2
Der Totenalb
Gorian saß in sich versunken neben dem
Steingreifen und führte seine geistigen Übungen durch. Dazu hätte
ihm in der Gesandtschaftshöhle auch eine Zelle zur Verfügung
gestanden, denn schließlich war man dort auf Gäste, die dem Orden
angehörten, bestens eingestellt. Aber er sah es mittlerweile als
zusätzliche Herausforderung an, denselben Grad geistiger Versenkung
auch außerhalb der Abgeschiedenheit einer Ordenszelle zu
erreichen.
Es herrschte klares Wetter, und der strahlend blaue
Himmel erinnerte ihn an jenen Moment, als er im Boot seines Vaters
erwachte und emporsah. Es war jener Augenblick, in dem seine
Erinnerungen einsetzten und zu dem seine Gedanken immer dann
zurückkehrten, wenn er in besonderer Weise versuchte, sich
innerlich für kommende Aufgaben zu wappnen und zu stärken.
Diesmal allerdings hatte er Schwierigkeiten, sich
zu sammeln. Und das lag nicht daran, dass ihn der Blick auf die
wimmelnde Hauptstadt Gryphlands abgelenkt hätte. Unzählige Greifen
umschwebten mit mehr oder weniger sanftem Flügelschlag den
Gryphenklau-Felsen, in dessen Höhlen nahezu die gesamte Stadt
untergebracht war. Die meisten dieser majestätischen Wesen trugen
von gut dressierten Seilschlangen gehaltene Gondeln unter ihren
löwenartigen
Leibern, während die krächzenden, manchmal schrillen und mal sehr
tiefen Töne, die aus den Schnäbeln ihrer Vogelköpfe drangen, die
Luft mit einer lauten Geräuschkulisse erfüllten. Diese mischte sich
mit dem Rauschen des nahen Meeres und den Rufen der Greifenreiter,
die sich untereinander ansonsten durch Zeichen verständigten, um
vor allem Kollisionen der manchmal schiffsgroßen Gondeln mit
wertvollen Ladungen zu verhindern.
Unterhalb der in den Fels geschlagenen Hauptstadt
lag der Hafen, Port Gryphenklau geheißen. Dort legten Schiffe aus
aller Herren Länder an, wobei westreichische und heiligreichische
Galeeren und vor allem Schiffe aus Margorea die Mehrheit stellten.
Die Einheimischen benutzten kaum Schiffe, sondern zogen es
verständlicherweise vor, in ihren Greifengondeln zu reisen.
Gryphland war größtenteils so zerklüftet und
unwegsam, dass auch der Einsatz von flugunfähigen Reittieren kaum
sinnvoll erschien. Allerdings war Meister Aarad, der in seinen
Jahren als Ordensgesandter zu einem Kenner Gryphlands geworden war
und wie kaum ein anderer über die Besonderheiten dieses Landes
Bescheid wusste, in diesem Punkt anderer Ansicht. »Es ist genau
umgekehrt, als es den Anschein hat«, erinnerte sich Gorian der
Worte, die Aarad zu diesem Thema geäußert hatte. »Weil es den
Gryphländern gelang, die Greifen zu zähmen, haben sie sich niemals
die Mühe gemacht, Straßen zu bauen oder Wege anzulegen, wie man es
andernorts getan hat.«
Tatsächlich gab es in Gryphland kaum Straßen. Nicht
einmal von Port Gryphenklau zur Hauptstadt führte ein Weg. Vor ein
oder zwei Menschenaltern hatte der damalige König Baumeister aus
Mitulien damit beauftragt, eine Straße bis hinauf zum Gipfel des
Gryphenklau-Felsens zu bauen, wo
sich der Eingang zu den Palasthöhlen befand. Die Rampe, die damals
fertiggestellt worden war, existierte noch immer, und ebenso ein
erstes Stück dieser Straße. Aber die Bauarbeiten hatten abrupt
eingestellt werden müssen, weil es zu einem Aufstand der äußerst
einflussreichen Gilde der Frachtgreifenreiter gekommen war, die um
ihre Pfründe gefürchtet hatten. Und so war es dabei geblieben, dass
es keinerlei direkte Verbindung zwischen Hafen und Hauptstadt gab
und alle Waren, die mit Schiffen angeliefert wurden, zunächst in
Greifengondeln umgeladen werden mussten, bevor sie in den Palast
gelangen konnten. Damit war etwas für gryphländische Verhältnisse
so Exotisches wie Pferdefuhrwerke oder gar von Hand gezogene Karren
auf Zeitalter hinaus ins Reich der Albträume von silbergierigen
Frachtgreifenreitern verbannt. Kein gryphländischer König würde auf
absehbare Zeit einen weiteren Versuch in diese Richtung wagen. Die
Rampe und das begonnene Stück der Straße, die nach guter
mitulischer Baukunst für die Ewigkeit geschaffen schienen, waren
ein Mahnmal, das den jeweiligen König immer daran erinnern sollte,
dass sich Gryphland nicht regieren ließ, wenn man die Gilden der
Greifenreiter gegen sich hatte.
Für einen Moment glaubte Gorian, einen Schatten im
glitzernden Sonnenlicht zu sehen, weit draußen auf dem Meer, und
augenblicklich war er aus seiner gedanklichen Sammlung
herausgerissen. Die Hand glitt zum Schwert Sternenklinge, das er
neben sich auf den Granitboden des Felsplateaus abgelegt hatte. Die
Waffe hatte er ständig bei sich, denn er war immer auf einen
Angriff vorbereitet. Morygor hatte schließlich mehrfach versucht,
ihn zu töten, und nur der Frostherrscher allein wusste, wann der
nächste metamagisch berechnete Zeitpunkt gekommen war, an dem sich
die Schicksalslinien in Morygors Sinn günstig beeinflussen
ließen.
Spüre, was da ist. Erkenne, was nur eine
Reflexion deiner eigenen Gedanken ist, erinnerte sich Gorian
eines der Ordens-Axiome.
Seine Augen wurden für einen Moment schwarz, als er
genug Magie in sich sammelte, um erspüren zu können, was der
Schatten gewesen sein mochte. Die Empfindung, die er dabei hatte,
war nur sehr flüchtig und so schnell wieder vorbei, dass es sehr
schwer war, sie richtig zu beurteilen. Sosehr er mit den Mitteln
seines inzwischen schon sehr gut ausgebildeten Geistes um sich
tastete, er fand nichts mehr.
»Was beunruhigt dich?«, erreichte ihn
stattdessen ein Gedanke von Sheera.
Er spürte erst jetzt ihre körperliche Anwesenheit,
was nur daran liegen konnte, dass er sich sehr stark auf den
Schatten konzentriert hatte. Er drehte sich herum.
Sheera setzte sich zu ihm. »Manchmal hat es keinen
Sinn, sich sammeln zu wollen«, sagte sie.
»Für einen Moment habe ich gedacht, da wäre ein
Magie-Schatten, dort draußen auf dem Meer. Aber ich scheine mich
getäuscht zu haben.«
»Mir ist das auch schon passiert«, erklärte Sheera.
»Der Schattenbringer spiegelt sich manchmal im Wasser. Und diese
Spiegelungen haben sogar noch etwas magische Kraft. Zumindest
genug, um sie spüren zu können wie einen bösen Gedanken.«
Er sah sie an, und der Blick ihrer meergrünen Augen
offenbarte ihm, dass sie sehr genau erkannt hatte, was wirklich mit
ihm los war und was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.
»Mir gegenüber kannst du offen sprechen«, sagte
sie. Sie brauchte nicht einmal genauer zu präzisieren, was genau
sie damit meinte.
»Ich bin unzufrieden«, erklärte er. »Seit wir das
Frostreich verlassen haben, ist kaum noch etwas, wie es war. Ich
habe all meine Kraft in dem Kampf am Speerstein aufgebracht, weil
ich geglaubt hatte, es wäre Morygor, dem ich gegenüberstand, und
die Stunde der entscheidenden Begegnung zwischen uns wäre gekommen.
In Wirklichkeit hatte Morygor nur einen Schergen geschickt.«
»Du hast einen Frostgott besiegt und die beiden
Schwerter, die dein Vater schmiedete, zurückgeholt«, gab Sheera zu
bedenken.
»Ich habe nur gegen einen Diener Morygors gekämpft
und wäre beinahe dabei umgekommen. Vermutlich war genau das
Morygors Ziel.«
»Aber es ist nicht so gekommen, wie er es plante.
Du lebst und bist wieder zu Kräften gekommen.«
»Ja, aber zu einem hohen Preis. Bevor ich am
Speerstein kämpfte, hatte ich keine Zweifel daran, Morygor besiegen
zu können. Dass meine Kraft nicht ausreichen könnte, wäre mir nie
in den Sinn gekommen.«
»Und jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast deine Grenzen kennengelernt und bist
vielleicht sogar darüber hinausgegangen. Das ist nichts, was dich
innerlich niederdrücken, sondern ermutigen sollte. Immerhin haben
sich deine Kräfte als stärker erwiesen als die aller anderen, die
dich begleitet haben. Und das gilt sogar für Meister
Thondaril.«
»Ja, ich weiß.«
»Was ist mit deiner Wunde?«
»Sie hat aufgehört zu bluten. Deine Heilerde hat
geholfen.«
»Ich habe leider nicht mehr viel davon, und hier in
Gryphenklau ist sie schwer zu bekommen. Aber ich habe Meister Aarad
gefragt, und er meinte, dass er einen Weg finden wird, welche zu
besorgen.«
Sie schwiegen eine Weile und beobachteten einen
Beinahezusammenstoß von zwei völlig überladenen Greifengondeln.
Einer der Greifen, ein wahrer Riese seiner Art, stieß ein wütendes
Fauchen aus, und sein Reiter hatte alle Mühe, die gewaltige Kreatur
zu bändigen. Unglücklicherweise war die Gondel offen und die Ladung
nachlässig befestigt. Ein halbes Dutzend große Stoffballen fielen
in die Tiefe und landeten in jenem nicht immer wohlriechenden
Graben, in dem die Abwässer des Hafens und der Hauptstadt
zusammenflossen, um dann ins Meer geleitet zu werden.
»Im Moment verläuft nichts so, wie es sein sollte«,
meinte Gorian irgendwann. »Ich habe das Gefühl, hier seit Monaten
nur nutzlos herumzusitzen.«
»Du musstest deine Kraft zurückgewinnen.
Wahrscheinlich mussten wir das alle.«
»Morygor lässt uns diese Zeit nicht«, widersprach
Gorian. »Nicht mal meine Ausbildung konnte ich richtig fortsetzen,
weil sich in der Gesandtschaft hier in Gryphenklau kein
ausbildungsberechtigter Seher oder Schattenmeister befindet.«
Sheera lächelte. »Vielleicht war dein Plan, dich in
allen fünf Häusern des Ordens gleichzeitig ausbilden zu lassen,
ohnehin ein bisschen zu ehrgeizig.«
Er sah sie sehr ernst an. »Das ist kein
übertriebener Ehrgeiz, sondern reine Notwendigkeit, wenn ich gegen
Morygor bestehen will. Sieh doch unsere jetzige Lage. Wenn
sich mein Schattenmeister-Lehrer Aberian nicht als Verräter
entpuppt hätte und ich in der Ausbildung weiter wäre, könnte ich
mich jetzt einfach über einen Schattenpfad innerhalb von
Augenblicken auf die Inseln der Caladran oder nach Felsenburg
begeben. Stattdessen sitzen wir hier und warten darauf, dass ein
gnädiger Herrscher uns die Erlaubnis gibt, nach Felsenburg zu
reisen. Und ich wette, wenn wir diese Erlaubnis schließlich
bekommen, wird sich kein Greifenreiter finden, der uns für noch so
viel Silber zu den Caladran-Inseln fliegt, sodass wir elendig lang
mit einer westreichischen Galeere unterwegs sein werden. Bis wir
ans Ziel gelangen, bedeckt der Schattenbringer die Sonne
wahrscheinlich völlig, und der Eispanzer reicht dann vermutlich so
weit ins Meer hinaus, dass man zu Fuß zu den Caladran laufen
kann.«
»Gorian«, sagte sie, »manche Dinge brauchen einfach
ihre Zeit.«
»Ja, aber es fällt mir schwer, das zu
akzeptieren.«
Später wurden sie von einer der vielen
Greifengondeln abgeholt, die ständig über der Stadt verkehrten und
Gryphenklau aus der Ferne wie einen wimmelnden Bienenstock aussehen
ließen.
König Demris Gon gewährte eine Audienz, an der
ausdrücklich auch Aarads Gäste teilnehmen sollten.
In einem Flugmanöver, das Gorian schier den Atem
raubte, flog der Greifenreiter des Königs mit seiner Gondel in den
Eingang der Palast-Höhle ein, die den ganzen oberen Bereich des
Felsmassivs von Gryphenklau ausfüllte. Aber der Greifenreiter
verstand sein Handwerk und lenkte sein Flugtier mitsamt der Gondel
sicher durch einen Felskorridor, der schließlich in einer
riesenhaften Halle endete. Tropfsteine
wurden von unzähligen Öllampen und Fackeln beleuchtet und
erstrahlten in den prächtigsten Farben. Es roch nach
Weihrauch.
Etwa ein halbes Dutzend Kriegsgreifen und ihre
Reiter befanden sich in der Halle, außerdem Hunderte von
bewaffneten Wachen.
»Der Audienzsaal ist etwas bescheidener und
kleiner«, erklärte Aarad, nachdem sie die Gondel verlassen hatten.
»Dies ist nur die Eingangshalle des Palasts, aber König Demris Gon
pflegt Gäste in einem eher intimeren Rahmen zu empfangen. Davon
abgesehen ist es auch schon lange her, dass hier ausschweifende
Feste stattgefunden haben. Dem König sind solche Vergnügungen
zuwider. Wundert euch also nicht darüber, wenn ihr bescheiden
bewirtet und ohne großen Pomp begrüßt werdet.«
»Das klingt nicht gerade, als wäre der hiesige
Herrscher eine Frohnatur«, meldete sich Torbas zu Wort.
»Nein, man könnte sagen, er ist das genaue
Gegenteil davon«, erklärte Aarad, der Torbas’ Bemerkung vernommen
hatte, obwohl diese eigentlich für Gorian bestimmt gewesen war. »Er
ist ein zum Schwermut neigender Melancholiker, der sich fragt,
warum der Verborgene Gott seine Tochter so sehr mit andauernder
Krankheit gestraft hat.«
Gorian stutzte, und Sheera bemerkte es. Sie sah ihn
an, und es war nicht einmal nötig, dass ihre Gedanken eine Frage
formulierten. »Da ist irgendetwas«, murmelte er. »Es ist genauso
wie …«
»Der Schatten, den du auf dem Meer gesehen
hast?«
»Ja.«
»Ich habe es auch gespürt. Aber nur einen kurzen
Moment«, fügte sie in Gedanken hinzu. »Wir werden aufpassen
müssen, dass wir nicht wieder an Verräter geraten!«
Tatsächlich fühlte sich Gorian an die Ereignisse am
Hof des Basilisken-Reichs erinnert, als sich herausgestellt hatte,
dass der dortige hahnenköpfige Herrscher mit dem unaussprechlichen
Namen längst auf Seiten Morygors stand.
Sie waren gewarnt.
Die Wachen unterhielten sich mit Aarad in
gryphländischer Sprache, die der Heiler offenbar perfekt
beherrschte. Gorian und seine Gefährten hingegen trugen ihre
Sprechsteine bei sich, die sie am Hof des Basilisken-Königs
erhalten hatten und die jede Sprache in jede andere übersetzen
konnten. Auf irgendeine Weise erfassten sie wohl die Gedanken der
Sprecher und übertrugen sie an ihre Träger. Diese Basilisken-Magie
war bisher selbst für Magiemeister des Ordens der Alten Kraft
unergründlich. Allerdings ließ sich das Gewisper der Steine
glücklicherweise durch einen einfachen Gedankenbefehl zum Schweigen
bringen, was Gorian in der Zeit, die er nun schon in Gryphenklau
weilte, oft getan hatte, wenn er sich in der Gegenwart von
Gryphländern aufhielt, denn inzwischen hatte er die Sprache des
Landes einigermaßen gelernt. Die Anwendung von Magie hatte ihn
darin unterstützt, und außerdem war die Sprache Gryphlands mit dem
Heiligreichischen verwandt, sodass sich viele Wörter
ähnelten.
Zwar vermochte Gorian sich noch längst nicht so gut
auf Gryphländisch auszudrücken wie Aarad, aber es reichte, um auf
dem Markt in Port Gryphenklau zu feilschen oder das Gerede der
Leute mitzubekommen.
Eine breite, in den Stein gehauene Treppe führte
durch einen Höhlenkorridor. In dessen Wänden waren leuchtende
Steine eingelassen, die alles in ein diffuses Licht tauchten.
Überall waren weitere Wachen postiert, und es wurde
schnell klar, wie weitläufig die Palastanlage innerhalb des
Felsens war. Welche jener Höhlen, durch die sie geführt wurden,
künstlich angelegt und welche natürlichen Ursprungs war, ließ sich
oftmals nicht so recht unterscheiden. Manchmal schien man auch
natürliche Höhlengänge entsprechend verändert zu haben.
Schließlich führte man sie in einen Saal, dessen
Wände und Deckengewölbe vollkommen mit Mosaiken bedeckt waren.
Vereinzelte Leuchtsteine verbreiteten ein kaltes bläuliches Licht.
Gorian hatte davon gehört, dass diese Steine das Sonnenlicht in
sich aufnahmen und in der Dunkelheit wieder abgaben.
Außerdem gab es Fackeln und Öllampen, deren
flackerndes Licht sehr viel wärmer wirkte. In einigen Schalen
brannte Weihrauch, der in großen Mengen mit Schiffen aus Margorea
in Port Gryphenklau angeliefert und dann von Greifengondeln hinauf
zum Palast geschafft wurde. Gorian hatte das in den letzten Wochen
und Monaten oft genug beobachten können. Er hatte im Hafen mal
jemanden gefragt, was es denn damit auf sich habe – einer seiner
ersten Versuche, eine Unterhaltung in Gryphländisch zu führen und
ohne den Sprechstein auszukommen, denn dessen Magie mochte im
Basilisken-Reich etwas Alltägliches sein, aber im Reich der
Greifenreiter verwirrten die wispernden Steine einen
Gesprächspartner.
Man hatte Gorian auf seine Frage hin geantwortet,
dass der Geruch von Weihrauch den Tod fernhielte. Der ungeheure
Weihrauchbedarf des Palasts war offenbar auf die Krankheit der
Königstochter zurückzuführen. König Demris Gon vertraute wohl nicht
allein den Künsten des Heilers Aarad, sondern versuchte jedes
Mittel, dessen Wirkung zumindest nicht vollständig widerlegt
war.
Demris Gon saß auf einem Thron, der aus dem
Schnabel
eines Greifen errichtet war. Sein Gesicht war so grau wie sein
Bart. Seine Gemahlin Temsora Gon hatte ebenfalls einen
Greifenschnabelthron, doch der war unbesetzt, und das schon seit
Jahren, wie man hörte. Die Königin hatte sich aus Kummer über den
Gesundheitszustand ihrer Tochter schon seit langer Zeit nicht mehr
bei offiziellen Anlässen gezeigt, sondern sich vollkommen
zurückgezogen. Angeblich stand sie unter dem Einfluss eines
Predigers, der sie glauben machte, nur stete Bußgebete zum
Verborgenen Gott könnten ihre Tochter noch retten und jegliche
Heilkunst wäre ansonsten vergebens.
Rechts und links des Doppelthrons hatten die beiden
Söhne des Königs Platz genommen. Demris Gon hatte ihnen beiden
seinen eigenen Namen vererbt, was die Unterscheidung bei der Anrede
etwas schwierig machte. Deswegen sprachen die meisten auch nur vom
Älteren und vom Jüngeren Prinzen. Welcher der beiden einmal König
werden würde, war bislang offen, und es war kein Geheimnis, dass
beide erbitterte Kontrahenten waren, die sich gegenseitig in
Wahrheit den Tod wünschten.
»Seid gegrüßt, edler Herrscher Gryphlands und
Verteidiger des Glaubens an den einzig wahren und wahrhaftigen
Gott«, sagte Aarad in fließendem Gryphländisch. »In meiner
Begleitung befinden sich jene Gäste, von denen ich schon sprach und
die vielleicht unsere letzte Hoffnung sind, dem drohenden Unheil
aus dem Norden zu widerstehen.«
Demris Gon hob die Augenbrauen. »So, sind sie das?
Welch größeres Unheil könnte mir noch widerfahren, als mir bereits
zuteilwurde.« Er seufzte laut. »Manchmal entsetzt mich selbst das
Maß an innerer Gleichgültigkeit, das die Nähe des Todes
erzeugt.«
»Mit Verlaub, angesichts der großen Bedrohung, die
ganz
Ost-Erdenrund heimsucht, werden wir uns keine Gleichgültigkeit
erlauben können«, ergriff Thondaril das Wort. Er benutzte dabei den
Sprechstein der Basilisken, und dessen Gewisper erstaunte offenbar
sowohl den Jüngeren als auch den Älteren Prinzen, auch wenn sie
sonst vieles trennen mochte.
»Aarad hat mich ausführlich über die Geschehnisse
informiert, die sich im Heiligen Reich zugetragen haben, und ich
bin erschüttert über die Zerstörung der Kathedrale von Toque«,
erklärte Demris Gon. »Dreimal ist meine Gemahlin mit meiner kranken
Tochter dorthin gepilgert in der Hoffnung auf Heilung. Erniedrigt
hat sich meine Königin, indem sie ein aschefarbenes Bettlergewand
trug und sich unter die Massen mischte, die dort um Wunder flehten.
Die hat es dort angeblich auch immer wieder gegeben. Warum ist
ausgerechnet uns so ein Wunder versagt geblieben? Ich verstehe es
nicht. Als hätte sich der Verborgene Gott von uns abgewandt!«
»Kaiser Corach hat sich nach Arabur in Laramont
zurückgezogen«, mischte sich nun der Jüngere Prinz ein.
»Es soll dort ein Bündnis aller Mächte geschmiedet
werden«, erklärte Thondaril. »Der neu eingesetzte Herrscher des
Basilisken-Reichs ist auf unserer Seite, und auch die Könige von
Melagosien, Westreich und Mitulien haben ihre Gesandten
geschickt.«
»Man hört aber auch, dass sie alle zögern, sich
diesem Bündnis anzuschließen«, fuhr der Jüngere Prinz fort. »Könnt
Ihr mir den Grund dafür nennen, wenn doch die Gefahr so groß ist,
wie Ihr sagt?«
»Es ist die Furcht«, antwortete Thondaril. »Und
vielleicht die vage Hoffnung auf ein gnädiges Schicksal, wenn man
sich dem Feind unterwirft. Aber diese Hoffnung ist trügerisch.
Wenn sich Morygors Reich erst von Hemisphäre zu Hemisphäre
erstreckt und der Schattenbringer das wärmende Licht der Sonne
vollends raubt, wird die Welt zu einem Ort, an dem unsereins nicht
mehr existieren kann. Nur wenn wir gemeinsam handeln, besteht noch
die Aussicht, das Unheil abzuwenden. Wir brauchen die Hilfe
Gryphlands so dringend wie auch jene der Caladran. Alte
Feindschaften werden wir schlichtweg vergessen müssen, oder wir
werden alle untergehen und zu untoten Sklaven in einem Reich kalter
Totenschatten werden.«
Der Ältere Prinz wollte das Wort ergreifen, doch
König Demris Gon gebot ihm mit erhobener Hand zu schweigen, was
dieser zwar hinnahm, aber seine Verärgerung darüber und die
Eifersucht auf seinen Bruder, der vor ihm hatte sprechen dürfen,
konnte er nicht verbergen. Seinem Bruder war die Gelegenheit
gegeben worden, sich zu äußern, ihm nicht. Das ärgerte ihn
zutiefst. Offenbar versuchte jeder der beiden Prinzen ständig unter
Beweis zu stellen, besser für die königliche Nachfolge geeignet zu
sein als der andere.
»Ich werde meinen jüngeren Sohn als Gesandten nach
Arabur schicken und dann erwägen, dem Bündnis beizutreten«,
entschied der König. »Dass ich mir als Gryphländer ein Bündnis mit
den Caladran kaum vorzustellen vermag, ist eine andere Sache. Aber
vielleicht habt Ihr recht, und es ist an der Zeit, alte
Feindschaften zu begraben.«
»Heißt das, Ihr gestattet uns auch die Reise nach
Felsenburg?«, hakte Thondaril sofort nach.
»Ihr seid ein berühmter Mann, und Aarad hat mir
geschildert, wie außerordentlich Eure Bedeutung im Moment für den
Orden ist, also sei Euch Eure Forschheit verziehen«, gab Demris Gon
zurück. »Ich werde darüber nachdenken und zu gegebener Zeit
entscheiden.«
»Aber …«
»So lautet mein Wort, und das ist in diesem Land
Gesetz«, erklärte Demris Gon, dann glitt sein Blick ins Nichts, und
seine Gedanken schienen in abgelegene Sphären andauernder
Verzweiflung und vorweggenommener Trauer abzudriften.
»Dem Herzen dieses Mannes ist es gleichgültig
geworden, ob alles zugrunde geht«, erreichte Gorian ein Gedanke
von Sheera. »Wer weiß, vielleicht wünscht er es sich sogar
insgeheim, weil er glaubt, dass dann seine eigene Qual ein Ende
hätte.«
Gorian hatte den gleichen Eindruck, aber es von
einer angehenden Heilerin bestätigt zu bekommen, der man die
Fähigkeit nachsagte, tiefer als die Angehörigen anderer
Ordenshäuser in die Seelen von Menschen blicken zu können, war
ernüchternd.
Und wieder spürte Gorian für einen kurzen Moment
die Anwesenheit von sehr dunkler Magie. Da war ein Gedanke, der so
bösartig und gleichzeitig so fremd war, dass man ihn unmöglich in
menschliche Sprache übertragen konnte. Er hatte etwas von einem
höhnischen, vor Zynismus triefenden Gelächter und der dunklen
Freude eines Folterers an seinem Handwerk.
Doch schon einen Lidschlag später war nichts mehr
davon zu spüren, so als hätte sich derjenige oder dieses Etwas, von
dem der Gedanke stammte, abgeschirmt.
Ein Ruck ging durch den Körper des Königs, als
hätte auch er diese dunkle Wesenheit bemerkt. Suchend blickte er im
Raum umher. »Manchmal glaube ich schon, die Schatten des Todes zu
sehen, wie sie diesen Palast durchstreifen, wie sie sich an die
Öllampen hängen, mich verlachen und sich an meiner Furcht weiden…«
Auf einmal fixierte sein Blick Gorian, auf eine Weise, die diesem
sehr unangenehm war.
»Gorian … Der Ordensgesandte Aarad hat mir viel über dich erzählt.
Darüber, dass du ein besonderes magisches Talent hättest, und auch
davon, dass du derjenige bist, der Morygors Schicksalslinie kreuzen
könnte …«
Gorian nickte und erwiderte den Blick des Königs.
Er versuchte dabei möglichst furchtlos zu wirken, was aber nicht
der Wirklichkeit entsprach. Thondaril und Aarad hatten schließlich
sehr deutlich gemacht, wie viel vom Wohlwollen dieses Mannes
abhing.
»Was ist das für ein besonderes Schwert, das du da
über deinem Rücken trägst?«, fragte der König.
Gorian missfiel es, dass Aarad den Herrscher des
Greifenreiter-Reichs offenbar so genau über ihn unterrichtet hatte.
Anscheinend hatte Thondaril den Ordensgesandten in Gryphenklau viel
weitreichender ins Vertrauen gezogen, als Gorian bisher angenommen
hatte, und auch das wollte ihm nicht behagen. Der zweifache
Ordensmeister musste schon sehr gute Gründe haben, Aarad dermaßen
zu vertrauen.
»Zeig mir die Klinge!«, forderte Demris Gon. »Leg
sie in meine Hände!« Er stand auf, schritt die Stufen des Podests,
auf dem sein Thron stand, hinab und ging auf Gorian zu. Das
Flackern in seinen Augen verriet plötzlich eine geradezu
unheimliche Gier.
Gorian zog Sternenklinge aus der Rückenscheide und
legte das Schwert in die ausgestreckten Hände des gryphländischen
Königs.
»Mit dieser Waffe willst du also Morygor
besiegen?«
»Mein Vater hat sie geschmiedet«, erklärte Gorian
und benutzte dabei demonstrativ die Sprache Gryphlands.
Die beiden Prinzen wechselten einen erstaunten
Blick, und auch König Demris Gon sah Gorian verwundert an und
murmelte: »Normalerweise erwartet selbst ein Heiligreicher
niederen Standes, dass ein jeder seine Sprache spricht.«
»Ich pflege keinen derartigen Hochmut«, erklärte
Gorian.
»Das ehrt dich, doch fürchte ich, du gehörst damit
in deinem Land einer Minderheit an.«
»Das mag sein.«
»Die meisten sehen im Gryphländischen nur den
vulgären Bastard der erhabenen heiligreichischen Sprache und
verkennen dabei, dass diese ebenso kultiviert ist wie ihre
Mutter.«
»Als jemand, der Eure Sprache erst vor kurzem
lernte, kann ich dies nur bestätigen, Majestät«, gab Gorian
zurück.
Der König drehte sich um, immer noch Sternenklinge
in den Händen. Gorian hatte den Eindruck, dass ihn die
Unterhaltung, die er mit ihm geführt hatte, gar nicht weiter
interessierte, weil ihn die Klinge in ihren Bann gezogen hatte, aus
welchem Grund auch immer.
»Mit Verlaub, gebt mir bitte das Schwert zurück«,
bat er. »Ich habe es in einem harten Kampf zurückgewinnen müssen,
und bei aller zu Gebote stehenden Höflichkeit …«
Der König wirbelte herum, hielt das Schwert auf
einmal in der Rechten und richtete dessen Spitze gegen Gorian. Das
Gesicht des gryphländischen Herrschers hatte sich auf eine
schreckliche, groteske Weise verändert. Seine Züge wirkten
verzerrt, und blanker Wahn glitzerte in seinen Augen.
»Du wirst dieses Schwert nie wieder in Händen
halten, Gorian aus Twixlum!«, fauchte er.
Woher kannte er den Namen des Dorfes, in dessen
Nähe sich der Hof von Gorians Vater befunden hatte? Dass Aarad ihm
auch diese Einzelheit mitgeteilt hatte, war unwahrscheinlich, denn
sie hatte keinerlei Bedeutung.
Im nächsten Moment holte Demris Gon zum Schlag
gegen Gorian aus. Dieser reagierte blitzschnell. Er hob die Hand,
sammelte innerhalb eines Herzschlags seine magischen Kräfte, und
seine Augen wurden vollkommen schwarz. Den Schwerthieb lenkte er
mit seiner Magie zur Seite hin ab, ließ den Herrscher zurücktaumeln
und entriss ihm mithilfe der Alten Kraft die Waffe.
Aus der Klinge zuckten Blitze, während das Schwert
durch die Luft flog, sich dabei zweimal um den Schwerpunkt drehte
und dann mit dem Griff in Gorians ausgestreckter Hand
landete.
Da geschah etwas, das noch merkwürdiger, noch
erschreckender war: Die Arme des Königs verlängerten sich,
streckten sich um das Vier- bis Fünffache, und seine Hände bildeten
messerlange Krallen aus, während er sich wie ein wildes Tier auf
Gorian stürzte.
Thondaril schritt ein, ließ Strahlen aus blauweißem
Licht aus seinen Fingerspitzen schießen, die den König erfassten
und ihn zurückwarfen.
»Vater!«, rief der Jüngere Prinz fassungslos.
Der König atmete schwer. Noch immer leuchtete der
pure Wahnsinn in seinen Augen.
Thondaril machte einen Schritt nach vorn, murmelte
einige Worte in alt-nemorischer Sprache und richtete seine Hände
erneut gegen König Demris Gon. Die beiden Prinzen ließen es
geschehen. Der Ältere hatte zwar die Hand am Schwertgriff, ließ die
Waffe aber stecken.
Als der König auch Thondaril angreifen wollte,
schleuderte dieser erneut Strahlen gegen ihn. Aber diesmal war es
Schwarzlicht, das Demris Gon erfasste. Die magische Formel, die
Thondaril gleichzeitig rief, dröhnte durch den Raum. Der König
schrie auf.
Dann sank er in sich zusammen, während ein
schwarzer Schatten zur Höhlendecke emporschwebte und dort
verschwand. Die körperlichen Veränderungen, die mit Demris Gon vor
sich gegangen waren, bildeten sich zurück, und auch der wahnhafte
Ausdruck in seinem Gesicht verschwand.
»Was habt Ihr getan?«, rief der Ältere Prinz.
»Der Dämon, von dem Euer Vater und König besessen
war, ist fort«, sagte Thondaril. »Er ist jetzt wieder er selbst.
Doch damit ich verhindern kann, dass der Dämon zurückkehrt, müsst
Ihr mir die volle Wahrheit sagen, vor allem all das, was Ihr bisher
verschwiegen habt. Es wird ohnehin ans Tageslicht kommen, doch mit
jedem Moment, den Ihr zögert, wird die Gefahr für Euch, für Euren
Vater und für Euer Land größer.«
Der Sprechstein, den Meister Thondaril an einem
Lederband vor der Brust trug, übersetzte wispernd seine
Worte.
Die beiden Prinzen wechselten einen Hilfe suchenden
Blick.
»Sagt es ihm!«, ächzte der König, der auf den
Stufen des Thronpodests lag. »Die Fremden sind wahrhaftig auf
unserer Seite …« Er atmete noch immer schwer, rang nach Luft und
schien sehr schwach, nachdem der Schatten aus seinem Körper
gefahren war.
Aarad kümmerte sich sofort um ihn. Er legte ihm die
Hand auf die Stirn und sprach eine Heilerformel, die kurzfristig
für eine gewisse Kräftigung sorgen sollte, dann halfen er und der
Jüngere Prinz dem Herrscher zu seinem Thron, in dem er sich
seufzend niederließ.
Der Ältere Prinz wandte sich an Gorian. »Das
Schwert, das du trägst, und die Zwillingsklinge, die dein Gefährte
führt«, er deutete auf Torbas, »scheinen wirklich ganz besondere
Waffen zu sein und wecken die Gier von Mächten, die niemand von
uns versteht und von denen auch niemand hierzulande je gehört hat
…«
»Was ist geschehen?«, fragte Gorian, und dass er
sich dabei des Gryphländischen bediente und nicht der in diesem
Land als hochmütig empfundenen Sprache des Heiligen Reichs, trug
dazu bei, dass der Ältere Prinz Vertrauen zu ihm fasste.
»Ein Fremder in dunkler Kutte, unter dessen Kapuze
nichts als ein Schatten aus absoluter Schwärze zu sehen war, befand
sich plötzlich im Raum, als unser Vater mit uns die Frage
erörterte, ob wir euch die Reise nach Felsenburg erlauben sollen
oder nicht. Niemand wusste, wie er in den Palast gekommen war,
keine der Wachen hatte ihn gesehen, wie sich später herausstellte.
Er sagte, er sei ein Totenalb – ausgesandt, beschworen, um Leben zu
nehmen.«
»Dann berührte er mich an der Schulter«, ergriff
der König selbst das Wort, »und drang in mich ein, um dich zu
töten, Gorian.«
»Dahinter steckt Morygor«, murmelte Thondaril. »Er
hat den Totenalb geschickt. Mag der Henker wissen, mit welchen
Versprechungen und durch welche Magie er ihn auf seine Seite
gezogen hat. Allgemein gelten Totenalben als unbestechlich.«
»Es hat solche Kreaturen in diesem Land bisher
nicht gegeben«, sagte der Jüngere Prinz.
Thondaril wandte ihm den Blick zu. »Es gibt nur
noch wenige von ihnen, und sie zogen es in den letzten Zeitaltern
vor, im Verborgenen zu wirken. Sie vereinnahmen die Seelen von
Toten, um deren Kraft in sich aufzunehmen, und sehr selten nehmen
sie auch von Lebenden Besitz, wenn sie sich irgendeinen Vorteil
davon versprechen.«
»Dann muss ich Euch wohl sehr dankbar dafür sein,
dass Ihr mich vom Einfluss dieses Wesens befreit habt«, gestand
Demris Gon zu. Er öffnete den Kragen seines Hemdes, um besser atmen
zu können. Sein bleiches Gesicht gewann wieder etwas Farbe.
»Der Letzte, der sich bekannterweise den Totenalben
entgegenstellte, war unser legendärer Ordensgründer, der Erste
Meister«, erklärte Thondaril. »Seine Ratschläge für den Kampf gegen
Totenalben zählen zu den am wenigsten bekannten Axiomen des
Ordens.«
»Er verbannte die meisten von ihnen durch einen
mächtigen Zauber in das Zwischenreich der Halbexistenz«, warf
Gorian ein, der sich sehr wohl an diese Axiome und die
dazugehörigen Geschichten und Legenden erinnerte. Allerdings hatte
er damals, als er die entsprechenden Zeilen in den Büchern seines
Vaters gelesen hatte, nicht viel damit anfangen können, und niemals
wäre es ihm in den Sinn gekommen, selbst einmal einem solchen
Totenalb zu begegnen. »Morygor könnte sie ebenso wie die
Frostgötter und die Leviathane durch das Weltentor zurückgeholt und
ihnen dafür Dienste abverlangt haben.«
»So wird es sein«, stimmte Thondaril zu.
»Vater, sagt ihnen die ganze Wahrheit«, verlangte
der Ältere Prinz. »Unser Schweigen kann nun niemandem mehr helfen,
auch unserer Schwester nicht.«
Demris Gon hob den Kopf, blickte zuerst seinen
älteren Sohn an, dann den jüngeren und schließlich Gorian. »Man
versprach mir, dass meine Tochter durch die Kraft des Totenalbs
wieder völlig gesunden würde. Falls ich mich ihm aber verweigern
sollte, würde er sich an ihrer Seele laben und an ihrer Todesangst,
denn sie sei dem Reich der Schatten bereits näher als den Gefilden
der Lebenden. Ich war zu
schwach, mich dagegen aufzulehnen, und habe zugelassen, dass der
Totenalb von mir Besitz ergriff. Ich erwarte nicht, dass du mir
dies verzeihst, Gorian.«
»Ich trage Euch nichts nach«, versicherte
dieser.
»Ich habe versucht, dich zu töten!«
»Ihr wart unter fremdem Einfluss.«
»Ich habe mich ihm unterworfen!«
»Und nur deshalb lebt Ihr noch, mein König. Nach
allem, was der Erste Meister über die Totenalben niederschrieb,
brauchen sie das Einverständnis dessen, von dem sie Besitz
ergreifen, und dieses Einverständnis erpressen sie auf perfide
Weise, so wie auch in Eurem Fall.«
»Mein Schüler kennt die Axiome offenbar besser als
mancher Meister«, mischte sich Thondaril ein. »Hättet Ihr geistigen
Widerstand geleistet, Demris Gon, wärt Ihr jetzt vermutlich tot,
und Eure Seele hätte dieser Kreatur zur Kräftigung gedient.«
»Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Die
Gryphländer haben kein besonderes Talent zur Magie, das enthielt
uns der Verborgene Gott offenbar vor, aus einem Grund, den er
ebenso vor uns verborgen hält wie sein Antlitz.«
Gorian trat einen Schritt vor, obwohl ihm sowohl
der Blick als auch ein intensiver Gedanke seines Meisters dringend
davon abriet.
»Nicht!«
Es kam nur selten vor, dass Gorian einen Gedanken
Thondarils empfing, so wie es bei Sheera recht häufig der Fall war.
Der Meister in den Ordenshäusern von Schwert und Magie hielt seinen
Geist verschlossen, und Gorian war sich sehr wohl bewusst, dass er
einige Dinge vor ihm geheim hielt.
Trotz der Ermahnung des zweifachen Ordensmeisters
trat
Gorian noch einen Schritt nach vorn und folgte damit seinem
Gefühl. Ebenso, als er sagte: »Dass Ihr gegenüber dem Totenalb
schwach wart, ist verzeihlich, und niemand von uns kann behaupten,
er würde in einer vergleichbaren Situation mehr Stärke beweisen.
Jetzt aber solltet Ihr Stärke zeigen. Eine Stärke, die sich durch
eine rasche Entscheidung kundtut. Erlaubt uns die Reise nach
Felsenburg, und gebt uns ein Schreiben mit dem königlichen Siegel
mit, das uns alle Türen öffnet, hinter die wir sehen wollen. Ihr
würdet damit Euren Beitrag im Kampf gegen Morygor leisten, einen
Beitrag, der vielleicht wichtiger ist als alles, was derzeit in
Arabur verhandelt wird.«
Der König runzelte die Stirn. »Ich werde …«
Weiter kam er nicht.
Denn in diesem Augenblick stürzte eine Frau mit
schlohweißem Haar in den Saal. Keine der Wachen hielt sie auf. Ihr
fließendes Gewand war gewiss aus einem der sehr edlen und teuren
Stoffe, die mit den Schiffen der Margoreaner angeliefert wurden,
und zudem trug sie ein goldenes Amulett mit dem königlichen
Greifenwappen.
»Unsere Tochter!«, rief sie schluchzend. »Sie liegt
im Sterben! Schnell! Es muss etwas geschehen!«