Das unheimliche Haus von Hackston

Wolfgang Ecke

1974

Eines Tages verirrt sich Perrys Freund Tom Harder im Nebel und landet mit seinem Wagen im Hof eines merkwürdigen Hauses in Hackston; dort wird er saugrob behandelt und rausgeschmissen — dabei wollte er ja nur eine Auskunft. Kurz darauf liest Harder in der TIMES von einem Autounfall; der Wagen, eine Peugot 403, gleicht dem, den er auf dem Hof in Hackston sah. Aber das merkwürdigste an der Meldung war, daß man neben dem Wagen zertruümmerte bunte Geigen gefunden hatte…

Inhaltsverzeichnis

Nebel

Ein Antiquitätenhändler wittert Unrat

Doch ein Fall?

Die freundlichen Leute von Hackston

Das Brockton-Haus und seine Aussicht

Eine folgenschwere Begegnung

Ein Lebenslauf für hundert Pfund

Ein nächtlicher Spuk

Gejagt und gehetzt

Der ehrliche Zorn des Mister Lash

Kingsplace Nr. 12

 19 Uhr 50, Ereignis Nr. 1: Ein Dialog

 20 Uhr, Ereignis Nr. 2: Abendessen für einen alten Mann

 21 Uhr 35, Ereignis Nr. 3: Warum Arthur Jaggers die Polizei rief

 23 Uhr 10, Ereignis Nr. 4.- Nüchtlicher Besuch

 Das erste Telefongespräch

 Das zweite Telefongespräch

Im unheimlichen Haus

Dicki und die Lady in Rot

Eine teure Geige

Pläne werden geschmiedet

Eine heiße Information

Nachtfahrt

Der Augenblick X

Vorhang zum letzten Akt

Fünfzehn Stunden später

Personenverzeichnis

Tom Harder — wettet einen Fußball gegen einen Heiligen (er ist Antiquitätenhändler) und bringt die ganze Geschichte ins Rollen

Joe Melvin sieht aus wie ein Frettchen mit Goldzähnen und bringt es spielend am Tag auf 100 Zigaretten

Perry Clifton muß eigentlich nicht vorgestellt werden

Dicki Miller ist meistens eine gute Hilfe für seinen Freund Perry, allerdings eben nur meistens …

Angy ein noch sehr kleines Mädchen, das aber leidenschaftlich gern große Sänger in höchster Lautstärke hört

Jim Bradley seines Zeichens Gastwirt in Hackston und ein großer Bohnensuppenkoch

Rodney Holman ein begeisterter Fotograf. Im bürgerlichen Beruf Lehrer

Jack Mason hat etwas Unnahbares an sich — vielleicht weil er Maler und Galerist ist?

Cockland auch »die Ratte« genannt, spielt eine gewisse Rolle, obwohl er nie leibhaftig auftaucht

François Mellier besitzt viel Geld, kann aber trotzdem die »verdammte Insel« (wie er England gerne nennt) nicht verlassen

Charly Webster heißt eine ganze Zeit lang Bell. Das Schachspielen hat er im Knast gelernt

Inspektor Scott Skiffer residiert natürlich im Yard

Sam Newton ein Detektiv, der gegen einen Detektiv eingesetzt wird

Paul Bromley in jeder Beziehung ein unangenehmer Zeitgenosse genosse. Seine Stimme klingt so fett, wie es sein Leib ist

Miß Craig Ist sie mehr als die Vorzimmerdame von Mr. Lash? Nimmt ein Parfum, das selbst Perry Clifton betört

Carpenter Lash hat etwas von einem Seiltänzer an sich. Er sagt von sich: »Ich bin doch nur ein Dummkopf«; der Detektiv nennt ihn den »Kaufmann von der traurigen Gestalt«

Frank Gordon Firmeninhaber, ist immer auf Reisen

Arthur und Elaine Jaggers machen eine wichtige Entdeckung (aber auch nicht mehr)

Brenda Harvey wird von Dicki durch fast ganz London verfolgt, weil sie eine bunte Geige gekauft hat

Neben- oder Hauptrollen, ganz wie man will, spielen ferner: Kellerverliese, bunte Geigen, ein grüner Peugeot 403 und ein Ford Baujahr 68, ein Kinderfoto, Gerümpelhaufen, Schlüssel usf.

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Hier soll das Rezept für ein Spezialgetränk von Perry Clifton nicht fehlen, das die Lektüre dieses Buches im wahrsten Sinne des Wortes versüßen wird:

Kakoffee setzt sich aus vier Bestandteilen zusammen:

aus gekochtem Kaffee

aus gekochtem Kakao

aus Eiswürfeln. Das Wasser, aus denen die Eiswürfel gefroren werden, erhält als Zusatz ein Päckchen Vanillezucker.

aus Schlagsahne — dem späteren »Fudschijama«.

Zubereitung: In ein großes Glas kommen mindestens drei Eiswürfel, darauf im Verhällnis 1:1 Kaffee und Kakao und obendrauf ein großer »Fudschijama«.

Nebel

Nebel!

Tom Harder saß verkrampft und leicht nach vorn gebeugt hinter dem Steuer seines Lieferwagens. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er durch die Frontscheibe und versuchte die milchiggraue Masse eines nicht endenwollenden Nebelmeeres zu durchdringen.

Die pausenlose Anstrengung und Konzentration hatten ihn müde gemacht. Seit fast einer Stunde schlichen sie im 10-Meilen-Tempo durch den Nebel, der sich ihnen in allen Erscheinungsformen darbot: vom treibenden Dunstfetzen bis zur wabernden Masse, vom stehenden Geisternebel bis zu bizarren, strömenden Schwaden.

Die meiste Zeit hatte sich Tom Harder an einem Paar gelber Schlußlichter vor ihm orientiert. Doch die waren verschwunden.

Harder war groß und schlank, fast schmal. Eigentlich war alles an ihm schmal: der Kopf, die Schultern und die Hände, die das Steuer so fest hielten, daß die Knöchel hell hervortraten. Manchmal warf er einen raschen Blick auf seinen Begleiter. George Burton, ganze fünfzehn Jahre alt, mit einem Schopf widerspenstiger rostroter Haare, starrte ebenso angestrengt durch die Scheibe. Ihre Unterhaltung war längst eingeschlafen.

Doch plötzlich richtete sich George auf. »Oh!« kickste er mit aufgeregter Stimmbruchstimme. »Haben Sie das Schild gesehen, Mister Harder?«

»Welches Schild?« Tom Harder hatte nichts gesehen.

»Ein Ortsschild … oder ein Hinweisschild. Ich konnte es nicht lesen.«

»Irgendein Dorf, George!«

»Ich glaube, wir sind gar nicht mehr auf der Straße nach London.«

Harder schüttelte den Kopf. »Unsinn, George! Bei dieser Geschwindigkeit kann man sich nicht verfahren. Selbst wenn man es wollte…«

George Burton war nicht so leicht zu überzeugen: »Aber? wir sind doch die ganze Zeit hinter dem Kombi mit der französischen Nummer hergefahren.«

»Ja«, stimmte Tom Harder zu. »Der ist vorhin abgebogen. Das hat doch mit uns nichts zu tun. Vielleicht hatte er es satt, vor uns herzufahren.«

»Wenn’s das wäre«, kickste George, »dann würde er ja jetzt hinter uns sein…«

Gegen diese Logik wußte Harder nichts einzuwenden.

»Können wir nicht rückwärts fahren, Mister Harder?« »Nein, das ist bei diesem Nebel viel zu gefährlich. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als in diesem Tempo weiterzufahren.«

George zuckte mit den Schultern, räusperte sich (was seine Stimme auch nicht besser machte) und maulte krächzend: »Ich wette einen holzgeschnitzten Heiligen gegen einen alten Fußball, daß wir nicht mehr auf der Straße nach London sind!«

Tom Harder nickte lächelnd: »Solltest du recht haben, Georgie, stifte ich für deine Hinterhofmannschaft einen funkelnagelneuen Fußball!«

George strahlte und streckte seine Hand aus: »Abgemacht?«

»Abgemacht!«

»Bin ich froh, daß Sie nicht rückwärts gefahren sind. Einen neuen Fußball … Am besten, wir holen ihn bei WARD in der Portlane. Dort kriegt mein Daddy fünf Prozent!«

Harders Grinsen verstärkte sich: »Und wenn wir noch auf der Straße nach London sind, wäschst du fünfmal meinen Wagen. Auch einverstanden?«

»Auch einverstanden!« George Burton sagte es ohne Zögern. Für ihn war es so gut wie sicher, daß er mit seinen Freunden schon morgen mit einem neuen Fußball spielen würde.

Zwanzig Minuten lang mußten sie ihr 10-Meilen-Tempo noch beibehalten, und es schien, als sei der Nebel noch dichter geworden.

Dann machte die Straße eine starke Rechtskurve und begann gleichzeitig anzusteigen — bald so stark, daß Tom Harder in den ersten Gang zurückschalten mußte.

Doch mit einem Male, fast übergangslos, riß der Nebel auf, lichtete sich und blieb, gleich einer Wolkendecke, hinter ihnen.

Sie befanden sich auf einer Hochebene. Vor ihnen dehnte sich das Land tafelförmig und sonnenbeschienen aus. Tom Harder wußte sofort, daß George recht behalten hatte: Sie waren tatsächlich nicht mehr auf der Straße nach London. Und er wußte noch etwas mit Sicherheit: In dieser Gegend war er noch nie gewesen.

Er hielt an und stellte den Motor ab.

Rund einen Kilometer entfernt konnten sie eine Ansammlung von Häusern ausmachen. Davor aber entdeckten sie ein großes Haus. Selbst von hier aus, einen halben Kilometer davon entfernt, sah es wenig einladend, ja fast unheimlich aus.

»Du hast deinen Fußball gewonnen, George! Wir scheinen von der Straße nach London meilenweit entfernt zu sein.«

George gab sich gelassen und großzügig: »Na ja, Sie hätten ja auch recht haben können, Mister Harder … Was machen wir jetzt?«

»Am besten, wir fahren bis zu dem Dorf dort drüben und fragen nach dem Weg.«

»Warum erst dort?« wollte George wissen. »Wir können doch schon in dem Haus fragen.«

»Vielleicht ist da gar niemand. Es sieht von hier so unbewohnt aus!« Während Tom Harder dies sagte, startete er und legte den Gang ein.

Eine halbe Minute später erreichten sie das Gebäude, das in Wirklichkeit viel größer war, als es sich aus der Entfernung vermuten ließ.

Tom Harder hielt auf der Straße und betrachtete die graue Fassade des Hauses. Sicher die ungewöhnlichste, die er je gesehen hatte: hoch aufragend, von abstoßender Häßlichkeit.

Ein Stück Schloß, ein Stück Gefängnis, ein Stück Fabrik und ein Rest von Festung. Fenster, die vergittert waren, und Fenster, die kein Glas mehr hatten. Nur ein kleiner Anbau schien irgendwann in den letzten zwanzig Jahren erneuert werden zu sein. Das einzige, was an die Gegenwart erinnerte, war eine mächtige Fernsehantenne auf dem Dach des Anbaus.

Tom Harder fröstelte beim Anblick des Hauses.

George Burton dagegen spürte wenig von der unheimlichen und gespenstigen Ausstrahlung des Hauses.

»Das Tor steht offen, Mister Harder. Fragen wir doch hier nach dem Weg … oder?«

»Meinetwegen!«

Langsam bog Harder in den geräumigen Hof des Anwesens ein. Da packte George seinen Arm und rief überrascht:

»Da, sehen Sie nur, Sir (wenn er sehr aufgeregt war, sagte er immer Sir), der Kombi mit der französischen Nummer.«

»Tatsächlich! Er muß eine Abkürzung gefahren sein.«

Tom hielt und stellte den Motor ab. Keine Menschenseele war zu sehen, und für einige Sekunden fühlte er wieder jene eigenartige Beklemmung, die ihn schon vorhin befallen hatte.

»Dort kommt jemand, Mister Harder!« meldete George und deutete nach links, wo ein Mann in einer Tür aufgetaucht war. Und was für ein Mann: groß, von erschreckender Hagerkeit und einem Gesicht, das an ein Frettchen erinnerte.

Tom Harder stieg aus und sah sich von stechenden Augen gemustert. Als der Mann den Mund öffnete, blitzten statt weißer Zähne zwei Reihen Goldkronen.

Die Stimme des Frettchens hatte die Temperatur einer Eisscholle: »Verdammt, es wird höchste Zeit, daß du endlich antanzt. Seit fünf Stunden warten wir auf die neue Verpackung. Hast du unterwegs eine Picknickrunde eingelegt?«

Tom Harder wollte etwas erwidern, doch da zogen sich plötzlich die buschigen Augenbrauen des »Mannes mit den Goldzähnen« zusammen. Wütende Blicke schossen aus seinen Augen.

Er hatte George auf dem Nebensitz entdeckt.

»Bist du verrückt geworden, einen Anhalter mitzunehmen? Hat dir Mason nicht eingetrichtert, ohne Stopp bis hierher durchzufahren?«

Tom Harder versuchte den Redestrom des Wütenden zu dämpfen: »Hören Sie, Mister, ich…«

Der Dürre winkte ab und zischte: »Spar dir deine Förmlichkeiten. Ich bin Joe Melvin …« Und mit einem hinterhältigen Grinsen fügte er hinzu: »In unserer Firma gibt es keine … oder besser: fast keine Standesunterschiede.«

»Sie verwechseln mich, Mister Melvin. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Ich kenne auch Ihren Mason nicht!« Melvins Kinnlade klappte herunter. Die Goldkronen funkelten. »Wir haben uns nur im Nebel verfahren, und ich wollte hier nach der Straße nach London fragen.«

Zuerst zeigte Melvins Miene nur grenzenloses Staunen. Er holte pfeifend Luft und schluckte, wobei sein Adamsapfel heftig auf und ab schnellte. Dann machte er einen raschen Schritt auf Tom Harder zu und bohrte diesem seinen nikotingefärbten Zeigefinger in den Magen. Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen, während in seiner Stimme ein merkwürdiger Unterton mitschwang: »Verfahren?«

Harder nickte.

»Sie sind gar nicht der Neue? Das hier … das ist Betriebsgelände … Sie können doch nicht so ohne weiteres hier hereinfahren.«

»Ich sagte doch, daß wir uns verfahren haben. Bergab ist der Nebel so stark, daß man keine zehn Meter weit sehen kann.« Tom Harder sprach hastig, so, als wolle er den Mann vor sich beschwichtigen. Melvin nahm auch den Finger weg und deutete damit in Richtung des Dorfes: »Fragen Sie in Hackston nach dem Weg, Mister! Und jetzt darf ich Sie bitten, das Betriebsgelände zu verlassen!«

Tom Harder ging mit staksigen Schritten zum Wagen, wo ihn George mit großen, fragenden Augen erwartete.

»Später!« Tom nickte ihm zu. »Nur erst weg von hier. Das muß ein Verrückter gewesen sein!« Er gab so heftig Gas, daß etliche Steine unter den Hinterrädern wie eine Geschoßgarbe an Joe Melvin vorbeiflogen.

25 Minuten später waren sie wieder auf der Straße nach London.

Ein Antiquitätenhändler wittert Unrat

Der 16. März, ein Sonnabend, war einer jener schönen Tage, die den bevorstehenden Frühling nicht nur ahnen, sondern auch spüren ließen. Die Quecksilbersäule war in London bis auf 15 Grad Celsius geklettert. Ein Ereignis, das die Londoner Bürger mit einer Mischung aus Überraschung und Mißtrauen bestaunten.

Auch Perry Clifton, Warenhausdetektiv bei JOHNSON & JOHNSON, wurde durch das Wetterwunder in frohe Stimmung versetzt und beschloß kurzfristig, den Nachmittag für einen Besuch bei Tom Harder in Harrow zu nutzen. Sieben Jahre lang hatten sie zusammen die Schulbank gedrückt und sich auch später nie aus den Augen verloren. Vor vier Jahren lernte Tom Harder die bildhübsche Jenny Crofter kennen und heiratete sie. Und wieder ein Jahr später waren sie nach Harrow gezogen, wo sie ein Antiquitätengeschäft übernahmen.

Es war Punkt 16 Uhr, als Perry Clifton den Laden betrat.

Jenny war gerade dabei, Porzellangeschirr in einer Vitrine neu zu ordnen. Da sie gegen das Licht sehen mußte, erkannte sie Perry Clifton nicht sofort.

»Guten Tag, Sir«, sagte sie, um jedoch im gleichen Augenblick voller Freude zu rufen: »Perry! Das ist aber eine Überraschung!«

»Hoffentlich eine angenehme!«

Sie schloß die Vitrine, eilte auf Perry zu und schüttelte ihm beide Hände. »Tom wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn er dich entdeckt. Er ist nur rasch zur Post gegangen. Er müßte jeden Augenblick…« Sie hielt inne und schlug sich mit den Fingerspitzen vor die Stirn. »Oh, ich Dummkopf! Du bist ja gar nicht überraschend gekommen, Tom hat dich angerufen.«

Perry Clifton sah die junge Frau verständnislos an.

»Ich versteh’ kein Wort, Jenny. Weshalb sollte Tom mich angerufen haben?«

»Hat er wirklich nicht?«

»Nein … Ich schwöre dir, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«

Jenny Harder blies sich eine Haarlocke aus der Stirn. »Du weißt nichts von Hackston?«

»Hackston? Wer und was ist Hackston?«

»Ein Ort, Perry. Seit zwei Wochen spricht Tom immer wieder davon. Er sagte auch, daß er dich anrufen wollte … wegen dem komischen Haus.«

Clifton schüttelte den Kopf. »Er hat nicht angerufen. Ich bin hergekommen, weil so schönes Wetter ist und weil ich euch gern besuchen wollte. Das ist das ganze Geheimnis meines plötzlichen Auftauchens.«

Jenny klatschte in die Hände. »Um so besser!« Und mit Verschwörermiene sagte sie: »Weißt du, was wir tun? Wir schließen den Laden und gehen nach hinten. Ich habe für morgen einen Kuchen gebacken — den verputzen wir heute!«

Jenny goß gerade Kaffee auf, als Tom ins Zimmer stürmte. »Warum hast du die Ladentür verschlossen? Ich bin mit dem Kopf dagegengesaust!« Er schnupperte. »Was ist los?«

»Dreh dich mal um, Antiquitätenhändler!«

Was dann kam, war ein dreiminütiges Händeschütteln und Schulterklopfen.

Sie tranken Kaffee und »verputzten«, wie von Jenny vorgeschlagen, den Sonntagskuchen bis auf die letzte Krume. Von Hackston hatte Tom Harder noch immer keinen Ton gesagt. Als er jetzt meinte: »Ich wollte dich schon die ganze Zeit anrufen!« zwinkerte Jenny Perry Clifton verschmitzt zu.

»Du wolltest mich anrufen? Und warum hast du es nicht getan?«

Tom zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. »Ich war mir nicht mehr ganz sicher. Vielleicht ist nach den vorausgegangenen Dingen die Phantasie mit mir durchgegangen…«

»… in jenem komischen Haus in Hackston?« vollendete Perry. Einen Augenblick lang schien Tom überrascht. Als er jedoch Jennys amüsierte Blicke bemerkte, wußte er, woher Perrys Information stammte. Er nickte: »Ja, in jenem komischen Haus. Eigentlich weniger komisch als unheimlich. Am besten, ich erzähle dir die Geschichte der Reihe nach.« Perry lehnte sich zurück.

»Es war Anfang des Monats. Eine Kundin, die mit Leidenschaft afrikanische Schnitzereien sammelt, hatte mir einen Tip gegeben. Ein gewisser Professor Hatherland in Lonshire sei verstorben und die Erben nicht abgeneigt, seinen beachtlichen Nachlaß zu veräußem. Der Professor, ein Archäologe, soll ein großer Kenner ostafrikanischer Kunst gewesen sein. Ich machte mich gleich am nächsten Tag auf den Weg. Du weißt ja, alte und seltene Sachen wachsen nicht nach, und wenn man seinen Kunden was bieten will, muß man ständig am Ball bleiben. George, ein junger Bursche aus der Nachbarschaft, begleitete mich …«

»Wo liegt denn dieses Lonshire?« warf Perry ein, und Harder machte eine angewiderte Miene. »Es ist ein scheußliches und trostloses Nest östlich von Nottingham. Nicht einen Tag wollte ich dort wohnen … Dazu kam, daß mein Empfang geradezu überwältigend war. Du wirst es nicht glauben …«

»War man nicht höflich?«

»Würdest du es als Höflichkeit auslegen, wenn dir jemand hinterrücks den Lauf einer Schrotflinte in den Rücken bohrt?«

Perry Clifton schüttelte ungläubig den Kopf. Doch Tom Harder versicherte: »Es kommt noch schlimmer! Während mich der eine mit der Flinte piesackte, sauste der andere los und holte den Dorfpolizisten.«

Wieder schüttelte Perry Clifton den Kopf. »Und warum das alles?«

»Ein gewisser Samuel Trighter aus Birmingham hatte bereits den gesamten Nachlaß Hatherlands aufgekauft. Es stand schon alles in Kisten verpackt zum Abholen bereit. Den Leuten im Haus aber hatte er Angst vor Dieben und Gaunern gemacht und ihnen erzählt, daß es Sammler gäbe, die sogar vor einem Einbruch nicht zurückschrecken würden. Na ja, nun sahen die Armen in jedem, der unangemeldet das Haus betrat, einen Gauner und Dieb … Du kannst dir vorstellen, in welcher Stimmung ich war, als wir unverrichteter Dinge die Rückfahrt antreten mußten.«

»Und dabei passierte das mit dem Haus!«

Tom Harder nickte und begann zu berichten. Bis zu jenem Augenblick, wo er mit Vollgas aus dem Hof geschossen war. Perry Clifton unterbrach ihn nicht. Doch jetzt erkundigte er sich: »Dein unsympathischer Gesprächspartner sprach von Betriebsgelände. Was war es denn für ein Betrieb?«

»An dem einen Torflügel hing ein Schild mit der Aufschrift: FABRIKATION UND VERTRIEB VON GEIGEN.«

»Von Geigen?« wiederholte Clifton verblüfft. Tom Harder nickte: »Von Geigen!«

»Und wie ging’s weiter?«

»Wir fuhren in das Dorf Hackston und von dort wieder auf die Straße nach London. Alles in allem ein Umweg von fast 20 Meilen.« Zum ersten Mal mischte sich Jenny in das Gespräch: »Glaubst du, daß an der Sache was faul ist, Perry?« Und Tom ergänzte: »Du bist schließlich der Kriminalist. Und du mußt doch zugeben, daß diese Sache ganz schön stinkt.« Perry Clifton jedoch schien diese Überzeugung nicht zu teilen.

»Ich weiß nicht, Tom«, erwiderte er nachdenklich. »Hüten wir uns davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Hatte die Firma keinen Namen?«

»Es stand jedenfalls keiner am Tor!«

»Wie sah dieser Mister Melvin denn aus?«

Tom sprudelte heraus: »Nach allem möglichen, nur nicht nach einem Geigenbauer. Wie ein Frettchen … Ich meine, das Gesicht. Lang, hager, Stirnglatze, stechende Augen und mindestens ein Dutzend Goldzähne …«

Perry Clifton mußte unwillkürlich lächeln, als er feststellte: »Man spürt förmlich, wie du ihn zum Gauner denkst! Ich gebe ja zu, daß seine Art nicht die feine englische ist, aber reicht das, um aus ihm einen Halunken zu machen?«

»Sein ganzes Benehmen war ausgesprochen ganovenhaft. Wie er uns empfing und wie er uns empfahl zu verschwinden… Und seinen Blick hättest du sehen sollen, als er George auf dem Nebensitz entdeckte. Die Augen sind ihm vor Wut fast aus dem Kopf gefallen … Und Angst hatte er auch.«

»Angst? Wovor?«

»Keine Ahnung. Wäre ich«, und hier ballte Tom Harder seine Faust und schüttelte sie, »ein Boxer, ich hätte den Kerl auf der Stelle k.o. geschlagen!«

Jenny kicherte, war aber gleich wieder ernst. »Wir wissen einfach zu wenig, um daraus einen ›Fall‹ zu machen.«

»Aber hör mal, Perry, welcher anständige Geigenhändler setzt sich so weit abseits und einsam in die Landschaft?« gab Jenny zu bedenken. Doch auch darauf wußte Clifton eine plausible Antwort. Zunächst fragte er: »Sagt dir der Name BROOK etwas, Jenny?« Jenny nickte. »Wenn du damit die Fischkonserven meinst, ja!«

»Also. Jeder würde doch meinen, BROOK stelle seine Konserven in der Nähe des Meeres her. Weit gefehlt! BROOK sitzt mit seiner Fabrik bei Halifax. Runde siebzig Meilen von der Küste entfernt. Trotz allem: Passen wir die Fakten noch einmal zusammen. Dieser Melvin hielt dich, Tom, für einen neuen Mitarbeiter. Aus seinem Verhalten kann man auf zweierlei schließen: erstens, daß er in dir den Nachfolger oder den Stellvertreter des Mannes sah, der bislang die Verpackung anlieferte; zweitens bedeutet die Sicherheit, mit der er dich dafür hielt, daß diese Verpackung mit dem gleichen Wagentyp transportiert wird, den auch du fährst. Also einem knallgelben FORD, Baujahr 68, mit Londoner Kennzeichen. Kannst du mir folgen?«

Tom Harder erboste sich: »Natürlich, ich bin ja nicht doof.«

»Wir wissen ferner, daß der Absender der Verpackung mit größter Wahrscheinlichkeit ein Mann namens Mason ist und daß die Umgangsformen dieser Leute sehr zu wünschen übrig lassen. Damit wären wir aber bereits am Ende.«

»Ist das nicht genug?«

»Nein, Tom!«

»Wo Rauch ist, ist auch Feuer!« Tom Harder schien sichtlich enttäuscht. Perry Clifton lächelte aufmuntemd. »Nimm’s nicht so tragisch, Tom. Aber ich seh’ wirklich keinen Rauch. … Und wenn du nichts dagegen hast, trinke ich noch eine Tasse von Jennys ausgezeichnetem Kaffee!«

Doch ein Fall?

Es wurde spät an diesem Abend.

Tom Harder kämpfte noch eine Zeitlang gegen die Enttäuschung an, daß sein Freund seine Meinung über den Halunken Melvin nicht teilte; doch je weiter die Zeit fortschritt, um so fröhlicher und ausgelassener wurde er.

Als Clifton aufbrach, war es längst Mitternacht vorbei. Während er in Richtung Norwood fuhr, ließ er sich noch einmal all das durch den Kopf gehen, was ihm Tom erzählt hatte. Natürlich war das Benehmen dieses Melvin auffällig, und vielleicht hätte Perry dem ganzen Vorfall auch mehr Bedeutung beigemessen, wäre die Sache nicht ausgerechnet seinem Freund Tom Harder passiert. Jenem Tom, der, zartbesaitet und sensibel, immer bemüht war, an den Rauheiten des Alltags vorbeizusehen. Schon in der Schule hatte er jedem Zweikampf von Mitschülern erschrocken und fassungslos gegenübergestanden. Und wenn ihm dann so etwas wie in Hackston widerfuhr, kam es zwangsläufig dazu, daß die Phantasie mit ihm durchging und daß er in dem anderen einen ausgemachten Bösewicht sah.

So jedenfalls dachte Perry Clifton.

Er ahnte nicht, daß alles ganz anders kommen sollte.

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Das Haus Starplace Nr. 14 befindet sich im Stachteil Norwood. Es ist ein alter, grauer Steinklotz mit fünf Etagen. Eine Menge dunkler Stellen zeigt, wo der Außenputz schon abgebröckelt ist. Es ist alles andere als ein schönes Haus. Und doch hat es auch seine Vorzüge. Sieht man vom obersten Stock in südliche Richtung, kann man sogar die breite Asphaltstraße, die nach Croydon zum Flugplatz führt, entdecken. Der vierte Stock umfaßt drei Wohnungen. Die kleinste davon bewohnt Perry Clifton, nach Meinung Dicki Millers der größte aller Detektive.

Dicki selbst, dreizehn Jahre alt, wohnte mit seinen Eltern auf der gleichen Etage und konnte als Perrys bester Freund gelten. Es gab kaum einen Tag, an dem er ihm nicht einen Besuch abstattete.

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Man schrieb den 29. März.

Perry Clifton, der seit einigen Monaten jeden Freitagabend die Sauna besuchte, machte auch an diesem Freitag keine Ausnahme. Und wie immer an solchen Tagen traf er erst gegen 20 Uhr zu Hause ein. Er holte die Post aus dem Briefkasten im Erdgeschoß und sah sie — ebenfalls wie immer — während des Treppensteigens durch. Reklame … Reklame … Reklame … Reklame für Tulpenzwiebeln, Reklame für ein neues Speiserestaurant in Soho, Reklame einer Wäscherei.

Er wollte gerade den Schlüssel in das Schloß der Wohnungstür schieben, als mit Vehemenz die Nachbartür aufflog.

Dicki Miller, aufgeregt, mit knallroten Ohren, deutete mit dem Daumen hinter sich und rief: »Hallo, Mister Clifton, Sie haben Besuch!«

Noch bevor dieser etwas erwidern konnte, tauchte der Besuch schon auf: Tom Harder, blaß und sichtbar aufgeregt.

Perry Clifton war ehrlich überrascht.

»Abend, Perry! Da staunst du, was?« Sie schüttelten sich die Hände.

»Allerdings. Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte die Sauna doch verschieben können.«

Tom wies auf Dicki, der noch immer neugierig in der Tür stand. »Wegen deinem freundlichen Nachbarn mußte ich ja nicht auf der Treppe sitzen.«

Perry Clifton ging zu Dicki, boxte diesem freundschaftlich in die Seite und hat: »Sag deinen Eltern einen schönen Gruß von mir. Ich ließe mich recht schön für die gastliche Aufnahme meines Freundes bedanken!« Und zu seinem Besucher gewandt: »Komm, Tom. Im Sitzen redet’s sich leichter!«

Während Dicki ein wenig enttäuscht in die elterliche Wohnung zurückging, schob Clifton Tom Harder in seine eigenen vier Wände.

»Mach dir’s bequem. Hast du in der Nähe einen alten Schrank oder eine Standuhr gekauft?«

Perry fragte es, obwohl er sicher war, daß Toms Kommen eine andere Ursache hatte. Er tat, als bemerkte er die offensichtliche Nervosität und Erregung seines Freundes nicht.

»Nein. Du wirst es nicht glauben, aber ich bin nur deinetwegen nach London gefahren. Natürlich hätte ich auch telefonieren können«, gab er zu, um im gleichen Augenblick die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern zu senken, »aber man weiß ja nie, ob nicht jemand ganz zufällig in der Leitung klemmt und mithört.«

Perry Clifton hatte sich seine Tabakspfeife angezündet und setzte sich nun Tom Harder gegenüber. Während er paffte, sah er seinen Besucher aufmerksam an. War das mit dem Telefon nun ernst gemeint oder nicht? »Ist das, was du mir mitzuteilen hast, so brisant und gefährlich, daß du dich vor Dritten fürchten mußt?«

Tom Harder nickte.

»Man weiß nie …« Und aus einer Mischung von Verlegenheit und Resignation heraus meinte er mit entwaffnender Ehrlichkeit: »Du weißt ja, ich war nie ein Held. Und ich möchte ungern in etwas hineingezogen werden, was … was …« Er suchte nach Worten. Perry half ihm: »Was deiner Natur zuwider ist?«

»Ja. So könnte man es nennen!«

»Nun hast du mich aber wirklich neugierig gemacht. Laß die Katze aus dem Sack!«

Harder richtete sich steil auf. »Ich bin einer ganz gefährlichen Sache auf der Spur!«

»Schon wieder?« Perry konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen;

Tom überhörte seine Worte und fragte: »Welche Zeitung liest du?«

»Die TIMES, warum?«

»Hast du die heutige Ausgabe schon studiert?«

Clifton verneinte.

»Erinnerst du dich an meine Geschichte, Perry?«

»Meinst du die Sache mit der Geigenfabrik? Spukt sie dir noch immer im Kopf herum?«

In Toms Stimme schwang ein unüberhörbarer Triumph mit, als er jetzt theatralisch forderte: »Setz dich bequem, mein Freund! Entspanne dich und höre, was ich dir aus der heutigen TIMES vorlese!« Mit bebenden Fingern fischte er aus der Jackettasche einen mehrfach gefalteten Fetzen Zeitungspapier hervor, entfaltete ihn und begann, nach einem letzten verstohlenen Blick auf Perry Clifton, zu lesen:

»Überschrift: Mysteriöser Autofund bei Southampton. (Wieder schielte er herüber.) In den frühen Morgenstunden des 28. März stieß eine motorisierte Polizeistreife in der Nähe Southamptons auf einen verlassenen Pkw. Aus den Spuren ließ sich ersehen, daß das Fahrzeug — ein dunkelgrüner Kombi vom Typ PEUGEOT 403 — aus unbekannter Ursache von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt war. Zwei Dinge geben der Polizei Rätsel auf: Das sind einmal die abmontierten Nummemschilder und zum anderen 20 farbige Violinen, die man zerschlagen neben dem Fahrzeug fand. Wie die Spurensicherung eindeutig ergab, steht ohne Zweifel fest, daß diese Instrumente erst nach dem Unfall zertrümmert wurden. Bisher hat sich jedoch weder der Besitzer des Fahrzeugs noch ein Geschädigter bei der Polizei gemeldet. Sachdienliche Hinweise nimmt … undsoweiter, undsoweiter …« Tom Harder ließ den Zeitungsausschnitt sinken und sah Perry Clifton erwartungsvoll an.

»Na, was sagst du nun? Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn. In diesem Fall ist das blinde Huhn ein« — er klopfte sich an die Brust — »Antiquitätenhändler namens Tom Abraham Harder!«

»Aber Tom, das muß doch nicht bedeuten, daß deine Geigenfabrik damit was zu tun hat.«

»Doch, Perry. Der Wagen, hinter dem wir im Nebel herfuhren, du erinnerst dich doch noch, dieser Wagen war ein dunkelgrüner Kombi PEUGEOT 403.«

»Bist du sicher?«

»Absolut sicher! Daß die Nummernschilder entfernt wurden, ließe eventuell darauf schließen, daß der Wagen gestohlen war, oder — was meinst du?«

Perry Clifton hatte seine Tabakspfeife zur Seite gelegt. Das tat er immer, wenn ihn etwas zu interessieren begann. Wenn sich in seinem Inneren der Kriminalist meldete. Wenn ihm seine Gedanken davonliefen und tausend Wege gingen. Wege mit den Namen Lösungen, Schlüsse, Vermutungen. Vielleicht. So, wie es immer war, wenn er den Zipfel einer Spur entdeckt zu haben glaubte.

»Sprachst du nicht von französischen Kennzeichen?«

»Ja, und auch da irre ich mich nicht.«

»Sieht fast so aus, als seien sie auf dem Weg zur Fähre nach Le Havre gewesen … Ein französischer Wagentyp … eine französische Nummer … eine Straße zum Kanal«, murmelte Clifton und sah nachdenklich an Tom Harder vorbei. Der räusperte sich, und Clifton kehrte augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Er nickte Tom noch ein wenig abwesend zu und sagte: »Hallo, Tom, ich glaube, du hast diesmal wirklich eine gute Nase gehabt. Vielleicht solltest du doch den Beruf wechseln.«

Tom Harder hob abwehrend die Hände und spielte den Entsetzten: »Bloß nicht. Ich habe keinerlei Ehrgeiz. Und wäre dieser Kerl nicht so unfreundlich gewesen, hätte ich die Sache längst vergessen. Aber jetzt …« Er verstummte. »Aber jetzt?« wiederholte Clifton.

»Jetzt will ich, daß man ihm gehörig auf die Finger klopft!«

Perry Clifton konnte nicht anders, er mußte lachen. »Der beleidigte Antiquitätenhändler. Was machst du nur, wenn dir mal ein sympathischer Gauner über den Weg läuft?«

»Es gibt keine sympathischen Gauner. Gauner bleibt Gauner!«

Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Da könnte ich dir reihenweise das Gegenteil beweisen. Aber lassen wir das.«

»Ich weiß, daß es verrückt ist. Aber ich bin nun mal so!« brummte Tom Harder verdrießlich.

»Du gehörst eben in ein anderes Jahrhundert, Tom!«

Harder winkte ab. »Die vergangenen Jahrhunderte waren auch nicht besser.«

»Dann bist du eben zu früh geboren!« beharrte Perry Clifton, doch Harder war schon wieder in der Gegenwart: »Worauf ich mir keinen Reim machen kann, ist, warum sie die Geigen zertrümmert haben?«

»Vielleicht war es ein Racheakt … Was mich stört, sind die fehlenden Kennzeichen. Wäre es nämlich ein gestohlener Wagen gewesen, hätte man kaum die Schilder abmontiert.« Perry stutzte. »Warum grinst du denn so zufrieden?«

»Ich freue mich, daß du endlich Feuer gefangen hast.«

Perry Clifton wehrte ab: »Freu dich nicht zu früh. Ein Fall, wie ich ihn verstehe, ist es noch lange nicht. Noch habe ich nicht angefangen, die Sache ganz ernst zu nehmen.«

»Und wann geschieht das?«

»Wenn ich mir die Örtlichkeiten angesehen habe!«

Tom Harder hielt den Atem an. »Heißt das, daß du zu dem …«, hier steckte er einen Moment, »unheimlichen Haus willst?«

»So ist es. Ich werde Hackston einen Besuch abstatten!«

Die freundlichen Leute von Hackston

Sonnabend, 30. März, kurz vor 16 Uhr.

Dicki Miller saß mit angezogenen Beinen in einem Sessel, während Perry Clifton dabei war, mit dem Stiel seiner Tabakspfeife auf einer Straßenkarte herumzufahren. Dicki war enttäuscht und unzufrieden.

Vor genau fünf Minuten hatte ihm sein Freund Perry einen ganz gemeinen Tiefschlag versetzt. Ihm, seinem besten Freund; ihm, der jederzeit bereit wäre, für Perry Clifton seinen Blinddarm zu opfern. (Eine seiner Redewendungen.)

»Und warum wollen Sie mich nicht mit nach Hackston nehmen?«

Perry legte seine Tabakspfeife beiseite, bevor er antwortete: »Du hast am Montag Schule, Dicki! Oder hast du neuerdings eine Sonderabmachung mit deinem Lehrer getroffen?«

»Nein, aber das wäre trotzdem kein Problem!«

»Ach? Wie das?«

»Mir könnte ja schlecht sein …« Fast im gleichen Augenblick wußte Dicki — und dazu hätte es Perrys vorwurfsvoller Blicke gar nicht bedurft —, daß dieser Vorschlag schlecht war. Er verbesserte sich auch gleich:

»Ich könnte es natürlich auch auf die ehrliche Tour machen und mir einfach freigeben lassen.« Und ein bißchen zu eifrig fügte er hinzu: »Wir haben am Montag nämlich nur Geschichte, Latein und Zeichnen. Alles Fächer, in denen ich große Klasse bin!« Er streckte Perry Clifton die Hand hin und schielte ihn gleichzeitig von unten herauf an.

»Es geht nicht, Dick. Du wärst mir doch bei der ersten Besichtigung nur im Weg.«

Dicki ließ seine Hand wieder sinken.

»Ich war noch nie in Hackston«, maulte er und tat, als ginge es um die Besichtigung eines Elefanten mit zwei Rüsseln.

»Es soll ein nichtssagendes Dorf sein, meint mein Freund Tom Harder.«

»Ausrede!« winkte Dicki ab und zog eine gekränkte Grimasse. »Sie wollen nur, daß ich …« Er stockte. Zum Teufel mit seinen Gedanken. Plötzlich war ihm entfallen, welch genialen Vorwurf er gerade anbringen wollte.

»Ich schicke dir eine Ansichtskarte, falls es so was von Hackston gibt. Und wenn nicht, schieße ich dir ein paar aufschlußreiche Fotos!«

»Und was machen Sie, wenn dieser Mister Melvin ein schwerer Gangster ist?«

Perry Clifton drohte mit dem Finger. »Geht die Phantasie schon wieder mit dir durch?«

Dicki zog die Spitze seines rechten Strumpfes in die Länge und orakelte weise: »Oh, wehe, wenn du vergißt, die Gefahr zu erkennen. Berge von Falschheit werden dich erschlagen!« Perry Clifton lachte. »Wo hast du denn diesen makabren Spruch aufgelesen?«

»Shakespeare!« tönte Dicki trocken.

»Ich glaube, mein Sohn, daß du die Autoren durcheinanderbringst. Wo soll das stehen?«

Dicki zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr. Es ist auch das einzige, was ich behalten habe.«

»Aha. Ich vermute, du hast es schon öfters an den Mann gebracht!« Dicki nickte ungerührt. »Zuletzt bei der alten Mary!«

»Bei der alten Mary? Seit wann gibt es in deinem Bekanntenkreis eine alte Mary?«

»Tante Mary in Bristol. Vaters Stiefschwester. Die mit dem Museumstick.« Perry Clifton warf Dicki einen vorwurfsvollen Blick zu. »Bist du nicht ein bißchen respektlos, Dick?«

»Sie hört’s ja nicht!« Dicki griunste fröhlich. Für einen Augenblick schien er sogar Hackston vergessen zu haben. »Stellen Sie sich vor, Mister Clifton«, kicherte er, »sie geht jeden Tag ins Museum. In irgendein Museum. Manchmal eine ganze Woche lang in das gleiche. Und wissen Sie, was sie immer sagt?«

»Keine Ahnung.«

Dicki spitzte die Lippen, kniff die Augen zusammen, hielt die rechte Hand mit dem abgespreizten kleinen Finger vor den Mund und quetschte mit einer Fistelstimme heraus: »Du lieber Gott, ist der Tee gut. Gut ist er, der Tee. Was soll ich euch sagen, das Historische ist noch mal mein Untergang!« Er versuchte ein Zwinkem und sah beifallheischend seinen großen Freund an, der Mühe hatte, einen gewissen Ernst zu bewahren.

»Der eine singt oder geht in Konzerte, und der andere besucht Museen. So tut eben jeder was für sein musisches oder geistiges Wohl.«

»Aber jeden Tag ins Museum, das ist doch ein Tick, oder?«

»Ich nehme an, daß du, wie üblich, ein wenig übertrieben hast, Mister Miller junior!« argwöhnte Perry Clifton.

»Na ja«, gab Dicki zu, »nicht gerade jeden Tag. Aber einmal in der Woche bestimmt …« Und ohne Übergang: »Wollen Sie mich nicht doch mit nach Hackston nehmen?«

»Dicki, dieses Thema haben wir doch zu Ende diskutiert. Das einzige, was ich dir in diesem Zusammenhang versprechen kann, ist, daß ich dich über den ›Fall Hackston‹, falls es einen ›Fall Hackston‹ geben sollte, unterrichten werde. Zufrieden?«

Dicki murmelte etwas Undeutliches. Es klang wie »Was bleibt mir weiter übrig«, und er nickte wie jemand, dem man zu Weihnachten eine Mastgans versprochen, aber nur einen ausgestopften Sperling geschenkt hat. Mit herunterhängenden Mundwinkeln schlüpfte er in seine Schuhe, stand auf, schlurfte zur Tür und erklärte: »Ich muß noch Schularbeiten machen!« Schon halb draußen, wandte er sich noch einmal um: »Sie werden schon sehen, wie weit Sie ohne mich kommen!« Perry wartete auf den Knall, mit dem Dicki die Tür zu schließen pflegte, doch diesmal geschah das Gegenteil: Fast geräuschlos zog er sie hinter sich zu. Ein weiteres Zeichen für seine abgrundtiefe Enttäuschung.

Doch Dicki nahm trotz allem eine gewisse Genugtuung mit in die Nachbarwohnung. O ja! Er hatte es seinem großen Freund gegeben. Schließlich wußte der ja, daß er, Dicki, seine Schularbeiten grundsätzlich in allerletzter Minute erledigte. Mit anderen Worten: Er hatte den Besuch für beendet erklärt.

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Perry Clifton hatte sich vorsorglich eine Woche Urlaub genommen.

Am Montagmorgen — es war der 1. April — startete er gegen 12 Uhr 30 in Richtung Leicester. Da er einmal, fast dreißig Minuten lang, hinter einem Sattelschlepper, der sich im 15-Meilen-Tempo bewegte, herkriechen mußte, ging es bereits auf halb drei Uhr zu, als er endlich vor sich die Silhouette von Leicester auftauchen sah. Perry Clifton kannte sich in der Hauptstadt der mittelenglischen Grafschaft Leicestershire, die so emsig bemüht war, den Nimbus einer Nur-Industriestadt abzustreifen, ziemlich gut aus. Früher, als er noch in der Werbeabteilung von JOHNSON & JOHNSON arbeitete, war er oft mit einem Team von Grafikern und Fotografen sowie Leuten aus der Einkaufsabteilung in Leicester gewesen. Sie hatten bei den zahlreichen Textilfirmen, die hier ansässig waren, Aufnahmen für Prospekte und Kataloge gemacht. Manchmal waren sie auch in den Schuhfabriken gewesen, und wenn es mit der Zeit klappte, hatte er gelegentlich auch die Ausstellungen besucht, die regelmäßig von der Universität Leicester veranstaltet wurden.

Doch an diesem 1. April drängte die Zeit.

Auf dem kürzesten Weg fuhr er in die Allerton-Street, wo er eine Garage kannte, in der er seinen Wagen unterstellen konnte. Von dort aus nahm er ein Taxi, das ihn gerade noch rechtzeitig zum Central-Place, dem sogenannten Omnibusbahnhof, brachte. Buchstäblich in letzter Sekunde erreichte er den Omnibus nach Checkersfield.

Die zehnte Station auf dieser Route, so hatte man ihm gesagt, hieß Hackston.

Der Omnibus brauchte genau eine Stunde.

Die überwiegende Mehrheit der Fahrgäste war bereits ausgestiegen, als der Bus in Hackston hielt.

Zusammen mit Perry Clifton verließen noch neun andere Passagiere den Wagen. Einige wurden von Kindern abgeholt. Kaum jemand nahm Notiz von dem Detektiv. Vielleicht hielt man ihn für einen Vertreter, obgleich die karierte Reisetasche, die beiden umgehängten Fotoapparate und sein salopper Aufzug dagegen sprachen.

Schräg gegenüber der Haltestelle entdeckte er einen einstöckigen, behäbig wirkenden Klinkerbau mit einem großen, runden, emaillierten Schild, das an einer stilisierten Hand über dem Eingang hing. BRADLEYS GASTHOF war in roten Buchstaben darauf eingebrannt.

Perry schlenderte hinüber, vorbei an einer Ansammlung kreischender Kinder, deren ganze Aufmerksamkeit einem dicken, fetten Frosch galt, der ihnen mit plumpen Hopsem zu entkommen suchte.

Über einen halbdunklen Hausflur gelangte er in die Gaststube. Sie war niedrig, vom Rauch geschwärzt und geräumig. Alle Tische waren aus schwerer Eiche und blankgescheuert. Vor den Fenstern hingen rotgrüngewürfelte Vorhänge, an den Wänden alte Back- und Bratformen aus Kupfer. Der Bierhahn an der Theke und die sonstigen Messingbeschläge glänzten, als seien sie soeben poliert werden.

An der linken Wand, gleich neben der Tür, hingen zwei Spielautomaten. Obwohl schon etwas betagt, schienen sie intakt. Rechts neben der Theke standen eine Musikbox neueren Datums und ein Flipper. Über allem aber lag der undefinierbare Geruch, den gemütliche Kneipen mitunter über Besitzer-Generationen hin bewahren und der sich, trotz eifrigsten Lüftens, nicht hinauswehen läßt.

Perry Clifton fühlte eine ganz eigenartige Behaglichkeit, als er die völlig leere Gaststube durchquerte und seine Tasche neben dem Tresen abstellte.

Er sah sich nach einer Klingel um. Da er nichts fand, ergriff er einen Löffel, um damit ein leeres Bierglas zu bearbeiten. Die Hand schon erhoben, stutzte er plötzlich. Ganz deutlich hatte er hinter sich ein leises Geräusch gehört.

Behend wirbelte er herum.

»Hallo, Mister!«

Der Detektiv entspannte sich, und ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. Die Ursache dieser Heiterkeit war ungefähr 80 Zentimeter groß, etwa fünf Jahre alt und stand in Strümpfen vor ihm. An der linken Seite hing ein schöngeflochtener Zopf. Das Gegenüber allerdings war ein verwuscheltes Durcheinander von blonden Haaren. Der größte Teil des sommersprossigen Gesichts war mit Schokolade verschmiert. Die Kleine trug ein hellbraunes Kleidchen mit einer weißen Schürze, die ebenfalls schon verdächtig viele braune Spuren aufwies. Mit gefalteten Händen vor dem Bauch und auf den Zehenspitzen wippend, sah sie ihn aus verschmitzten Augen neugierig an.

»Hallo!« erwiderte Perry. »Wer bist denn du?«

»Ich bin Angy — und du?«

»Ich heiße …«, er zögerte kurz, »Arling.« Er streckte Angy die Hand hin und fühlte, wie fünf winzige, fürchterlich klebrige Finger einen Händedruck versuchten.

»Ich hab’ dich noch nie gesehen!« stellte sie fest und zog dabei die Nase kraus.

»Ich bin auch zum ersten Mal hier.«

Angy musterte ihn von allen Seiten ungeniert. Dann sagte sie: »Papa ist auf dem Hof.«

»Aha«, sagte Clifton, »dann wird er ja bald kommen!«

Angy wendete sich rasch um, wie jemand, der nach einem Verfolger Ausschau hält. Doch die Luft schien rein zu sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fragte leise: »Hast du Geld, Mister?«

Perry Clifton nickte und gab ebenso leise zurück: »Natürlich, Angy, sonst müßte ich ja verhungern.« Angy zeigte zwei Reihen blitzender kleiner Perlzähne. Die Auskunft schien sie über alle Maßen zu befriedigen, denn wie sonst wäre sie bereit gewesen, ein Geheimnis preiszugeben: »Soll ich dir was verraten, Mister?«

Perry nickte.

Angy zeigte auf die Musikbox. »Wenn du dort Geld reinwirfst, kommt ganz tolle Musik raus!«

»Nicht möglich«, staunte Perry, und Angy, zufrieden, Wissen weitergeben zu können, packte ihn mit ihren fünf klebrigen Fingern und zog ihn in Richtung Musikbox. »Du kannst es probieren!«

Obwohl Perry wußte, daß das Repertoire der Musikbox gewiß keine Kinderlieder enthielt, erkundigte er sich: »Hast du einen besonderen Wunsch, Angy?«

»Tom Jones! Auf dem steh’ ich!« Es kam wie aus der Pistole geschossen. »Tom Jones?« wiederholte Clifton. Die Verblüffung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Da deutete Angy nach oben und rief: »Du mußt erst auf B und dann auf 19 drücken.« Da ihr jedoch plötzlich Zweifel an den Fähigkeiten ihres neuen Bekannten kamen, erkundigte sie sich: »Kannst du das?« Und weil Perry nicht gleich antwortete, kniff sie irritiert und mißtrauisch die Augen zusammen. »Ich will’s versuchen!« sagte da Perry. Doch Angy hatte bereits einen Entschluß gefaßt: »Ich helfe dir!«

Während Perry in seinen Taschen nach einem geeigneten Geldstück suchte, schob Angy mit viel Getöse einen Stuhl heran und erkletterte ihn. Fordernd streckte sie ihre kleine Hand aus, und Perry Clifton legte die gewünschte Münze hinein.

Alles andere ging ziemlich schnell.

Angy drückte die bewußten Tasten, sprang vom Stuhl, streckte ihren dünnen Arm hinter die Musikbox und rief: »Jetzt kommt’s!« Ihre Augen leuchteten voller Zufriedenheit.

Und dann kam es wirklich — mit unvorstellbaren Phonzahlen schrie Tom Jones aus dem Lautsprecher. Selbst Schwerhörige hätten sich auf der Stelle in Sicherheit gebracht. »Das ist zu laut!« brüllte Perry Clifton mitten hinein in die strahlenden Augen der kleinen Angy. Angy nickte und schrie zurück: »Tom Jones!« Dabei begann sie an ihrem Zopf zu spielen. Perry Clifton ließ sich auf einen Stuhl fallen und preßte sich provozierend die Handballen gegen die Ohren. Eine Geste, die Angy kolossal zu erheitem schien. Sie machte Faxen und schnitt Grimassen. Wieder brüllte Perry: »Kannst du nicht leiser stellen?«

»Tom Jones!« krähte sie zurück und streckte ihm die Zunge heraus.

Im gleichen Augenblick war der Spuk zu Ende.

»Entschuldigen Sie bitte, Mister«, sagte eine sonore Stimme. Sie gehörte einem untersetzten Mann hinter der Theke, offensichtlich Angys Vater; die Ähnlichkeit war unverkennbar. Er trug eine blaue Leinenschürze über seiner Kleidung. »Ich habe die Sicherung herausgeschraubt!«

»Danke!« Perry rückte und fuhr lächelnd fort: »Ich habe absolut nichts gegen Tom Jones, aber in dieser Lautstärke würde er sich wahrscheinlich selbst nicht anhören.« Er spürte hinter sich eine Berührung. Ganz zweifellos hatte sich Angy hinter ihm in Sicherheit gebracht.

»Trotzdem, Ihre Tochter — ich nehme an, daß es Ihre Tochter ist —«, der Mann in der Schürze nickte, »hat mich glänzend unterhalten!«

»Angy hat eine unerklärliche Zuneigung für Lautes, leider. Sie übertönte schon als Säugling die Kirchenglocken.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. Angy schien wohl zu meinen, daß die drohendste Gefahr gebannt sei. Mit einem »Huhu, Papa!« entschwand sie wie der Blitz in den halbdunklen Gang. Perry näherte sich der Theke und fragte Angys Vater: »Sind Sie der Wirt hier?«

»Ja. Ich bin Jim Bradley!«

»Mein Name ist Clifford Arling!« Clifton sprach das »Arling« mit einem langen A. »Ich komme aus Manchester. Könnte ich bei Ihnen ein Zimmer mieten?«

Jim Bradley war sichtbar überrascht. »Ein Zimmer?« Es klang, als habe Clifton nach einem schwarzen Chinesen gefragt.

»Haben Sie keine Fremdenzimmer?«

»Doch, doch …«, beeilte sich Bradley zu versichern. »Ich war nur etwas überrascht. In der Regel haben wir um diese Jahreszeit keine Gäste. Natürlich können Sie ein Zimmer haben. Wie lange wollen Sie denn bleiben, Mister Arling?«

»Ein paar Tage.« Perry Clifton tippte auf seine Kameras. »Ich möchte gern in dieser Gegend fotografieren.«

»Hm«, machte der Wirt und wischte sich die Hand an der Schürze ab. »Zwei Pfund pro Tag, inklusive vier Mahlzeiten. Wäre Ihnen das zu teuer?«

»Zwei Pfund?« Perry tat, als rechnete er im Geist den Inhalt seiner Haushaltskasse durch. »Nein, das geht. Das ist ein anständiger Preis.«

»Mit dem Zimmer müßten Sie allerdings noch ein bißchen warten. Meine Frau kommt erst in ungefähr zwei Stunden zurück. Sie ist in Leicester beim Zahnarzt.« Dabei verzog er das Gesicht, als sollte ihm selbst ein Zahn gezogen werden. »Ihr Gepäck …«

Clifton winkte ab: »Außer meinen Kameras habe ich nur diese Reisetasche dabei. Mit dem Zimmer eilt es nicht. Ich schau’ mir inzwischen die Umgebung an.« Er stellte die Tasche auf den Tresen. »Die Tasche können Sie ja inzwischen hinter die Theke stellen.«

Jim Bradley nickte zustimmend: »Wird gemacht, Mister Arling!«

Mit einem freundlichen Nicken verließ der Detektiv, der sich jetzt Clifford Arling nannte, die Gaststube und begann Hackston abzulichten.

Fast von jedem vierten Haus machte er eine Aufnahme. Er fotografierte Findlinge, die beiden Denkmäler, eine vom Blitz mißhandelte Linde und den Dorfweiher, auf dem sich einige Enten tummelten.

Alle Fragen nach dem Sinn der Fotografiererei beantwortete er ausweichend.

Bei näherer Betrachtung mußte er feststellen, daß Hackston größer war, als es auf den ersten Blick schien. Und es war gepflegt. Der Bürgermeister schien ein ausgemachter Sauberkeitsapostel zu sein. In jeder Straße und auf jedem Platz gab es mehrere Papierkörbe. Auf Schildern — schwarze Farbe auf Naturholz — wurde man aufgefordert, Hackston sauberzuhalten.

Clifton fotografierte auch das.

Gegen 17 Uhr hatte er, verfolgt von vielen neugierigen Blicken, den südwestlichen Ortsrand erreicht. Von hier führte eine Straße, leicht ansteigend, in südliche Richtung. Es mußte die sein, auf der Tom Harder nach Hackston gelangt war. Fünfzig Meter weiter fand Clifton seine Vermutung bestätigt: Die Straße lief nach einer sanften Kurve geradewegs auf ein großes, freistehendes Gebäude zu. Und es konnte keinen Zweifel daran geben, daß es sich dabei um jenes »unheimliche Haus« handelte. Er kehrte um.

Für den ersten Tag hatte er genug gesehen. Außerdem konnte er jederzeit auf die fünf belichteten Filme zurückgreifen.

Mit der Miene eines harmlosen Touristen trat er den Rückweg an. Die einsetzende Dämmerung begann sich auszubreiten. Trotzdem beschloß er, nicht den direkten Weg zu gehen, sondern einen Umweg zu machen. Der Abend war noch lang.

Hätte er es nicht getan, wäre er jenem hageren Mann mit der Halbglatze und den Goldzähnen begegnet, der, auf einem Fahrrad das Gefälle der Straße ausnutzend, in diesem Augenblick in rascher Fahrt hinter den ersten Häusern Hackstons verschwand und fünf Minuten später ein schmuckes rotes Ziegelhaus betrat.

Kurz nach 18 Uhr erreichte Perry Clifton wieder die Gaststube von BRADLEYS GASTHOF.

Vier oder fünf Gäste saßen herum, tanken Bier, lasen Zeitung oder unterhielten sich.

Diesmal stand eine Frau hinter der Theke. Ihre linke Wange war leicht angeschwollen, aber auch ohne dieses Merkmal hätte Perry gewußt, daß es sich um Missis Bradley handelte: Der Geruch nach Karbol und Äther war nicht zu überriechen.

»Guten Abend, Missis Bradley. Ich hoffe, der Zahnarzt hat Sie nicht allzusehr gequält.«

Diana Bradley sah den vor ihr stehenden Unbekannten mit großen Augen überrascht an. Perry Clifton lächelte. »Ich bin Clifford Arling.«

Sie schlug sich vor die Stirn. »Mein Mann hat es mit gesagt, ich habe Ihr Zimmer gerichtet. Sie haben Nummer 2. Die erste Tür auf der rechten Seite. Ihre Tasche ist schon oben.«

Missis Bradley reichte ihm einen Schlüssel.

»Wollen Sie vielleicht erst etwas essen?«

»Ich glaube, den richtigen Hunger habe ich erst in einer Stunde«, gab er zurück. Sie nickte freundlich und erwiderte: »Ich werde mich darauf einrichten. Übrigens, Mister Arling«, eine feine Röte stieg ihr plötzlich in die Wangen, »es tut mir leid, daß Angy Sie mit ihrem Tom Jones überlistet hat.« Perry wehrte lächelnd ab: »Es war mir ein Vergnügen; ich werde morgen ein paar Bilder von ihr machen. Sie ist ein ganz aufgewecktes Mädchen.« Sein Lächeln verstärkte sich: »Nur ein bißchen klebrig.«

Angys Mutter stimmte seufzend zu: »Ihre zweite Leidenschaft nach Tom Jones. Für Schokolade würde sie wahrscheinlich sogar vom Dach springen. Nicht mal das Rizinusöl schreckt sie. Wir müssen alles abschließen. Wenn sie keine Schokolade findet, löffelt sie Zucker.«

»Hallo, Diana, noch zwei Bier!« rief eine Baßstimme aus dem Hintergrund.

»Auch das wird sich legen …«, tröstete Perry Missis Bradley und verließ die Gaststube.

Aus dem Halbdunkel von vorhin war inzwischen die letzte Helligkeit gewichen. Tastend suchte der Detektiv nach dem Lichtschalter. Er stieß dabei an einen Eimer, der scheppernd umfiel.

Eine Tür wurde geöffnet, Lichtschein drang in den Hausgang, dann flammte die Beleuchtung auf.

»Entschuldigung, ich habe nach dem Lichtschalter gesucht.«

»Der ist auf der anderen Seite, Mister Arling. Meine Frau hätte es Ihnen sagen sollen.« Jim Bradley hob den noch leise rollenden Eimer auf und stellte ihn unter eine Bank. Er trug eine weiße Schürze und hielt in der Hand ein Küchensieb. Aus der geöffneten Tür drangen verlockende Gerüche in den Gang.

»Oben, neben der Treppe ist noch ein Schalter. Dort können Sie das Licht wieder ausschalten!«

»Besten Dank, Mister Bradley.«

Das Zimmer war schlicht möbliert, aber pieksauber. Der Geruch von frischer Wäsche erfüllte den Raum bis an die niedrige Decke.

Außer dem Bett gab es noch ein Ungetüm von Schrank, einen winzigen Tisch, einen Stuhl und eine Kommode mit einer geblümten Porzellangarnitur darauf. Beide, Schüssel und Kanne, wiesen zahlreiche Sprünge auf, und in der Schüssel hatte man sogar schon ein herausgebrochenes Stück mit Porzellankitt wieder eingesetzt.

Beim Anblick des Schrankes — er mußte mindestens 150 Jahre alt sein — mußte Perry Clifton unwillkürlich an Tom Harder denken. Der hätte seine Freude daran und sicher auch einen Kunden dafür gehabt.

Das Bett federte angenehm und lud nachgerade zu einem Nickerchen ein.

Perry streifte die Schuhe ab, drückte auf das Knöpfchen der Nachttischlampe und streckte sich aus.

Einige Zeit noch lauschte er den Stimmen zweier Männer, die sich draußen auf der Straße unterhielten. Dann glitt er hinüber ins Reich der Träume. Sein letzter Gedanke war: »In einer Stunde muß ich essen gehen.«

Doch es sollte mehr als eine Stunde werden.

Und er erwachte nicht wie sonst. Sein Unterbewußtsein hatte Alarm geschlagen, hatte ein Geräusch registriert. Perry Clifton war von einer Sekunde zur anderen hellwach und lauschte in das undurchdringliche Dunkel seines Zimmers.

Da, ein leises Knacken der Dielen.

Es war jemand im Raum!

Er überlegte, ob er aufspringen oder noch abwarten sollte, als er dicht neben sich einen kaum wahrnehmbaren Luftzug spürte — und den Duft von Seife. Dazu ein helles Atmen.

Die Nachttischlampe flammte auf. Nur für einen Augenblick war er geblendet.

Angy trug einen hellblauen Pyjama und glänzte frischgesaschen. Das lange rotblonde Haar hing ihr wirr über die Schultern. Sie hatte den rechten Zeigefinger quer auf die Lippen gelegt und machte »Psst!«

»Du schläfst ja gar nicht«, flüsterte sie jetzt.

»Du hast mich aufgeweckt! Und warum schläfst du noch nicht?«

Sie sah ihn prüfend an, mit blinzelnden Augen und einer steilen Falte auf der Stirn. »Du verrätst mich nicht!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Perry Clifton schwieg erwartungsvoll.

»Ich war nämlich schon im Bett … Ich muß immer schon um sieben ins Bett, dabei werd’ ich schon fünf.«

Perry warf einen raschen Blick zur Uhr und erschrak. 20 Uhr vorbei. Und für 19 Uhr hatte er sich zum Essen angemeldet.

Er richtete sich auf und schwang sich aus dem Bett.

»Ich muß dich was fragen, Mister!« Angy schien von den plötzlichen Aktivitäten ihres »Misters« irritiert. »Wo willst du hin?«

»Zum Abendessen! Also, was wolltest du mich fragen, Angy?«

»Machst du morgen wirklich Bilder von mir?«

»Ja, aber nur, wenn du jetzt wie der Blitz in deinem Bett verschwindest und schläfst.«

Angy warf ihm noch einen gleichermaßen forschenden wie mißtrauischen Blick zu, dann huschte sie geräuschlos zur Tür hinaus.

Als Perry Clifton wenige Minuten später die Gaststube betrat, schlugen ihm Qualm und Stimmengewirr entgegen. Alle Tische waren dicht mit rauchenden, trinkenden und schwatzenden Männern besetzt.

Missis Bradley winkte ihm sofort zu und zeigte zu einem kleinen freien Tisch mit zwei Stühlen hinüber. Er stand neben einem der zugezogenen Fenster.

»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber ich bin tatsächlich eingeschlafen.«

»Macht nichts, Mister Arling, ich habe das Essen warmstellen lassen.«

Perry Clifton drängte Sich durch die dichten Stuhlreihen. Manche Gäste warfen ihm einen neugierigen, andere wieder einen belustigten Blick zu. Vielleicht erschien es ihnen wirklich komisch, daß einer mit zwei Kameras durch den Ort ging und jede Kleinigkeit fotografierte. Es gab auch welche, die freundlich nickten. So, als sei er nach längerer Abwesenheit wieder einmal in BRADLEYS GASTHOF eingekehrt.

Kaum saß er, da servierte Missis Bradley auch schon das Essen. Er aß zuerst eine ganz ausgezeichnete französische Zwiebelsuppe, wie es sie wohl selbst in einem Pariser Restaurant nicht besser gab, und anschließend kalten, aufgeschnittenen Hirschbraten mit Preiselbeeren. Dazu trank er, was alle tranken: Ale, jenes englische Bier, nach dem man so schön aufstoßen kann. Das Interesse für ihn hatte sich längst gelegt, als sich seinem Tisch ein hochgewachsener Mann näherte. Sein volles Haar war leicht angegraut. Er trug eine dunkle Hornbrille mit dicken Gläsern. Seine Bewegungen waren linkisch und nervös. Immer wieder fuhr er sich mit einer raschen, fahrigen Handbewegung über die Haare. Eine dumme Angewohnheit. Sicher kam sie ihm gar nicht mehr zu Bewußtsein. Mit einem verlegenen Lächeln trat er heran, deutete auf den zweiten Stuhl und fragte: »Guten Abend, Mister Arling, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Clifton machte eine einladende Handbewegung: »Bitte!«

»Danke. Ich bin Rodney Holman, Lehrer an der Schule von Hackston. Jim nannte mir Ihren Namen.«

»Jim?«

»Jim Bradley, der Wirt. Ich hoffe, ich störe Sie nicht allzu sehr.«

»Ganz im Gegenteil!« versicherte Perry Clifton und meinte es durchaus ernst damit. Holmans Verlegenheit verstärkte sich, als er erklärte: »Ich habe Sie nämlich beobachtet … ich meine beim Fotografieren. Sind Sie Berufsfotograf?«

»Sagen wir lieber Hobbyfotograf. Zur Zeit fotografiere ich englische Folklore. Brunnen, Denkmäler, alte Häuser und Bäume, Ortsansichten und die Menschen, die dazugehören.«

Holmans Augen glänzten. »Interessant. Sehr interessant. Ich habe nämlich auch eine Vorliebe für die Fotografiererei. Ja, ehrlich gesagt«, er fuhr sich zweimal hintereinander über seinen grauen Scheitel, »sie ist meine große Leidenschaft. Ich besitze auch ein guteingerichtetes Fotolabor und eine Menge Kameras. Vor zwei Jahren habe ich sogar mal einen Preis für ein Tierfoto bekommen.«

Man merkte es Holman an, daß er all das nicht aus Renommiersucht erwähnte, sondern damit nur seine Annäherung motivieren wollte. Es schien ihm sichtlich peinlich zu sein, für neugierig gehalten zu werden.

»Alle Achtung, Mister Holman, dann sind Sie ja eine ernsthafte Konkurrenz.« Der Lehrer wehrte bescheiden ab. Dann meinte er: »Besonders viele fotogene Dinge gibt es in Hackston ja nicht.«

Perry Clifton setzte eine Miene auf, die Nachsicht mit einem Irrtum ausdrücken sollte, und sagte mit Überzeugung: »Man findet überall Motive, es ist nur eine Frage der Augen und —- der Einstellung, Mister Holman.«

Der so mit freundlichen Worten Verbesserte schluckte zuerst, gab jedoch nach einer kleinen Pause des Nachdenkens zu: »Vielleicht haben Sie recht … Sicher kommt es darauf an, welche Aufgabe man sich gestellt hat.«

Perry Clifton rückte. »Stimmt!«

Missis Bradley trat an den Tisch, um das Geschirr abzuräumen. »Hat es Ihnen geschmeckt, Mister Arling?« fragte sie.

»Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, daß ich lange nicht so gut gespeist habe!«

Missis Bradley sah ihn dankbar an: »Das wird meinen Mann freuen. Er gibt sich immer viel Mühe mit dem Essen.« Und Rodney Holman fügte erklärend hinzu: »Jim war lange Schiffskoch!«

»Das erklärt alles. Die Zwiebelsuppe war ein Meisterwerk! Wie steht’s, Mister Holman, darf ich Sie zu einem Bier einladen?«

Der Lehrer hob zuerst beide Hände, dann deutete er auf seinen Bauch: »Ich darf kein Bier trinken, aber zu einer Tasse Tee lasse ich mich gern einladen.«

Die Wirtin nahm diese Bemerkung als Bestellung auf und empfahl sich. Perry Clifton dagegen war entschlossen, die »Quelle« Holman für sich zu erschließen.

»Ich habe mir heute nachmittag auch ein bißchen die Umgebung von Hackston angesehen und dabei festgestellt, daß der Ort in Wirklichkeit größer ist, als es der erste Augenschein vermuten läßt.«

»Das liegt wohl daran, daß sich Hackston ziemlich in die Länge zieht.«

»Wieviel Einwohner hat Hackston eigentlich?« wollte Perry wissen, und Holman antwortete eifrig: »Eintausendfünfhunderteinundzwanzig. Übrigens, der Ort wurde 1239 zum ersten Mal urkundlich erwähnt.« Die Stimme Holmans war die eines Fremdenführers, und der Detektiv konnte es sich nicht verkneifen zu bemerken: »Man merkt, daß Sie ein Lehrer sind…«

Rodney Holman lächelte, und Perry Clifton beschloß den ersten Vorstoß zu wagen: »Sagen Sie, Mister Holman, wenn man den Ort in südwestlicher Richtung verläßt, sieht man auf einer Anhöhe ein großes, häßliches Haus. Was ist das für ein Gebäude?«

»Sie meinen das Brockton-Haus…«

Hatte Holman eben gezögert, oder kam es ihm nur so vor? Perry Clifton suchte nach irgendwelchen Anzeichen in Holmans Benehmen, die diesen verdächtig machten. Doch harmlos heiter, ohne jedes Anzeichen von Überraschung oder Verlegenheit, berichtete dieser im Tonfall eines Geschichtslehrers:

»Ja, dieses Gebäude ist wirklich alles andere als eine architektonische Meisterleistung. Es wurde in den neunziger Jahren von James P. Brockton erbaut. Brockton war Erfinder und kam aus London. 1912, es war im August, gab es dann plötzlidi einen lauten Knall, und ein Teil des Hauses stürzte ein. Von diesem Moment an blieben Brockton und sein Mitarbeiter Henders verschwunden. Sehr zum Leidwesen der zahlreichen Gläubiger.«

Der Detektiv hatte aufmerksam zugehört. Jetzt fragte er: »Hatte Brockton so viele Schulden?« Holman nickte: »Man erzählt sich, daß die Menge seiner Schuldscheine gereicht hätte, um mit ihr ein mittelgroßes Zimmer zu tapezieren.«

»Und die beiden Männer sind bei der Explosion umgekommen? Sie sagten, daß man sie nie mehr gesehen habe.«

Holman zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl alles ziemlich ungeklärt geblieben. Überliefert ist nur, und zwar ernsthaft überliefert, daß sich Brockton und Henders kurz vor der Explosion in dem später restlos zerstörten Teil des Hauses aufgehalten haben … Obwohl man danach die Trümmer förmlich gesicht hat, fand man nicht die geringste Spur von ihnen … Es gab Leute, die allen Ernstes behaupteten, die beiden hätten sich aus dem Staub gemacht. Später kam dann mal das Gerücht auf, Brockton lebe in Australien. Einer will ihn dort gesehen haben. Da sich kein Käufer für das Haus fand, erwarb es die Gemeinde Hackston für einen Pappenstiel und versuchte Nutzen durch Verpachtung daraus zu ziehen.«

»Aus einem kaputten Haus?« warf Clifton ungläubig ein.

»Es war ja nur ein kleiner Teil des Hauses zerstört. Zwar hatte die Explosion sämtliche Scheiben demoliert, aber das ließ sich ja rasch beheben. Trotzdem stand das Haus über acht Jahre lang leer, bevor es den ersten Penny einbrachte. Zuerst war eine Stoffdruckerei darin untergebracht, später eine Nervenklinik. Als der Krieg ausbrach, machte die Armee daraus eine Art Vorratslager.«

»Eine bunte Geschichte.«

Holman winkte ab. »Das ist längst noch nicht alles. Nach dem Krieg beherbergte es einige Jahre ein landwirtschaftliches Laboratorium und anschließend ein Institut für Saatgutforschung. Dann stand es wiederum jahrelang ungenutzt leer, bis es vor einem halben Jahr von einer Londoner Firma für Werbemittel gekauft wurde. GORDON & LASH heißt die Firma.«

»Und was stellen die her?«

Holman schüttelte den Kopf. »Herstellen tun die eigentlich gar nichts im Brockton-Haus. Sie pinseln Geigen an.«

Perry Cliftons Verblüffung war nicht gespielt. Wenn er auch wußte, daß Geigen im Spiel waren, so kam Holmans Erklärung für ihn doch überraschend.

»Sie pinseln Geigen an?« widerholte er ungläubig.

»Ja. Rot, grün, blau … Manchmal auch alle Farben zusammen. Einige ältere Männer aus Hackston verdienen sich im Brockton-Haus einen bescheidenen Lohn.«

»Und was wird mit den Geigen gemacht?«

»Sie werden als Dekorationsmittel verkauft.«

Perry Clifton spielte weiter den baß Erstaunten. »Was es nicht alles gibt … was es nicht alles gibt. Dabei hätte ich nie gedacht, daß in dem Haus Leute wohnen.«

»Nur zwei. Ein Hausmeister und der Geschäftsführer. Alle anderen kommen früh und gehen abends. — Wie lange werden Sie denn in Hackston bleiben, Mister Arling?«

»Vielleicht ein oder zwei Tage. Es gefällt mir ganz gut hier.«

Rodney Holman nahm die Brille ab und begann mit einem kleinen Lederläppchen sorgfältig die Gläser zu putzen. Dabei sagte er: »Ja, mir gefällt es auch ausnehmend gut in Hackston.«

»Sind Sie denn nicht von hier?«

»Nein. Ich bin erst seit zwei Jahren hier Lehrer.«

»Und doch kennen Sie sich so gut aus?« Perry Clifton staunte. Holman setzte sich die Brille wieder auf. Ein feines Lächeln lag um seine Mundwinkel, als er erwiderte: »Wenn man sich dafür interessiert, kann man alles in den alten Chroniken nachlesen. Sogar Shakespeare soll einmal in Hackston übemachtet haben.«

Sie saßen noch gut eine Stunde zusammen. Perry Cliftons versuche, noch weitere Einzelheiten über das Brockton-Haus zu erfahren, scheiterten daran, daß Holman entweder nichts mehr wußte oder nichts mehr sagen wollte. Als er sich von Clifton verabschiedete, ließ er jedoch durchblicken, daß er weitere Begegnungen sehr begrüßen würde. Dabei strich er sich zwei-, dreimal über die Haare.

Auch Perry Clifton sagte etwas Höfliches.

Das Brockton-Haus und seine Aussicht

Der neue Tag, der Kalender zeigte den 2. April an, kam, wie es sich für einen Tag dieses Monats geziemt: mit Sonne und Regen. Und fast schien es, als sollte es zwischen diesen beiden einen langen Zweikampf geben. Doch gegen 10 Uhr schien die Sonne als der strahlende Sieger festzustehen. Sie tauchte das ganze Land in warmes, gleißendes Licht.

Joe Melvin saß mit mürrischem Gesicht über eine Liste gebeugt und rechnete.

Ein vorwitziger kleiner Sonnenstrahl tanzte reflektierend auf seiner Halbglatze. Ab und zu stieß der hagere Mann einen unwilligen Laut aus, und einmal warf er den Kugelschreiber mit einem wütenden Fluch auf den Schreibtisch; dabei bled‘te er zwei Reihen schimmernder Goldkronen. Ohne sich der Geste bewußt zu sein, griff er nach einer Zigarettenschachtel und zündete sich eine neue Zigarette an. Die elfte oder zwölfte an diesem frühen Vormittag. Gerade als er mit grimmigem Gesicht nach dem fortgeworfenen Kugelschreiber greifen wollte, öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ein: groß, blond, in einem eleganten dunkelblauen Zweireiher mit hellen Nadelstreifen. Mit dem rechten Fuß gab er der Tür einen Stoß, daß sie ins Schloß fiel.

Joe Melvin stame den Besucher mit fassungslosem Staunen an. Sein Adamsapfel sprang auf und nieder. Endlich brachte er die Goldkronen auseinander. »Ich werd’ verrückt. Jack Mason höchstpersönlich.«

Der Elegante transportierte die beigen Lederhandschuhe von der rechten in die linke Hand und streckte Joe Melvin die freigewordene entgegen.

»Da staunst du, was?« Und mit einem ironischen Unterton in der Stimme stellte er fest: »Du siehst blaß aus, Joe. Du solltest öfters an die frische Luft gehen!«

Joe Melvin winkte angewidert ab: »Die Luft in Hackston bekommt mir nicht.« Und neugierig: »Also, Jack, nun verrat mal dein Geheimnis. Was führt ausgerechnet dich ans Ende der Welt?«

»Der Chef wollte, daß ich diesmal die Ware hole!«

Melvin verzog sein häßliches Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Verstehe. Cockland und der Franzose liegen ihm schwer im Magen. Noch nichts Neues von den beiden?«

Mason vemeinte.

»François Mellier will man angeblich in London gesehen haben. Wer weiß, ob es stimmt …« Achselzuckend fuhr er fort: »Die Geschäfte gehen gut, und wir werden den Verlust bald eingearbeitet haben. Pannen passieren immer wieder.«

Er trat ans Fenster und sah hinaus. »Eine trostlose Gegend«, murmelte er.

»Das brauchst du mir nicht zu sagen!«

Melvin drückte ärgerlich seine Zigarette aus. »Wieviel willst du mitnehmen?«

»Fünfundzwanzig. Ich habe Charly schon Bescheid gesagt. Er macht die Geigen zurecht!«

Joe Melvins Miene hatte sich bei Erwähnung des Namens schlagartig verändert. Und mit einer Mischung aus Zorn und Machtlosigkeit nahm er den Faden auf: »Es ist gut, daß du Charly erwähnst. Ihm bekommt die Luft von Hackston noch weniger als mir. Du solltest mit dem Chef ein ernstes Wort sprechen. Charly könnte zu einer Gefahr werden. Er hat einen richtiggehenden Dorfkoller!«

»Und was schlägst du vor, was ich dem Chef sagen sollte?«

»Er möge Charly mal ein paar Tage Stadtluft gönnen.«

Jack Mason hatte mit gerunzelten Augenbrauen und steigendem Unbehagen zugehört. Nun fragte er: »Ist was passiert?«

»Passiert ist eigentlich nichts Besonderes … Nur, das Schachspielen allein genügt ihm offensichtlich nicht mehr.«

»Schachspielen? Seit wann spielt Charly Schach?«

»Er hat es im Knast gelernt. Jeden Donnerstag spielt er unten in Hackston mit dem Lehrer.«

Mason konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Soso, mit dem Lehrer …« Und mit einem bedeutungsvollen Unterton: »Ausgerechnet mit dem Lehrer …« Joe Melvin überhörte es.

»Gestern am späten Nachmittag wollte ich Charly etwas fragen, aber er war verschwunden. Im ganzen Haus hab’ ich nach ihm gesucht — nichts. Schließlich hab’ ich mich aufs Rad gesetzt und bin zu Holman gefahren.«

»Wer ist Holman?«

»Der Lehrer. Aber Charly war nicht dort. Als ich zurückkam, saß er vor der Tür. Er hätte nur einen kleinen Spaziergang gemacht.«

In Jack Masons Augen war ein eisiges Glitzern. Auch seine Stimme ließ Schlimmes ahnen. Er fixierte Melvin, bis diesem plötzlich der Kragen zu eng wurde.

»Charly war spazieren?«

Melvin nickte stumm.

»Und du warst beim Lehrer?«

»Ja!« würgte der Hagere hervor und wußte in diesem Augenblick, welche Riesendummheit er begangen hatte.

»Charly geht spazieren, und du machst eine Radtour … Niemand war im Haus … Hörst du, Joe, niemand war im Haus. Du hast gegen das oberste Gebot verstoßen, das heißt: nie das Haus unbewacht lassen.«

»Es war … war ja nur für ein paar Minuten«, stammelte Joe Melvin, und mit einem Anflug von Trotz: »Ich mußte doch nachsehen, wo Charly steckt.« Er verfluchte innerlich seine Unvorsichtigkeit. Doch Jack Mason schien es sich anders überlegt zu haben. Die Kälte war aus seinen Augen gewichen. Fast fröhlich sagte er: »Diesmal soll der Chef nichts erfahren.« Melvins Adamsapfel machte einen Satz. »Vielleicht brauche ich deine Hilfe auch einmal, Joe.«

»Gern … wenn mal was ist …«, versicherte Joe beflissen, ohne sich jedoch vorstellen zu können, was mal sein könnte.

Mason schlug klatschend mit den Handschuhen gegen das Pensterbrett. »Übrigens, was der Chef noch wissen möchte: Wie geht es unserem Gast?«

»Ausgezeichnet, es fehlt ihm an nichts.«

»Tobt er?«

»Im Gegenteil: Er ist friedlich wie ein Lämmchen.«

Jack Mason trat plötzlich vom Fenster zurück. In seiner Stimme schwang wieder jener unheilvolle Unterton mit: »Du kriegst Besuch!«

Melvin sprang auf. »Besuch?« stieß er heiser hervor. Die Fahlheit seines Gesichts war noch stärker geworden. »Polizei?«

»Nein, ein Mann. Er hat zwei Kameras um den Hals hängen. Hast du einen Fotografen bestellt, Joe?«

Keine Polizei.

Melvin atmete auf. Fühlte wieder Oberwasser, versuchte sogar zu scherzen: »Seh’ ich aus, als würde ich einen Fotografen bestellen? Ich bin nicht fotogen …«

Jack Mason nickte, und der Spott war unüberhörbar: »Der Himmel weiß, wie recht du hast!«

Da klingelte das Telefon.

Melvin räusperte sich, nahm ab. »Ja?« bellte er in den Apparat.

»Sir, ein Mister Arling möchte Sie gern sprechen.«

Melvin preßte die Handfläche gegen die Sprechmuschel und zischte Mason zu: »Er will mich sprechen. Was soll ich machen?«

»Empfangen! Vielleicht sucht er Arbeit.«

»Hören Sie, Miß Jennifer, sagen Sie diesem Mister Arling, daß wir keine Arbeitskräfte mehr einstellen.«

»Er sucht keine Arbeit, Sir. Er möchte ein Anliegen vorbringen.«

»Ist gut, dann bringen Sie ihn hoch!«

»Sofort, Sir!«

Melvin warf den Hörer auf die Gabel: »Er hat ein Anliegen, dieser Mister Arling. Was will er nur?«

Jack Mason grinste. »Schätze, daß du das gleich erfahren wirst. Ich geh’ inzwischen ins Nebenzimmer. Sei freundlich zu ihm. Denk daran, daß die wahre Harmlosigkeit mit einem dummen Gesicht beginnt …«

Perry Clifton stieg neben der pummeligen und pausbäckigen Miß die Treppen hoch. Jennifer Croft, die so eine Art Empfangsdame mit Telefonfunktion oder auch umgekehrt darstellte, ging ganz in ihrer Rolle auf. Sich ihrer augenblicklichen Wichtigkeit bewußt, tippelte sie neben Clifton her.

»Wir sind gleich da!« bemerkte sie völlig überflüssigerweise, nachdem sie nur noch drei Meter von der einzigen Tür weit und breit entfernt waren.

Plötzlich blieb sie stehen. Ruckartig. Ihr Atem ging stoßweise, und tiefe Röte hatte ihre runden Wangen gefärbt. Es mußte eine ungeheure Eingebung sein, die sie in solche Aufregung versetzte. Die braunen Kulleraugen sahen den Detektiv auch gar nicht mehr hoheitsvoll, sondern eher in freudigster Erwartung an.

»Sind Sie von der Zeitung, Mister Arling?« Der Gedanke, der Mann mit den Kameras könnte ein Titelfotograf sein, ließ sie erzittern. Sie reckte sich und versuchte um ein paar Zentimeter zu wachsen.

»Machen Sie Fotos für Zeitungen?«

Clifton tat es fast leid, ihr den Traum von der »Entdeckung« zu zerstören. »Nein, Miß, ich bin nur ein kleiner Amateurfotograf. Aber ich versichere Ihnen, daß es mir ehrlich leid tut, Ihnen nicht gefällig sein zu können. Dabei hätten Sie es wahrlich verdient, in die Zeitung zu kommen.«

Die Enttäuschung ließ sie rasch wieder um jene künstlich gewachsenen Zentimeter zurückschrumpfen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte sie den letzten Schritt in Richtung Tür und klopfte.

»Herein!«

Jennifer öffnete und deutete mit sichtbarer Geringschätzung auf Perry. »Das ist Mister Arling, Sir!«

»Ja, danke, Miß Jennifer. Sie können wieder gehen.«

Die Tür schnappte hinter ihr ins Schloß.

»Joe Melvin sieht wirklich genauso aus, wie ihn Tom Harder beschrieben hat«, dachte Perry Clifton und verbeugte sich kurz vor dem Mann mit dem Frettchengesicht.

»Guten Tag, Sir … Ich bin Clifford Arling. Sind Sie der Chef hier?«

Joe Melvin hielt es nicht für nötig, sich von seinem Stuhl zu erheben. »Stimmt, Mister«, antwortete er. Er sagte nur »Mister«, nicht »Mister Arling«. Jeden anderen hätte dieses taktlose Benehmen aufgebracht, doch Perry Clifton tat, als hätte er es überhört. Ja, er tat sogar, als sei der andere ein besonders entgegenkommender Mensch.

»Na fein, Chef, ich danke, daß Sie mir Ihre kostbare Zeit opfern. Ich habe nämlich ein Anliegen, sozusagen eine nicht ganz ungewöhnliche Bitte.«

Joe Melvin schnipste sich eine Zigarette aus der Schachtel. Ohne seinem Besucher ebenfalls eine anzubieten, warf er die Schachtel auf den Schreibtisch zurück. Während des Anzündens kaute er zwischen den Zähnen hervor: »Wenn Sie nicht gerade Arbeit suchen, Mister, will ich Ihnen gern helfen.«

Perry Clifton stieß ein meckerndes Lachen aus und winkte ab. »Arbeit? Nein, wo denken Sie hin. Ich bin froh, wenn ich mal nicht arbeiten muß. Ich mach’ nämlich Urlaub. Und wenn ich Urlaub mache, fotografiere ich!« Er klopfte auf seine beiden Kameras: »Das ist meine einzige Leidenschaft.«

Joe Melvin blies ungeduldig und geräuschvoll einen Rauchkegel in Richtung seines Besuchers. »Ich versteh’ nicht, was das mit mir zu tun hat?!«

»Mit Ihnen selbst nicht. Aber mit Ihrem Fenster, das heißt«, Perry streckte den rechten Daumen steil in die Luft, »mit einem Ihrer Fenster. Hier im Mittelteil des Hauses ist es. Ganz oben unterm Dach. Bitte, Mister Melvin, wäre es möglich, daß ich von dort aus ein paar Aufnahmen machen könnte?«

»Was wollen Sie denn fotografieren?« Melvins Mißtrauen war nicht zu überhören.

»Die Landschaft. Ich brauche sie als großen Hintergrund für eine Bildstory über Hackston!«

»Hm, meinetwegen.« Joe Melvin griff zum Telefon und sagte dann: »Schicken Sie Mister Bell zu mir!«

Clifton deutete eine Verbeugung an und tönte: »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Mister Melvin.«

Der winkte ab. »Was soll denn das für eine Bildstory werden?«

»Oh, nichts Aufregendes. Eine Sache, die in Bildern die Geschichte Hackstons zeigt. Haben Sie gewußt, Mister Melvin, daß der große Shakespeare in Hackston übernachtet hat?«

Das »Frettchen« schüttelte den Kopf und erkundigte sich: »Sind Sie aus Hackston?«

»Nein, nein, ich komme aus der Gegend von Manchester. Aber diese Art von Bildgeschichten habe ich schon in Bomershill, in Clarencetown und in St. Pappers gemacht. Kennen Sie St. Pappers, Mister Melvin?«

»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.« Er sah ungeduldig zur Tür.

»Es ist ein winziger Ort in der Nähe von Leicester. Aber was für ein Ort!« Perry Clifton rollte mit den Augen und streckte theatralisch die Hand in die Höhe. »Ein Ort mit tausendjähriger Geschichte. Da ist jeder Stein ein …«

Es klopfte.

»Herein!« rief Melvin rasch und erleichtert.

Ein untersetzter, mürrisch dreinschauender Mann schob sich ins Zimmer. Er steckte in einem grauen Overall. Er blieb an der Tür stehen und musterte Perry Clifton mit zusammengekiffenen Augen, so wie es Kurzsichtige tun, wenn sie etwas erkennen wollen.

»Charly, das ist Mister Arling, ein Fotograf. Er möchte gern ein paar Aufnahmen vom Rundfenster des obersten Speichers machen … Am besten, Sie gehen gleich durch die Werkstätten. Das ist der kürzeste Weg!«

Der mit »Charly« Angesprochene verzog keine Miene, er sagte nur mit heiserer Stimme: »Ist gut!« Und zu Perry: »Bitte, Sir!«

Daß Melvin jenem Charly mit den Augen und einer kaum wahmehmbaren Kopfbewegung etwas signalisiert hatte, war Perry Clifton nicht entgangen, und er beschloß, auf der Hut zu sein.

Jack Mason trat, nachdem Charly mit Clifton den Raum verlassen hatte, aus dem Nachbarzimmer, dessen Tür nur angelehnt gewesen war, in den Büroraum zurück. Und zwar deutlich unzufrieden.

Joe Melvin sah ihm mit zwiespältigen Gefühlen entgegen. »Na, Jack, hast du alles mitgekriegt?«

»Hab’ ich!«

»War ich freundlich genug?«

»Wie eine Giftnatter. Dein Benehmen war das eines Besenstiels!«

Melvin runzelte ärgerlich die Stirn, während er nach der fünfzehnten oder sechzehnten Zigarette griff. »Seit wann hat ein Besenstiel Benehmen?«

»Eben!« sagte Mason lakonisch und dann voller Spott: »Da bist du nun seit zwei Jahren in Hackston und weißt nicht mal, daß Shakespeare hier übernachtet hat.«

»Wußtest du es?« giftete der Hagere.

»Wohne ich hier? Was hältst du von diesem Fotografen?«

Melvin machte eine geringschätzige Handbewegung und ließ die Mundwinkel hängen. »Ein armer harmloser Trottel mit einem Fotografiertick.«

Jack Mason sah an Melvin vorbei und strich sich gedankenverloren mit den Handschuhen über das Kinn.

»Ich weiß nicht, Joe. Ich hatte fast den Eindruck, als wollte uns dieser Arling hier eine Figur vorspielen, die er in Wirklichkeit gar nicht ist. Mir jedenfalls kam er nicht wie ein harmloser Trottel vor. Hoffentlich führt ihn Charly nicht durch das obere Lager.«

»Nein, nein, er weiß schon Bescheid!« beteuerte Joe Melvin.

Perry Clifton folgte Bell wie ein Schatten. Nachdem sie Melvins Zimmer verlassen hatten, ging es über eine Diele zu einer aufwärtsführenden Holztreppe. Nach genau zweiundvierzig fürchterlich knarrenden Stufen standen sie vor einer eisernen Tür. Charly Bell drückte sie auf, und die beiden Männer befanden sich in einem weitläufigen, saalähnlichen Raum. Es roch nach Farbe, Lack und Terpentin. Aus einem uralten Kasten von Radio tönte Musik.

Acht ältere Männer (»Warum nicht auch Frauen?« überlegte Clifton) waren damit beschäftigt, hölzerne Geigenkörper mit leuchtender Farbe zu bestreichen. Für einen Augenblick ließen sie die Pinsel sinken und musterten neugierig die Ankömmlinge.

Während Charly wortlos, ohne die Männer eines Blickes zu würdigen, den Saal durchquerte, nickte Perry ihnen freundlich zu und wünschte einen guten Morgen. Gemeinsam gaben sie den Gruß zurück.

Der nächste Raum schien ausschließlich der Trocknung zu dienen. Fein säuberlich aufgereiht hingen die Geigen da: rot, grün, blau, gelb, gescheckt, gestrichelt, gepunktet oder mit Kringeln versehen.

»Schade, daß ich so gar nicht musikalisch bin!« ulkte Perry Clifton, doch Bell gab keine Antwort.

Er stieß eine neue Tür auf, und weiter ging es aufwärts. Endlich hatten sie den obersten Speicher erreicht. Ein vor Schmutz fast blindes Rundfenster ließ kaum Licht durch, und so herrschte in dem Bodenraum nur mattes Halbdunkel.

Es roch nach Vergangenheit, Staub, ausgetrocknetem Holz und Taubemnist. Irgendwo mußte ein Durchschlupf sein.

Spinnweben in allen geometrischen Figuren hingen zu Dutzenden herum und bildeten Hindernisse auf dem Weg zum Fenster. Bell zerriß sie mit einem Kugelschreiber. Bei jedem Schritt wirbelten Staub und Schmutzflocken auf. Ohne Zweifel, es mußte Jahrzehnte her sein, daß hier einmal jemand Ordnung geschaffen hatte.

»Hier ist eine Menge Dreck!« bemerkte Bell überflüssigerweise. »Wird nämlich nie geputzt.«

»Macht nichts. Ich habe schon ganz anderen Dreck fotografiert.«

»Wozu haben Sie eigentlich zwei Fotoapparate?«

»Einen für schwarzweiße Bilder und einen für Farbe.«

Bell versuchte das Rundfenster zu öffnen. Die Scharniere schienen eingerostet zu sein.

»Wo kommen Sie her?« fragte er mit einem lauernden Unterton in seiner heiseren Stimme, während er dabei ächzend versuchte, das Fenster aufzuklappen.

»Aus der Gegend von Manchester.«

Da, mit einem knirschenden Laut gab der Rahmen nach.

»Ich wohne unten in BRADLEYS GASTHOF. Ganz ordentlich, muß ich sagen.« Perry Clifton hatte die erste Kamera hochgenommen und begann wild drauflos zu fotografieren. Enthusiastisch rief er: »Nun sehen Sie sich diese Wolkenbildung an, Mister Bell!«

»Ich verstehe nichts davon … Wie lange wohnen Sie schon in der Gegend von Manchester?«

Perry Clifton betätigte drei-, viermal den Auslöser, bevor er antwortete: »Fast zwanzig Jahre! Sehen Sie nur, wie eine Märchenlandschaft. Sind Sie in Hackston zu Hause, Mister Bell?«

Charly Bell beging in diesem Augenblick seinen ersten großen Fehler. Er schüttelte nämlich den Kopf und erwiderte mit deutlicher Abneigung: »Scheißkaff! Ich bin hier nur Hausmeister!«

»Aha, dann wohnen Sie also hier. Was gefällt Ihnen denn nicht an Hackston?«

»Sind Sie fertig?« fragte Bell, statt eine Antwort zu geben.

»Ja!«

»Dann gehen wir gleich über die Feuertreppe. Die führt direkt in den Hof.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er den Rückweg an. Eine Etage tiefer öffnete er eine schmale Tür, die zu einer kleinen eisernen Plattform führte, von der es über eine enge Eisenstiege in den Hof ging. Clifton wollte Bell den Vortritt lassen, doch dieser schüttelte nur spöttisch den Kopf: »Gehen Sie nur, Mister Fotograf. Mir wird auf so was schwindlig.« Er rückte noch einmal, und seine heisere Stimme schnarrte: »Auf Wiedersehen, Sir!« Dann warf er die Tür hinter sich zu. Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloß. Vorsichtig machte sich der Detektiv an den Abstieg. Er war zufrieden mit dem Ergebnis seines Besuchs.

___________

Als Charly Bell in Melvins Büro zurückkehrte, rauchte dieser gerade eine neue Zigarette an, während der elegante Jack Mason wieder am Fenster stand.

»Na, Charly, wie bist du dir als Fremdenführer vorgekommen?« wollte Melvin wissen und zeigte grinsend seine Goldkronen.

Das sonst so mürrische Gesicht Bells war diesmal eigenartig ernst. »Was war das für ein Mann, Joe?«

Joe Melvin stutzte und sah Bell mißtrauisch an.

»Was soll diese Frage? Arling hieß er!«

»Mir kam er bekannt vor.«

»Bekannt?«

»Joe hielt ihn für einen armen harmlosen Trottel mit einem Fototick!« mischte sich Jack Mason ein. Charly wiegte den Kopf. »Kann sein, kann aber auch nicht sein. Jedenfalls kommt er mir bekannt vor!«

Melvin winkte überlegen ab: »Quatsch, Charly, du siehst Gespenster. Das Gefängnis hat dich für die Zivilisation verdorben. In jedem siehst du gleich einen Gangster.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke: »Oder meinst du, daß du ihn im Knast gesehen hast?«

»Ich weiß nicht.«

»Er kommt angeblich aus Manchester«, sagte Jack Mason. »Warst du schon mal in Manchester, Charly?«

Bell musterte angelegentlich seine Schuhspitzen. Es dauerte ziemlich lange, bevor er, ohne den Kopf zu heben, antwortete: »Ich war noch nie in Manchester. Aber ich glaube auch nicht, daß Arling aus Manchester kommt.«

»Woher dann?«

»Aus London!«

»Vermutungen, nichts als Vermutungen!« wehrte Joe Melvin ab. Ihm schien plötzlich die Zigarette nicht mehr zu schmecken.

»Natürlich Vermutungen«, gab Charly zu, »aber eines ist sicher: Irgendwo hab’ ich das Gesicht dieses Arling schon gesehen. Und weil ich noch nie in Manchester gewesen bin, kann es dort nicht gewesen sein. — Ich werde Rodney Holman mal einen Besuch machen!«

»Dem Lehrer?«

Charly Bell sah Jack Mason erstaunt an. Dann schwenkte sein Blick zu Melvin, und etwas wie Haß war in seinen Augen: »Hast du wieder mal deine goldene Klappe nicht halten können?«

»Warum willst du dem Lehrer einen Besuch abstatten, Charly?« Masons Stimme hatte alles Verbindliche verloren. War hart und kalt. Und urplötzlich lag eine gespannte Atmosphäre über den drei Männern. Es knisterte förmlich. Melvin tastete nervös nach seiner Zigarettensdrachtel, obwohl die letzte Zigarette noch im Aschenbecher qualmte.

»Ist das nötig?«

Charly Bell starrte Mason an. Sein Blick war voller Aggressivität und seine Stimme noch heiserer als sonst: »Es geht auch um mein Fell, Jack Mason. Ich habe keine Lust, noch mal nach Dartmoor zu wandern.«

»Was hat das mit Holman zu tun?«

»Der Lehrer ist ein verbissener Fotograf. Vielleicht weiß er was. Hast du was dagegen?«

In Masons Augen stand eine unverhüllte Drohung. »Ich warne dich, Charly. Keine Dummheiten. Publizität ist das allerletzte, was wir brauchen können.«

»Ich werde schon vorsichtig sein!«

Joe Melvin zupfte sich voller Unbehagen am Ohr. »Vielleicht sollten wir doch dem Chef Bescheid geben. Was meint ihr?«

Mason winkte ab: »Der Chef ist verreist!« Und ein wenig freundlicher: »Es reicht aus, wenn wir die Augen offenhalten! Laßt es mich wissen, falls es etwas Neues gibt!«

»Kommst du jetzt immer?« Man sah es Melvin an, daß es ihm bei dem Gedanken, Mason könne jetzt ständig selbst die Ware holen, äußerst unbehaglich war. Und er atmete erleichtert auf, als der Mann aus London erwiderte: »Ende der Woche kommt O’Mally aus Frankreich zurück. Der wird dann diese Tour wieder übernehmen!« Er wandte sich an Charly: »Hast du meine Ladung erledigt?«

Charly Bell nickte nur stumm und verließ den Raum.

Eine folgenschwere Begegnung

Perry Clifton hatte es nach seinem Besuch im Brockton-Haus sehr eilig, zurück nach Hackston zu kommen. Niemand begegnete ihm auf dem Weg zu seinem Zimmer. Auch als er sich eine halbe Stunde später wieder davonstahl, war er sicher, weder von Jim Bradley noch von Missis Bradley gesehen worden zu sein. Nur Angys Stimme drang schrill aus irgendeinem Raum. Und für einen Augenblick meldete sich das schlechte Gewissen bei Perry. Was war mit den Aufnahmen, die er Angy versprochen hatte? Nun, er würde es nachholen!

Im allerletzten Augenblick schwang er sich auf das Trittbrett des Omnibusses nach Leicester.

Es war Mittag, als er die Garage erreichte, in der er seinen Wagen untergestellt hatte.

Kurz vor 14 Uhr passierte er die Stadtgrenze von London. Als er auf der Fahrt durch Hampstaed eine leere Telefonzelle entdeckte, stoppte er kurzentschlossen, nicht ahnend, welche Folgen dieser Aufenthalt haben sollte.

Tom Harder meldete sich sofort.

»Hallo, Tom, hier spricht Perry. Ich wollte dir nur einen kurzen Zwischenbericht geben.«

»Wo steckst du denn?« wollte Tom Harder wissen, überrascht und neugierig.

»In einer Telefonzelle in Hampstaed. Ich komme gerade aus Hackston!«

»Und? Hast du was rausfinden können?«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich habe heute vormittag dein sogenanntes ›unheimliches Haus‹ besucht.«

»Du hast …?« Clifton hörte Harder am anderen Ende der Leitung aufgeregt atmen. Und dann berichtete er kurz, was er bisher herausgefunden hatte. Harder verschlug es fast den Atem, als Perry Clifton sagte: »Am interessantesten ist die Figur des Hausmeisters. Charly Bell nennt er sich.«

»Wieso ›nennt er sich‹? Heißt er nicht so?«

»In den Londoner Polizeiakten läuft er unter dem Namen Charly Webster. Ich habe Teile seines damaligen Prozesses miterlebt.«

»Ein Vorbestrafter also …«

»Ja. Vorbestraft wegen räuberischer Erpressung und Diebstahls. Er war in den Fall Orkney verwickelt.«

Harder auf der anderen Seite stieß einen Pfiff aus. »Orkney, das war doch die Sache mit dem Unterhausabgeordneten, habe ich recht?«

»Ja, du hast recht!«

Perry Clifton hörte Tom Harder förmlich denken und mußte unwillkürlich lächeln. Wie er seinen Schulfreund kannte, würde der vor Aufregung wohl wieder einmal eine Nacht nicht schlafen können. Echte Sorge schwang in Harders Stimme mit, als er fragte: »Was machst du, wenn dich dieser Webster erkannt hat?«

»Ich glaube kaum, daß diese Gefahr besteht. Außerdem kennt er ja meinen Namen nicht. Und noch etwas, Tom: Melvin schnauzte dich damals doch so unfreundlich an, als du auf den Hof fuhrst, erinnerst du dich noch?«

»Na, hör mal«, entrüstete sich Tom Harder, »ich hab’ noch ein intaktes Gedächtnis. Und ob ich mich an das Benehmen dieses Frettchens erinnere.« Er schnaufte wütend, und Perry Clifton sah ihn direkt vor sich. Es war immer wieder ein Vergnügen zu hören, wie sich Tom Harder ereifern konnte. »Dann mußt du dich auch noch daran erinnern, was ich vermutete!«

Toms Antwort kam prompt: »Du warst der Meinung, daß der Mann, den er in Wirklichkeit erwartete, den gleichen Wagen fahren müsse wie ich.«

»Stimmt. Einen knallgelben FORD, Baujahr 68, mit Londoner Kennzeichen.«

»Ja, und?«

»Er stand heute vormittag im Hof, als ich Melvin besuchte …«

»Wer?« Entweder war Harder abgelenkt oder wieder sonstwo mit seinen Gedanken, oder — er begriff wirklich nicht. Clifton wechselte den Telefonhörer von der linken auf die rechte Seite und schimpfte: »Herrgott, Tom, sei doch nicht so schwerfällig. Ich meine den knallgelben FORD, Baujahr 68, mit Londoner Kennzeichen!«

Tom Harder schien vor Schreck und Überraschung der Mund offenzustehen. Endlich flüsterte er atemlos: »Der stand im Hof?«

»Ja!«

»Nein…Das ist ja… das ist ja…«

In diesem Augenblick klopfte jemand mit einem metallenen Gegenstand an das Glas des Telefonhäuschens.

Clifton wandte sich um. Eine Frau um die vierzig mit einem grellgemusterten Kopftuch, das die zwei Dutzend Lockenwickler in ihrem Haar verdecken sollte, winkte ihm mit einem Schlüssel zu.

»Ich muß Schluß machen, Tom. Sobald ich mehr weiß, lasse ich wieder von mir hören!« Ohne Tom Harders Antwort abzuwarten, hängte er den Hörer in die Gabel zurück und schob die Zellentür dreißig Zentimeter auf.

»Oh, Mister, ich müßte dringend telefonieren!«

»Ich bin aber noch nicht fertig, Madam!« Sie streckte ihm den Schlüssel mit einer bittenden Gebärde entgegen und jammerte: »Ich muß aber telefonieren. Es geht auch ganz schnell. Mein Mann hat nämlich seinen Schlüssel vergessen. Ich muß es ihm sagen, sonst sucht er ihn die ganze Zeit.«

Perry Clifton machte ihr Platz. Dabei scherzte er: »Heißt Ihr Mann zufällig Paul?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Jack!« Und mißtrauisch: »Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich kannte mal einen gewissen Paul, der ließ auch immer seinen Schlüssel liegen!«

Die Lady mit den Lockenwicklern schien keinen Spaß zu verstehen. Mit einem Blick, der ihn hätte vierteilen müssen, stampfte sie in die Telefonzelle. Als sie drei Minuten später wieder herauskam, sagte sie weder danke schön noch auf Wiedersehen.

Perry Clifton wählte eine neue Nummer. Diesmal meldete sich Scotland Yard. Er bat um eine Verbindung mit Inspektor Skiffer. Eine Minute verging … eine zweite … eine dritte … Es knackte ohne Unterlaß, einmal hörte er sogar sekundenlang Fetzen einer Unterhaltung — dann endlich meldete sich Scott Skiffer.

»Hier ist Perry. Hat man dich vom Dach holen müssen?«

»Nein, ich war eine Etage tiefer im Bereitschaftsraum.« Skiffers Stimme klang müde und abgespannt, und Clifton hatte das Gefühl, einen falschen Zeitpunkt erwischt zu haben. »Was ist los, Scotty, komme ich sehr ungelegen?«

Skiffer wehrte ab: »Nein, nein, Perry. Es tut ganz gut, mal eine andere Stimme zu hören. Seit vier Stunden verhöre ich so ein windiges Bürschlein von Straßenräuber. Übrigens, ich wollte dich gestern abend zu einer Runde Bier abholen. Du warst wieder einmal nicht zu Hause. Hast du neuerdings eine Braut?«

Perry Clifton lachte. »Das nicht, obwohl es langsam Zeit bei mir wäre. Ich bin im Augenblick verreist, damit hängt auch mein Anruf zusammen.«

»Ach, du bist gar nicht in London?«

»Doch. Ich rufe aus einer Telefonzelle in Hampstead an.«

»Warum kommst du nicht selbst vorbei?«

»Ganz einfach, Scotty, weil ich nur für einen Sprung in London bin. Ich muß etwas aus meiner Wohnung holen.«

»Okay, Perry, schieß los, was kann ich für dich tun?«

»Hast du was zum Schreiben da?«

»Ja!«

»Punkt 1: Versuche bitte herauszufinden, was aus Charly Webster geworden ist. Das ist der Mann, den Staatsanwalt Feely in der Orkney-Verhandlung vom Zeugen zum Angeklagten gemacht hat. Es ist rund vier Jahre her.«

»Notiert!«

Clifton fuhr fort: »Punkt 2: Ich hätte gern gewußt, wer den FORD, Baujahr 68, London LPO 312 fährt. Hast du?«

»Ja!«

»Punkt 3: Gibt es irgend etwas Aktenkundiges über eine Firma namens GORDON & LASH?«

»GORDON & LASH …«, wiederholte Skiffer. »Ist das alles? Oder gibt es noch einen Punkt 4?«

»Gibt es. Vor einigen Tagen wurde bei Southampton ein verunglückter dunkelgrüner Kombi PEUGEOT 403 gefunden. Hast du davon gehört?«

»Verkehrsmeldungen interessieren mich in der Regel nicht, Perry. Das solltest du eigentlich wissen.«

Clifton schluckte diese freundschaftliche Zurechtweisung ungerührt. »Es ist nicht nur eine Verkehrsmeldung, lieber Freund. Die Ladung des Lieferwagens bestand aus bunten Violinen. Man fand sie, einzeln zertrümmert, neben dem Fahrzeug.«

»Hm …«, brummte Skiffer. »Hm, die Sache ist mir nicht ganz unbekannt, jetzt, wo du das mit den Geigen sagst …«

»Es stand in der TIMES!« half Perry.

»Nein, ich muß in einem anderen Zusammenhang davon gehört haben. Na ja, es wird mir schon wieder einfallen. Du willst also wissen, was es damit auf sich hat?«

»Ja.«

»Wenn du verreist bist, wo kann ich dich dann erreichen?«

»In Hackston …«

»Hackston??« Man hörte es Skiffers Stimme an, daß er noch nie in seinem Leben etwas von Hackston gehört hatte. »Liegt das in England?«

»Ja, eine Stunde mit dem Omnibus von Leicester entfernt. Die Nummer des Gasthofs, in dem ich wohne, ist 811. Verlange bitte Mister Arling.«

»Alles notiert, Mister Arling. Willst du mir wenigstens verraten, hinter was du her bist?«

Perry Clifton zuckte mit den Schultern. Als er dies merkte, sagte er: »Ich habe soeben mit den Schultern gezuckt … automatisch. Aber es ist tatsächlich so, Scotty, daß ich dir nicht sagen kann, hinter was ich her bin. Selbst wenn ich es wollte. Doch wenn mich mein Gefühl nicht trägt, ist es eine große Sache. Du weißt, ich habe ein Gespür dafür. Um meinen Freund Tom Harder zu zitieren: Es raucht, aber es ist noch kein Feuer zu sehen!«

Scott Skiffer warnte: »Sei vorsichtig, Perry, und denk daran, daß Scotland Yards Arm nur in bestimmten Fällen bis nach … wie heißt das Dorf?«

»Hackston! Sogar Shakespeare hat hier schon übernachtet!«

»Meinetwegen … bis nach Hackston reicht, wollte ich sagen. Vielleicht wäre es klug, wenn du die Landpolizei einschalten würdest.«

»Vorläufig nicht. Ich wüßte gar nicht, was ich denen sagen sollte. Ich rufe dich auf alle Fälle an, bevor es ernst wird!« Rasch fügte er noch hinzu: »Falls es überhaupt ernst wird!«

»Okay, und ich werde sehen, daß ich so schnell als möglich die gewünschten Informationen zusammenkriege. Bis bald, Perry!«

»Danke, Scotty, bis bald!«

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Auf der Fahrt nach Norwood erledigte Perry Clifton rasch noch einige Einkäufe. Als er in seiner Wohnung eintraf, war es genau 17 Uhr. Da er sich nicht besonders leise verhalten hatte, rechnete er mit einem prompten Auftauchen Dickis. Daß er nicht kam, ließ nur einen Schluß zu: Dicki Miller war nicht zu Hause. Er schrieb ihm einen kurzen Brief, sah noch rasch die eingegangene Post durch und fischte vom untersten Bücherbrett einen großen Bildband, »Arling und das Meer«. Dabei entschuldigte er sich zum x-ten Male bei dem ihm unbekannten Fotografen und Namensgeber.

Gegen 18 Uhr 20 erreichte er wieder die Ausfallstraße nach Norden.

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Auf die Minute genau zur gleichen Zeit klingelte in Hackston ein Telefon.

Joe Melvin drückte die fünfzigste (oder sechzigste) Zigarette aus und meldete sich.

»Hier spricht Melvin, Agentur von GORDON …«

»Laß den Schmus!« wurde er unterbrochen, kalt und unfreundlich, und er wußte, wer der Anrufer war. »Was ist los, Jack?« fragte er ohne jegliche Begeisterung.

»Ab sofort herrscht Alarmstufe eins!« sagte die Stimme.

Joe Melvin fühlte plötzlich seinen Magen. Eine Riesenfaust war da und quetschte ihn zusammen, ließ ihn los, quetschte aufs neue.

Joe Melvin schluckte, fuhr sich mit den dünnen Fingern über den kahlen Kopf. »Alarmstufe eins … warum?« brachte er endlich hervor, und Jack Mason, der Mann in London, höhnte: »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Ist was passiert?« Melvin tastete nach seinem Medikament gegen Angst, Kopfschmerzen, Hunger, Beklemmung, Nervosität, Schlaflosigkeit, Verlegenheit, Dummheit und Langeweile — der Zigarettenschachtel.

»Ja, Joe, Charly hatte recht.« Melvin stame auf den übervollen Aschenbecher und versuchte herauszufinden, womit Charly recht gehabt haben könnte. Als es ihm nicht gelang, wiederholte er: »Charly hatte recht?«

»Ja!«

»Womit hatte Charly recht?«

»Mit diesem komischen Fotografen.«

»Arling?«

»Er heißt nicht Arling…«

Melvin fühlte sich wieder besser. Die Wirkung des Schrecks ließ nach, verflog, machte neuem Mut und neuer Hoffnung Platz.

»Woher willst du wissen, daß er nicht Arling heißt?« Joe Melvin hörte Jack Mason am anderen Ende der Leitung leise lachen. Merkwürdig, wie ihn dieses Lachen erleichterte. Wenn Mason lachte, konnte es ja nicht so schlimm sein …

»Glaubst du an schicksalhafte Zufälle, Joe?«

»Nicht unbedingt.«

Wieder das Lachen aus London, dann: »So dachte ich auch immer, bis heute. Durch einen Zufall, wie es ihn wahrscheinlich nur alle hundert Jahre einmal gibt, bin ich draufgestoßen. Ich kauf’ mir am Patterson-Square in Hampstead eine Zeitung. Da hält plötzlich ein Auto, ein Mann steigt aus und betritt eine Telefonzelle. Du ahnst, wer dieser Mann war!«

»Arling!«

»Ja. Zweimal hat er telefoniert. Dann stieg er wieder ein, und ich erwischte«, Mason hob seine Stimme, »Zufall Nummer zwei — ein Taxi!«

Das wiederum war Joe Melvin zu hoch. »Wieso Taxi? Du hattest doch den Wagen dabei!«

»Sollte ich mit dem Kanarienvogel hinterher fahren? Nein, nein, nur mit einem Taxi konnte ich ihm unauffällig folgen. Und ich bin ihm gefolgt!« Wieder das zufriedene, glucksende Lachen. »Bis nach Norwood bin ich ihm gefolgt.«

»Bis nach Norwood? Was macht Arling in Norwood?«

»Er wohnt dort, Joe Melvin, du großes Licht von einem Schnelldenker. Er wohnt in Norwood und heißt nicht Arling, sondern Perry Clifton. Sagt dir dieser Name etwas?«

»Nein!« drückte Melvin wütend heraus.

»Mir auch nicht!«

»Vielleicht ist er aber wirklich nur ein harmloser Fotograf?«

Jack Mason schien seinen Vorrat an Freundlichkeit bereits wieder erschöpft zu haben. Zynisch kam seine Stimme durch den Draht: »Was du nicht sagst. Warum nennt sich dann dein harmloser Fotograf Arling und nicht Clifton? Warum behauptet er, aus Manchester zu kommen, wenn er doch in London wohnt? Hast du dafür auch eine plausible Erklärung?«

Joe Melvin schwieg und rieb knirschend seine Goldkronen aneinander. Mason fuhr fort: »Ich habe einen berufsmäßigen Schnüffler bestellt. Mal sehen, was dabei herauskommt. Ist Charly da?«

»Nein, Jack, er wollte zum Lehrer … du weißt ja …« Joe schwitzte plötzlich, doch Mason sagte diesmal nur: »Okay, Joe! Schärf ihm ein, daß er vorsichtig ist. Noch besteht zwar kein Grund zur Beunruhigung, doch ist es besser, sich auf den Standpunkt der Ärzte zu stellen: Vorbeugen ist besser als heilen!«

Es knackte in der Leitung, und ein feines Rauschen drang an Melvins Ohr. Wütend betrachtete er den Hörer und schleuderte ihn dann mit einem Fluch auf die Gabel.

Verdammter Charly,

verdammter Mason mit seiner Überheblichkeit,

verdammter Job! Warum nur hatte er sich auf diese Geschichte eingelassen. Warum hatte er seinen relativ ruhigen Beruf als Scheck- und Paßfälscher aufgegeben …

Ein Lebenslauf für hundert Pfund

Es war genau 20 Uhr.

»Hallo, sind Sie Mister Mason?« — »Ja!«

»Ich bin Sam Newton!«

Der Mann, der Jack Mason gegenüberstand, war mittelgroß und etwa fünfzig Jahre alt. Sein Anzug war ziemlich abgetragen, und dem dunkelgrauen Hut sah man die besseren Tage nicht mehr an. Der Mann hatte eine typische Boxernase, unter der sich eine riesige Warze breitmachte. Fast sah es aus, als hielte sie Wache vor den beiden Eingängen, aus denen ein Gestrüpp dunkler Haare hervorwucherte.

War dieser Mann auf den ersten Blick unsympathisch, so versöhnten doch die dunkle, warme Stimme und die hellen, forschenden Augen, die von einem dichten Kranz kleiner und kleinster Fältchen umgeben waren.

Mason schien seine Musterung abgeschlossen zu haben. Man sah ihm nicht an, zu welchem Urteil er gekommen war. Seine Stimme war ausdruckslos, als er seinen Besucher aufforderte, Platz zu nehmen. Dann sagte er im gleichen Tonfall: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihre Legitimation und Ihre Detektivzulassung zu zeigen?«

Sam Newton war überrascht, doch er zeigte es nicht. Ungerührt griff er in die Tasche seines Jacketts und zog eine Zelluloidhülle heraus. Er legte sie vor Mason auf den Schreibtisch, dann griff er in die Gesäßtasche und holte eine kleine Ledertasche hervor. »Meine Lizenz. Bitte bedienen Sie sich!«

Aufmerksam studierte Jack Mason die beiden Dokumente und reichte sie dann mit einem freundlichen Nicken zurück.

»Danke. Nachdem die Formalitäten erledigt sind, könnten wir ja zur Sache kommen. Whisky oder Zigarre?«

Newton lehnte ab. Dabei blitzte der Schalk aus seinen hellgrauen Augen. »Ich rauche nicht, und ich trinke nicht. Ich gehöre der ›Milchbewegung‹ an.«

»Was ist das?«

»Ein Verein, der für gesundes Leben eintritt!«

Jack Mason, unsicher, ob ihn der andere zum Narren halten wollte, runzelte die Stirn, und ein wenig schroffer als beabsichtigt erwiderte er: »Nun, Milch kann ich Ihnen leider nicht bieten. Höchstens Wasser.«

»Nicht nötig!« Der andere lächelte. »Kommen wir lieber zur Sache. Sie wollen also meine Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Ja!« sagte Mason, und noch einmal, bekräftigend: »Ja!«

»Und was wäre das?«

»Ich möchte, daß Sie Erkundigungen über einen Mann einziehen. Mich interessiert alles! Beruf, Hobbys, Familienstand, Vorstrafen und so weiter, und so weiter. Eben alles, was so dazugehört.«

Sam Newton nickte. »Verstehe. Und was wollen Sie für diesen Lebenslauf ausgeben, Mister Mason?«

»Hundert Pfund. Keinen Penny mehr und keinen Penny weniger.«

Aus Newtons Augen sprach blanke Ironie, als er zurückgab: »Das sagen Sie!«

»Wenn Ihnen das zu wenig ist, können wir unsere Unterhaltung als beendet betrachten.« Masons Stimme war eisig. »Diesem schäbigen kleinen Schnüffler werd’ ich’s geben«, dachte er voller Verachtung, doch der »schäbige kleine Schnüffler« war nicht aus der Ruhe zu bringen. Unbeeindruckt erklärte er: »Ich will versuchen Ihnen klarzumachen, wo die Unterschiede liegen, Mister Mason. Wohnt Ihr Mann in Paris oder in Lissabon, wären hundert Pfund ein schlechter Scherz. Lebt er in England, dann …«

»Er wohnt in London!« unterbrach ihn Jack Mason gereizt.

»Dann ist es ein angemessenes Honorar«, gab Newton zu. »Wie lange hätte ich Zeit?« Mason machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ich brauche diese Angaben so schnell als möglich.«

»Bitte Name und Adresse … oder haben Sie keine Adresse?«

Mason zog eine Schublade auf und entnahm ihr ein Stück Papier. »Hier!«

»Perry Clifton … Perry Clifton …«, las Newton nachdenklich, runzelte die Stirn und sah an seinem Auftraggeber vorbei. Der schien sichtlich irritiert. »Ist was, Mister Newton? Kennen Sie den Mann zufällig?«

Langsam wandte ihm der Detektiv wieder sein Gesicht zu. »Nein, aber ich glaube, daß ich den Namen schon mal gehört habe.«

»In welchem Zusammenhang?«

»Wenn ich das wüßte, brauchte ich ja nicht nachzudenken!« Er sah wieder auf den Zettel in seiner Hand. »In Norwood wohnt er …« Er faltete den Zettel zusammen, schob ihn in die Tasche und erhob sich. Dabei sagte er: »Es ist üblich in unserem Gewerbe, einen Vorschuß zu kassieren.«

Wortlos zog Mason die Schublade ein zweites Mal auf. »Hier, fünfzig Pfund, fünfzig Prozent Ihres Honorars. Ich hoffe, ich kann mit Ihrer Verschwiegenheit rechnen.« Während Newton die Geldscheine zu dem Zettel steckte, nickte er seinem augenblicklichen Geldgeber mit einer Mischung von Mitleid und Nachsicht zu. »Eine völlig überflüssige Bemerkung, Sir.« Das »Sir« sprach er mit drei S am Anfang. »Es gehört auch zu unserem Gewerbe, verschwiegen zu sein.« Mason lenkte ein und sagte freundlich: »Entschuldigung, natürlich war das eine dumme Bemerkung von mir.« Theatralisch seufzte er: »Dieser Clifton geht mir eben auf die Nerven. Er will unbedingt meine Schwester heiraten.«

»Er will Ihre Schwester heiraten?«

»Ja …«

»Aha …«

Mason sah auf: »Warum sagen Sie das in einem solchen Tonfall? Ist es Ihnen noch nicht vorgekommen, daß Sie jemanden nicht ausstehen können?«

»Doch, doch«, versicherte Newton. »Das kommt bei mir sogar ziemlich oft vor.« Er nahm seinen Hut vom Haken. »Ich werde mich also an die Arbeit machen.«

Mason erhob sich ebenfalls. »Wann kann ich mit den ersten Ergebnissen Ihrer Nachforschungen rechnen?«

»Vielleicht kann ich Ihnen morgen mittag schon etwas sagen!«

___________

Pünktlich nach Fahrplan um 21 Uhr 32 kehrte Perry Clifton mit dem Linienbus nach Hackston zurück. Durch die aufgeklappten Fenster von BRADLEYS GASTHOF drangen nicht nur Rauchschwaden nach draußen, sondern auch die Geräusche der Schankstube. Bis hin zur Haltestelle waren sie zu hören und erinnerten Perry daran, daß ihm der Wirt sicher eine Menge Fragen stellen würde. Und er hatte sich nicht geirrt, wenn auch die Fragen nicht von Jim Bradley, sondern von Missis Bradley gestellt wurden. Als er die Gaststube betrat, sah sie ihn allerdings zuerst ziemlich entgeistert an. Dann aber zog sie die Stirn kraus und bekam große, vorwurfsvolle Augen.

»Guten Abend, Missis Bradley.«

»Wo haben Sie denn den ganzen Tag gesteckt, Mister Arling? Mein Mann wollte schon die Polizei benachrichtigen.«

Perry Clifton gab sich zerknirscht. »Es tut mir aufrichtig leid, Missis Bradley, wenn Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben. Ich hatte ganz vergessen, daß ich heute mittag eine Verabredung in Leicester hatte. Zum Glück habe ich den Bus noch in letzter Sekunde erwischt.«

»Den 11-Uhr-Bus?«

»Ja. Ich hatte nicht mal Zeit, Ihnen eine Nachricht zu hinterlassen.« Er lächelte. »Ich verspreche, daß es nicht wieder vorkommt.« Die Wirtin blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Schon halb versöhnt gab sie zurück: »Das nächste Mal würden wir uns auch keine Sorgen mehr machen.« Und plötzlich fiel es ihr ein: »Der Lehrer hat schon einige Male nach Ihnen gefragt.«

»So?«

»Er wollte Sie«, sie spülte geschäftig Gläser, während sie sprach, »glaube ich, zu irgend etwas einladen. — Haben Sie Hunger, Mister Arling?«

»Hunger weniger als Appetit auf eine besondere Kleinigkeit.«

»Wie wär’s mit süßsaurer Bohnensuppe und Hammelfleisch?«

»Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen! Ich schaff nur schnell meine Tasche nach oben!«

Er verließ die Gaststube, durchquerte den Gang und stieg im dämmrigen Licht der sparsamen Beleuchtung die Stufen zum oberen Stockwerk hinauf. Seine Gedanken aber waren im Brockton-Haus, bis … ja, bis er den hellen Lichtstreifen unter der Tür seines Zimmers sah. Als er es verlassen hatte, war heller Tag gewesen … Jetzt sah er auch, daß die Tür nur angelehnt war. Geräuschlos trat er näher. Die Alarmsirene in seinem Inneren heulte laut auf … er beugte sich nach vorn und lauschte mit angehaltenem Atem. Aus der Gaststube drang das dröhnende Lachen eines Mannes herauf. Da war Geschirrklappern und das ferne Rauschen einer Wasserspülung. Clifton schob sich so nahe an die Tür heran, daß er mit dem Ohr fast das Holz berührte … er schloß die Augen, um sich ganz auf das Innere des Raumes konzentrieren zu können,

keine Schritte…

kein Dielenknarren…

nichts …

nicht das leiseste Geräusch.

Das Zimmer mußte leer sein. Doch da, da war ein Geräusch,

hinter ihm!

Er bemerkte es genau eine Sekunde zu spät. Der Schlag traf ihn mit solcher Wucht, daß er glaubte, auf seinem Schädel sei eine Bombe detoniert.

___________

Das erste, was Perry Clifton bei seinem Erwachen wahrnahm, waren die Dunkelheit und ein gewisser Geruch. Der Geruch seines Zimmers, der Geruch von frischer Wäsche. Schlagartig wurde ihm bewußt, was geschehen war. Als er sich vom Boden aufraffte, spürte er den stechenden Schmerz in seinem Kopf. Vorsichtig tastete er nach dem Lichtschalter und schloß für einen Augenblick geblendet die Augen. Mit einem raschen Blick auf seine Uhr stellte er dann fest: 22 Uhr. Mit anderen Worten: Er hatte gut zwanzig Minuten besinnungslos auf dem Fußboden gelegen. Nicht einmal eine Minute brauchte er, um festzustellen, daß ihm nichts gestohlen worden war. Er goß das Porzellanbecken voll Wasser und steckte den Kopf hinein. Als er sich abtrocknete, fühlte er die walnußgroße Beule auf seinem Hinterkopf. Etwas wie Wut kam in ihm auf, doch bei näherer Betrachtung gewann er der Situation sogar etwas sehr Positives ab: Wußte er jetzt doch mit — wenn auch schmerzhafter — Gewißheit, daß er auf einer äußerst heißen Spur war.

Mit dieser Gewißheit betrat er zum zweiten Mal an diesem Abend die Gaststube. Missis Bradley schien ernsthaft gekränkt. Schnippisch erkundigte sie sich: »Hatten Sie wieder eine Verabredung? Sie wollten doch gleich wiederkommen?«

»Wollen schon, Missis Bradley. Aber inzwischen hatte jemand meinen Kopf mit einem Baseball verwechselt.«

Die Wirtin starrte ihn verständnislos an.

»Es könnte natürlich auch sein, daß ich in der Dunkelheit gegen meine eigene Tür gelaufen bin.«

»Aber, aber, das ist doch …«, stotterte Missis Bradley.

»Eines ist jedenfalls sicher: Ich habe eine Beule. Was machen meine süßsauren Bohnen?«

Missis Bradley schluckte. »Die muß ich jetzt noch mal wärmen lassen. Das geht ganz schnell.« Nach einem letzten zweifelnden Blid‘ wandte sie sich um und steckte den Kopf in die Durchreiche zur Küche.

»Hallo, Mister Arling!«

Perry Clifton wandte sich um und begrüßte den Lehrer. »Hallo, Mister Holman, ich habe gehört, daß Sie schon mehrere Male nach mir gefragt haben.«

Holman nickte eifrig: »Ja, ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, morgen nachmittag ein Stündchen zu mir zu kommen. Ich habe heute einige feine Tieraufnahmen entwickelt.« Perry Clifton nickte Zustimmung und stubste dem Lehrer mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Ich habe Ihnen auch was aus Leicester mitgebracht. Ich hoffe, daß es Ihnen Freude macht.«

Holman strich sich über die Haare und strahlte Clifton an. »Wirklich, da bin ich gespannt.«

Der Detektiv deutete in die Ecke neben der Musikbox, wo sich gerade drei Männer erhoben. »Dort wird ein Tisch frei. Ich bin gleich wieder da.« Und zu Missis Bradley: »Diesmal bin ich aber bestimmt gleich wieder da!«

Als er drei Minuten später mit dem Buch unter dem Arm zurückkam, saß Rodney Holman, mit Eifer seine Brille putzend, bereits an dem Tisch neben der Musikbox, die Perry so schmerzhaft an Tom Jones erinnerte, während Diana Bradley einen vollen Teller heranbalancierte.

»Die duften ja herrlich!« stellte Perry fest, und Holman verriet ihm: »Das ist eine von Jims Spezialitäten. Er behauptet, daß diese Suppe zweiunddreißig Gewürze enthalte.«

»Guten Appetit«, wünschte die Wirtin und hatte es eilig, wieder hinter ihre Theke zu kommen.

»Guten Appetit!« wünschte auch der Lehrer, wobei er neugierig zu dem Buch schielte, das ihm Perry in diesem Augenblick reichte. »Während ich mich über Mister Bradleys Bohnenspezialität mache, schauen Sie sich diesen Bildband an.«

»Danke!« sagte Holman. »Ich seh’ mir sehr gern Bild …« An dieser Stelle steckte er, seine Augen wanderten mit dem Ausdruck grenzenloser Überraschung zwischen Clifton und dem Bildband hin und her. Endlich buchstabierte er: »›Arling und das Meer‹. Ja, Mister Arling, dann, dann sind Sie ja ein ganz Großer der Branche!« Der Lehrer war so beeindruckt, daß er unbewußt die Stimme senkte. So, als wolle er ein eben erfahrenes Geheimnis nicht preisgeben. Perry Clifton bemühte sich, unbefangen zu erscheinen, und löffelte ungerührt seine Suppe. Dabei stimmte die zur Schau gestellte Gleichgültigkeit nicht im geringsten mit seinem bohrenden und hackenden schlechten Gewissen überein.

»Halb so schlimm!« wehrte er zwischen zwei Löffeln Bohnen ab.

»Sonnenuntergang bei Dünkirchen«, las Holman die Unterschrift unter dem ersten Foto. »Das ist ein Foto. Diese Stimmung, diese Atmosphäre. Unglaublich, so was ist mir noch nie gelungen.«

So ging es Seite um Seite. Bei jedem Umblättern stieß er neue Begeisterungsrufe aus. Und Perry Clifton konnte es sogar verstehen, denn als er Arlings Fotos zum ersten Mal gesehen hatte, war er ebenso beeindruckt gewesen. Als er bei der letzten Bohne angelangt war, blätterte Holman noch im ersten Drittel des Bandes. In einer Anwandlung von Großzügigkeit (und um sein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen) sagte Perry Clifton: »Ich schenke Ihnen den Bildband und hoffe, daß Sie mir keinen Korb geben!«

Holman streckte ihm impulsiv und in ehrlicher Begeisterung die Hand hin: »Vielen Dank. Das ist wirklich eine große Freude, die Sie mir damit machen. Jetzt scheue ich mich direkt, Ihnen meine Bilder zu zeigen.«

»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, Mister Holman. Übrigens, das wird Sie interessieren. Ich habe heute morgen eine halbe Luftaufnahme von Hackston gemacht. Und zwar vom obersten Fenster des Brockton-Hauses aus.«

»Nein!« Holman schien ehrlich verblüfft. »Da wohne ich seit Jahren in Hackston, aber auf so eine Idee bin ich noch nicht gekommen. Dabei spiele ich jeden Donnerstag mit dem Hausmeister vom Brockton-Haus Schach.«

»Ach, mit Mister Bell!« Diesmal war Clifton an der Reihe, überrascht zu sein. Doch er ließ sich nichts anmerken.

»Ganz recht, mit Mister Bell.«

»Er hat mich heute zum obersten Fenster geführt. Probieren Sie es doch auch einmal aus.«

»Das werde ich!«

»Sagen Sie, Mister Holman, Sie erzählten mir doch gestern, daß es 1912 im Brockton-Haus eine Explosion gegeben habe, bei der ein Teil des Hauses zerstört werden sei.« Holman nickte: »Ja, der Südflügel. Die Armee hat ihn während des Krieges wieder aufgebaut, aber …« hier stockte er.

»Aber?« fragte der Detektiv neugierig. Der Lehrer suchte nach den richtigen Worten. »Wissen Sie, man ist hier ein bißchen abergläubisch. Obwohl ich schon in der Schule versuche, meinen Kindern die Angst vor angeblichen Gespenstern zu nehmen, grassiert die Geister- und Gespensterfurcht wie eine Epidemie in diesem Landstrich. Und das seit Ewigkeiten. Besonders die Alten sind unbelehrbar. Da redet man Wände an. So hat aus Hackston keiner mehr im Südflügel arbeiten wollen. Bis zum heutigen Tag. Angeblich spukt dort der Geist von Mister Brockton. Alle, die bisher das Haus benutzten, mußten sich entweder auf das Haupthaus beschränken oder ihre Arbeitskräfte von weither holen.«

»Wie die jetzigen Inhaber.«

»Ja. Die Männer arbeiten auch im Hauptgebäude. Nur der Gesdräftsführer, Mister Melvin, und der Hausmeister haben im Südflügel ihre Wohnungen.«

Das war es, was Perry Clifton wissen wollte. Zufrieden wechselte er das Thema: »Um welche Zeit wäre es Ihnen morgen denn recht?«

»Machen Sie einen Vorschlag. Sie sind schließlich der Gast.«

Perry wiegte den Kopf. »Wie wäre es mit 14 Uhr? Allzu spät darf es nicht werden, da ich morgen wieder nach Manchester zurück muß.«

»Schon?« Ehrliche Enttäuschung sprach aus Holmans Miene.

»Leider…«

»Gut, dann richte ich mich auf 14 Uhr ein!«

___________

In jener Nacht verschloß Perry Clifton sein Zimmer. Die Beule auf seinem Hinterkopf hatte sich inzwischen zu einem kleinen Hühnerei ausgewachsen und erinnerte ihn schmerzhaft an den Überfall. Obwohl ihm die Gewißheit, auf der richtigen Spur zu sein, Genugtuung verschaffte, zermarterte er sich den Kopf darüber, was ihn verraten oder doch zumindest verdächtig gemacht haben könnte.

Er fand keine Lösung.

Als er am nächsten Morgen, es war Mittwoch, der 3. April, gegen 9 Uhr die Gaststube betrat, kam ihm Jim Bradley entgegen. »Ich wollte Sie gerade holen, Mister Arling. Sie werden am Telefon verlangt!«

Perry sagte »Guten Morgen« und »vielen Dank« und: »Dann habe ich ja eine gute Nase gehabt.« Als er den aufgelegten Hörer sah, stutzte er. »Ich habe das Gespräch auf den Apparat im Billardzimmer legen lassen. Da können Sie ungestört sprechen. Dort drüben die Tür ist es.« Clifton sagte noch einmal »Danke« und steuerte auf die Tür zu. War Jim Bradley befangen — oder kam es ihm nur so vor? Er hatte die Tür fast erreicht, als sich der Wirt erkundigte:

»Kann ich schon das Frühstück vorbereiten?«

»Ja, bitte, Mister Bradley!«

Clifton schloß die Tür des Billardzimmers hinter sich, suchte nach dem Telefonapparat, fand ihn auf dem Fensterbrett und nahm den Hörer ab.

»Arling!« sagte er.

»Und hier spricht dein Freund Skiffer. Hat dich der Wirt aus den Kissen geholt?«

»Ich war schon unterwegs … Warst du inzwischen fleißig am Werk, Scotty?«

»So kann man es auch nennen. Während du die Federn warmhältst, habe ich mir Blutblasen an die Finger gewählt.«

»Hauptsache, es war nicht umsonst.«

»Ich nehme an, daß du im großen und ganzen enttäuscht sein wirst — bis auf eines. Beginnen wir bei Charly Webster. Er wurde vor knapp zwei Jahren wegen guter Führung entlassen. Seitdem ist er wie vom Erdboden verschwunden. Vielleicht ist er ausgewandert. Der FORD LPO 312 gehört einem Kunstmaler und Galeriebesitzer namens Jack Mason. Gegen ihn liegt nichts vor. Das gleiche gilt für die Firma GORDON & LASH.«

Ja, Perry Clifton war enttäuscht. Das einzig wirklich neue Moment war die Tatsache, daß Mason, dessen Namen er ja bereits von Tom Harder gehört hatte, Inhaber einer Galerie war.

»Und was ist mit dem PEUGEOT und den zertrümmerten Geigen?«

Schweigen. Nur das Rauschen der Atmosphäre zwischen London und Hackston war zu hören.

»He, Scotty, bist du noch da?«

»Das wollte ich gerade dich fragen!« gab der Inspektor zurück. »Es war anscheinend Luft in der Leitung.«

»Ich hatte gefragt, was mit dem PEUGEOT und den Geigen ist.« Und nun sagte Skiffer etwas Seltsames: »Tut mir leid, Perry. Zu diesem Thema kann ich dir per Telefon nichts sagen. Du solltest zu mir kommen. Ich glaube, es ist wichtig. Ganz besonders dann, wenn deine Angelegenheit mit dem Wagen zusammenhängt.«

»Du machst mich neugierig, Scott!«

»Das war meine Absicht. Komm her und laß dich aufklären, bevor du deine Finger in offenes Feuer hältst.«

»So schlimm??«

»So schlimm!!«

»Gedulde dich. Ich komme morgen zu dir. Vielleicht brauche ich wirklich deine Hilfe. Übrigens, gestern abend hat mich jemand niedergeschlagen und meine Taschen durchwühlt.«

»Wer?«

»Keine Ahnung. Aber ich bin sicher, daß es jemand war, der in meinen Fall paßt.« Inspektor Skiffers Stimme klang betont ernst, als er meinte: »Es hat den Anschein, mein Junge, daß es besser wäre, wenn du heute schon zu mir kämst.«

»Geht wirklich nicht, Scotty. Heute nachmittag habe ich eine Verabredung mit dem Lehrer, und heute abend …« Er verstummte abrupt, ein leises Knacken war in der Leitung gewesen. Dann rief er kurzentschlossen: »Wir sehen uns morgen!« legte den Hörer auf die Gabel und ging rasch auf die Tür zur Gaststube zu. Als er sie öffnete, hielt Jim Bradley gerade ein Glas gegen das Licht …

Auf dem Tisch am mittleren Fenster war sein Frühstück serviert. Perry Clifton setzte sich hin und begann sich ein Marmeladebrötchen zu streichen.

Bradley legte Tuch und Glas beiseite und trat zögernd näher. Er schien ratlos und besorgt in einem. »Darf ich stören?« Perry Clifton nickte und deutete auf einen Stuhl. Doch Bradley legte nur die Hände auf die Stuhllehne. Auffällig schmale und feingliedrige Hände. »Sie passen so gar nicht zu seiner untersetzten, kräftigen Gestalt«, dachte Perry und betrachtete den Wirt nachdenklich.

»Meine Frau hat mir da gestern abend was erzählt … ich meine … ob ich richtig verstanden habe, oder ob Sie …«;

Unter dem abwartenden Blick des Detektivs verhedderte er sich, wußte plötzlich nicht weiter. Perry biß in sein Brötchen. »Ich meine, ob Sie vielleicht einen Scherz gemacht haben, Mister Arling.«

»Womit soll ich einen Scherz gemacht haben?«

»Mit … mit dem Gegen-die-Tür-laufen. Schließlich geht die Tür nach innen auf, denke ich, Mister Arling.«

Perry Clifton legte das Brötchen auf den Teller, trank einen Schluck Tee, musterte lim Bradley einige Atemzüge lang forschend und gab dann zu: »Okay, Mister Bradley, es war nicht die Tür. Ein Unbekannter hat mich hinterrücks k.o. geschlagen, in mein Zimmer geschleift und meine Sachen durchwühlt. Fragen Sie mich aber nicht nach dem Täter. Ich habe nicht den leisesten Verdacht.«

Jim Bradley war plötzlich blaß bis unter die Augen. Er zog den Stuhl, dessen Lehne er gepackt hielt, vom Tisch weg und ließ sich drauffallen. Fassungslos suchte er nach Worten. »Das, das ist hier noch nie passiert«, er strich sich mit seinen langen, schmalen Fingern über die Stirn, als wolle er ein schlechtes Bild vertreiben. »Ich werde die Polizei anrufen. Die müssen den Diebstahl untersuchen!« Er hatte sich schon halb erhoben, als Perry Clifton gelassen feststellte: »Die Mühe können Sie sich sparen, Mister Bradley. Mir wurde nichts gestohlen.«

»Nichts gestohlen? Aber warum …?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat jemandem mein Gesicht nicht gefallen. Oder er störte sich an meiner Fotografiererei, oder, noch eine Möglichkeit, man hat mich verwechselt.« Clifton befaßte sich wieder mit seinem Frühstück.

Bradley starrte ihn verständnislos an. »Wieso verwechselt, Mister Arling. Ich habe doch gar keinen anderen Gast zur Zeit!«

»Also bleiben wohl nur die beiden ersten Möglichkeiten!«

Jim Bradley hing wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl und spielte mit seinen Fingern.

»Soll ich nicht doch die Polizei rufen?«

»Unnötig, Mister Bradley. Ich reise heute nachmittag sowieso nach Manchester zurück.«

»Ach…«

»Um zwei mach’ ich noch einen Besuch bei Mister Holman. Dann nehme ich den 17-Uhr-Bus nach Leicester und erreiche so gerade noch rechtzeitig den Schottland-Expreß um 18 Uhr 35. Kann ich meine Sachen bis zur Abfahrt im Zimmer lassen?«

»Natürlich!« Bradley nickte. »Es tut mir sehr leid, daß Sie dieser Vorfall …« Perry winkte ab: »Ich wäre in jedem Fall heute abgereist. Den Großteil der Fotos, die ich machen wollte, habe ich, den Rest nehme ich nachher auf.«

Bradley blieb stumm. Es war nicht auszumachen, ob er dem Detektiv glaubte oder nicht.

»Sagen Sie, Mister Bradley, wo steckt eigentlich Angy? Ich habe sie noch gar nicht gehört.«

»Angy? Die ist mit meiner Frau nach Summersfield einkaufen gefahren. Das ist der übernächste Ort.«

»Ich weiß, man kommt mit dem Omnibus durch. Wann werden sie zurücksein?« Bradley warf einen Blick auf die Uhr hinter der Theke. »In spätestens einer Stunde.« Er sah Clifton fragend an. »Hat sie was angerichtet?«

»Nein, nein. Ich habe ihr versprochen, ein paar Aufnahmen von ihr zu machen. Na ja, was man verspricht, muß man schließlich auch halten.«

Bradley erhob sich. »Und ich soll wirklich nicht die Polizei benachrichtigen?« Clifton schüttelte den Kopf. »Ich habe weder Muße noch Lust, meine Zeit mit sinnlosen Fragen und Antworten zu verplempern. Kommt sowieso nichts dabei heraus!«

___________

Perry Clifton blieb bis 12 Uhr 30 in der »Landschaft« und fotografierte entsprechend seiner Rolle (trotz Niederschlag) das restliche Hackston.

Bei seiner Rückkehr erwartete ihn nicht nur das Mittagessen, sondern auch eine junge Dame.

»Hallo, Mister!«

»Hallo, Angy. Um ein Haar hätte ich dich nicht erkannt. So elegant und vomehm bist du.« Schokoladen-Angy zog eine Schnute. »Das Kleid hat mir Tante Caroline geschenkt.« Sie zupfte mißmutig an dem Rot-Schwarz-Gemusterten und flüsterte: »Tante Caroline ist eine Hexe!«

»Und warum?«

»Immer wenn sie kommt, muß ich singen und mit ihr spielen, und immer will sie gewinnen. Und wenn sie nicht gewinnt, sagt sie, ich hätte gemogelt.«

»Und mogelst du?«

Angy sah angelegentlich an Perry vorbei, bevor sie leise sagte: »Nur manchmal, wenn ich singen mußte.«

»Das ist trotzdem kein Grund, seine Tante als ›Hexe‹ zu bezeichnen.« Angy stampfte undamenhaft mit dem Fuß auf, daß die kunstvoll geflochtenen Zöpfe flogen. »Sie ist eine Hexe!«

»Na schön, wenn du meinst. Hoffentlich behauptet das mal niemand von dir, wenn du groß und selbst eine Tante bist. Und jetzt muß ich essen, sonst wird meine Suppe kalt.«

Sie baute sich vor ihm auf. »Und wann machst du Bilder von mir?«

»Sobald ich gegessen habe!«

Sie rückte. Erst jetzt bemerkte Perry, daß sie die linke Hand krampfhaft zu einer Faust geschlossen hielt. Als sie sich jetzt in Richtung Musikbox entfernte, ahnte er Schlimmes. »Angy!!« rief er. Sie drehte sich um: »Ja?«

»Bitte keine Musik, solange ich esse!«

Sie verzog das sommersprossige Gesicht zu einer beleidigten Grimasse, schöpfte jedoch im gleichen Augenblick neue Hoffnung. »Aber dann?!« sagte sie, und es klang mehr nach einem feststehenden Beschluß als nach einer Frage. Perry ergab sich resignierend in sein Schicksal und begann seine Tomatensuppe zu löffeln.

___________

Angy war ein prächtiges Modell. Willig und geduldig ließ sie sich hin und her schieben,

auf die Theke setzen,

auf einen Stein setzen,

auf eine umgestürzte Schubkarre stellen und

auf einen als Blumenwanne ausgehöhlten Baumstamm im Vorgarten. Perry Clifton belichtete einen ganzen Film.

Pünktlich wie verabredet stellte er sich dann bei Rodney Holman, dem Lehrer, ein.

Wenige Minuten später, es war genau 14 Uhr 10, lief im Ortsnetz zum zweiten Mal an diesem Tag ein Telefongespräch aus London auf. Mit wichtiger Stimme meldete die mollige Miß Jennifer ihrem Chef Melvin, daß Mister Mason in der Leitung sei. Der Mann mit den Goldkronen drückte seine Zigarette aus und dann auf den roten Knopf rechts oben neben der Wählscheibe.

»Ja?«

»Kann die Kleine mithören, Joe?«

»Nein. Sobald ich auf den roten Knopf drücke, ist die Leitung blockiert.«

»Gut. Ich habe vor einer halben Stunde den Lebenslauf unseres Freundes Clifton alias Arling bekommen.«

Melvins Stimme war plötzlich so heiser wie die seines Hausmeisters. »Und?« fragte er, doch Mason schien eine besonders gute Antenne für den Empfang von Zwischentönen zu besitzen. »Verdammt, Joe, was ist denn schon wieder los?« Und Melvin blieb nichts weiter übrig, als Farbe zu bekennen:

»Dieser Idiot von Charly hat wieder mal hochkarätigen Blödsinn verzapft.«

»Was?« Es klang wie ein Schuß, und Melvin zog unwillkürlich den Kopf ein.

»Er hat gestern abend diesem Clifton aufgelauert, ihm ein Horn geschlagen und seine Sachen durchwühlt.«

Masons Stimme am anderen Ende klang ruhig. Gefährlich ruhig, wie Melvin fröstelnd feststellte. »Ich werde nicht umhin können, den Chef über diese Eigenmächtigkeit zu informieren. Es steht zu viel auf dem Spiel, als daß wir es uns leisten können, die Arbeit von Jahren durch diesen Kretin zu gefährden. Hat er ihm wenigstens die Brieftasche abgenommen?«

»Nein, da kannst du unbesorgt sein!« versicherte Melvin eifrig und mit Nachdruck und wußte im gleichen Augenblick, daß er eine Riesendummheit zugegeben hatte. Und Mason höhnte auch sofort voller Ingrimm: »Unbesorgt sein, unbesorgt sein. Konnte er sich nicht denken, daß das erst recht verdächtig ist, wenn nichts gestohlen wird. Schon bei einem gestohlenen Pfund hätte man einen Tramp erfinden können. Aber so … Es ist ein wahres Wunder, daß wir bei dieser Qualität von Mitarbeitern noch nicht aufgeflogen sind. Was hat er denn herausgefunden, dieser Trottel?«

»Nur das, was wir ohnehin schon wußten: daß sein Paß nicht auf Arling, sondern Clifton lautet.« Melvin schob sich mit zitternden Fingern eine neue Zigarette zwischen die Lippen und verfluchte einmal mehr seinen Entschluß, sich in diese Sache eingelassen zu haben.

»Hör zu, was der Schnüffler berichtet hat.« Melvin hörte Papier durchs Telefon rascheln, dann wieder Masons Stimme. Sachlich, nicht mehr ganz so eisig: »Ich lese dir ein paar Punkte aus den Aufzeichnungen vor. Er ist zweiunddreißig Jahre alt und wohnt seit dreizehn Jahren in Norwood und ist unverheiratet. (Pause, Papierrascheln) Hat einige Jahre in Deutschland gelebt, in Berlin, angelt gern und arbeitet seit elf Jahren bei JOHNSON & JOHNSON. Das ist das Riesenkaufhaus in der Sutherland-Street.«

»Ich kenn’ es!«

»Und weißt du, als was er dort arbeitet?«

»Als Fotograf wahrscheinlich, oder?«

»Mehr oder … Er ist Hausdetektiv!«

»Hausdetektiv?« Melvin spürte wieder den typischen Angstkloß hinter seinem Adamsapfel. »Was jetzt, Jack?«

»Ja, was jetzt. Zunächst stellt sich die Frage: Was hat ein Kaufhausdetektiv mit uns zu tun? Sollte er ja eine private Spur verfolgen, wie konnte die ihn nach Hackston führen? Verdammt, Joe, das ist eine ganz wichtige Frage.«

»Hat der bezahlte Schnüffler nicht mehr rausgebracht?«

»Nein. Er hat zwar vier Seiten vollgeschrieben, aber mich interessiert weder, daß er gelegentlich Pfeife raucht und kaum Alkohol trinkt, noch daß er anscheinend keine näheren Angehörigen besitzt. Das einzige, was von Bedeutung in diesem Bericht ist, nun, das ist eben sein Beruf.«

Für einen Augenblick schwiegen beide, dann erkundigte sich Melvin: »Hast du dem Chef schon was gesagt? Oder ist er schon wieder unterwegs?«

»Ich hab’ heute kurz mit ihm sprechen können, und er meint, daß es am besten sei, abzuwarten und nichts zu überstürzen. Sollte sich Clifton wirklich für unsere Musikinstrumente näher interessieren, dann sei damit zu rechnen, daß er einen nächtlichen Besuch einplane.«

»Einen … nächtlichen Besuch?«

»Ja, vielleicht schon heute nacht oder morgen nacht. So genau könne man das bei neugierigen Leuten nie vorherbestimmen, meint der Chef.«

»Und was dann?« Melvins Kloß im Hals hatte inzwischen die Größe eines Kürbisses angenommen.

»Er meint, du solltest alles zum Empfang vorbereiten. Jeder brave Untertan Ihrer Majestät der Königin habe das Recht, sein Eigentum zu schützen, meint der Chef.«

»Okay, Jack«, würgte Melvin hervor. »Es bleibt uns ja immer noch die Hoffnung.«

»Wirst du philosophisch? Oder was meinst du mit Hoffnung?«

»Daß alles ein Irrtum ist. Daß dieser Clifton plausible Gründe hatte, uns bei seiner Fotografiererei nicht seinen wirklichen Namen zu nennen. Vielleicht besteht gar keine Gefahr, und wir haben uns selbst ins Bockshorn gejagt.«

Pause, dann: »Ja, Joe Melvin, diese Hoffnung bleibt uns!«

Das Knacken in der Leitung verriet, daß Mason wieder einmal aufgelegt hatte, ohne jeden Gruß. Melvin ließ den Hörer fallen, als sei er plötzlich heiß. Dann besann er sich eines anderen, nahm ihn erneut auf, und als sich Miß Jennifer meldete, bellte er in die Muschel: »Treiben Sie Mister Bell auf. Er soll sofort zu mir kommen!«

»Ja, Sir!« erwiderte das eingeschüchterte Mädchen, ohne zu ahnen, wie weit Melvin von einem Sir entfernt war.

Ein nächtlicher Spuk

Rodney Holman hatte Perry Clifton zuerst in sein Fotolabor geführt, das in seiner Größe und Ausrüstung manchen Berufsfotografen hätte vor Neid erblassen lassen können. Da fehlte rein gar nichts. Allein die Menge an Fotopapieren in allen Größen und Oberflächen füllte einen großen Schrank.

Anschließend mußte sich Perry eine Stunde lang Fotos ansehen. Darunter Fotos von Tieren in Bewegung, die so gestochen scharf waren, als hätten sie in der Luft Modell gestanden. Der Detektiv war ehrlich begeistert.

»Tiere liegen mir«, meinte Holman, dem Cliftons Lob schmeichelte. »Ich habe eine Serie Insektenfotos an einen Verlag in Schweden geschickt. ›Overgard‹ heißt der Verlag, er bringt hauptsächlich Tierbücher heraus. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Bei Portraits habe ich keine so gute Hand. Ich weiß auch nicht, woran das liegt. Und Sie, Mister Arling?«

Perry Clifton winkte ab. »Ich bin mehr für die Natur. Für Portraits muß man wohl eine besondere Begabung haben. Man sagt ja, je häßlicher ein Modell, um so leichter die Aufnahme …«

Holman lachte. »Wer will sich schon immer mit häßlichen Menschen umgeben.« Clifton darauf in einem besonders unverfänglichen Ton: »Dieser Hausmeister aus dem Brockton-Haus …«

»Sie meinen Mister Bell!« warf Holman ein, und Perry nickte. »Der müßte auch ein gutes Bild abgeben, wenn es gelänge, seine Mürrischkeit mit aufs Bild zu bringen.« Wieder lachte Holman. »Der läßt sich nicht fotografieren. Er sei nicht fotogen, sagte er immer. Dabei ist sein Chef, dieser Mister Melvin, noch um eine Spur unansehnlicher.«

»Da haben Sie recht.«

So unterhielten sie sich noch eine ganze Weile, tranken Tee und betrachteten Fotos. Perry Clifton war dabei emsig bemüht, die Unterhaltung nicht auf die Ebene zu großer Fachsimpelei kommen zu lassen, denn dann wäre bald ruchbar geworden, daß sein Wissen um die Lichtbildnerei sehr begrenzt war. Einmal, es war gegen 16 Uhr, glaubte er ein Geräusch aus dem angrenzenden Labor zu hören. Das fiel ihm deshalb auf, weil ihm Holman erklärt hatte, zur Zeit allein im Haus zu sein. Seine Schwester, die ihm sonst den Haushalt führe, sei für drei Monate nach Italien gereist. Aber es konnte natürlich auch eine akustische Täuschung gewesen sein.

Um 16 Uhr 20 verließ Perry das rote Ziegelhaus Holmanns.

Im Gasthof traf er nur Missis Bradley an. Er bezahlte seine Rechnung und hat sie, ihrem Mann auszurichten, daß er lange nicht mehr so gut gegessen habe. Diana Bradley bedankte sich ein wenig gezwungen. Man merkte ihr deutlich an, daß sie das Rätsel des Vorabends noch nicht gelöst hatte.

Um 17 Uhr bestieg Perry Clifton den Omnibus nach Leicester, der auch genau nach Fahrplan um 17 Uhr 58 dort eintraf. Sorgfältig begann er dann mit den Vorbereitungen für sein ungesetzliches Unternehmen.

Punkt 21 Uhr startete er, diesmal mit seinem eigenen Wagen, in Richtung Hackston.

___________

Charly Webster saß neben dem Fenster und sah in den schwacherleuchteten Hof hinab. Die Lampe auf der Mauer neben der Toreinfahrt erhellte auch noch einen Teil der Straße.

Im Hintergrund des dunklen Zimmers hockte Joe Melvin in einem alten Ledersessel und rauchte. Bei jedem Zug wurde sein Gesicht von einem rötlichen Schein überzogen.

»Wie spät ist es?« wollte er wissen.

»Gleich zehn!« erwiderte Charly feindselig und gereizt nach einem Blick auf seine Armbanduhr.

»Bist du sicher, daß überall das Licht aus ist?«

»Das fragst du jetzt schon zum dritten Mal. Hältst du mich für schwachsinnig?«

Melvin sagte nichts, doch sein Schnaufen verriet seine Gedanken. »Ob du mich für schwachsinnig hältst, habe ich gefragt, Melvin!?« wiederholte Webster aggressiv. Seine heisere Stimme überschlug sich fast.

»Wenn du es genau wissen willst: Seit gestern bin ich mir nicht mehr sicher. Außerdem wäre es besser, nicht so zu schreien.«

»Ach, was du nicht sagst!« giftete Charly Webster.

»Ja, sag’ ich.«

»London hat über acht Millionen Einwohner. Wie soll ich da ahnen, daß dieser Clifton ausgerechnet Jack Mason über den Weg läuft.«

»Trotzdem war es idiotisch, den Mann niederzuschlagen.«

»Es gab keine andere Möglichkeit. Der Lehrer war zu dämlich. Der hat nur seine Fotografiererei im Kopf.«

»Jack Mason meinte …«

Charly unterbrach bissig: »Es interessiert mich einen Dreck, was Mason meint.«

»Immerhin bezahlt er dich!«

»Er wird selbst bezahlt!«

»Er will dich beim Chef verpfeifen.«

»Wenn er klug ist, läßt er’s bleiben.« In Websters Stimme klang eine unverhohlene Drohung mit. Doch plötzlich hustete und fluchte er: »Verdammter Qualm. Mußt du so viel paffen?«

Melvin blies gegen die Glut. Dann fragte er wieder: »Wie spät ist es?«

Charly antwortete nicht. Er war mit seinen Gedanken wieder bei den Vorwürfen, die ihm Melvin seit Stunden machte: »Ich will dir was sagen, Joe. Wäre das in London nicht passiert, würde mir Mason jetzt die Hände küssen. Woher und wie hätte er sonst erfahren sollen, daß Arling nicht Arling, sondern Clifton heißt und in London wohnt! So sieht es aus. Und wegen eines Zufalls spielt er sich jetzt auf, als sei er der Größte!«

»Zwei Jahre haben wir Ruhe gehabt.«

»Na und? Was kann ich dafür, daß irgendwo ein Loch im Zaun ist?«

Melvin begann auch darüber nachzudenken.

___________

Als Perry Clifton die Höhe von Tapstown erreichte, begann es zu regnen. Sofort ging er mit der Geschwindigkeit herunter. Die kurvenreiche Strecke erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Bei Routson ließ der Regen nach, und als er Summersfield passierte, war die Straße bereits wieder trocken.

Die Autouhr zeigte 22 Uhr 02.

Das Ortsschild von Hackston tauchte im Scheinwerferlicht auf. Er schaltete auf Abblendlicht und durchfuhr den Ort. In der großen ansteigenden Kurve schaltete er das Licht ganz weg und bog in einen Feldweg ein, der zu einer Scheune führte.

Jeden Stein hatte er sich hier eingeprägt.

Er hielt,

stellte den Motor ab,

drehte das Fenster herunter und

lauschte in die Dunkelheit.

22 Uhr 10.

Kaum Geräusche,

eine leise Nacht hatte begonnen.

Perry Clifton kurbelte das Fenster wieder hoch,

stieg aus,

verschloß die Tür des Wagens und lauschte erneut zum Ort hin.

Nichts.

Er entnahm dem Kofferraum eine Segeltuchtasche und ein Paar dunkle, geschmeidige Turnschuhe — trotzdem, die Steine des Feldwegs knirschten unter den Sohlen.

Im Ort bellte ein Hund,

irgendwo,

weit weg am Horizont,

fraß sich gespenstisch ein Scheinwerfer in die mondlose Nacht.

___________

»Wie spät ist es, Charly?«

»Viertel elf.«

Melvin drückte seine Zigarette aus. Minutenlang war nur das Ticken des altmodischen Regulators neben der Tür zu hören.

Er wollte gerade nach einer neuen Zigarette greifen, als Charly plötzlich aufsprang und einen Meter vom Fenster zurücktrat. »Da kommt jemand!« zischte er.

Melvin war ebenfalls aufgesprungen und trat jetzt neben Webster. »Wo?« flüsterte er mit vor Erregung heiserer Stimme.

»Dort drüben neben dem Schuppen hat sich was bewegt.«

»Ob es Clifton ist, konntest du wohl nicht erkennen?«

»Nein. Aber wer sollte sonst um diese Zeit hier herumschleichen.«

Sie starrten beide angestrengt zu jenem fünfzig Meter entfernten Schuppen hinüber, der von ihrem Standort aus nur schemenhaft zu erkennen war. In ihm wurden außer Schaufeln und Hacken drei riesige Kisten Sand aufbewahrt. Streusand für den Winter. Deshalb nannten ihn die Leute von Hackston auch »Sandschuppen«.

»Da!!«

»Ja!« Melvin nickte und spürte, wie sich sämtliche Härchen seines Körpers aufrecht stellten. Atemlos belauerten ihre Augen den Schatten, der, tief gebückt, die Straße überquerte und ihren Blicken entschwand.

»Hoffentlich klappt alles«, stöhnte Joe Melvin und brannte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Es war die achtzigste oder einundachtzigste an diesem Tag.

Dann saßen sie stumm nebeneinander. Und wieder war es nur der Regulator, der rhythmisch die Stille zerhackte.

Die aus Sandsteinquadern bestehende Mauer wies an der Nordseite eine Höhe von etwa drei Metern auf. Die Mauerkrone selbst hatten die Erbauer mit Glasscherben gespickt.

Perry Clifton enmahm der Segeltuchtasche eine Strickleiter, an deren einem Ende ein ankerförmiger Widerhaken befestigt war. Schon beim ersten Wurf klappte es. Innerhalb von zehn Sekunden erklomm er die Mauer, zog die Leiter nach, ließ sie in die Hofseite hinunter und stieg hinab.

Kein Laut war zu hören, als er den Hof überquerte.

Das Brockton-Haus hatte vier Türen. Zwei, die in den neueren Anbau führten — sie interessierten den Detektiv nicht —, eine schwere, torartige Stahltür, die nur von innen geöffnet werden konnte, und eine Eichentür mit einem schmiedeeisen-vergitterten kleinen Fenster. Als Perry sie erreichte, wehte der Nachtwind den Glockenschlag von der Kirche in Hackston herüber. 22 Uhr 30.

Fast fünf Minuten brauchte er, bis es ihm gelungen war, die Tür zu öffnen. Sie war gut geölt. Ohne Geräusch schwang sie zurück, und ebenfalls geräuschlos klinkte Perry sie hinter sich zu. Erst dann bediente er sich der mitgebrachten Stablampe, in deren Lichtschein sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick bot: Stühle, Tische, Kisten, eine Unmenge von Blecheimern und Farbtöpfen, dazu Balken und Bretter waren zu einer über vier Meter hohen Riesenpyramide zusammengestellt worden und verbauten ihm den Weg ins Innere des Raumes. Perry Cliftons Verblüffung war so groß, daß er darüber vergaß, den Boden abzuleuchten. Sicher wären ihm dann die feinen Drähte aufgefallen, die nur wenige Zentimeter über dem Fußboden kreuz und quer verspannt waren. Als er einen Schritt zur Seite machte, um an dem Hindernis vorbeileuchten zu können, geschah es. Zuerst war es nur ein Knistern und Schaben, doch dann setzte sich der Gerümpelberg donnernd in Bewegung.

Beim Zurückspringen blieb er mit dem rechten Fuß in einem der Drähte hängen und stürzte der Länge nach hin. Ein ganzes Arsenal von Kisten aller Größen prasselte auf ihn herab. Gleichzeitig begannen drei Alarmsirenen in seiner unmittelbaren Nähe zu heulen.

»Nur nicht die Nerven verlieren«, durchfuhr es den Detektiv, während er zerschrammt unter dem Kistenstapel hervorkroch. Ohne auf Geräuschvermeidung zu achten, riß er die Tür auf, überquerte den Hof, erklomm die Strickleiter, montierte sie ab und warf sie auf der anderen Seite hinunter. Er selbst sprang hinterher. Die Sirenen heulten noch immer, mehrere Fenster des Südflügels waren plötzlich erhellt, und deutlich konnte er die aufgeregten Stimmen von Joe Melvin und Charly Webster hören.

Er schlug einen großen Bogen und erreichte um 22 Uhr 55 seinen Wagen. Fünf Minuten später fuhr er bereits in Richtung London. Nachdenklich, unzufrieden und — mißtrauisch.

Gejagt und gehetzt

Soho, Ecke Hatfield–Capstreet.

Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht. Seit fast zwei Stunden stand der Mann im Schatten eines defekten, unbeleuchteten Telefonhäuschens und starrte mit müden Augen hinüber zu einem kleinen, schäbigen Haus, das von anderen — wenn auch größeren, doch nicht weniger schäbigen — Häusern umgeben war.

Alle Fenster des kleinen Hauses waren dunkel. Daß die schmutzige, pittoreske Fassade trotzdem beleuchtet wurde, lag an der Straßenlateme, an einer Leuchtreklame für Whisky und an dem Licht, das durch zwei große Scheiben eines Fischrestaurants fiel.

Gesang drang auf die Straße. Laut und falsch sang eine Männerstimme ein irisches Volkslied. Aus einem anderen offenen Fenster erklang jetzt Radiomusik, nachdem es eben noch die Mitternachtsnachrichten der BBC waren.

Immer wenn Passanten kamen, drückte sich der Mann in die Nische zwischen Telefonzelle und Hauswand. Es roch nach Moder, feuchtem Mörtel und Unrat, und es ekelte ihn.

Manchmal war es auch der Geruch von gebackenem Fisch, der aus dem Restaurant gleich einem unsichtbaren Lockvogel herüberzog.

Endlich, es war fast 1 Uhr, kam Bewegung in die wartende Gestalt. Im ersten Stock des kleinen Hauses war hinter einem Fenster Licht aufgeflammt. Die Konturen eines vom Licht gespenstisch vergrößerten Schattens näherten sich, ständig schärfer werdend, dem Fenster. Ein Rollo wurde heruntergelassen.

Mit hastigen Schritten, sich dabei nach allen Seiten umsehend, überquerte der Mann die schmale Gasse. Vergebens suchte er nach dem Klingelknopf.

Er klopfte! Zuerst leise, dann lauter, drängender. Zweimal, dreimal … Das Rollo schnappte rasselnd hoch, ein Fensterflügel wurde aufgestoßen.

»Was ist los?« fragte eine fette, mürrische Stimme.

»Ich bin’s, Paul … der Franzose!«

Zwei Minuten verstrichen, dann ertönten schlappende Schritte, ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und knarrend öffnete sich die Tür.

»Tatsächlich, François Mellier«, sagte der mit der fetten Stimme, nachdem er seinen Besucher erkannt hatte. Der Franzose drückte den anderen zur Seite und schlüpfte rasch in den Hausflur, der nur von einem Notlicht erhellt wurde und in dem es muffig roch. Während sie die ächzenden Stufen hinaufstiegen, sagte der späte Besucher mit müder und gehetzter Stimme: »Ich warte schon über zwei Stunden auf dich, Paul. Du bist nicht durch diese Haustür gekommen … oder habe ich geschlafen?«

»Ich gehe immer durch die Hintertür. Man weiß nie, wozu es gut ist.«

Dann standen sie sich gegenüber in dem schmuddligen Wohnraum. Sie waren beide gleich groß, nur daß Paul Bromley fett und schwammig und der Franzose knochig und mager war. Letzterer ließ sich erschöpft in einen Korbsessel fallen. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten; der drei Tage alte Bart und die ungepflegten Haare gaben ihm das Aussehen eines Landstreichers. Paul Bromley schien es erst jetzt zu bemerken. »Wie siehst du denn aus? Wohnst du neuerdings in einer Mülltonne?«

»Seit Tagen sind sie hinter mir her … Nein, nein, du brauchst keine Angst zu haben, niemand hat mich hier gesehen!« fügte er rasch hinzu, als Bromley einen schnellen Schritt zum Fenster hin machte. »Sie jagen mich wie einen räudigen Hund … Ich wollte versuchen, auf ein Fährschiff zu kommen, aber überall haben sie ihre Leute aufgestellt.«

Der Dicke kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf etwas zur Seite. Es sah aus, als lausche er nach innen.

»Jack Mason und seine Bande … Dabei kann ich nichts dafür.«

Der Dicke war etwas blaß geworden.

»Du kennst doch Cockland, oder?« fragte Mellier.

»Meinst du die Ratte?«

»Ja. Ich war mit ihm auf Tour, Ware ausfahren. Plötzlich hat er einen Rappel bekommen. Hat den Wagen gegen einen Baum gefahren, mir eins auf den Schädel gegeben und ist mit der Ware weg … Verstehst du, Paul? Weg, einfach weg, und mich hat er liegenlassen.«

»Was war das für Ware?« —

François Mellier zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war ja nur der Beifahrer. Sozusagen der Mann für die Dreckarbeit.« Der Dicke schien ihm das zu glauben.

»Warum jagt Mason dich und nicht Cockland?«

»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie Cockland schon, und der hat alles auf mich geschoben. Ich traue ihm das zu. Und selbst wenn sie ihn nicht haben … Denkst du vielleicht, Mason glaubt mir, daß ich nichts mit der Sache zu tun habe.«

»Verdammt, Mellier, mir schmeckt die Sache nicht. Was glaubst du, was Masons Leute mit mir machen, wenn sie dahinterkommen, daß ich dich versteckt halte …« In Bromleys Stimme schwang ehrliche Furcht mit. »Warum kommst du ausgerechnet zu mir?«

Der Franzose musterte ihn voller Verachtung. »Ich hab’ dir mal geholfen. Hast du das vergessen? Und hast du nicht gesagt, ich könne jederzeit zu dir kommen, wenn ich Hilfe brauche? Also, jetzt brauche ich Hilfe. Ich muß mich irgendwo verstecken. Außerdem werde ich bezahlen …«

Paul Bromley horchte auf. »Er will bezahlen«, durchfuhr es ihn. »Dann hat er Geld.« Ja, und jemanden mit Geld hat er noch nie weggeschickt.

»Wie lange willst du bleiben?«

»Bis ich ein Schiff gefunden habe, das mich aus England rausbringt. Vielleicht nach Nordafrika. Du kennst doch eine Menge Leute im Hafen, Paul! Besorg mir ein Schiff!« Mellier konnte kaum noch die Augen offenhalten. Bromley zog sich einen Stuhl heran und setzte sich seinem Besucher gegenüber. Lauernd und gierig machte er mit seinen dicken Fingern die Gebärde des Geldzählens. »Wieviel willst du ausgeben?«

»Fünfhundert Pfund, wenn du mir einen sicheren Dampfer verschaffst!« Bromley nickte. »Okay. Und was ist, wenn es teurer ist?«

Paul Bromley, heimlicher Buchmacher, Hehler und Tipgeber, würde wohl noch eine Weile auf Melliers Antwort warten müssen. Ganz langsam war der Kopf des Franzosen zur Seite gesunken. Er schlief. Er schlief tief, fest und traumlos, während der dicke Gamer nachdenklich vor ihm saß und mit den Zähnen an seiner Unterlippe nagte. Plötzlich erhob er sich, stieß Mellier mehrere Male vorsichtig an und rief dessen Namen. Umsonst. Der Mann aus Lyon schlief den Schlaf des Erschöpften.

Skrupellos begann Bromley die Taschen des Schläfers zu durchsuchen. Und ein habgieriges Grinsen der Zufriedenheit überzog sein feistes Gesicht, als er in der linken Innentasche auf zwei Bündel neuer Banknoten stieß. Es handelte sich um tausend kanadische Dollar und zweitausend englische Pfund. Ein Vermögen für Bromley. Und langsam kam seine Denkmaschine auf Touren. Warum sollte er sich mit fünfhundert Pfund zufrieden geben, wenn er zweitausend und dazu noch tausend Dollar haben konnte. Er wog die Scheine in der Hand … Sie gehörten so gut wie ihm — oder? Eigentlich bedurfte es nur eines einzigen Anrufes …

Zweitausend Pfund und tausend Dollar … Der Dicke schluckte erregt, Schweiß perlte ihm plötzlich von der Stirn. … Vielleicht besaß der Franzose noch mehr? Konnte man’s wissen? In einem Versteck … das Doppelte, oder das Zehnfache …?

Er würde für die Schiffspassage fünftausend Pfund verlangen … und die tausend Dollar! Und alles, was er hatte, als Anzahlung! Bromley grinste zufrieden. Er stopfte die Geldscheine in Melliers Tasche zurück, verschloß die Tür und legte sich auf die alte Couch, die drei Meter von dem Korbsessel entfernt stand.

___________

Perry Clifton hatte gleich am Morgen des Donnerstag Kontakt mit Inspektor Skiffer aufgenommen und eine Verabredung für 11 Uhr ausgemacht.

Pünktlich auf die Minute traf er im Yard ein.

»Eines kann man von dir mit Fug und Recht behaupten: Du bist pünktlich, daß man die Uhr nach dir stellen kann!« empfing ihn Skiffer launig. Dann deutete er auf Cliftons Gesicht und fragte: »Stammt der blaue Fleck auf deiner Backe vom vorgestrigen K. O.?«

»Nein, von meiner nächtlichen Expedition! Ja, und sollte im ab und zu mal gähnen, dann liegt das nicht an deiner Gesellschaft, sondern an den vielen Kilometern und dem wenigen Schlaf der letzten Tage.«

Sie setzten sich, und Clifton begann sich seine Tabakspfeife zu stopfen, während sich Scott Skiffer eine jener dünnen, gebogenen Virginias anbrannte.

»Was war das für eine Expedition?« erkundigte er sich paffend.

»Ich glaube, es ist gescheiter, wenn wir der Reihe nach vorgehen. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du mir etwas Wichtiges zu jenem Geigenauto erzählen.«

»Zuerst du!« winkte Skiffer ab.

»Also gut. Vor einigen Wochen erzählte mir ein ehemaliger Schulfreund, du kennst ihn auch, es ist Tom Harder …«

»Der Antiquitätenhändler in Harrow?«

»Ja. Der erzählte mir von einem sonderbaren Erlebnis in Hackston. Er hatte sich im Nebel verfahren und wollte sich nach dem Weg erkundigen. Er fuhr also in den Vorhof eines großen Hauses. Zuerst verwechselte man ihn, und dann jagte man ihn vom Hof. Und zwar ein gewisser Joe Melvin.«

»Was war das für ein Haus?«

»Inzwischen weiß ich, daß es sich um das Brockton-Haus handelt. Tom Harder las damals am Tor ab, daß darin eine ›Herstellung und Vertrieb von Geigen‹ untergebracht war.«

»Vielleicht befürchtete man Werkspionage.«

Perry Clifton mußte unwillkürlich lächeln. »In dem Haus pinseln acht alte Männer Geigen bunt an. In jenem Hof parkte damals auch ein PEUGEOT 403 mit französischem Kennzeichen, ein dunkelgrüner Lieferwagen, Scotty!« Das freundschaftliche Interesse des Inspektors war längst gespannter Aufmerksamkeit gewichen, wenn er sie auch nicht offen zeigte.

»Deshalb also deine Frage nach dem PEUGEOT auf der Straße nach Southampton.«

»Bei dem es sich ebenfalls um ein dunkelgrünes Fahrzeug handelte und dessen Ladung aus bunten Geigen bestand!« ergänzte Clifton und fuhr fort: »Ich vermutete also einen Zusammenhang, fuhr nach Hackston, gab mich als spleeniger Fotograf aus und machte einen Besuch in dem geheimnisvollen Brockton-Haus. Ich lernte dort zwei Männer kennen. Einen gewissen Melvin, er ist der Geschäftsführer; und den Hausmeister. Er soll Charly Bell heißen. Doch sein wirklicher Name ist Charly Webster!«

Scott Skiffer war überrascht. Gleichzeitig argwöhnte er: »Dann hat er dich erkannt?«

»Unmöglich!« widersprach Clifton. »Ich habe vorher noch nie mit ihm gesprochen. Und während der Verhandlung vor vier Jahren war ich einer von über hundert Zuhörern im Gerichtssaal! Und trotzdem … trotzdem müssen sie Verdacht geschöpft haben.«

»Du glaubst also, daß es die Leute aus dem Brockton-Haus waren, die dich niedergeschlagen haben.«

»Wer sonst? Ein gewöhnlicher Gauner hätte mindestens das Geld aus meiner Brieftasche mitgenommen.«

»Und heute nacht?«

»Gestern nachmittag habe ich mich in Hackston offiziell verabschiedet und bin heimgereist …«

»Moment«, unterbrach Skiffer, »da fällt mir noch was ein. Wenn man deine Sachen untersucht hat, weiß man jetzt, daß du nicht Arling, sondern Clifton heißt.«

»Wer weiß es? Das ist die entscheidende Frage. Wer?«

»Erzähl weiter!«

»Ich fuhr also mit dem Omnibus nach Leicester, habe dort meinen eigenen Wagen bestiegen und bin später nach Hackston zurückgefahren. Gegen 22 Uhr 30 war ich am Brockton-Haus. Melvin und Webster schliefen schon, jedenfalls brannte nirgendwo mehr Licht. Die Tür war ein Kinderspiel, sogar für einen Amateur wie mich. Doch das, was dann folgte, hätte in jeden verrückten Film gepaßt. Keine drei Meter hinter der Tür waren Stühle, Eimer, Kanister, Tische und sonstwas zu einem Riesenberg aufgetürmt. Und zu spät bemerkte ich, daß über dem Fußboden Signaldrähte verspannt waren. Ich stolperte, der Berg kam ins Kutschen, mir knallte was gegen den Kopf, und Sirenen begannen zu heulen.«

»Sirenen?« fragte Inspektor Skiffer ungläubig. »Was für Sirenen?«

»Alarmsirenen. Eine lauter als die andere.«

»Und du?«

»Ich habe mich so schnell wie möglich verkrümelt.«

Der Inspektor wiegte nachdenklich den Kopf. »Eine komische Sache …«

»Eine komische Sache? Scotty, da stinkt was zum Himmel.«

»Sag mir, was!«

»Das weiß ich noch nicht … Aber du hast ja selbst gesagt, die Sache sei heiß und ich solle die Finger davonlassen.«

»Ich habe gesagt, die Sache mit dem Auto sei heiß!«

Der Inspektor spürte ein erregtes Kribbeln. Wie immer, wenn er glaubte, einer heißen Sache auf die Spur zu kommen. Und Perry Clifton schien zu merken, daß sein Freund Scott mehr mit der Sache befaßt war, als er zugeben wollte. »Wenn die Sache mit dem Auto heiß ist, Scotty, dann ist es auch meine Sache, denn es ist der gleiche Fall!«

»Das ist eine Vermutung von dir. Ein nichtbewiesener Verdacht!«

»Bunte Geigen in Hackston — bunte Geigen in dem PEUGEOT. Was tut ein Gauner vom Format eines Charly Webster in Hackston, einem kleinen Dorf weit von jeder größeren Stadt entfernt? Und er hat selbst zugegeben, daß es ihm zum Halse heraushinge. Er muß also einen besonderen Grund haben … Welchen? Wozu installiert man drei Sirenen in einem Haus, in dem harmlose Geigen angestrichen werden? Könntest du die Fragen vernünftig und logisch beantworten? Ich nicht!«

Inspektor Skiffer blätterte einige Augenblicke lang in einer Akte, dann begann er zu berichten: »Diese Geigenauto-Story hat wirklich einen geheimnisträchtigen Hintergrund, und ich kann dir verraten, daß hier im Yard einige fähige Köpfe versuchen, hinter dieses Geheimnis zu kommen.«

Perry Clifton sah seinen Freund überrascht an.

»Ja, Perry, wenn es wirklich Zusammenhänge gibt zwischen diesem Wagen auf der Chaussee nach Southampton und diesem Haus in Hackston, dann ist sicher, daß hier an einer großen Gaunerei gestrickt wird.«

»Nun sag schon, was du weißt!« drängte Clifton.

»Da gab es drüben in den Staaten, in San Françisco, einen angloamerikanischen Meisterfälscher namens Abraham Jefferson. Er stammt aus Greenwich und fälschte drüben amerikanische Dollarnoten mit solcher Kunst, daß es fast ein Jahr dauerte, bis man hinter die Fälschungen kam. Weitere sechs Monate vergingen, bis es dem FBI gelang, Abraham Jefferson festzunehmen. Doch das Glück der amerikanischen Bundespolizei währte nur knapp vierundzwanzig Stunden, dann war ihnen Jefferson durch einen raffinierten Trick wieder entwischt. Sicher halfen ihm beim Untertauchen seine Kunst, sich zu verwandeln, und sein schauspielerisches Talent. Er hat hier in England, später in Hollywood, jahrelang als Schauspieler sein Brot verdient. Alle Bemühungen, seiner wieder habhaft zu werden, sind bis zum heutigen Tag gescheitert. Ein Paßfälscher, den die amerikanische Polizei vor einigen Monaten festnahm, berichtete, daß sich Jefferson das Gesicht habe operieren lassen. Niemand weiß also — außer dem Operateur, den keiner kennt —, wie er heute aussieht.«

»Aber die Fingerabdrücke, Scotty!« warf Perry Clifton ein. Skiffer nickte. »Ja, seine Fingerabdrücke. Und jetzt kommt die Sensation, Perry: In dem dunkelgrünen PEUGEOT fand man Jeffersons Fingerabdrücke!« Perry Clifton sah Skiffer mit fassungslosem Staunen an. Nur langsam kam ihm zu Bewußtsein, was die Worte des Inspektors bedeuteten. Würde stimmen, was er vermutete, nämlich, daß beide Ereignisse ein Fall sind, dann hieße das, daß er zum ersten Mal in einen Fall verwickelt wäre, bei dem auch INTERPOL mitmischte. Doch dann kamen ihm wieder Bedenken. Und er begann daran zu zweifeln, daß trotz mancher Verdachtsmomente ein Zusammenhang bestehen könnte. Und ein wenig ratlos geworden, meinte er: »Vielleicht sollte man das Brockton-Haus polizeilich durchsuchen.«

»Hör zu, Perry. Ich bin durchaus deiner Meinung, daß dort was nicht stimmt. Doch allein für die Vermutung bekommen wir keinen Durchsuchungsbefehl. Schon gar nicht, wenn es zudem noch außerhalb Londons ist. Etwas anderes wäre es, wenn der aufgefundene PEUGEOT eine französische Nummer gehabt hätte.«

Lange Zeit blieb Perry Clifton stumm. »Wie weitermachen?« überlegte er. »Welcher nächste Schritt ist wohl der vernünftigste?« Da fiel ihm der Name Jack Mason ein. »Bist du sicher, daß gegen den Galeriebesitzer Mason nichts vorliegt, Scott?«

Inspektor Skiffer nickte zustimmend, dann erkundigte er sich: »Welche Rolle spielt der eigentlich in deiner Geschichte?«

»Während meines Besuches im Brockton-Haus stand sein Wagen unten im Hof. Ich frage dich: Was hat ein Kunstmaler und Galerist mit bunten Geigen zu tun?«

»Immerhin haben sie eines gemeinsam: Farbe.«

»Ja«, stimmte Clifton zu, »die Farbe. Das ist aber auch schon alles.« Er erhob sich.

»Was hast du vor?«

»Ich werde zunächst mal der Firma GORDON & LASH einen Besuch abstatten.« Skiffers Miene war ernst, als er warnte: »Du solltest mich über jeden deiner Schritte auf dem laufenden halten. Steckt wirklich Jefierson dahinter, ist der Fall gefährlich und für einen einzelnen Spürhund zu groß. Hast du was dagegen, wenn ich unsere Expertengruppe informiere?«

»Ihr habt für Jefferson eine Expertengruppe gebildet?« Clifton war ehrlich überrascht.

»Ja. Ich habe dir doch gesagt, was auf dem Spiel steht. Zur Zeit versuchen sie herauszufinden, wer den Wagen gefahren hat.«

»Aber ich denke, die Fingerabdrücke …« Skiffer winkte ab. »Jefferson hat den Wagen nicht gefahren. Seine Abdrücke fand man auf einem Blechkästchen, das sich im Handschuhkasten befand. Die übrigen Abdrücke konnten noch nicht identifiziert werden.«

»Vielleicht stimmen sie mit denen von Webster und Melvin überein.«

»Gegen einen Melvin, falls er wirklich so heißt, liegt nichts vor. Den Tip Webster gebe ich an die Erkennungsabteilung weiter. Was ist nun mit der Expertengruppe?«

»Ich habe nichts dagegen und kann ja wohl auch nichts dagegen haben!« erwiderte Perry Clifton achselzuckend.

Als er Scotland Yard verließ, war es kurz nach 12 Uhr mittags. Er schlug den Weg nach Norwood ein, wo er hoffte, Dicki Miller anzutreffen.

___________

Zur gleichen Zeit ging in einem schmuddligen Zimmer in der Hatfield-Street von Soho François Mellier nervös auf und ab.

Als er gegen 9 Uhr in dem Korbsessel erwacht war, fand er sich allein. Paul Bromley war verschwunden. Nur ein Zettel lag auf dem Tisch. »Bin zum Hafen, warte auf mich!« stand darauf.

Der Franzose hatte sich inzwischen gewaschen, rasiert und einen Kanten Brot gegessen. Mehr war nicht aufzutreiben. Je später es wurde, um so mehr nahm seine Nervosität zu.

Sollte er verschwinden? Sollte er warten?

Immer wieder trat er vorsichtig zum Fenster und sah durch die vor Schmutz starrenden Gardinen hinunter auf die Hatfield-Street.

Gegen halb eins hörte er ein Geräusch … es klang wie das Schließen einer Tür. Schritte waren auf der Treppe … es mußte Bromley sein.

Es war Bromley.

Schnaufend ließ er sich auf die Couch fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Franzose musterte ihn mißtrauisch.

»Wo hast du so lange gesteckt?«

»Kannst du nicht lesen?« murrte der Dicke beleidigt und deutete auf den Zettel. »Im Hafen war ich, Mellier. Der Hafen ist groß, und ich bin keine Gazelle!« Er grinste seinen Gast breit an. »Du kannst noch so scharf gucken, Franzose«, freute er sich insgeheim, »du kriegst doch nicht raus, daß ich drei Stunden lang in Nicks Bar gepokert habe.«

»So, du warst also im Hafen?«

»War ich!«

»Und? Was ist mit dem Schiff?«

»Ich habe ein Schiff gefunden! Es läuft heute abend nach Casablanca aus.« François Mellier war aufgesprungen und schlug Bromley begeistert auf die Schultern.

»Das werd’ ich dir nie vergessen, Paul!« Der Dicke zog ungerührt eine Tüte Erdnüsse aus der Tasche und begann zu schmatzen, Während Mellier aufgeregt im Zimmer auf und ab ging. »Casablanca«, überlegte er, »Casablanca ist gut.« Von Casablanca nach Rabat war es ein Katzensprung. Und in Rabat hatte er viele Freunde.

»Wann läuft das Schiff aus, Paul?«

»Zwanzig Uhr, aber es wird ohne dich auslaufen, fürchte ich!« seufzte der Dicke theatralisch. Zuerst war François mitten in der Bewegung erstarrt, doch zwei schnelle Schritte brachten ihn an die Seite Bromleys. Mit einem schmerzhaften Griff packte er diesen an seinem wabbeligen Doppelkinn. »Mon dieu, qu’est-ce que ce veut dire?« Seine Stimme war heiser vor Wut und Enttäuschung, und für einen Augenblick verfiel er in seine Muttersprache.

Der Dicke riß erschrocken seinen Kopf zur Seite und rieb sich die schmerzende Stelle. »Das ist nun der Dank dafür, daß ich mir für dich die Füße wundgelaufen habe!«

»Was soll das heißen, es wird ohne mich auslaufen?«

»Der Bursche verlangt eine Menge Geld. Mehr als du ausgeben kannst.« Aus den Augenwinkeln heraus belauerte Bromley Mellier. Doch der Franzose hatte sich wieder in der Gewalt. Kalt und beherrscht fragte er: »Wieviel?« Und als Bromley nicht antwortete, wiederholte er: »Wieviel, Paul?«

»Viertausendfünfhundert Pfund. Zusammen mit dem, was du mir versprochen hast, wären das fünftausend.«

François Mellier ließ sich in den Korbsessel fallen.

Sollte er lachen?

Sollte er heulen?

Oder sollte er den fetten Widerling verprügeln? Plötzlich kam ihm ein Verdacht. Er blickte Bromley starr an. »Hör zu, Paul, du hast eben gesagt, daß der Bursche mehr Geld verlange, als ich bezahlen könne.«

»So ist es!« Der Dicke nickte und fühlte sich zunehmend mehr der Situation gewachsen. War ihm doch inzwischen eine noch viel teuflischere Idee gekommen.

»Woher willst du wissen, wieviel ich bezahlen kann?«

»Kannst du fünftausend Pfund hinblättern, Mellier, ja oder nein?« Er genoß die Erdnüsse geradezu. Nicht eine Sekunde verschwendete er an die Erinnerung, daß ihm Mellier vor nicht allzu langer Zeit aus einer üblen Patsche geholfen hatte.

»Ich habe keine fünftausend Pfund.«

»Na also.«

»Er wird es auch für weniger machen!«

»Für wieviel weniger? Ben Gamir sah nicht danach aus, als ob er groß mit sich handeln ließe.«

»Ein Algerier?«

»Ein Marokkaner!«

»Hätte ich fünftausend Pfund«, rief Mellier ärgerlich, »dann würde ich mir dafür ein eigenes Schiff kaufen und verschwinden.«

Der Dicke günste hämisch: »Dann wird der Dampfer also doch ohne dich auslaufen. Wie ich es gesagt habe.«

»Ich muß mit!« stöhnte François Mellier, sprang auf und ging erregt auf und ab. Plötzlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein. Er knüpfte das Hemd über der Brust auf und holte einen breiten, flachen Lederbeutel hervor. Bromley fielen fast die Augen aus dem Kopf, und um ein Haar wäre ihm eine Nuß statt in die Speiseröhre in die Luftröhre gerutscht. Er hustete sie heraus und spuckte sie neben die Couch. Atemlos verfolgte er jede Bewegung des Franzosen, der dem Beutel ein Päckchen Geldscheine entnahm, vier Scheine davon abzählte und diese in die Lederhülle zurückschob. Den Rest warf er auf den Tisch.

»Das ist alles, was ich für die Überfahrt ausgeben kann. Siebenhundert Pfund!«

Bromley schluckte gierig. »Dafür macht er’s nicht!« Und dann ritt ihn der Teufel. Mit hektischen Flecken auf seinen feisten Wangen und einem verschlagenen Blick forderte er: »Leg die Zweitausend und die tausend Dollar aus deiner Jackentasche dazu, und ich will’s noch einmal versuchen.«

Sechzig Sekunden lang geschah nichts. Weder der Dicke noch der Franzose rührten sich vom Fleck. Dann schob Mellier seine Hand langsam in die Jackentasche. Mit unbewegter Miene warf er die beiden Geldbündel zu den anderen.

»Bitte. Und nun sieh zu, daß du in den Hafen kommst.«

Mit glänzenden Augen raffte Bromley die Banknoten zusammen, zählte vor Melliers Augen fünfhundert Pfund davon ab, sagte »mein Anteil« und schob ihn in die Tasche. Das übrige Geld stopfte er in einen Briefumschlag und ließ diesen dann ebenfalls in seiner Jacke verschwinden.

»In einer Stunde bin ich wieder da. Drück inzwischen die Daumen, daß alles klappt.«

Die Tür fiel hinter ihm zu.

»Kleines, schmutziges Stück Abfall!« murmelte François Mellier hinter ihm her und ballte die Fäuste. Keiner von beiden ahnte, daß sie sich an einem Ort wiedersehen sollten, den beide bisher zu ihrem großen Glück nur vom Hörensagen kannten: in einem Gefängnishof.

Der ehrliche Zorn des Mister Lash

Perry Clifton hatte dem Telefonbuch alle notwendigen Angaben entnommen.

Einen der Zettel schob er jetzt Dicki Miller hin, der mit knallroten Ohren vor ihm saß und es noch immer nicht fassen konnte, daß er im Fall Hackston »hinzugezogen« wurde. Dabei mußte er sich eingestehen, daß er eigentlich nicht so recht wußte, um was es dabei ging. So ernst und so in Eile hatte er seinen Detektivfreund lange nicht gesehen, es ging wohl um ein »Riesending«.

»Kannst du lesen, was ich aufgeschrieben habe?«

»Kingsplace Nr. 12«, las Dicki voller Eifer ab und sah Clifton erwartungsvoll an.

»Weißt du, wo das ist?« Dicki nickte. »Das ist der Platz, wo sich die Belling-Street mit der Wanders-Street kreuzt. Ganz in der Nähe wohnt nämlich Ronnie Hastings.«

»Okay. Ich habe einen wichtigen Auftrag für dich!« Dicki wuchs um mindestens drei Zentimeter. »Und zwar so wichtig, daß ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn dir anvertrauen soll.«

»Sie können sich auf mich verlassen!« versicherte Dicki atemlos, und gewitzt durch frühere Erfahrungen fügte er im Brustton ehrlicher Überzeugung hinzu: »Ich werde auch genau das tun, was Sie mir auftragen!« Er streckte zwei Finger in die Höhe: »Geschworen!«

»Du sollst einen unauffälligen Beobachter spielen!«

»Das ist genau die richtige Rolle für Miller junior. Am Kingsplace 12?«

»Ja! Unauffällig, sagte ich, Dicki.«

»Mach’ ich … Nicht mal mein eigener Vater würde merken, daß ich ihn beobachte!« Er grinste über das ganze Gesicht.

»Wunderbar!« sagte Perry Clifton. »Am Kingsplace 12 befindet sich eine Kunstgalerie. Der Inhaber heißt Jack Mason. Geh hin und beobachte das Geschäft. Mich interessiert alles. Alles, Dicki!«

»Meinen Späheraugen wird nichts entgehen!«

»Hoffentlich. Da wäre sogar noch zu überlegen, ob es nicht weniger auffällig wäre, wenn dir dein Schulfreund Ronnie Gesellschaft leistet …«

Dicki wog das Für und Wider ab. Natürlich hatte Ronnie Hastings keine Ahnung von Kriminalistik, aber auf der anderen Seite wäre so ein bißchen Gesellschaft nicht das Allerdümmste …

»Ich kann ja mal sehen, wie er sich anstellt. Wie lange sollen wir den Schuppen beschatten?«

»Das ist kein Schuppen, sondern ein Kunsthaus, in dem man sich Bilder kaufen kann. Kapiert?«

»Kapiert!«

»Und noch was: Es handelt sich um eine heikle Angelegenheit, also um keine lustige Spielerei! Auch kapiert?«

Dicki quittierte die leise Zurechtweisung mit Kopfnicken.

»Ich setze dich in der Michigan-Street ab, von dort sind es nur ein paar hundert Meter zum Kingsplace. Punkt sechs hole ich dich wieder ab.«

»Und wohin fahren Sie?«

»In die Hammers-Road!«

»Und das hängt alles mit der Geigenbande zusammen?«

Perry Clifton legte den Zeigefinger über die Lippen. Dann sagte er: »Das muß unter uns bleiben, Mister Miller. Das ist kein Gesprächsthema für Außenstehende.«

Dicki nickte. »Klar!« sagte er, und dann: »Detektive und Fische müssen schweigen!«

»Muß ich mir merken!« Perry lachte und erhob sich.

Auch Dicki sprang auf. »Fahren wir jetzt?«

»Ja! Oder paßt es dir nicht?«

»Und ob!« Dicki war schon an der Tür, als er sich plötzlich mit der Hand vor die Sfim schlug und ganz rot vor Verlegenheit wurde. »Jetzt hätte ich es bald vergessen. Gestern hat ein Mann nach Ihnen gefragt.«

»Was wollte er?«

»Sie sprechen … Als ich ihm sagte, daß Sie verreist wären, wollte er wissen, wann Sie wiederkämen.«

»Wie sah der Mann aus. War er alt, jung?«

»Wie ein Boxer!« kam es wie aus der Pistole geschossen. »Und sooo eine Warze hat er unter der Nase gehabt!« Dicki zeigte die Größe einer mittleren Kastanie.

»Vorgestellt hat er sich nicht?«

»Doch … er hieß …«, aufgeregt drehte Dicki an einem Jackenknopf, was anscheinend half: »Ja, Mister Sam Newton hieß er.«

»Nie gehört!« stellte Clifton nach kurzem Überlegen fest.

»Sie könnten ihn anrufen, hat er gesagt.«

»Später. Jetzt wird es höchste Eisenbahn für uns!«

___________

Hammers-Road 108 war ein alter, mehrstöckiger Backsteinbau vom Ende des letzten Jahrhunderts. Der Zahn der Zeit hatte bereits sichtbar an dem Gemäuer genagt, und Perry Clifton war schon geneigt, an einen Irrtum zu glauben, als er das kleine Emailschild zwischen sechs anderen entdeckte. GORDON & LASH, HERSTELLUNG UND VERTRIEB VON WERBEMITTELN, stand da zwischen der fiNANZBERATUNG eines Mister P. Christobal und dem INSTITUT FüR EHEANBAHNUNG einer gewissen Missis Penelope Markton-Lisser. Auf dem GORDON & LASH-Schild war noch eine kleine römische III zu lesen, was den Schluß zuließ, daß sich die Werbemittelfirma im 3. Stock befand.

Clifton stieg genau 52 ausgetretene Stufen hinauf, vorbei an zahllosen Ladies, Gentlemen in Festkleidung sowie unübersehbaren Scharen von Greyhounds, die, verblaßt und zum Teil schon abgebröckelt, in Oelfarbe auf den Putz der Treppenhauswände gemalt waren. Der Erbauer dieses Hauses muß ein großer Liebhaber von Windhunden gewesen sem.

Das gleiche Emailschild wie unten am Haus war auch auf der Etagentür festgeschraubt, daneben handschriftlich auf gelbem Karton die drei Worte »Eintreten ohne Klopfen«. Perry Clifton folgte der Aufforderung.

Er gelangte in einen drei Meter langen Vorraum, von dem zwei weitere Türen abgingen. Eine davon hatte eine Milchglasscheibe, durch die das Licht in die winzige Diele fiel.

Diesmal klopfte Perry — an die Glastür. Die Reaktion kam prompt: »Herein!«

Die Dame war Mitte vierzig und sehr gepflegt. Sie steckte in einem schlichten braunen Wollkleid, darauf eine goldene Brosche in Form eines Salamanders. Das brünette Haar war zu einem Knoten zusammengebunden und gab ihr ein wenig ein schulmeisterliches Aussehen, zu dem auch die schildpattgerahmte Brille beitrag. Sie saß hinter einem aufgeräumten Mahagonischreibtisch und musterte Perry durch ihre getönten Gläser. Ihre Stimme war kühl und fast monoton, als sie fragte: »Sie wünschen, bitte?«

Clifton spielte den Verlegenen. »Ja … eigentlich …« Er nahm die schmale Kollegmappe von der rechten in die linke Hand. »… eigentlich wollte ich gern mal den Chef sprechen!«

Die Dame ließ sich nicht anmerken, was sie über ihren Besucher dachte. Mit der gleichen Stimme wie eben erkundigte sie sich: »Welchen? Mister Gordon oder Mister Lash?«

»Wie wär’s mit Mister Gordon?«

»Mister Gordon ist verreist. Leider!«

»Dann melden Sie mich eben bei Mister Lash an.«

»Wie Sie wünschen, Sir!« Der Anflug eines Lächelns huschte um ihre Mundwinkel.

»Danke, Madam! Übrigens, mein Name ist Clifton!« Perry beobachtete sie genau, doch nichts deutete darauf hin, daß sie seinen Namen schon einmal gehört hatte. Nicht das leiseste Zucken verriet Überraschung oder Erinnern.

»Ich bin Miß Craig. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mister Clifton!« Der Detektiv sagte noch einmal »Danke«, setzte sich und begann sich zu wundern. Und zwar darüber, daß die Sekretärin, denn als solche stufte er sie ein, keinerlei Anstalten machte, ihn, wie vorgehabt, bei Mister Lash anzumelden. Im Gegenteil: Sie entnahm der Schreibtischschublade mehrere Listen, griff nach einem Stift und begann mit der Addition von Zahlen.

Perry Clifton wartete genau fünf Minuten.

»Verzeihung, Miß Craig, sprachen Sie vorhin nicht von einer Anmeldung bei Mister Lash?«

Sie sah auf, runzelte die Stirn: »Das geht schon in Ordnung. Mister Lash wird sicher jeden Augenblick eintreifen. Er kommt immer um 15 Uhr.«

»Aha!« sagte Clifton, und sie setzte zu einer neuen Addition an. Als sie merkte, daß der Besucher sie noch immer betrachtete, legte sie den Stift zur Seite und gab den Blick zurück. »Er ist immer sehr pünktlich!«

»Ein schöner Zug!« nickte Clifton freundlich, in diesem Augenblick fest entschlossen, auf den Busch zu klopfen. »Wenn ich gewußt hätte, daß bei GORDON & LASH eine so charmante Lady sitzt, wäre ich sicher schon früher gekommen. Arbeiten Sie schon lange hier?«

Sie wurde weder rot noch verlegen, auch schien sie nicht sonderlich beeindruckt zu sein, denn in ihrer Stimme schwang unüberhörbare Ironie mit, als sie erwiderte: »Auch ohne Schmeichelei hätte ich Ihre neugierige Frage beantwortet. Ich bin seit drei Monaten hier, Mister Clifton.« Und nach einem spöttisch-liebenswürdigen Blick: »Wenn Sie nichts dagegen haben, arbeite ich inzwischen weiter.«

Perry Clifton steckte den Hieb mit Anerkennung weg. Dabei kamen ihm jetzt allerdings Bedenken, ob Miß Craig wirklich nur eine Sekretärin war.

Stumm beobachtete er, wie sie mit rasender Geschwindigkeit die schier endlosen Zahlenkolonnen bewältigte und die Ergebnisse hinschrieb. Als sie auf ihre Armbanduhr sah, tat Perry Clifton das gleiche. 15 Uhr 05. Mit der vielgerühmten Pünklichkeit des Mister Lash schien es doch nicht so weit her zu sein.

___________

Der große, schwere Mann mit dem Schlägergesicht schob sich durch den Gang und ging auf eine Tür mit der Aufschrift »Privat« zu. Er steckte in einem weißen Dekorateurmantel, in dem er sich ausnahm wie ein Flußpferd in einem Babyjäckchen.

Der Riese hieß in Wirklichkeit Morris Batallin und war von Jack Mason aus Frankreich importiert werden, nachdem er in der Nähe von Paris fünf Jahre Gefängnis wegen Nötigung, Scheckbetrug und Erpressung abgesessen hatte. Mit einem gefälschten Paß auf den Namen Morris Green lebte der Sohn eines französischen Vaters und einer englischen Mutter jetzt in London. Da er sich von jeher mehr als Engländer gefühlt hatte, war er Jack Mason für dessen Arrangement doppelt dankbar.

Der Galeriebesitzer telefonierte gerade, als Morris eintrat. Er winkte dem ungeschlachten Mann mit einer Geste zu, die besagte, daß er gleich fertig sei. Drei Minuten lang sagte er dann noch »Ja« … »Okay« …»Einverstanden«, bis er endlich auflegte.

»Was gibt’s, Morris?«

»Draußen ist ein Mann, der Sie sprechen will, Chef!«

»In welcher Angelegenheit?«

Der Herkules zuckte mit den Schultern. »Ich hab’ ihn nicht gefragt.«

»Kein Kunde also?«

»Sieht eher aus wie ein …«, er suchte nach Worten und sagte dann: »… ein petit receleur.«

»Du meinst einen kleinen Hehler?«

»Ja. Klein und fett.« Mason winkte mit dem Kopf nach rechts. »Geh nach nebenan, ich schalte das Mikro ein, damit du mithören kannst.« Batallin stampfte hinaus und schob wenig später einen merklich nervösen, dicken Mann herein.

»Ah, sieh mal an, Paul Brornley, der Allerweltsgauner. Was verschafft mir das zweifelhafte Vergnügen Ihres Besuchs?«

Der Dicke, schon halb unten, wollte sich gerade auf einen Stuhl fallen lassen, als ihn Masons schneidende Stimme wieder hochfahren ließ. »Bleiben Sie stehen, Bromley. Die Stühle sind für seriöse Gäste. Oder sind Sie ein seriöser Gast? Wollen Sie mir vielleicht ein Gemälde abkaufen? Oder eine Statue?«

Paul Bromley streckte den fetten Hals, um besser schlucken zu können. Masons überhebliche und doch gefährliche Art brachten ihn in Atemnot. O ja, er wußte, was er riskierte. Er wußte, daß Jack Mason gefährlicher war als eine Viper. Nicht umsonst hatte er sich drei Straßen weiter, in GWENDOLYNS AFTER PUB, Mut angetrunken.

»Ich wollte Ihnen ein Geschäft vorschlagen, Mister Mason«, drückte er mit gepreßter Stimme hervor, und eine Whiskywolke wehte in Richtung des Malers, der angeekelt das Gesicht verzog.

»Ich wüßte nicht, was wir beide für Geschäfte machen könnten.«

»Ich möchte Ihnen eine Information verkaufen.«

»Was Sie nicht sagen! Mister Bromley möchte mir eine Information verkaufen!«

Der Mann aus Soho spürte, wie sich seine Arme mit Gänsehaut überzogen. »Sie suchen doch nach einem Franzosen namens François Mellier …«

»Weiter!«

»Ich könnte Ihnen die Information verkaufen, wo er zu finden ist.«

»Weiter!«

Der Dicke schluckte. »Er will heute abend das Land verlassen. Mit einem Schiff …«

Bromley spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Auch die Gänsehaut beschränkte sich nicht nur mehr auf die Arme. Masons Augen musterten ihn etwa so, wie eine Schlange ein Kaninchen mustert, bevor sie es verschlingt.

»Wie hoch schätzen Sie den Wert Ihrer Information ein, Bromley?«

»Tau… tau … tausend Pfund!« stotterte der und staunte bebend über seinen Mut. Und da ihm noch nichts geschehen war, wiederholte er mit festerer Stimme: »Tausend Pfund sollte sie schon wert sein, Mister Mason.«

»So, finden Sie?«

Bromley nickte Stumm.

»Na gut.« Mason lehnte sich in seinem Sessel zurück, eine Andeutung von Freundlichkeit überzog sein Gesicht. »Wollen wir versuchen, uns zu einigen. Zunächst zwei Fragen: Wo steckt Mellier jetzt?« Als Bromley nicht gleich antwortete, zog Mason die rechte Augenbraue hoch, beugte sich ruckartig nach vorn und legte die Hand auf den Telefonapparat.

»In meiner Wohnung«, stöhnte Bromley.

»Frage zwei: Wo wohnt Mister Bromley zur Zeit?«

»Hatfield-Street in Schal« Der Dicke wußte im gleichen Augenblick, daß er die Partie verloren hatte.

»Hatfield-Street in Soho«, wiederholte Mason und legte die Fingerspitzen beider Hände zusammen wie ein Professor, der über die Antwort eines Studenten nachdenkt. »Immer noch das gleiche schmutzige Rattennest. Bestimmt ist schon ein guter Engel nach dort unterwegs, um zu verhindern, daß der brave Mellier Schaden an der schlechten Luft in Ihrer Wohnung nimmt.«

Paul Bromley sah unsicher zu Mason, dessen Fingerspitzen den Takt zu einem Marsch zu schlagen begannen.

»Übrigens, der liebe, gute François wird von mir gesucht, weil ich ihm noch eine kleine Gehaltserhöhung schuldig bin. Nun, wer hat schon gern Schulden. Sie etwa?«

Bromley schüttelte den Kopf, in dem es chaotisch durcheinander ging, denn urplötzlich waren ihm die Banknoten des Franzosen eingefallen, die immer noch in seinen Taschen steckten und zu brennen anfingen wie ein heißes Bügeleisen auf der blanken Haut. »Raus … weg … untertauchen«, durchfuhr es ihn. Gleichzeitig jedoch sah er im Geist den Riesen vor sich, der ihn hereingeschubst hatte, und der Angstschweiß lief ihm in die Augen.

»Sie können gehen, Mister Bromley!« Die Stimme Masons drang wie aus einer anderen Welt zu ihm. Zwei Atemzüge lang sah er den Maler und Kunsthändler verständnislos an.

Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, war es genau 15 Uhr 15.

___________

15 Uhr 15.

»Da ist Mister Lash.« Miß Craig legte den Stift zur Seite, rückte die Schildpatt-Brille mit ihren beiden Zeigefingem zurecht, erhob sich, strich automatisch eventuelle Falten ihres Kleides straff und schritt auf die Tür zu ihrer Linken zu. »Ich werde Sie anmelden!«

Sie klopfte kurz, öffnete — und dann hörte Perry Clifton durch die nur angelehnte Tür einen kurzen Wortwechsel. »Ein Mister Clifton möchte Sie sprechen, Sir!« — »Oh … ja ja … bitte … Straße verstopft«, antwortete im lebhaften Stakkato eine helle Männerstimme. Die Tür ging wieder auf.

»Bitte, Mister Clifton«, sagte Miß Craig. Als er dicht an ihr vorbei ging, umhüllte ihn für Sekunden der Duft von MADAME ROCHAS, eines herbsüßen französischen Parfüms. Leise klinkte sie die Tür hinter sich zu.

Ein mittelgroßer Mann — Clifton schätzte ihn auf fünfzig — mit schütterem, dunkelblondem Haar und einem fröhlich-verschmitzten Gesicht kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Guten Tag, Mister Clifton, ich bin Carpenter Lash!« Clifton schüttelte eine warme, weiche Hand und wurde von der gleichen warmen, weichen Hand zu einer Sitzgruppe aus dunkelrotem Velours gezogen, die neben einem Schreibtisch, zwei Rollschränken und einer großen Tonbandanlage das gesamte Mobiliar des Zimmers bildete.

»Bitte nehmen Sie Platz, Mister Gibbson!«

»Clifton!«

»Entschuldigung, Mister Clifton natürlich!« Während sich der Detektiv in den Sessel fallen ließ, tänzelte der quirlige Mister Lash zu einem der Schränke und angelte zwei Gläser und eine Flasche heraus. »Wodka« las Clifton. Lash packte alles auf ein Tablett und balancierte es, Schritt für Schritt wie ein Seiltänzer, auf den kleinen runden Tisch.

Als er mit zusammengekniffenen Augen wie ein Schütze beim Anvisieren eines Zieles die Gläser füllte, fragte er: »Hat Ihnen die gute Miß Craig schon unseren neuen Hauptkatalog vorgelegt?«

Ohne auf Cliftons Antwort zu warten, hob er sein Glas und sagte: »Cheerio!« Sie nippten beide an ihren Gläsern »Was sagen Sie zu den neuen Kollektionen, Mister Clifton?«

Lashs Augen strahlten höchste Zufriedenheit aus. Anscheinend war er über alle Maßen mit seinem Werk zufrieden. Um so größer war seine Enttäuschung, als Perry Clifton antwortete: »Ich bin eigentlich kein richtiger Kunde.«

»Ach …«

Lash glich plötzlich einem Kind, dem man das Lieblingsspielzeug fortgenommen hatte.

»Sie wollen also gar nichts kaufen?«

»Um ehrlich zu sein, nein.«

Carpenter Lash sah mit einem hilflosen Blick zur Decke, als erwarte er von dort Hilfe. Und dann murrte er in Richtung Miß Craig: »Das hätte sie mir ja sagen können.«

»Ich war neulich in Hackston und habe ein paar Fotos von Ihrer Fabrik gemacht.«

»Und jetzt wollen Sie mir die Fotos wohl verkaufen?« Der Gedanke, daß statt ihm sein Gegenüber den Verkäufer spielen wollte, schien ihm restlos den Tag zu verderben. Mit der verdrießlichsten Miene der Welt stellte er fest: »Ein Fotograf sind Sie also!« Perry Clifton war sicher, daß Lash ernsthaft mit dem Gedanken spielte, den so leichtsinnig spendierten Wodka wieder in die Flasche zurückzubefördern. Fast schien es, als gingen Lashs Geschäfte doch nicht so gut, wie er es sich erträumt hatte.

»Ich will Ihnen die Fotos schenken!« sagte der Detektiv, und es war ihm ein Vergnügen zu sehen, wie die Sonne plötzlich wieder auf Lashs Gesicht zu scheinen begann. »Sozusagen als Wiedergutmachung.«

»Als Wiedergutmachung? Haben Sie vielleicht beim Fotografieren eine Scheibe eingeschlagen?« Dieser Einfall belustigte Lash so sehr, daß er kichern mußte. Als die Tür aufging, gefror ihm allerdings die Heiterkeit mitten im Mund.

»Haben Sie gerufen, Sir?« wollte Miß Craig wissen, während sie Lash streng musterte. (Perry empfand es jedenfalls so.)

»Nein, ich habe nicht gerufen, Miß Craig!« Er richtete sich dabei etwas im Sessel auf. Wie ein Arbeitgeber von tausend Angestellten sagte er: »Wenn ich was von Ihnen will, werde ich schon rufen. Und jetzt möchte ich bitte nicht mehr gestört werden.«

Miß Craig verschwand mit einem Achselzucken. Lash beugte sich über den Tisch und zischelte leise: »Sie hört immer das Gras wachsen.« Und etwas lauter: »Was haben Sie denn wiedergutzumachen?«

»Ihr Geschäftsführer (als Clifton Geschäftsführer sagte, rümpfte Lash abfällig die Nase) war so freundlich, mich vom Haus aus fotografieren zu lassen. Dabei hatte ich mich unter einem falschen Namen vorgestellt. Ich bin nämlich nur Hobbyfotograf. In Wirklichkeit arbeite ich als Detektiv.«

Lashs Augen glänzten plötzlich. Interessiert fragte er: »Detektiv? Ein richtiger, echter Detektiv? So mit Gangsterjagd und allem Drum und Dran?«

Perry Clifton lachte leise.

»Weniger mit Drum und Dran. Ich bin nur ein Warenhausdetektiv. Aber ich rede ungern darüber. Meist fragen mir die Leute dann Löcher in den Bauch. Sie wollen wissen, was alles gestohlen wird, wie die Diebe es anfangen, nicht erwischt zu werden, und was sie dann falsch gemacht haben, wenn sie erwischt werden; was der größte Fang bisher in meiner Laufbahn gewesen war, und so weiter, und so weiter. Sie können sich wohl vorstellen, daß einem das alles zum Halse heraushängt, wenn man es hundertmal erzählt hat. Deshalb lege ich mir, wenn ich unterwegs bin, auch immer einen falschen Namen und einen falschen Beruf zu.«

Während seiner langen Rede hatte Perry Clifton seiner Tasche einen Umschlag mit Bildern entnommen und hielt diesen jetzt Carpenter Lash hin, der die Fotos neugierig auf den Tisch schüttete und sich dann, gespannt und sichtlich überrascht, Bild für Bild betrachtete. »So sieht das also aus.« Clifton hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Lash sah ihn an. »Soll ich Ihnen was verraten?«

»Bitte!«

»Ich war noch nie in Hackston!«

»Noch nie?«

»Noch nie!« Er senkte die Stimme zu einem grimmigen Flüstern: »Dabei habe ich diesen Melvin in Verdacht, in die eigene Tasche zu wirtschaften.« Perry Clifton schüttelte den Kopf. »Das versteh’ ich nicht. Sie kaufen hundert Meilen von hier entfernt ein altes Haus, ohne es zu kennen, lassen darin eine Malerwerkstatt einrichten und stellen Hausmeister sowie Geschäftsführer ein, wobei Sie von letzterem nicht einmal wissen, ob er Sie beträgt. Das hätten Sie doch hier in London viel billiger haben können.«

»Ich?? Ich bin doch nur ein Dummkopf! Mir gehört nichts!« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, rutschte auf seinem Sessel herum, als ob er dringend mal müsse, griff nach seinem Glas und goß den darin befindlichen Wodka in einem Zug hinunter. Dann schnappte er zwei-, dreimal krampfhaft nach Luft und schüttelte sich, als habe er soeben einen Liter Heizöl getrunken. Als er Cliftons fragenden Blick sah, begann er mit gereizter, wenn auch gedämpfter Stimme zu erklären: »Es war der größte Fehler meines Lebens, in diese Firma einzusteigen. Und was ich alles vorhatte …« (Er sprach das »was« mit drei a) »Wären die tausend Pfund nicht …« Er verschluckte den Rest gequält.

»So schlimm?« fragte Perry Clifton.

Lash wurde noch leiser: »Laut Gesellschaftsvertrag bin ich nicht einmal berechtigt, in Hackston das Lager zu kontrollieren.«

Clifton fühlte fast so etwas wie Mitleid mit dem lebhaften Mann, der so gern ein erfolgreicher Geschäftsmann sein wollte.

»Wer kümmert sich denn um die Herstellung?«

»Frank Gordon. Er ist verantwortlich für Herstellung und Auftragsbeschaffung. Ich leite den Verkauf. So wurde es ausgemacht.«

»Und wo steckt Mister Gordon jetzt?«

Lashs sonst so lustiges Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Grimasse: »Er ist auf Reisen, Mister Clifton. Mal hier, mal dort. Ich habe ihn seit vier Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Nur telefonieren tut er ab und zu mit mir.« Wieder ein resignierendes Schulterzucken. »Wären die tausend Pfund nicht, ich …« Er verstummte.

»Und den Angestellten sagen Sie, daß Mister Gordon verreist ist?«

»Ja, was bleibt mir weiter übrig?!«

»Außer Ihnen gibt es hier wohl nur noch Miß Craig?«

»Und Mister Summers unten im Lager. Miß Craig habe ich vor drei Monaten engagiert.« Er flüsterte: »Sie ist mir manchmal unheimlich.«

»Und warum?«

»Neulich habe ich eine Unterlage gesucht und nicht gefunden. Sie kam, ging dort drüben an den Schrank und holte die Mappe mit einem einzigen Griff von ganz unten hervor.«

»Ist das so ungewöhnlich?«

»Die Unterlagen waren über ein Jahr alt, Miß Craig aber ist erst seit drei Monaten bei uns!« Er streckte das Kinn vor wie weiland Wellington nach der Schlacht bei Waterloo.

»Das ist allerdings ungewöhnlich«, gab Perry zu. »Wie kam sie denn zu Ihnen?«

»Mister Mason hat sie mir empfohlen.«

»Ach, Jack Mason, der Maler und Kunsthändler?«

»Ja …«

»Und wie sind Sie zu dieser Firma gekommen?«

»Durch eine Anzeige im OBSERVER. Seitdem lese ich den OBSERVER nicht mehr!«

»Und mit dem Gang der Geschäfte sind Sie unzufrieden.«

»Das will ich nicht mal sagen. Nur, es gibt eben so vieles, was mich hier stört. So zum Beispiel, daß mein sogenannter Teilhaber nie da ist.« Widerwillig gab er zu: »Es stimmt zwar, daß mein Anteil an der Firma nur einen Bruchteil von seinem Kapital beträgt, aber das ist doch kein Grund, mich hier alle Arbeit allein machen zu lassen und selbst in der Welt herumzugondeln.«

Perry Clifton musterte Carpenter Lash. Dann sagte er: »Vertrauen gegen Vertrauen, Mister Lash. Wurden Sie darüber informiert, daß der Hausmeister in Hackston vorbestraft ist?«

Lash sah Clifton mit riesengroßen Kulleraugen an. »Vorbestraft? Charly Bell ist vorbestraft?« würgte er endlich hervor.

»Er heißt nicht Bell, sondern Webster. Charly Webster.«

Lash tastete nach seinem Glas und goß den inzwischen zusammengelaufenen letzten Rest auf seine Zunge. Abrupt setzte er es zurück, erhob sich und sagte: »Ich werde sofort die Polizei benachrichtigen!«

»Wessen wollen Sie ihn beschuldigen? Können Sie ihm eine ungesetzliche Handlung nachweisen? Wer hat ihn eingestellt?«

Lash ließ die schon erhobene Hand wieder sinken. »Ich weiß es nicht, Mister Gibbson!«

»Clifton!«

»Entschuldigung, ich bin ein bißchen durcheinander, Mister Clifton. So, Bell ist ein Gauner … Ja, wer hat ihn eingestellt. Entweder Gordon oder die Goldmine!«

Als er den verständnislosen Blick des Detektivs sah, verdeutlichte er: »Ich meine den Kettenraucher Melvin. Als ich in die Firma eintrat, waren Melvin und Bell schon da.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grünasse abgrundtiefen Ekels. »Dieser Melvin ist das widerlichste, unangenehmste, abstoßendste, abscheulichste und ekelhafteste Wesen, das mir je begegnet ist! Wie finden Sie ihn?«

»Ich kenne ihn zu wenig, um mir ein so umfassendes Urteil zu erlauben«, gab Perry Clifton ein wenig belustigt zurück. »Wobei ich allerdings zugeben muß, daß es auf der Welt umgänglichere und freundlichere Zeitgenossen gibt.«

Lash stimmte voller Grimm und Eifer zu: »Ganz meine Meinung!«

»Und was haben Sie mit der Galerie Mason zu tun?«

»Oh, Mister Mason kauft uns regelmäßig bunte Geigen ab.«

»Woher konunen eigentlich die Rohgeigen?«

»Die Rohgeigen?« Lash wirkte ein wenig hilflos. »Ich glaube, irgendwo aus Schottland. Ich habe mich nie darum gekümmert — kümmern dürfen!« verbesserte er rasch. »Der Einkauf der Rohgeigen gehört zum Aufgabenbereich Frank Gordons. Er bezahlt sie auch gleich immer bar. Ich erfahre nie, wieviel er einkauft, immer nur, wieviel wir verkaufen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe darüber noch nie eine Rechnung gesehen. Kennen Sie Jack Mason?«

»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

»Er ist ein großer Künstler«, schwärmte Carpenter Lash, schränkte jedoch gleich ein, »obwohl natürlich nicht jedermann seine Art zu malen versteht. Er hat eine Galerie am Kingsplace.« Lash seufzte: »Leider ist er völlig unmusikalisch.« Perry Clifton überlegte, was in diesem Zusammenhang die Musikalität mit der Malerei zu tun haben könnte. Als habe Lash seinen Gedanken erraten, sagte er: »Da kauft er von uns Geigen zur Dekoration, kann jedoch nicht einmal auf einer Mundharmonika blasen.« Er setzte sich in seinen Sessel zurück und fragte eindringlich: »Sagen Sie, Mister Clifton, wenn Sie Detektiv sind, dann sind Sie doch auch ein guter Menschenkenner.«

»Nun, sagen wir, für den Hausgebrauch sollte es reichen.«

»Halten Sie es für möglich, daß dieser Melvin in seine eigene Tasche wirtschaftet? Aber ehrlich!«

»Ich halte es durchaus für möglich. Nur sollten Sie dann zwei Dinge voraussetzen: Melvin wäre gezwungen, weitere Rohgeigen auf eigene Rechnung zu beschaffen, und zweitens: Charly Webster alias Bell wäre mit im Spiel. Allein wäre es für Melvin sicher unmöglich. Warum machen Sie nicht einfach, trotz Vertragsklausel, einmal eine Stichprobe, Mister Lash? Kommt Ihr Kompagnon dahinter, können Sie immer noch sagen, daß das auch in seinem Interesse geschehen sei.«

Carpenter Lash schluckte erregt. »Ich würde ja, ich würde ja. Aber dieser widerliche Melvin gäbe mir niemals die Schlüssel. Er würde sich auf Gordon berufen!«

»Ich an Ihrer Stelle würde mir trotzdem überlegen, wie ich in Hackston eine Kontrolle durchführen könnte. Denken Sie an Ihre tausend Pfund!«

Perry Clifton stemmte sich aus seinem Sessel hoch. »Ich hoffe, daß Sie die Produkte meiner Fotokunst annehmen.«

»Aber selbstverständlich!«

»Das heißt, dieses Bild hier …«, er reichte Lash ein Foto »… ist doppelt. Wenn Sie nichts dagegen haben, darf ich es behalten.«

»Bitte, Mister Clifton!« Lash gab es zurück, und Clifton legte es in seine Brieftasche. Als er Mister Lashs warme, weiche Hand in der seinen hielt, nickte er diesem aufmunternd zu: »Ich würde an Ihrer Stelle diesem Gordon mal so richtig meine Meinung sagen!« Lash klapperte zustimmend mit den Augendeckeln. »Das werde ich, sobald er hier auftaucht. Allerdings, so hat er gesagt, könne das noch vier Wochen dauern.«

»Nun ja, bis dahin haben Sie ja noch genügend Zeit, sich die richtigen Worte einfallen zu lassen.«

Kingsplace Nr. 12

Jack Mason tat, als wäre er allein. Mit aufreizender Langsamkeit polierte er seine Fingernägel am Jackettaufschlag, betrachtete sie in regelmäßigen Abständen, hauchte sie an und polierte aufs neue. Dann schien er plötzlich einen Farbspritzer oder etwas ähnliches an der Innenseite des rechten Zeigefingers entdeckt zu haben, eine Sache von ungeheurer Wichtigkeit — so mutete es jedenfalls an. Als er endlich aufsah, tat er es mit der gleichen gelangweilten Miene, die er schon bei der Verschönerung seiner Fingernägel zur Schau getragen hatte. Nur seine Augen paßten nicht so recht in dieses Gesicht. Sie blickten eisig und starr, daß es die Anwesenden abwechselnd heiß und kalt überkam. Selbst der massige Morris Batallin spürte mit seinen beschränkten geistigen Mitteln, daß dort ein Mann saß, für den Rücksichtnahme und Nachsicht Fremdwörter waren, und daß in der eleganten, maßgeschneiderten Hülle eine gefährliche Klapperschlange steckte, die jeden Augenblick bereit war, ihre Giftzähne todbringend zu gebrauchen. Und Batallin fühlte so etwas wie Mitleid mit dem wesentlich kleineren Landsmann, den er an beiden Oberarmen gepackt hielt. Er lockerte seinen schraubstockähnlichen Griff ein wenig, so daß es Mason nicht bemerkte.

»Hat er Theater gemacht?«

»Nein, Chef. Er meinte nur, daß Sie eine falsche Meinung von ihm hätten … oder haben könnten!«

»So, meint er das.«

»Ich wollte …«

Mason hob die Hand ein wenig, und Mellier verstummte. »Was wissen Sie von England, Monsieur Mellier?«

Der schmächtige Franzose schien mit jeder anderen Frage gerechnet zu haben; diese verwirrte ihn. Doch dann kam ihm der Gedanke, daß sie zu einem besonders teuflischen Programm gehören könnte, das sich Mason ausgedacht hatte. Auch in Batallins Kopf verursachte diese Frage ein ziemliches Durcheinander.

»England ist sicher ein schönes Land, Chef!« In Wirklichkeit haßte François Mellier die britische Insel. Haßte die Spießer und Gauner ebenso wie den Linksverkehr und das Wetter. Es waren nur die »Verdienstmöglichkeiten«, die ihn bis jetzt hatten ausharren lassen.

»Und was wissen Sie von London?« Mason hatte einen Kugelschreiber ergriffen, dessen Automatik er jetzt in gleichbleibendem Rhythmus betätigte. Wie hypnotisiert starrte der schmächtige Franzose auf Masons Daumen.

»London ist sicher eine schöne Stadt!« Er wählte die gleiche Formulierung.

»Aber was Ihnen besonders in dieser Stadt gefällt, könnten Sie nicht sagen?!« Es war mehr Feststellung als Frage. Und François suchte verzweifelt nach einer Antwort.

»Ich glaube, daß Sie sich in Wirklichkeit nie für diese Stadt interessiert haben. Wußten Sie, daß es in London zum Beispiel über 5500 Kirchenglocken gibt? Und eine Vereinigung von Männern, die den Club der ›Kirchenglocken-Läuter‹ bilden. Wußten Sie das?«

Mellier schüttelte stumm den Kopf und dachte insgeheim:

»Was gehen mich die Glöckner an.«

»Sie haben natürlich auch keine Ahnung davon, daß es in London eine Straße gibt, auf der nur rechts gefahren wird … ich sehe es Ihnen an. Es handelt sich um die Zufahrt zum Savoy-Hotel. Oder wissen Sie, was aus den Steinen der Waterloo-Brücke geworden ist?«

Mason hatte sich erhoben. Mit einer lässigen Handbewegung warf er den Kugelschreiber auf den Tisch. »Man hat sie nach Australien verschifft, um dort ein Rathaus damit zu bauen. Witzig, was? Es handelt sich um das Rathaus von Perth. Und da wir gerade beim Bauen sind: Als einer, der schon über zwei Jahre in London lebt, werden Sie mir sicher sagen können, wie das älteste Bauwerk Londons heißt?«

In François Mellier begannen sich Trotz und Widerspruch zu regen. Ein Gefühl, das ihn aggressiv werden ließ. Er wußte natürlich, daß Aggressivität das letzte war, was er sich in seiner Situation leisten konnte.

»Nein, ich weiß es nicht, Chef. Und wenn ich ehrlich sein soll, es interessiert mich auch nicht. Ich bin nach England gekommen, um hier Geld zu verdienen.«

Mason stand nur noch einen knappen Meter von Mellier entfernt. Mit unbewegter Miene klärte er diesen auf: »Es ist der Tower, mein Freund. Er feiert 1978 seinen neunhundertsten Geburtstag. Und nun kommen wir zu Ihrem Job!« In Masons Augen kehrte jenes frostige Glitzem zurück.

»Sie wissen wenig über London, noch weniger über England und scheinbar gar nichts über mich. Denn wäre dem nicht so, wüßten Sie, wie ich auf Betrug und Verrat in der eigenen Mannschaft reagiere.« Während Mellier genau wußte, was Mason damit andeuten wollte, mußte sich der Riese Batallin Mühe geben, um hinter die seiner Meinung nach gespreizten Worte seines Chefs zu kommen.

»Wo ist Cockland?«

»Ich weiß es nicht, Mister Mason.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Ich weiß es wirklich nicht!« Und mit dem Mut der Verzweiflung rief der kleine Franzose: »Mon dieu, Monsieur, Sie sollten sich von mir alles erzählen lassen.«

Mason verschränkte die Arme. »Ich höre!«

François atmete auf. Es war die Chance, wenigstens ein Hoffnungsschimmer. Auch Batallin schien erleichtert. Zum ersten Mal nahm er seine mächtigen Franken von den Armen seines Landsmannes. (Obwohl er sich, wie schon gesagt, mehr als Engländer fühlte.)

»Wir waren unterwegs nach …«

»Weiter! Keine überflüssigen Reisebeschreibungen!« unterbrach Mason.

»Also, plötzlich hielt Cockland an und sagte: Ich habe keine Lust mehr, immer nur die Dreckarbeit zu machen, während …« Mellier zögerte sekundenlang »… während die Scheißer in den Maßanzügen die dicken Gewinne einstreichen. Ich war regelrecht erschrocken. Cockland war sonst ein vernünftiger Mann. Man konnte über alles mit ihm reden … Aber da muß was passiert sein, sonst hätte er sich nicht so verhalten. Was er vorhabe, fragte ich ihn, und er sagte, daß er diesmal der große Kassierer sei und ob ich mitmachen wolle. Ja …« François Mellier holte Luft und sah Mason an. Da gab ihm Morris Batallin einen leichten Klaps.

»Nun red schon!«

»Ich sagte nein. Da schlug mir Cockland mit einem Schraubenschlüssel auf den Schädel, und ich war weg.« Der Franzose beugte sich vor und begann in seinem Haarschopf zu wählen. Endlich schien er gefunden, was er gesucht hatte.

»Hier!« rief er, »der Grind ist noch zu sehen!«

Mason verschwendete keinen Blick. »Geschenkt!« sagte er kalt. »Wie geht das Märchen weiter?«

»Als ich wieder zu mir kam, war Cockland verschwunden. Vorher hatte er aber noch den Wagen gegen einen Baum gefahren.«

»Und Sie haben bei all dem fest geschlummert!«

»Ich habe nichts gemerkt!« beteuerte Mellier. »Als ich ausstieg, sah ich, daß Cockland sämtliche Geigen zertrümmert hatte.«

»Und wer hat die Nummemschilder abmontiert?«

»Ich! Schließlich waren es französische. Wozu unnötig Staub aufwirbeln, habe ich gedacht. Und dann habe ich mich aus dem Staub gemacht!«

Jack Masons Miene war undurchdringlich. »Bis hierher könnte, ich betone ›könnte‹, alles der Wahrheit entsprechen, wenn da nicht ein Haken wäre. Ein entscheidender Haken. Warum haben Sie sich nicht sofort mit uns in Verbindung gesetzt?« Und voller Ironie: »Es gibt in England sogar schon Telefone!«

François zuckte hilflos mit den Sdiultem. »Ich wollte ja, aber dann dachte ich, es ist besser, wenn ich es Ihnen persönlich sage. Ich war ja auch schon in London, aber …«

»Aber?«

»Dann befürchtete ich, daß Sie mir nicht glauben würden.«

»Richtig befürchtet. Nicht ein Wort.«

»Aber Chef, überlegen Sie doch, wenn es so wäre, wenn ich mit Cockland Halbe-Halbe gemacht hätte, dann wäre ich doch nach Frankreich verduftet!«

»Ja, Chef!« feixte Morris und reckte seinen riesigen Brustkorb, daß die Knorpel knackten. »Dann hätten wir ihn nie erwischt.«

Jack Mason mußte zugeben, daß an Melliers Version etwas dran sein konnte und daß eine gewisse Logik nicht von der Hand zu weisen war. Eine Spur weniger kalt und feindselig sagte er: »Und dann liefern Sie sich ausgerechnet so einer Ratte wie Bromley aus?«

Mellier schwieg. Das war ein Kapitel, das nur ihn allein anging.

»Wir werden Sie bis auf weiteres aus dem Verkehr ziehen. Hoffen Sie, daß wir auch Cockland einfangen. Was später mit Ihnen geschieht, wird der Chef entscheiden. Morris, bring ihn in den Keller. Und dann schließ die Galerie wieder auf!«

Als Morris Batallin mit dem kleinen Franzosen verschwunden war, griff Mason nach dem Telefonhörer und wählte eine lange Nummer, eine Nummer in Hackston.

___________

Die Autouhr im Wagen zeigte 16 Uhr 59 an, als Perry Clifton zum Kingsplace kam.

Früher als vorgesehen. Aber das lag in erster Linie daran, daß er Scott Skiffer nicht im Yard angetroffen hatte. Der sei bei einem Außeneinsatz, wurde ihm gesagt, und so konnte er ihm lediglich ein paar Zeilen und einen Umschlag hinterlassen.

Er sah Dicki Miller schon von weitem.

Allein hing der gelangweilt über einem eisernen Begrenzungsgeländer und blätterte in einem Micky-Maus-Heft. Als Perry auf seiner Höhe war, tippte er zweimal kurz auf die Hupe. Dicki sah auf und erkannte seinen großen Freund auf der Stelle. Der zeigte zur Wanders-Street hinüber, und Dicki nickte.

Clifton erspähte vor einer Apotheke eine Parklücke und schob sich hinein. Drei Minuten später stieg Dicki zu.

»Von Begeisterung keine Spur, Mister Detektiv!« empfing ihn Perry. »Hat dich Ronnie im Stich gelassen?«

»Nein, der mußte um dreiviertel fünf nach Hause. Zum Babysitten. Der hat doch so ‘ne winzige Schwester. Ich dachte, Sie wollten mich erst um sechs abholen?«

»Ist eben schneller gegangen. Gab’s was Besonderes?«

»Eigentlich nicht … Nur einmal, das war komisch. Ronnie hat sogar gemeint, der sei tot gewesen. Aber Tote können ja nicht mehr laufen.«

»In der Regel nicht«, stimmte Perry zu. »Wie wär’s, wenn du weniger in Rätseln sprechen würdest. Also, was war komisch?«

Dicki machte sich lang und fischte ein kleines, ziemlich zerknautschtes Notizbuch aus der Hosentasche. »Also«, begann er mit gewichtiger Miene, »bis 14 Uhr 38 war gar nichts. Da kam eine Frau. Die hat ein Bild gekauft. Ein kleines Bild. Um 14 Uhr 50 kam ein älteres Ehepaar, die kamen Punkt 15 Uhr wieder heraus, ohne was. 15 Uhr 05 kam ein kleiner dicker Mann, der war schon mal zwischen der Frau und dem alten Ehepaar da, ist aber an der Tür wieder umgekehrt.«

»Und um 15 Uhr 05 hat er die Galerie betreten?«

»Ja. Ganz langsam. Als müßte er es sich noch einmal überlegen. Oder als ob er Angst gehabt hätte.«

»Du bist ein guter Beobachter!« Perry Clifton lobte Dicki.

»15 Uhr 14 kam ein Riese heraus, der gar nicht hineingegangen war. Der hatte es furchtbar eilig.«

»Ein Angestellter vielleicht.«

»Ich weiß nicht, Mister Clifton. Jedenfalls kam der kleine dicke Mann …« Dicki sah wieder in sein Büchlein, »gleich nach ihm. Eine Minute später, ich habe 15 Uhr 15 aufgeschrieben. Der hatte es noch eiliger als der Riese. Bis 16 Uhr 05 tat sich gar nichts. Nur Leute vor dem Schaufenster. 16 Uhr 12 fuhr ein gelbes Auto vor, und der Riese stieg aus, und noch ein kleiner Mann. Der Riese hatte ihm den linken Arm auf den Rücken gedreht und hielt ihn ein ganzes Stück in der Luft.«

»Interessant!« sagte Perry Clifton und meinte es auch so. »Was geschah weiter?«

»Als der Riese mit dem Zwerg in der Galerie verschwunden war, fuhr das Auto weg, und jemand hängte an die Eingangstür ein Schild. Weil wir es aus der Entfernung nicht lesen konnten, habe ich einen Spaziergang rund um den Kingsplace gemacht. ›Vorübergehend geschlossen‹ stand auf dem Schild. Zehn Minuten später war es wieder verschwunden. Aber Kundschaft habe ich nicht mehr gesehen.«

Perry Clifton klopfte Dicki anerkennend auf die Schulter. »Tadellos gemacht. Du bist eine prächtige Hilfe.«

»Danke, Mister Clifton. Und was machen wir jetzt?«

»Jetzt fahren wir nach Hause, kochen uns eine große Kanne ›Kakoffee‹, und ich werde dir erzählen, wie ich durch meinen Freund Tom Harder zu diesem Fall gekommen bin.«

»Okay!« Dicki stimmte strahlend zu. Und plötzlich fiel es ihm wieder ein: »Ich hab’ ja noch was vergessen. Die Nummer von dem gelben Auto.«

Da lächelte Perry, und mit der Stimme eines Wahrsagers, der auf einer Kirmes seinen Kunden die Zukunft aus dem Kaffeesatz deutet, murmelte er: »Ich sehe es vor mir … Ooohjaaa … Da war ein knallgelber FORD … und ich sehe seine Kennzeichen…L…P… O…drei… eins zwei …«

Fünf Sekunden lang war Dicki betroffen, dann jedoch kam ihm ein sdhrecklicher Verdacht: »Mister Clifton, haben Sie vielleicht auch beobachtet?« Die Entrüstung über eine solche Eventualität stand deutlich in seinen Augen.

»Nein, du kannst beruhigt sein. Ich habe dir nicht ins Handwerk gepfuscht. Aber seit meinem Besuch in Hackston weiß ich, daß Mister Mason einen gelben Wagen mit der Nummer LPO 312 fährt. Bedenken ausgeräumt?«

»Ja!« gab Dicki Miller erleichtert zu, und während Perry den Wagen aus der Parklücke rollen ließ, erkundigte sich Dicki hoffnungsvoll: »Soll ich morgen wieder Posten beziehen?«

»Wie lange hast du denn Schule?«

»Morgen ist Freitag, da geht es bis um 13 Uhr. Ab halb drei könnte ich da sein.«

»Wir reden morgen darüber.«

»Kakoffee« war Perry Cliftons ureigenste Erfindung und in Kürze zu Dickis Lieblingsgetränk avanciert. Kakoffee besteht aus Kaffee, Kakao, Eiswürfeln und Schlagsahne. Kaffee und Kakao werden getrennt zubereitet und nach Abkühlung im Verhältnis 1:1 zusammengeschüttet. In ein Glas (nach Möglichkeit ein großes) kommen zwei Eiswürfel besonderer Art. Sie bestehen nämlich nicht nur aus gefrorenem Wasser, sondern aus Wasser, in dem vorher Vanillezucker aufgelöst werden ist. Auf diese Eiswürfel schüttet man das Gemixte, und als Krönung obendrauf kommt dann der »Fudschijama«. Das ist ein riesiger Berg Schlagsahne. Fertig ist der Kakoffee!

Während sich Dicki genüßlich dem Löffeln und Schlürfen hingab, erzählte ihm Perry Clifton von Tom Harders Autofahrt, dem unheimlichen Haus und den bunten Geigen. Er zeigte ihm Fotos von Hackston, dem Haus und — der kleinen Angy, die besonders gut getroffen war. Von Abraham Jefferson und den Gesprächen mit Scott Skiffer sagte er nichts; auch über seinen Verdacht, was den tatsächlichen Verwendungszweck der Geigen anbetraf, schwieg er.

Dicki schien wie immer einen sechsten Sinn für das Nichtausgesprochene zu haben.

»Und was wirklich mit den Geigen los ist, sagen Sie mir nicht«, stellte er etwas gekränkt fest.

»Um ganz ehrlich zu sein, Mister Miller, das wissen wir selbst noch nicht. Fest steht bisher eigentlich nur der Verdacht, daß diese Leute, von denen ich dir erzählte, in eine ungesetzliche Angelegenheit verwickelt sind. Alles andere sind noch ungelöste Rätsel und Vermutungen.«

Dicki gab sich zufrieden.

Nachdem er sich einen neuen »Fudschijama« aufgeladen hatte, fiel ihm ein, was er noch fragen wollte: »Haben Sie eigentlich diesen Mister Sam Newton schon angerufen?«

Perry Clifton hatte es nicht getan.

Doch fünf Minuten später las er im Telefonbuch nicht nur die Nummer dieses Newton, sondern auch das, was hinter der Telefonnummer stand: DISKRETE BEOBACHTUNGEN UND ERMITTLUNGEN ALLER ART.

Sam Newton war also ein freiberuflicher Kollege. Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren.

Perry Clifton griff zum Telefon!

Sein Gespräch mit Sam Newton war eines von vier Ereignissen, die sich innerhalb der nächsten drei Stunden an verschiedenen Orten abspielten und die doch alle vier miteinander so eng verknüpft waren, daß sie — erkannt und zusammengesehen — »den Fall« schon jetzt hätten aufklären können. Nach dem dritten Klingeln wurde der Hörer am anderen Ende abgehoben.

19 Uhr 50, Ereignis Nr. 1: Ein Dialog

»Hier Sam Newton!«

»Und hier spricht Perry Clifton in Norwood. Mister Newton, ich hörte, daß Sie mir einen Besuch machen wollten, mich jedoch nicht antrafen.«

»Wer behauptet das?«

»Ein Junge namens Dicki Miller.«

»Und wo wohnt dieser Dicki Miller?«

»Er ist der Sohn meiner Wohnungsnachbarn.«

»Sein Alter?«

»Dreizehn Jahre!«

»Ich wüßte nicht, was ich von Ihnen wollte.«

»Dann scheint es sich also um einen offensichtlichen Irrtum zu handeln. Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe.«

»Warten Sie! Ich kann glauben, daß Sie Clifton sind, es könnte aber auch sein, daß Sie es nicht sind.«

»Und wie wollen Sie das feststellen?«

»Indem ich Ihnen zwei Fragen stelle!«

»Sie sind sehr vorsichtig.«

»Das bringt der Beruf mit sich.«

»Im Telefonbuch steht, daß Sie eine Detektivagentur betreiben.«

»Stimmt!«

»Hängt Ihr Beruf mit dem Interesse an meiner Person zusammen?«

»Wir wollten erst die Fragen klären, Mister Clifton!«

»Ich höre. Was wollen Sie wissen?«

»Sagen Sie mir bitte, wie der Abteilungsleiter der optischen Abteilung bei JOHNSON & JOHNSON heißt!«

»William Blaker, 53 Jahre alt, etwa zwei Meter groß, verheiratet, drei Töchter und einen Sohn, hat eine Vorliebe für Modelleisenbahnen. Genügt das?«

»Und wie ist der Vorname des Leiters ihrer Kreditabteilung?«

»Auch damit kann ich dienen. Mister Stoplix heißt mit Vornamen Igor, ist ein ausgesprochen ungeselliger Mensch und knapp über sechzig. Witwer und Vater einer Tochter, die mit einem Pferdehändler verheiratet ist.«

»Danke, Mister Clifton. Entschuldigen Sie bitte diese etwas ungewöhnliche Prozedur, aber ich wollte sichergehen, daß Sie jener Clifton sind, der als Hausdetektiv bei JOHNSON & JOHNSON arbeitet.«

»Ich nehme an, Sie haben einen triftigen Grund für Ihre Vorsichtsmaßnahme.«

»Es wäre mir peinlich gewesen, einem fingierten Anruf zum Opfer zu fallen.«

»Und wer sollte sich für mich ausgeben?«

»Leute, die Sie scheinbar verärgert haben.«

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«

»Trotzdem möchte ich Sie warnen!«

»Warnen? Vor was oder vor wem?«

»Vor einem Mann namens Jack Mason. Er betreibt eine Kunsthandlung…«

»… am Kingsplace.«

»Sie wissen?«

»Nur das, Mister Newton, mehr nicht. Wie kamen Sie zu ihm?«

»Er gab mir den Auftrag, einen Bericht über Sie zusammenzustellen.«

»Das ist interessant. Haben Sie?«

»Ja. Mit vielen unwichtigen und zum Teil erfundenen Details.«

»Ich bin ehrlich überrascht.«

»Es ist auch das erste Mal in meiner Praxis, daß ich ein sogenanntes ›Opfer‹ informiere.«

»Vielen Dank. Und der Grund hierfür?«

»Weil mich a) Jack Mason belogen hat und b) weil ich inzwischen weiß, daß Sie ein namhafter Berufskollege sind. Ich erinnere mich, daß Sie es waren, der das Rätsel der Insel Turny gelöst hat.« (Diesen Fall löst Perry Clifton in dem Buch »Die Insel der blauen Kapuzen«.)

»Ich hatte Glück, Mister Newton!«

»Keine falsche Bescheidenheit.«

»Sie sagten, Jack Mason habe Sie belogen. Galt das in Bezug auf meine Person?«

»Ja. Er behauptete, Näheres über Sie wissen zu müssen, weil Sie angeblich seine Schwester heiraten wollten.«

»Und das haben Sie nicht geglaubt!«

»Nein. Er wollte zum Beispiel wissen, wie Ihr Familienstand sei. Außerdem konnte ich feststellen, daß er keine Schwester hat.«

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«

»Und ich werde zum Gott der Detektive beten, daß er mir diese Indiskretion nachsieht.«

»Er wird es sicher tun.«

»Sind Sie hinter Mason her?«

»Eher umgedreht. Auch wenn ich noch nicht weiß, warum.«

»Ach …«

»Ja, vielleicht hat er eine grundsätzliche Abneigung gegen Kaufhausdetektive.«

»Sollten Sie irgendwann meiner Unterstützung bedürfen — meine Telefonnummer haben Sie ja.«

»Okay, Mister Newton — und nochmals besten Dank.«

20 Uhr, Ereignis Nr. 2: Abendessen für einen alten Mann

Der Raum war fensterlos.

Für Belüftung und entsprechende Temperatur sorgte eine Klimaanlage. Licht spendete eine in die Decke eingelassene Lampe, die, ebenso wie die wacklige Stehlampe, von einem Doppelschalter neben der Couch bedient werden konnte.

Es gab ferner einen Plüschsessel, zerschlissen und altersschwach, einen Tisch, einen Stuhl mit Rohrgeflecht, ein Gestell mit Zeitungen, Büchern und Radioapparat sowie einen zweitürigen Schrank.

Die Tür zwischen Schrank und Couch führte zu einem weiteren fensterlosen Raum, einer Kombination von Bad und Toilette.

Der einzige Bewohner dieser bescheidenen Räumlichkeiten war ein alter Mann zwischen sechzig und fünfundsechzig Jahren. Mittelgroß, eher hager als kräftig, mit wirren weißen Haaren, wirkte er älter, als er in Wirklichkeit war. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert und glich einem Tippelbruder, dem sein Äußeres ebenso gleichgültig war wie die Meinung der Menschen, die ihm begegneten. Und doch schien der alte Mann ein Unternehmen ganz eigener Art vorzubereiten.

Aus dem Rohrgeflechtstuhl hatte er ein Bein herausgebrochen, um das er in diesem Augenblick ein dunkelblaues Frotteetuch wickelte. Am oberen und unteren Ende verknotete er es mit zwei Schnüren, die frappierende Älmlichkeit mit Schnürsenkeln aufwiesen. Minutenlang betrachtete er sein Werk und wog es abschätzend in der Hand. Dann schwang er es wie eine Keule durch die Luft. Er tat es widerwillig und ohne viel Kraft. Und aus seiner Miene sprach deutliche Abneigung gegen das, was er vorhatte.

Er haßt Roheit und Gewalt. Trotzdem …

Mit einer müden Handbewegung legte er die primitive »Waffe« neben sich auf die Couch. Als sein Blick auf den jetzt dreibeinigen Stuhl fiel, schüttelte er den Kopf.

Der Stuhl mußte weg.

Er trug ihn ins Bad und setzte sich wieder auf die Couch. Noch zwei Minuten bis acht …

Gedankenverloren starrte er auf die dicke Holzbohlentür, an der es weder einen Drehknopf noch eine Klinke gab.

Noch eine Minute bis acht …

Sie waren mit dem Essen immer pünktlich, das mußte man ihnen lassen. Pünktlich waren sie. Alle beide.

Noch dreißig Sekunden …

Der alte Mann erhob sich, ging an die Tür und preßte das Ohr gegen das Holz. Ein leises, rhythmisches Rumpeln war zu hören. Er kannte dieses Geräusch, ohne zu wissen, was es bedeutete.

Es war immer da. Immer. Tag und Nacht. So wie er, der Tisch, das Radio und seine Ungewißheit über sein Schicksal da waren. Früher waren es auch Wut, Zorn und Verzweiflung. Doch dann dachte er an sein Herz, das manchmal so komisch hämmerte (obwohl Dr. Molquist behauptete, er sei der Typ, der hundert Jahre lebe), und er hatte beschlossen, das ihm unverständliche Geschehen ruhig und gelassen hinzunehmen. Daran hatte er sich auch gehalten — bis heute. Und er wußte selbst nicht, warum er nicht mehr tatenlos abwarten wollte, was mit ihm geschah.

Waren es die Nachrichten der BBC? (Obwohl er sie täglich hörte!)

Oder der Bericht über das Wetter? (Wie lange war es genau her, daß er zum letzten Mal den Himmel gesehen hatte?)

War es vielleicht die Vorschau auf die Ostasienausstellung?

Er wußte es nicht mehr. Das Gefühl, handeln zu müssen, war ganz plötzlich da.

Schon acht vorbei … oder um korrekt zu sein: 20 Uhr …

20 Uhr und 15 Sekunden

20 Uhr und 20 Sekunden

20 Uhr und 30 Sekunden

Wo blieb das metallische Klirren, das wie das Zufallen einer Eisentür klang?

20 Uhr und 40 Sekunden

20 Uhr und 45 Sekunden

Eine Minute nach 20 Uhr

Er hatte es oft abgestoppt. Vom Klirren bis zum Schließen seiner Tür vergingen immer genau fünfunddreißig Sekunden. Das heißt, nur dann, wenn der Mürrische kam. Bei dem anderen dauerte es immer nur fünfundzwanzig Sekunden.

20 Uhr und … da war es, das Klirren.

Der Alte schaltete die Deckenbeleuchtung aus,

rannte nach nebenan und drehte den Wasserhahn auf, atemlos, bebend vor Aufregung, ergriff er auf dem Rückweg das umwickelte Stuhlbein und erreichte gerade noch rechtzeitig die Tür.

Er hob die zitternde Hand mit der Stuhlbeinkeule,

der Schlüssel drehte sich,

die Tür wurde aufgestoßen,

ein Mann mit einem Tablett trat ahnungslos herein,

hörte das Rauschen des Wassers und rief mürrisch und ungeduldig:

»He, Alter, das Essen!«

Da schlug der Arm des alten Mannes zu. Von ganz allein … Es gab zuerst ein dumpfes Geräusch, dann ein Klirren und Splittern; und mit einem leisen Stöhnen brach der Mürrische zusammen.

Entsetzen,

Schreck,

Verwunderung,

Ekel und

Erbarmen überkamen den alten Mann. Und dann war nur noch das Gefühl grenzenloser Enttäuschung in ihm. Der Essenbringer hatte im Fallen mit seinem Körper die Tür zugeworfen.

Die Tür seines Gefängnisses, die auf dieser Seite weder Drehknauf noch Klinke aufwies.

Sekunden verrannen.

Sekunden absoluter Hilflosigkeit. Das Stuhlbein war der Hand des alten Mannes längst entglitten, lag jetzt, zusammen mit den Scherben der kleinen, blaugemusterten Teekanne, zwischen Toastbroten, Wurst und Käse.

Plötzlich kam Leben in den Weißhaarigen. Er stürzte ins Bad, drehte den noch immer zischenden Wasserhahn zu, feuchtete ein Handtuch an und preßte dieses wenig später dem Niedergeschlagenen auf die Stirn und gegen die Schläfen.

Als er dann die Scherben zusammenlas, fiel sein Blick auf eine hellbraune, schon abgewetzte Lederhülle. Wie hypnotisiert saugten sich seine Blicke daran fest … Kein Zweifel, sie mußte seinem Widersacher gehören. Anscheinend war sie ihm während des Niederstürzens aus der Tasche geglitten.

Er griff danach, schlug sie auf.

Es war ein Führerschein. Von einem kleinen Foto sah ihm das Gesicht des jetzt vor ihm liegenden Mürrischen entgegen. Und zum ersten Mal erfuhr er, wie der Mann hieß: Charly Webster.

Und in diesem Augenblick begann sich Charly Webster alias Charly Bell zu regen. Aus dem flachen Atmen wurde ein tiefes Luftholen, er stöhnte — und schlug die Augen auf.

Fragend starrte er den weißhaarigen Mann an, der vor ihm kniete. Noch einmal preßte er die Augen zusammen, dann kehrte schlagartig die Erinnerung zurück. Der Alte hatte ihn niedergeschlagen …

Seine Hand fuhr zur Stirn, zuckte zurück. Das nasse Tuch irritierte ihn. War er verletzt?

»Tut mir leid, Mister Webster. Haben Sie Schmerzen?«

Charly Webster wollte den Kopf schütteln, doch als er den heißen Schmerz fühlte, der ihm gleich einem Blitzschlag vom Hinterkopf zur Stirn fuhr, ließ er es sein. »Es geht!« antwortete er. Und ohne jeden Vorwurf, eher erstaunt, fragte er: »Sie haben mich niedergeschlagen?«

Der alte Mann nickte. Ohne Genugtuung, ohne Triumph.

»Und warum? Aus Rache? Aus Wut?«

»Ich wollte raus, Mister Webster! Nur aus diesem Grund!«

»Und warum sind Sie noch hier?« Charly lag nach wie vor auf der gleichen Stelle.

»Sie haben dummerweise mit ihrem Körper die Tür zugeworfen.«

»Womit haben Sie mir eigentlich den Schädel einschlagen wollen?« Webster richtete sich ächzend auf und tastete seinen Kopf ab. Und plötzlich kamen ihm Erinnerungen. Wie lange war es her, daß er das gleiche getan hatte? Einen Tag? Zwei Tage?

Der alte Mann hielt ihm das umwickelte Stuhlbein entgegen. Charly schüttelte ein wenig den Kopf. »Sie sind anscheinend ein großer Menschenfreund«, sagte er. »Ich hätte das Frotteetuch sicher weggelassen.«

»Ja. Deshalb stehen wir wohl auch auf verschiedenen Seiten des Gesetzes, Mister Webster.«

Zum ersten Mal fiel es Charly auf, daß ihn der alte Mann ständig bei seinem Namen nannte. Hatte er etwa in seiner Ohnmacht gequasselt? »Woher wissen Sie meinen Namen?« Der Weißhaarige warf ihm die Lederhülle hin.

»Nachdem Sie sich nie vorgestellt haben, war ich so frei, Ihre Personalien dem Führerschein zu entnehmen.«

Charly Webster steckte das Dokument ein.

»Und jetzt verraten Sie mir, warum ich seit Monaten hier festgehalten werde!«

»Das kann ich nicht! Nicht mal aus Dankbarkeit für das Frotteetuch! Der Chef würde mir ein altes Auto um den Hals binden und mich in der Themse versenken.«

»Ist der Mann mit den Goldzähnen Ihr Chef?«

Charly stieß ein höhnisches Lachen aus. »Der und Chef. Der tut höchstens mal so …« Als habe er schon zuviel gesagt, kniff er die Lippen zusammen und erhob sich.

»Wollen Sie schon gehen?« fragte der alte Mann, und zum ersten Mal kam es Webster zu Bewußtsein, daß er im Augenblick ebenso gefangen war wie sein Gegenüber.

Ohne Gemütsbewegung setzte er sich in den Sessel. »Ich nehme an, daß man mich bald vermissen wird.«

»Sie wollen mir also wirklich nicht verraten, warum ich hier gefangengehalten werde. «

»Nein, Mister!«

»Da Sie sicher das sind, was man einen Gangster nennt, haben Sie doch bestimmt auch eine besonders enge Beziehung zu Geld!«

Zum ersten Mal sah der Weißhaarige den mürrischen Webster lächeln. Das heißt, eigentlich war es mehr ein triumphierendes Grinsen. »Sie haben recht, alter Mann. Ich habe eine sehr enge Beziehung zu Geld. Aber wer hat die nicht?«

»Zum Beispiel ich!«

»Dann sind Sie eine Ausnahme!«

»Schaffen Sie mich hier heraus, und ich zahle Ihnen tausend Pfund!«

»Nun, das ist immerhin schon das Doppelte von dem, was Sie mir das letzte Mal geboten haben.«

»Tausend Pfund!« wiederholte der alte Mann sein Angebot. Websters Grinsen hatte sich verstärkt. »Für tausend Pfund lasse ich mir nicht mal ein Haar ausreißen. Es hilft Ihnen auch nichts, wenn Sie mir fünf- oder zehntausend Pfund bieten. Ich bin, wie man so schön sagt, unbestechlich!«

In diesem Augenblick flog krachend die Tür auf.

Joe Melvin sah höhnisch auf die Szene; die unvermeidliche Zigarette in den Mundwinkeln.

»Gibt’s dafür ‘ne Erklärung?« fragte er.

Während sich der Weißhaarige ostentativ abwendete, erwiderte Charly Webster, ohne das Gesicht zu verziehen: »Die gibt es. Der alte Mann hat mir ein Stuhlbein auf den Schädel geschlagen!«

Joe Melvin bekam Stielaugen, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ihm die Zigarette aus dem Mund gefallen.

»Was hat er?« stotterte er.

»Du hörst doch sonst nicht schwer!« stellte Charly giftig fest und drängte sich an Melvin vorbei aus dem Raum. Nach einem letzten fassungslosen Blick auf den Gefangenen warf der »Geschäftsführer« die dicke Tür zu und folgte Webster.

An ein neues Abendessen für den alten Mann dachte keiner.

Nicht Webster,

nicht Melvin und

nicht einmal der alte Mann selbst.

21 Uhr 35, Ereignis Nr. 3: Warum Arthur Jaggers die Polizei rief

Jahrelang hatte Arthur Jaggers im KING JAMES HOTEL gearbeitet. Zuerst als Aushilfskellner, später als Abendkellner und zuletzt über ein Jahr in der Bar. Da Arthur zu dieser Zeit unverheiratet war und sehr bescheiden lebte, konnte er eine Menge Geld sparen. Als er dann Elaine Parker kennenlernte und heiratete — sie war als Zuschneiderin bei fiSH & LANGfiELD beschäftigt —, sah er nur noch ein Ziel vor Augen: ein eigenes kleines Hotel. Es mußte nicht groß sein. Zehn bis fünfzehn Zimmer für den Anfang wären ihm gerade recht gewesen.

Vier Jahre arbeiteten Elaine und Arthur, was das Zeug hielt. Letzterer hatte es sogar zum »Chief« der Etagenkellner gebracht, eine Position, die es im KING JAMES erst seit kurzem gab.

Und dann kam der Tag, an dem sie im DAILY MIRROR jene Anzeige lasen, in der für das Hotel LITTLE STAR im Stadtteil Lambeth ein Käufer gesucht wurde. Sie fuhren sofort hin. Es handelte sich um ein kleines Haus mit neunzehn Zimmern und allem, was dazugehörte. Doch Arthurs Begeisterung erfuhr einen schmerzhaften Dämpfer, als er den Preis hörte. Das Hotel kostete genau zehntausend Pfund mehr, als er aufzubringen imstande war. Und der greise Mister Hazelwood ließ nicht mit sich handeln. Nicht einen Penny wollte er vom Preis heruntergehen.

Tage vergingen, und Arthur Jaggers war nicht anzusprechen. Weder Elaine vermochte ihn aufzuheitern noch seine sonst so heißgeliebten Windhundrennen.

Mit einem Wort: Das Hotel LITTLE STAR war für ihn zu einer fixen Idee geworden. Er schlief kaum noch und rechnete im Geist zum tausendsten Mal die Möglichkeiten durch. Jeden Tag rief er Mister Hazelwood an und erkundigte sich, ob das Haus schon verkauft sei. Und er fühlte unglaubliche Erleichterung, wenn Mister Hazelwood »Nein« sagte.

Er lief von Bank zu Bank und erkundigte sich nach Krediten, doch es war alles umsonst. Arthur Jaggers war kaum noch eines vernünftigen Gedankens fähig.

Und da geschah es.

Er verwechselte die Zimmernummern und betrat eines abends statt des Appartements 21 B der Lady 5. das Appartement 22 B, in dem ein libanesischer Kaufmann namens Sabai Tamate logierte. Ein reicher Mann aus Beirut, der sich besonders durch großzügige Trinkgelder beliebt gemacht hatte.

Dem Trällern und dem Wasserrauschen nach zu urteilen, saß der arabische Kaufmann ohne Zweifel in der Badewanne. Arthur wollte sich schon zurückziehen, als sein Blick auf den kleinen marmornen Rauchtisch vor dem Kamin fiel.

Er spürte, wie sein Mund trocken und seine Hände feucht wurden. Mit abgehackten Bewegungen, ähnlich denen einer Marionette, näherte er sich dem Tisch.

Der dicke Smyrnateppich schluckte jeden Schritt.

Der Mann in der Badewanne trällerte noch immer eine orientalische Weise.

Auf der Platte aus rotem Marmor lagen mehrere Ringe mit hochkarätigen Brillanten, und aus der scheinbar achtlos hingeworfenen Brieftasche war ein dickes Bündel Banknoten gerutscht. Jaggers sah auf den ersten Blick, daß es mehr Geld war, als er in zehn Jahren verdiente. Wie unter dem Zwang einer Hypnose beugte er sich vor, nahm das Banknotenbündel und die Ringe an sich und verließ das Zimmer.

Der alte Hazelwood würde staunen …

Bereits zwei Stunden später saß er auf der Polizeistation in der St. James-Street.

Obwohl Arthur Jaggers milde Richter fand, waren die Folgen für ihn furchtbar. In Anbetracht seiner bisherigen Unbescholtenheit kam er mit sechs Monaten Gefängnis davon.

Einhundertachtzig Tage und Nächte.

Einhundertadrtzig mal vierundzwanzig Stunden, in denen er unablässig darüber nachdachte, wie es zu diesem Diebstahl hatte kommen können.

Er haderte mit sich und seinem Schicksal.

Als ihn Elaine nach seiner Strafzeit vom Gefängnis abholte, war er um Jahre gealtert. Und doch sollte dieser Tag ein Tag des hoffnungsvollen Neubeginns werden.

Elaine führte ihn nicht in ihre bisherige Wohnung in der Ribeck-Street, sondern nannte dem Taxifahrer eine Adresse in Eastend. Als Jaggers verwundert fragte, schüttelte Ealine nur den Kopf und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

Die Campell-Street in Eastend war weder eine vomehme noch besonders saubere Straße, und auch die Nummer 12 sah von außen weder vornehm noch sonderlich gepflegt aus, aber es stand HOTEL CENTRAL auf einem Leuchtschild, und noch ein Name war zu lesen: »Inh. Elaine Jaggers«.

Arthur war im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, als ihn Elaine durch die Zimmer, Bäder und die sogenannten Wirtschaftsräume führte. Jede Gardine, jeden Vorhang und jedes Tischtuch hatte sie selbst genäht.

Für Arthur Jaggers aber war es der größte Tag in seinem bisherigen Leben. Elaine erzählte ihm dann von den dreitausend Pfund, die ihr eine Tante in Edinburgh hinterlassen hatte, und davon, wie sie in den Monaten seiner Abwesenheit heimlich nach einem kleinen Haus gesucht hat.

Das alles lag über achtzehn Monate zurück, und die Jaggers hatten inzwischen einen neuen Bekannten- und Freundeskreis gesucht und gefunden. Selbst die Beamten der an der Ecke Campell-Simpson-Street gelegenen Polizeistation kamen oft zu einer Tasse Tee herein. Sie waren von Arthur über seinen Fehltritt aufgeklärt werden, und sie glaubten ihm, daß er in Wirklichkeit kein Freund von krummen Sachen war. Manchmal ging er auch gemeinsam mit Sergeant Haarth zum Windhundrennen. Und Elaine war glücklich darüber, daß die schlimmen Erinnerungen an seine Gefängniszeit, wenn auch noch nicht zu verblassen, so doch an Aufdringlichkeit zu verlieren begannen.

Während sie und ein portugiesisches Mädchen, das sie engagiert hatten, für die Reinigung der neun Zimmer und die Wäsche sorgten, war Arthur für den Empfang, das Frühstück und die schriftlichen Formalitäten der Gäste verantwortlich. Meist waren es durchreisende Vertreter, die nur für eine Nacht blieben. Manchmal aber kamen auch finstere Gesellen, bei denen Arthur dann sagte, daß sie bis unters Dach ausgebucht seien. Er sagte es auch dann, wenn kein Zimmer belegt war; doch das wurde immer seltener. Die freundliche Bedienung und vor allem die pieksauberen Zimmer Sprachen sich in Vertreterkreisen bald herum.

Und dann kam jener 4. April. Ein Donnerstag, der wie jeder andere Donnerstag begann und an dem Arthur, wie an den Donnerstagen zuvor, mit Sergeant Haarth zum Windhundrennen fuhr.

Es war kurz nach 18 Uhr. Elaine saß unten in der kleinen Empfangsloge, die sonst Arthurs Reich war, als sich die Tür öffnete. Sie hörte schwere Schritte.

»Abend, Madaml Haben Sie noch ein Zimmer frei?« Er hatte eine fette Stimme, und sie sah in ein Paar unruhig flackernde Augen. Ein unglaublich dickes Gesicht mit einem unglaublich schwabbeligen Unterkinn beugte sich zu ihr.

Elaine wollte rein gefühlsmäßig »Nein« sagen, nickte dann aber doch. An diesem Abend waren noch sechs Zimmer frei.

»Ein Pfund pro Tag einschließlich Frühstück« hörte sie sich weniger freundlich als üblich sagen.

»Okay, ich nehm’ es!« sagte der Dicke.

Sie drehte ihm das Buch zu. »Bitte, tragen Sie sich hier ein!« Sehr zögernd nahm er den ihm entgegengehaltenen Kugelschreiber in seine dicken Finger, drehte ihn mehrmals hin und her, so, als müsse er erst noch überlegen, was er schreiben solle. Mühsam kritzelte er dann in Druckbuchstaben »John Smith, Sheffield« auf die Zeile, drehte das Gästebuch wieder um und legte den Kugelschreiber darauf.

»Wo haben Sie Ihr Gepäck, Mister … Smith?«

»Gepäck? Was für Gepäck?«

Elaine schluckte. »Ich meine Ihr Reisegepäck?!«

»Habe ich nicht«, antwortete der Dicke, und als er Elaines verständnislosen Blick sah, setzte er rasch hinzu: »Meine Wohnung wird zur Zeit renoviert! Deshalb!!«

»In Sheffield?« entfuhr es Missis Jaggers, und sie biß sich im gleichen Augenblidc auf die Lippen. Doch diesmal schaltete der Dicke schneller. Ja, er grinste sogar nachsichtig. »Nein, in London, Madam! Ich komme aus Sheffield, habe hier eine Wohnung gemietet und lasse sie im Augenblick herrichten. Zufrieden?«

Elaine rang sich ein verständnisvolles Lächeln ab. »Natürlich, war eine dumme Frage von mir.« Sie griff zum Schlüsselbrett und nahm den Schlüssel für Nr. 4.

»Ich gebe Ihnen Zimmer 4. Ein ruhiges Zimmer zum Hof. Darf ich noch fragen, wie lange Sie bleiben wollen?«

»Vielleicht eine Woche … vielleicht auch zwei. Das kommt ganz drauf an …«

»Bei Längermietem ist eine Anzahlung üblich, Mister Smith.«

Der Dicke nickte. Dann wendete er sich etwas zur Seite, holte einen hellen Umschlag aus der Tasche, feuchtete Daumen und Zeigefinger an und fischte aus dem Umschlag eine 10-Pfund-Note. »Das wird wohl reichen!«

Elaine Jaggers nickte und nahm den funkelnagelneuen Schein entgegen.

»Zimmer 4 ist direkt gegenüber dem Treppenaufgang. Möchten Sie Kaffee oder Tee zum Frühstück?«

»Tee!« brummte die fette Stimme, während sich der Mann daran machte, das erste Stockwerk zu erklimmen. Elaine sah ihm nach, bis er im Zimmer verschwunden war. Dann erst legte sie den Geldschein in eine Kassette, die sie unter dem engen kleinen Tresen aufbewahrte.

Der dicke Mann, der sich John Smith nannte (Elaine war sicher, daß es sich um einen falschen Namen handelte) und der angeblich aus Sheffield kam, war ihr nicht geheuer. Und sie atmete erleichtert auf, als pünktlich um 21 Uhr Arthur eintraf. Er war sichtlich beschwingt und sagte ihr auch sofort den Grund: »Stell dir vor, Missis Jaggers, ich habe zehn Pfund gewonnen!«

»Und Mister Haarth?«

»Der hat zwei Pfund verloren! Was ist, Liebes, bedrückt dich was?« Arthur bemerkte erst jetzt, daß mit Elaine irgendwas nicht zu stimmen schien. »Hattest du Ärger mit Gästen?« forschte er besorgt und schimpfte sich innerlich einen Egoisten, der nur an das eigene Vergnügen dachte.

Elaine rückte. »In Zimmer 4.« Arthur nahm sich das Buch.

»John Smith, Sheffield«, las er. »Was ist mit ihm?«

Seine Frau zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nicht sagen, Arthur. Der Mann ist mir unheimlich … Er heißt bestimmt nicht Smith, und er kommt bestimmt auch nicht aus Sheffield.«

Jaggers versuchte sie zu trösten. »Mach dir nichts draus. Morgen sind wir ihn wieder los.« Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, er will länger bleiben. Dabei hat er nicht einmal Gepäck. Nicht die kleinste Tasche. «

»Wie lange?«

»Das konnte er noch nicht sagen. Zehn Pfund hat er vorausbezahlt.« Sie holte die Banknote aus der Kassette.

Arthur nahm sie ihr aus der Hand und betrachtete sie. Er tat es, wie man eine seltene Muschel betrachtet, die man am Strand findet und die man ans Ohr hält, um festzustellen, ob sie rauscht. Nachdenklich legte er sie dann in die Kassette zurück und sagte zu Elaine: »Ich werde mir den Burschen mal aus der Nähe betrachten.«

Als er zwei Minuten später an die Tür der Nummer 4 klopfte, hörte er eine erschreckene Stimme ängstlich fragen: »Wer ist da?«

»Ich bin’s, der Inhaber. Es ist noch etwas zu klären, Mister Smith!«

»Moment!«

Mister Jaggers hörte das Bett ächzen.

Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und ein mißtrauisches Auge musterte ihn durch die nur spaltbreit geöffnete Tür. Jaggers nickte freundlich: »Guten Abend, Mister Smith. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie so spät noch einmal stören muß, aber meiner Frau ist da ein kleiner Irrtum unterlaufen.« Behutsam drückte er während seiner Rede die Tür auf, von der der Dicke nur widerstrebend zurückwich.

»Was für ein Irrtum?« wollte er wissen und musterte Arthur Jaggers argwöhnisch.

»Sie sagten, daß Sie eventuell auch zwei Wochen bleiben würden. In diesem Fall ist es üblich (obwohl es das nicht war), daß die Vorauszahlung statt …«

Der Dicke ließ ilm nicht aussprechen. »Verstehe!« Er ging zum Stuhl, über dessen Lehne sein Jackett hing, und entnahm dem schon bekannten Umschlag eine weitere 10-Pfund-Note.

»Besten Dank! Und angenehme Nachtruhe, Mister Smith!« wünschte Jaggers und empfahl sich. Elaine sah ihm neugierig entgegen. »Und?« fragte sie nur. Arthur: »Der zittert vor Angst!«

»Angst?«

Arthur nickte. »Er ist sicher vor irgend jemandem davongelaufen und will sich hier bei uns versteckt halten.«

Während er das sagte, hatte er die erste 10-Pfund-Note der Kassette entnommen und hielt sie vergleichend neben die neue.

»Was ist denn, Arthur? Ist das Geld nicht echt?« Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Elaine, ich weiß es nicht.« Zum wiederholten Male roch er an den Geldscheinen. »Es ist nur so ein Gefühl, weißt du. Irgendein verdammtes Gefühl hier drin«, er klopfte sich auf die Brust, »sagt mit, daß mit dem Geld etwas nicht stimmt.«

»Dann ruf doch Mister Haarth an!«

»Der hat heute keinen Dienst mehr, und außerdem ist der kein Falschgeldfachmann. Aber du hast trotzdem recht. Ich rufe mal auf der Station an.«

Er wählte die entsprechende Nummer.

Sergeant Molton meldete sich sofort, und Jaggers erklärte ihm mit gedämpfter Stimme, um was es ging. Molton schien auffällig interessiert, der Teufel wußte warum, und versicherte, daß er noch am Abend mit einem Fachmann vorbeisehen würde.

Sie kamen kurz vor 23 Uhr. Es waren Sergeant Nick Molton, Policeman Wabberty und Dr. Berry Tyler von Scotland Yard. Letzterer war einer der dort amtierenden Falschgeldexperten. Arthur Jaggers legte ihnen die beiden Scheine vor. Dr. Tyler öffnete den mitgebrachten Koffer, dessen Inneres aussah wie ein winziges Laboratorium.

»Ich wollte nur ganz sichergehen. Es ist Falschgeld. Aber meisterlich nachgemachtes!« sagte er nach zehn Minuten und machte dabei ein sehr ernstes und besorgtes Gesicht. »Wirklich meisterhaft!« wiederholte er. Und zu Jaggers gewandt: »Sie hatten eine verdammt gute Nase, Mister Jaggers.«

Arthur Jaggers fühlte, wie ihm die Röte in die Wangen schoß. »Er hat einen dicken Umschlag davon in der Tasche!«

»Auch größere Scheine!« pflichtete Elaine bei. Sie hatte bei den Worten des Yard-Mannes große Genugtuung verspürt.

»Dann wollen wir mal!« Sergeant Molton nickte Wabberty zu. Und Dr. Tyler fragte Jaggers: »Haben Sie den Eindruck, daß der Mann bewaffnet ist?«

Arthur war zuerst ratlos. Nach einer kurzen Pause des Überlegens meinte er dann: »Das ist eine Frage, die ich beim besten Willen nicht beantworten kann. Wirklich nicht. Mir fehlt da einfach die Erfahrung. Ich habe nur bemerkt, daß er schreckliche Angst davor zu haben scheint, er könnte hier entdeckt werden.«

»Also ein Ganove, der sich vor einem oder mehreren Ganoven versteckt hält. Macht er diesen Eindruck auf Sie?«

Jaggers stimmte Dr. Tyler zu.

»Nun, bei uns wird er für einige Zeit sehr sicher sein!«

Der Sergeant grinste und wandte sich der Treppe zu. Die beiden anderen Beamten folgten ihm leise.

Keiner von ihnen bemerkte, wie sich Jaggers Lippen bei Moltons Bemerkung für Augenblicke verzogen und wie Missis Jaggers ihre Hand behutsam auf die ihres Mannes legte.

Arthur Jaggers wußte, wie es war, »gut aufgehoben« zu sein …

23 Uhr 10, Ereignis Nr. 4.- Nüchtlicher Besuch

Perry Clifton saß weltentrückt, ohne jedes Zeitgefühl, am Tisch und studierte die Fakten.

Er tat es seit gut drei Stunden.

Er nannte dieses Faktenstudium »Generalstabsspiel«. Vor ihm lagen unzählige kleine Kärtchen, die er wie bei einem Puzzle hin- und herschob. Auf jedem dieser Kärtchen standen Namen, Ereignisse, Orte und Zeitangaben.

Es gab auch Kärtchen mit Fragezeichen. Sie lagen dazwischen. Wenn er glaubte, für dieses Fragezeichen eine Lösung gefunden zu haben, dann wendete er die Karte um und beschriftete sie mit einem Namen, einem Ereignis oder einem Ort. So versuchte der Detektiv, Schritt für Schritt dem Geheimnis des unheimlichen Hauses näherzukommen. Doch es war, ein Irrgarten, war wie in einem Labyrinth, in dem er immer wieder auf Dinge stieß, die er schon wußte, ahnte oder vermutete. So kannte er zwar eine Menge Verdächtige, aber eine noch größere Menge Ungereimtheiten, die trotz aller Grübeleien ungereimt blieben.

So gab es in seinem Spiel nachweislich drei Hauptverdächtige: Joe Melvin, Charly Webster und Jack Mason. Letzterem räumte er, nach der Information durch den Detektiv Sam Newton, sogar eine besonders wichtige Funktion im Reigen der Verdächtigen ein — obwohl er ihn noch nicht persönlich kannte und Carpenter Lash ihn anscheinend für einen Gentleman hielt. Oder?

Ja, Carpenter Lash. Welche Rolle hatte man ihm zugeteilt? Und Miß Craig? Lash schien sie zu fürchten. Warum? Hatte auch sie eine Funktion in diesem undurchsichtigen Spiel? Und die wichtigsten und wohl auch entscheidendsten Fragen waren:

Wo war Gordon?

Was tat Gordon?

Warum hielt sich Gordon von Carpenter Lash fern?

Was veranlaßte Gordon seit Monaten, aus der Ferne zu operieren?

Wer von all diesen Leuten würde wohl den ersten großen Fehler machen?

Da klingelte es.

Perry Clifton, im Wirrwarr seiner Gedanken versunken, erschrak so heftig, daß ihm ein Stapel Karten aus der Hand fiel und er in völliger Fehleinschätzung der Akustik den Telefonhörer von der Gabel nahm. Das Freizeichen irritierte ihn. Da klingelte es zum zweiten Mal. Kein Zweifel, daß es sich um die Wohnungsklingel handelte. Er raffte eilig die Karten auf dem Tisch zusammen und warf sie in eine Schublade. Nebenbei ein rascher Blick zur Uhr. 23 Uhr 10. Keine besonders gute Zeit für Besuche.

Entweder war es der Telegrammbote, oder jemand hatte sich einen schlechten Scherz erlaubt. Sicher … Wer sollte ihn zu dieser Zeit noch besuchen? Mitten in diese Überlegung hinein klingelte es zum dritten Mal. Diesmal länger, aufdringlicher. Also doch ein Besucher.

Perry Clifton vermutete, daß der unten an der Haustür stand, und er schimpfte auf die »alte Festung«, in der es weder einen elektrischen Türöffner noch eine Sprechanlage gab. Doch der Besucher wartete schon vor der Wohnungstür.

»Mister Lash??« fragte Clifton überrascht und war es auch. »Bitte, treten Sie ein!«

Carpenter Lash trug noch immer den hellbraunen Tweedanzug mit den dunkelbraunen Noppen vom Nachmittag. Alles an ihm war Aufregung. Angefangen bei den nervösen Händen, dem Drehen des Kopfes und dem Flattern der Augenlider. Mit kurzen, hektischen Schritten schob er sich an Perry Clifton vorbei und ließ sich ohne weitere Aufforderung in einen Sessel fallen. Noch hatte er nicht ein Wort gesagt. Nun tat er es: »Bitte, verzeihen Sie mir, Mister Clifton, daß ich noch so spät störe. Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber es hat nicht geklappt. Ist Ihr Telefon kaputt? Es war immer besetzt. Ich bin ganz erledigt vom Suchen und Nachdenken. Ein Glück, daß gerade eine Frau mit einem Hund aus dem Haus kam, sonst hätten Sie noch herunterkommen müssen.« Lash sprach das alles in einer Tonlage und in einem Atemzug, abgehackt wie ein Telegraf, der Morsezeichen übermittelte.

»Ich mußte einfach noch heute abend mit Ihnen sprechen, Mister Clifton.«

»Mein Telefon ist nicht kaputt. Wahrscheinlich haben Sie die falsche Nummer gewählt.« Lash sah an ihm vorbei, und der Detektiv war nicht sicher, ob er seine Worte überhaupt verstanden hatte. Immerhin zuckte er mit den Schultern. Clifton fragte: »Möchten Sie einen Whisky?«

»Nein … Ein Glas Selters vielleicht. Haben Sie so was?«

Perry holte eine kleine Flasche Sodawasser aus dem Kühlschrank und ein Glas. Er schenkte ein. Lash hatte inzwischen einem winzigen silbernen Etui zwei rosa Pillen entnommen und warf sie sich in den Mund. Er trank das Glas Sodawasser in einem Zug leer. Dann tippte er sich mit dem Daumen dorthin, wo Clifton eigentlich den Blinddarm vermutete.

»Mit meiner Leber ist es ein Jammer!«

»Was ist denn geschehen, daß Sie so aufgeregt sind?«

»Ihr Besuch heute, Mister Clifton, hat mich ziemlich durcheinandergebracht!« Er unterstrich diese Feststellung durch heftiges Nicken.

»Das war nicht meine Absicht.«

»Mir ist einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen, was Sie erzählt haben … von Mister Bell, dem Hausmeister, der in Wirklichkeit gar nicht Bell heißen soll; und daß Sie es Melvin zutrauen, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Ja, und als Sie weg waren, habe ich noch eine Weile gewartet, damit es nicht so auffiel«, er verzog das Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen. »und dann habe ich Miß Craig nach Hause geschickt.« Er sah Clifton an, als erwarte er ein dickes Lob von ihm, doch der Detektiv war sich in diesem Augenblick noch gar nicht darüber im klaren (wie könnte es anders sein), worauf Mister Lash hinauswollte.

Da setzte sich Carpenter Lash ruckartig aufrecht und fixierte Clifton, als habe er vor, ihn zu hypnotisieren.

»Und dann habe ich gesucht!«

»Gesucht? Wonach gesucht, Mister Lash?«

»Ich habe Mister Gordons Büro durchgestöbert. Nach den Schlüsseln.« Seinem Kichern nach schien er Erfolg bei der Suche gehabt zu haben. Perry Clifton schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, gab er zu.

»Na, von Gordons Schlüsseln für alle Türen in Hackston.« Lash erhob sich, holte einen umfangreichen Schlüsselbund aus der Hosentasche und warf diesen mit einem triumphierenden »Da ist er!« Perry Clifton zu, der ihn geistesgegenwärtig auffing. »Hackston«, stand auf dem Plastikanhänger.

»Er steckte in einem Lederbeutel, und dieser lag in seinem Schreibtisch. Wie ein Detektiv habe ich mich bei der Suche gefühlt!« Lash strahlte und wußte wieder einmal nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte.

»Und was hätten Sie gesagt, wenn Miß Craig zufällig noch einmal zurückgekornmen wäre und Sie bei der Suche ertappt hätte?«

Schon allein der nachträgliche Gedanke an eine solche Möglichkeit lähmte Carpenter Lash so sehr, daß er sekundenlang bewegungslos dasaß. Wie aus Holz geschnitzt, fand Clifton, verwarf diesen Vergleich jedoch sofort wieder, weil Holzstatuen-Augen nie einen solch intensiven Schrecken wiedergeben konnten.

Die Erstattung löste sich. Lash schluckte und meinte mit rauher Stimme, daß ihm schon zur rechten Zeit etwas Rechtes eingefallen wäre. Und ein Quentchen energischer: »Bestimmt wäre mir etwas eingefallen.«

»Nun gut, Mister Lash, Sie haben also jetzt die Schlüssel für Hackston. Was versprechen Sie sich davon?«

Lash sah Clifton entgeistert an. Dann stotterte er: »Na … nachsehen will ich … nach dem Rechten.«

»Wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie heute nachmittag, daß Sie befürchteten, Melvin könne Ihnen den Zutritt verwehren.«

»Ich habe einen Plan, Mister Clifton. Und dazu möchte ich Sie engagieren.«

»Mich??«

»Ja, Sie sind doch ein Detektiv!«

»In einem Warenhaus!«

Lash wischte Cliftons Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Detektiv ist Detektiv!« Er griff in die Innentasche seines Tweedsakkos, holte eine Brieftasche heraus und entnahm dieser umständlich drei Geldscheine. Mit einer Geste, als würde er seine Miete bezahlen, blätterte er sie auf den Tisch. Nachdem er die Brieftasche wieder zurückgesteckt hatte, sah er Clifton mit Verschwörermiene an. »Ich engagiere Sie für dreißig Pfund! Sind Sie einverstanden?«

»Kommt ganz darauf an, was Sie vorhaben!«

»Ich werde morgen«, und hier runzelte Lash die Stirn wie Napoleon auf fast allen Gemälden, »Mister Melvin und Mister Bell …«

»Webster!« verbesserte Clifton.

»… und Mister Webster ganz offiziell zu mir nach London bitten. In mein Büro. Zu einer geschäftlichen Unterredung.«

»Einen Geschäftsführer kann man ja zu einer geschäftlichen Unterredung einladen, aber einen Hausmeister?«

»Ach ja, Sie haben recht!« sagte Lash und machte ein betretenes Gesicht. »So ein Mist. Was könnte ich denn sagen?«

»Darf ich einen Vorschlag machen?«

»Aber gern, bitte!!«

»Verlangen Sie von Melvin, daß er den Hausmeister mitbringt. Behaupten Sie, einige Kleinigkeiten mit ihm bereden zu müssen.«

»Das ist gut. So machen wir es!«

»Und wie geht es weiter?«

»Ganz einfach, wir werden nicht da sein.«

»Aha.«

»Ich werde nämlich mit Ihnen nach Hackston fahren und das Haus auf den Kopf stellen. Und dann werde ich herausfinden, ob mich Mister Melvin betrügt!« Lash sah Clifton erwartungsvoll an. Als er dessen Zögern bemerkte, erkundigte er sich: »Gefällt Ihnen mein Plan nicht?«

»Was geschieht mit den Männern, die im Haus arbeiten? Melvin wird sie doch sicher nicht allein lassen wollen.«

Carpenter Lash rückte eifrig. »Natürlich, das habe ich bedacht. Ich rufe morgen früh Melvin an und sage ihm, daß er den ganzen Laden für diesen einen Tag zumachen soll.«

»Die Arbeiter werden ihren Lohn wollen. Und auch das Mädchen, das als Empfangsdame und Telefonistin arbeitet.«

Lash antwortete leichthin: »Dann kriegen sie eben ihren Lohn.« Und bissig: »Ich will endlich sehen, woran ich bin!« Er ballte die Rechte zur Faust, ohne dabei im geringsten gefährlich auszusehen. »Und wehe, wenn ich Unregelmäßigkeiten entdecke.«

Perry Clifton jedoch hatte noch immer Bedenken. »Spätestens beim Eintreffen in Ihrem Büro werden Melvin und Webster feststellen, daß etwas nicht stimmt.«

»Ich mache einen Zettel für Melvin an die Tür. Darauf steht, daß ich noch eine Besorgung dazwischenschieben mußte und mich verspäten werde. Nun ja, im dichten Verkehr ist schon mancher über Stunden hängengeblieben.«

»Haben Sie bei Ihrer Rechnung nicht einen entscheidenden Posten übersehen?«

»Übersehen?«

»Miß Craig!«

Wieder produzierte Carpenter Lash jenes verschmitzte Grinsen, diesmal mit einer Spur Überlegenheit, so als wolle er dem Detektiv sagen, daß er in Wirklichkeit viel klüger sei, als er aussähe. Und mit einer theatralischen Handbewegung verkündete er: »Ich habe nichts übersehen. Miß Craig arbeitet freitags nie. Da hat sie ihren freien Tag!« Und nach einer Atempause: »Für mich der schönste Tag in der Woche!«

»Sie scheinen nicht gerade für Miß Craig zu schwärmen!« stellte Perry Clifton sachlich fest, während Lash das eben noch lustige Gesicht zu einer wilden Grimasse verzog.

»Sie ist arrogant und anmaßend. Ich kann sie nicht ausstehen!«

»Und warum werfen Sie sie dann nicht hinaus?«

Lash starrte eine Zeitlang seine Fingernägel an. Endlich antwortete er: »Es hat zwei Gründe, um ganz ehrlich zu sein. Erstens ist sie trotz ihrer Widerwärtigkeit äußerst tüchtig, und zweitens, was soll ich unserem besten Kunden sagen, auf dessen Empfehlung hin ich sie eingestellt habe?«

»Sie meinen Mister Mason?«

Lash nickte. »Ich würde den Mann ja vor den Kopf stoßen … Aber denken wir lieber an unser Unternehmen. Darf ich mit Ihrer Hilfe rechnen? Ich meine, ich will Sie ja zu nichts Ungesetzlichem überreden. Schließlich kann ich ja als Teilhaber eine Fabrikationsstätte der eigenen Firma besichtigen!« beteuerte der »Kaufmann von der traurigen Gestalt«, wie ihn Clifton insgeheim getauft hatte.

»Okay, ich bin dabei! Wann und wo wollen wir uns treffen?«

»Können Sie morgen früh um halb neun in meinem Büro sein?«

»Ja, natürlich!«

»Wir rufen Melvin an und sagen ihm, wann er in London sein soll. Und wenn er und Bell in Hackston wegfahren, sind wir schon dort. Das heißt, daß wir mindestens vier bis fünf Stunden Zeit haben, um uns umzusehen!«

»Der Plan ist nicht übel!« stimmte Clifton zu, und da er ja nicht zugeben konnte, daß er bereits einmal einen heimlichen Besuch gemacht hatte, fragte er scheinheilig: »Vielleicht gibt es Alarmanlagen! Was dann?« Lash nickte eifrig. »O ja, die gibt es. Aber ich weiß von Gordon, daß die sich immer erst um 18 Uhr automatisch einschalten. Bis dahin sind wir ja längst wieder in London. Übrigens, gestern abend haben sich die Alarmsirenen von selbst in Gang gesetzt.«

»Ach, gibt’s denn das?«

»Melvin hat es mir jedenfalls am Telefon gesagt. Aber es war wohl blinder Alarm. Sie haben jedenfalls nichts entdecken können.«

Perry Clifton gab sich Mühe, weiter einen unbefangenen Eindka zu machen.

»Vielleicht haben wir Glück und finden wirklich was«, sagte er und dachte daran, daß eigentlich nur Lash genau wußte, wonach er suchte …

Sie sprachen noch über dieses und jenes. Während der Detektiv eine Büchse Bier trank, schluckte Carpenter Lash noch zwei von seinen rosa Pillen.

Als ihm Perry Clifton unten an der Haustür die warme, weiche Hand zum Abschied schüttelte, hatte der neue Tag bereits begonnen.

Ein Freitag,

kein Freitag wie die üblichen,

ein besonderer Freitag, ein aufregender,

ein entscheidender Freitag für den »Fall«

und ein Freitag, der mit zwei Telefongesprächen begann.

Das erste Telefongespräch

Als BIG BEN die 6. Morgenstunde einläutete, beschloß Petrus, die Londoner mit einer Mischung aus steifem Wind und Schnee zu überraschen.

Das Schneegestöber war so dicht, daß sich die Autofahrer gezwungen sahen, das Ende dieser himmlischen Bescherung stehend am Straßenrand abzuwarten. 6 Uhr 20 war es soweit. Aus dem steifen Wind war ein harmloses Lüftchen und aus dem Schnee ein fadenfeiner, kühler Regen geworden. Gegen 7 Uhr klarte es auf, und der BBC-Sprecher hoffte sogar, daß es trotz allem noch ein schöner Tag werden könnte.

Perry Clifton hoffte es auch. Er hoffte es in erster Linie für Dicki, den er mit ein paar freundlichen Zeilen bat, auch heute nachmittag ein scharfes Auge auf die Kunsthandlung am Kingsplace zu werfen. Da er nach auswärts müsse, schrieb er, kenne er den genauen Zeitpunkt seiner Rückkehr noch nicht. Wäre er, Perry Clifton, nicht bis 17 Uhr 30 am Kingsplace, dann solle Dicki die Beobachtung abbrechen und mit einem Taxi nach Hause fahren. (Für diesen Zweck legte er dem Brief noch eine 1-Pfund-Note bei.)

7 Uhr 20: Clifton räumte gerade das Frühstücksgeschirr beiseite, da begann das Telefon zu rasseln.

Es war Scott Skiffer, der von Scotland Yard aus anrief.

»Ich hab’ mir gedacht, daß ich dich zu Hause antreffe. Was macht der Fall, Perry?«

»Wenn ich Glück habe, komme ich heute vielleicht ein Stück weiter. Ich fahre noch einmal nach Hackston!«

»Hast du neue Anhaltspunkte?«

Perry Clifton berichtete Skiffer von seinem Besuch bei Carpenter Lash und dessen nächtlichem Auftauchen bei ihm.

Der Inspektor hörte aufmerksam zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Und als Perry Clifton ihn jetzt fragte: »Was ist mit den Sachen, die ich dir gestern hinterlegt habe?« klärte ihn der Inspektor auf: »Die liegen noch vor mir. Ich bin gestern abend gar nicht mehr ins Büro gekommen.«

»Und ich dachte schon, du rufst deshalb in aller Frühe an.«

»Nein, aber das, was ich dir zu berichten habe, ist wahrscheinlich viel wichtiger und brisanter als alles andere. Zehn Minuten bevor ich dich anrief, erhielt ich einen Anruf hier aus dem Haus. Es war Carter Nowotny. Er gehört zu der Expertengruppe, von der ich dir erzählt habe. Sie sind auf eine glühendheiße Spur gestoßen.«

Perry Clifton hielt den Atem an.

»Hängt sie mit meinen Ermittlungen zusammen?«

»Vielleicht. Das muß sich erst noch herausstellen.«

»Um was geht es?«

»Sie wurden gestern spät abends von einer Polizeistation in Eastend informiert, daß ein gewisser Arthur Jaggers befürchtete, mit Falschgeld bezahlt worden zu sein.«

»Hat dieser Jaggers ein Geschäft?«

»Ein kleines Hotel in der Campell-Street in Eastend. Es handelte sich um zwei 10-Pfund-Noten. Dr. Berry Tyler ist sofort in die Campell-Street gefahren und hat die Scheine an Ort und Stelle untersucht.«

»Und?«

»Falschgeld! Falschgeld, das so meisterlich gemacht worden ist, daß dafür nach Meinung der Experten nur ein einziger Mann in Betracht kommt.«

»Jefferson!«

»Ja!«

»Und von wem stammten die Scheine?«

»Von einem Mann namens Paul Bromley. Er hatte insgesamt zweitausend englische Pfund und tausend kanadische Dollar bei sich.«

»Waren die Dollarscheine auch gefälscht?«

»Ebenso vollendet. Aus den Akten dieses Bromley geht hervor, daß er wegen angeblicher Helderei, Bandendiebstahls, illegaler Buchmacherei und sonstiger Delikte schon zwölfmal festgenommen wurde. Allerdings niemals wegen Falschgeldbesitz. In allen zwölf Fällen mußte man ihn wieder laufenlassen, weil die letzten Beweise fehlten.«

»Hat er wenigstens gesagt, von wem er die Blüten hat?«

»Von einem Franzosen. Nach seiner Version hat er diesem das Geld beim Pokern abgenommen. Wie der Franzose heißt und wo er zu finden ist, weiß er angeblich nicht.«

»Ihr seid sicher, daß er lügt?«

»Carter Nowotny hat ihn sechs Stunden verhört, aber es ist nichts aus ihm herauszukriegen. Er ist der Typ, der riesige Angst vor Schmerzen hat.«

»Du glaubst, daß er aus Angst schweigt?«

»Nowotny meint es. Er glaubt, daß er sich in dem Hotel versteckt hält, weil er sich vor jemandem fürchtet.«

Je länger dieses Gespräch gedauert hatte, um so sicherer wurde Perry Clifton in seiner Überzeugung, daß die Verhaftung dieses Bromley etwas mit »seinem Fall« zu tun haben mußte.

Ja, mußte!

Er dachte an den dunkelgrünen PEUGEOT mit der französischen Nummer, und er dachte daran, daß der gleiche Wagen auf der Straße nach Southampton …

»Ich höre dich förmlich denken!« sagte Scott Skiffer am anderen Ende des Drahtes.

»Dann laß mich laut denken, Scotty. Ein PEUGEOT steht, mit einer französischen Nummer versehen, im Hof des Brockton-Hauses in Hackston. In einem Haus, in dem man Geigen bunt anpinselt. Auf einer Straße wird der gleiche Wagen gefunden …«

»Der gleiche Wagentyp!« verbesserte Skiffer.

»Meinetwegen, auch das. Er hat zwar kein Nummernschild, dafür aber ist er dunkelgrün, hatte eine Ladung bunter Geigen und berühmt-berüchtigte Fingerabdrücke. Und nun scheint sich der Kreis fast zu schließen. Man entdeckt genial gefälschte Blüten, deren Spuren zu einem noch nicht identifizierten Franzosen führen … Verdammt, Scotty, hier fehlt doch nicht mehr viel!«

»Stimmt. Der Meinung ist unsere Expertengruppe ebenfalls. Aber eben doch einiges. Man will sich keinen Schnitzer leisten. Schon deshalb nicht, weil INTERPOL in dieser Angelegenheit mitarbeitet.«

»Man könnte den Fall sogar schon fast bis zu Ende konstruieren!« meinte Clifton hartnäckig.

»Aber nicht am Telefon!« warf der Inspektor rasch ein. »Außerdem sind schon viele Leute über das Wörtchen fast gestolpert. Warten wir ab, was du aus Hackston mitbringst. Es wird wohl gut sein, wenn du mich gleich informierst!«

»Okay, Scott. Und jetzt muß ich mich auf die Strümpfe machen, damit ich nicht zu spät komme. Der gute Lash bringt es fertig und bekommt im letzten Augenblidc noch Angst vor seinem eigenen Mut.«

Perry Clifton verschloß seine Wohnung, steckte den Brief an Dicki in den Nachbarbriefkasten und machte sich auf den Weg in die Hammers-Road.

Das zweite Telefongespräch

Der Regen hatte aufgehört, und immer öfter riß die Wolkendecke über London auf, so daß man blaßblauen Himmel sehen konnte. Als Perry Clifton in die Hammers-Road einbog, blitzte sogar der erste Sonnenstrahl auf. Ein Wetter wie aus dem meteorologischen Lehrbuch, Kapitel April.

Die Zeit: 8 Uhr 20.

Noch zehn Minuten bis zum vereinbarten Termin. Clifton bog auf den kleinen Privatparkplatz schräg gegenüber der Hausnummer 108 ein, wo er von einem alten Mann empfangen und streng gemustert wurde und der mit betont finsterem Gesicht an den Wagen trat.

»Sie wollen zur Firma BROWN & TOTTENCAMP, Sir?«

»Eigentlich nicht direkt.«

»Dies ist ein Privatparkplatz der Firma BROWN & TOTTENCAMP, Sir. Das Schild dort drüben macht es deutlich, Sir.«

»Aber es sind noch ziemlich viele Plätze frei!«

»Alles für die Kunden der Firma BROWN & TOTTENCAMP« Perry Clifton lächelte und ließ 20 Pence rasch und unauffällig in die zur Schale gewordene rechte Handfläche des betagten Parkwächters fallen. Der ließ die Münzen mit der Geschicklichkeit eines Jahrmarktzauberers von der rechten in die linke Hand gleiten, tippte mit zwei der fünf freigewordenen Finger an den Lackschirm seiner Mütze und meldete, diesmal mit freundlicher Miene: »Ich bin immer froh, wenn ich einen neuen Kunden der Firma BROWN & TOTTENCAMP begrüßen kann. Bitte, Sir, Ihr Platz ist Nummer 16!«

Perry Clifton las wieder im Vorbeigehen die Schilder des Pinanzberaters P. Christobal und der Ehestifterin Penelope Markton-Lisser. Und mit der gleichen flüchtigen Aufmerksamkeit ließ er während des Treppensteigens die verblichenen Fresken der hundefreundlichen Festgesellschaft an seinem Auge vorbeiziehen.

Wie gestern trat er ein, ohne anzuklopfen.

Miß Craigs Schreibtisch war peinlich sauber aufgeräumt.

Diesmal stand die Tür zu Lashs Zimmer offen, und Carpenter sah ihm bereits entgegen. Das sonst so verschmitzte und lustige Gesicht sah heute eher melancholisch, ja, mehr noch, direkt vergrämt aus.

»Guten Morgen, Mister Lash!«

»Guten Morgen, Mister Clifton.« Lash erhob sich und hielt dem Ankömmling seine warme, weiche Hand hin. Seine ganze Unentschlossenheit lag in einem kaum wahrnehmbaren Händedruck. Clifton nannte es immer eine »Aspikbegrügung«. »Sie machen nicht gerade ein glückliches Gesicht, Mister Lash. Fehlt Ihnen was?«

»Ich habe miserabel geschlafen«, seufzte Carpenter wehleidig. »Wissen Sie, mir schlagen solche Sachen immer entsetzlich auf den Magen.«

»Und auf die Leber!« ergänzte Perry Clifton mit einem nicht böse gemeinten Grinsen.

»Ja!« nickte Lash. Als der Detektiv jedoch vorschlug: »Dann blasen wir das Unternehmen Hackston eben ab!« schüttelte er energisch und mit scheinbar neu erwachtem Tatendrang den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Jetzt, wo Sie da sind, geht es mir schon wieder besser. Außerdem: Wer A sagt, muß auch B sagen!«

Lash deutete auf einen kleinen Lautsprecher, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand, und erklärte: »Drücken Sie auf den grünen Knopf, dann können Sie mithören.«

»Okay!« Perry Clifton zog sich einen der mit dunkelrotem Velours bezogenen Sessel heran, drückte die besagte grüne Taste und ließ sich in das weiche Sitzmöbel fallen. Lash gab sich einen letzten Ruck, packte mit beiden Händen den Telefonapparat und stellte ihn geräuschvoll vor sich hin. Während er mit der Linken den Hörer abnahm, begann er zu wählen.

»Hier GORDON & LASH, Fabrikation und Vertrieb von Geigen!« Es war zweifellos die Stimme der pummeligen, pausbäckigen Jennifer Croft.

»Und hier spricht Lash!«

»Wer bitte?« (Dabei hatte Lash ganz deutlich gesprochen.)

»Hier spricht Carpenter Lash«, wiederholte der lauter und schon ziemlich ärgerlich. »Hören Sie vielleicht schwer? Verbinden Sie mich sofort mit Mister Melvin!«

»Bitte!« Es klang eher wie »Affe«. Miß Croft schien noch immer nicht zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Vielleicht lag es tatsächlich am Empfang. Jedenfalls konterte sie mit deutlicher Angriffslust: »Sie könnten trotzdem ein bißchen freundlicher und höflicher sein, Mister!!«

Lash schnappte nach Luft, und er hörte das Knacken in der Leitung gar nicht mehr, denn mit überschlagender Stimme brüllte er in die Muschel: »Sie … Sie sind entlassen, Sie unverschämte Pute!«

»Was Sie nicht sagen!« höhnte die Stimme Melvins aus dem Lautsprecher. Lash stutzte, nahm den Hörer vom Ohr, starrte ihn an, gab ihn an die alte Stelle zurück und bellte: »Zum Teufel, wie kommen Sie in dieses Gespräch? Wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Melvin. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Carpenter Lash schien für einen Augenblick erschrocken, ein hilfloser Blick zu Clifton, doch dann erinnerte er sich der gestellten Aufgabe.

»Hier ist Lash, London. Guten Morgen, Mister Melvin!«

»Oh, Mister Lash, Sie sind’s … Guten Morgen.« In Melvins Stimme war wenig Begeisterung. Außerdem klang es so, als hielte er während des Sprechens eine Zigarette zwischen den Lippen.

»Wer war eigentlich die unverschämte Pute, die Sie soeben entlassen haben?«

Carpenter Lash überhörte geflissentlich den blanken Hohn. »Schon erledigt! Hören Sie mir jetzt gut zu, Mister Melvin. Ich möchte, daß Sie und Mister Webster zu mir nach London ins Büro kommen!«

»Muß das unbedingt sein, Mister Lash? Es wäre doch wesentlich billiger, wenn Sie herkämen!« Diesem schien es ob dieser Unverfrorenheit die Sprache verschlagen zu haben.

Hilflos sah er auf Perry Clifton, der ihm sofort ein Zeichen machte, indem er den ausgestreckten Daumen nach unten hielt. »Gib ihm Saures!« sollte das heißen. Und Lash nickte verstehend.

»Es muß sein, Mister Melvin! Und ich möchte mir in Zukunft solche albernen Fragen und Vorschläge verbitten. Wenn ich Sie und Webster hier zu sehen wünsche, dann wird das schon seinen Grund haben!«

»Wie Sie meinen, Sir!« Die Stimme des »Frettchens« klang weniger verkniffen. Anscheinend hatte er jetzt die Zigarette aus dem Mund genommen.

»Wann sollen wir kommen?« fragte er.

»Heute!«

»Heute??«

Einige Sekunden lang war nur ein Rauschen auf der Strecke zwischen London und Hackston. Dann Melvin, aggressiv: »Bei uns wird gearbeitet, Sir!«

»Geben Sie den Männern für heute bei vollem Lohn frei. Ebenso Miß Croft!«

»Erfolgt diese Anordnung im Einverständnis mit Mister Gordon, Sir?«

Lash sagte nach kurzem Zögern: »Ja!«

»Dann ist es okay. Um welche Zeit sollen wir bei Ihnen sein?«

Carpenter sah wieder zu Clifton hin, der mit Hilfe seiner Finger die Zahl zwei telegrafierte.

»Seien Sie um 14 Uhr bei mir!«

»Wird Mister Gordon ebenfalls anwesend sein?«

»Nein. Ich habe nur mit ihm telefoniert! Also um 14 Uhr, Mister Melvin!«

»Wie Sie wünschen, Sir!«

Perry glaubte noch den Anfang eines unterdrückten Fluches zu hören, bevor in Hackston aufgelegt wurde. Carpenter Lash dagegen legte den Hörer mit einer behutsamen Geste auf die Gabel zurück. Sein Gesicht spiegelte die verschiedensten Gefühle wider. Da waren Triumph und Zweifel, aber ebenso Ratlosigkeit und Besorgnis.

»Und was jetzt?«

»Nehmen Sie Gordons Schlüssel und wappnen Sie sich mit einer Portion Zuversicht. Wir brechen auf!«

»Jetzt schon?« fragte Lash ein wenig erschrecken.

»Ja. Wenn Melvin und Webster in Hackston starten, müssen wir schon fast dort sein. Haben Sie das vergessen, Mister Lash?«

»Nein, nein«, Carpenter griff wieder zum Telefon. »Ich werde meine Garage anrufen, damit sie meinen Wagen …«

Perry Clifton winkte ab und erhob sich.

»Das ist nicht nötig. Wir nehmen meinen. Er steht vollgetankt gegenüber auf dem Parkplatz. Außerdem kenne ich die Strecke. Einverstanden?«

»Wie Sie meinen«, nickte Lash. Dann zog er die Schreibtischschublade auf und entnahm ihr einen Umschlag. Eine Heftzwecke war schon durchgedrückt. »Für Melvin!« sagte er, aber die Freude, die er noch gestern nacht über diesen Einfall zur Schau trug, war es nicht mehr. »Hoffentlich macht mir Gordon keinen Skandal!« waren seine Worte, als sie das Büro verließen.

»Skandal hin, Skandal her. Vergessen Sie nicht, daß Sie mit tausend Pfund an der Firma beteiligt sind!« folgerte Perry Clifton und klopfte Lash aufmunternd auf die Schulter.

Als Perry seinen Wagen vom Parkplatz in die Hammers-Road lenkte, war es 9 Uhr. Und die Hoffnung des BBC-Sprechers schien in Erfüllung zu gehen. Die Voraussetzungen für einen schönen Tag waren gegeben. Keine Spur mehr von Wind, Schnee oder Regen.

Über ganz London dehnte sich ein kaum noch bewölkter Himmel, aus dem warm und strahlend die Sonne herunterfunkelte.

Im unheimlichen Haus

Die ersten zehn Minuten kamen sie ganz zügig voran, doch dann wurde der Verkehr dichter und zähflüssiger, und Perry Clifton mußte höllisch aufpassen, daß er bei den ständigen Stopps seinem jeweiligen Vordermann nicht in den Kofferraum fuhr.

Carpenter Lash saß stumm und wie eine tragische Figur neben ihm und machte ganz den Eindruck, als käme ihm die Tragweite dessen, was sie vorhatten, erst jetzt zu Bewußtsein.

Manchmal holte er so tief Luft, als wollte er zu einer Rede vor dem Parlament ansetzen, doch es blieb beim Luftholen …

Perry Clifton hatte die Straßenkarte genau studiert und sich für eine andere Route entschieden. Er würde die Hauptstraße bereits zwanzig Meilen vor Leicester verlassen und unter Umgehung der Stadt erst bei Tapstown auf die Straße nach Hackston kommen. So liefen sie weniger Gefahr, Melvin und Webster zu begegnen — vorausgesetzt, sie kämen endlich etwas zügiger voran.

Hinter dem Forrester-Square jedoch gab es wieder eine Stockung. Als Clifton die Ursache entdeckte, ging es ihm wie den anderen zuschauenden Fahrern — er mußte lachen. Mitten auf der Kreuzung Hampstead-Euston Road stand eine ältere Dame vor einem Doppelstock-Omnibus und drohte dem Fahrer mit ihrem Regenschirm. Wütend, den Knauf nach oben, fuchtelte sie mit dem schon ziemlich betagten Wasserschutz vor der Frontscheibe herum und stieß mit weithin schallender Kapitänsstimme fürchterliche Schimpfworte gegen den Fahrer aus.

Eine feine Lady war sie sicher nicht, sonst würde das alte gälische Sprichwort nicht stimmen: Eine feine Lady flucht nicht — laut …

Erst als sie von zwei Polizisten sanft zur Seite getragen worden war, konnte das allgemeine Gasgeben weitergehen. Endlich begann die Tachonadel zu steigen.

Carpenter Lash saß unverändert zusammengesunken neben Clifton und nagte an seiner Unterlippe.

»Schon wieder mutlos, Mister Lash?«

Der hob den Kopf. »Wie kommen Sie darauf?« Seine Stimme klang nicht nach dem Gegenteil.

»Jetzt hocken Sie seit fast einer halben Stunde neben mir und haben noch nicht einmal ›meff‹ gesagt. Dazu ziehen Sie ein Gesicht, als sollten Sie einem Kannibalenstamm als Festmahlzeit geopfert werden.«

Der unglückliche Mister Lash verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Sie haben gut reden, Mister Clifton. Sie arbeiten als Detektiv in einem Warenhaus, kriegen Ihr Gehalt und müssen sich keine Sorgen darum machen, daß Sie es nicht kriegen. Und ich?«

»Und Sie?« Clifton überholte einen Tanklastzug und fuhr nun hinter einem Sattelschlepper her.

»Ich? Mir geht es nicht so gut. Ich muß aufpassen, daß ich nicht betrogen werde.« Er beugte sich vor und sah Clifton an. »Wissen Sie, über welches Problem ich die ganze Zeit nachdenke?«

»Ich habe keine Ahnung.« Er wollte zum Überholen ansetzen und war schon halb ausgeschert, als er den Motorradfahrer sah, der ihm im Fast-Überschall-Tempo auf einer schweren Maschine entgegengerast kam. »Ein Selbstmörder!« rief er, stieg mit aller Gewalt auf die Bremse und riß das Steuer nach links. Der Wagen schleuderte wie wild, Lash flog nach vorn und bumste mit dem Kopf gegen die Scheibe. »Au!!« rief er und: »Was war denn?«

Clifton pustete laut aus. »Na, Sie haben vielleicht Nerven. Wir prallen fast mit einem verrückten Motorradfahrer zusammen, und Sie fragen, was war. Haben Sie sich wehgetan?«

Lash rieb sich die Stirn und rückte seine karierte Mütze mit dem Lederknopf in der Mitte wieder zurecht. Vorwurfsvoll antwortete er: »Ich rede über meine Probleme und Sie von verrückten Motorradfahrern …«

Dem Detektiv verschlug es zuerst die Sprache, dann sagte er: »Dem Himmel sei Dank, daß wir nicht mit Ihrem Wagen gefahren sind. Sie hätten vor lauter Problemen den Motorradfahrer überhaupt nicht bemerkt.«

Carpenter Lash schwieg. Als er nach drei Minuten noch immer stumm war, fragte Clifton aufmunternd: »Also, welches Problem beschäftigt Sie so?«

»Interessiert es Sie wirklich?« Lashs Stimme klang ein wenig beleidigt.

»Natürlich. Vielleicht kann ich Ihnen einen Rat geben.«

»Also … Was mache ich, wenn ich nun rauskriege, daß Melvin wirklich in die eigene Tasche arbeitet?«

»Sie stellen ihn zur Rede! Oder aber Sie erstatten Anzeige gegen ihn.«

»Anzeige? Ich?«

»Ja, wer sonst?«

Lash schluckte aufgeregt. Er schien ehrlich erschrocken. »Eigentlich … eigentlich wäre das ja Gordons Sache.«

»Dann sagen Sie es ihm.«

Wieder schwieg Lash eine Weile. Er schien schon ein neues Problem entdeckt zu haben. Und wirklich: »Da kommt mir noch ein schrecklicher Gedanke. Es könnte ja sein, daß Melvin mit Wissen Gordons in die eigene Tasche wirtschaftet.«

»Sie meinen, daß alles eine abgekartete Sache wäre?«

»Ja… «

»Das glaube ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Fragen Sie sich selbst, Mister Lash. So gewaltig wären die Summen nicht, daß sie sich durch so viele Hände teilen ließen. Denn dann müßten doch auch Websters Wünsche berücksichtigt werden …«

»Hm«, machte Lash, »da haben Sie recht. Sicher steckt nur der Schurke Melvin dahinter.« Perry Clifton wurde langsam ungeduldig. »Warum, zum Teufel, ziehen Sie Ihre tausend Pfund nicht einfach wieder aus dem Geschäft und beteiligen sich woanders.«

»Ich kann ja nicht!« seufzte Lash melancholisch. »Das Kapital ist laut Vertrag auf mindestens fünf Jahre gebunden.«

Da schien guter Rat wirklich teuer. Obgleich Perry Clifton kein Finanzgenie war, wußte er doch, daß Lash wohl oder übel die Suppe auslöffeln mußte, die er sich eingebrockt hatte. »Ich glaube, hier kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte er. Zu seiner Verblüffung spielte Carpenter Lash plötzlich wieder den Hoffnungsvollen.

»Vielleicht sind meine Sorgen auch unbegründet. Was meinen Sie?«

»Wenn wir Glück haben, erfahren wir es bald.« Und nach fünf Sekunden: »Sie haben doch die Schlüssel nicht vergessen?«

Lash schüttelte den Kopf und klopfte sich mit der rechten Hand auf die Hosentasche.

Es klirrte.

Als sie bei Tapstown in die Straße nach Hackston einbogen, war es genau 12 Uhr mittags. Wollten Melvin und Webster um 14 Uhr in der Hammers-Road in London sein, müßten sie diese Stelle längst passiert haben. Trotzdem zog sich Clifton die Mütze vorsichtshalber etwas tiefer ins Gesicht.

»Sind wir bald da?« wollte Lash wissen.

»Ja. Nur noch sieben bis acht Meilen!«

Schon als sie aus der großen Kurve kamen, sah Perry Clifton, daß das Tor geschlossen war. Melvin und Webster waren also Lashs Aufforderung, nach London zu kommen, gefolgt.

Er spürte, wie das Jagdfieber immer mehr von ihm Besitz ergriff, wie es seine Nerven vibrieren ließ und seinen Atem beeinflußte. Er steuerte den Wagen quer über die Straße auf den kleinen planierten Platz neben dem sogenannten Sandschuppen. Lash sah ohne Unterlaß zu dem Brockton-Haus hinüber und schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. »So groß hätte ich mir das Gebäude nicht vorgestellt!« staunte er.

»Beeilen wir uns! Jede Minute ist kostbar!«

»Ja, ja, beeilen wir uns!« Carpenter Lash nickte. Seine ganze Skepsis, seine Mutlosigkeit und Sorge waren plötzlich wie weggewischt, und lebhaft und quirlig, so wie ihn Clifton kennengelernt hatte, hastete er über die Straße. Während der Detektiv noch den Wagen verschloß, suchte Carpenter bereits nach dem Schlüssel für das Hoftor.

Um 12 Uhr 30 erreichten sie Melvins Büro. Es war ungelüftet. Lash rümpfte die Nase. Anscheinend störte ihn der penetrante Geruch, den der übervolle Aschenbecher verströmte.

»Pfui!« sagte er angewidert.

»Hier sitzt Melvin!« erklärte ihm Clifton.

»Das habe ich mir gedacht. Es stinkt nach Zigarettenrauch. Dieses Ferkel!«

Carpenter ging auf einen der Rollschränke zu und drehte mit dem Schlüssel die Sperre der Rolltür, die mit ohrenbetäubendem Lärm nach unten ratterte.

»Jetzt haben Sie die letzte schlafende Ratte in diesem Haus geweckt«, sagte Clifton, doch Lash nahm es kaum wahr.

Seine Blicke hingen gierig am Inhalt des Schrankes. Leere Bierbüchsen, Berge von Zigarettenschachteln, Lappen, mehrere leere Flaschen, ein Wecker, eine Spielzeugpistole und — ein knappes Dutzend Aktenordner.

Lash wollte schon den ersten Ordner aus dem Schrank ziehen, als ihm Clifton auf die Schulter tippte.

»Heben wir uns das für den Schluß auf, Mister Lash. Sehen wir uns zuerst die Räumlichkeiten an!«

»Ach«, murmelte Lash unwillig. Erst als Perry lockte: »Vielleicht entdecken wir irgendwo ein geheimes Geigenlager!«, willigte er zu einem Rundgang ein.

Perry Clifton atmete auf. Schließlich war er nicht am Inhalt der Aktenordner interessiert, sondern am Inhalt der Räume. Aber das konnte er Lash ja nicht sagen.

Und Cliftons Erwartungen waren hochgesteckt.

Unaufhörlich dachte er an das Gespräch mit Scott Skiffer vor wenigen Stunden. Hier, hier im Brockton-Haus mußte der Schlüssel liegen.

Der Schlüssel zu dem noch nicht Faßbaren,

dem noch nicht Entwirrten

und Enträtselten.

Der Schlüssel für das Sammelsurium von

Vermutungen,

Eventualitäten und

Verdachtsmomenten.

Nur hier war das Rätsel der bunten Geigen zu lösen und das der Anwesenheit von Melvin und Webster und der von Jack Mason.

Nur hier gab es eine Antwort auf die Frage nach jenem geheimnisvollen PEUGEOT und den Fingerabdrücken — oder gehörten die Fingerabdrücke nicht nach Hackston?

Gehörte der Mann mit dem unbekannten Gesicht und dem bekannten Namen — Abraham Jefferson — in dieses Spiel oder nicht?

Ja, er gehörte dazu. Er mußte ganz einfach dazugehören! Die Melvins und Websters waren nur winzige Randfiguren. Marionetten in der Hand des großen Spielers Jefferson.

Doch wer war Jefferson?

Wie sah er aus?

»Was ist denn, Mister Clifton?« rief Carpenter Lash, ungeduldig mit dem Schlüsselbund klappernd. Perry Clifton bemerkte erst jetzt, daß er stehengeblieben war. »Entschuldigung, mir ging gerade was durch den Kopf!«

Sie setzten ihren Weg fort. Es war der gleiche, den Clifton mit Webster genommen hatte.

13 Uhr 20.

Sie hatten außer dem Saal, in dem die Arbeiter tätig waren, zwei Lagerräume mit schätzungsweise vierhundert Rohgeigen und noch achtzehn weitere Zimmer in drei Stockwerken durchsucht. Ohne Erfolg. Fünfzehn davon, alle im Hauptgebäude, standen völlig leer. Sie waren leer und verwahrlost wie der Bodenraum, von dessen Fenster aus Clifton fotografiert hatte. Ein Eldorado für Spinnen, Fliegen und Tausendfüßler.

»Jetzt den Büroraum oder zuerst die Wohnungen von Melvin und dem Hausmeister?« wollte Lash wissen.

»Ich bin dafür«, sagte Perry Clifton, »daß Sie sich das Büro und ich mir die Wohnungen vorknöpfe. So sparen wir eine Menge Zeit. Zum Schluß sehen wir uns dann wieder gemeinsam die Räume des Untergeschosses an.«

»Hm.« Carpenter Lash überlegte, war unschlüssig, meinte dann aber, daß es doch wohl besser sei, wenn sie zusammenblieben.

Es war nicht auszumachen, ob er glaubte, sich allein fürchten zu müssen, oder ob er seinem angeheuerten Begleiter mißtraute.

»Na gut, dann zuerst die Wohnungen!« stimmte Clifton zu und schlug den Weg zum Anbau ein.

Melvins Behausung, mit einer Vielzahl teurer Möbel ausgestattet, erkannte man sofort an den zahllos herumliegenden Zigarettenschachteln. Der ganze Wohnraum war ein einziges liederliches Durcheinander. Da stand schmutziges Geschirr auf einem Tablett, daneben lag ein Stapel frischer Wäsche, hier und dort Kleidungsstücke, achtlos hingeworfen, dazu Lebensmittel und Zeitungen. Ein Stilleben ohnegleichen. Ebenso ungepflegt boten sich Küche und Bad dar.

Charly Websters Zimmer dagegen war spartanisch eingerichtet. Eine Schlafmuch, ein Tisch und (unbequeme) Holzstühle, ein Kleiderschrank und eine altmodische Kommode.

Der Exsträfling schien dreimal mehr Ordnungssinn zu haben als Melvin. Die wenigen Dinge, die nicht verschlossen waren — Journale und eine Menge Kreuzworträtselhefte —, bildeten, militärisch ausgerichtet, eine lange Kolonne gleichhoher Stöße auf der Kommode.

Während sich Clifton nur umsah, riß Lash jede Schublade und jede Schranktür auf. Dabei murmelte er ununterbrochen vor sich hin. Am liebsten hätte er sogar die beiden Fernsehapparate auseinandergenommen.

Die bisherige Erfolglosigkeit des Unternehmens schien ihn eigenartigerweise eher zu beflügeln als zu entmutigen.

Atemlos klappte er Websters Schlafcouch zurück, wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab und rief mit blitzenden Augen: »Ich fühle, daß wir den Dingen näherkommen, Mister Clifton! Gehen wir in das Untergeschoß!«

»Okay!« stimmte dieser zu und überlegte, woher Lash seinen Optimismus nahm und warum er mit einem Mal zuerst in den Keller und nicht in Melvins Büro wollte.

Als sie die unverschlossene Tür zum Untergeschoß öffneten, stellte sich ihnen schon nach fünf Treppenstufen ein erstes Hindernis in Form einer, diesmal abgeschlossenen, zweiten Tür entgegen.

Lash holte den Schlüsselbund hervor, und schon der erste Schlüssel paßte.

Dumpfe, muffige, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Es war der typische Geruch, den ungelüftete Keller an sich haben.

Es gab vier weitläufige, hallenartige Kellerräume, die alle das gleiche Bild aufwiesen: Schmutz und Gerümpel. In einer Nische entdeckte Perry Clifton eine nur angelehnte Tür. Er tastete nach dem Schalter. Als das Licht aufflammte, rief Lash überrascht: »Was soll denn das sein?«

Vor ihnen türmte sich ein Riesenaufbau aus zerbrochenen Stühlen, Tischen, Blecheimern, Balken, Brettem, Farbtöpfen und einem verrosteten, zerbeulten, uralten Fahrrad. Clifton erkannte den Raum mit dem seltsamen Inventar sofort wieder. Es gab keinen Zweifel: Es handelte sich um jenen Raum, in dem seine nächtliche Expedition so kläglich gescheitert war.

»Moderne Kunst, Mister Lash. Eine Abfallpyramide … Und sie scheint kostbar zu sein. Sehen Sie nur!« Der Detektiv deutete nach oben zu den drei Lautsprechern hin, die an der Decke angebracht waren.

»Wozu denn Lautsprecher?«

»Für die Alarmsirenen.«

Lash schüttelte den Kopf. »Versteh’ ich nicht!« sagte er. Und Clifton pflichtete ihm bei: »Ja, ja, es ist schon seltsam.« Über das, was ihm so seltsam erschien, sagte er nichts. Er versuchte, sich anhand der Lage des Gebäudes und der bereits inspizierten Kellerräume zu orientieren. Und so kam er zu dem Schluß, daß es eigentlich noch einen weiteren Raum von der Größe dessen geben müsse, in dem sie augenblicklich standen. Und zwar genau an der gegenüberliegenden Seite.

»Kommen Sie!« rief er Lash zu.

Es war mittlerweile fast 14 Uhr geworden.

Clifton hastete den Weg durch die Kellerräume zurück. Seine Schritte klangen hohl und gespenstisch. Lash folgte ihm. Natürlich, dort war die Tür. Er hatte sie übersehen, weil sie sich genau im Schatten eines alten, leeren Kleiderschrankes befand.

Es war eine Tür aus Stahl, und sie war verschlossen. »Ein Sicherheitsschloß!« stellte er fest. Er fühlte ein erregendes Pricheln, als er mit der Hand über die stähleme Oberfläche strich.

Was mochte dahinter sein?

Lash probierte inzwischen den vierten Schlüssel. »Paßt keiner!« rief er enttäuscht. Perry Clifton nahm ihm den Bund aus der Hand und probierte nun seinerseits die insgesamt vier daran befindlichen Sicherheitsschlüssel. Lash hatte recht. Es paßte keiner.

Da packte ihn Carpenter Lash plötzlich am Arm. Atemlos rief er: »Oben, bei Melvin, Mister Clifton!«

»Was ist da?«

»Da lag ein Schlüssel!«

»Wo?«

»Neben dem Fernseher!«

»Ich habe keinen Schlüssel gesehen.« Er konnte sich wirklich nicht erinnern, doch Lash beharrte störrisch auf seinem guten Erinnerungsvermögen. »Er lag neben dem Fernsehapparat, und es war ein Sicherheitsschlüssel. Ich werde ihn holen!« Noch bevor Clifton reagieren konnte, lief Lash davon. Drei Minuten später kam er keuchend zurückgerannt, in der hoch erhobenen Hand tatsächlich einen Schlüssel schwenkend. Er reichte ihn Clifton. »Hier!« rief er, nach Luft japsend, triumphierend. »Probieren Sie!«

Perry nahm den Schlüssel, dessen Kopfteil mit einer roten Plastikkappe überzogen war. Ohne den geringsten Widerstand glitt er in das Schloß und ließ sich drehen. Langsam, vorsichtig und von fast beklemmender Spannung gepackt, stieß er die Tür auf.

Seine Enttäuschung war grenzenlos.

»Die Heizung«, seufzte Lash, ebenfalls enttäuscht.

»Ich hätte es mir denken müssen!« schimpfte Clifton. »Irgendwo mußte die Heizung ja sein.«

Er verschloß die Tür wieder und machte sich auf den Weg nach oben. Lash trottete hinterdrein.

Wie konnte der Detektiv ahnen, daß er sich nur noch einen einzigen Meter von einer der beiden Stellen befand, die direkt zu dem Geheimnis des Brockton-Hauses führten. Er hätte nur den alten, morschen Kleiderschrank (der gar nicht alt und morsch war) zur Seite schieben müssen.

Als die beiden wieder Melvins Büro betraten, zeigte der Regulator neben der Tür 14 Uhr 14. Ohne jedes Interesse sah der Detektiv zu, wie sich Carpenter Lash mit hektischem Eifer daran machte, einen Ordner nach dem anderen einer eingehenden Musterung zu unterziehen.

Die heimliche Durchsuchung des Hauses war ein Schlag ins Wasser. Für Lash ebenso wie für Perry Clifton. Das wußten beide nicht erst, als sie das Hoftor mit dem Holzschild FABRIKATION UND VERTRIEB VON GEIGEN wieder abschlossen.

»Eine ausgesprochene Pleite!« jammerte Lash, und Clifton sagte: »Seien Sie doch froh, daß Sie kein Indiz für einen Betrug gefunden haben. Das enthebt Sie der befürchteten Aussprache mit Ihrem Partner Gordon und mit Melvin.«

»Daß ich kein Indiz gefunden habe, bedeutet noch nichts, Mister Clifton!« ereiferte sich Carpenter Lash. »Das kann ebensogut bedeuten, daß Melvin eben noch viel klüger und raffinierter ist, als ich annehme.«

Der Detektiv verkniff sich eine Erwiderung, obwohl er in manchem, wenn auch in einem anderen Sinn, mit Lash übereinstimmte. Vorsichtig wendete er den Wagen und rollte auf die Straße zurück. Als er in Hackston nach rechts abbog und vor BRADLEYS GASTHOF hielt, fragte Lash überrascht: »Haben wir denn noch Zeit, um essen zu gehen?«

»Wir gehen nicht essen, Mister Lash. Ich will hier nur etwas abgeben. Bitte, warten Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder zurück!«

Perry Clifton betrat den Hausgang, dann die Gaststube, die, wie bei seinem allerersten Besuch, gähnend leer war. Auch keine Spur von Missis und Mister Bradley. Nicht einmal Angys Stimme war zu hören.

Clifton überlegte. Sollte er die Bilder von Angy einfach hier auf die Theke legen? Dann fiel ihm ein, daß er die Wirtsleute vielleicht im Hof antreffen könnte. Er wollte gerade die Tür zum Gang öffnen, als die Klinke von draußen niedergedrückt wurde.

Dann sah Perry Clifton in ein Gesicht, das er jetzt nicht unbedingt hier erwartet hatte.

»Hallo, Mister Holman. Das ist aber eine Überraschung.«

Holmans Miene war weder freundlich noch unfreundlich, seine Blicke weder überrascht noch neugierig.

Sein Gesicht glich eher einer undurchdringlichen Maske. Ein ausdrucksloses Gesicht, durchfuhr es Clifton. Ein Gesicht, in dem jegliches Gefühl fehlte und das doch das gleiche war, das er kennengelernt hatte. Was war geschehen?

Was hatte den Lehrer so verändert, so unnahbar gemacht? Es glich dem Gesicht eines tödlich Beleidigten, oder irrte er?

»Sagten Sie nicht, Sie kämen nicht nach Hackston zurück?« fragte Holman mit einer Stimme ohne Wärme, aber mit einem Hauch von Ironie.

»Es ist reiner Zufall!« erwiderte Clifton und war bemüht, sein Unbehagen und seine Ungeduld nicht sichtbar werden zu lassen. »Ich hatte einige Fotos von Angy gemacht, und da ich gerade in der Nähe war …«

»Zufällig!«

»Ja, zufällig. Es ist niemand da. Jedenfalls nicht in der Gaststube.«

Sie standen sich noch immer in der offenen Tür gegenüber. »Ich wollte gerade zu Jim Bradley. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich die Bilder mit.« Holman streckte Clifton die Hand hin, in die dieser den Umschlag mit den Fotos von Angy legte.

»Das ist nett von Ihnen, Mister Holman.«

Der Lehrer nickte. »Keine Ursache, Mister … Wie war doch gleich Ihr Name?« Seine Augen sahen jetzt wirklich spöttisch auf Clifton, der mit einem Male wußte, woher der Wind wehte. Doch von wem konnte Holman erfahren haben, daß er sich einen fremden Namen ausgeborgt hatte. Der Lehrer zog aus Cliftons Ratlosigkeit die richtigen Schlüsse. »Sie sollten sich die neueste Ausgabe der PHOTOGRAPHY besorgen, Mister. Sie ist gestern erschienen. Darin ist nicht nur ein ausgezeichneter Bildbericht von Clifford Arling, sondern auch ein Portrait-Foto von ihm … Ich schätze ihn doppelt so alt wie Sie, Mister …«

Holman wandte sich zum Gehen, doch Clifton hielt ihn am Arm fest. Er fühlte sich hundeelend. »Es tut mir leid, Mister Holman. Aufrichtig leid. Ich werde Ihnen später erklären, wozu dieses Theater sein mußte. Sie sollten, auch wenn es Ihnen schwerfällt, Vertrauen zu mir haben. Grüßen Sie bitte die Bradleys von mir.«

Dicki und die Lady in Rot

15 Uhr 40.

Um 14 Uhr 20 hatte Dicki Miller am Kingsplace Posten bezogen. Seit 15 Uhr leistete ihm Ronnie Hastings Gesellschaft. Und im Gegensatz zum Vortag war der heutige ein ausgesprochen aufregender Tag, denn Jack Masons Kunsthandlung wies einen regen Zuspruch auf.

Allein in der letzten Stunde hatten insgesamt sechs Männer und eine Frau die Galerie mit einem Paket verlassen. Doch nicht das allein erweckte Didds Mißtrauen. Selbst Ronnie, der im Unterschied zu Dicki später nicht Detektiv werden wollte, war es aufgefallen.

»Das ist doch komisch.«

»Was ist komisch?«

»Daß alle das gleiche Zeug kaufen!« Dicki nickte mit dem Ernst des künftigen Spurenlesers. »Ein wichtiges Indiz, Ronnie. Ich möchte zu gern wissen, was in den Paketen drin ist.«

»Vielleicht eine Figur … ein Engel«, sinnierte Ronnie.

»Warum sollten alle einen Engel kaufen? Hast du dafür eine brauchbare Erklärung?« Nein, die hatte Ronnie auch nicht. Und wenn er ehrlich sein sollte, ihn interessierte eine solche auch nicht in dem Maße wie Dicki Miller. Schließlich stand er ja nur aus Nächstenliebe hier. Dicki hatte gemeint, daß es allein wieder langweilig wäre, na also … Und nur deshalb!

Minutenlang beobachteten sie beide den an ihnen vorbeiflutenden Straßenverkehr. PKWs, Motorräder, Omnibusse, Lastwagen und dazwischen hin und wieder ein mutiger Radfahrer.

»Stinkt ganz schön, wenn man hier so steht und riecht!« meinte Ronnie, und Dicki nickte zustimmend. Über diese Tatsache ließ sich nicht streiten. Doch dann nahm er den Faden von vorhin wieder auf.

»Das können gar keine Engel sein, Ronnie!«

»Warum nicht?«

»Engel in einer Kunsthandlung sind doch aus Holz!«

Ronnie schnitt eine Grimasse und blickte sehr überlegen drein, fast so, wie man dreinschaut, wenn man meint, daß der andere spinnt. Dabei meinte er es nicht nur, er sagte es auch: »Du hast einen Motorschaden, Dicki. Was hat das Holz mit dem Engel zu tun?«

Diesmal war die Reihe an Dicki, den Überlegenen zu spielen: »Du bist zwar große Klasse in Englisch, Geschichte und Chemie, aber von der Kriminalistik verstehst du nicht mal das kleine Einmaleins. Ein Holzengel von solcher Größe wäre schwer. Leuchtet dir das ein?«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du damit meinst.«

Dicki sagte es ihm: »Die Frau vorhin hat das Paket in der Hand getragen und dazu noch geschlenkert.«

»Stimmt, du hast recht!« Ronnie gab sich geschlagen. Und dann sahen sie es zu gleicher Zeit: Ein Mann und eine Frau betraten Masons Galerie.

»Wenn die auch mit der gleichen Verpackung rauskommen, dann steckt was dahinter!« murmelte Dicki.

»Wie meinst du das?«

»Das ist eine Bande!«

»Eine Bande?« fragte Ronnie verständnislos. »Was für eine Bande?« Doch Dicki war von seinem eigenen Einfall so hingerissen, daß er für eine ganze Reihe von Sekunden vergaß, daß neben ihm Ronnie Hastings über dem Eisengeländer hing und auf eine Antwort wartete. Erst als der ihn in die Seite stieß und seine Frage wiederholte, ließ Dicki ihn an seiner sensationellen Erkenntnis teilhaben: »Das ist eine Bande, die was verteilt. Und der Laden ist die Zentrale!«

»Und was verteilen die?« Ronnie fiel es sichtlich schwer, dem gedanklichen Höhenflug seines Freundes zu folgen.

Doch Dicki war inzwischen schon wieder ein Stück weiter. Er tippte sich vor die Stirn und stieß atemlos hervor: »Bin ich ein Blödmannl Weißt du, was in den Paketen ist?«

»Keine Engel!« erwiderte Ronnie trocken, doch für Dicki war das ein danebengegangener Scherz. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er, ohne Masons Tür aus den Augen zu lassen, fragte: »Soll ich dir was verraten?« Noch bevor Ronnie ja oder nein sagen konnte, stellte er eine zweite Frage: »Kannst du schweigen?«

»Natürlich!« antwortete Ronnie und spürte, daß etwas in der Luft lag.

»Mister Clifton ist hinter einer Geigenbande her!« Es dauerte einige Augenblicke, bis Ronnie Hastings begriff, worauf Dicki hinauswollte. Dann aber fiel der Penny mit Macht. »Du hast recht, Dicki. Das sind eingepackte Geigen!«

»Wenn das Mister Clifton wüßte …«

»Vielleicht weiß er es«, mutmaßte Ronnie, doch Dicki belehrte ihn postwendend: »Dann hätte er mir gesagt, daß ich auf Leute achtgeben soll, die Geigen wegschleppen.«

Ronnie sagte darauf nichts … doch, etwas sagte er: »Hoffentlich merken die nicht, daß wir sie beobachten!«

»Hast du etwa Angst?«

bevor sich Ronnie näher mit dieser Frage befassen ‘ konnte, ging drüben wieder die Tür auf, und die beiden letzten Kunden verließen die Galerie. Beide trugen sie unter dem Arm jenes Paket, von dem Dicki annahm, daß es sich um Geigen handelte.

Beide sahen sie dem Pärchen lange nach.

»Und ich sage dir, Ronnie, da stimmt was nicht!«

»Schade, daß man sich nicht unsichtbar machen kann.«

»Wozu?«

»Dann könnte man sich in den Laden schleichen und hören, worüber die reden.«

»Blödsinn!«

Ronnie zuckte mit den Schultern. »War ja nicht ernst gemeint.«

Wieder schauten sie eine Zeitlang zur Galerie hinüber, bis Dicki plötzlich fragte: »Hast du heute mehr Zeit, oder mußt du wieder auf deine kleine Schwester aufpassen?«

»Ich bleibe, solange du willst. Warum?«

»Weil du den Laden beobachten mußt, während ich nicht da bin!«

Ronnie, der sich gerade einen Kaugummi in den Mund! stecken wollte, hielt erschrocken inne und sah seinen Partner fragend an.

»Nicht da bist? Was meinst du damit? Soll ich hier vielleicht allein Löcher in den Asphalt treten?« Diese Vorstellung behagte Ronnie ganz und gar nicht.

»Ich muß den nächsten Kunden verfolgen. Es könnte wichtig sein, daß Mister Clifton so eine Adresse kriegt!«

Ronnie stopfte sich den Kaugummi, nachdem er ihn nun schon ausgepackt hatte, in den Mund und fragte malmend:

»Du meinst die Adresse von einem, der so ein Paket gekauft hat.«

Dicki nickte stumm.

»Und was soll ich Mister Clifton sagen, wenn dir was passiert?«

»Passiert? Was soll mir schon passieren?«

»Es könnte ja sein, daß man dich gefangennimmt.«

Dicki sah seinen Schulfreund mit einem mitleidigen Blick an. »Du guckst zu viel Fernsehen! Das ist doch kein Indianerspiel!« Hatte Mister Clifton nicht etwas Ähnliches gesagt?

»Und was machst du, wenn der Kunde ein Auto hat?«

Dicki zog eine 1-Pfund-Note aus der Hosentasche und hielt sie Ronnie vor die Nase. »Dann nehme ich mir ein Taxi!«

»Und wenn das nicht ausreicht?«

»Er muß ja nicht unbedingt ein Auto haben! Es gibt ja auch noch Fußgänger!« Dicki ärgerte sich. Dieser Ronnie konnte einem wirklich den ganzen Kram verderben.

»Aber er könnte!«

Der große Augenblick kam um 16 Uhr 50.

Eine Lady (?) in einem roten Kostüm betrat Jack Masons Galerie. Dicki und Ronnie hielten den Atem an.

»Eine Frau!« sagte Ronnie überflüssigerweise.

»Wenn die auch eine Geige nimmt, ist sie die dritte Frau!«

»Die sah eher nach einer aus, die ein Bild kauft!« sinnierte Ronnie weise.

»An was willst du das sehen?«

Dickis Freund zuckte die Achseln. »Das habe ich so im Gefühl!« Sprach’s und ließ eine Kaugummiblase platzen.

»Du und dein Gefühl. Ich sage dir, die kommt mit dem gleichen Paket raus.«

»Und die willst du verfolgen?«

»Will ich!«

»Hoffentlich merkt die nichts davon.«

»Die sieht mich gar nicht!« versicherte Dicki, doch man sah es Ronnie an, daß er wohl nicht so richtig an Dickis Talente auf diesem Gebiet glaubte. Und er gab zu bedenken: »Hier stehen und ein Geschäft beobachten ist leichter, als hinter jemandem herzuschleichen, ohne daß der was merkt!«

»Du hast doch keine Ahnung. Oder hast du schon mal jemanden beschattet?«

»Ich bin ja kein Kriminalist!«

Der Disput wurde in diesem Augenblick durch das Wiederauftauchen jener Dame im roten Kostüm beendet.

»Guck nur!« flüsterte Ronnie, »die hat so ‘n Paket!«

»Bis nachher!« Dicki setzte sich in Bewegung. Ein wütendes Hupen begleitete seinen Sprint bei Rot über die erste Straße. Da er nicht quer über den Kingsplace laufen konnte, mußte er zuerst drei Straßen passieren, um in die Hutchison-Street zu kommen; dort war die Lady mit dem Paket verschwunden.

Es dauerte sechs Minuten, dann hatte Dicki den »Sichtanschluß« hergestellt. Genauer gesagt, er ging sechzig Meter hinter ihr, glücklich darüber, daß sie noch keines der zahlreichen, am Straßenrand parkenden Autos angesteuert hatte. Damit hätte sie ihn — welcher Triumph für Ronnie — vor ein unlösbares Hindernis gestellt, denn weit und breit gab es keinen Taxistand.

Wenig später bog die Frau in die Burk-Lansky-Lane ein, überquerte die Kitchener-Street und nahm den direkten Weg in die Lions-Road, wo sie auf eine Omnibushaltestelle zusteuerte.

Dicki tastete nach seinem Geldschein.

Sollte er ihn vielleicht vorher wechseln lassen? Es wäre zu dumm, wenn ihn der Omnibusschaffner wegen der Pfundnote anmeckern würde. Mußte doch seine Devise heißen: nur nicht auffallen!

Doch es war bereits zu spät.

In diesem Augenblick kurvte der Omnibus von der Anderwood-Street kommend in die Lions-Road ein. In die Schlange der Wartenden kam Bewegung.

Einige Atemzüge lang zögerte Dicki noch. Ganz plötzlich war ihm das Abenteuerliche seines Unternehmens bewußt geworden. Doch dann dachte er an Ronnie Hastings und dessen Art, hinterlistig zu feixen, und das gab den Ausschlag. Mit feuchten Händen und erhöhtem Pulsschlag schloß er sich den Einsteigenden an, krampfhaft bemüht, der Dame in Rot nicht zu nahe zu kommen. Eine Befürchtung, die umsonst war, denn mit Erleichterung konnte Dicki feststellen, daß sie eine Vorliebe für die obere Omnibusetage zu haben schien.

Der kleine Detektiv zählte die Stationen nicht.

Es war inzwischen 17 Uhr 25 geworden.

Da, endlich…

Die Haltestelle hieß Amerson-Castle, obwohl von einem Schloß oder einer Burg weit und breit nichts zu sehen war. Nichts unterschied diese Straße von hundert anderen Geschäftsstraßen in London.

Die Frau mit dem Paket ging zielstrebig auf ein Appartementhochhaus zu, in dem sie verschwand, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.

Fünfzehn Sekunden später huschte Dicki ebenfalls durch die Haustür. Rechtzeitig genug, um zu sehen, wie der Fahrstuhl in die oberen Regionen entschwand. Gebannt starrte er auf die Anzeigetafel, auf der jeweils die Zahl des erreichten Stockwerks angezeigt wurde.

Zuletzt leuchtete die Zahl »6« auf.

Sein »Opfer« wohnte also in der sechsten Etage. Wie nun weiter? Jetzt war guter Rat teuer. Wie sollte er herausfinden, wie sie hieß?

Dicki hatte sich gerade in die Namen auf den Briefkästen vertieft, als ihn eine tiefe, dröhnende Stimme zusammenfahren ließ.

»Na, suchst du jemand?«

Dicki sah in ein freundliches, altes Gesicht, das von einem eisgrauen Schifferbart umrahmt wurde. Der Mann selbst steckte in einem etwas zu weiten Wettermantel und trug eine Baskenmütze. In den Händen hielt er eine Menge Einkaufsbeutel. Dicki hatte sich schnell gefangen (schließlich mußte sich ein Detektiv auch unerwarteten Situationen gewachsen zeigen), machte ein verlegenes Gesicht und nickte wortlos.

»Wie soll er denn heißen?«

»Ich habe den Namen vergessen, Sir!«

Der alte Mann wiegte das Haupt und konstatierte: »Das ist wirklich ein Dilemma. Den Namen sollte man schon wissen.«

»Ich weiß nur noch, daß es eine Lady im 6. Stock ist.« Dicki stemmte die Arme in die Seite und schielte den Mann im Wettermantel von unten herauf an.

»Kein Problem, junger Mann«, sagte der mit einem gutmütigen Lächeln. »Ich wohne im fünften Stock und weiß, daß es im sechsten nur eine einzige Dame gibt. Das ist Miß Brenda!« Er drückte auf den Fahrstuhlknopf.

»Miß Brenda?« wiederholte Dicki.

»Ja, Miß Brenda Harvey!«

Dicki Miller spielte vollendet die Rolle des Erleichterten. »Stimmt, sie hieß Miß Harvey!«

»Na also!« Der alte Mann strahlte ihn an. »Dann können wir ja die Reise nach oben gemeinsam antreten.«

Da just in diesem Moment, wie aufs Stichwort, die Fahrstuhlkabine auftauchte, blieb Dicki nichts weiter übrig, als deren Tür zu öffnen. Dann aber schlug er sich vor die Stirn und rief: »Ich habe ja ganz vergessen, mein Fahrrad abzuschließen. Fahren Sie nur immer hoch, Sir!« Schneller als der freundliche alte Herr den Mund zu einer Erwiderung öffnen konnte, war Dicki verschwunden.

Eine teure Geige

Perry Clifton hatte längst vergessen, daß er auch auf der Rückfahrt Leicester umfahren wollte. Ebenso wie er keinen Gedanken mehr auf Melvin und Webster alias Bell verschwendete.

Mit Höchstgeschwindigkeit taste er in Richtung London.

Zweimal schon war sein Versuch mißglückt, Scott Skiffer zu erreichen. Iedesmal mußte er von dem Beamten in der Zentrale hören, daß Inspektor Skiffer im Augenblick nicht greifbar sei.

Die Tachonadel pendelte um die 90 Meilen.

Carpenter Lash hing in seinem Sicherheitsgurt und wagte Clifton nicht anzusprechen. Der Angstschweiß perlte ihm von der Stirn. Der Detektiv schien auch ihn vergessen zu haben. Einmal, als sich Lash scherzhafterweise erkundigte, ob Clifton wohl die Milch auf dem Herd habe stehenlassen, hatte ihm dieser mit der Miene einer Sphinx geantwortet, daß ganz andere Sachen angebrannt seien, und den Gashebel noch weiter durchgedrückt.

Und tatsächlich, gleich nach ihrer Abfahrt in Hackston war es Perry Clifton plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Kannte er auch noch nicht das Geheimnis des Brockton-Hauses, so hatte er doch in Gedanken eine so ungeheuerliche Entdeckung gemacht, daß es ihm sekundenlang den Atem verschlug. Um aber in Erfahrung zu bringen, inwieweit sein Verdacht der Wirklichkeit nahe kam, brauchte er Scott Skiffer. Nur der allein wußte die Antwort, er mußte sie ganz einfach wissen.

»Wo soll ich Sie absetzen, Mister Lash? Wo wohnen Sie eigentlich?«

Der gar nicht mehr quirlige Mister Lash blickte Clifton fast ängstlich an, als er erwiderte: »Ich muß doch noch ins Büro …«

»Glauben Sie denn wirklich, daß Melvin und Webster noch da sind?«

»Glauben Sie es denn nicht?«

»Nein!« Perry Clifton lachte kurz auf. »Würden Sie auf jemanden drei Stunden lang warten?«

Carpenter Lash schluckte nervös und rieb sich das Kinn. »Ich möchte trotzdem zum Büro.« Und nach einem tiefen Atemzug: »Sie sind so verändert. Habe ich was Dummes gesagt? Ich meine, irgendwas, das Sie verärgert hat? Oder hängt es damit zusammen, daß wir umsonst in Hackston waren?«

»Keine Sorge, Mister Lash. Mir ist nur was eingefallen, was mir hätte schon früher einfallen müssen. Und darüber ärgere ich mich.« Und übergangslos fragte er: »Würde es Ihnen viel ausmachen, in der Laxton-Road auszusteigen? Ich muß nämlich noch jemanden abholen.«

»Nein, nein, ich fahr’ dann eben mit dem Taxi zum Büro.«

___________

Es war neun Minuten vor 18 Uhr.

Sie trafen fast gleichzeitig am Kingsplace ein. Zuerst Dicki. Als er und Ronnie Perry Clifton entdeckten, begannen sie wie wild zu winken, und der Zufall wollte es, daß der Detektiv den gleichen Parkplatz vor der Apotheke erwischte wie am Vortag.

Dicki und Ronnie sdmauften atemlos, als sie zu ihm in den Wagen stiegen.

»Die Galerie ist der Treffpunkt der Bande!« sprudelte Dicki mit hochroten Backen hervor, während Ronnie zustimmend nickte.

»Von welcher Bande sprichst du eigentlich, Dicki?«

»Na, von der Geigenbande!«

»Aha, von der Geigenbande!« Perry Clifton ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn das interessierte.

»Sie haben insgesamt siebzehn Geigen weggeschafft. Dreizehn Männer und vier Frauen waren es!« bemerkte Ronnie Hastings.

»Und einer Frau bin ich nachgegangen!«

»Er hat sie bis nach Hause verfolgt.«

»Zu Fuß und im Omnibus!«

»Sie wohnt in einem Hochhaus!«

»In einem Appartementhaus«, verbesserte Dicki. »Hier!« Dicki hielt dem überraschten Clifton einen Zettel hin. »Alles notiert. Sie heißt Miß Brenda Harvey und wohnt Lathers-Street Nr. 12 im 6. Stock. Omnibushaltestelle Amerson-Castle.«

Dicki hatte das alles gesagt, ohne Luft zu holen. Perry Clifton war zuerst sprachlos, dann klopfte er den beiden anerkennend auf die Schultern. »Ihr seid zwei ganz tolle Burschen! Aber«, hier hob er den Zeigefinger, »ich hatte nichts von einer Verfolgung gesagt.«

»Ich dachte, es sei wichtig«, maulte Dicki.

»Natürlich ist es wichtig. Trotzdem! Wie schnell können sich dabei Dinge ereignen, die man nicht vorhersehen kann.«

Dicki spielte den Beleidigten, während Ronnie wie ein begossener Pudel nach innen schaute. »Na, nun laßt mal die Köpfe nicht hängen. Ihr habt ja fast mehr erreicht als ich!« Und dann faßte Clifton noch einmal Ronnies Worte zusammen: »Es waren also insgesamt dreizehn Männer und vier Frauen!«

Beide nickten.

»Und alle haben sie eine Geige geholt?«

Wieder Nicken.

»Woher wißt ihr eigentlich, daß es sich um Geigen handelte?«

»Weil …«, sagte Dicki.

»Weil …«, sagte auch Ronnie und dann Dick: »Es konnte gar nichts anderes sein! In den Paketen konnten nur Geigen sein.«

»Ja, nur Geigen!« äffte Ronnie nach.

»Na, dann will ich mal …« Der Detektiv zog den Zündschlüssel heraus und öffnete seine Tür.

»Wo gehen Sie denn hin, Mister Clifton?«

»Mal sehen, ob man mir auch so eine Geige verkauft.«

Das erste, was Perry Clifton wahrnahm, nachdem er die Tür der Kunsthandhmg hinter sich geschlossen hatte, war der feine Duft eines französischen Parfüms namens MADAME ROCHAS.

Bilder, Skulpturen, Reliefs und Plastiken: Das alles war geschmackvoll in dem etwa hundert Quadratmeter großen Raum verteilt. Dicke Läufer mit orientalischen Ornamenten verschluckten jeden Laut. Eine eigenartige, fast beklemmende Stille lag über der Galerie. Nur ein breites, dunkles Tack-Tack verriet Leben, wenn auch nur das Leben einer riesigen Standuhr, deren Perpendikel die Größe eines Eßtellers hatte.

Perry Clifton ertappte sich immer wieder dabei, wie er den süßlich-herben Wohlgeruch genüßlich einzog. Wo war ihm dieser zuletzt begegnet?

Es gab weder Kunden noch Verkaufspersonal.

Von Geigen keine Spur.

Nachdenklich blieb er vor einem modernen Gemälde stehen. Da, ein kaum wahmehmbares Geräusch. Und eine Stimme, die sagte: »Sehr eindrucksvoll. Finden Sie nicht auch, Sir?«

Als er sich umwandte, sah er in ein erschrockenes, ja fassungsloses Gesicht, während er selbst nicht weniger überrascht war. Aber er war derjenige, der zuerst die Fassung wiedergewann.

Dort stand sie, die Ursache und Quelle des Duftes.

»Sieh an, sich an, die bezaubernde Miß Craig von der Firma GORDON & LASH.«

»Ja … nein … ich meine …«, stotterte sie.

»Sie meinen was, Miß Craig?«

»Ich meine, Sie sind doch Mister Clifton … so war doch Ihr Name?«

»Es schmeichelt mir ungemein, daß Sie sich noch an meinen Namen erinnern. Es sind seit unserem Zusammentreffen immerhin schon vierundzwanzig Stunden vergangen!« gab Clifton mit unüberhörbarem Spott zurück. »Mister Lash hat mir zwar verraten, daß Sie freitags Ihren freien Tag haben, aber nichts davon, daß Sie einen Nebenjob als Kunstsachverständige ausüben.«

Miß Craig war aufgeregt. Warum eigentlich? Warum sagte sie nicht einfach: Das geht Sie einen feuchten Staub an, was ich tue! Hektische Flecken röteten ihre Wangen, während sie ein ums andere Mal ihre (gar nicht verrutschte) Schildpatt-Brille zurechtsetzte.

»Bitte sagen Sie nichts zu Mister Lash. Es wäre ihm sicher nicht recht, daß ich hier aushelfe«, hat sie und fügte rasch hinzu, als sie Cliftons mißtrauischen Blick sah: »Obwohl er Mister Mason sehr schätzt.«

Sie trug wieder das braune Wollkleid mit einer goldenen Brosche darauf, nur daß es diesmal kein Salamander, sondern eine Schildkröte war.

»Sie helfen also freitags immer aus?«

»Nicht immer. Nur manchmal. Auf das Wochenende zu ist oft viel Betrieb.«

»So wie heute zum Beispiel.«

Sie nickte kaum wahrnehmbar und sah an Perry Clifton vorbei, als suche sie nach jemandem, der ihr den lästigen Frager abnehmen könne.

»Also, Miß Craig, dann beraten Sie mich mal!«

»Ja … bitte, suchen Sie nach was Bestimmtem?«

»So könnte man es durchaus nennen, aber ich habe es hier noch nicht entdeckt.«

»Wollen Sie mir nicht eine kleine Hilfestellung geben?«

»Hilfestellung?«

»Ja, ich meine, suchen Sie eher was Modernes, oder …«

»Eigentlich weniger. Ich bin ein ausgesprochen altmodischer Mensch. Ich dachte da zum Beispiel an eine … bunte Geige.«

In Miß Craigs Pupillen tanzten plötzlich verräterische kleine Funken, während sich um ihren Mund ein harter Zug bildete. In diesem Augenblick wurde es für Perry Clifton zur unumstößlichen Gewißheit, daß sie keineswegs nur eine Sekretärin und eine »gefällige« Aushilfe war.

»Wenn Sie eine Geige wollen, sind Sie hier wohl am falschen Platz. Ich würde es an Ihrer Stelle mal in einem Musikaliengeschäft versuchen.«

Clifton winkte ab. »Die führen dummerweise keine bunten Geigen.«

»Wir auch nicht.«

»Wenn ich mich recht erinnere, kauft Mister Mason bei der Firma GORDON & LASH bunte Geigen, oder?«

»Zur Dekoration!«

»Eben! Dann verkaufen Sie mir eben eine bunte Geige aus der Dekoration.«

Miß Craig ging drei Schritte zur Seite, schob ein kleines Bild nach rechts und drückte den dahinter zum Vorschein gekommenen Knopf. Dann sagte sie: »Es ist wohl besser, wenn Sie Ihre Wünsche Mister Mason persönlich vertragen!«

»Aber gern!« Clifton nickte liebenswürdig. »Übrigens, Sie benützen ein wunderbares Parfüm.«

»Es freut mich, daß Sie es mögen!« Ihre Miene paßte zu den Worten wie ein Salzhering zu einem Stück Erdbeertorte.

Die Tür neben einer Glasvitrine mit den Elfenbeinschnitzereien öffnete sich. Ein großer, schwerer Mann mit einem Schlägergesicht schob sich herein. Riesige, schaufelgroße Hände hingen an gorillalangen Armen und pendelten hin und her. Er steckte in einem weißen Dekorateurmantel, in dem er sich ausnahm wie ein Plußpferd in einem Babyjäckchen. Wartend blieb er zwischen der Tür und Miß Craig stehen.

»Morris, sagen Sie bitte Mister Mason, er möge nach vorn kommen. Ein Mister Clifton habe einen besonderen Wunsch.«

Der Riese rückte kurz, stieß ein undefinierbares Brummen aus und verschwand wieder.

»Mister Mason hat in der Tat beeindruckendes Personal!« stellte Clifton mit einem provozierenden Unterton fest. Und Miß Craig erwiderte: »Sie sollten dem ersten Eindruck nicht so viel Gewicht beimessen.«

»Nein, natürlich nicht. Aber was soll man dagegen tun; man macht immer wieder diesen Fehler. Sie zum Beispiel habe ich gleich im ersten Augenblidc für eine tüchtige Sekretärin gehalten.«

»Und? Sind Sie nicht mehr dieser Meinung?«

»Dieser Herkules«, Clifton tat, als habe er ihre Frage überhört, »wirkt wie der Leibwächter eines Gangsterbosses.«

Miß Craig schwieg und schien merklich aufzuatmen, als sie das neuerliche Geräusch der Tür hörte.

»So also sieht Jack Mason aus«, waren Perry Cliftons erste Gedanken, als er des Mannes ansichtig wurde, der soeben die Galerie betreten hatte. Und er ahnte, daß sich in der eleganten Schale ein äußerst gefährlicher Kern verbarg.

Mason trug diesmal ein Paar eisgraue Hosen mit einer messerscharfen Bügelfalte, einen weißen Rollkragenpulli und einen dunkelblauen Blazer mit goldschimmernden, münzenähnlichen Metallknöpfen.

Er lächelte, als er auf die beiden zutrat.

Das Lächeln einer Kobra! (Wenn eine Kobra lächeln könnte.) »Bitte, um was handelt es sich?«

»Das ist Mister Clifton, er hat einen besonderen Wunsch.«

Jack Mason machte eine höfliche Verbeugung zu Clifton. »Die Galerie Mason ist bekannt dafür, daß sie auch besondere Wünsche erfüllt. Bitte, Sir, was kann ich für Sie tun?«

»Mir steht der Sinn nach einer bunten Geige.«

Mason legte sich die Hand mit der Geste maßloser Überraschung auf die Brust und beteuerte: »Aber wir sind ein Kunsthaus und kein Musikaliengeschäft.« Und zu Miß Craig gewandt meinte er vorwurfsvoll: »Konnten Sie das nicht auch sagen?«

»Sie hat, Mister Mason. Es lag an meiner Beharrlichkeit. Ich konnte es einfach nicht glauben.«

»Was nicht glauben?«

»Daß Sie keine Geigen mehr haben. Immerhin haben Sie heute doch schon eine Menge verkauft.«

Masons Benehmen blieb höflich und verbindlich, und Clifton dachte darüber nach, ob Mason immer noch so höflich und verbindlich wäre, wüßte er, daß ein Detektiv namens Sam Newton aus der Schule geplaudert hatte.

»Ich weiß zwar nicht, woher Sie Ihre Information haben, Sir, aber sie ist, so oder so, nur zur Hälfte richtig.«

»Ich laß mich gern korrigieren!« Clifton lächelte.

»Es handelt sich um Dekorationsstücke, die ich an Liebhaber zu Liebhaberpreisen abgebe. Das tue ich immer, wenn neu dekoriert worden ist.«

»Und das ist heute der Fall?«

»Das war vorgestern der Fall, Sir. Wir dekorieren immer nur mittwochs um.«

»Das ist wirklich jamerschade. Oder haben Sie für mich auch noch so ein Dekorationsstück, Mister Mason?«

»Selbstverständlich. Bitte, Miß Craig. Im Packraum liegt noch eine Geige. Würden Sie die bitte holen?«

Wortlos setzte sich Miß Craig in Bewegung.

»Ich hoffe, Sie haben genügend Geld einstecken, Sir.«

»Für eine Dekorationsgeige wird es schon ausreichen.«

Mason hatte plötzlich etwas Verschlagenes an sich. »Ich glaube, Sie haben mir vorhin nicht gut zugehört. Es handelt sich um Liebhaberpreise. Diese Instrumente werden von mir signiert.«

»Ich verstehe!«

»Wohl doch nicht ganz. Es gibt eine Menge Leute, denen ein Autogramm von mir sehr viel wert ist. Infolgedessen verkaufe ich keine dieser signierten Geigen unter tausendfünfhundert Pfund. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie so viel Geld für einen Mason ausgeben wollen …«

In der Tür tauchte Miß Craig mit einer farbigen Geige auf. Auf den gelben Grundton waren rote, blaue und giftgrüne Kringel gemalt.

»Sie haben recht, Mister Mason«, Clifton nickte mit ausnehmend fröhlichem Gesicht, »so viel Geld ist mir ein Mason wirklich nicht wert.«

Der Galeriebesitzer begleitete Perry Clifton mit unbewegter Miene zum Ausgang. Und er sah ihm durch das Glas der aluminiumgefaßten Tür nach.

»Was weiß er?« fragte Miß Craig mit leiser, rauher Stimme.

Masons Päuste waren geballt, als er antwortete: »Er muß weg. Er ist für uns alle eine große Gefahr. Wir müssen ihn verschwinden lassen.«

»Warum hast du es nicht gleich durch Morris besorgen lassen?«

»Bist du verrückt?« herrschte Mason die Frau an. »Noch kann man mir nichts nachweisen. Das Geschäft ist wieder leer, die Ware ist verschwunden. Vielleicht war Clifton nicht allein? Er war bestimmt nicht allein. Woher wußte er eigentlich von den Geigen?«

Miß Craig war plötzlich ganz bleich. »Die Polizei … wir … wir werden beobachtet«, stotterte sie aufgeregt.

»Nein, das glaube ich nicht. Trotzdem wird es höchste Zeit, daß wir den Standort wechseln. Schließ die Tür ab, Peggy!«

Im Hintergrund tauchte Morris Batallin auf. »Telefon, Chef, schnell!« rief er.

»Wer ist es?« fragte Mason.

»Es ist der Chef, Chef!«

Pläne werden geschmiedet

Als Perry Clifton rückwärts aus der Parklücke vor der Apotheke rollte, legte Jack Mason den Hörer auf die Gabel zurück. Morris und die Frau sahen ihn gespannt an. »Was hat er gesagt?« wollte letztere wissen.

»Er hat immer einen Plan parat.« Jack Mason nickte anerkennend und wiederholte die gleichen Worte noch einmal: »Er hat immer einen Plan parat, keinen schlechten. Genau das, was ich auch für das Richtige halte.«

Peggy Craig rieb nervös die Handflächen aneinander. Eine Angewohnheit, der sie immer dann frönte, wenn Angst und Unruhe über sie kamen. »Was für einen Plan, Jack?«

»Warum bist du so nervös, Peggy?«

»Ich will wissen …«

Mason hatte mit der flachen Hand klatschend auf die Schreibtischplatte geschlagen. »Halt endlich die Klappe!!« Er sagte es leise, aber in einem Ton, der Peggy Craig verstummen ließ. Bebend setzte sie sich auf einen Stuhl, während Mason Morris Batallin mit dem Kopf winkte.

»Hol Mellier hoch!«

»Ja, Chef!« schmatzte der Riese und spuckte den Zahnstocher, auf dem er herumgekaut hatte, auf den Boden. Seine riesige Franke lag schon auf der Klinke, als ihn Masons Stimme noch einmal aufhielt.

»Ich habe es nicht gern, Morris, wenn in meiner Umgebung Holz auf dem Boden herumliegt.«

»Ja, Chef!« Mit einem verlegenen Seitenblick auf Peggy Craig klaubte Batallin den Zahnstocher vom Teppichboden und ließ ihn in der Tasche seines Dekorateurmantels verschwinden. Als die Tür hinter ihm zufiel, rief Miß Craig beschwörend: »Laß uns aus der Sache aussteigen, Jack. Laß uns aussteigen, bevor es zu spät ist. Noch bleibt uns Zeit, in einem anderen Land unterzutauchen!« Und leise ergänzte sie: »Und Geld genug haben wir auch.«

Jack Mason musterte Peggy Craig mit einem Blick, der halb Verachtung, halb Ungeduld ausdrückte. Und die gleiche Mischung schwang in seiner Stimme mit, als er sagte: »Du kennst mich lange genug, um zu wissen, daß ich noch nie für halbe Sachen war. Das einzige, was wir tun werden, ist — umziehen!«

»Umziehen? Wohin?«

»Vielleicht in eine andere Stadt.«

»Warum nicht gleich in ein anderes Land?«

»Es wäre zu umständlich, Peggy, viel zu umständlich.«

Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann fragte Peggy: »Und Gordon?«

Jack Mason hatte die letzte Frage gar nicht wahrgenommen. Angestrengt starrte er, dicke Falten auf der Stirn, an Peggy vorbei an die Wand. Irgend etwas schien ihn zu beschäftigen …

»Da ist was«, begann er langsam, als müßte er jedes Wort genau überlegen, »da ist was, das mir im Kopf herumgeht. Verdammt, ich weiß nicht, ob das damit zusammenhängt.«

»Wovon redest du?«

»Von Gianna Mirly. Sie rief heute nachmittag an!«

»Die Italienerin? Aber sie war doch hier!«

»Nachdem sie hier war. Sie war ganz aufgeregt und behauptete, man habe sie verfolgt!«

Peggy sprang auf. »Von hier aus?«

»Das wußte sie nicht!«

»Wer?«

»Ein Junge!« sagte Mason und fügte zornig hinzu: »Hör auf, deine Hände wie Teig zu walken. Du weißt, daß ich das nicht ausstehen kann.«

»Ein Junge!« Die Frau im braunen Wollkleid schien erleichtert. Aufatmend ließ sie sich in den Stuhl zurückfallen.

»Dreizehn bis vierzehn Jahre alt soll er gewesen sein.«

»So ein Unsinn. Das hat sie sich doch eingebildet.«

»Sie war sich ihrer Sache sicher. Ich überlege, ob dieser Junge etwas mit Clifton zu tun haben könnte.«

»Du meinst, daß der den Jungen hier zum Aufpassen postiert hatte?«

»Meine ich!«

Peggy schluckte, dann fragte sie: »Was hat Gianna denn gemacht, als sie es bemerkte?«

»Sie ist kreuz und quer gelaufen und in der Lions-Road in einen Omnibus gestiegen.«

»Und der Junge?«

»Ebenfalls.«

»Und dann?«

»Sie fuhr bis Amerson-Castle und ging in ein Appartementhaus in der Lathers-Street. Dort fuhr sie in den 6. Stock.«

»Und warum gerade in den 6. Stock?«

»Weil sie wußte, daß dort eine junge Frau namens Brenda Harvey wohnt. Die hat sie wohl irgendwann einmal im Gefängnis-Spital kennengelernt. Vom Hausfenster aus hat sie dann gesehen, wie sich der Bursche höchst eilig verdrückt hat. Anschließend ist sie nach Hause gefahren. Natürlich ohne sich vorher bei dieser Harvey zu melden.«

»Vielleicht war er nur ein kleiner Taschendieb?«

»Das hab’ ich auch gedacht … bis vorhin. Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.«

Die Tür ging auf, und Morris schob seinen Halblandsmann François Mellier herein. Geblendet blinzelte François in das helle Licht und hielt sich schützend die Hand über die Augen.

»Einen Moment!« sagte Mason und zog ein kleines, in blaues Leder gebundenes Notizbuch aus der Tasche. Während er mit der linken Hand darin blätterte, zog er mit der rechten das Telefon heran.

Vier-, fünfmal läutete das Freizeichen, dann eine verschlafene Stimme. »Hier ist Sam Newton!«

»Guten Abend, Mister Newton. Hier spricht Jack Mason.«

»Mason?« Und noch einmal: »Mason? Ah, der Mason vom Kingsplace.«

Jack Mason hatte ärgerlich die Augenbrauen zusammengezogen. Schroffer als beabsichtigt erwiderte er: »Ganz recht, der!«

»Okay, Mister Mason, was kann ich für Sie tun?«

»Als Sie den Bericht für mich machten, ist Ihnen dabei vielleicht ein kleiner … nein, kein kleiner, ein Junge so um die dreizehn, vierzehn Jahre aufgefallen? Vielleicht ein Neffe oder so was Ähnliches?«

»Ein Junge? So zwischen dreizehn und vierzehn?«

»Ja. Es könnte natürlich auch ein Junge aus der nächsten Nachbarschaft sein …«

»Moment!«

Ein dumpfer Schlag dröhnte aus der Muschel, dann war es still.

Zehn Sekunden vergingen, dreißig,

eine Minute,

eine zweite!

Mason trommelte nervös und gereizt mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum.

Drei Minuten!

»Hallo!« rief Mason. Und noch einmal: »Hallo, Mister Newton!«

Und Newtons verschlafene Stimme antwortete: »Warum schreien Sie denn so? Ich bin weder taub noch schwerhörig!«

»Ich habe keine Lust, am Telefon zu überwintem, Mister Newton!« giftet Mason.

Und ungerührt kam es zurück: »Und ich habe in meinen Unterlagen nachgesehen. Sie sind schließlich nicht der einzige Fall, den ich bearbeitet habe. Und das braucht eben seine Zeit!«

»Schon gut. Was sagen Ihre Unterlagen?«

»Es gibt keinen Jungen in Cliftons Umgebung, der mir aufgefallen ist. Auch keinen Neffen!«

»Okay, Danke!«

Jack Mason warf den Hörer grimmig auf die Gabel, steckte das Notizbuch ein, schob das Telefon zurück, zündete sich eine Zigarette an und begann François Mellier nachdenklich zu mustern.

»Sie sehen nicht besonders gut aus, mon ami. Ein Keller ist eben doch kein Salon.«

In Melliers Augen hielten sich Furcht und Hofinung die Waage. Und die Hoffnung war es auch, die ihn fragen ließ: »Haben Sie Cockland erwischt, Mister Mason?«

Jack Mason betrachtete den Franzosen mit dem Interesse eines Verhaltensforschers: dessen schmutzige Kleidung, die verdreckten Schuhe, das unrasierte Gesicht mit den dunklen Augen, aus denen jetzt nackte Angst sprach, und die Hände. O ja, Hände und ihre Bewegungen können viel verraten.

»Nein, wir haben Cockland nicht. Ich glaube auch nicht, daß er uns noch sonderlich interessiert.«

»Aber … aber nur er kann bestätigen, daß ich nichts mit der Sache zu tun habe, daß er mich niedergeschlagen hat.«

François Mellier redete laut und schnell, seine Augen flackerten.

Da legte sich Batallins große, schwere Hand auf seine Schulter. Eigenartig, François schien diese Geste zu beruhigen. »Nur Cockland allein …«, sagte er leise.

»Beruhigen Sie sich. Der Chef ist geneigt, Ihrer Version Glauben zu schenken, Mellier.«

Das Gefühl grenzenloser Erleichterung machte Melliers Stimme heiser. »Merci, merci, Monsieur Mason. Ich habe wirklich nichts damit zu tun …«

»Aber«, fuhr Mason fort, »der Chef ist auch der Meinung, daß Sie uns eine kleine Wiedergutmachung schuldig sind. Sie werden das einsehen.«

François nickte zustimmend: »Ich mache, was Sie verlangen. Nur … nur umbringen kann ich niemand!«

Jack Mason schüttelte den Kopf. »Wofür halten Sie uns eigentlich? Niemand verlangt von Ihnen so etwas. Sie sollen uns nur helfen, jemanden aus dem Verkehr zu ziehen, der uns gefährlich werden könnte.«

»Und was geschieht mit ihm?«

»Wir werden ihn auf Eis legen, bis wir unsere Geschäfte abgewickelt haben.«

Mellier sah Mason an, sah auf Peggy Craig und sah Morris Batallin an. Als ihm Morris beruhigend zunickte, wandte er sich wieder dem Galeriebesitzer zu. »Bon, Monsieur, was soll ich tun?«

»Haben Sie den Namen Perry Clifton schon einmal gehört?«

Mellier überlegte eine ganze Weile, dann schüittelte er entschieden den Kopf. »Ich bin sicher, daß ich diesen Namen noch nie gehört habe!«

Mason zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr ein Blatt Papier. Er reichte es dem Franzosen. »Hier steht alles drauf, was Sie wissen müssen. Und nun hören Sie mir zu …«

Und François Mellier hörte zu. Kein Wort des hinterhältigen Planes entging ihm.

Eine heiße Information

In kurzen Abständen hatte Perry Clifton versucht, Scott Skiffer im Yard zu erreichen. Doch immer, wenn er anrief, hieß es, der Inspektor sei nicht an seinem Platz.

Es war mittlerweile 20 Uhr 10 geworden.

Wieder griff er zum Hörer.

Wieder meldete sich die Vermittlung, und wieder sagte die gleiche Stimme die gleichen Worte: »Ich will es versuchen, Sir!«

Zweimal knackte es, dann: »O’Connor!«

»Wer bitte?«

»Hier spricht Detektivsergeant O’Connorl Mit wem möchten Sie denn sprechen?«

»Ich glaube, man hat mich falsch verbunden, Sergeant. Ich wollte Inspektor Skiffer sprechen!« Clifton wollte schon auflegen, als O’Connor rief: »Das ist schon richtig. Das hier ist der Apparat von Inspektor Skiffer. Mit wem spreche ich denn?«

»Hier spricht Clifton. Ich versuche schon seit Stunden, den Inspektor zu erreichen. Wo steckt er denn?«

»In einer Konferenz, Sir. Soviel ich weiß, hat er ebenfalls versucht, mit Ihnen zu telefonieren.«

»Wissen Sie, ob er heute Kontakt mit der Expertengruppe hatte?«

Ein kurzes Zögern am anderen Ende der Leitung, dann ein etwas zaghaftes »Ja«. Es klang, als wisse der Sergeant, daß er mit dieser Auskunft gegen die Dienstvorschrift verstieß.

»Ich muß ihn dringend in der gleichen Angelegenheit sprechen!« O’Connor erwiderte: »Die Besprechung soll gegen 21 Uhr zu Ende sein. Ich lege dem Inspektor eine Nachricht hin. Sind Sie unter Ihrer Privatnummer zu erreichen?«

»Die ganze Nacht!«

»Er wird Sie anrufen, Mister Clifton!«

»Vielen Dank, Sergeant!«

21 Uhr 18.

Endlich. Perry Clifton riß den Hörer von der Gabel. Es war Skiffer, und er schien aufgeregt.

»Ich habe unzählige Male bei dir zu Hause angerufen. Wann bist du aus Hackston zurückgekommen?«

»Kurz vor 18 Uhr. Ist was passiert?«

»Eine ganze Menge, Perry. Du wirst dich wundern. Aber zuerst du. Wie war’s in Hackston?«

»Ich habe nichts gefunden und doch eine Entdeckung gemacht. Noch weiß ich nicht, ob es ein Zufall ist. Wenn nicht, bin ich ein ausgemachter Esel! Bevor ich es vergesse, nimm mal Stift und Papier zur Hand!«

»Okay!«

»Dann schreibe: Brenda Harvey, Lathers-Street 12. Hast du?«

»… Street 12. Okay. Und was ist mit dieser Lady?«

»Während ich mit Lash in Hackston war, hat Dicki auf meine Bitte hin Jack Masons Laden am Kingsplace beobachtet. Zwischen 14 Uhr 20 und 17 Uhr 40 wurden insgesamt 17 Geigen aus der Galerie abgeholt. Und zwar von vierzehn Männern und drei Frauen. Dicki ist einer der Frauen gefolgt!«

»Jener Brenda Harvey!«

»Ja. Als ich nach meiner Rückkehr davon hörte, habe ich ebenfalls einen Besuch in der Galerie gemacht. Mich hat es bald umgeworfen, als ich Miß Craig dort als Verkäuferin antraf.«

»Wer ist Miß Craig?«

»Sie arbeitet im Büro von GORDON & LASH. Sie bat mich auch sofort, Mister Lash nichts von ihrer Anwesenheit in Masons Etablissement zu verraten.«

»Du meinst, daß sie zur Bande gehört?«

»Wenn es eine Bande gibt, gehört sie sicher dazu, Scott. Als ich eine bunte Geige kaufen wollte, rief sie nach Mason.«

»Und?«

»Bevor Mason kam, tauchte noch ein Individuum auf, dessen Gesicht garantiert in einem Bildband bei euch zu finden ist. Zirka zwei Meter hoch und zweieinhalb Zentner schwer. Er hatte ein ziemlich zerschlagenes Gesicht und wurde von Miß Craig ›Morris‹ genannt.«

»Notiert. Und was war mit der Geige?«

»Mason war bereit, mir eine zu verkaufen. Zusammen mit seinem angeblich sehr wertvollen Autogramm darauf verlangte er dafür tausendfünfhundert Pfund.«

Scott Skiffer ging nicht weiter darauf ein. Er fragte nur: »Was vermutest du, Perry?« Dabei spürte Clifton durch den Draht, daß der Inspektor mit irgendeiner sensationellen Information zurückhielt.

»Was ich vermute? Ich vermute, daß Masons Kunsthaus der Umschlagplatz für eine bestimmte Ware ist, die mit den bunten Geigen aus Hackston transportiert wird.«

»Welche Ware?«

»Wie wäre es mit Falschgeld?«

»Gut vermutet. Aber doch nur Vermutung. Bevor ich dir jetzt sage, was ich seit genau vier Stunden weiß, noch etwas anderes: Du hast doch mal den Namen Brockton erwähnt!«

»Brockton? Ja. Das Geigenhaus in Hackston wird von den Einwohnern das Brockton-Haus genannt, weil es von einem gewissen Brockton erbaut wurde. Was ist mit dem Namen?«

»Ich hab’ dir doch mal unsere Schnüffelbiene Cunnings vorgestellt!«

»Der kleine Mann, von dem du sagst, daß er nicht fünf, sondern zehn Sinne hat. Ich erinnere mich.«

»Also. Der gute Cunnings hat geschnüffelt und dabei herausgefunden, daß ein gewisser Gordon mit einem gewissen Brockton verwandt war. Sagt dir das was?«

Perry Clifton mußte nicht lange überlegen. »Das sagt mir eine ganze Menge. Und es würde uns einen entscheidenden Schritt vorwärtsbringen, wüßten wir, wo sich Gordon versteckt hält.« Und dann forderte Clifton den Inspektor auf: »Nun sag schon, was du gern loswerden möchtest. Was weißt du seit vier Stunden?«

»Wir wissen, wer Abraham Jefferson ist!«

Perry Clifton hielt den Atem an.

»Seit vier Stunden. Und wenn ich nicht so eine Schlafmütze gewesen wäre, könnten wir es schon viel länger wissen!«

Und dann erzählte Scott Skiffer Perry Clifton die ganze Geschichte. Eine Geschichte, die Perry im wahrsten Sinne des Wortes die Luft nahm, obwohl er selbst eine solche Lösung schon in Betracht gezogen hatte. Doch von der Vermutung zur Gewißheit ist es eben immer ein ganzes Stück Weges.

Ganz plötzlich gab es auf eine lange Reihe offener Fragen Antworten, logische Antworten. Aus zahllosen Puzzle-Teilen war mit einem Mal ein fertiges Bild geworden … nein, ganz fertig war dieses Bild noch nicht.

»Ihr habt Jefferson noch nicht festnehmen können!«

»Der Vogel war ausgeflogen. Da ich wußte, daß du in Hackston warst, wollte ich deine Rückkehr abwarten.«

»Was passiert nun?«

»Morgen früh wird entschieden, ob wir die einzelnen Nester gleichzeitig ausheben oder ob wir damit warten, bis uns der Kopf des Ganzen in die Hände gefallen ist.«

»Und du bist sicher, daß er noch keinen Verdacht geschöpft hat?«

»Wir müssen es hoffen. Auch für dich! Es wäre vielleicht gut, wenn ich dir einen Beamten schicken würde!«

»Wozu? Ich kann mich meiner Haut allein wehren!«

»Wie du willst. Auf alle Fälle möchte ich dich bitten, gleich morgen früh zu uns zu kommen. Es gibt einige Formalitäten zu erledigen.«

»Wirst du auch da sein?«

»Ja. Ebenso die gesamte Expertengruppe. Da du den Mann ja bereits kennengelernt hast, möchte man deine Meinung hören. Übrigens, noch etwas. Dem dicken Bromley, das ist der Mann mit den falschen Pfund- und Dollar-Noten, ist plötzlich der Name des Franzosen eingefallen, von dem er angeblich das Geld gewonnen haben will.«

Statt nach dem Namen zu fragen, sagte Perry Clifton: »Wird ein Phantasiename sein, wie üblich. Also, Scotty, ich bin morgen früh gegen 9 Uhr im Yard!«

»Okay, Perry, und paß auf dich auf!«

Nachtfahrt

Perry Clifton hatte schon lange aufgelegt, als er noch immer auf den Telefonapparat starrte.

Wieder und wieder gingen ihm die Ereignisse der letzten Tage durch den Kopf. Es war ein verdammt eigenartiges Gefühl, das einen so kurz vor dem Abschluß eines Falles beschlich.

Wenn einem bei der Erinnerung an die durch Unwissenheit begangenen Fehler das kalte Grausen über den Rücken rann.

Wenn nachträglich zuerst harmlos erschienene Gespräche plötzlich Sinn erhielten.

Und dann die noch offenen Fragen:

Wo steckte Abraham Jefferson?

Wo wurde das Falschgeld gedruckt?

22 Uhr. Das Läutwerk des Telefons riß Clifton wieder einmal aus dem Nachdenken.

»Clifton!« meldete er sich mit der Gewißheit, daß es nur Skiffer sein konnte.

»Hallo, Mister Clifton persönlich?« Perry war schlagartig hellwach. So wach, daß er sofort registrierte, daß der Anruf aus einer Telefonzelle kam und der Anrufer mit Akzent sprach. Es mußte das Englisch eines Franzosen sein. »Ja, persönlich!«

»Mein Name ist Mellier. François Mellier. Wäre es trotz der späten Stunde möglich, daß ich Sie sprechen könnte?«

Perry dachte an Skiffers Warnung und auch daran, was ihm dieser vorhin über Bromley gesagt hatte.

»Um was handelt es sich, Mister Mellier?«

»Es ist eine Angelegenheit, die Sie ebenso interessiert wie mich!«

»Ich habe keine Lust, um diese Zeit noch Rätsel zu raten, Mister Mellier. Sagen Sie mir kurz und bündig, um was es sich handelt, oder ich lege auf!«

»Um bunte Geigen!« Perry Clifton hörte den Mann heftig atmen.

»Wollen Sie mich in der Stadt sprechen?«

»Ich würde lieber zu Ihnen kommen.«

»Allein?«

»Mon dieu, es darf mich niemand sehen«, rief François Mellier erschrocken.

»Wo stecken Sie jetzt?«

»In einer Telefonzelle in der Rickland-Street. Das ist wohl ziemlich in Ihrer Nähe.«

»Sie können in fünf Minuten hier sein. Ich erwarte Sie an der Haustür.«

»Nummer 14?«

»Ja, Nummer 14!«

Clifton legte auf und wählte sofort wieder. Diesmal dauerte es glücklicherweise nur Sekunden, bis er Skiffer am Draht hatte. Die Unterhaltung war kurz.

Mehrere Stufen auf einmal nehmend, hastete er die vier Stockwerke hinunter, schloß die Haustür auf und drückte sie von außen ins Schloß. Sechzig Sekunden später saß er knapp zwanzig Meter entfernt im dunklen Fond seines eigenen Wagens. Das Stück Straße von der Ecke Bell-Street bis zur Tür Starplace 14 lag vor ihm.

Ein Ehepaar ging gemächlich in Richtung Bell-Street.

Ein Mann mit einem Boxer an der Leine nahm den gleichen Weg.

Zwei Männer bogen um die Ecke; sie unterhielten sich, vor seiner Haustür hielten sie, zündeten sich Zigaretten an, gingen weiter und entschwanden seinen Blicken.

Ein junges Mädchen … es war Miß Dinah. Dinah Bannister. Perry kannte sie. Sie wohnte Hausnummer 16 und arbeitete bei der Post. Wahrscheinlich kam sie vom Spätdienst.

Die fünf Minuten waren längst vorbei.

Ein neuerlicher Blick zur Uhr: 22 Uhr 07.

Dann ein Mann … es war Fred Miller, sein Nachbar, Dickis Vater. Stimmt, es fiel Clifton ein, Fred hatte freitags immer seinen Bowling-Abend.

Miller betrat das Haus.

Wo blieb dieser Mellier?

Da, der mußte es sein. Ein hagerer Mann. Er hatte den ersten Hausgang erreicht, suchte nach dem Nummernschild.

Er trug trotz der empfindlichen Nachtkühle keinen Mantel, nur der Kragen des Jacketts war hochgeschlagen. Zwei-, dreimal sah er sich um. An Eingang 14 angekommen, probierte er den Drehknauf der Haustür.

Abgeschlossen.

Fred Miller hatte die Tür von innen abgeschlossen.

Clifton sah, wie der Hagere in seinen Taschen suchte. Ein Streichholz flammte auf, beleuchtete das Klingelbrett.

Geräuschlos verließ der Detektiv seinen Wagen. Sah noch einmal in die Runde. Nichts deutete darauf hin, daß Mellier in Begleitung gekommen war.

»Hallo, Mister Mellier!«

Der Hagere fuhr blitzschnell herum und preßte sich gegen die Haustür.

Perry Clifton trat auf ihn zu, gespannt und abwehrbereit. »Ich bin Clifton!«

»Ein feiner Trick das!«

Clifton drückte auf den Knopf der Hausbeleuchtung. Licht flammte auf. »Das Streichholz hätten Sie sich sparen können.«

»Wenn man sich nicht auskennt«, sagte Mellier, und fügte dann mißtrauisch hinzu: »Sind Sie wirklich Mister Clifton?«

Perry sah in ein ungepflegtes Gesicht, das deutliche Spuren von Erschöpfung aufwies, und in ein Paar Augen, in denen ein unbestimmtes Lauern war. Hatte der Mann Angst vor ihm?

»Ja, ich bin Clifton, Sie können beruhigt sein.«

Er schloß die Haustür auf, und Mellier schob sich eilig an ihm vorbei.

Oben angekommen, deutete Clifton auf einen Stuhl, während er selbst dem Schrank Flasche und Glas entnahm. »Aus Ihrer Heimat, Mister Mellier. Sie kommen doch aus Frankreich?«

Mellier nickte und stürzte das randvoll mit Cognak gefüllte Glas hinunter. Nachdem er sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte, sagte er: »Aus Lyon. Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich nicht verraten?«

»An wen sollte ich Sie verraten?«

»An die Polizei … oder an meine«, er spuckte wütend auf den Boden, »meine sogenannten Freunde.«

»Und wer sind Ihre sogenannten Freunde?«

François Mellier betrachtete eine Zeitlang angeregt das Muster der Tischdecke, dann schob er Clifton sein Glas entgegen: »Geben Sie mir noch einen!« Er goß diesen ebenso hastig hinunter wie den ersten Cognak. »Ich würde Ihnen ohnehin nichts Neues erzählen.«

»Jack Mason«, Clifton begann aufzuzählen, Mellier nickte.

»Miß Craig!« Wiederum Nicken.

»Mister Melvin … Charly Webster … wer noch?«

»Cockland«, sagte Mellier. »Und Batallin.«

»Und Frank Gordon?« War der Franzose zusammengezuckt, oder hatte er sich geirrt?

»Gordon? Wer ist Gordon?«

»Nie von der Firma GORDON & LASH gehört?«

»Natürlich. Gehört ja das Haus in Hackston.«

»Wo es die bunten Geigen gibt!«

»Ja, Monsieur, das Haus der bunten Geigen …«

»Wenn ich mich recht erinnere, wollten Sie mir etwas von diesen bunten Geigen erzählen?«

»Sie spielen in meiner Geschichte eine große Rolle. Ich habe sie breitgefahren. Ich war Fahrer.«

»Bei Mason?«

»Bei Mason!«

»Und wo haben Sie die Geigen immer abgeholt?«

»In Hackston. Nur in Hackston. Wenn wir hinkamen, war immer schon alles vorbereitet. Wir haben sie bis nach Frankreich, nach Holland und Belgien geschafft.«

»Wir?«

»Cockland und ich. Ich war der Fahrer, Cockland hat den Papierkram und die Geschäfte abgewickelt … Bis zu dem Tag, wo er verrückt spielte. Wir waren gerade unterwegs …«

»Auf der Straße nach Southampton!«

François sah überrascht auf, musterte Clifton mißtrauisch und fragte dann: »Woher wissen Sie das?«

»Es stand in der TIMES!« erwiderte Clifton trocken.

Mellier fuhr fort: »Wir fuhren nachts. Er sagte zu mir: ›Halt mal, Kleiner.‹ Ich fuhr also an den Rand und hielt. Zuerst dachte ich, daß er mal müsse, aber dann schlug er mir einfach einen Schraubenschlüssel über den Schädel. Aber wie. Und das, nachdem wir monatelang gemeinsam zusammen herumgegondelt waren. Als ich wieder zu mir kam, hing der Wagen an einem Baumstamm, keine fünf Meter von der Straße entfernt. Es wurde schon Tag. Als ich ausstieg, sah ich die Bescherung. Cockland hatte sämtliche Geigen aufgeschlagen und sie rund um das Auto verteilt. Ich habe in aller Eile die Nummernschilder abmontiert und mich aus dem Staub gemacht.«

»Und der Inhalt der Geigen?«

»Hatte Cockland. Zuerst wollte ich per Anhalter zum Kanal, aber dann dachte ich, daß man mich dort wohl zuerst suchen würde. Also zurück nach London. Ich kannte hier jemanden, der Beziehungen im Hafen haben sollte, und ich glaubte, daß er mir ein Schiff nach Afrika besorgen könnte.«

»Sie reden von Bromley!«

Mellier riß die Augen auf und starrte Clifton wie eine Erscheinung an. »Können Sie hellsehen?«

Perry lächelte. »Auch ich habe gewisse Infomationsquellen. Bromley hat man verhaftet. In einem kleinen Hotel, wo er untertauchen wollte.«

»Das ist gut. Und warum?«

»Weil er in Besitz von Falschgeld war.«

Aus Melliers Augen sprachen Triumph und Genugtuung. Ja, er rieb sich sogar die Hände. »Diese schmierige Kreatur! Nachdem er mir alles Geld für die angebliche Schiffspassage abgenommen hat, ist er zu Mason gelaufen und hat mich verpfiffen.«

»Der Polizei gegenüber soll er gestanden haben, daß das Falschgeld von Ihnen stamme.«

François winkte ab. »Stimmt. Das waren Blüten, die mir Cockland, wahrscheinlich als Schmerzensgeld, in die Tasche geschoben hatte. Wenn die Polizei dem Dicken glaubt, soll es mir recht sein. Mir ist’s egal. Ich werde England verlassen, sobald ich wieder gutes Geld in den Fingern habe. Gutes, echtes Geld. Und das werde ich hoffentlich von Ihnen bekommen, Monsieur! «

»Von mir?«

»Ja. Hören Sie weiter. Mason hat mich von seinem Gorilla aus Bromleys Wohnung in Soho holen lassen und in seinen Keller geworfen wie … wie einen Schwerverbrecher!« Mellier reckte die Fäuste. »Über vierundzwanzig Stunden habe ich in dem Loch gehockt, in dem es weder Luft noch Licht gab. Kein Wasser, nur Ratten, die einem über die Beine gelaufen sind, sobald man eine Minute stillgesessen ist.« Er schüttelte sich.

»Und warum das alles?«

»Weil Mason glaubt, ich hätte mit Cockland gemeinsame Sache gemacht.«

»Wo steckt dieser Cockland?«

»Niemand weiß es. Heute nachmittag hat mich Mason hochholen lassen und mir einen Vorschlag gemacht. Wenn ich Sie ihm ans Messer liefere, soll meine Sache vergessen sein, und ich darf wieder mitverdienen.« Er lachte höhnisch. »Haben Sie gehört, Monsieur, ich darf wieder mitverdienen. Oh, wenn die wüßten.«

»Wenn die was wüßten?«

»Wenn die wüßten, was ich weiß. Die haben mich immer nur für den kleinen dummen Franzosen gehalten, der zu weiter nichts fähig ist, wie zum Autofahren. Sie ahnen nicht, daß ich das Geheimnis des Hackston-Hauses kenne. Ich konnte Melvin und Webster belauschen, die Haare haben sich mir gesträubt.«

Perry Clifton ließ sich nicht anmerken, daß er jedem Wort Melliers entgegenfieberte.

»Das Haus in Hackston hat kein Geheimnis, Mellier. Ich habe es heute zusammen mit Mister Lash vom Boden bis zum Keller durchsucht. Keine tote Maus ist uns dabei entgangen.« Perry Clifton beobachtete den Franzosen bei diesen Worten genau, doch Mellier lachte nur. »Vom Boden bis zum Keller — und nicht weiter.« Und breit wiederholte er: »Und nicht weiter. Das ist ja das Geheimnis.« Plötzlich verstummte er, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als müsse er einen bösen Traum verscheuchen. Dann: »Zum Geschäft, Mister Clifton.« Seine Stimme war sachlich, nüchtern. »Ich werde Sie nicht in den Hafen locken, wie ich es soll, sondern ich werde Ihnen das Geheimnis von Hackston verraten. Sie geben mir dafür fünfhundert Pfund. Das reicht mir, um von dieser verdammten Insel zu kommen.«

»Und wie soll ich wissen, ob Ihre Information diese fünfhundert Pfund wert ist?«

»Sie zahlen mir das Geld erst dann, wenn ich Sie zu dem verborgenen Eingang geführt habe. Und Sie nehmen mich auch wieder bis nach London mit zurück. Sobald Sie mich abgesetzt haben, können Sie die Polizei verständigen.«

»Und was sollte mich daran hindern, das nicht schon jetzt zu tun?«

François Mellier war aufgesprungen und sah Clifton feindselig an. Seine Rechte steckte mit einem Mal in der Innenseite seines Jacketts. Als Perry jedoch keinerlei Anstalten machte, zum Telefon zu gehen, ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen. »Meine Nerven sind nicht mehr die allerbesten, Mister Clifton. Sie sollten mich nicht unnötig aufregen.«

»Pistole oder Messer?« fragte Perry ungerührt. Wortlos zog Mellier die Hand zurück. »Man muß sich verteidigen können.«

»Wann soll die Reise nach Hackston stattfinden, Mister Mellier?«

»Wann? Jetzt natürlich. Noch heute nacht! Ich brauche das Geld!« Ein plötzlich aufgekommener Verdacht schien ihn zu beunruhigen. »Oder haben Sie nicht so viel Geld?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, nein. Ich habe höchstens dreihundert Pfund im Haus, und das auch nur aus Zufall. Ich könnte Ihnen für die restliche Summe aber einen Barscheck ausschreiben.«

Mellier schien eine ganze Weile intensiv nachdenken zu müssen. Dann gab er sein Einverständnis. »Bon, Monsieur, dreihundert in bar und zweihundert per Scheck!«

Clifton erhob sich, ging zu seinem Schreibsekretär und entnahm einer Kassette einige Geldscheine. Sorgfältig verwahrte er diese in seiner Brieftasche. Mellier beobachtete jede seiner Handbewegungen und schien zufrieden.

»Eine Frage, Mister Mellier: Wer ist eigentlich oberster Chef dieser menschenfreundlichen Vereinigung?«

Der Franzose starrte Clifton überrascht an. »Der Chef? Jack Mason, wer sonst?«

»Sie meinen wirklich, daß Mason das Oberhaupt der Falschmünzerbande ist?«

»Ich bin sicher. Sind Sie anderer Meinung?«

»Ja, aber das sollte Sie nicht stören.«

Mellier tippte den Detektiv mit dem Finger an. »Ich habe auch eine Frage. Wenn Sie alles so genau wissen, warum sind Sie dann noch nicht zur Polizei gegangen?«

»Vielleicht deshalb, weil ich noch nicht genug weiß … Ist Ihnen eigentlich klar, daß es lange nach Mitternacht sein wird, bevor wir nach Hackston kommen?«

Mellier nickte eifrig. Und während er sich selbst noch einmal aus der Cognakflasche bediente, versicherte er: »Das ist die beste Zeit.«

»Dann wollen wir mal aufbrechen.« Und etwas lauter: »Wir fahren über die Schnellstraße bis Leicester, wenn’s recht ist!«

»Schreien Sie doch nicht so!« zischte der Franzose erschrocken. »Es muß uns ja nicht die ganze Nachbarschaft hören!«

Perry Clifton fuhr betont langsam. Das heißt, er überschritt innerhalb des Stadtgebietes nicht ein einziges Mal die erlaubte Geschwindigkeit. Eine Sache, die Mellier zuerst mit Stöhnen, dann mit Worten kommentierte: »Warum schleichen Sie so?«

»Aus reinem Egoismus, Mister Mellier!«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Wenn ich die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreite, und der Polizei fällt es ein, mich zu stoppen, bin ich zweimal der Dumme. Ich muß Strafe zahlen und lerne das Geheimnis des Hackston-Hauses nicht kennen, weil man Sie mitnehmen wird. Haben Sie vergessen, daß Ihr Name auf den Fahndungslisten der Polizei steht, Mister Mellier?«

Der Franzose schwieg fortan. Und immer, wenn irgendwo im Lichterschein der verschwenderisch illuminierten Straßen ein Bobby auftauchte, machte er sich klein.

Clifton hatte genügend Zeit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Als er in der Tottenham-Courth-Road vor einer Ampel warten mußte und links vor sich das hellerleuchtete Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes sah, mußte er unwillkürlich an Tom Harder denken. Es schien ihm eine Ewigkeit vergangen zu sein seit dem Tag, an dem Tom ihn besuchte … Eine Woche war es her.

War es wirklich erst eine Woche? Ja, sieben schnelle Tage.

Noch notierte man Freitag, noch, nicht mehr lange. Und es fiel ihm plötzlich ein, daß er heute zum ersten Mal seit Monaten die Sauna verpaßt hatte.

Freitag: Saunatag. Merkwürdig, daß ihm das nicht schon vorhin aufgefallen war, als Fred Miller auftauchte. »Schwitztag« pflegten sie den Freitag zu nennen. Während Perry in der Sauna schwitzte, tat es Fred beim Bowling.

Gedanken,

Überlegungen,

Erinnerungen,

Gespanntheit,

Vorsicht.

Personen tauchten auf:

Angy,

Bradley,

Webster, Holman, der beleidigte Lehrer,

die Craig.

Komisch, keine Spur von Müdigkeit. Im Gegenteil, es war, als enthielte sein Kopf eine Art Rechenwerk, das, unaufhörlich von Gedanken gespeist, ebenso unaufhörlich immer neue Möglichkeiten ausspuckte. Tom Harder wollte angeblich die Kunst des »Nichtdenkens« beherrschen. Er behauptete, dasitzen zu können, ohne daß sich in seinem Kopf die geringsten Denkvorgänge ereigneten.

Was würde Tom Harder wohl sagen, wenn er wüßte, daß er, Perry, in diesem Augenblick schon wieder auf dem Weg zu seinem »unheimlichen Haus« war? Er rechnete nach … Ja, zum vierten Mal innerhalb einer Woche fuhr er diese Route. Das letzte Mal vor zwölf Stunden. »Mister Mellier, um was für ein Geheimnis handelt es sich eigentlich?«

»Um eine geheime Tür!«

»Und wohin führt diese?«

»Zu einem besonderen Teil des Hauses. Mehr sage ich erst, wenn ich mein Geld habe.«

»Wie lange haben Sie für Mason gearbeitet?«

»Knapp fünf Monate.«

»Wie Cockland?«

»Ja.«

»Wie gut kennen Sie Charly Webster?«

»Wie gut kann man jemanden kennen, den man fünf Monate lang jede Woche einmal für ein paar Minuten sieht?«

»Für wie klug halten Sie Webster?«

»Er ist ein mürrischer Dummkopf!«

»Er soll angeblich jede Woche mit dem Lehrer von Hackston Schach spielen.«

»Wenn Webster Schach spielen kann, kann ich auf einem Bein Schlittschuh laufen.«

»Vielleicht können Sie auf einem Bein Schlittschuh laufen?«

»Ich kann es nicht mal auf zwei Beinen!«

Perry Clifton mußte bremsen. Vier Männer, ziemlich angeheitert, überquerten torkelnd die Hampstead-Road.

»Sie sollten mich in den Hafen locken — womit?«

»Ich sollte Ihnen von einem Treffen Masons mit einem anderen Mann erzählen.«

»Und wer sollte der andere sein?«

»Ein gewisser Gordon!« Mellier stutzte, musterte Clifton angestrengt und wollte dann wissen: »Haben Sie nicht vorhin diesen Namen erwähnt? Was ist denn mit dem?«

»Immerhin gehört ihm, wie Sie selbst feststellten, das Haus in Hackston! Sie haben ein miserables Gedächtnis!«

Melliers Stimme klang mürrisch und schläfrig. »In England gibt’s so viele Gordons wie es in Frankreich Duponts gibt. Wie soll man da wissen, welcher gerade gemeint ist.«

Er lehnte sich zurück und gähnte hechelnd. »Ich mach’ ein Nickerchen…«

Perry sah in den Rückspiegel.

Bald kamen ihnen weniger Autos entgegen.

»Nur gut, daß es trocken ist«, dachte Perry. Er haßte es, nachts bei regennasser Straße fahren zu müssen. Wenn sich die Lichtarme der näherkommenden Fahrzeuge auf dem naßglänzenden Asphalt verlängerten und reflektierten, wenn sie ihn blendeten.

Obwohl er sich immer wieder vornahm vorbeizusehen, mißlang es ihm ein ums andere Mal. Wie magnetisch angezogen starrte er in das gefährliche Funkeln, Gleißen und Strahlen. Eine Nachtfahrt bei Regen nahm ihn mehr mit wie eine mit Zahnschmerzen durchwachte Nacht.

Er sah kurz hinüber auf den Nebensitz. François Mellier hielt die Augen geschlossen und versuchte den Eindruck eines Schlafenden zu erwecken. Doch Perry Clifton war sicher, daß der Franzose unter den zugeklappten Augenlidern hellwach war.

Der erneute Blick in den Rückspiegel beruhigte ihn.

Leicester,

Bromville,

Larch,

St. Peters,

Tapstown.

Es war 1 Uhr 15.

»Vorsichtig!« rief François Mellier, »die Rechtskurve ist gefährlich!«

»Ich bin diese Strecke auch schon viermal gefahren, Mister Mellier.«

»Ich meine ja nur.« Melliers Stimme klang gar nicht mehr müde, eher aufgeladen. Steif und aufrecht saß er neben Clifton und starrte mit einem Interesse in die tuschschwarze Finsternis, als stünde ein nächtlicher Sonnenaufgang bevor.

»Suchen Sie was?«

»Was soll ich suchen, Mister Clifton?«

»Das müßten Sie wissen. Wo soll ich parken?«

»Fahren Sie am Haus vorbei. Hundert Meter dahinter gibt es eine Möglichkeit zum Wenden. Mit abgestelltem Motor lassen wir uns dann bergab zurückrollen.«

»Wie weit?«

»Bis zu der Holzbude gegenüber dem Geigenhaus.«

Perry sparte sich die Bemerkung, daß er heute an der selben Stelle schon einmal geparkt hatte.

Die Omnibushaltestelle.

Er nahm den Fuß vom Gaspedal. In BRADLEYS GASTHOF waren die Schankraumfenster noch erleuchtet.

»Haben Sie schon mal süßsaure Bohnensuppe mit Hammelfleisch und Rosinen gegessen?«

»Was?« Der Stimme nach schien der Franzose am Verstand seines Beifahrers zu zweifeln. Clifton wiederholte seine Frage: »Ich habe gefragt, ob Sie schon mal süßsaure Bohnensuppe mit Hammelfleisch und Rosinen gegessen haben?«

»Nein!«

»Wir sind gerade an BRADLEYS GASTHOF vorbeigefahren. Diese Suppe gehört zu Jim Bradleys Spezialitäten. Sie sollten sie mal probieren, Mister Mellier. Oder sind Sie kein Feinschmecker?«

»Monsieur, Ihre Sorgen möchte ich haben.«

In diesem Augenblick passierten sie das Brockton-Haus. Das Hoftor war verschlossen. Nirgendwo brannte Licht. François Mellier verschwendete keinen Blick auf das Gebäude. Wie gebannt starrte er geradeaus.

»Dort müssen Sie wenden!«

Ein Feldweg. Perry mußte scharf abbremsen.

Die Unruhe des Franzosen nahm zu.

Nervös rieb er mit den Händen auf den Knien herum.

»Was haben Sie eigentlich für einen Beruf gelernt?«

»Mechaniker!« antwortete Mellier und rief im gleichen Augenblick aufgeregt: »Stopp! Halt, ein Auto kommt, Licht aus!«

Perry Clifton, der den Wagen schon wieder zur Hälfte zurückgesetzt hatte, legte den Vorwärtsgang ein, die Reifen quietschten. Es waren zwei Fahrzeuge.

Ein Personenwagen und ein größerer Lieferwagen mit festem Aufbau. Sie fuhren dicht hintereinander.

Als für Bruchteile von Sekunden ihre Scheinwerfer voll auf Cliftons Wagen trafen, duckte sich der Franzose und stieß eine ganze Serie Flüche in seiner Muttersprache aus.

»Ausgerechnet jetzt!« keifte er, während Clifton den Wagen erneut zurückgleiten ließ.

»Und das Licht haben Sie auch nicht ausgeschaltet!«

»Ich verfüge nur über zwei Hände und bin außerdem kein Hexenmeister!«

Geräuschlos rollte der Wagen abwärts.

»Warum wollten Sie wissen, welchen Beruf ich gelernt habe?«

»Nur so, es war reine Neugier!« Der Detektiv lenkte den Wagen auf die freie Fläche neben dem Schuppen und schaltete das Licht aus. Es dauerte einige Zeit, bevor sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

»Jetzt sind Sie an der Reihe, Mister Mellier.«

»Haben Sie eine Taschenlampe?«

»Ja!« Clifton griff in das Handschuhfach, in dem er ständig eine kleine Stablampe verwahrte; er hoffte, daß die Batterien noch intakt waren. Sie funktionierte, wenn auch von der kleinen Birne nicht gerade strahlende Helligkeit ausging.

»Kommen Sie!« Mellier winkte und stieg aus.

Zu Cliftons grenzenloser Überraschung schlug der Franzose nicht den Weg zur Straße ein, sondern wandte sich ohne Zögern dem Sandschuppen zu.

Ein leises, metallisches Klirren und Hantieren war zu hören. Mellier schien mit einem Sperrhaken zu arbeiten. Lautlos schwang die Tür auf und zu.

»Licht!« rief er leise, und der Detektiv drückte den winzigen Schieber nach vorn.

Der Innenraum des Schuppens mochte gut 14 Quadratmeter ausmachen. Ein riesiger Container stand auf der rechten Seite, ihm gegenüber zwei große Holzkisten. Alle drei waren bis oben hin mit grobkörnigem Sand gefüllt. Dazwischen lagen Gerätschaften aller Art: Schaufeln, Spaten und Spitzhacken, dazu zwei Schubkarren, ein Stapel Petroleumlampen, Plastikeimer und verschiedene Verkehrsschilder.

»Leuchten Sie hierher!«

Clifton richtete den Schein der Lampe auf Mellier, der vor dem Container am Boden kniete und sich an dessen Rückwand zu schaffen machte.

Ein Knacken und ein dumpfes Schleifgeräusch.

Das Knacken kam aus Melliers Richtung und klang wie das Zurückschnappen eines Riegels. Das dumpfe Schleifgeräusch dagegen stammte zweifellos von draußen.

Mellier stemmte jetzt keuchend sein ganzes Körpergewicht gegen den riesigen Container — und siehe da, der tonnenschwere Behälter begann sich auf einer Achse zu drehen. Er schob so lange, bis sich der Sandbehälter im rechten Winkel zu seinem ursprünglichen Standort befand. Auf der freigewordenen Fläche aber zeigten sich die deutlichen Umrisse einer Falltür. Der Franzose zog sie schweratmend auf; auch sie gab nicht den leisesten Ton von sich.

»Licht!« rief er wieder und deutete nach unten.

Neunzehn steile Stufen aus rohbehäuenen Steinen führten abwärts und endeten in einem schmalen Gang, der ebenfalls Gefälle zeigte und in schnurgerade Richtung zu verlaufen schien. Die Kraft der Batterie reichte nicht aus, um das Ende dieses unterirdischen Ganges auszuleuchten. Nach Cliftons Berechnung mußten sie sich jetzt etwa fünf Meter unter der Straßenoberfläche befinden. Der gemauerte Gang zeigte stellenweise Spuren von Feuchtigkeit.

Manchmal blieb Mellier stehen. Beide lauschten sie dann in die entstandene Grabesstille hinein, und jeder vermeinte den Herzschlag des anderen zu hören.

Nach ungefähr dreißig Metern endete der Gang, endete vor einer stählernen Tür, an der es weder eine Klinke noch einen Knauf noch einen Haltegriff gab. Irgendwie erinnerte sie Clifton an eine ähnliche Tür im Inneren des Brockton-Hauses, an die Tür zum Heizungsraum. Der einzige Unterschied zu dieser bestand darin, daß es hier nur ein Schlüsselloch gab.

François Mellier beugte sich vor und preßte sein Ohr gegen das graue Stahlblech. Fünfzehn Sekunden verharrte er in dieser Stellung, dann richtete er sich auf, nickte, nahm Clifton die Taschenlampe aus der Hand und begann die rechte Mauerseite neben der Tür abzuleuchten.

»Da!« zischte er.

Der Stein ließ sich herausnehmen. Der Franzose schob seine Hand in die entstandene Höhlung. Als er sie zurückzog, grinste er triumphierend.

»Nehmen Sie die Lampe!« sagte er leise, überlegte es sich jedoch sofort wieder anders. »Nein, ich werde Ihnen leuchten.« Er nahm die Taschenlampe in die Hand, in der er bereits den entdeckten Schlüssel hielt, und streckte Clifton die jetzt leere Hand entgegen. »S’il vous plait!«

»Was soll das?«

»Wir haben was ausgemacht. Fünfhundert Pfund!«

Der Detektiv nickte. »Stimmt. Aber finden Sie nicht, daß ein Geheimnis, das bis zu dieser Stelle aus einem unterirdischen Gang und einer Tür besteht, keine fünfhundert Pfund wert ist?«

»Bon!« erwiderte Mellier ohne Zögern. »Die dreihundert in bar jetzt und den Scheck dann, wenn ich den Schlüssel wieder zurück in das Versteck lege.«

»Okay!« Perry Clifton entnahm seiner Brieftasche die Geldscheine und hielt sie seinem »Geschäftspartner« entgegen. »Bitte!« Mellier nahm die Scheine. »Hier die Lampe. Leuchten Sie mir!« Clifton kam der Aufforderung unbeeindruckt nach und sah zu, wie der hagere Franzose die Scheine zählte. »Stimmt! Und jetzt bitte Licht aus!«

Clifton glaubte sich verhört zu haben.

»Licht aus? Warum?«

»Ich will das Geld wegstecken. Dazu brauche ich keine Zuschauer!«

»Lachhaft!« sagte der Detektiv, löschte die Lampe und trat gleichzeitig einen weiten Schritt zur Seite. Alle seine Nerven waren aufs äußerste gespannt. Er hörte das Rascheln der Banknoten und ein Geräusch, das entsteht, wenn man sich im Dunkeln an- oder auszieht.

»Fertig!!« rief Mellier, und Clifton schrak zusammen. Als der Franzose gewahrte, daß Perry Clifton den Standort gewechselt hatte, fragte er mit der Naivität eines neugeborenen Kindes: »Mister Clifton, mißtrauen Sie mir?«

Um die Mundwinkel des Gefragten huschte ein Lächeln, als er antwortete: »Ich würde es zwar anders formulieren, aber es käme auf dasselbe raus.«

Mellier zuchte die Schultem und steckte den Schlüssel ins Schloß der Stahltür. Dabei bemerkte er vieldeutig: »Jeder macht die Geschäfte, die er für die besten und notwendigsten hält.« Und mit dem Finger auf den Lippen: »Ganz leise jetzt!«

Ein kaum wahrnehmbares Knirschen.

Im Licht der nachlassenden Batterieenergie bot sich ihren Blicken ein gefliester Gang dar. Warme Luft schlug ihnen entgegen. Wieder legte Mellier seinen schmutzigen Zeigefinger quer über den Mund.

Auf Zehenspitzen bewegten sie sich vorwärts. Drei Türen gingen ab: eine rechts, eine zweite links und die dritte am Ende des Ganges.

François Mellier steuerte auf die linke Tür zu. Die Schatten der beiden Männer tanzten gespenstisch an den geweißelten Wänden auf und ab. Aus scheinbar unendlichen Fernen drangen Fetzen von Musik zu ihnen und Geräusche die sich wie menschliches Schnarchen anhörten.

Sie hatten die Tür, deren Interesse Mellier galt, erreicht. Er deutete mit dem Daumen nach oben. »Über uns wohnen Melvin und Webster«, flüsterte er.

»Über uns ist der Keller«, gab Clifton zurück und erntete daraufhin einen überraschten Blick des Franzosen, der dann grinste: »Stimmt! Also überüberuns. Von dort kommt die Musik.«

Er öffnete die Tür. Seine Hand fuhr tastend an dem Türfutter entlang.

Als nacheinander brummend und tickend sechs lange Neonröhren den weitläufigen Raum in weißes, gleißendes Licht tauchten, steckte Perry Clifton der Atem. Obgleich Ähnliches geahnt und erwartet, überwältigte ilm die nunmehrige Gewißheit. Er stand in einer komplett eingerichteten Druckerei. Am beeindruckendsten waren die Stapel von Banknoten.

Englische Pfund, Kanadische Dollar, Schweizer Franken und Deutsche Mark. Teilweise füllten sie noch ungeschnitten auf großen Bogen die Regale. Doch die Masse lag, sauber gestapelt, gebündelt und mit Banderolen versehen, auf meterlangen Holztischen.

»Wenn die echt wären, wären wir zwei jetzt Millionäre«, flüsterte der Franzose kichernd und zog Clifton am Jackenärmel zur Tür. »Denken Sie an unsere Abmachung, los!«

Das grelle Licht verlosch und ließ das eben Gesehene unwirklich, traumhaft erscheinen. Und der verglimmende Schein der kleinen Stablampe machte das Ganze noch gespenstischer. Ja, es war wie in einem phantastischen Traum.

Frangois Mellier lockte mit dem gebogenen Finger wie die Hexe im Märchen, legte ihn zum dritten Mal zu einem »Pssst« über die Lippen und bewegte sich lautlos auf die weiter vorn abgehende Tür zu, jene, die auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges lag.

»Kommt es jetzt?« durchfuhr es Perry Clifton. »Ist das der Augenblick X?« Er sah, wie Mellier sich wieder vorbeugte und das Ohr an die Tür preßte. Diesmal war es eine aus dicken Holzbohlen.

Der Augenblick X

Melliers Mund näherte sich Cliftons Ohr. »Ich mache auf, und Sie leuchten hinein. Aber nur kurz, sonst wacht er auf!« hauchte er und schob den Detektiv noch näher an die Tür heran, während sich in dessen Kopf die Gedanken überschlugen: »Wer ist er? Wer soll nicht aufwachen? Gibt es im Brockton-Haus noch ein zweites Geheimnis außer dem der Falschgeldherstellung?«

»Achtung!« zischte der Franzose.

Millimeter um Millimeter begann er die Klinke herabzudrücken. Dann rückte er und riß gleichzeitig die Tür auf. Perry Clifton machte einen Schritt nach vorn, hob die Lampe und … ja, in diesem Moment erfaßte ihn die schwere Eichentür, traf mit voller Wucht seinen Rücken und schleuderte ihn in den Raum hinein.

»Das war der Augenblick X«, durchfuhr es ihn im Stürzen. Die Taschenlampe entfiel seiner Hand und rollte unter ein Möbelstück, genauer: unter einen zerschlissenen Plüschsessel. Aus nächster Nähe vemahm er Geräusche. Bettgeraschel und schweres, schnaufendes Atmen. Dann unerwartet das Licht einer Stehlampe und über ihm, keinen Meter entfernt, das von Furcht und Panik verzerrte Gesicht eines alten Mannes. Weißes verstrubbeltes Haar; ein Augenpaar, aus dem das Grauen sprach. Aufrecht saß der alte Mann, angetan mit einem blaugemusterten Pyjama, auf weißem Bettzeug und sah auf ihn herab.

Perry Clifton rappelte sich hoch und nickte dem alten Mann freundlich und aufmuntemd zu.

»Keine Angst, ich wollte Sie nicht erschrecken … Es ist auch sonst nicht meine Art, ein Zimmer oder eine Wohnung mit einem Hechtsprung zu betreten. Mein Name ist Perry Clifton …«

Der Weißhaarige atmete tief durch. Man spürte, wie mit dem Ausatmen Angst, Schrecken und Entsetzen seinen Körper verließen, wie sich in ihm etwas zu regen begann, das man Hoffnung nennt.

Perry Clifton hatte längst gesehen, daß es an dieser Seite der Tür keinerlei Beschläge gab, und daraus seine Rückschlüsse gezogen.

»Wie lange hält man Sie hier schon gefangen?«

»Seit … seit etwa sechs Monaten, Mister …«, antwortete der Alte mit brüchiger Stimme. Er schien Cliftons Namen entweder nicht verstanden oder schon wieder vergessen zu haben. »Und ich weiß bis heute nicht warum, Mister …«

»Clifton!«

»Ja, Mister Clifton. Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Detektiv, der ein paar private Ermittlungen über einige Leute und eine Firma angestellt hat.«

»Und dafür hat man Sie jetzt auch eingesperrt?«

»Es wird nicht lange dauern. Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich schon anziehen. Ich bin sicher, daß Scotland Yard bald hier sein wird.«

Der alte Mann riß fassungslos die Augen auf. »Scotland Yard?«

»Ja. Während des Anziehens können Sie mir ja erzählen, wie und warum man Sie hier festhält und wie Sie …« Clifton machte eine kleine Pause, »und wie Sie heißen.«

»Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich nicht weiß, warum man mich hier eingesperrt hat … Und mein Name ist Gordon. Frank Gordon!«

Perry vergaß Luft zu holen. »Was sagen Sie da? Sie heißen Gordon?« wiederholte er atemlos. »Von der Firma GORDON & LASH?«

»Wieso GORDON & LASH? Nur Gordon!«

»Herstellung und Vertrieb von Werbemitteln?«

»Nur Vertrieb von Werbemitteln! Was bedeutet das alles?«

»Hatten Sie Ihr Büro in der Hammers-Road?« Gordon nickte.

»Und wie viele Mitarbeiter?«

»Nur einen. Anthony Summers. Er arbeitete im Lager und machte für mich so ein bißchen das Mädchen für alles. Er war taubstumm, aber ein braver Mensch.«

»Und wie konnte er Ihre Anweisungen verstehen?«

»Oh, das war nicht schwierig. Entweder gab ich es ihm schriftlich, oder aber er las es mir von den Lippen ab … Sagen Sie, Mister Clifton, stimmt das mit Scotland Yard?«

»Ja, ja.« Perry Clifton fühlte eine fiebernde Erregung in sich. »Bitte, Mister Gordon, könnten Sie mir Ihre Geschichte von vorn erzählen. Wie es genau angefangen hat!«

»Soll ich mich wirklich dabei anziehen?«

»Es wäre zweckmäßig.«

Der Weißhaarige schob das Bett zur Seite und verschwand im angrenzenden Bad. Clifton dagegen ließ sich auf den ächzenden Plüschsessel fallen.

Zwischen Wasserplätschern, Prusten und sonstigen Geräuschen begann Gordon zu erzählen: »Es ist über ein halbes Jahr her, es war an einem Dienstag, da erhielt ich plötzlich Besuch. Sie können sich nicht vorstellen, wie erstaunt und überrascht ich war, als sich der Besucher als Sohn von Garrick Henders zu erkennen gab.«

»Und wer ist Garrick Henders?« Clifton kramte, während er fragte, in seinem Gedächtnis. Er war sicher, den Namen Henders in jüngster Vergangenheit gehört zu haben.

»Henders war der Mitarbeiter meines Vetters James Pieter Brockton.«

»Des Erfinders, der dieses Haus hier erbaut hat.«

Im Bad wurde es für Sekunden still, dann: »Das wissen Sie?«

»Ich bin bei meinen Ermittlungen darauf gestoßen. Und ich weiß auch, daß sich gewisse Leute lange darüber im unklaren waren, ob Brockton bei der Explosion umgekommen sei oder nicht.«

»Nein, keineswegs. Zusammen mit Henders und einem Schuldenberg hat er sich nach Australien abgesetzt. Die Explosion war nur der gewollte Auftakt zu dieser Flucht.«

»War Ihr Vetter verheiratet?«

»Nein, aber Henders war es. Der ließ seine Frau später nach Australien nachkommen. Irgendwann Ende der zwanziger Jahre wurde dann Henders’ Sohn geboren. Zwei Jahre später kamen Henders und mein Vetter bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Mabel Henders kehrte nach England zurück und heiratete wieder. Und zwar einen Mann, der auf der Sternwarte in Greenwich arbeitete. Der hat den kleinen Abraham auch adoptiert.«

Clifton war aufgesprungen. »Abraham? Wie war der Familienname des zweiten Mannes?«

Frank Gordon trat fix und fertig angezogen aus dem Bad und fixierte Clifton. »Ist das denn wichtig?«

»Ja!«

»Jefferson hieß er, Milton Jefferson!«

»Abraham Jefferson«, murmelte Clifton überwältigt. Dann aber forderte er Gordon auf: »Bitte, erzählen Sie weiter.«

»Abraham erzählte mir, daß er erst jetzt unter dem Nachlaß seines richtigen Vaters Eintragungen, Pläne und Aufzeichnungen über das Hackston-Haus gefunden habe und daß er den Wunsch hegte, das zum Verkauf stehende Haus zu erwerben. Ja, und er hat mich, diesen Kauf auf meinen Namen vorzunehmen.«

»Ein raffinierter Plan. Welche Begründung gab er dafür denn an?«

»Er behauptete, es könnte ihm peinlich werden, wenn herauskäme, daß er der Sohn Henders’ sei.«

»Hat er Ihnen auch verraten, was er mit dem Haus vorhatte?«

»Er sagte, er wolle dort gewisse Studien betreiben.«

Perry Clifton mußte unwillkürlich lächeln.

Frank Gordon fuhr fort: »Ich kaufte also das Haus. Es war ausgemacht, daß er es dann von mir pachten sollte. Eines Tages, es ist, wie gesagt, ungefähr ein halbes Jahr her, rief er mich aus Hackston an und forderte mich auf zu kommen, er wolle mir die neue Einrichtung zeigen. Er würde mir auch einen Wagen schicken.«

»Erinnern Sie sich noch, wie der Fahrer aussah?« warf Clifton ein.!

»Ich weiß nur noch, daß er sehr elegant gekleidet war und daß es sich um ein gelbes Auto handelte.«

»Jack Mason.«

»Er hat sich nicht vorgestellt. Ich habe ihn später auch nie wiedergesehen.«

»Sie kamen also nach Hackston?«

»Ich kam nach Hackston, und Abraham erwartete mich schon im Hof. Er führte mich in den Keller und sagte etwas von einer Überraschung.«

»Im Keller?«

Der alte Mann nickte. »Ja. Ich fand das zwar verwunderlich, schöpfte jedoch keinerlei Verdacht. Im Keller mußte ich durch einen alten Schrank steigen. Ich sagte noch, daß das wie in einem Kriminalfilm sei … und dann ging es in ein Untergeschoß. Direkt hierher. Als ich ihn fragte, ob er hier wohnen wolle, meinte er — Mister Clifton, er sagte es in ganz alltäglichem Ton —, daß es sich um die Wohnung handle, die ich für die nächsten Monate bewohnen würde. Ich lachte. … Ja, ich habe gelacht, weil ich es für einen Witz hielt …« Erstickt flüsterte er: »Mir ist das Lachen vergangen, das können Sie mir glauben. Noch bevor ich mich versah, war er draußen. Und ich habe bis heute keine Erklärung dafür. Ich haben ihm doch nichts getan … Ich kannte ihn ja nicht einmal!«

»Er brauchte Ihren unbescholtenen Namen und Ihre harmlose Firma!«

»Aber wofür denn? Wofür, Mister Clifton?«

»Für ein verbrecherisches Unternehmen!«

Kreidebleich tastete sich Frank Gordon zu seinem Bett zurück und ließ sich schweratmend darauf nieder. »Für ein verbrecherisches Unternehmen, sagen Sie? Er gebraucht meinen Namen für ein verbrecherisches Unternehmen? Was ist es?«

»Falschgeld!«

»Das … das macht er hier?« flüsterte Gordon tonlos und schlug sich dann vor die Stirn. »Natürlich, er macht es hier. Ich habe die Maschinen gehört. Immer habe ich das Rumpeln der Maschinen gehört.«

»Abraham Jefferson ist einer der gesuchtesten und genialsten Geldfälscher unserer Zeit. Würden Sie ihn mir bitte beschreiben?«

»Ein Geldfälscher«, murmelten die blutleeren Lippen des weißhaarigen Mannes, »O Gott, ein Geldfälscher …«

»Hallo, Mister Gordon. Könnten Sie mir Jefferson bitte beschreiben?«

»Ja, ja, natürlich. Er hat trotz seines dichten Vollbartes überhaupt keine Ähnlichkeit mit Henders …«

»Kein Wunder. Er hat sich bei einem Chirurgen auch ein neues Gesicht schneidern lassen. Er trug also einen Vollbart?«

»Ja, Vollbart … mehr weiß ich nicht … Doch, er ist ungefähr so groß wie ich …«

»Der Vollbart war sicher künstlich …«

»Und er hat meine Rolle weitergespielt?«

»Er ist der Chef der Bande, Mister Gordon!« stimmte Clifton zu.

»Und er hat sich sogar noch einen Teilhaber gesucht. Wie sagen Sie, heißt die Firma jetzt?«

»GORDON & LASH!«

»GORDON & LASH …«

»Sagen Sie, Mister Gordon, haben Sie je mit Geigen gehandelt?«

»Mit Geigen? Nein, wie kommen Sie darauf?«

»Ich meine nicht Geigen zum Musizieren, sondern Geigen als Dekorationsmittel!«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich habe nur mit Stoffen und Papiersachen gehandelt.«

»Wie kommt es, daß nach Monaten noch keiner Ihrer alten Kunden auf den Gedanken gekommen ist, Nachforschungen nach Ihnen anzustellen? Oder einer Ihrer Verwandten?«

»Wer sollte es tun? Verwandte habe ich nicht mehr, und mit meinen Kunden verkehrte ich nur brieflich.«

»Aber Ihre Privatwohnung, Sie haben doch irgendwo gewohnt.«

»Ja, in der Beele-Street in Bayswater. Ich wohnte dort allein. Zweimal in der Woche kam Missis Walter zum Putzen. Sie müßte allerdings längst bemerkt haben, daß was nicht stimmt. Ja, warum hat sie nichts bemerkt? Ich habe sie immer gut und großzügig behandelt. Zu jedem Weihnachtsfest hat sie fünfzig Pfund extra bekommen …« Bevor sich Frank Gordon weiter ereiferte, winkte Clifton ab.

»Es gibt dafür eine plausible Erklärung, Mister Gordon. Man wird ihr dasselbe gesagt haben, was man auch anderen Fragern geantwortet hat: Mister Gordon hat sich auf eine längere Reise begeben. Ich selbst habe auch diese Antwort erhalten, und zwar in Ihrem Büro in der Hammers-Road.«

Frank Gordon schnappte nach Luft. »Ich bin in meinem Leben nie gereist.«

»Es gibt nicht wenige Menschen, die im Alter das tun, was sie in jüngeren Jahren nie getan haben … Mister Gordon, ich nenne Ihnen nun ein paar Namen, und Sie sagen mir, welche davon Sie schon gehört haben. Miß Craig … François Mellier … Joe Melvin … Cockland … Charly Webster…«

»Webster kenne ich!« rief Frank Gordon lebhaft. »Der gehört zu denen, die mir immer das Essen bringen. Ich habe ihn mit einem Stuhlbein niedergeschlagen, weil ich hier raus wollte. Aber dann ist er gegen die Tür gefallen. Na ja.« Er nickte zur Tür hin. »Die Tür hat es in sich.«

»Verstehe. Statt zu entwischen, saßen Sie plötzlich zu zweit fest.«

»Wie wir jetzt!« Und ungeduldig fragte Gordon: »Wo bleiben denn Ihre Leute von Scotland Yard?«

Clifton hatte sich diese Frage schon mehrere Male selbst gestellt und dabei immer wieder verstohlen auf die Uhr geblickt. Warum kam Skiffer nicht? Er und der Mannschaftswagen waren doch hinter ihm gewesen. Ohne sich seine Sorgen anmerken zu lassen, antwortete er: »Es muß eine Verzögerung gegeben haben, die ich nicht vorhersehen konnte. Sie können unbesorgt sein. Die Tage Ihrer Gefangenschaft sind zu Ende!« Der Detektiv legte all die Überzeugungskraft in seine Worte, deren er fähig war. (Aber waren sie wirklich zu Ende? Wo blieb Scott Skiffer nun wirklich?) »Übrigens, wenn Sie Charly Webster kennen, müßte Ihnen doch auch Joe Melvin bekannt sein. Wer hat Ihnen denn außer Webster noch Essen gebracht?«

»So ein ganz dünner Mann mit Halbglatze und Goldzähnen. Er hat ständig geraucht.«

»Na also.« Clifton nickte. »Das ist Melvin!«

»Und welche Funktion hat der?«

»Er spielt hier im Brockton-Haus so eine Art Chef für die Männer, die die Geigen anpinseln.«

»Geigen anpinseln?« fragte Gordon verwirrt, und Perry Clifton erklärte ihm: »Ein Teil des hier hergestellten Falschgeldes wird im Inneren von Geigen an die Abnehmer gebracht. Die Geigen wiederum stellen die sogenannten Werbemittel dar, die die Firma GORDON & LASH vertreibt.«

Der alte Mann hatte sichtbar Mühe, Ordnung und System in das zu bringen, was ihm der Mann da gegenüber alles erzählte. Es war fast zu viel, was da auf ihn einstürmte. Langsam ließ er sich zurücksinken und schloß die Augen. Fünf Sekunden später jedoch riß er sie wieder auf. Die Tür war geöffnet werden.

In der Tür standen Charly Webster und ein hünenhaft gebauter Mann. Ein Riese, der Webster um mindestens zwei Köpfe überragte.

»He, Clifton, der Chef möchte Sie sprechen!« sagte Webster müde und mürrisch, und der Herkules mit dem Schlägergesicht, den Clifton schon aus der Galerie kannte, schnipste auffordernd mit Daumen und Mittelfinger.

Vorhang zum letzten Akt

Scotland-Yard-Inspektor Scott Skiffer, Dr. Berry Tyler von der Sondergruppe sowie Kriminalinspektor Ernest O’Mally und vierzehn weitere Polizei- und Kriminalbeamte aus Leicester saßen in den beiden Fahrzeugen.

Skiffer hatte Cliftons Wagen sofort auf dem Feldweg entdeckt und an der Nummer erkannt.

Sie fuhren noch fünfhundert Meter weiter und wendeten auf einem Parkplatz. Nach einer Wartezeit von fünf Minuten fuhren sie zurück. Als sie den Scheitelpunkt der Straße erreicht hatten, stellten sie die Motoren ab und rollten im Leerlauf langsam zurück.

Cliftons Wagen an der Auffahrt des Feldwegs war verschwunden. Sie entdeckten ihn zweihundert Meter bergab gegenüber einem großen Haus und neben einem Holzschuppen. Skiffer gab Sergeant Hangs, dem Fahrer des Mannschaftswagens, die Anweisung, sich neben Cliftons Wagen zu stellen. Er selbst lenkte sein Fahrzeug vor den Mannschaftswagen.

»Was jetzt?« fragte Dr. Tyler, als Skiffer keinerlei Anstalten zum Aussteigen machte.

»Warten wir noch ein paar Minuten. Je später sie uns bemerken, um so größer wird der Überraschungseffekt!« meinte Scott Skiffer.

»Ist dies das Haus? Sind Sie sicher?« wollte O’Mally wissen.

»Haben Sie das Schild am Tor nicht gelesen? Hier ist die Fabrikation und der Vertrieb von Geigen, das Nest der Bande.«

»Hoffentlich erwischen wir auch Jefferson. Alles andere ist völlig unbedeutend!«

»Sie sind ein Pessimist, Doktor. Warum sollte er nicht hier sein. Wozu sonst hätte er Clifton hierher locken lassen?«

Sie blieben noch drei Minuten sitzen.

Gebückt überquerten sie dann, bis auf zwei Beamte, die in der Nähe der Fahrzeuge bleiben sollten, die Straße. Mike Holbom, polizeilicher Schlüsselspezialist, brauchte für das Schloß des Innenhoftores kaum zehn Sekunden.

»Sie scheinen vollzählig vorhanden zu sein«, flüsterte Skiffer und deutete auf die vier PKWs, die den Hof bevölkerten. Darunter ein knallgelber FORD. Auch die weiteren Türen bereiteten Holbom keinerlei Schwierigkeiten. Mit gezogenen Waffen drangen die Beamten in das Brockton-Haus ein. Innerhalb von zwanzig Minuten hatten sie vom Dach bis zum Keller sämtliche (?!) Räume durchsucht. Ohne Ergebnis!

Das heißt, Ergebnisse gab es schon. So zum Beispiel die bemalten und unbemalten Geigen und den frischen Zigarettenrauch in Melvins Wohnung. Sogar das Nichtvorhandensein der Bande war ein Ergebnis — wenn auch ein negatives.

»Sie müssen hier sein!« erwiderte Skiffer erregt auf die Feststellung Inspektor O’Mallys, sie würden »in einem leeren Bau nach Füchsen« suchen.

»Aber wo?« mischte sich jetzt auch Dr. Tyler ein, dem die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. »Wir haben sämtliche Stockwerke durchsucht.«

»Dann muß es eben noch ein verborgenes Untergeschoß geben.«

»Lieber Skiffer!« warf der Falschgeldexperte ironisch ein, »wir haben es hier mit hochqualifizierten Geldfälschern zu tun und nicht mit Höhlenmenschen. Ich bin sicher, daß hier nur die Transportmittel hergestellt werden.«

Skiffers Gesicht war ernst, als er zu bedenken gab: »Sie haben das Wichtigste vergessen, Doktor Tyler!«

»Was wäre das?«

»Clifton! Wo ist er? Er und der Franzose können sich ja nicht in Rauch aufgelöst haben!«

»Was gibt Ihnen eigentlich die Sicherheit anzunehmen, daß er in diesem Haus ist?«

Scott Skiffer überlegte. Diese Frage erforderte ein gewissenhaftes Nachdenken. Rechnete man nach dem kriminalistischen Einmaleins, hatte Dr. Tyler natürlich recht. Es war ihnen nicht gelungen, Clifton dabei zu beobachten, wie er dieses Haus betrat. Sie besaßen keine Aussage, die solches behauptete, noch gab es nachweisbare Spuren seiner Anwesenheit oder eines Aufenthaltes seiner Person in diesen Räumen innerhalb der letzten Minuten, ja Stunden.

Nüchterne Erkenntnisse!

Aber wo sollte er sonst sein? Drüben stand sein Auto, und weit und breit gab es kein anderes Gebäude. Und die Fahrzeuge im Hof? Zum größten Teil mit Londoner Kennzeichen.

»Sehen wir uns noch einmal im Untergeschoß um. In erster Linie im Heizungskeller.«

Sie waren alle da. Und Clifton musterte sie der Reihe nach, wie sie da im hellen Neonlicht standen, teilweise übernächtigt, eingerahmt von Millionenbeträgen in falschem Geld.

Da war die tüchtige, wohlriechende Miß Craig. Mehr ängstlich und besorgt als siegessicher sah sie durch die blitzenden Gläser ihrer Schildpatt-Brille. Neben ihr Joe Melvin diesmal ohne Zigarette. »Hallo, Arling, Fotograf!« hatte er ihm beim Eintritt zugerufen.

Der noch immer ungewaschene François Mellier rückte, als ihn Cliftons Augen abtasteten, unsicher einen Schritt näher an den Goliath Morris Batallin heran. Auch Mellier machte nicht gerade den Eindruck, als habe er das große Los gezogen. Ob er wohl ahnte, daß ein anderer Weg für ihn ein besserer Weg gewesen wäre?

Und natürlich Jack Mason. Wie immer im maßgeschneiderten Anzug. Diesmal war es ein dunkelbrauner. Dazu gelbes Hemd, gelbes Einstecktuch und eine beigefarbene Krawatte. Eigentlich fehlte nur noch einer …

»Eine hübsche Versammlung«, sagte Clifton fast fröhlich.

»Es freut mich, daß sie Ihnen zusagt«, gab Mason zurück. Er schien der einzige, der die Situation hemmungslos und ohne jede Einschränkung genoß. »Wer hätte das gedacht, daß wir uns soo bald wiedersehen würden.«

»Ja, wer hätte das gedacht!« äffte Clifton Masons Tonfall nach.

»Oh, der Mister Detektiv möchte den Ungerührten spielen, den Helden, dem so gar nichts passieren kann …«

»Falsch, Mister Mason. Ich wußte das Risiko dieser erneuten Fahrt nach Hackston wohl einzuschätzen.«

»Ach, wußten Sie das? Sie haben also nicht an die Hafengeschichte geglaubt? Sie wollen damit sagen, daß Sie aus reiner Neugier mitgekommen sind?«

»Auch das, obwohl ich bereits vieles ahnte. Die einzige wirkliche Überraschung hier war Mister Gordon. Ein bedauernswerter Mann. Daß in Hackston Falschgeld produziert wurde, vermutete ich. Nein, ich war dessen sogar sicher.«

»Sie sind ein kluger Mann, Clifton. Fast zu klug.«

»Wenn ich Gordon und das Falschgeld zusammenrechne und beides mit Ihnen hier multipliziere, komme ich auf mindestens 60 bis 70 Jahre Dartmoor. Wie ich mir habe sagen lassen, sollen sich die Verhältnisse in diesem Zuchthaus etwas gebessert haben.«

»Ihre Unverschämtheit ist direkt bewundernswert!«

»Es ist nur Sicherheit, Mister Mason. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, daß sich nun auch Ihr Chef zum letzten Akt einfindet?«

»Der Chef bin ich!« warf Mason rasch ein, doch Clifton korrigierte: »Eine Spur zu hastig, lieber Mister Mason. Sie mögen vielleicht ein ganz guter Verteiler sein, vielleicht haben Sie auch Geschick zum Malen, ich kann das nicht beurteilen — eines jedenfalls sind Sie nicht: ein großer Chef! Dazu fehlt Ihnen das Format, das Genie. Ein paar arme Teufel zu terrorisieren, einen alten Mann gefangenzuhalten — dazu, Mister Mason, gehört nicht viel. Nicht einmal viel Verstand. Aber für das, was hier aufgebaut wurde, brauchte man«, Clifton tippte sich gegen die Stirn, »Köpfchen. Viel Köpfchen. Und viel Köpfchen haben Sie nicht. Sonst hätten Sie weniger Fehler gemacht.«

Je länger Clifton sprach, um so blasser wurde Mason. Seine Fäuste ballten sich, und in seine Augen trat ein fast irrer Haß. »Los, Morris!« keuchte er, und der Riese setzte sich in Bewegung. Perry Clifton wußte, was er in der Höhle des Löwen riskierte. Er reizte Mason mit voller Absicht. Es war seine einzige Chance, denn selbst einem Mason mußte es einleuchten, daß Clifton das nicht ohne Motiv tat.

Morris Batallin war nur einen Meter von ihm entfernt, als der Detektiv hinter sich ein Geräusch hörte und eine Stimme befahl: »Laß das, Morris!!« Und Morris sagte: »Okay, Chef!«

Clifton wandte sich zur Seite und grüßte: »Guten Abend, Mister Lash … oder soll ich lieber Mister Jefferson sagen? Vielleicht möchten Sie auch den Namen Henders wieder annehmen?«

Lash musterte Clifton lange und ernst. Und ebenso ernst stellte er fest: »Sie wissen mehr, als ich in meinen schlimmsten Träumen befürchten konnte. Ich habe Sie unterschätzt, Mister Clifton. Und es tut mir leid, daß ich mich so von meinem Gefühl bestimmen ließ und auf Gewaltanwendung verzichtet habe.«

»Finden Sie es gewaltlos, einen alten, völlig harmlosen Mann sechs Monate lang einzusperren?«

»Die Sachlage zwang mich leider zu dieser Maßnahme.«

Nichts erinnerte mehr an den quirligen, lebhaften Carpenter Lash: Hier stand ein »Lash«, der jedes Wort abzuwägen schien, der sich nicht provozieren lassen würde. Welche Rolle war die richtige?

»Die sogenannte ›Sachlage‹ sind die Blütenstöße hier, nehme ich an.« Clifton deutete auf die Falschgeldstapel. Lash nickte.

»Zwölf Millionen Kanadischer Dollar, vier Millionen Pfund Sterling, zwei Millionen Schweizer Franken und zwei Millionen Deutsche Mark.«

»Ich fürchte, daß Ihr Geigenvorrat zum Abtransport nicht ausreichen wird, Mister Jefferson!«

Lash-Jefferson lächelte vielsagend. »Die Masse wird per Schiff transportiert. Wie auch Sie und der gute Onkel Gordon.« Er verschränkte die Arme über der Brust. »Sie sprachen von Masons Fehlern …«

»Er phantasiert, Chef!« stieß Mason hervor. Lash tat, als habe er diesen Einwurf überhört, runzelte aber trotzdem die Augenbrauen. »Kein Mensch ist unfehlbar«, sagte er. »Aus Fehlern kann man lernen. Es würde mich interessieren, ob ich Ihrer Meinung nach auch Fehler gemacht habe, Mister Clifton.« Er blieb vollendet höflich. Es war eine seltsame Situation in einer seltsamen Atmosphäre.

»Ja, Sir. Ich werde chronologisch vorgehen. Ihr erster Fehler war eine nicht genügend sorgfältige Auswahl des … nun, des Personals. Eine Sache wie mit Cockland hätte einfach nicht passieren dürfen. Durch diese Panne fand Scotland Yard den ersten Hinweis auf Ihre Anwesenheit in England. Auch wenn Sie äußerlich kein ›Jefferson‹ mehr sind, so bleiben doch …«

Lash unterbrach mit unbewegter Miene: »… die Fingerabdrücke. Wo??«

»In Cocklands Wagen auf einem Kästchen.«

»Vom Fingerabdruck allein führt noch kein Weg nach Hackston. Wie kamen Sie nach Hackston?«

»Durch den Hinweis eines Freundes, der vor einigen Wochen durch diesen Gentleman«, Clifton deutete auf Melvin, »unfreundlich behandelt wurde, als er aus Versehen auf den Hof fuhr. Doch das gehört schon wieder zum Thema Personalauswahl. Ich möchte mich auf Ihre höchsteigenen Fehler beschränken. Den entscheidendsten Hinweis darauf, daß mit Ihnen etwas nicht stimmen konnte, lieferten Sie heute morgen, das heißt, jetzt muß man ja schon gestern morgen sagen. Es war bei Ihrem Gespräch mit Melvin.«

»Bitte deutlicher!«

»Ich hatte Ihnen erzählt, daß in Hackston ein Vorbestrafter arbeitet, der sich Bell nennt, in Wirklichkeit aber Webster heißt. Sie gaben sich empört, weil Sie angeblich nichts davon wußten. Als Sie Melvin am Telefon aufforderten, nach London zu kommen, sagten Sie, er möge Webster mitbringen. Sie sagten nicht Bell, nein Sie sagten Webster. Und Joe Melvin nahm keinerlei Anstoß an dieser Entgleisung!«

Lash nickte. »Stimmt. Ja, Sie haben recht, das war ein großer Fehler.«

»Als wir dann hierher kamen«, fuhr Clifton fort, »fanden Sie manchen Schlüssel zu manchem Schloß einfach zu schnell. Außerdem glaubte ich sicher zu sein, daß neben Melvins Fernsehapparat gar kein Schlüssel gelegen hatte … All das fiel mir leider erst ein, als wir uns bereits wieder auf dem Rückweg befanden. Auch war es nicht gerade klug, während unserer Abwesenheit von London dort so viele Geigen verteilen zu lassen.«

»Die Fingerabdrücke!« drängte Lash.

»Sie haben recht. Alle diese Indizien hätten mich keineswegs auf den Verdacht gebracht, Sie seien Jefferson. Diese Information verdanken wir …«

»Wir??«

»Scotland Yard und ich! Wie gesagt, diese Information verdanken wir einem Zufall. Erinnern Sie sich noch an die Fotos von Hackston, die ich Ihnen bei meinem ersten Besuch schenkte?«

»Ich erinnere mich.«

»Auf einem dieser Fotos war ein kleines Mädchen, Angy, abgebildet. Sie ist die Tochter des Wirts vom Dorfgasthof in Hackston. Ich reichte Ihnen dieses Bild, nahm es Ihnen dann wieder ab mit der Behauptung, es sei doppelt. Anschließend gab ich es zu Scotland Yard … Es zeigte zwei wunderschöne Fingerabdrücke von Ihnen.«

Lash sah jetzt weniger sicher aus. Auch in die anderen war Bewegung gekommen.

»Sie wären längst verhaftet, hätte man Sie in Ihrer Wohnung angetroffen.«

»Sie sind ein guter Pokerspieler, meine Hochachtung!«

»Und Sie sind der beste Schauspieler, den ich je persönlich kennengelernt habe. Ihre Lash-Rolle war vollkommen. Und wahrscheinlich wäre sie ohne Fingerabdrücke auch vollkommen geblieben. Es ist fast schade, daß mit diesem Akt Ihre Karriere beendet wird.«

Lashs Gesicht hatte die kleine Phase der Unsicherheit überwunden. »Sie wollen mit Ihrer Kaltschnäuzigkeit bluffen. Versuchen Sie uns vielleicht gar glaubhaft zu machen, daß Ihnen die Polizei gefolgt ist?«

»So ist es!«

»Kein guter Schluß, Mister Clifton!«

Clifton zuckte ostentativ mit den Schultern.

»François!« rief Lash, »hat Clifton nach Ihrem Besuch noch mit jemandem telefoniert?«

»Nein, Chef!« versicherte der Franzose, vor Furcht zitternd, und streckte die Hand in die Luft. »Ich kann es beschwören. Ich habe ihm auch, wie es mir Mister Mason gesagt hat, die dreihundert Pfund abgenommen. Hier …« Er bückte sich, doch Lash winkte ab. »Ich glaube Ihnen! Also, Mister Clifton, wie ist das mit der Polizei? Spielen Sie nicht ein bißchen zu lebhaft mit Ihren angeblichen Beziehungen zu Scotland Yard? Ich gebe zu, daß Sie einiges wissen, was nur aus dieser Quelle stammen kann, aber reicht das aus, um uns Furcht einzujagen?«

»Ich arbeite seit langer Zeit von Fall zu Fall mit dem Yard zusammen. Das zu Ihrer Information. Und was den Franzosen anbetrifft, so kann ich gern bestätigen, daß er unschuldig ist. Auch er hat seine Rolle gut gespielt. Uneingeweiht wäre ich sicher ahnungslos in die Falle getreten. Er sollte es später mal auf der Bühne versuchen …«

»Monsieur!!« keifte Mellier, und in seine müden Augen kam Leben.

»Ich will es Ihnen erklären: Nachdem er mich um ein Stelldichein gebeten hatte, habe ich Scotland Yard angerufen, den Halter meines Telefonhörers festgeklemmt und den Hörer wieder zurückgelegt. So wurde das Telefon sozusagen zum Mikrofon. Alles, was ich mit Mellier besprochen habe, wurde im Yard mitgehört!«

Der Franzose machte einen Sprung nach vorn und legte beteuernd seine Hand vor die Brust. »Er lügt, Chef, mon dieu, Monsieur, er lügt. Ich hätte ja was merken müssen!« Und lauter, verzweifelter: »Ich hätte doch was merken müssen!«

Lash überflog die Schar seiner Komplicen mit einem ironischen, fast geringschätzigen Blick. Sie alle, einschließlich Mason, schienen Cliftons Worten Glauben zu schenken. Das aber bedeutete eine Katastrophe. Besonders die Craig und der Franzose zeigten deutliche Spuren von Panik. Peggy Craig hielt die geballte Faust vor den Mund gepreßt. Lash musterte Mason und sagte dann liebenswürdig: »Wenn deine Frau zu schreien beginnt, sperre ich sie zu Gordon!«

Mason wandte sich Peggy zu und rief heiser: »Reiß dich zusammen!«

»Nun, Mister Clifton, Sie können mit dem Ergebnis Ihres Bluffs zufrieden sein. Ich muß es noch einmal sagen: Ich bewundere Ihre Kaltschnäuzigkeit. Sie hat etwas Selbstmörderisches an sich … Es sei denn, Sie bluffen nicht! Und das können wir feststellen. Morris!!« Lashs Stimme war plötzlich hart und kalt. Nichts mehr war übrig von der eben noch zur Schau gestellten Liebenswürdigkeit. In seinen Augen tanzten eisige Lichter.

»Ja, Chef?«

»Geh hinaus und sieh nach, ob du irgendwas entdeckst, was nach Polizei aussieht …!«

»Ja, Chef!«

»Und sollte Ihr Bluff, Clifton, wirklich nur Bluff gewesen sein, werde ich mich auf meine Weise revanchieren. Ich werde Sie hierlassen! Hier — ganz allein. Dort, wo Frank Gordon die letzten Monate verbracht hat, werden Sie den Rest Ihres Erdendaseins verbringen.« Er wandte sich an Morris, der noch immer unschlüssig herumstand. »Was ist, warum gehst du nicht?«

»Soll ich den Weg durch den Keller nehmen oder den durch den Gang?«

»Geh durch den Gang!«

Als Morris Batallin den Raum verließ, schickte Perry Clifton ein Stoßgebet zum Himmel.

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Inspektor Scott Skiffer spuckte Gift und Galle. Die nochmalige Untersuchung sämtlicher Räumlichkeiten war erfolglos geblieben.

Besonders dem Kellergeschoß samt Heizungsraum hatte man sich mit besonderer Akribie angenommen. Keine Wand blieb unabgeklopft. Sogar den morschen Schrank hatten sie untersucht (ohne den Versuch zu machen, ihn beiseite zu schieben).

Dr. Berry Tyler verhehlte nicht, daß er die Wiederholung der Durchsuchung für unnötige Zeitverschwendung hielt.

Und auch Kriminalinspektor O’Mally merkte man eine Spur von Ungeduld an.

»Ich bin dafür, die Aktion in diesem Haus abzubrechen!« schlug Dr. Tyler vor. Er, O’Mally und Scott Skiffer standen auf dem Hof, während man es im Inneren des Hauses noch rumoren hörte.

»Und wo wollen Sie weitersuchen, Doktor?« fragte Skiffer heftig.

»Das ist Ihre Sache. Ich bin nur der Falschgeldexperte.«

Und O’Mally fügte hinzu: »Könnte es nicht sein, daß Clifton und der andere hier nur den Wagen abgestellt haben und zu einem Treffpunkt gegangen sind?«

»Treffpunkt? Sehen Sie hier weit und breit etwas, das nach Treffpunkt aussieht?«

»Warum haben Sie sich vorher nicht den Bauplan des Gebäudes verschafft, Inspektor?« fragte Dr. Tyler.

»Erstens war dazu gar keine Zeit, und zweitens glauben Sie doch nicht, daß auf einem offiziellen Bauplan geheime Gewölbe eingezeichnet sind.«

Dr. Tyler zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber wir sollten gemeinsam zu einem Entschluß kommen. Brechen wir die Suche hier ab oder nicht? Ich bin für Abbruch!«

»Ich ebenfalls!« pflichtete O’Mally bei.

»Und ich bin dagegen!!«

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So war der Stand der Ereignisse »oben«, als der Riese Batallin, gebückt und mit einem Handscheinwerfer ausgerüstet, durch den unterirdischen Gang marschierte. Er erklomm die Stufen und schob sich in das Innere des Schuppens. Als er sich das Knie an einer Ecke des eisernen Containers schrammte, fluchte er laut und lange und rieb sich die schmerzende Stelle. Dann dachte er an seinen Auftrag, drückte die Tür auf und trat ins Freie.

Er bog um die Ecke und sah die drei Fahrzeuge neben dem Schuppen stehen. Langsam kam sein Denkapparat auf Touren. Ein Auto gehörte sicher Clifton … aber die anderen … War das vielleicht Polizei?

Er trat noch einen Schritt nach vorn und entdeckte die erleuchteten Fenster des Brockton-Hauses, sah im Licht Menschen umhergehen — uniformierte Menschen!

Polizei!

Diese Erleuchtung traf Morris Batallin mit solcher Wucht, daß er vor Schreck einen Schluckauf bekam. Dann fielen ihm der Chef Mason und der Chef Lash und die anderen ein.

Polizei …

Er wollte sich gerade umwenden, als sich irgendwas Spitzes, Hartes in seinen Rücken bohrte.

»Keine Bewegung, Polizei!!« sagte da eine Stimme hinter ihm, und Morris erschrak bis hinein ins tiefste Mark.

»Die Hände hinter den Kopf!« Eine zweite Stimme. Er faltete die Hände hinter dem Kopf.

»Hallo!« sagte der Polizist, der jetzt vor ihn hintrat und ihn abtastete. »Mann aus der Unterwelt, haben Sie auch einen Namen?«

»Morris Batallin!« antwortete der und verstand die Welt nicht mehr. Der Polizist vor ihm nickte.

»Ich muß ja schließlich wissen, wen ich meinem Inspektor vorstelle.«

»Vorwärts, marsch!« sagte der hinter ihm, und Morris setzte sich in Bewegung.

Scott Skiffer, Inspektor O’Mally und Dr. Tyler bemerkten das heranmarschierende Dreigespann fast gleichzeitig.

»Er kam aus dem Holzschuppen dort drüben!« erklärte Sergeant Randers. »Er heißt Morris Batallin.«

»Das Loch zum Fuchsbau!« rief Scott Skiffer. Er streckte dem Riesen die Hand hin, die Morris zögernd, voller Mißtrauen mit seiner gewaltigen Franke umschloß. Zufriedenheit, Genugtuung, Triumph und ein Quentchen Schadenfreude schwangen in Skiffers Stimme mit, als er sagte: »Geben Sie mir Ihre Hand, Sir! Ich muß sie drücken.« Und er schüttelte Batallins Schaufel, als gelte es ein langersehntes Wiedersehen zu feiern. Der Riese glaubte zu träumen. Ein Polizist schüttelte ihm die Hand und sagte sogar »Sir« zu ihm. Mit wachsendem Befremden hörte er die Worte des Inspektors, und bald gab es für ihn keinen Zweifel mehr: Der Polizist war übergeschnappt. »Auf Sie haben wir gewartet wie auf die Gehaltszahlung. Sie sind der vielgepriesene Engel. Danke, daß Sie gekommen sind. Und nun wollen wir uns auch um die anderen kümmern!«

Und dann klirrte es.

Und Morris fühlte die Kühle der Handschellen.

Und jemand pfiff auf einer Trillerpfeife.

Und aus allen Richtungen tauchten sie auf.

Und, und, und …

»Morris müßte längst zurück sein!« sagte Jack Mason, kalten Schweiß auf Stirn und Oberlippe. Er packte Lash am Arm und rüttelte ihn. Der sah ihn nur kalt an.

»Clifton hatte recht. Ich war in der Wahl meines Personals nicht anspruchsvoll genug.«

Mason starrte ihn an. »Was soll das heißen?« Seine Stimme überschlug sich.

»Man sollte auch als Verlierer Haltung bewahren.«

»Verlierer?«

»Ja, diese Runde geht an Clifton.«

Joe Melvin konnte es einfach nicht mehr aushalten. Er griff nach einer Zigarette und zündete sie an. Trotz des ausdrücklichen Verbots des großen Chefs.

Es tat ihm verdammt gut, was so im Laufe der letzten halben Stunde zu und über Mason gesagt worden war. Oh, er gönnte es diesem Lackaffen, diesem feinen Pinkel, diesem Stutzer und Gecken … und er blies ihm den Rauch ins Gesicht.

Jack Mason merkte es gar nicht.

Die Tür öffnete sich,

und sie strömten herein,

Handschellen klirrten,

und einer rief ein ums andere Mal: »Unglaublich … unfaßbar …einfach genial.« Es war Dr. Berry Tyler. Fast liebevoll betrachtete er den Geldschein, der aussah wie ein echter und doch keiner war.

Fünfzehn Stunden später

Dicki saß vor einem Riesenbecher Kakoffee, den Perry zur Feier des Tages spendiert hatte.

»Und was ist mit den dreihundert Pfund?«

Perry Clifton räkelte sich wohlig in seinem Sessel. Zehn Stunden hatte er nach seiner Rückkehr aus Hackston in einem Stück geschlafen.

»Von welchen dreihundert Pfund redest du, Dicki?«

»Na, von denen, die Sie Mister Mellier gegeben haben.«

»Die habe ich natürlich wieder. Er hatte sie im Strumpf versteckt.«

»Am meisten ärgert mich, daß das mit der Krankenschwester passiert ist.«

»Ach, du meinst die Geschichte in der Lathers-Street. Laß dir keine grauen Haare wachsen. Selbst der größte Detektiv ist nicht gegen Fehler und Irrtümer gefeit!«

»Was wird denn nun aus dem ganzen Falschgeld?«

»Es wird vernichtet, Dicki. Was auch sonst?«

»Als Sie vorhin mit Inspektor Skiffer telefonierten, sagten Sie was von einem Boot. Hängt das auch mit Mister Lash zusammen?«

Clifton nickte. »Ja, er hat, im Hafen tatsächlich einen umgebauten Kutter liegen. Damit wollte er das Falschgeld sowie Gordon und mich außer Landes bringen. Wohin, das wird wohl sein Geheimnis bleiben. Seit seinem Abtransport in Hackston hat er keinen Ton mehr gesagt. Und ich befürchte, er wird sein Schweigen nicht so bald brechen.«

»Und Mister Gordon?«

Perry Clifton lachte fröhlich. »Der will seinen Grundsätzen untreu werden. Obwohl er nie in seinem Leben fürs Reisen war, hat er nun beschlossen, eine längere Schiffsreise zu seiner Erholung anzutreten. Er hat mich sogar dazu eingeladen.«

»Und — fahren Sie mit?«

»Wo denkst du hin, Dicki. Als Kaufhausdetektiv kann ich mir ja nicht ständig Urlaub nehmen. Übrigens, vorhin ist mir noch etwas eingefallen, was mir eigentlich schon eher hätte auffallen müssen. Als ich Lash alias Jefferson von Charly Webster erzählte, daß der vorbestraft sei, hat sich Lash zwar entrüstet, aber zu keiner Sekunde gefragt, was er ausgefressen habe. Und das hätte ja wohl das Nächstliegende sein müssen.«

Perry Clifton nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.

»Und warum hieß Mister Masons Frau Miß Craig?«

»Das gehörte zur Taktik der Verwirrung, Dicki. Und so werden sich im Laufe der nächsten Wochen noch viele bis jetzt unklare Dinge aufklären.«

»Jetzt muß ich noch was fragen!«

»Bitte, Mister Miller, immer los!«

»Was hat Mister Harder denn zu alledem gesagt?«

»Oh, der war ganz aus dem Häuschen. Er meinte, wenn er schon keine Belohnung für seinen tollen Tip bekäme, dann sollte ihn die Königin wenigstens in den Adelsstand erheben.«

Sie lachten, und Perry hob sein Glas mit feierlicher Geste. »Und so wollen wir auf Sir Tom Harder, den Antiquitätenhändler in Harrow, trinken. Er lebe hoch!«

»Er lebe hoch!« rief auch Dicki Miller und goß den Rest aus dem Literbecher in sich hinein.