Ein Magier aus der Versenkung

 

Am Abend war auch ein Händler aus dem Reich der Halblinge von Osterde auf dem Festbankett anwesend. Er hatte gerade mit seinem Schiff in Elbenhaven angelegt. Solche Gäste lud König Keandir gern ein, erfuhr er doch von ihnen immer Neuigkeiten aus den weiter entfernt liegenden Gebieten des Zwischenlandes.

Der Halbling hieß Loy Olid und reichte selbst Daron nur knapp über die Hüfte. Damit er es bequemer am Tisch hatte, setzte man ihn auf dicke Kissen.

„Vor drei Jahren fuhr ich die Küste von Maduan entlang, dem Land der Blaulinge, und legte im Hafen von Mintua an, um dort einige Güter an Bord zu nehmen. Dort sah ich auf einem Dock das seltsamste Schiff, das mir jemals unter die Augen kam. Es war ständig von Blitzen umgeben, die auf seiner silberfarbenen Außenhaut knisterten und über die Oberfläche schnellten wie Spinnen, deren lange Beine jemand entflammt hatte. Dieses Gefährt musste irgendeine Magie enthalten. Aber von solchen Dingen versteht Ihr Elben mehr als einer wie ich.“

„Fahrt ruhig fort“, forderte König Keandir.

„Ich erkundigte mich, in wessen Auftrag dieses Schiff gebaut wurde, und erfuhr, dass der Eigentümer ein Magier sei. Leider wollte der nicht mit mir reden, aber als ich einmal in seine Nähe gelangte, erkannte ich deutlich, dass es sich bei ihm um einen Mann aus Eurem Volk handelte.“

„Habt Ihr einen Namen erfahren?“, fragte Keandir.

„Da waren verschiedene Namen im Umlauf.“

„War einer davon vielleicht Jarandil?“

Loy Olid machte ein nachdenkliches Gesicht. „Nun, das ist schon drei Jahre her, und auch wenn das vielleicht für Euch nur ein Augenblick ist, so …“

„Versucht Euch zu erinnern!“, forderte Keandir mit einer Ungeduld, die ganz untypisch für ihn war.

„Ich glaube, Ihr habt recht. Der Name Jarandil wurde von den Blaulingen in den Straßen von Mintua immer wieder erwähnt, obwohl sie ihn etwas anders aussprachen.“

Keandir ballte die Hände zu Fäusten. „Dachte ich’s mir doch!“, entfuhr es ihm.

Daron sah zu Sarwen hinüber, die diesmal neben Brass Shelian, dem Oberhaupt des Schamanenordens, Platz genommen hatte. „Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn wir von dem nichts mehr gehört hätten“, sandte der Elbenjunge einen Gedanken an seine Schwester.

Der abtrünnige Elbenmagier Jarandil, der zusammen mit dem Knochenherrscher von Skara mehrfach versucht hatte, die Macht im Elbenreich an sich zu reißen, war also wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Eine ganze Weile hatte man nichts von ihm gehört. Man hatte nicht gewusst, ob er vielleicht tot oder in irgendeiner magischen Zwischenwelt verschollen war.

Lirandil hatte auf einer seiner Reisen gehört, dass sich Jarandil zwischenzeitlich wieder in Skara aufgehalten, sich dann aber mit dem Knochenherrscher zerstritten hätte. Im Reich der Whanur-Echsenmenschen erzählte man sich von einem Magier, der sich selbst bei einem magischen Experiment in eine andere Welt verbannt hatte. Aber die Whanur sprachen den Namen des Magiers derart fremdartig aus, dass möglicherweise auch jemand ganz anderes damit gemeint war, zumal für die Whanur Menschen und Elben ziemlich gleich aussahen. Die kleinen Unterschiede wie etwa die spitzen Elbenohren fielen den Echsenmenschen nicht wirklich auf.

Genaueres war einfach nicht in Erfahrung zu bringen. Jarandil schien einfach wie vom Erboden verschluckt. Und nun gab es diese alarmierenden Neuigkeiten. Auch wenn Loy Olids Erlebnis schon drei Jahre zurücklag, interessierte es sowohl König Keandir als auch seine beiden Enkel brennend, vor allem, welche Pläne Jarandil wohl verfolgte.

„Fahrt fort, werter Loy Olid!“, forderte der Elbenkönig seinen Gast auf.

„Dieses Schiff hat mich damals einfach nicht losgelassen“, bekannte der Halbling. „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es überhaupt schwimmen sollte, ohne Segel und aus schwerem Metall bestehend. Dann erfuhr ich, dass dieses blitzende Silberschiff angeblich durch das Eis des Nordmeeres fahren kann, durch ein gefrorenes Meer!“ Loy Olid zuckte mit den Schultern. „Ich konnte leider nicht in Mintua bleiben, bis der Bau des Schiffes abgeschlossen war und man es zu Wasser ließ.“

„So plante Jarandil also vor drei Jahren eine Reise ins Nordmeer“, stellte Keandir fest.

„Das wird kein Zufall sein“, meinte Branagorn.

„Er wird seine Reise durch das Eis längst hinter sich gebracht haben“, war Daron überzeugt. „Ob das etwas mit dem Auftauchen der Eisdämonen zu tun hat?“, fügte er mit einem Gedanken hinzu, der für Sarwen bestimmt war.

Aber deren Aufmerksamkeit war für einen Moment abgelenkt. Sie sah Brass Shelian an, dem Obersten Schamanen der Elben, und plötzlich wurde Daron etwas klar: Die beiden teilten irgendein Geheimnis miteinander. Etwas, wovor Sarwen selbst ihren Zwillingsbruder ausschloss, obwohl sie ihn sonst jeden ihrer Gedanken wissen ließ.

Daron blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment betrat ein junger Elbenkrieger aus der Wächtergarde des Königs den Saal.

Daron kannte ihn. Er hieß Ylandor und war ziemlich schweigsam. Er war drei Tage vor dem Flug der beiden Elbenkinder nach Estorien geboren worden, also vor einundzwanzig Jahren. Und trotzdem war Ylandor ohne Zweifel bereits ein erwachsener Mann, im Gegensatz zu Daron mit seinen inzwischen über zweihundert Jahren und trotz seines Wachstums in der letzten Zeit.

„Mein König, entschuldigt die Unterbrechung Eures Festmahls“, bat Ylandor und verneigte sich.

„Nun, ich bin überzeugt, dass es aus einem wichtigen Grund geschieht“, erwiderte der Elbenkönig.

Ylandor trat vor und reichte ihm eine winzige Papierrolle. „Dies kam mit einer Brieftaube“, sagte er. „Es ist von besonderer Dringlichkeit und von Herzog Asagorn.“

Keandir entrollte das Papier, auf dem in winzigen Elbenrunen eine Botschaft stand.

„Eine große Wand aus Eis schiebt sich in unser Land und hat bereits mehrere Elbensiedlungen unter sich begraben“, las Keandir aus dem Brief des Herzogs von Meerland vor. „Mit dem Eis dringen Scharen von Eismenschen nach Süden. Sie sind in großer Übermacht, auch wenn es bisher noch nicht zu Kämpfen kam. Lirandil und Sandrilas haben sich mit einem Schiffe nach Norden bringen und in der Nähe der geheimnisvollen Eisfestung absetzen lassen. Die hundert Brieftauben, die ich nach Elbenhaven ausgesandte, scheint Magie in die Irre geführt zu haben, wie wir beobachten konnten. Dies ist die letzte Taube, und ich habe kaum Hoffnung, dass sie ihre Botschaft überbringen wird …“

„Auf Rarax Rücken ist man in kürzester Zeit in Meergond!“, sagte Daron, als sein Großvater das Pergament sinken ließ. „Und ein Mittel gegen das Eis gibt es auch. Thamandor hat uns vor Kurzem seinen neuen Flammenspeer gezeigt.“

„Mit Verlaub, aber ich glaube nicht, dass sich eine Wand aus offenbar magisch beeinflusstem Eis, das auf einer viele Meilen langen Front vordringt, durch einen einzelnen Flammenspeer aufhalten lässt“, meldetet sich Hofmarschall Rhenadir zu Wort. Er wandte sich an Brass Shelian. „Oder glaubt Ihr das?“

„Ich habe die Wirkung des neuen Flammenspeers noch nicht begutachten können“, antwortete das Oberhaupt des Schamanenordens ausweichend.

„Thamandors frühere Flammenspeere haben die Heere des Dunklen Herrschers abgewehrt, als im Großen Krieg um den Elbenturm gekämpft wurde“, erinnerte Branagorn. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Nachfolgemodell schlechter sein soll. Dazu ist Thamandor einfach zu sehr Perfektionist. Er versucht andauernd, seine Erfindungen zu verbessern.“

„Zumindest wird man damit die Mauern von Meergond vorerst retten können“, glaubte Daron. „Wir sollten so schnell sie möglich aufbrechen. Asagorns Hilferuf klingt mehr als dringend.“

„Und wer weiß, vielleicht lässt sich ja ein Zauber finden, der die Magie bekämpfen kann, die das Eis gegen alle Naturgesetze im Frühling nach Meerland treibt“, ergänzte Sarwen.

Keandir wirkte nachdenklich. „Also gut“, entschied er schließlich. „Ich bin einverstanden.“

„Ihr solltet inzwischen alle Magier und Schamanen des Elbenreichs zusammenrufen, um dieser Gefahr zu begegnen“, schlug Brass Shelian vor. „Das dauert zwar etwas und wird Herzog Asagorn nicht auf die Schnelle helfen können, aber wir können der Bedrohung vielleicht hintenherum wirksamer begegnen.“

„Ein guter Vorschlag“, lobte König Keandir.

„Es freut mich zu hören, dass die Magier und Schamanen des Elbenreichs immer noch so mächtig sind“, mischte sich Loy Olid ein. „Man hört immer wieder, dass die Elbenmagie angeblich immer schwächer wird.“

Darauf antwortete zunächst niemand, bis Branagorn das Wort ergriff. „Ja, das waren noch Zeiten, als die Magier der Elben in der ersten Schlacht an der Aratanischen Mauer riesige Felsbrocken durch die Luft schweben ließen, um sie dann auf die Katapulte unserer Feinde fallen zu lassen. Zermalmt wurden sie!“

„Das ist lange her“, gab Keandir zu bedenken.

„Mein König, ich werde meinen Aufbruch nach Estorien selbstverständlich verschieben, um Euch in dieser Stunde beizustehen.“

Keandir lächelte. „Zehn Jahre braucht ihr noch, um Eure Angelegenheiten in Elbara zu regeln, so habt Ihr gesagt.“

„Ja, das ist richtig“, bestätigte Herzog Branagorn.

„Ich denke nicht, dass Ihr Eure Pläne zu verschieben braucht, werter Branagorn“, meinte der König. „Allerdings bin ich um jeden Tag froh, den Ihr hier in Elbenhaven bleibt, um mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“