Angriff im Eisland

 

Ein Sturm fegte über das vereiste weiße Land. Prinz Sandrilas wandte den Kopf und blickte suchend nach Norden. Für einen kurzen Moment glaubte er, etwas zu hören. Ein Geräusch, das wie schnelle Schritte auf weichem Tiefschnee klang.

Der einäugige Elbenprinz lauschte in das Tosen des Sturms. Um die Konzentration zu erhöhen, murmelte er eine magische Formel. Doch das Geräusch war nicht mehr zu vernehmen.

„Wir sollten hier so schnell wie möglich verschwinden, Lirandil!“, sagte er dennoch an seinen Begleiter gerichtet.

Fast hundert Schritte war der elbische Fährtensucher Lirandil von ihm entfernt, aber dennoch und trotz des Sturms reichte es völlig aus, wenn Sandrilas leise sprach. Selbst Sandrilas’ Herzschlag hätte Lirandil wahrnehmen können, hätte er sich darauf konzentriert, so fein war das Gehör eines Elben.

„Ich brauche noch eine Weile“, gab Lirandil ebenso leise und doch klar verständlich zurück.

Sandrilas seufzte. Er war angespannt. „Habt Ihr die Fährtensucherkunst verlernt, werter Lirandil, oder weshalb braucht Ihr so lange?“

„Sind wir vielleicht kurzlebige Menschen, deren Zeit knapp ist und die deswegen immer in Eile sein müssen?“, antwortete der Fährtensucher mit einer Gegenfrage. „Die Spuren sind schwer zu lesen. Der Schnee deckt alles zu. Und doch bleibt immer etwas zurück.“

In diesem Moment vernahm Sandrilas erneut Schritte – aber keinen Herzschlag!

Der Einäugige riss sein Schwert hervor und schlug seinen Umhang zurück, damit er sich besser bewegen konnte. „Da ist etwas!“, rief er und streckte das Schwert in jene Richtung, aus der es seiner Einschätzung nach kam.

Etwas oder … jemand!

Auf jeden Fall ein Geschöpf ohne Herzschlag und rauschenden Blutfluss in den Adern, denn beides hätte Sandrilas vernommen.

„Vorsicht!“, rief er.

Hinter einer vereisten Anhöhe tauchte in diesem Moment ein auf zwei kräftigen Beinen laufendes drachenähnliches Wesen auf, das vollkommen aus Eis bestand. Doch dieses Eis war auf magische Weise so biegsam und geschmeidig wie Fleisch. Der lange, sehr kräftige Schwanz endete in einer Sichel, die an die Klinge einer Streitaxt erinnerte.

Ein Eisdämon!, erkannte Sandrilas. Deswegen habe ich keinen Herzschlag vernommen!

Andernorts waren diese Wesen auch als Eisdrachenläufer bekannt.

Vor diesen Kreaturen hatte man Sandrilas und Lirandil eindringlich gewarnt, bevor sie sich in diesen abgelegenen Teil des Eislandes begeben hatten.

Das Geschöpf wandte den Kopf, öffnete das Maul und ließ im nächsten Moment eine bläuliche Flamme daraus hervorschießen.

Lirandil wich blitzschnell zur Seite, sodass die Flamme neben ihm in den Schnee fuhr. Es war ein bläuliches magisches Feuer.

Der drachenhafte Eisdämon wirbelte seinen Schwanz umher, und die eisige Klinge schnellte in Halshöhe durch die Luft.

Lirandil duckte sich, und wie ein übergroßes scharfes Henkersbeil glitt die Eisklinge über ihn hinweg. Der Schwung, mit dem der Hieb geführt wurde, war so gewaltig, dass sich auch der Eisdämon etwas drehte. Nur deshalb ging der nächste bläuliche Feuerstoß aus seinem aufgerissenen Maul ins Nichts.

Lirandil wusste, dass es sinnlos war, in dieser Situation vor dem Eisdämon davonzulaufen, dafür war er ihm zu nahe. Nach ein paar Schritten hätte ihn entweder das magische Feuer oder ein erneuter Hieb mit dem Sichelschwanz erwischt.

Also entschied er sich für das Gegenteil: Er nutzte den kurzen Moment, in dem der Eisdämon seine Balance wiederfinden und Kraft für einen weiteren Feuerstoß sammeln musste, um auf den Drachen zuzustürmen. Dabei schrie er eine magische Formel, die ihm zusätzliche Kraft verleihen sollte. Sein Sprung war daher etwas länger, als er es bei einem Menschen gleicher Größe und Kraft gewesen wäre.

Er wirbelte sein Schwert und traf damit den Hals des Eisdämons.

Die Klinge war noch in Athranor, der Alten Heimat der Elben, geschmiedet worden. Es gab kein härteres Material, aus dem sich Schwerter herstellen ließen, als diesen Stahl. So drang die Klinge ein Stück in den Hals des Wesens ein und ließ ein paar Eistücke herausspringen, sodass eine Kerbe entstand.

Der Eisdämon schwankte kurz, aber der zischende Laut, der seinem Maul entfuhr, klang fast wie ein höhnisches Lachen.

Auch der zweite Schwertstreich des Elbenkriegers schadete dem Eisdämon nicht besonders. Mehr als ein paar Kratzer in der eisigen Oberfläche seines Körpers konnte die Klinge aus hartem Elbenstahl nicht bewirken.

Der Eisdämon richtete das Maul auf Lirandil und riss es weit auf. Lirandil fasste das Schwert mit beiden Händen, doch gegen den nächsten Feuerstrahl aus dem Rachen des Ungeheuers gab es keinen Schutz.

Prinz Sandrilas stürmte mit weiten Sätzen heran, aber die Entfernung war viel zu groß, als dass er Lirandil noch rechtzeitig hätte erreichen können. Doch der einäugige Prinz griff unter sein Gewand und holte einen dunklen Stein hervor. Er war schwarz und vollkommen glatt. Ein magischer Glutstein, den sie auf ihre Reise ins Eisland mitgenommen hatten, um sich wärmen und Nahrung zubereiten zu können. Schließlich gab es in diesem Landstrich nirgends Brennholz.

Sandrilas schleuderte den Stein mit aller Kraft und murmelte dabei eine Formel in der alten Sprache der Elben. Der Stein glühte auf, nahm eine unnatürliche, leicht gebogene Flugbahn und schnellte genau auf den Kopf des Eisdämons zu.

Gerade als die bläuliche Feuersbrunst aus dem Drachenmaul dringen sollte, schlug der rötlich schimmernde Glutstein in den Rachen des Eisdämons. Das eisblaue Feuer wurde zischend gelöscht, und weißer Dampf wallte aus dem Maul des würgenden Dämons. Er taumelte auf seinen kräftigen Hinterbeinen zurück. Seine Vorderläufe waren sehr viel kleiner und endeten in eisigen Klauen, mit denen er in sein Maul hineinzugreifen versuchte. Da er gerade zu einem weiteren Schlag mit seinem Sichelschwanz ausgeholt hatte, konnte er sein Gleichgewicht nicht halten und sank gurgelnd und zischend in den Schnee.

„Lauft, Lirandil!“, rief Prinz Sandrilas.

Lirandil ließ sich das nicht zweimal sagen. Er spurtete los, so schnell er konnte. Zumindest im Augenblick ging von dem Eisdämon keine Gefahr aus. Er würgte immer noch. Anstatt bläuliches Feuer sprühten rötliche Funken aus seinem Rachen. Dabei wälzte er sich am Boden, stand wenig später aber wieder auf seinen Hinterläufen und saugte so viel Schnee wie möglich in sein Maul. Erneut erklang ein Zischen. Offenbar löschte der Schnee die Hitze des Glutsteins, zumindest ein wenig.

„Für einen Einäugigen könnt Ihr aber gut zielen!“, meinte Lirandil, als er Sandrilas erreichte.

„Das ist Magie der Alten Zeit!“, antwortete Sandrilas ungerührt.

Lirandil wusste, was der Prinz damit meinte. Er und Sandrilas gehörten zu den wenigen Elben, die bereits gelebt hatten, als ihr Volk noch im fernen Land Athranor gesiedelt hatte. Zwar war schon damals die Magie der Elben immer schwächer geworden, war aber im Vergleich zur derzeitigen Epoche dennoch sehr viel stärker gewesen.

Daron und Sarwen, die magisch hochbegabten Enkel des Elbenkönigs, bildeten in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Und von den magischen Fähigkeiten der beiden Elbenkinder waren selbst Lirandil und Sandrilas weit entfernt.

Lirandil ließ den Blick schweifen.

Auf den von Eis und Schnee bedeckten Anhöhen erschienen auf einmal Dutzende von Eisdämonen. Oben auf den Kämmen der Schneehügel blieben sie zunächst stehen, um die Lage zu überblicken. Sie reckten die Sichelklingen ihrer Schwänze drohend empor. Hier und dort zischte eine bläuliche Stichflamme aus einem Maul.

„Bei alle Elbenkönigen, woher kommen die so plötzlich?“, stieß Sandrilas hervor. „Und so viele!“

„Sie haben keinen Herzschlag und kein Blut, dessen Fluss man rechtzeitig hören könnte“, stellte Lirandil fest. „Und ihre Schritte sind sehr leise. Ich habe sie nicht bemerkt.“

„Es sind Hunderte!“

Jener Eisdämon, dem Sandrilas den Glutstein in den Rachen geworfen hatte, erholte sich zusehends. Er spuckte eine Wolke schwarzer Asche aus. Das mussten die Überreste des Steins sein.

Dann stieß einer der anderen Eisdämonen einen durchdringenden, schrillen Laut aus, der vermutlich in noch weiterer Entfernung zu vernehmen war als jedes Hornsignal der Elben.

Auf dieses Zeichen schienen sie alle gewartet zu haben.

Sie stürzten mit erhobenen Sichelschwänzen und aus den Mäulern züngelnden Flammen los.

„Jetzt wird sich zeigen, was für ein schneller Waldläufer Ihr seid, Fährtensucher!“, meinte Prinz Sandrilas.

Den beiden Elbenkriegern blieb nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen.

Aber die Eisdämonen waren nicht nur lautlose, sondern auch äußerst schnelle Läufer. Lirandil, der als Fährtensucher die Natur der unterschiedlichsten Wesen erforscht hatte und sich dieses Wissen für die Spurensuche nutzbar machte, war kaum ein anderes Geschöpf bekannt, das sich dermaßen geschwind auf seinen Beinen bewegte.

Während des Laufens breiteten sie ihre libellenartigen Flügel auf, die aus hauchdünnem Eis bestanden und mit denen sie nicht fliegen, aber weite Sprünge unterstützen konnten.

Sie haben sich an uns herangeschlichen!, erkannte Lirandil. Sie wollten nicht, dass wir sie hören!

Hatte sie etwa in der Ödnis des Eislandes jemand erwartet und ihnen eine Falle gestellt?

Lirandil blieb keine Zeit, darüber länger nachzudenken. Die ersten Verfolger waren bereits so nahe heran, dass er und Sandrilas in Reichweite der bläulichen Feuerstöße gerieten.

Eine der Flammenattacken zischte dicht über die beiden Elbenkrieger hinweg.

Dann tauchte vor ihnen plötzlich ein riesenhaftes Maul aus dem Schnee hervor. Es war so groß wie das Stadttor von Elbenhaven und gehörte einem gewaltigen wurmartigen Leviathan, einem Wesen, das sich durch dicke Schichten von Eis bohren konnte.

Das Maul hatte den Schnee, auf dem sich Lirandil und Sandrilas befanden, bereits mit dem Unterkiefer untergraben und hob ihn an. Sandrilas und Lirandil verloren das Gleichgewicht und stürzten mitsamt einer gewaltigen Menge Schnee in den Schlund des Ungetüms, während sich das gewaltige Maul hinter ihnen schloss.