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Folgenreiche Verwundungen
Der Greif schwenkte auf den Schlangenzahn zu,
während der Leviathan zurückzuckte, krachend zu Boden ging und das
verbrannte Maulende auf das Eis drückte.
Einige der Flammendämonen auf dem Schlangenzahn
züngelten dem Greifen entgegen, manche wagten sich auch auf den
Gletscher, aber dort schrumpften sie zischend zusammen, sodass sie
die Gondel nicht mehr erreichen konnten.
Der Leviathan drehte seinen massigen Körper derweil
am Boden blitzschnell um, dann schnellte er mit einer
Geschwindigkeit, die man diesem gewaltigen, mehr als vier
Schiffslängen messenden Wesen nicht zutraute, über das Eis, schob
sich mit kräftigen Bewegungen vorwärts, die an eine Schlange
erinnerten.
Gorian hatte bisher noch nie eine derartige
Schnelligkeit bei einem der Leviathane gesehen, was wohl daran lag,
dass dieses Exemplar nicht Rücksicht darauf nehmen musste, dass
sich eine Armee mittlerer Stärke in seinem Bauch befand, die bei
allzu heftigen und stoßartigen Bewegungen heillos
durcheinandergewirbelt wurde.
Der Leviathan sprang empor wie ein fliegender
Fisch. Noch während er in der Luft war, öffnete er das Maul und
spie erneut einen Schwarm Eiskrähen aus, bevor er wieder
zurück auf den eisigen Boden krachte, auf dem er dem glühenden
Schlangenzahn-Gebirge entgegenrutschte.
Die Eiskrähen schwärmten auseinander, stoben in
alle Richtungen davon, dennoch gelang es dem Maskierten, einen
Großteil davon mit dem Feuer seines Flammenschwertes zu vernichten.
Wie ein Fächer breitete sich der Feuerstrahl aus, wirkte wie ein
Schirm aus Flammen, deren Wirkung dabei allerdings schwächer wurde.
Davon abgesehen schienen auch die Kräfte des Maskierten nicht
unerschöpflich. So verbrannten einige der Vögel nicht zu Asche,
stürzten aber halb verschmort zu Boden.
Andere entgingen den Flammen gänzlich und
erreichten ihr Ziel. Gorian stand auf dem Greifenrücken und
erledigte mehrere von ihnen mit Schwerthieben. Immer wieder
schnellte die Klinge durch die Luft, traf mit tödlicher Sicherheit
die Tiere, deren Flugbahnen Gorian vorausahnte.
Torbas öffnete eines der Gondelfenster, befahl
einer der Seilschlangen, ihn zu umfassen und in die Höhe zu heben.
Allerdings ließ er sich nicht auf den Rücken des Greifen tragen,
sondern nur bis zu dessen Bauch. Er hing an der Seilschlange und
schlug einer der Eiskrähen den Kopf ab, welche die Unterseite des
Greifen traktierten.
Er hatte diesen Angriff vorausgeahnt, dennoch kam
er zu spät, denn drei weitere Vogelbestien hatten sich bereits in
das Fell des Greifen gekrallt. Als sie ihre Schnäbel tief in dessen
Fleisch versenkten, brüllte das Mischwesen aus Vogel und Löwe auf,
strampelte hilflos mit den Tatzen und schlug wild mit den Flügeln,
aber gegen die Eiskrähen half das nichts, sie hackten immer tiefer
durch das löwenähnliche Fell.
Mit sicheren Hieben tötete Torbas mehrere von
ihnen. Haarscharf schnellte die scharfe Klinge Schattenstichs dabei
über den Bauch des Greifen, ohne ihn dabei zu ritzen oder auch nur
zu berühren.
Doch nun kamen die Vögel von allen Seiten. Der
Leviathan hatte erneut einen Vogelschwarm aus dem Maul geblasen.
Torbas hieb wie von Sinnen um sich, aber es war unmöglich, alle
Eiskrähen abzuwehren. Einige hackten mit ihren Schnäbeln auch in
die Seilschlange, an der Torbas hing, und sie zog sich vor Schmerz
zusammen.
Torbas war einen Augenblick lang abgelenkt und sah
den Angriff einer Eiskrähe um einen Herzschlag zu spät voraus. Tief
bohrte sich deren Schnabel in seine Schulter. Er schrie auf, wehrte
einen weiteren Vogel mit dem Schwert ab und riss die Krähe, deren
Kopf ganz in der Wunde versunken war, von seiner Schulter, um sie
von sich zu schleudern.
Gleichzeitig drangen Krähen ins Innere der Gondel
ein. Thondaril erschlug die ersten beiden, während der Namenlose
Renegat eine Formel in der Sprache der Caladran rief und
gleichzeitig zu der Metallkiste mit den gestohlenen Schriften lief,
über die er beide Hände ausstreckte, dabei die einfliegenden Krähen
ignorierend. Anscheinend verließ er sich darauf, dass Thondaril und
der Maskierte sie ihm vom Leib hielten.
Zog Yaal wehrte sich etwas unbeholfen mit seinem
gekrümmten Dolch, der zu allem Möglichen geeignet sein mochte, nur
nicht zum Kämpfen. Sheera wendete einen Kraftzauber an und
schleuderte damit mehrere der angreifenden Vögel durch den Raum und
gegen die Gondelwand, dass sie augenblicklich getötet wurden.
Nur Ar-Don verharrte regungslos in einer Ecke, wie
zu Stein erstarrt. Keine der Eiskrähen griff den Gargoyle an, aber
es war auch fraglich, ob sie überhaupt in der Lage gewesen wären,
ihm einen Schaden zuzufügen.
»Ins Feuer!«, rief der Maskierte mit
dröhnender Gedankenstimme, die in einem Dutzend Sprachen zugleich
zu sprechen schien.
Gorian fühlte die intensive fremdartige Kraft, die
von diesem Gedanken ausging. Für einen Augenaufschlag drohte sie
alles andere zu überdecken, sogar seinen eigenen Willen. Der Greif
reagierte ebenfalls darauf, indem er augenblicklich die
Flugrichtung änderte. Centros Bal hing vornübergebeugt auf dem Hals
des Greifen, die Hände unter den Federn vergraben, wo er bestimmte
Druckpunkte berührte, während Gorian noch immer so viele er
angreifenden Eiskrähen wie möglich zu vernichten versuchte. Manche
konnte er nur abwehren, indem er sie mit einem Kraftzauber aus der
Flugbahn schleuderte, in dem Wissen, dass sie ihn kurze Zeit später
erneut angreifen würden.
Der Greif schrie vor Schmerzen. Schwarzes Blut
quoll ihm aus Dutzenden von Wunden, die schlimmsten davon am
Bauch.
Er hielt geradewegs auf den brennenden
Schlangenzahn zu. Die ersten Flammendämonen sprangen in die Höhe,
um ihre Beute zu erreichen, doch der Greif stieg instinktiv höher,
als er die ersten Felsen des Schlangenzahns überflog.
In diesem Moment rutschte Centros Bal seitlich vom
Rücken des Greifen, und während er in die Tiefe stürzte, sah
Gorian, dass ihm eine der Eiskrähen mitten im Herzen steckte. Sein
Körper verglühte, als ihn einer der Feuerdämonen packte.
Gleichzeitig setzte der sie verfolgende Leviathan
zu seinem letzten Sprung an, um die Gondel mitsamt dem Greifen in
die Tiefe zu reißen. Auf sein eigenes Schicksal nahm das
riesenhafte Ungetüm dabei keine Rücksicht, denn es stand vollkommen
unter Morygors Kontrolle, war nichts
weiter als sein Werkzeug, und obgleich es keineswegs untot war, so
war doch jeglicher Überlebenswille in ihm völlig abgestorben.
Es traf die Gondel an der Rückseite, so heftig,
dass ein Riss die Wand aufklaffen ließ und die Glasfenster
zersplitterten. Die Gondel schwang heftig nach vorn und riss den
Greifen mit sich. Einige der Seilschlangen verloren den Halt, und
der Greif konnte sich kaum noch in der Luft halten, als die Gondel
zurückschwang und der verwundete Greif dies mit verzweifelten
Flügelschlägen auszugleichen versuchte.
Der Körper des Leviathans fiel krachend auf die
Felsen, wo sich die Feuerdämonen sofort auf ihn stürzten. Diese
Beute ließen sie sich nicht entgehen, und innerhalb von
Augenblicken verbrannte der gewaltige Körper zu Asche, die in einer
schwarzen Wolke aufgewirbelt wurde.
Herrenlos und vom Schmerz getrieben flog der
verwundete Greif weiter und versuchte trotz der Pendelbewegungen
der Gondel aufzusteigen, während die Flammengestalten der
Feuerdämonen emporzüngelten. Aber in diesem Moment wirkte das
Ritual des Namenlosen Renegaten. Ein Zauber, offenbar eigens zur
Abwehr der Feuerdämonen geschaffen. Mit einem Knall bildete sich
eine bläulich schimmernde Blase um den Greifen, an deren Oberfläche
die Flammengestalten abprallten. Ihre fratzenhaften Gesichter
verrieten Verwirrung, und wütend attackierten sie wieder und wieder
die für sie undurchdringliche Blase, aber sie kamen nicht
durch.
Gorian stand auf dem Greifenrücken, steckte das
Schwert ein und schrie einen einzigen Namen, den er mit einem
ebenso intensiven, fast zwingenden Gedanken unterlegte: »Zog
Yaal!«
Danach versuchte er durch die Anwendung magischer
Formeln beruhigend auf den Geist des Greifen einzuwirken. Das
schwarze Blut, das aus den bedenklich großen Wunden im Bauchbereich
quoll, sammelte sich in einer Lache an der Unterseite der bläulich
schimmernden Blase, die Gondel und Greifen umgab.
Als sich Zog Yaal endlich von einer der
Seilschlangen auf den Rücken des Flugtiers heben ließ, war sein
Greifenreiter-Anzug zerrissen, und Gorian erkannte, dass auch er
von den Eiskrähen verwundet worden war.
»Centros Bal ist tot. Er kann uns nicht mehr
helfen«, rief Gorian. »Du bist der Einzige unter uns, der etwas vom
Greifenreiten versteht und dieses Tier noch zu bändigen vermag,
aber …«
»Es wird schon gehen«, versicherte Zog Yaal.
Allerdings fehlte seinen Worten die rechte Zuversicht. »Sheera hat
meine Wunden notdürftig behandelt, ich spüre schon eine Besserung.
Doch es wäre gut, wenn wir so bald wie möglich einen Landeplatz
fänden.«
»Ich hoffe, du hältst durch!«
»Länger als der Greif«, versicherte der Dritte
Greifenreiter und begab sich an seine Position.
Gorian murmelte eine Stärkungsformel und legte
zugleich seine Hand auf Zog Yaals Schulter.
»Für eine Weile wird es gehen!«, bestätigte
ihm Sheera mit einem Gedanken.
Torbas ließ sich von seiner Seilschlange ebenfalls
auf den Rücken des Greifen heben. Aus mindestens einem Dutzend
Wunden rann schwarzes Blut aus dem Körper der Seilschlange, und sie
stieß wimmernde Laute aus.
Torbas presste eine Hand auf seine Schulter.
Ebenfalls schwarzes Blut sickerte ihm zwischen den Fingern
hindurch,
und sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Alles halb so wild«,
behauptete er. »Nur die Seilschlange, um die ist es schade, denn
ich glaube nicht, dass sie ihre Verletzungen überstehen
wird.«
Ein Gedanke durchzuckte Gorian. Torbas war an der
linken Schulter verwundet, genau wie er selbst!
Torbas schien seine Gedanken zu erahnen. »Ja, ich
bin in allem scheinbar etwas später dran als du. Aber nach und nach
werden wir uns immer ähnlicher. Fast könnte man meinen, wir wären
Brüder!«
»Wir sind beide im Zeichen des fallenden Sterns
geboren«, erwiderte Gorian. »Die Gestirne scheinen unser beider
Schicksal maßgeblich zu bestimmen.«
Der Morgen graute, als sie den Schlangenzahn
hinter sich ließen. Das Land dahinter war bisher weder von den
Feuerdämonen noch vom Frostreich in Beschlag genommen worden. Aber
das würde noch geschehen.
Ein schroffer, sehr tiefer Grabenbruch bildete an
dieser Stelle die Grenze zwischen Gryphland und Westreich. Jenseits
davon begann Bergland, das in gewisser Weise die Fortsetzung des
mittelgryphländischen Bergrückens bildete. Allerdings hatten die
Felsen auf der westreichischen Seite des Grabens eine deutlich
rötliche Färbung. Ansonsten erstreckte sich auch hier ein
zerklüftetes, sehr unzugängliches Gebiet.
Zog Yaal kannte sich in der Gegend aus. »Ich bin
schon ein paar Mal hierhergeflogen«, erklärte er. »Na ja, besser
gesagt, ich bin mitgeflogen, denn wie ihr wisst, war ich bislang ja
noch nicht allzu oft als Greifenreiter im Einsatz.«
»Dafür machst du es hervorragend«, meinte Torbas.
»Es erstaunt mich, dass du den Greifen überhaupt noch in der
Luft halten kannst, so übel, wie die Eiskrähen ihn zugerichtet
haben.«
»Lange wird es nicht mehr so weitergehen«,
befürchtete Zog Yaal. »Wir werden uns in den Bergen einen Platz
suchen müssen, wo wir landen können.«
»Dann halte danach Ausschau«, entgegnete Gorian.
»Vielleicht gibt es hier in der Gegend ja auch einen Ort, an dem
wir Hilfe bekommen können.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, sagte Zog
Yaal.
»Wieso? Westreich soll ein kultiviertes Land sein.
Die besten Schiffe werden dort gebaut, und die hiesige
Glasbläserkunst ist einzigartig.«
»Mag sein. Aber alles, was du sagst, trifft auf die
großen Städte an der Küste zu. Das Innere von Westreich – und
insbesondere das Bergland im Süden – ist nur sehr spärlich
besiedelt. Aber so, wie es aussieht, lassen uns die schwindenden
Kräfte des Greifen keine Wahl; wir müssen runter.«
»Du nennst ihn immer nur den Greifen«,
stellte Gorian fest. »Und auch Centros Bal habe ich nie etwas
anderes sagen hören.«
»Das ist richtig«, bestätigte Zog Yaal.
»Hat euer Greif denn keinen Namen?«
»Ich fürchte, bald wird er einen haben«, murmelte
Zog Yaal. »Früher, als allen lieb sein kann.«
»Das verstehe ich nicht.«
Zog Yaal wandte den Kopf, um Gorian anzusehen, und
ein angestrengtes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Du hast dich
lange genug in Port Gryphenklau herumgetrieben, um unsere Sprache
zu lernen, aber du hast nie etwas von den Namen der Greifen
gehört?«
»Nein.«
»Ein Greif erhält seinen Namen erst nach seinem
Tod, damit
man sich seiner erinnert. Zuvor nennt man ihn einfach nur ›den
Greifen von Centros Bal‹ oder meinetwegen auch ›den fünften Greifen
von Centros Bal‹. Alles andere wäre respektlos.«
»Weshalb?«
»Wir wissen nicht, wie sich die Greifen
untereinander nennen oder ob sie sich überhaupt Namen geben.
Jemandem bei einem Namen zu nennen, der nicht wirklich der seine
ist, wäre extrem unhöflich.«
»Und nach dem Tod ist das anders?«
Zog Yaal nickte. »Wenn ein Gryphländer stirbt, wird
ihm von seiner Verwandtschaft sehr häufig ein anderer Name
verliehen, damit er unbelastet von den Sünden seines Lebens vor den
Verborgenen Gott treten kann.«
»Ich glaube nicht, dass dies der Lehre der
Priesterschaft und des Bischofs von Atrantia entspricht.«
»Nein, das tut es nicht. Aber die Priesterschaft
hat es nie geschafft, diese Sitte auszumerzen. Und warum sollte es
Menschen nicht erlaubt sein, sich hinter einem anderen Namen zu
verbergen, wenn sie vor einen Gott treten, der sich ebenfalls
verbirgt und keinen Namen führt?« Zog Yaal beugte sich vor und
berührte einen Druckpunkt am Hals des Greifen, um ihn etwas
anzutreiben, woraufhin das riesenhafte Tier einen krächzenden Laut
ausstieß, aus dem alle Schmerzen, die es litt, herauszuhören waren.
»Centros Bal hat es immer abgelehnt, den Todesnamen eines Greifen
schon im Voraus festzulegen, obwohl das viele tun. Er aber war der
Meinung, dies würde Unglück bringen. Nun ja, mein Todesname steht
auf dem Amulett, das ich trage. Und ich wäre dankbar, wenn ihn
jemand dreimal ausrufen und das Gebet sprechen würde, das auf der
anderen Seite des Amuletts eingraviert ist.«
»Du hast noch ein langes Leben vor dir«, sagte
Gorian.
»Ich fürchte, das stimmt nicht. Da ist eine Kälte
in mir, seit mich die Vögel verletzt haben.«
»Die wird vorübergehen«, behauptete Gorian, obwohl
er sich dessen alles andere als sicher war.
Immer tiefer sank der Greif. Die bläuliche Blase,
die der Namenlose Renegat mit seinem Ritual erzeugt hatte, gab es
inzwischen nicht mehr. Sie war immer durchscheinender geworden und
hatte sich nach und nach aufgelöst, bis das schwarze Blut, das sich
an ihrem Grund gesammelt hatte, in die Tiefe fiel und sie ganz
verblasste.
Der Greif stieß immer wieder klagende Laute aus. In
einem Hochtal ließ ihn Zog Yaal schließlich landen. Es gab dort
einen Bergsee, der bei Greifenreitern aufgrund der guten
Wasserqualität bekannt war. Dort konnte man sein Reittier
bedenkenlos trinken lassen. Greifen tranken zwar nur selten, dann
aber gewaltige Mengen.
Die Landung des Greifen war alles andere als
elegant, und das lag nicht nur an dessen Zustand, sondern auch an
Zog Yaals mangelnden Erfahrungen als Greifenreiter. Davon abgesehen
war es aber auch alles andere als einfach, den Greifen eines
anderen Reiters zu lenken, schon gar nicht den eines Mannes wie
Centros Bal, der stets darauf bestanden hatte, selbst auf dem
Rücken seines Greifen zu sitzen.
Die ohnehin schon ziemlich ramponierte Gondel
setzte ziemlich hart auf, und der Greif schrammte mit seinem
blutenden Bauch über den harten, steinigen Untergrund. Die
Seilschlangen waren klug genug, sich sofort zu lösen, sonst hätte
der Greif die ganze Gondel umgerissen und noch ein gutes Stück
hinter sich hergeschleift. So aber blieb den Reisenden dies
erspart.
Gorian stieg so schnell es ging vom Rücken des
Greifen, und Torbas folgte seinem Beispiel. Zog Yaal bleib noch
etwas länger dort sitzen, um das Tier zu beruhigen und ihm
zuzusprechen. Sheera und Thondaril kamen aus der Gondel, und ihnen
folgte der Maskierte, während es der Namenlose Renegat zunächst
vorzog, in der Gondel zu bleiben.
»Wir sollten uns hier nicht allzu lange ausruhen«,
sagte Thondaril, nachdem er sich zu Gorian gesellt hatte.
Gorian deutete auf den Greifen. »Vermutlich werden
wir aber dazu gezwungen sein.«
»Das wäre nicht gut«, erwiderte Thondaril
missmutig, der beim Angriff der Eiskrähen unverletzt geblieben war.
Er fasste Gorian am Arm und zog ihn etwas beiseite, um sich von den
anderen unbelauscht mit ihm unterhalten zu können. »Morygor wird
nicht aufgeben. Er hat so viel darangesetzt, uns zu vernichten,
dass er uns jetzt nicht unbehelligt zu den Inseln der Caladran
ziehen lassen wird.«
»Das Frostreich dehnt sich nicht schnell genug aus,
dass es uns einholen wird«, gab Gorian zu bedenken, doch dann
fielen ihm wieder die Worte des Caladran-Gesichts ein, das ihm
erschienen war: »Du bist wie ein geworfener Stein, dessen Bahn
ich erkenne und den ich mit ausgestreckter Hand fange …«
»Morygor ist uns stets einen, wenn nicht gar zwei
oder drei Schritte voraus«, stellte Thondaril klar. »Und wir
brauchen uns nicht innerhalb seines Frostreichs aufzuhalten, damit
er uns erreichen und uns seine Macht demonstrieren kann. Sieh sie
dir an, mit denen du zu den Inseln der Caladran reisen willst. Kaum
einer ist ohne Blessuren davongekommen. In den Eiskrähen steckte
mehr von Morygors verderblichem Geist, als es bisher bei seinen
anderen
Dienerkreaturen der Fall war, und mit jeder Wunde, die diese Vögel
geschlagen haben, ist etwas von seiner bösen Kraft in den
Betreffenden eingedrungen.« Thondarils Miene wirkte düster und wie
aus Stein gemeißelt. »Das wird nicht ohne Wirkung bleiben. Es ist
wie ein schleichendes Gift.«
Er sah sich nach dem Greifen um, der sich, befreit
von den Seilschlangen und tödlich verwundet, zum Wasser geschleppt
hatte. Zog Yaal blieb in seiner Nähe, um sich um das Tier zu
kümmern. Währenddessen behandelte Sheera Torbas’ blutende Schulter.
Der Schwertschüler hatte seinen Oberkörper entblößt, und dadurch
wurde erst ersichtlich, was für eine furchtbare Wunde er
davongetragen hatte.
»Wir werden uns alle gegenseitig genau beobachten
müssen«, sagte Thondaril. »Achte auf Torbas – und teile nicht
unnötig viele Gedanken mit Sheera. Fürchte deine Freunde mehr
als deine Feinde, lautet ein Axiom unseres Ordens.«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen?«, fragte Gorian, und
es gelang ihm nicht, die Empörung, die er empfand, zu verbergen.
Dass der zweifache Ordensmeister Ar-Don gegenüber misstrauisch war,
war für ihn noch nachvollziehbar, schließlich war der Gargoyle
letztlich ein Geschöpf Morygors. Aber Torbas? Und vor allem Sheera,
die Gorian von all seinen Begleitern zweifellos am nächsten
stand?
»Durch seinen mutigen Einsatz hat uns Torbas allen
das Leben gerettet«, erklärte Gorian aufgebracht. »Hätte er den
Greifen nicht zu schützen versucht, wäre dieser sicherlich noch
schwerer verletzt worden, und wir hätten es vermutlich niemals bis
hierher geschafft.«
»Das mag sein«, gab Thondaril zu.
»Und Sheeras Loyalität steht wohl außer
Frage.«
»Wirklich?«
»Sie hat mich gerettet, als ich nach dem Kampf am
Speerstein tödlich verwundet darniederlag!«
»Wir sprechen nicht über die Vergangenheit«,
ermahnte ihn Thondaril.
»Es gibt niemanden, dessen Gedanken ich besser
kenne als die ihren.«
»Und umgekehrt«, entgegnete Thondaril. »Und genau
das macht sie für Morygor ganz besonders interessant.«
»Könnt Ihr eigentlich selbst in den engsten
Gefährten nur das Schlechte sehen, das sie möglicherweise in sich
tragen?«, fragte Gorian herausfordernd.
»Gerade bei engsten Gefährten lohnt sich diese
Aufmerksamkeit«, behauptete Thondaril. »Glaub mir, ich spreche aus
Erfahrung.«
»Dann könnt Ihr auch mir nicht trauen!«, sagte
Gorian gereizt. »Immerhin wurde ich beim Kampf am Speerstein schwer
verwundet, und dabei dürfte viel von dem, was Ihr als Morygors
schleichendes Gift bezeichnet, in mich eingedrungen sein!«
»Und ein Teil davon ging gewiss in diejenige über,
die dich heilte«, gab Thondaril zu bedenken. »Das geschieht immer.
Deine Ausbildung im Haus der Heiler ist weit genug fortgeschritten,
dass dir derart grundlegende Dinge klar sein sollten.«
»So misstraut Ihr also auch mir.«
»Ich rechne mit der Schwäche eines jeden«, erklärte
Thondaril.
»Auch bei Euch selbst?«
»Als wir unterwegs zum Speerstein waren, habe ich
meine eigene innere Schwäche bitter erfahren müssen. Aber ich habe
mich selbst betreffend Vorkehrungen getroffen.«
Während sie sich unterhielten, sah Gorian, wie
Sheera
einen der roten Steine, die man in diesem kargen Hochlandtal
überall finden konnte, auf Torbas’ Wunde drückte. Torbas Augen
waren vollkommen schwarz. Der rote Stein verwandelte sich, auch er
wurde schwarz – ebenso wie Sheeras Augen.
Und für einen ganz kurzen Moment glaubte Gorian,
zwei feine Strahlen aus Schwarzlicht zu sehen, jeweils so dünn wie
ein Zwirnsfaden, die sich von Torbas’ Augen zu Sheeras
spannten.