auch mal mit Duke Keomuka in Honolulu gerungen haben, in ’nem Viererteam mit Satellite Monroe. Schnappen Sie sich ’ne Jagdtasche, und sie werden Sie auch auf ’ne Schnepfenjagd mitnehmen, wenn Sie Schnepfen bevorzugen. Geben Ihnen ’n Glas Selbstgebrannten mit dazu.«

»Was ist Ihrer Meinung nach passiert, Lamar?«

»Die Franklins hatten also diese Trottleine ausliegen, gehört ihnen, die Trottleine mit diesen gesetzwidrigen Haken, und sie zogen sie ein, um nachzusehen, ob sie irgendwelche Fische dran hatten.«

»Warum nehmen Sie das?«

»Diese Lady ist auch nicht annähernd reif für ’ne Wasserleiche.«

»Nein.«

»Wenn sie also nich’ diese Trottleine eingezogen hätten, hätten sie sie nie gefunden. Sind wahrscheinlich in Panik davon und schließlich vorbeigekommen. Sie wollen vermutlich auch ’n Wort mit dem Jagdaufseher wechseln.«

»Vermutlich«, erwiderte Crawford.

»Haben oft auch ’n Kurbeltelefon hinter dem Sitz in ihrem Ramcharger, langt als Beweis für ’ne saftige Geldstrafe, wenn man schon nicht ins Kittchen muß.«

Crawford hob die Augenbrauen.

»Um Fische damit anzurufen«, sagte Starling. »Die Fische mit elektrischem Strom betäuben, wenn man die Drähte ins Wasser hängt und die Kurbel dreht. Sie kommen an die Oberfläche, und man schöpft sie einfach raus.«

»Richtig«, sagte Lamar, »sind Sie hier aus der Gegend?«

»Das macht man an vielen Orten«, entgegnete Starling.

Starling verspürte den Drang, etwas zu sagen, bevor sie den Reißverschluß der Plastikhülle zuzogen, eine Geste zu machen oder irgendeine Art Verpflichtung zu zeigen. Am Ende schüttelte sie nur den Kopf und ging eilig daran, die Proben in ihren Koffer zu packen.

Es war anders mit der Leiche und dem Problem außer Sicht. In diesem trägen Moment drang das, was sie getan hatte, in ihren Geist ein. Starling streifte sich die Handschuhe ab und drehte den Wasserhahn auf. Mit dem Rücken zum Raum ließ sie sich Wasser über die Handgelenke laufen. Das Wasser in der Leitung war ziemlich warm. Lamar, der sie beobachtete, verschwand auf den Gang. Er kam mit einer ungeöffneten eiskalten Dose Soda vom Colaautomaten zurück und bot sie ihr an.

»Nein, danke«, sagte Starling. »Ich glaube nicht, daß ich was trinke.«

»Nein, halten Sie sie sich das unter den Hals«, sagte Lamar, »und dann auf die kleine Beule an Ihrem Hinterkopf. Durch die Kalte fühlen Sie sich gleich besser. Geht mir jedenfalls so.«

Als Starling damit fertig war, das Memo für den Pathologen über den Reißverschluß der Plastikhülle zu kleben, klapperte Crawfords Fingerabdrucktransmitter bereits auf dem Büroschreibtisch.

Dieses Opfer so bald nach dem Verbrechen zu finden, war unverdientes Glück. Crawford war entschlossen, die Tote rasch zu identifizieren und die nähere Umgebung ihrer Wohnung nach Zeugen der Entführung durchzukämmen. Seine Methode bedeutete für jeden eine Menge Ärger, doch sie war schnell.

Crawford trug einen Litton-Policefax-Fingerabdrucktransmitter bei sich. Im Gegensatz zu den vom FBI ausgegebenen Bildfunkgeräten ist der Policefaxmit mit den Systemen der Polizeibehörden in den meisten Großstädten kompatibel. Die Fingerabdruckkarte, die Starling zusammengestellt hatte, war kaum trocken.

»Legen Sie sie ein, Starling, Sie haben geschicktere Finger.«

Verschmieren Sie sie nicht, meinte er damit, und das tat Starling auch nicht. Es war schwer, die zusammengeklebte Kompositkarte um die kleine Walze zu wickeln, während an verschiedenen Orten im Land sechs Funkräume warteten.

Crawford telefonierte mit der FBI-Zentrale und dem Funkraum in Washington. »Dorothy, sind alle dran? Okay, meine Herren, wir schalten es auf eins-zwanzig herunter, damit es schön scharf bleibt — hat jeder eins-zwanzig gecheckt? Atlanta, wie sieht’s aus? Okay, Bildfunk… ab.«

Dann drehte die Walze sich der Klarheit wegen mit langsamer Geschwindigkeit und übertrug die Fingerabdrücke der Toten gleichzeitig in den FBI-Funkraum und in die Funkräume der Hauptpolizeibehörden im Osten. Wenn Chicago, Detroit, Atlanta oder eine der anderen bei den Fingerabdrücken einen Treffer erzielte, würde binnen Minuten eine Suchaktion beginnen.

Als nächstes schickte Crawford Bilder der Zähne der Toten und Fotos von ihrem Gesicht; der Kopf war von Starling in ein Handtuch gehüllt worden für den Fall, daß die Regenbogenpresse in den Besitz der Fotos gelangte.

Drei Beamte der Kriminalpolizei von West Virginia kamen aus Charleston an, als sie gerade im Begriff waren, abzureisen. Crawford schüttelte viele Hände und verteilte Karten mit der Nummer des Telefondienstes des Nationalen Informationszentrums für Verbrechen. Starling bemerkte mit Interesse, wie schnell er sie alle in eine Stimmung männlichen Verbündetseins, männlicher Verpflichtungen und Aktivitäten brachte. Mit Sicherheit würden sie mit jeder Information anrufen, die ihnen in die Hände fiel. Wettendaß und danke bestens. Vielleicht war es kein männliches Verbündetsein, entschied sie; es wirkte auch bei ihr.

Lamar winkte von der Veranda, als Crawford und Starling mit dem Deputy in Richtung Elk River davonfuhren. Das Cola war noch ziemlich kalt. Lamar nahm es mit in den Lagerraum und mixte einen Erfrischungstrunk für sich selbst.

13

»Setzen Sie mich am Labor ab, Jeff«, befahl Crawford dem Fahrer. »Dann möchte ich, daß Sie am Smithsonian auf Officer Starling warten. Von dort fährt sie nach Quantico.«

»Jawohl, Sir.«

Vom National Airport aus in die Innenstadt von Washington kommend, überquerte sie bei starkem abendlichen Gegenverkehr den Potomac River.

Der junge Mann am Steuer schien einen gewaltigen Respekt vor Crawford zu haben und fuhr mit übertriebener Vorsicht, fand Starling. Sie konnte es ihm nicht verübeln; es war ein Glaubensartikel in der Akademie, daß der letzte Agent, der unter Crawfords Kommando eine Sache voll in den Sand gesetzt hatte, nun Diebstähle in den Radarabwehranlagen entlang des nördlichen Polarkreises untersuchte.

Crawford war schlechter Laune. Neun Stunden waren vergangen, seit er die Fingerabdrücke und Bilder des Opfers gesendet hatte, und sie war noch immer nicht identifiziert. Zusammen mit den Troopern von West Virginia hatten er und Starling bis in die Dunkelheit hinein ergebnislos die Brücke und das Flußufer abgesucht.

Starling hatte gehört, wie er vom Flugzeug aus telefonierte und eine Nachtschwester für zu Hause bestellte.

Die schlichte FBI-Limousine schien nach dem Blue Canoe wunderbar ruhig, und das Reden war einfacher.

»Ich werde das Notstandsbulletin und den latenten Beschreibungsindex verschicken, wenn ich Ihre Abdrücke mit zum Erkennungsdienst hochnehme«, sagte Crawford. »Sie fassen mir einen Zusatz für die Akte ab. Einen Zusatz, keinen 302 — wissen Sie, wie man das macht?«

»Ich weiß, wie.«

»Angenommen, ich bin die Kartei, sagen Sie mir, was es Neues gibt.«

Sie brauchte einige Sekunden, um es zusammenzubekommen — sie war froh, daß Crawford anscheinend mehr an dem Gerüst am Jefferson Memorial interessiert war, an dem sie vorbeifuhren.

Der latente Beschreibungsindex im Computer des Erkennungsdiensts vergleicht die charakteristischen Merkmale eines Verbrechens, das untersucht wird, mit den bekannten Neigungen von in der Kartei erfaßten Kriminellen. Wenn der Index auf ausgesprochene Ähnlichkeiten stößt, schlägt er Verdächtige vor und produziert ihre Fingerabdrücke. Ein menschlicher Operator vergleicht dann die Fingerabdrücke in der Kartei mit am Tatort entdeckten latenten Abdrücken. Von Buffalo Bill gab es noch keine Abdrücke, doch Crawford wollte gerüstet sein.

Das System erfordert kurze, präzise Angaben. Starling versuchte, mit einigen aufzuwarten.

»Weiß, weiblich, späte Teenjahre oder Anfang zwanzig, erschossen, unterer Torso und Oberschenkel abgebalgt —«

»Starling, der Index weiß bereits, daß er junge weiße Frauen umbringt und ihre Torsos abhäutet — verwenden Sie im übrigen ‘abhäutet’, ‘abgebalgt’ ist ein ungewöhnlicher Begriff, den ein anderer Beamter vielleicht nicht benutzt, und Sie können nicht sicher sein, ob das verdammte Ding ein Synonym liest. Er weiß bereits, daß der Täter sie in Flüssen ablädt. Er weiß nicht, was hier neu ist. Was ist hier neu, Starling?«

»Dies ist das sechste Opfer, das erste skalpierte, das erste, dem dreieckige Lappen von den Schultern hinten entfernt wurden, das erste, das in die Brust geschossen wurde, das erste mit einem Kokon im Hals.«

»Sie haben abgebrochene Fingernägel vergessen.«

»Nein, Sir, sie ist das zweite Opfer mit abgebrochenen Fingernägeln.«

»Sie haben recht. Hören Sie, notieren Sie in Ihrem Zusatz für die Akte, daß der Kokon vertraulich ist. Wir werden ihn zum Eliminieren falscher Geständnisse verwenden.«

»Ich frage mich, ob er das schon früher gemacht hat — einen Kokon oder ein Insekt zu plazieren«, sagte Starling. »Es wäre ein leichtes, das bei einer Autopsie zu übersehen, besonders bei einer Wasserleiche. Sie wissen, der ärztliche Leichenbeschauer sieht eine offensichtliche Todesursache, es ist heiß da drinnen, und man will damit fertig werden… können wir das zurückverfolgen?«

»Wenn wir müssen. Sie können sich darauf verlassen, daß die Pathologen behaupten, sie würden nichts übersehen, ist doch klar. Die Leiche der Jane Doe aus Cincinnati ist noch draußen im Kühlraum. Ich werde sie bitten, sie sich anzusehen, doch die anderen vier sind unter der Erde. Exhumierungsanordnungen rütteln die Leute wach. Wir mußten es bei vier Patienten machen, die unter Dr. Lecters Betreuung verschieden sind, nur um uns davon zu überzeugen, woran sie starben. Lassen Sie sich gesagt sein, es bedeutet sehr viel Ärger, und es verstimmt die Verwandten. Ich mache es, wenn ich muß, aber warten wir erst mal, was Sie im Smithsonian herausfinden, bevor ich mich entscheide.«

»Skalpieren… das ist doch selten, oder?«

»Ungewöhnlich, ja«, entgegnete Crawford.

»Dr. Lecter hat aber gesagt, Buffalo Bill würde es tun. Wie hat er das gewußt?«

»Er hat es nicht gewußt.«

»Er hat es jedoch gesagt.«

»Es ist keine große Überraschung, Starling. Ich bin nicht überrascht gewesen, das zu sehen. Ich hätte sagen sollen, daß es bis zum Fall Mengel selten war, erinnern Sie sich daran? Hat die Frau skalpiert? Danach gab es zwei oder drei Nachahmer. Als die Zeitungen mit dem Beinamen ‘Buffalo Bill’ herumspielten, betonten sie mehr als einmal, daß dieser Killer sich keine Skalps holt. Danach ist es keine Überraschung — wahrscheinlich folgt er seiner Presse. Lecter hat nur geraten. Er hat nicht gesagt, wann es passieren würde, also konnte er sich nie irren. Wenn wir Bill schnappten und es kein Skalpieren gäbe, könnte Lecter sagen, wir hätten ihn gerade erwischt, bevor er damit anfing.«

»Dr. Lecter hat auch behauptet, Buffalo Bill würde in einem zweistöckigen Haus wohnen. Damit haben wir uns noch gar nicht befaßt. Warum hat er das Ihrer Meinung nach gesagt?«

»Das ist keine Vermutung. Er hat höchstwahrscheinlich recht, und er hätte Ihnen sagen können, warum, aber er wollte Sie damit necken. Es ist die einzige Schwäche, die ich je bei ihm festgestellt habe — er muß smart erscheinen, smarter als jeder andere. Er macht das schon seit Jahren.«

»Sie haben gesagt, ich soll fragen, wenn ich etwas nicht weiß — nun, ich muß Sie bitten, das zu erklären.«

»Okay, zwei der Opfer wurden erhängt, richtig? Hohe Ligarurmale, zervikale Dislokation, definitives Hängen. Wie Dr. Lecter aus persönlicher Erfahrung weiß, Starling, ist es für eine Person sehr schwer, eine andere gegen ihren Willen zu erhängen. An Türknäufen erhängen Leute sich selbst andauernd. Sie erhängen sich beim Hinsetzen, es ist einfach. Es ist aber schwer, jemand anderen zu hängen — selbst wenn sie gefesselt sind, schaffen sie es, die Füße unter sich zu bekommen, wenn sie mit ihnen irgendeinen Halt finden können. Eine Leiter ist bedrohlich. Opfer werden die Leiter mit verbundenen Augen nicht hochklettern, und sie werden sie schon gar nicht hochklettern, wenn sie die Schlinge sehen. Die Methode, mit der es gemacht wird, sieht einen Treppenschacht vor. Treppen sind vertraut. Erzähl ihnen, daß du sie mit nach oben bringst, damit sie die Toilette benutzen können, was immer, führ sie mit einer Kapuze über dem Kopf hoch, streif ihnen die Schlinge über und befördere sie mit einem Fußtritt von der obersten Stufe, wobei das Seil am Geländer auf dem Treppenabsatz befestigt ist. In einem Haus ist es die einzige gute Methode, ’n Typ in Kalifornien hat sie populär gemacht. Wenn Bill keinen Treppenschacht hätte, würde er sie auf eine andere Art und Weise umbringen. Nun geben Sie mir diese Namen, der Senior Deputy aus Potter und der Bursche von der Kriminalpolizei, der Rangälteste.«

Starling fand sie auf ihrem Notizblock; sie las mit Hilfe einer kleinen Stablampe zwischen den Zähnen. »Gut«, sagte Crawford. »Wenn Sie einen heißen Draht bekanntgeben, Starling, die Polizisten immer beim Namen nennen. Sie hören ihren eigenen Namen, sie sind dem heißen Draht gegenüber freundlicher gestimmt. Ruhm hilft ihnen, nicht zu vergessen, uns anzurufen, wenn sie eine Information erhalten. Was sagt Ihnen die Verbrennung an ihrem Bein?«

»Hängt davon ab, ob sie nach dem Tod erfolgt ist.«

»Wenn ja?«

»Dann hat er einen geschlossenen Laster oder einen Lieferwagen oder einen Kombi, irgendwas Langes.«

»Warum?«

»Weil die Verbrennung sich über die Rückseite ihrer Wade zieht.«

Sie waren an der Zehnten und Pennsylvania, vor dem neuen FBI-Hauptquartier, das keiner je als das J. Edgar Hoover Building bezeichnet hatte.

»Jeff, Sie können mich hier rauslassen«, sage Crawford. »Genau hier, fahren Sie nicht in die Tiefgarage. Bleiben Sie im Wagen, Jeff, lassen Sie bloß den Kofferraum aufspringen. Dann zeigen Sie’s mir mal, Starling.«

Sie stieg mit Crawford aus, während er seinen Datafax und seinen Aktenkoffer aus dem Kofferraum holte.

»Er hat die Leiche in etwas befördert, das groß genug ist, damit man sie auf dem Rücken ausstrecken kann«, sagte Starling. »Nur auf diese Weise würde die Rückseite ihrer Wade auf dem Boden über dem Auspuffrohr liegen. In einem Kofferraum wie diesem hätte sie zusammengerollt auf der Seite gelegen und —«

»Ja, genau so sehe ich das auch«, sagte Crawford.

Da erkannte sie, daß er sie aus dem Wagen geholt hatte, damit er privat mit ihr reden konnte.

»Als ich zu diesem Deputy sagte, er und ich sollten nicht vor einer Frau reden, das hat Sie gefuchst, nicht wahr?«

»Klar.«

»Es war nur Bluff. Ich wollte ihn allein erwischen.«

»Das weiß ich.«

»Okay.« Crawford knallte den Kofferraum zu und wandte sich ab.

Starling konnte es nicht dabei bewenden lassen. »Es spielt doch eine Rolle, Mr. Crawford.«

Er drehte sich ihr wieder zu, mit seinem Telefaxgerät und Aktenkoffer beladen. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit.

»Diese Polizisten wissen, wer Sie sind«, sagte sie. »Sie nehmen Sie als Vorbild, um zu sehen, wie sie agieren müssen.« Sie stand fest und sicher da, zuckte die Achseln, zeigte die Handflächen. Es war raus, es stimmte.

Crawford schien etwas abzuwägen.

»Ordnungsgemäß notiert, Starling. Kümmern Sie sich nun um das Insekt.«

»Jawohl, Sir.«

Sie sah zu, wie er davonging, ein Mann mittleren Alters mit Koffern beladen und vom Fliegen zerknautscht, die Manschetten vom Flußufer verdreckt, auf dem Weg nach Hause zu dem, was er zu Hause tat.

Da hätte sie für ihn töten können. Das war eines von Crawfords großen Talenten.

14

Das Smithsonian’s National Museum für Naturgeschichte war schon seit Stunden geschlossen. Doch Crawford hatte vorher angerufen, und ein Aufseher wartete, um Clarice Starling am Eingang in der Constitution Avenue einzulassen.

Das geschlossene Museum war schwach erleuchtet, und es herrschte Stille. Nur die Kolossalflgur eines Südseehäuptlings gegenüber dem Eingang stand so groß da, daß das trübe Deckenlicht auf sein Gesicht scheinen konnte.

Starlings Führer war ein großer Schwarzer in der adretten Uniform der Aufseher des Smithsonian. Sie fand, daß er dem Häuptling ähnelte, als er das Gesicht zu den Fahrstuhllichtern hob. Eine momentane Erleichterung schlich sich in ihre müßige Fantasie ein, wie nach dem Massieren eines Krampfs.

Die zweite Ebene über dem großen ausgestopften Elefanten, ein weites, der Öffentlichkeit nicht zugängliches Stockwerk, teilten sich die Abteilungen für Anthropologie und Entomologie. Die Anthropologen nannten es das vierte Stockwerk; die Entomologen behaupteten, es sei das dritte. Einige Wissenschaftler aus der Abteilung für Agrikultur sagten, sie hätten Beweise, daß es sich um das sechste handelte. Jede Splittergruppe mochte zum Teil recht haben, was das alte Gebäude mit seinen Anbauten und Unterabteilungen betraf.

Starling folgte dem Aufseher in ein halbdunkles Labyrinth aus Gängen, an deren Wänden Holzschränke mit anthropologischen Museumsstücken hochragten. Nur die Schildchen enthüllten ihren Inhalt.

»Tausende von Menschen in diesen Schachteln«, sagte der Aufseher. »Vierzigtausend Exemplare.«

Während sie dahinschritten, fand er die Büronummern mit seiner Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl über die Schilder wandern.

Dajak-Babytragekörbe und Zeremonienschädel machten Aphidina Platz, und sie ließen die Abteilung ‘Menschheit’ hinter sich, um sich der älteren und geordneteren Welt der Insekten zuzuwenden. Nun ragten an den Wänden des Korridors große hellgrün gestrichene Metallkästen empor.

»Dreißig Millionen Insekten — und obendrein noch die Spinnen. Werfen Sie die Spinnen nicht mit den Insekten in einen Topf«, riet der Wärter. »Spinnenleute machen einen deswegen zur Schnecke. Dort, das Büro, das erleuchtet ist. Versuchen Sie nicht, selbst herauszukommen. Wenn sie nicht anbieten, Sie hinunterzubringen, rufen Sie mich auf diesem Apparat an, es ist das Aufseherbüro. Ich hole Sie dann.« Er gab ihr eine Karte und ging davon.

Sie war mitten in der Entomologie, auf einer Rotundengalerie hoch über dem großen ausgestopften Elefanten. Da war das helle Büro mit der offenen Tür.

»Zeit, Pilch!« Eine Männerstimme, schrill vor Aufregung.

»Los, los, mach schon. Zeit!«

Starling blieb in der Türöffnung stehen. Zwei Männer saßen an einem Labortisch und spielten Schach. Beide waren um die Dreißig, der eine schwarzhaarig und mager, der andere klein und dick mit drahtigem roten Haar. Sie schienen voll von dem Schachbrett in Anspruch genommen. Wenn sie Starling bemerkten, dann ließen sie es sich nicht anmerken. Wenn sie den riesigen Nashornkäfer bemerkten, der sich langsam über das Brett schob und zwischen den Schachfiguren durchwand, dann ließen sie sich auch das nicht anmerken.

Dann überquerte der Käfer den Rand des Bretts.

»Zeit, Roden«, sagte der Magere sofort.

Der kleine Dicke zog seinen Läufer und drehte unverzüglich den Käfer um, damit dieser den Weg wieder mühsam zurückkrabbeln konnte.

»Wenn der Käfer einfach quer zur Ecke läuft, ist die Zeit dann um?« fragte Starling.

»Natürlich ist die Zeit dann um«, sagte der kleine Dicke laut, ohne aufzusehen. »Natürlich ist sie dann um. Wie spielen Sie denn? Lassen Sie ihn das ganze Brett überqueren? Gegen wen spielen Sie, ein Faultier?«

»Ich habe das Exemplar, wegen dem Special Agent Crawford angerufen hat.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, warum wir Ihre Sirene nicht gehört haben«, sagte der kleine Dicke. »Wir warten schon den ganzen Abend hier, um ein Insekt für das FBI zu identifizieren. Wir geben uns nur mit Insekten ab. Keiner hat was von Special Agent Crawfords Exemplar gesagt. Er sollte sein Exemplar privat seinem Hausarzt zeigen. Zeit, Pilch!«

»Ich würde Ihrer ganzen Prozedur gern ein anderes Mal zusehen«, sagte Starling, »doch dies ist dringend, wollen wir uns also jetzt dranmachen. Zeit, Pilch.«

Der Schwarzhaarige drehte sich zu ihr um, sah, wie sie mit ihrem Aktenkoffer gegen den Türrahmen lehnte. Er legte den Käfer auf ein Stück vermodertes Holz in einer Schachtel und deckte ihn mit einem Salatblatt zu.

Als er aufstand, war er groß.

»Ich bin Noble Pilcher«, sagte er. »Dies ist Albert Roden. Sie möchten ein Insekt identifiziert haben? Wir freuen uns, Ihnen behilflich zu sein.« Pilcher hatte ein langes freundliches Gesicht, doch seine schwarzen Augen waren ein wenig hexenartig und zu dicht zusammen. Mit einem schielte er leicht, so daß es das Licht unabhängig auffing. Er gab ihr nicht die Hand. »Sie sind…?«

»Clarice Starling.«

»Schauen wir mal, was Sie da haben.«

Pilcher hielt das kleine Glas gegen das Licht.

Roden kam dazu. »Wo haben Sie das gefunden? Haben Sie es mit Ihrer Pistole getötet? Haben Sie seine Mami gesehen?«

Starling kam der Gedanke, wie sehr Roden davon profitieren würde, wenn man ihm den Ellbogen in sein Kiefergelenk schmetterte.

»Pssst«, sagte Pilcher. »Erzählen Sie uns, wo Sie es gefunden haben. Hat es an irgendwas festgesessen — einem Zweig oder einem Blatt —, oder ist es in der Erde gewesen?«

»Ich verstehe«, sagte Starling. »Niemand hat mit Ihnen gesprochen.«

»Der Museumsdirektor hat uns gebeten, länger zu bleiben und ein Insekt für das FBI zu identifizieren«, erklärte Pilcher.

»Hat uns befohlen«, sagte Roden. »Hat uns befohlen, länger zu bleiben.«

»Das machen wir für den Zoll und für das Landwirtschaftsministerium andauernd«, sagte Pilcher.

»Aber nicht mitten in der Nacht«, erwiderte Roden.

»Ich muß Ihnen ein paar Dinge erklären, die mit einem Verbrechen zu tun haben«, sagte Starling. »Das ist mir gestattet, wenn Sie es vertraulich behandeln, bis der Fall gelöst ist. Es ist wichtig. Es bedeutet einige Menschenleben, und ich sage das nicht nur so dahin. Dr. Roden, können Sie mir ernsthaft garantieren, daß Sie eine vertrauliche Mitteilung respektieren werden?«

»Ich bin kein Doktor. Muß ich irgendwas unterschreiben?«

»Nicht, wenn Ihr Wort etwas gilt. Sie werden für das Exemplar unterschreiben müssen, wenn Sie es behalten müssen, mehr nicht.«

»Natürlich werde ich Ihnen helfen. Ich bin nicht unfürsorglich.«

»Dr. Pilcher?«

»Das stimmt«, sagte Pilcher. »Er ist nicht unfürsorglich.«

»Vertrauen?«

»Ich sage nichts.«

»Auch Pilcher ist noch kein Doktor«, sagte Roden. »Ausbildungsmäßig stehen wir auf gleicher Stufe. Beachten Sie jedoch, wie er Ihnen erlaubt hat, ihn so zu nennen.«

Roden legte die Spitze seines Zeigefingers gegen das Kinn, als würde er auf einen vernünftigen Ausdruck hinweisen. »Geben Sie uns sämtliche Einzelheiten. Was Ihnen vielleicht belanglos erscheint, könnte für einen Experten eine entscheidende Information sein.«

»Dieses Insekt wurde hinter dem Gaumensegel eines Mordopfers steckend gefunden. Ich weiß nicht, wie es dort hingelangt ist. Ihre Leiche war im Elk River in West Virginia, und sie war nicht länger als ein paar Tage tot gewesen.«

»Es ist Buffalo Bill, ich hab’s im Radio gehört«, sagte Roden.

»Über das Insekt haben Sie im Radio nichts gehört, oder?« fragte Starling.

»Nein, aber es hieß Elk River — kommen Sie heute von da, sind Sie deshalb so spät?«

»Ja«, entgegnete Starling.

»Sie müssen müde sein. Wollen Sie einen Kaffee?« sagte Roden.

»Nein, danke.«

»Wasser?«

»Nein.«

»Ein Cola?«

»Ich glaube nicht. Wir wollen erfahren, wo diese Frau gefangengehalten und wo sie umgebracht wurde. Wir hoffen, daß dieses Insekt eine spezielle Eigenart hat oder daß es auf einen Bereich begrenzt ist, wissen Sie, oder daß es nur auf einer bestimmten Baumart schläft — wir wollen wissen, wo dieses Insekt herkommt. Ich bitte um Ihr Vertrauen, weil — hat der Täter das Insekt dort vorsätzlich plaziert — nur ihm diese Tatsache bekannt wäre und wir sie dann verwenden könnten, um falsche Geständnisse zu eliminieren und Zeit zu sparen. Er hat mindestens sechs umgebracht. Die Zeit frißt uns auf.«

»Glauben Sie, er hält genau in dieser Minute, in der wir uns sein Insekt ansehen, eine weitere Frau gefangen?« fragte Roden sie ins Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Mund stand offen. Sie konnte ihm in den Mund sehen, und eine Sekunde lang besann sie sich blitzartig auf etwas anderes.

»Ich weiß nicht.« Das ein wenig schrill. »Ich weiß nicht«, wiederholte sie, um dem Geäußerten die Schärfe zu nehmen. »Er wird es wieder tun, sobald er kann.«

»Also kümmern wir uns um dies, sobald wir können«, sagte Pilcher. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind darin gut. Sie könnten nicht in besseren Händen sein.« Mit einer dünnen Zange entfernte er das braune Objekt aus dem Glas und legte es auf ein Stück weißes Papier unter dem Licht. Er schwenkte eine Lupe mit biegsamem Arm darüber.

Das Insekt war lang, und es sah aus wie eine Mumie. Es steckte in einer halbtransparenten Hülle, die sich seinen allgemeinen Umrissen wie ein Sarkophag anpaßte. Die Fortsätze waren so fest gegen den Körper gebunden, daß sie genausogut in Flachrelief hätten gemeißelt sein können. Das kleine Gesicht sah weise aus.

»Erstens, es ist nichts, was eine Leiche normalerweise im Freien befallen würde, und es wäre auch nicht im Wasser, es sei denn, durch Zufall«, sagte Pilcher. »Ich weiß nicht, wie vertraut Sie mit Insekten sind oder wieviel Sie hören wollen.«

»Sagen wir mal, ich weiß überhaupt nichts. Ich möchte, daß Sie mir alles erklären.«

»Okay, dies ist eine Puppe, ein unausgereiftes Insekt, in einer Chrysalis — das ist der Kokon, der es zusammenhält, während es sich von einer Larve zu einem ausgewachsenen Insekt umwandelt«, erläuterte Pilcher.

»Pupa obtecta, Pilch?« Roden rümpfte die Nase, damit seine Brille nicht herunterrutschte.

»Yeah, ich glaube, ja. Willst du Chu über die unausgereiften Insekten herunterholen? Okay, dies ist das Puppenstadium eines großen Insekts. Ein Großteil der weiterentwickelten Insekten durchläuft ein Puppenstadium. Viele von ihnen verbringen den Winter auf diese Weise.«

»Buch oder nachschauen, Pilch?« fragte Roden.

»Ich schaue nach.« Pilcher brachte das Exemplar zum Objekttisch eines Mikroskops und beugte sich mit einer Zahnsonde in der Hand darüber. »Also los: Keine ausgeprägten Atmungsorgane in der dorsalzephalen Region, Tracheen auf dem Mesothorax und einige Abdominalsegmente, fangen wir damit an.«

»Mhhmhhmm«, sagte Roden und blätterte Seiten in einem kleinen Handbuch um. »Funktionelle Mandibeln?«

»Nee.«

»Paarige Markierungen der Maxillen auf dem Ventro meson?«

»Ja, ja.«

»Wo sind die Antennen?«

»An den Mesalrand der Flügel angrenzend. Zwei Paar Flügel, das innere Paar vollkommen bedeckt. Nur die drei unteren Abdominalsegmente sind frei. Kleine punktartige Cremaster — ich würde sagen, Lepidoptera.«

»Das steht auch hier«, sagte Roden.

»Es ist die Familie, zu der die Schmetterlinge und Nachtfalter gehören. Umfaßt ein großes Gebiet«, erklärte Pilcher.

»Wird schwierig werden, wenn die Flügel durchnäßt sind. Ich hol’ mal die Nachschlagewerke«, sagte Roden. »Ich kann dich wohl nicht davon abhalten, über mich zu reden, während ich weg bin.«

»Wohl kaum«, entgegnete Pilcher. »Roden ist in Ordnung«, erklärte er Starling, sobald Roden den Raum verlassen hatte.

»Ich bin sicher, daß er das ist.«

»Tatsächlich.« Pilcher schien amüsiert. »Wir waren Kommilitonen, arbeiteten und schnappten uns jedes Forschungsstipendium, das wir nur kriegen konnten. Er bekam eins, wo er in einem Kohlenbergwerk unten sitzen mußte, um auf den Protonenzerfall zu warten. Er ist einfach zu lang im Dunkeln geblieben. Er ist in Ordnung. Nur nicht Protonenzerfall erwähnen.«

»Ich werd’ versuchen, drum herumzureden.«

Pilcher wandte sich von dem grellen Licht ab. »Lepidoptera, das ist eine große Familie. Vielleicht dreißigtausend Schmetterlinge und hundertdreißigtausend Schwärmer, d.h. Nachtfalter. Ich würde es gern aus der Chrysalis herausnehmen — das werde ich tun müssen, wenn wir es eingrenzen wollen.«

»Na gut. Können Sie es machen, ohne daß es zerfällt?«

»Ich denke schon. Schauen Sie, dieses hat aus eigener Kraft damit angefangen, bevor es gestorben ist. Genau hier hat es einen unregelmäßigen Bruch in der Chrysalis bewirkt. Dies mag ein Weilchen dauern.«

Pilcher vergrößerte den natürlichen Riß in der Hülle und löste das Insekt heraus. Die zusammengefalteten Flügel waren durchnäßt. Sie auszubreiten kam dem Arbeiten mit einem nassen, fest zusammengerollten Gesichtsreinigungstuch gleich. Es war kein Muster sichtbar.

Roden war mit den Büchern zurück.

»Fertig?« sagte Pilcher. »Okay, die Prothorakalfemur ist verdeckt.«

»Was ist mit Pilifern?«

»Keine Pilifer«, sagte Pilcher. »Würden Sie das Licht ausschalten, Officer Starling?«

Sie wartete am Wandschalter, bis Pilchers kleine Stablampe brannte. Er trat vom Tisch zurück und leuchtete damit auf das Exemplar. Die Augen des Insekts glühten im Dunkeln und reflektierten den dünnen Strahl.

»Eule«, meinte Roden.

»Wahrscheinlich, aber welche?« sagte Pilcher. »Bitte Licht. Es gehört zu den Noctuidae, Officer Starling — zu den Nachtfaltern. Wie viele Noctuidae gibt es, Roden?«

»Zweitausendsechshundert und… ungefähr zweitausend-zweihundert sind beschrieben worden.«

»Allerdings sind nicht viele so groß. Okay, dann zeig mal, wie du brillierst, mein Guter.«

Rodens drahtiges rotes Haar bedeckte das Mikroskop.

»Wir müssen nun zur Chaetaxie übergehen — dem Untersuchen der Haut des Insekts, um es auf eine einzige Spezies einzugrenzen«, sagte Pilcher. »Roden ist darin der Beste.«

Starling hatte das Gefühl, daß Liebenswürdigkeit den Raum durchzog.

Roden reagierte darauf, indem er ein hitziges Wortgefecht mit Pilcher darüber begann, ob die Larvenwarzen des Exemplars in Kreisen angeordnet seien oder nicht. Es ging temperamentvoll weiter über die Anordnung der Haare auf dem Abdomen.

»Erebus odora«, sagte Roden schließlich.

»Gehen wir nachsehen«, sagte Pilcher.

Sie nahmen das Exemplar mit sich, im Fahrstuhl hinunter bis zu dem Geschoß direkt über dem großen ausgestopften Elefanten und nach hinten zu einem riesengroßen, mit blaßgrünen Kästen angefüllen Areal. Was früher eine große Halle gewesen war, war auf zwei Ebenen mit Decks aufgeteilt worden, um weiteren Lagerraum für die Insekten des Smithsonian zu schaffen. Sie waren nun in der Neotropischen Abteilung und auf dem Weg zu den Noctuidae. Pilcher konsultierte seinen Notizblock und blieb bei einem Kasten in Brusthöhe im großen Wandregal stehen. »Mit diesen Dingen muß man vorsichtig sein«, sagte er, schob die schwere Metalltür hoch und setzte sie auf dem Boden ab.

»Lassen Sie eine auf Ihren Fuß fallen, humpeln Sie wochenlang.«

Er fuhr mit dem Finger an den gestapelten Schubladen herunter, wählte eine aus und zog sie auf.

Auf dem Tablett sah Starling die winzigen konservierten Eier, die Raupe in einem Glasröhrchen mit Alkohol, einen Kokon, von einem Exemplar abgezogenen, der ihrem sehr ähnlich war, und das ausgewachsene Insekt — ein großer braunschwarzer Nachtfalter mit einer Flügelspanne von fast sechzehn Zentimetern, einem pelzigen Körper und dünnen Fühlern.

»Erebus odora«, sagte Pilcher. »Die Schwarzhexenmotte.«

Roden blätterte bereits Seiten um. »‘Eine tropische Spezies, die sich im Herbst manchmal bis nach Kanada hoch verirrt«’, las er. »‘Die Larven fressen Akazien, Drazänen und ähnliche Pflanzen. Einheimisch in den Westindischen Inseln, in den Südstaaten der USA, gilt in Hawaii als Ungeziefern«

Fickola, dachte Starling. »Bekloppt«, sagte sie laut. »Es gibt sie überall.«

»Es gibt sie aber nicht die ganze Zeit überall.« Pilchers Kopf war gesenkt. Er zupfte sich am Kinn. »Sind sie Doppelbrüter, Roden?«

»Sekunde… yeah, im äußersten Südflorida und in Südtexas.«

»Wann?«

»Mai und August.«

»Ich hab’ nur gerade überlegt«, sagte Pilcher. »Ihr Exemplar ist ein bißchen besser entwickelt als das, das wir haben, und es ist frisch. Es hatte angefangen, seinen Kokon zu zerbrechen, um herauszukommen. In den Westindischen Inseln oder in Hawaii, vielleicht, da könnte ich das verstehen, aber hier ist es Winter. In diesem Land würde es mit dem Herauskommen drei Monate warten. Es sei denn, es ist zufällig in einem Treibhaus passiert, oder jemand hat es gezüchtet.«

»Wie gezüchtet?«

»In einem Käfig, an einem warmen Ort, mit einigen Akazien-blättern zum Fressen für die Larven, bis sie soweit sind, sich in ihre Kokons einzuspinnen. Das ist gar nicht schwer.«

»Ist es ein beliebtes Hobby? Betreiben das viele Leute außerhalb professioneller Studien?«

»Nein. In erster Linie sind es Entomologen, die versuchen, ein perfektes Exemplar zu bekommen, vielleicht ein paar Sammler. Dann gibt es da auch die Seidenindustrie, sie züchten Schwärmer, aber nicht diese Art.«

»Entomologen müssen Zeitschriften haben, Berufsjournale, Leute, die Ausrüstungen verkaufen«, sagte Starling.

»Sicher, und die meisten Publikationen kommen hierher.«

»Lassen Sie mich Ihnen ein Bündel zurechtmachen«, sagte Roden. »Ein paar Leute hier abonnieren privat die kleineren Magazine — halten sie unter Verschluß und knöpfen Ihnen einen Vierteldollar ab, wenn Sie sich die blöden Dinger nur angucken. Die kann ich allerdings erst am Morgen kriegen.«

»Ich werde dafür sorgen, daß man sie abholt, danke, Mr. Roden.«

Pilcher fotokopierte die Verweisstellen über Erebus odora und gab sie ihr, zusammen mit dem Insekt. »Ich bringe Sie hinunter«, sagte er.

Sie warteten auf den Fahrstuhl. »Die meisten Leute lieben Schmetterlinge und hassen Nachtfalter«, sagte er. »Aber Schwärmer sind — interessanter, einnehmender.«

»Sie sind schädlich.«

»Yeah, viele, aber sie leben auf allen möglichen Arten. Genau wie wir.« Ein Stockwerk lang Schweigen. »Es gibt einen Schwärmer, in der Tat mehr als einen, der nur von Tränen lebt«, brachte er vor. »Das ist alles, was sie essen oder trinken.«

»Was für Tränen? Wessen Tränen?«

»Die Tränen eines großen Landsäugetiers, etwa von unserer Größe. Die alte Definition von Nachtfalter war ‘alles, das schrittweise, leise alles andere frißt, zerstört oder verwüstet’. Es war auch ein Verb für Destruktion… Machen Sie dies die ganze Zeit — Buffalo Bill zu jagen?«

»Ich tue es, soweit ich kann.«

Pilcher polierte sich die Zähne, wobei er die Zunge hinter den Lippen bewegte; es sah aus wie eine Katze unter den Bettlaken. »Gehen Sie je auf Cheeseburger und Bier oder den belustigenden Hauswein aus?«

»Nicht in letzter Zeit.«

»Kommen Sie jetzt mit mir eine Kleinigkeit essen und trinken? Es ist nicht weit.«

»Nein, aber ich lade Sie ein, wenn dies vorbei ist — und Mr. Roden kann natürlich auch mitkommen.«

»Das ist ganz und gar nicht natürlich«, sagte Pilcher. »Hoffentlich sind Sie hiermit bald fertig, Officer Starling.«

Sie eilte zum wartenden Wagen.

Ardelia Mapp hatte Starlings Post und einen halben Schoko-Karamel-Riegel auf ihr Bett gelegt. Mapp schlief.

Starling trug ihre Reiseschreibmaschine zum Wäscheraum hinunter, stellte sie auf das Brett zum Kleiderzusammenfalten und spannte einen Bogen Papier mit Kohlepapier ein. Auf der Fahrt nach Quantico zurück hatte sie ihre Notizen über Erebus odora gedanklich geordnet, und sie schrieb das Ganze rasch nie der.

Dann aß sie den Schoko-Karamel-Riegel und schrieb ein Memo an Crawford, in dem sie vorschlug, daß man die computerisierten Adressenlisten der Entomologiepublikationen mit den bekannten Straffälligenakten des FBI und den Akten in den Städten vergleichen solle, die den Entführungen am nächsten gelegen waren, dazu den Akten über Schwer- und Sexualverbrecher aus Metro Dade, San Antonio und Houston, den Gegenden, wo die Motten am allerhäufigsten vorkamen.

Da war noch etwas anderes, das sie ein zweites Mal zur Sprache bringen mußte: Fragen wir Dr. Lecter, warum er der Meinung war, der Täter würde mit Skalpieren beginnen.

Sie übergab den Bericht dem Beamten der Nachtschicht und fiel dankbar in ihr Bett. Die Stimmen des Tages flüsterten noch, leiser als Mapps Atem, durch das Zimmer. Auf dem aufsteigenden, sie langsam einhüllenden Dunkel sah sie das weise kleine Gesicht des Schwärmers. Diese glühenden Augen hatten auch Buffalo Bill angesehen.

Aus dem Gefühl eines gewaltigen Katers, den das Smithsonian bei fast jedem Neuling hinterläßt, kam ihr ein letzter Gedanke und die Zusammenfassung des vergangenen Tages: Über diese sonderbare Welt, diese Hälfte der Welt, die nun im Dunkel liegt, muß ich ein Ding jagen, das von Tränen lebt.

15

In East Memphis, Tennessee, sahen Catherine Baker Martin und ihr bester Freund sich in seiner Wohnung gerade einen Spätfilm im Fernsehen an und nahmen ein paar Züge aus einer Haschischpfeife. Die Werbespots wurden länger und kamen häufiger.

»Ich brauch’ unbedingt was zwischen die Zähne, willste Popcorn?« sagte sie.

»Ich werd’s holen gehen, gib mir deine Schlüssel.«

»Bleib sitzen. Ich muß sowieso sehen, ob Mom angerufen hat.«

Sie stand von der Couch auf, eine große junge Frau, großkno-chig und wohlbeleibt, fast schwer, mit einem hübschen Gesicht und einer Menge sauberem Haar. Sie fand ihre Schuhe unter dem Couchtisch und ging nach draußen.

Der Februarabend war unwirtlich, doch nicht sehr kalt. Ein leichter Nebel vom Mississippi her hing brusthoch über dem riesigen Parkplatz. Direkt über sich konnte sie den erlöschenden Mond sehen, blaß und dünn wie ein knöcherner Angelhaken.

Durch das Hochschauen wurde ihr ein wenig schwindlig. Sie machte sich auf den Weg über den Parkplatz und steuerte stetig auf ihre eigene, knapp hundert Meter entfernte Haustür zu.

Der braune Lieferwagen war zwischen einigen Wohnmobilen und Booten auf Anhängern in der Nähe ihres Apartments geparkt. Er fiel ihr auf, weil er den Paketautos ähnelte, die häufig Geschenke von ihrer Mutter brachten.

Als sie dicht an dem Lieferwagen vorbeiging, wurde im Nebel eine Lampe angeknipst. Es war eine Stehlampe mit einem Schirm, die auf dem Asphalt hinter dem Lieferwagen stand. Unter der Lampe stand ein überaus dickgepolsterter Lehnstuhl in rotgeblümtem Chintz, dessen große rote Blumen im Nebel strahlten.

Die beiden Gegenstände glichen einer Möbelgruppierung in einem Ausstellungsraum.

Catherine Baker Martin blinzelte mehrmals und ging weiter. Sie dachte das Wort surreal und gab der Haschischpfeife die Schuld.

Sie war in Ordnung. Jemand zog ein oder aus. Ein. Aus. In Stonehinge Villas zog immer jemand ein oder aus. In ihrem Apartment bewegte sich der Vorhang, und sie sah ihren Kater auf dem Fensterbrett, der einen Buckel machte und die Flanke gegen die Scheibe drückte.

Sie hatte ihren Schlüssel parat, und bevor sie ihn benutzte, schaute sie zurück. Ein Mann kletterte hinten aus dem Lieferwagen. Im Schein der Lampe konnte sie erkennen, daß er einen Gipsverband an der Hand hatte und daß der Arm in einer Schlinge lag.

Sie ging hinein und sperrte die Tür hinter sich ab.

Catherine Baker Martin blickte verstohlen am Vorhang vorbei und sah, wie der Mann versuchte, den Lehnstuhl hinten in den Lieferwagen zu bekommen. Er packte ihn mit seiner gesunden Hand und probierte, ihn mit dem Knie hochzuschieben. Der Stuhl kippte um. Er stellte ihn wieder auf, leckte sich den Finger und rieb an einem Schmutzfleck vom Parkplatz auf dem Chintz.

Sie ging hinaus.

»Ich helf Ihnen damit.« Sie traf genau den richtigen Ton — behilflich und mehr nicht.

»Tatsächlich? Danke.« Eine sonderbare, gezwungene Stimme. Kein örtlicher Akzent.

Die Stehlampe erhellte sein Gesicht von unten und verzerrte seine Züge, doch seinen Körper konnte sie klar und deutlich sehen. Er trug gebügelte Khakihosen und ein Hemd aus einer Art Sämischleder, über der sommersprossigen Brust aufgeknöpft.

Sein Kinn und seine Wangen waren unbehaart, so glatt wie die einer Frau, und seine Augen waren in den Schatten der Lampe nur winzige schimmernde Punkte über den Wangenknochen.

Er sah sie ebenfalls an, und sie reagierte empfindlich darauf. Männer waren häufig über ihre Größe erstaunt, wenn sie sich ihnen näherte, und einige verbargen es besser als andere.

»Gut«, sagte er.

Dem Mann haftete ein unangenehmer Geruch an, und angewidert stellte sie fest, daß an seinem Sämischlederhemd noch Haare hingen. Lockige Haare über den Schultern und unter den Armen.

Es war leicht, den Stuhl auf den niedrigen Boden des Lieferwagens zu heben.

»Wir wollen ihn nach vorne schieben, wären Sie so nett?« Er kletterte hinein und schob etwas Krimskrams beiseite, die großen flachen Pfannen, die man unter ein Fahrzeug schieben kann, um das Öl abfließen zu lassen, und eine kleine Handwinde namens Sargheber.

Sie stießen den Stuhl vorwärts, bis knapp hinter die Sitze.

»Tragen Sie ungefähr Größe 42?« fragte er.

»Was?«

»Würden Sie mir jenes Seil reichen? Es liegt direkt vor Ihren Füßen.«

Als sie sich hinunterbeugte, ließ er den Gipsverband auf ihren Hinterkopf sausen. Sie dachte, sie hätte sich den Kopf angeschlagen, und hob die Hand zu der vermeintlichen Beule, als der Gips erneut herunterkam und ihr die Finger gegen den Schädel quetschte, und nochmal herunter, diesmal hinter ihrem Ohr, eine Folge von Schlägen, keiner von ihnen zu hart, bis sie über dem Stuhl zusammensackte. Sie rutschte auf den Boden des Lieferwagens und blieb auf der Seite liegen.

Der Mann betrachtete sie sekundenlang und zog dann seinen Gipsverband und die Armschlinge ab. Rasch holte er die Lampe in den Lieferwagen und machte die Hintertüren zu.

Er zog ihren Kragen zurück und las mittels einer Taschenlampe das Größenetikett in ihrer Bluse.

»Gut«, sagte er.

Er schlitzte die Bluse den Rücken hoch mit einer Verbands-schere auf, streifte sie ab und fesselte ihr die Hände auf dem Rük-ken mit Handschellen. Er breitete eine Speditionsmatte auf dem Boden des Lieferwagens aus und rollte sie auf den Rücken.

Sie trug keinen Büstenhalter. Er pikte mit den Fingern in ihre großen Brüste und fühlte ihr Gewicht und ihre Spannkraft.

»Gut«, sagte er.

Auf ihrer linken Brust war ein rosa Knutschfleck. Er leckte sich den Finger, um an ihm wie an dem Chintz zu reiben, und nickte, als die Verfärbung bei leichtem Druck verschwand. Er rollte sie aufs Gesicht und untersuchte ihre Kopfhaut, wobei er ihr dickes Haar mit den Fingern scheitelte. Der wattierte Gipsverband hatte sie nicht verletzt.

Mit zwei Fingern an der Seite ihres Halses nahm er ihren Puls und fand ihn kräftig.

»Gut«, sagte er. Er hatte noch eine lange Rückfahrt zu seinem zweistöckigen Haus vor sich, und wollte sie deshalb lieber nicht hier verarzten. Catherine Baker Martins Kater sah vom Fenster aus zu, wie der Lieferwagen davonfuhr und die Rücklichter immer dichter zusammenrückten.

Hinter dem Kater klingelte das Telefon. Mit seinem im Dunkeln blinkenden Licht nahm der Anrufbeantworter im Schlafzimmer den Anruf auf.

Die Anruferin war Catherines Mutter, die US-Senatorin von Tennessee.

16

In den 80er Jahren, dem Goldenen Zeitalter des Terrorismus, bediente man sich spezieller Verfahren, um sich mit einem Kidnapping zu befassen, das ein Kongreßmitglied in Mitleidenschaft zog.

Um 2.45 berichtete der für das FBI-Büro Memphis zuständige Sonderagent dem Hauptquartier in Washington, daß Senatorin Ruth Martins einzige Tochter verschwunden sei.

Um 3.00 verließen zwei nicht gekennzeichnete VW-Busse die feuchte Tiefgarage bei der Washingtoner Außenstelle Buzzard’s Point. Ein VW-Bus fuhr zum Senate Office Building, wo Techniker an den Telefonapparaten in Senatorin Martins Büro Mithör- und Aufnahmegeräte anbrachten und die Münzfernsprecher in allernächster Nähe von Senatorin Martins Büro mit einer Title 3-Telefonwanze versahen. Das Justizministerium weckte das amtsjüngste Mitglied des Senatssonderausschusses des Nachrichtendienstes, um der obligatorischen Meldung über die Abhöranlagen Rechnung zu tragen.

Das andere Fahrzeug, ein VW-Bus mit Spionglas und Überwachungsausrüstung, war auf der Virginia Avenue geparkt, um die Vorderfront von Watergate West zu sichern, der Washingtoner Residenz von Senatorin Martin. Zwei der Insassen des VW-Busses betraten das Gebäude, um Mithörgeräte an den Privatapparaten der Senatorin anzubringen.

Bell Atlantic taxierte die Durchschnittszeit zur Zurückverfolgung eines Anrufs mit Lösegeldforderung, der von einem inländischen Digitalschaltsystem getätigt wird, auf siebzig Sekunden. Das Sondereinsatzkommando in Buzzard’s Point legte Doppelschichten ein, falls die Hinterlegung des Lösegelds in der Gegend von Washington erfolgen sollte. Von Radiofunk wechselte es zu vorgeschriebener Verschlüsselung, um einen etwaigen Lösegeldort vor dem Eindringen von Nachrichtenhelikoptern zu schützen — jene Art von Verantwortungslosigkeit seitens des Nachrichtengewerbes war selten, doch es war schon vorgekommen.

Das Geiselrettungsteam war in Alarmbereitschaft und für sofortigen Einsatz gerüstet.

Jedermann hoffte, daß Catherine Baker Martins Verschwinden ein professionelles Kidnapping wegen Lösegelds war; diese Möglichkeit bot die beste Chance für ihr Überleben.

Keiner erwähnte die schlimmste aller Möglichkeiten.

Dann, kurz vor Morgengrauen in Memphis, hielt ein Citypolizist auf Streife, der eine Beschwerde hinsichtlich eines Herumtreibers auf der Winchester Avenue untersuchte, einen älteren Mann an, der entlang des Banketts Aluminiumdosen und Schrott auflas. In seinem Karren fand der Polizist eine vorn noch zugeknöpfte Damenbluse. Am Rücken war die Bluse wie ein Leichenhemd aufgeschlitzt. Das Wäschezeichen war das von Catherine Baker Martin.

__________

Jack Crawford fuhr um 6.30 gerade von seinem Haus in Arlington in Richtung Süden, als das Telefon in seinem Wagen zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten summte.

»Neun zweiundzwanzig vierzig.«

»Vierzig auf Empfang für Alpha.«

Crawford entdeckte einen Rastplatz, fuhr darauf und hielt an, um dem Telefon seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Alpha 4 ist der Chef des FBI.

»Jack — sind Sie über Catherine Martin auf dem laufenden?«

»Der Beamte von der Nachtschicht hat mich eben angerufen.«

»Dann wissen Sie über die Bluse Bescheid. Sagen Sie was.«

»Buzzard Point ist in Alarmbereitschaft«, sagte Crawford. »Mir wäre es lieber, wenn sie das noch blieben. Wenn nicht, würde ich gern die Telefonüberwachung beibehalten. Aufgeschlitzte Bluse oder nicht, wir wissen nicht mit Bestimmtheit, ob es Bill ist. Wenn es ein Nachahmer ist, ruft er vielleicht an und verlangt Lösegeld. Wer macht in Tennessee Abhördienst und Spurensicherung, wir oder sie?«

»Sie. Die Staatspolizei. Sie ist ziemlich gut. Phil Adler hat vom Weißen Haus angerufen, um mich vom ‘starken Interesse’ des Präsidenten zu unterrichten. Wir können hier einen Sieg brauchen, Jack.«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Wo ist die Senatorin?«

»Auf dem Weg nach Memphis. Sie hat mich vor einer Minute zu Hause erwischt. Sie können sich einen Begriff machen.«

»Ja.« Crawford kannte Senatorin Martin von Etatanhörungen.

»Sie übt mit ihrem ganzen Einfluß Druck aus.«

»Das kann ich ihr nicht verübeln.«

»Ich auch nicht«, sagte der Chef. »Ich habe ihr erklärt, daß wir auf Hochtouren arbeiten, genau wie wir das die ganze Zeit gemacht haben. Sie ist… sie weiß um Ihre persönliche Lage, und sie hat Ihnen einen Firmenjet angeboten. Benutzen Sie ihn — kommen Sie abends nach Hause, wenn Sie können.«

»Gut. Die Senatorin ist zäh, Tommy. Wenn sie versucht, die Sache zu leiten, werden wir aneinandergeraten.«

»Ich weiß. Wenn es nicht anders geht, geben Sie mir die Schuld. Was haben wir bestenfalls — sechs oder sieben Tage, Jack?«

»Ich weiß nicht. Wenn er in Panik gerät, wenn er entdeckt, wer sie ist — macht er sie vielleicht einfach kalt und lädt sie ab.«

»Wo sind Sie?«

»Zwei Meilen vor Quantico.«

»Paßt ein Lear auf die Startbahn in Quantico?«

»Ja.«

»Zwanzig Minuten.«

»Jawohl, Sir.«

Crawford tippte Nummern in seinen Apparat und fädelte sich wieder in den Verkehr ein.

17

Das Handtuch über der Schulter stand Clarice Starling mürrisch nach einem unruhigen Schlaf in ihrem Bademantel und ihren Häschenpantoffeln da und wartete darauf, ins Badezimmer zu können, das sie und Mapp sich mit den Studentinnen von nebenan teilten. Die Nachrichten aus Memphis im Radio ließen sie einen halben Atemzug lang erstarren.

‘O Gott’, dachte sie. ‘Ach du Schreck.’ »OKAY DA DRINNEN! DIESES BAD IST EROBERT. MIT HOCHGEZOGENEN HOSEN RAUSKOMMEN. DIES IST KEIN DRILL!« Sie stieg zu ihrer verblüfften Nachbarin unter die Dusche. »Rück schon beiseite, Grade, und würdest du mir bitte die Seife da reichen.«

Das Ohr auf ein Telefonklingeln gespitzt, packte sie für einen Aufenthalt über Nacht und stellte ihr gerichtsmedizinisches Köfferchen neben die Tür. Sie vergewisserte sich, daß die Zentrale wußte, daß sie auf ihrem Zimmer war, und verzichtete aufs Frühstück, um am Telefon zu bleiben. Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn eilte sie wortlos mit ihrer Ausrüstung zur Abteilung für Verhaltensforschung hinunter.

»Mr. Crawford ist vor fünfundvierzig Minuten nach Memphis aufgebrochen«, erklärte die Sekretärin ihr freundlich. »Burroughs ist mit, und Stafford vom Labor ist vom National abgeflogen.«

»Ich hab’ gestern abend einen Bericht für ihn hier abgegeben. Hat er irgendeine Nachricht für mich hinterlassen? Ich bin Clarice Starling.«

»Ja, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe drei Kopien Ihrer Telefonnummer hier vor mir, und auf seinem Schreibtisch sind noch weitere, glaube ich. Nein, er hat nichts für Sie hinterlassen, Clarice.« Die Frau warf einen Blick auf Starlings Gepäck. »Soll ich ihm etwas ausrichten, wenn er anruft?«

»Hat er auf seiner Dreierkarte eine Telefonnummer in Memphis hinterlassen?«

»Nein, er gibt sie telefonisch durch. Haben Sie heute keinen Unterricht, Clarice? Sie sind doch noch in der Schule, oder?«

»Ja. Ja, bin ich.«

Starlings spätes Betreten des Klassenzimmers wurde nicht von Gracie Pitman erleichtert, der jungen Frau, die sie in der Dusche verdrängt hatte. Gracie Pitman saß direkt hinter Starling. Es schien ein langer Weg zu ihrem Platz. Gracie Pitmans Zunge hatte Zeit für zwei volle Rotationen in ihrer flaumigen Wange, bevor Starling in der Klasse untertauchen konnte.

Ohne Frühstück ließ sie zwei Stunden über ‘Gutgläubiger Haftbefehl — die Ausnahme von der ausschließenden Regel bei Fahndung und Festnahme’ über sich ergehen, bis sie zum Automaten gelangen und sich ein Cola ziehen konnte.

Am Mittag schaute sie in ihrem Briefkasten nach, doch es war keine Nachricht darin. Da kam ihr der Gedanke, wie auch schon bei einigen anderen Gelegenheiten in ihrem Leben, daß starke Frustration fast genau wie die Markenmedizin Fleet’s schmeckt, die sie als Kind einnehmen mußte.

An manchen Tagen wacht man verändert auf. Dies war so ein Tag für Starling, daran bestand kein Zweifel. Was sie gestern in der Leichenhalle von Potter gesehen hatte, hatte eine kleine tektonische Verschiebung in ihr bewirkt.

Starling hatte auf einer guten Schule Psychologie und Kriminologie studiert. In ihrem Leben hatte sie einige der abscheulich beiläufigen Methoden gesehen, mit der die Welt Dinge zerbricht. Sie hatte es jedoch nicht wirklich gewußt, und nun wußte sie: Manchmal erzeugt die Menschenfamilie hinter einem menschlichen Gesicht einen Geist, dessen Vergnügen das ist, was auf dem Porzellantisch in Potter, West Virginia, lag, in dem Raum mit den Zentifolien. Starlings erste Vorstellung von diesem Geist war schlimmer als alles, was sie auf der Autopsiewaage sehen könnte. Das Wissen würde für immer auf ihrer Seele lasten, und sie wußte, daß sie eine Hornhaut bilden mußte, andernfalls würde es sie zermürben.

Die Unterrichtsroutine half ihr nicht. Den ganzen Tag lang hatte sie das Gefühl, daß alles nur knapp über dem Horizont weiterlief. Sie schien ein unermeßliches Murmeln an Ereignissen zu hören, wie das Geräusch aus einem fernen Stadion. Andeutungen von Bewegung versetzten sie in Unruhe, auf dem Gang vorbeischlendernde Gruppen, über ihr dahinziehende Wolkenschatten, das Geräusch eines Flugzeugs.

Nach dem Unterricht rannte Starling zu viele Runden, und dann schwamm sie. Sie schwamm, bis sie an die Wasserleichen dachte, und dann wollte sie das Wasser nicht mehr auf ihrer Haut spüren.

Mit Mapp und einem Dutzend anderer Studenten schaute sie sich im Freizeitraum die 19-Uhr-Nachrichten an. Die Entführung von Senatorin Martins Tochter war nicht das Hauptthema, sondern kam erst nach den Genfer Rüstungsgesprächen.

Man zeigte einen Film aus Memphis, der mit dem Straßenschild der Stonehinge Villas begann, über das sich drehende Licht eines Streifenwagens aufgenommen. Die Medien stellten die Story groß heraus, und da es kaum Neues zu berichten gab, interviewten Reporter sich gegenseitig auf dem Parkplatz in Stonehinge. Die Behörden von Memphis und Shelby County zogen die Köpfe vor Wällen ungewohnter Mikrofone ein. In einer drängelnden, quietschenden Hölle aus aufflammenden Kameras und Audiofeed-backs führten sie die Dinge auf, die sie nicht wußten. Standfotografen duckten sich und schössen wild irgendwelche Bilder. Jedesmal liefen sie rückwärts in die Fernsehminikameras, wenn Ermittler Catherine Baker Martins Apartment betraten oder verließen.

Ein ironischer Hochruf wurde im Freizeitraum der Akademie laut, als Crawfords Gesicht kurz im Fenster des Apartments auftauchte. Starling verzog den Mundwinkel zu einem Lächeln.

Sie überlegte, ob Buffalo Bill zusah. Sie überlegte, was er von Crawfords Gesicht hielt oder ob er überhaupt wußte, wer Crawford war.

Andere schienen ebenfalls der Meinung zu sein, daß Buffalo Bill sich das ansah.

Da war Senatorin Martin, live im Fernsehen mit Peter Jennings. Sie stand allein im Schlafzimmer ihres Kindes, vor einer Wand mit einem Wimpel der Southwestern University und Wile E. Coyote und den Zusatzartikel für Gleichberechtigung unterstützenden Postern.

Sie war eine große Frau mit einem starken, klaren Gesicht.

»Ich spreche nun zu der Person, die meine Tochter gefangenhält«, sagte sie. Sie ging dichter an die Kamera heran, wodurch diese unvorhergesehenerweise neu eingestellt werden mußte, und sprach, wie sie nie zu einem Terroristen gesprochen hätte.

»Sie haben die Macht, meine Tochter unversehrt freizulassen. Sie heißt Catherine. Sie ist sehr sanft und verständig. Bitte lassen Sie meine Tochter gehen, bitte lassen Sie sie unversehrt frei. Sie haben die Kontrolle über diese Situation. Sie haben die Macht. Sie haben die Verantwortung. Ich weiß, daß Sie Liebe und Mitleid empfinden können. Sie können sie vor allem schützen, was ihr unter Umständen Schaden zufügen könnte. Sie haben jetzt eine wunderbare Gelegenheit, der ganzen Welt zu zeigen, daß Sie zu großer Güte fähig sind, daß Sie stark genug sind, andere besser zu behandeln, als Sie von der Welt behandelt worden sind. Sie heißt Catherine.«

Senatorin Martins Blick schwenkte von der Kamera weg, als das Bild zu einem Amateurfilm über ein Kleinkind wechselte, das sich dadurch beim Gehen half, daß es sich an der Mähne eines großen Collies festhielt.

Die Stimme der Senatorin fuhr fort: »Der Film, den Sie jetzt sehen, zeigt Catherine als kleines Kind. Lassen Sie Catherine frei. Lassen Sie Catherine irgendwo in diesem Land unversehrt frei, und Sie werden meiner Unterstützung und meiner Freundschaft sicher sein.«

Nun eine Reihe von Standfotos — Catherine Martin im Alter von acht, wie sie die Ruderpinne eines Segelboots hielt. Das Boot war aufgebockt, und ihr Vater strich den Rumpf. Zwei Fotos jüngeren Datums der jungen Frau, ein Bild in voller Größe und eine Nahaufnahme ihres Gesichts.

Nun zurück zur Senatorin in Großaufnahme: »Ich verspreche Ihnen vor diesem ganzen Land, Sie werden meine rückhaltlose Unterstützung haben, wann immer Sie sie benötigen. Ich bin gut ausgerüstet, um Ihnen zu helfen. Ich bin US-Senatorin. Ich stehe im Dienst des Ausschusses der technischen Versorgungstruppe. Ich bin intensiv an der Strategischen Verteidigungsinitiative beteiligt, den Weltraumwaffensystemen, die jeder ‘Star Wars’ nennt. Wenn Sie Feinde haben, werde ich sie bekämpfen. Wenn irgend jemand Sie belästigt, kann ich ihm Einhalt gebieten. Sie können mich jederzeit, Tag oder Nacht, anrufen. Catherine heißt meine Tochter. Bitte, zeigen Sie uns Ihre Stärke«, sagte Senatorin Martin abschließend, »lassen Sie Catherine unversehrt frei.«

»Mann, ist das schlau«, sagte Starling. Sie zitterte wie ein Terrier. »Jesus, ist das schlau.«

»Was, der Star Wars?« sagte Mapp. »Wenn die Außerirdischen versuchen, Buffalo Bills Gedanken von einem anderen Planeten aus zu kontrollieren, kann Senatorin Martin ihn schützen — ist das der Sinn?«

Starling nickte. »Viele paranoide Schizophreniker haben diese spezielle Halluzination — Kontrolle durch außerirdische Wesen. Wenn Bill so geartet ist, läßt er sich durch diese Methode vielleicht hervorlocken. Es ist jedoch ein verdammt guter Schuß, und sie hat da oben gestanden und hat ihn abgefeuert, nicht wahr? Zumindest könnte es Catherine ein paar weitere Tage einbringen. Sie haben vielleicht Zeit, ein bißchen an Bill zu arbeiten. Oder vielleicht auch nicht; Crawford ist der Meinung, seine Zeitspanne würde kürzer. Sie können dies versuchen, sie können andere Dinge versuchen.«

»Nichts, was ich nicht versuchen würde, wenn er eins von meinen Kindern hätte. Warum hat sie in einem fort ‘Catherine’ gesagt, warum die ganze Zeit den Namen?«

»Sie versucht, Buffalo Bill dazu zu bringen, Catherine als Person zu sehen. Sie glauben, er wird sie entpersönlichen, er wird sie als Objekt ansehen müssen, bevor er sie in Stücke reißen kann. Serienmörder sprechen in Gefängnisinterviews darüber, manche von ihnen. Sie sagen, es sei, als bearbeite man eine Puppe.«

»Hast du Crawford hinter Senatorin Martins Erklärung gesehen?«

»Vielleicht, oder vielleicht Dr. Bloom — da ist er«, sagte Starling. Auf dem Bildschirm war ein einige Wochen zuvor aufgenommenes Interview mit Dr. Alan Bloom von der University of Chicago über das Thema Mordserien zu sehen.

Dr. Bloom weigerte sich, Buffalo Bill mit Francis Dolarhyde oder Garrett Hobbs oder irgendeinem der anderen Serientäter seines Wissens zu vergleichen. Er lehnte es ab, den Begriff ‘Buffalo Bill’ zu benutzen. Eigentlich sagte er überhaupt nicht viel, aber er war als Experte bekannt, wahrscheinlich der Experte auf dem Gebiet, und die Sendergruppe wollte sein Gesicht zeigen.

Man verwendete seine abschließende Erklärung gleichzeitig als Schlußlicht des Berichts: »Es gibt nichts, womit wir ihm drohen können, das schrecklicher ist, als das, dem er jeden Tag ins Auge sieht. Was wir tun können, ist, ihn zu bitten, zu uns zu kommen. Wir können ihm freundliche Behandlung und Erleichterung versprechen, und wir meinen es absolut und aufrichtig.«

»Könnten wir nicht alle etwas Erleichterung brauchen«, sagte Mapp. »Soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht selbst etwas Erleichterung gebrauchen könnte. Raffinierte Benebelung und oberflächlicher Scheiß, herrlich! Er hat ihnen nichts gesagt, aber wahrscheinlich hat er auch Bill nicht sehr in Aufruhr versetzt.«

»Ich kann eine Zeitlang aufhören, über das Mädchen in West Virginia nachzudenken«, sagte Starling, »sie verschwindet für, sagen wir, jeweils eine halbe Stunde, und dann sticht es mich in der Kehle. Glitzernagellack auf ihren Nägeln — ich will nicht ins Detail gehen.«

Mapp kramte unter ihren vielen Leidenschaften und heiterte Starlings düstere Stimmung beim Abendessen dadurch auf, daß sie Schrägreime in den Werken von Stevie Wonder und Emily Dickinson verglich; andere Zuhörer waren gleichermaßen fasziniert.

Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer holte Starling hastig eine Nachricht aus ihrem Fach und las dies: Bitte Albert Roden anrufen, dazu eine Telefonnummer.

»Das beweist nur meine Theorie«, sagte sie zu Mapp, als sie mit ihren Büchern auf ihre Betten plumpsten.

»Und die wäre?«