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Eine Schlacht zwischen Feuer und Eis
»Seit Menschengedenken war der Himmel nicht so
grau und wolkenverhangen wie heute«, sagte Oras Ban, der Königliche
Verwalter von Felsenburg, während er über die Zinnen des Westturms
blickte.
Thondaril und die drei Ordensschüler standen bei
ihm. Gorian war nicht klar, welche Rolle der Meister des Schwertes
und der Magie seinen drei Schülern bei dieser Zusammenkunft
zugedacht hatte. Erwartete er allen Ernstes, dass sie einen Beitrag
dazu leisten konnten, den Königlichen Verwalter von der
Notwendigkeit ihrer Mission zu überzeugen? Oder ging es ihm darum,
insbesondere Torbas und Gorian noch einmal vorzuführen, in welche
prekäre Lage sie alle durch ihren nächtlichen Alleingang geraten
waren.
Schneeflocken fielen aus den grauen Wolken, und aus
Nordosten wehte ein eisiger Wind. In den nahen Bergen südwestlich
von Felsenburg aber breitete sich das Netzwerk von rötlich
schimmernden pulsierenden Adern immer weiter aus und bedeckte
bereits einen ganzen Landstrich. Wie eine Flechte eroberte es
langsam Berg für Berg, und das dumpfe, dröhnende Stampfen aus der
Tiefe war auch in Felsenburg nicht mehr zu überhören.
»Der alte Fluch kämpft sich an die Oberfläche und
schüttelt den Bann König Song Mols ab«, murmelte Oras Ban.
»Und gleichzeitig rückt ein noch viel furchtbarerer
Feind aus Nordosten auf Felsenburg zu«, ergänzte Thondaril. »Ihr
solltet die Stadt räumen lassen.«
»Wir haben nicht genug Greifen hier auf Felsenburg,
um die Flucht aller zu ermöglichen«, hielt Oras Ban dagegen.
»Ich habe bereits über Handlichtlesen Verbindung
mit Meister Aarad in Gryphenklau aufgenommen, der sich an den König
wenden wird, um für entsprechende Abhilfe zu sorgen.«
Oras Ban runzelte unwillig die Stirn. »Ohne dies
mit mir abzusprechen?«
»Dazu war keine Zeit«, verteidigte sich Thondaril.
»Bald wird hier eine Schlacht toben, wie Ihr noch von keiner gehört
habt. Die Horden Morygors sind an den Städten Mituliens
vorbeigezogen, ohne sie überhaupt zu beachten. Nun nähern sie sich
aus Nordosten. Der Eiswind, der so vollkommen untypisch für dieses
Land ist, kündet von ihrem Kommen.«
Oras Ban stieß schnaubend den Atem aus, der dicht
vor Mund und Nase gefror und eine graue Wolke bildete. »Euer
Handeln war voreilig«, hielt er Thondaril vor. »Gegenüber magischen
Bedrohungen sind wir keineswegs so wehrlos, wie Ihr zu denken
scheint.«
»Ihr rechnet damit, dass die Magie des Namenlosen
Renegaten Euch helfen wird?«, fragte der zweifache
Ordensmeister.
Oras Ban verzog keine Miene. »Ihr habt also
erkannt, wer der Bibliothekar ist. Dann wisst Ihr auch, weshalb ich
ihm nicht einfach befehlen kann wie einem gewöhnlichen Lakaien. Es
wäre nicht möglich gewesen, die Schriften der Caladran so lange zu
schützen ohne seine magische Hilfe.«
Seine pergamentartige Haut schien noch dünner als
zuvor. Bläuliche Adern pulsierten darunter, und deutlich waren
die Knochen seines Gesichts zu sehen, das Gorian an einen
Totenschädel erinnerte. Und doch verriet keine seiner Bewegungen
irgendwelche Anzeichen des Alters. Dieser Widerspruch war Gorian
schon am Anfang aufgefallen. Oras Ban war kein Caladran, dazu
fehlten ihm nicht nur die spitzen Ohren, aber seine Ähnlichkeit mit
dem alterslosen Namenlosen Renegaten war augenfällig.
»Du denkst an die bläuliche Substanz, von der er
sich offenbar ernährt«, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras.
»Es handelt sich dabei um eine fremdartige Heilmagie. Ich kann
sie überall spüren, aber sie ist mir vollkommen
unbekannt.«
»Caladran-Magie?«
»Wer weiß.«
Hielt diese Heilmagie Oras Ban am Leben? Aber das
konnte seine Tatenlosigkeit nicht erklären. Es musste einen anderen
Grund geben, der ihn so gleichgültig gegenüber der nahenden Gefahr
machte.
»Es steht Euch jederzeit frei, Felsenburg zu
verlassen und zu den Inseln der Caladran aufzubrechen, so wie es
Eurem ursprünglichen Plan entspricht«, sagte er zu Thondaril. »An
Eurer Stelle würde ich die Zeit dazu nutzen, solange es noch
möglich ist. Ich hingegen vertraue auf den magischen Schutz des
Namenlosen Renegaten. Kein Caladran hat es je geschafft, die
Schriften seines Volkes von hier zu stehlen – und glaubt nicht, es
hätte keine entsprechenden Versuche gegeben.«
»Die Horden Morygors sind etwas anderes«, erwiderte
Thondaril. »Ihr braucht nur hinauf in den Himmel zu blicken, zum
Schattenbringer, der die Sonne immer mehr verdeckt, um mit eigenen
Augen zu erkennen, dass Morygors Macht mit nichts vergleichbar ist.
Ihr seid verloren, wenn Ihr hierbleibt, Oras Ban.«
»Ja, vielleicht«, murmelte der Königliche
Verwalter. »Aber
wenn Ihr nicht aufpasst, dann seid Ihr und Eure Begleiter es
vielleicht auch.«
Den Tag über geschah nicht viel, außer dass man
von den Zinnen der Burg aus beobachten konnte, wie sich das
Glutnetz der Feuerdämonen immer weiter ausbreitete. Gorian sah es
mit Sorge. Thondaril versuchte immer wieder, zum Bibliothekar
vorgelassen zu werden, aber der hatte den Zugang zu den Gewölben,
in denen die gestohlenen Schriften untergebracht wurden, auf eine
Weise verschlossen, dass man nicht einmal mehr mit den Mitteln
herkömmlicher Magie dorthin vordringen konnte. Selbst die
Anwesenheit des Namenlosen Renegaten war nicht mehr zu erspüren,
seine Kraft schien nicht mehr vorhanden.
Die Wachen des Königlichen Verwalters von
Felsenburg glaubten sogar, der Zugang zur Bibliothek sei
zugemauert. Sie waren der festen Überzeugung, massives Mauerwerk
vor sich zu sehen. Nur bei Thondaril, Gorian, Torbas und Sheera
wirkte diese einfache Illusionsmagie nicht, sie erkannten die fest
verschlossenen Türen, die ihnen den Zutritt zur Bibliothek
verwehrten.
Die Tür im Bankettraum vermochte Thondaril mithilfe
seiner Magie schließlich zu öffnen, nicht aber die zweite Tür, die
den eigentlichen und offenbar einzigen Zugang zum
Bibliotheksgewölbe darstellte.
Der Diener, der die Gefährten das erste Mal
herabgeführt hatte, war verschwunden und ließ sich nicht
auftreiben. Gleiches galt für die maskierte Wache des
Bibliothekars, und auch Oras Ban wollte dem Meister des Schwertes
und der Magie weder weiterhelfen noch sich überhaupt erklärend dazu
äußern.
Thondaril war außer sich. Vor der Möglichkeit, die
Tür
mittels Magie gewaltsam zu öffnen, schreckte er aber noch zurück,
denn er wollte sich den uralten Caladran nicht zum Feind
machen.
»Vielleicht ist es tatsächlich das Beste, einfach
die Greifengondel zu besteigen und ohne diese verfluchten Schriften
zu den Inseln der Caladran zu fliegen«, äußerte Torbas
zwischenzeitlich, als sie an den Burgzinnen standen und mit
wachsender Besorgnis in Richtung der Berge sahen. Feuerrote
vielbeinige Gestalten liefen dort über die Anhöhen, kletterten die
steilsten Hänge empor. Sie quollen in immer größerer Zahl aus dem
Gestein hervor, bildeten sich aus dem roten, pulsierenden
Adernetzwerk, das inzwischen die Berge durchzog, so weit das Auge
reichte.
Das herzschlagartige Stampfen war so durchdringend
geworden, dass es selbst Felsenburg erzittern ließ, und die ersten
rot glühenden Feueradern tasteten sich bereits in die schwarze
Steinwüste hinein, die sich an das Gebirge anschloss. Vor langer
Zeit hatte das Wüten der Feuerdämonen diese Landschaft auf alle
Zeiten geprägt, nun sah es so aus, als würde dies ein zweites Mal
geschehen.
Plötzlich schossen Flammen aus dem Boden, bildeten
riesenhafte Gestalten, größer als jeder Wachturm einer
heiligreichischen Burg. Arme aus purem Feuer hoben sich zischend
zum Himmel, und in lodernden Köpfen blinzelten Augen aus
schwärzester Finsternis, um gleich darauf wieder von den Flammen
verdeckt zu werden.
In stetiger Veränderung waren diese Gestalten
begriffen. Hin und wieder bildeten sie zusätzliche Arme und Beine
aus und auch gewaltige Feuerschwänze, die sich wie Peitschen um
kleinere Felsmassive legten und das Gestein zerschmolzen.
»Riecht ihr das?«, fragte Torbas und verzog das
Gesicht.
»Schwefel«, murmelte Sheera.
»Als wir dort drüben waren, war das Dämonenfeuer
noch kalt wie Eis«, erinnerte sich Gorian. »Das hat sich offenbar
geändert.«
Die Wolkendecke über den Bergen und Felsenburg
wurde immer dichter und dunkler. Obwohl es mitten am Tag war,
konnte man meinen, die Dämmerung hätte längst eingesetzt. Von der
Sonne war nicht einmal ein schwacher Lichtfleck zu sehen, der
Schattenbringer jedoch seltsamerweise umso deutlicher, beinahe so,
als würde er nicht nur die Sonne verdecken, sondern seinerseits
auch magisches Schwarzlicht ausstrahlen.
Der Schneefall und der eiskalte Wind wurden
heftiger. Zischend schmolz der Schnee, wo er in den Bergen den
Boden berührte. Kleine Wolken aus Wasserdampf stiegen auf, aber
hier und dort erhob sich auch schwarzer Rauch, der vom Wind durch
die Berge getrieben wurde. Das Dämonenfeuer, das inzwischen nicht
mehr kalt war, verbrannte die wenigen Sträucher und Bäume, die sich
in den Bergen halten konnten, und dann schmolz auch in sich immer
mehr ausbreitenden Bereichen das Gestein. Ganze Berghänge gerieten
in Bewegung, sackten glutflüssig ab, erstarrten dann für eine
Weile, um erneut aufgeschmolzen zu werden.
Flammensäulen schossen immer höher empor, und die
riesenhaften Feuergestalten, die sich dabei bildeten, behielten für
immer längere Zeit ihre Form.
Einer von ihnen verließ mit weiten Schritten die
Berge. Es zischte jedes Mal, wenn seine feurigen Füße den Boden
berührten. Er schritt über die schwarze, inzwischen ebenfalls an
einigen Stellen aufgeschmolzene Ebene, die sich zwischen den ersten
Ausläufern des Gebirges und dem Massiv, in das Felsenburg
hineingehauen worden war, befand.
Die panischen Rufe der Wachen gellten durch das
kalte Schneegestöber. Aber noch bevor das gigantische Feuerwesen
die Hälfte der Strecke bis nach Felsenburg zurückgelegt hatte, fiel
seine Gestalt in sich zusammen. Die Flammen breiteten sich auf dem
Boden aus, verloschen schließlich, und das Einzige, was
zurückblieb, waren weitere rote Adern im Gestein.
Thondaril empfing eine Nachricht übers
Handlichtlesen. Angestrengt blickte der Meister der Magie und des
Schwertes in seine leuchtenden Handflächen, dann sah er wieder
auf.
»Das war Aarad«, erklärte er finster. »Es ist für
die Greifenreiter derzeit unmöglich, den mittelgryphländischen
Bergrücken zu überfliegen. Die Bewohner der wenigen verstreuten
Einzelresidenz-Burgen haben diese fluchtartig verlassen, in dem
Versuch, sich zu retten. Alles steht in Flammen, überall schießen
Feuersäulen so hoch aus dem Boden, dass man das Gebiet nicht
überfliegen kann.«
»Das bedeutet, Felsenburg erhält keine Hilfe«,
stellte Sheera fest.
Meister Thondaril nickte. Dann ging er wortlos
davon.
»Wohin wollt Ihr, Meister?«, fragte Gorian.
Aber er erhielt keine Antwort.
Ein Händler, der am Vortag mit einer königlichen
Sondererlaubnis in Felsenburg eingeflogen war, brach am Nachmittag
mit seiner Greifengondel zum Rückflug auf. Er wollte sich nicht
länger auf die Versicherungen Oras Bans verlassen, dass für
Felsenburg keine Gefahr bestünde.
Gorian beobachtete vom Hauptturm aus, wie die
Gondel parallel zu den Bergen Richtung Melagosien und Eldosen flog.
Offenbar wollte der Händler den in Flammen stehenden
mittelgryphländischen Bergrücken weiträumig umfliegen, auch wenn
dies einen sehr großen Umweg bedeutete.
Die Rufe des Greifen schallten über die
Ebene.
»Greifen spüren die Gefahr«, sagte Centros Bal, der
sich ebenfalls auf den Hauptturm begeben hatte, um den Flug seines
Gildengenossen zu beobachten. Vielleicht hatte er auch gehofft,
Meister Thondaril anzutreffen, doch der war verschwunden. »Ich bin
der Meinung, dass wir Felsenburg so schnell wie möglich verlassen
sollten.«
»Überzeugt Thondaril davon«, schlug ihm Torbas
vor.
»Ich hatte gehofft, dass ihr ihn vielleicht in
diese Richtung beeinflussen könntet. Hier brauen sich Dinge
zusammen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Ich habe mich
umgehört. Dass mit Oras Ban etwas nicht stimmt, erzählt man sich
seit langem, und das hat nicht nur mit seinem ungewöhnlich hohen
Alter zu tun.«
»Er erfreut sich dank der Heilmagie der Caladran
einer ungewöhnlich guten Gesundheit«, stellte Sheera fest.
Centros Bal war im ersten Moment überrascht, dann
nickte er Sheera anerkennend zu. »Was du da sagst, deckt sich mit
dem, was man mir hinter vorgehaltener Hand anvertraute.«
»Was habt Ihr noch erfahren?«, fragte Gorian.
»Dass die Magie, die Oras Ban am Leben erhält, an
diesen Ort gebunden ist. Verlässt er Felsenburg, nützt ihm auch der
magische Trunk nichts mehr, von dem er sich vorzugsweise zu
ernähren scheint.«
»Das würde erklären, warum er Felsenburg nicht
aufgeben will«, murmelte Gorian.
»Und angeblich ist dies nicht nur bei Oras Ban der
Fall«, fuhr Centros Bal fort, »sondern bei den meisten, die hier
leben. Sie alle sind dem Tode geweiht, wenn sie diesen Ort
verlassen.« Er streckte die Hand aus und deutete zu der sich
entfernenden Greifengondel. »Die wenigen, auf die das nicht
zutrifft, nutzen gerade die letzte Möglichkeit, die Stadt zu
verlassen, bevor hier alles der Zerstörung anheimfällt.«
In diesem Moment schoss eine besonders hohe
Flammensäule aus einer der Bergspalten, die noch vor kurzem die
Wohnstätte der Fledermenschen gewesen waren. So hoch wie ein
Kathedralenturm ragte die Feuersäule empor und formte innerhalb
weniger Augenblicke ein halbes Dutzend Flammenarme. Dann lief die
Gestalt mit gewaltigen Schritten los, verließ die Berge und rannte
auf die Greifengondel des Händlers zu.
Der Greif schlug verzweifelt mit den großen
Schwingen, seine Rufe mischten sich mit denen des Feuerdämons,
dessen Gestalt mit jedem Schritt kleiner wurde. Feuer tropfte wie
geschmolzenes Gestein von seinen Armen und traf zischend auf den
Boden auf, wo kleine, schnell verlöschende Brände entstanden.
Der Greifenreiter änderte den Kurs in südöstliche
Richtung, aber das nützte ihm nichts mehr. Der Feuerdämon war zwar
inzwischen erheblich geschrumpft und hatte kaum noch die Hälfte
seiner ursprünglichen Größe, doch die reichte vollkommen, um mit
seinen Feuerpranken nach der Gondel greifen zu können. Zischend
wurde sie von den lodernden Flammen erfasst, die bald auch den
Greifen und seinen Reiter umhüllten. Brennend stürzten sie ab, der
Greif wand sich unter Schmerzen am Boden und schlug mit brennenden
Flügeln und Tatzen um sich. Von seinem Reiter war nichts mehr zu
sehen, aber es war ausgeschlossen, dass er noch lebte.
Der Kopf des Feuerdämons veränderte sich, formte
ein Maul, so groß wie ein Haus, wofür er den Rest seines
Flammenkörpers
weiter schrumpfen ließ. Ein Flammenstrahl schoss aus dem Maul
hervor und verbrannte alles, was noch von der Gondel geblieben war
und auch den Greifen zu Asche.
Dann erst schrumpfte der Feuerdämon vollständig
zusammen, wobei er in mehrere kleinere Flammenkörper zerfiel, die
unterschiedlich schnell verloschen.
»So viel zu Euren Plänen, Felsenburg verlassen zu
wollen, Centros Bal«, sagte Torbas. Gorian kannte ihn gut genug, um
zu wissen, dass sein beißender Spott in diesem Fall nur dazu
diente, seinen eigenen Schrecken zu verbergen.
In der Nacht kratzte es an der Tür der kleinen
Kammer, die man Gorian und Torbas zugewiesen hatte.
Die beiden Ordensschüler erwachten, und Gorian
rief: »Wer ist dort?«
Zur Antwort erhielt er ein Fauchen und einen
Gedanken.
»Erkennst du mich nicht mehr?«
Gorian schlug die Decke zur Seite, stieg von der
Pritsche und ging zur Tür, die er mit seinem Handlicht beleuchtete.
Dann schob er den Riegel zur Seite und öffnete sie.
Draußen im Korridor kauerte Ar-Don, dessen
steinerner Körper grünlich leuchtete.
»Offenbar zieht er deine Gesellschaft einer Nacht
in der Greifenhöhle vor«, lautete Torbas’ Kommentar, der ebenfalls
aufgestanden war und Gorian über die Schulter blickte. »Kann ich
zwar durchaus verstehen, dennoch hoffe ich, dass du nicht ernsthaft
daran denkst, dieses Biest bei uns übernachten zu lassen.«
Gorian aber tat, als hätte er seinen Kameraden
nicht mal gehört, und sagte zu dem Gargoyle: »Komm rein.«
Ar-Don huschte an Gorians Beinen vorbei in das enge
Quartier, das sich die beiden Ordensschüler teilten. Er kauerte
sich unter den einfachen Holztisch und verharrte dort vollkommen
regungslos, so als hätte er sich endgültig in eine starre
Steinskulptur verwandelt.
Am nächsten Morgen, als Gorian erwachte, war das
rätselhafte Wesen fort, obwohl die Tür noch immer von innen
verriegelt war. Da Ar-Don seine Körperform nahezu beliebig
verändern konnte, nahm Gorian an, dass er durch den schmalen Spalt
zwischen Tür und Boden nach draußen geschlüpft war. Vielleicht war
seine Magie aber auch viel stärker, als Gorian es bisher für
möglich gehalten hatte. Auf seinen fragenden Gedanken hin bekam er
jedenfalls keine Antwort.
Gorian weckte Torbas, und beide zogen sie alles an
Kleidung an, was sie in ihrem Gepäck vorfanden, denn eine
unmenschliche Kälte war in jeden Winkel von Felsenburg
gekrochen.
»Spürst du es?«, fragte Torbas, als Gorian seine
Waffen anlegte.
»Ja, es ist kalt.«
»Ich meine nicht den Temperatursturz, sondern
Morygors Aura. Das Frostreich nähert sich.«
Gorian hatte nicht darauf geachtet, denn seine
Gedanken hatten sich um Ar-Dons Verbleib gedreht. Doch als er sich
nun darauf konzentrierte, spürte auch er es.
»Seit den Tagen, da wir zum Speerstein von Orxanor
aufbrachen, ist nichts mehr, wie es war«, sagte Torbas
unvermittelt. Gorian wunderte sich, dass er ausgerechnet in diesem
Moment darauf zu sprechen kam. Vielleicht lag es daran, dass sie
beide wieder Morygors verderbliche Aura spürten, wenn auch längst
nicht so stark wie damals auf
ihrem Weg zum Speerstein. »Ich habe das noch niemandem gesagt,
aber …« Torbas brach ab.
»Was hat du noch niemandem gesagt?«, hakte Gorian
nach.
»Dass es mir so vorkommt, als wäre die Aura
Morygors seitdem die ganze Zeit über um uns. Es hat keinen Tag
gegeben, an dem ich sie nicht ganz leicht im Hintergrund gespürt
habe. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir uns seit unserem Weg
zum Speerstein alle verändert haben.«
»Morygor stellt uns auf die Probe«, sagte Gorian.
»Er tut alles, was in seiner Macht steht, um unsere Seelen zu
beherrschen, vergiss das nicht«
»Nein, das vergesse ich nicht«, murmelte Torbas.
»Wie könnte ich das auch? Schließlich hat sich selbst der
Hochmeister unseres Ordens als zu schwach erwiesen und sich dem
Einfluss des Bösen ergeben.«
»Uns wird das nicht passieren«, war Gorian
überzeugt.
»Bist du dir sicher?«
»Du nicht?«
»Inzwischen glaube ich, dass alles geschehen kann,
Gorian. Wirklich alles.«
In diesem Augenblick waren die Hörner der Wachen zu
hören. Sie bliesen Alarm.
Wenig später standen Gorian, Torbas, Sheera und
Thondaril an einer der Brustwehren. Im Burghof lag knietiefer
Schnee, und es gab nicht genug Burgwachen, ihn fortzuräumen. Die
Leuchtfeuer, die eigentlich in der Nacht die Fledermenschen
vertreiben sollten, waren verloschen, denn Hauben aus Schnee und
Eis bedeckten auch die Spitzen der schmalen Türme, die zuvor
riesigen Fackeln geähnelt hatten. Überall hingen Eiszapfen von den
Dachkanten der Gebäude, die verglasten
Fenster waren mit Eisblumen überzogen, und eine Schicht aus
Raureif hatte sich über die dicken Mauern gelegt.
Schnee und Eis bedeckten auch das Land Richtung
Nordosten bis zum Horizont hin, nur hier und dort ragte noch ein
schwarzes Stück Fels daraus hervor. Westlich von Felsenburg reichte
das verschneite und vereiste Gebiet jedoch kaum eine halbe Meile
weit. Das eisige Weißgrau endete abrupt an einer unsichtbaren
Grenze, so als wäre dort Morygors Macht jäh auf einen Einhalt
gebietenden Einfluss gestoßen. Gleiches galt für das Geflecht rot
leuchtender Adern, das die Berge durchzog und sich von dort aus
bereits ein Stück in die schwarze Steinebene zwischen Felsenburg
und dem mittelgryphländischen Bergrücken fortgesetzt hatte, dann
aber ebenso jäh endete.
Zwischen dem grauweißen Frost und dem rot glühenden
Geflecht flammender Erdadern befand sich ein Niemandsland von
mindestens zweihundert Schritten. Felsenburg gehörte dieser
offenkundig gewordenen Grenzziehung nach zu dem Bereich, den die
Mächte des Frostreichs für sich beanspruchten.
Auch der Himmel teilte sich genau über dem
Niemandsland zwischen Feuer und Eis: Über den Bergen war er klar
und hell, der kalte Dunst des Frostreichs hatte sich von dort
verzogen, und die sich am Tag zuvor noch auftürmenden Schneewolken
hatten sich aufgelöst. Die Sonne stand über den Bergen, wurde
jedoch vom Schattenbringer inzwischen weit über die Hälfte
verdeckt.
»Als ob sich der Kampf zwischen Feuer und Eis im
Himmel spiegelt«, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras.
»Und wir werden zwischen den Fronten
zermalmt«, befürchtete er.
»Und wenn die Feuerdämonen dem Frostreich
Einhalt gebieten?
Zumindest für eine Weile? Die Fledermenschen waren der Ansicht,
dass dies möglich ist.«
»Man müsste ihre Magie lenken können und
zielgerichteter wirken lassen«, ging es Gorian durch den Sinn,
wobei er Sheera ganz bewusst an diesem Gedanken teilhaben ließ, der
ihn schon zuvor beschäftigt hatte, ohne dass er sich bislang mit
jemandem darüber ausgetauscht hatte.
»Niemand kann diese Mächte beherrschen, Gorian.
Nicht einmal ein Magiemeister.«
»Song Mol konnte es. Mithilfe der
Caladran-Magie. Doch ich nehme an, dass der Namenlose Renegat diese
Magie damals anwandte, nicht Song Mol selbst, wie es in der Legende
heißt.«
»Unglücklicherweise will der Namenlose aber
nicht mehr mit uns sprechen.«
In diesem Moment ertönte im Burghof ein Hörnerchor.
Oras Ban war mit seinem Gefolge ins Freie getreten. Der Königliche
Verwalter hatte Harnisch und Waffen angelegt und trug einen Helm
mit prachtvollem Federbusch. Sein Gang war von jugendlicher
Leichtigkeit und stand im krassen Gegensatz zu seinem uralten
faltigen Gesicht.
»Hört mich an!«, rief er, und seine Stimme hallte
im Innenhof der Burg auf eine Weise wider, wie man es ansonsten nur
von den legendären Theater-Arenen von Rea erzählte, in denen
angeblich selbst das Rascheln eines Gewandes noch auf den letzten
Zuschauerrängen zu hören war. »Weder die Feuerdämonen noch das
Frostreich können uns etwas anhaben. Die Katapulte sind geladen,
die Schleudern bereit – und die Magie Song Mols wird Felsenburg
schützen!« Er zog sein Schwert und richtete die Spitze in den
Himmel. »Trank und Leben für jeden, der seinen Posten nicht
verlässt!«
Von den Wehrgängen antworteten ihm begeisterte
Rufe.
»Oras Ban teilt ihnen offenbar die
lebensverlängernden
Caladran-Tränke zu«, stellte Sheera angewidert fest. »Darauf
gründet seine Macht.«
»Tja, nicht gerade jemand mit den besten
Charakterzügen, mit dem wir da verbündet sind«, spottete Torbas.
»Aber wohin sollten die Wachen schon fliehen, wenn sie ihre Posten
verlassen.«
»Es zeigt, wie unsicher er sich seiner Sache ist«,
murmelte Meister Thondaril.
Oras Ban ließ sich von einem seiner Gefolgsleute
einen Becher mit dem blau schimmernden Gebräu reichen und trank ihn
in einem Zug leer. Daraufhin straffte sich die Haut seines
Gesichts, und seine Augen leuchteten auf eigentümliche Weise.
Auf einmal tauchte aus den Pflastersteinen, die den
Burginnenhof bedeckten, eine Gestalt hervor, durchdrang das Gestein
wie ein Geist eine Burgmauer.
Es war der Maskierte, der Gorian und seine
Gefährten zum Bibliothekar geführt hatte.
Oras Ban erschrak und ließ den Pokal fallen, der
scheppernd auf das Pflaster schlug. Dann aber sammelte er sich und
gebot mit lauter Stimme: »Es wird Zeit, dass dein Herr uns
hilft!«
Der Maskierte antwortete mit einer Gedankenstimme,
die Gorian – und offenbar auch alle anderen – mit fast
schmerzhafter Intensität erreichte. Dabei schienen ein Dutzend
verschiedener Sprachen gleichzeitig in seinem Kopf zu hallen, und
doch war jedes Wort klar und deutlich zu verstehen: »Es ist zu
viel. Die gestohlene Magie verliert ihre Wirkung, wenn sie zu
häufig angewendet wird. Ob Elixier oder Gift, es ist eine Frage der
Menge und des Maßes. Und das Maß, das du benötigst, kann nicht
allen zur Verfügung stehen.«
»Es ist genug da!«, widersprach Oras Ban. »Habt ihr
gehört?
Genug, um euch allen das Leben zu erhalten, und solltet ihr noch
so schwer verwundet werden!«
Der Maskierte antwortete nicht darauf. Er wandte
sich ab, ging gemessenen Schrittes über den Innenhof und erreichte
die dicke Schutzmauer, die für ihn allerdings kein Hindernis
darstellte. Er ging einfach hindurch, kam auf der anderen Seite
wieder hervor und schwebte hinab in den Abgrund.
Sanft landete er am Fuß des Felsmassivs und ging
gut zwanzig Schritt durch den Schnee zu einer ganz bestimmten
Stelle, die er genau zu kennen schien. Dort zog er sein Schwert,
dessen breite Klinge zu einer flackernden blauen Flamme wurde. Er
senkte die Feuerklinge und berührte damit den Boden, woraufhin sich
innerhalb eines Augenblicks ein Flammenkreis um das Felsmassiv
bildete, in das Felsenburg hineingeschlagen war.
Es war ein kaum sichtbares Feuer und so kalt, dass
es auch den Schnee in unmittelbarer Umgebung nicht schmolz.
Der Maskierte formulierte mit seiner Gedankenstimme
ein paar Worte in der Sprache der Caladran, dann machte er kehrt,
ging geradewegs auf die Felswand zu und verschwand darin, so als
bestünde sie nicht aus hartem Gestein, sondern wäre eine
Luftspiegelung ohne Substanz.
»Offenbar hält man sich die Feuerdämonen hier mit
Feuer vom Leib«, kommentierte Thondaril. »Man bekämpft Feuer mit
Feuer, ein Prinzip, das auch die Magie des Ordens kennt.«
»Vielleicht sind die Magie des Ordens und die der
Caladran gar nicht so verschieden, wie wir glauben«, äußerte
Gorian.
»O doch, Schüler. Das sind sie. Ein paar kleinere
Gemeinsamkeiten ändern daran nichts.«
Am Horizont Richtung Mitulien erhob sich auf einmal
eine graue Wand. Meister Thondaril formte mit seiner Magie eine
Lichtaura, die einer gläsernen Linse glich, wozu er einige Worte in
alt-nemorischer Sprache murmelte, die Gorian sich zu merken
versuchte. Dann schuf Thondaril eine zweite Linse und dirigierte
diese mit Handbewegungen und magischen Beschwörungen vor die erste,
sodass sie wie ein westreichisches Fernrohr wirkten.
Zunächst war nur die graue Wand zu sehen, die sich
am Horizont aufgebaut hatte. Eine Wand aus Eis, die nur etwa
haushoch emporragte. Auf magische Weise wurde Wasser aus dem Boden
gesogen und dem Eispanzer hinzugefügt. Da es in dieser Gegend
jedoch nicht viel Wasser gab, bewegte sich die graue Wand langsamer
voran, als es bei der Zerstörung von Toque der Fall gewesen
war.
Oder, dachte Gorian, die Macht der Feuerdämonen
strahlte durch das Erdreich bis dorthin.
Thondaril veränderte die Blickrichtung der
magischen Linsen, und sie sahen vor dem Eispanzer eine Reihe
Leviathane. Sie waren stehen geblieben und hatten die Mäuler
geöffnet, sodass die untoten Frostkrieger, die sie in ihren Leibern
transportierten, hinaussehen konnten, um die Lage einzuschätzen.
Gorian bemerkte auch einige Trupps von Wollnashornreitern, die
neben den Leviathanen daherschritten und im Vergleich zu den
gewaltigen Wesen nahezu winzig wirkten.
»Es scheint, als gewährt man uns noch einen kleinen
Aufschub«, meinte Torbas. »Der Vormarsch der Leviathane ist
offenbar ins Stocken geraten.«
»Im Moment bereiten mir die Leviathane die
geringeren Sorgen«, gestand Meister Thondaril, »trotz ihrer enormen
Zerstörungskraft.«
»Wieso?«, wunderte sich Torbas.
»Kannst du sie nicht spüren, Schüler?«, fragte
Thondaril. »Empfängst du nicht ihre magischen Schwingungen?«
Er veränderte wieder die Ausrichtung und den
Abstand der beiden magischen Linsen zueinander, und zwei gewaltige
Gestalten wurden sichtbar. Sie waren so groß wie das gesamte
Felsmassiv von Felsenburg. Rumpf, Kopf und Gliedmaßen wirkten
kantig und eckig und schienen aus eisigen Quadern und Heptaedern zu
bestehen.
»Aggr und Paggr, die Kristallbrüder«, grollte
Meister Thondaril. »Zwei der mächtigsten Frostgötter, die nach der
Schlacht am Weltentor vom Erdenrund verbannt wurden und die Morygor
zurückgeholt hat. Man hat lange nichts mehr von ihnen
gehört.«
Die beiden Kristallwesen bewegten sich im
Gleichschritt über das Eis. Ihr dumpfes Stampfen war bis nach
Felsenburg zu hören und mischte sich mit dem pulsierenden
Herzschlag des glutroten Adergeflechts in den Bergen. Gefrierender
Atem umgab die Köpfe, in denen ihre Augen blau leuchteten wie kalte
Flammen, und in ihren klaffenden Mäulern schimmerten ebenso
bläulich mehrere Reihen spitzer Eiszähne.
Über ihnen in der Luft fiel Meister Thondaril ein
kleiner Punkt auf, doch erst als er abermals den Abstand der
magischen Linsen ein wenig verändert hatte, konnte man erkennen,
worum es sich dabei handelte.
»Ar-Don!«, stieß Gorian hervor.
»Hoffen wir, dass dein Freund und Schatten nur
einen Kundschafterflug unternimmt und nicht die Seiten gewechselt
hat«, murmelte Thondaril.
Ar-Don stieg höher, flatterte hektisch mit den
Flügeln, und seine Farbe veränderte sich von einem leuchtenden
Purpur zuerst in ein blasses Blau, das bereits sehr der eisigen
Oberfläche der beiden Kristallbrüder glich, und wurde schließlich
grauweiß, sodass er vor dem dunstigen Hintergrund nicht mehr
auszumachen war.
Aggr und Paggr hingegen waren nicht zu übersehen.
Selbst die Leviathane wichen ihnen ängstlich aus, und auch die
Wollnashornreiter mussten sich vor den gewaltigen Füßen der
Kristallbrüder in Sicherheit bringen. Nicht alle schafften es.
Rücksichtslos trampelten Aggr und Paggr sie in den eisigen
Untergrund, und dies mit einer solchen Gewalt, dass es selbst für
einen untoten Orxanier keine Möglichkeit der Weiterexistenz mehr
gab. Dazu stießen sie Laute aus, die an das Heulen des eisigen
Nordwinds erinnerten.
Gorian spürte die gewaltige magische Kraft, die
ihnen innewohnte. Die Kraft von Göttern.
»Aber sie sind nicht frei«, erinnerte ihn
Sheera. »Sie sind Morygors Sklaven, und ganz gleich, wie mächtig
sie uns erscheinen mögen, ihre Stärke ist nichts im Vergleich mit
jener Macht, über die Morygor gebietet.«
In einiger Entfernung von Felsenburg blieben sie
stehen. Ihr Blick richtete sich auf den ebenfalls bläulichen
Feuerkreis, den der Maskierte um das Felsmassiv herum entzündet
hatte.
Ein Schwall von äußerst aufdringlichen Gedanken
erreichte Gorian, doch sie waren so fremdartig, dass kein Mensch
ihren Sinn erfassen konnte. Nur ein Merkmal glaubte Gorian daraus
herauslesen zu können: Furcht!
Offenbar fürchteten sie sich vor Morygors Zorn,
falls sie versagten. Er hatte sie auf Erdenrund zurückgeholt und
kannte sicherlich Mittel und Wege, sie wieder in jene Schattenwelt
zu verbannen, aus der er sie gerufen hatte, sollten sie sich nicht
als nützlich für ihn erweisen.
Sicherlich waren die beiden frostigen Götterbrüder
stark genug, das ganze zylindrische Felsmassiv niederzustürzen, in
das die Stadt der Greifenreiter hineingehauen worden war. Aber das
taten sie nicht. Der Feuerkreis schien ihnen Respekt
einzuflößen.
»Welcher von ihnen ist Aggr und welcher Paggr?«,
fragte Torbas an Meister Thondaril gerichtet. Für ihn sahen die
beiden Eisriesen vollkommen gleich aus. Es war ihm unmöglich, sie
zu unterscheiden.
»Einer von ihnen ist der Mutigere und geht stets
als Erster voran«, erklärte Meister Thondaril. »Das ist Aggr. Paggr
folgt nur seinem Bruder, aber er gilt als der Klügere von
beiden.«
»Der Klügere folgt dem Dümmeren?«, wunderte sich
Torbas. »Nicht umgekehrt?«
»Das ist nicht nur unter den Frostgöttern so«,
entgegnete Meister Thondaril düster.
Einer der beiden Riesen machte einen weiteren
Schritt auf die Felsensäule zu. Da breitete sich der blaue
Flammenkranz auf das Anderthalbfache seines bisherigen Radius aus,
und gleichzeitig schossen die Flammen so hoch empor, dass sie dem
Frostgott kurzfristig bis zu den Schultern reichten.
Aggr – um den musste es sich handeln, wenn
Thondaril recht hatte – sprang zurück und stieß einen wütenden Ruf
aus, während sein Bruder Paggr meckernd lachte; jedenfalls waren
die Laute, die er hervorbrachte, so zu deuten. Dann aber stieß er
seinen Bruder an, so als wollte er ihn auf etwas aufmerksam
machen.
In den nahen Bergen hatten sich mehr als ein
Dutzend Flammengestalten gebildet, von denen manche sogar die Größe
der beiden Kristallbrüder hatten. Überall erhoben sie sich aus dem
roten Adergeflecht. Der Rhythmus des pulsierenden Stampfens, das an
ein schlagendes Herz erinnerte,
hatte sich zwischenzeitlich derart gesteigert, dass es zu einem
Vibrieren des Bodens geworden war, das auf dem Burghof kleine Risse
im Gestein entstehen ließ.
Aggr und Paggr gingen auf das Gebirge zu und
durchmaßen mit raumgreifenden Schritten das Niemandsland zwischen
Feuer und Eis. Überall dort, wo ihre Füße auftrafen, zog sich das
rote Adergeflecht zurück.
Mit durchdringendem sirenenartigem Geheul stürzten
sich Dutzende von Feuerdämonen auf die beiden Kristallbrüder.
Zischend drangen ihre Feuerarme in die eisigen Körper ein und
schmolzen große Löcher in sie hinein, aus denen grelle Blitze
zuckten.
Die Kristallbrüder schlugen mit ihren eisigen
Fäusten um sich. Die letztlich substanzlosen Flammenwesen boten
zwar keinen Widerstand, doch jedes Mal, wenn die Pranken der
Frostgötter sie trafen, verloren die Feuerdämonen etwas von ihrer
Kraft und schrumpften zusammen. Aggr und Paggr schlugen wie
Berserker auf sie ein, während sich die Löcher in ihren eigenen
eisigen Kristallkörpern allmählich schlossen.
Schließlich zogen sich die Feuerdämonen hinter die
erste Linie aus Felsmassiven und Anhöhen zurück und mit ihnen das
rote Geflecht, das zuvor noch den Boden des Kampfplatzes
durchdrungen hatte.
Aggr öffnete sein Maul, Paggr folgte seinem
Beispiel, und weiße Strahlen drangen daraus hervor, die eine
raureifartige Schicht über die nahen Felshänge legten. Ein Chor von
schmerzerfüllten Schreien war daraufhin zu hören. Die Feuerdämonen
wichen noch weiter zurück, während die beiden Frostgötter ihre
Feinde regelrecht vor sich hertrieben. Sie folgten den Feuerdämonen
in die Berge, erst Aggr, dann Paggr, und aufgrund ihrer gewaltigen
Größe erklommen
sie mit Leichtigkeit die ersten Höhen und zogen sich an den
Felswänden empor, wobei sie immer wieder ihren Eishauch
ausspieen.
Dieser Kraft waren die Feuerdämonen nicht
gewachsen, und sie nahmen Reißaus. Aggr richtete beide Arme auf die
fliehenden Dämonenfeinde, und seine Pranken formten Mäuler, aus
denen ebenfalls eisiger Hauch hervorschoss. Feuerdämonen, die davon
erfasst wurden, schrumpften zusammen oder lösten sich mit lautem
Zischen auf. Die anderen sanken in den Boden ein, wurden wieder
Teil des roten Adergeflechts und zogen sich mit diesem zurück. Der
dröhnende Herzschlag wurde langsamer, setzte sogar manchmal aus,
und zwischen den schroffen Felshängen hallte ächzendes Stöhnen
wider.
Gleichzeitig schob sich der Eispanzer am Horizont
weiter vorwärts, walzte langsam, aber doch beständig voran.
Schneefall hatte wieder eingesetzt, und die scharfe Wettergrenze
zwischen den Einflussbereichen von Feuer und Eis verlagerte sich
nach und nach. Wolken bildeten sich an dem zuvor strahlend blauen
Himmel über dem Gebirge, und es wurde merklich dunkler.
Gorian starrte zum Schattenbringer empor. »Er
bewegt sich!«, flüsterte er ergriffen.
Deutlich war zu sehen, wie sich der Schattenbringer
immer mehr vor die Sonne schob, viel schneller als in all den
Jahrzehnten zuvor.
»Es ist Morygors Magie!«, empfing Gorian
Sheeras Gedanken.
Und im nächsten Moment spürte er eine magische
Schwingung. Sie ging von seinem auf den Rücken geschnallten Schwert
Sternenklinge aus und auch von seinem Dolch, den er Rächer getauft
hatte.
Er sah Torbas an und erkannte an seinem Blick, dass
auch dessen Schwert Schattenstich die Schwingungen
ausstrahlte.
»Unsere Waffen sind aus Sternenmetall, Torbas«,
erklärte ihm Gorian. »Da besteht offenbar noch immer eine
Verbindung mit dem Schattenbringer, aus dessen Metall sie
geschmiedet wurden.«
»Was geschieht hier, Gorian?«, fragte Torbas
atemlos.