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Der sternenlose Himmel im Osten wird langsam hell. Die Nacht geht zur Neige.

Im Zimmer 17 der internen Privatstation ist Gräfin Kerckhoff nach einem kurzen, unzusammenhängenden Traum aufgewacht. Sie spürt den galligen Geschmack in ihrem Mund und denkt mehr aus Gewohnheit: das Alter. In Wirklichkeit verweilt sie noch bei ihrem Traum. Die junge Frau darin war Karen und auch wieder nicht, sie hatte das Vogelgesicht der kleinen Schwester, die sie in der Nacht aufgeweckt hatte, Schwester van Dahmen.

Jetzt fällt der Gräfin ein, daß Hannes Bertram noch nicht gekommen ist, obwohl sie zweimal nach ihm verlangt hatte. Sie spürt den Ärger in sich aufsteigen und tastet ungeduldig nach dem Lichtschalter, stößt dabei eine Tasse kalten Tees um, die auf dem Linoleumboden laut zerbricht. Sie schaltet das Licht ein und richtet sich etwas auf, um die Nachtklingel zu erreichen. Sie betätigt den Knopf, und als sie die Hand zurückziehen will, merkt sie, daß der Arm ihr nicht mehr gehorcht. Wie ein Fremdkörper fällt er herunter, schlägt gegen die Bettkante. Dabei spürt sie merkwürdigerweise keinen Schmerz. Gleichzeitig wird ihr die ganze linke Körperseite fremd, und sie denkt verwirrt: ›Ich hab' einen Schlaganfall erlitten.‹

Als die Nachtschwester, durch das Läuten alarmiert, hereinkommt, ist Gräfin Kerckhoff tief bewußtlos, sie röchelt bereits.

Aus einer der vier Doppelgaragen seines Stadthauses holt Professor Johannes Bertram einen silbergrauen Zweisitzer und fährt mit aufheulendem Motor in die Klinik.

Den Wagen, ein überlautes Sportauto, hat er vor zwei Jahren seiner Frau Malvina zum siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Nach dem vielen Alkohol wirkt Bertrams Gesicht blaß, doch fährt er konzentriert, ohne sich allzusehr um die Geschwindigkeit zu kümmern.

Über der Stadt liegt dünner Nebeldunst. Als Bertram in das Universitätsgelände einbiegt, schaltet er behutsam zurück, bevor er vor der internen Klinik zum Stehen kommt. Zerstreut denkt er: arme Elisabeth.

In der chirurgischen Unfallambulanz zündet sich zu dieser Stunde der Inder Schi eine Zigarette an, eine Frechheit, die er sich zum erstenmal herausnimmt. Schwester Rosemarie Schwarz merkt es nicht, sie ist viel zu sehr mit sich beschäftigt. Sie nimmt ihre Umgebung nur undeutlich wahr. Den gestohlenen Schmuck hat sie eilig in eine sterile Operationskompresse gewickelt und in einem Sack mit Gipspulver versteckt. Durch die halbgeöffnete Tür vernimmt Rosemarie die Stimme des diensthabenden Chirurgen, der mit seiner Verlobten, der Nachtschwester auf der internen Privatstation, endlose Telefonate führt. Sie hört, wie er überrascht fragt: »Bertram? Um diese Zeit?«

Aus, denkt Rosemarie, der Diebstahl ist entdeckt, man hat Bertram geholt und sicher auch die Polizei. Gleich werden sie nach einer Schwester van Dahmen suchen, die in Karl-Marx-Stadt geboren ist. Aus der Traum.

»Wodurch gestorben? Schlaganfall?« fährt die Chirurgenstimme fort. »Wer ist bitte die Gräfin? Die Mutter der schönen Karen? Ach so, ich kenne die Story, nicht mein Geschmack. Gut für Frauenzeitschriften. Was erwartest du von mir? Es soll romantische Chirurgen geben, ich jedenfalls …«

Interne Intensivstation. Acht Betten. Acht Patienten. Leises Summen der Monitoren, eine Überdruckbeatmungsmaschine schaltet sich mit nervenzermürbender Regelmäßigkeit ein: wums-wuubs … wums-wuubs …

Der Patient Nr. 8 Antonio Dellonga zuckt ein wenig mit den Augenlidern, sein Atem ist flach, sein Herz rast und schlägt gegen die Katheterspitze. Hundertdreißigmal in der Minute. Noch ahnt keiner etwas davon.

Schwester Leopoldine betrachtet das Kontrollpult vor ihr, ein seltener Augenblick, wo alle acht Patienten ruhig sind, die grünen Lämpchen über den Betten, die flimmernden Herzkurven der Monitoren, wums-wuubs. Auf ihrem Stuhl nickt sie ein.

Der Chefarzt
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