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Folgenreiche Verwundungen
Der Greif schwenkte auf den Schlangenzahn zu, während der Leviathan zurückzuckte, krachend zu Boden ging und das verbrannte Maulende auf das Eis drückte.
Einige der Flammendämonen auf dem Schlangenzahn züngelten dem Greifen entgegen, manche wagten sich auch auf den Gletscher, aber dort schrumpften sie zischend zusammen, sodass sie die Gondel nicht mehr erreichen konnten.
Der Leviathan drehte seinen massigen Körper derweil am Boden blitzschnell um, dann schnellte er mit einer Geschwindigkeit, die man diesem gewaltigen, mehr als vier Schiffslängen messenden Wesen nicht zutraute, über das Eis, schob sich mit kräftigen Bewegungen vorwärts, die an eine Schlange erinnerten.
Gorian hatte bisher noch nie eine derartige Schnelligkeit bei einem der Leviathane gesehen, was wohl daran lag, dass dieses Exemplar nicht Rücksicht darauf nehmen musste, dass sich eine Armee mittlerer Stärke in seinem Bauch befand, die bei allzu heftigen und stoßartigen Bewegungen heillos durcheinandergewirbelt wurde.
Der Leviathan sprang empor wie ein fliegender Fisch. Noch während er in der Luft war, öffnete er das Maul und spie erneut einen Schwarm Eiskrähen aus, bevor er wieder zurück auf den eisigen Boden krachte, auf dem er dem glühenden Schlangenzahn-Gebirge entgegenrutschte.
Die Eiskrähen schwärmten auseinander, stoben in alle Richtungen davon, dennoch gelang es dem Maskierten, einen Großteil davon mit dem Feuer seines Flammenschwertes zu vernichten. Wie ein Fächer breitete sich der Feuerstrahl aus, wirkte wie ein Schirm aus Flammen, deren Wirkung dabei allerdings schwächer wurde. Davon abgesehen schienen auch die Kräfte des Maskierten nicht unerschöpflich. So verbrannten einige der Vögel nicht zu Asche, stürzten aber halb verschmort zu Boden.
Andere entgingen den Flammen gänzlich und erreichten ihr Ziel. Gorian stand auf dem Greifenrücken und erledigte mehrere von ihnen mit Schwerthieben. Immer wieder schnellte die Klinge durch die Luft, traf mit tödlicher Sicherheit die Tiere, deren Flugbahnen Gorian vorausahnte.
Torbas öffnete eines der Gondelfenster, befahl einer der Seilschlangen, ihn zu umfassen und in die Höhe zu heben. Allerdings ließ er sich nicht auf den Rücken des Greifen tragen, sondern nur bis zu dessen Bauch. Er hing an der Seilschlange und schlug einer der Eiskrähen den Kopf ab, welche die Unterseite des Greifen traktierten.
Er hatte diesen Angriff vorausgeahnt, dennoch kam er zu spät, denn drei weitere Vogelbestien hatten sich bereits in das Fell des Greifen gekrallt. Als sie ihre Schnäbel tief in dessen Fleisch versenkten, brüllte das Mischwesen aus Vogel und Löwe auf, strampelte hilflos mit den Tatzen und schlug wild mit den Flügeln, aber gegen die Eiskrähen half das nichts, sie hackten immer tiefer durch das löwenähnliche Fell.
Mit sicheren Hieben tötete Torbas mehrere von ihnen. Haarscharf schnellte die scharfe Klinge Schattenstichs dabei über den Bauch des Greifen, ohne ihn dabei zu ritzen oder auch nur zu berühren.
Doch nun kamen die Vögel von allen Seiten. Der Leviathan hatte erneut einen Vogelschwarm aus dem Maul geblasen. Torbas hieb wie von Sinnen um sich, aber es war unmöglich, alle Eiskrähen abzuwehren. Einige hackten mit ihren Schnäbeln auch in die Seilschlange, an der Torbas hing, und sie zog sich vor Schmerz zusammen.
Torbas war einen Augenblick lang abgelenkt und sah den Angriff einer Eiskrähe um einen Herzschlag zu spät voraus. Tief bohrte sich deren Schnabel in seine Schulter. Er schrie auf, wehrte einen weiteren Vogel mit dem Schwert ab und riss die Krähe, deren Kopf ganz in der Wunde versunken war, von seiner Schulter, um sie von sich zu schleudern.
Gleichzeitig drangen Krähen ins Innere der Gondel ein. Thondaril erschlug die ersten beiden, während der Namenlose Renegat eine Formel in der Sprache der Caladran rief und gleichzeitig zu der Metallkiste mit den gestohlenen Schriften lief, über die er beide Hände ausstreckte, dabei die einfliegenden Krähen ignorierend. Anscheinend verließ er sich darauf, dass Thondaril und der Maskierte sie ihm vom Leib hielten.
Zog Yaal wehrte sich etwas unbeholfen mit seinem gekrümmten Dolch, der zu allem Möglichen geeignet sein mochte, nur nicht zum Kämpfen. Sheera wendete einen Kraftzauber an und schleuderte damit mehrere der angreifenden Vögel durch den Raum und gegen die Gondelwand, dass sie augenblicklich getötet wurden.
Nur Ar-Don verharrte regungslos in einer Ecke, wie zu Stein erstarrt. Keine der Eiskrähen griff den Gargoyle an, aber es war auch fraglich, ob sie überhaupt in der Lage gewesen wären, ihm einen Schaden zuzufügen.
»Ins Feuer!«, rief der Maskierte mit dröhnender Gedankenstimme, die in einem Dutzend Sprachen zugleich zu sprechen schien.
Gorian fühlte die intensive fremdartige Kraft, die von diesem Gedanken ausging. Für einen Augenaufschlag drohte sie alles andere zu überdecken, sogar seinen eigenen Willen. Der Greif reagierte ebenfalls darauf, indem er augenblicklich die Flugrichtung änderte. Centros Bal hing vornübergebeugt auf dem Hals des Greifen, die Hände unter den Federn vergraben, wo er bestimmte Druckpunkte berührte, während Gorian noch immer so viele er angreifenden Eiskrähen wie möglich zu vernichten versuchte. Manche konnte er nur abwehren, indem er sie mit einem Kraftzauber aus der Flugbahn schleuderte, in dem Wissen, dass sie ihn kurze Zeit später erneut angreifen würden.
Der Greif schrie vor Schmerzen. Schwarzes Blut quoll ihm aus Dutzenden von Wunden, die schlimmsten davon am Bauch.
Er hielt geradewegs auf den brennenden Schlangenzahn zu. Die ersten Flammendämonen sprangen in die Höhe, um ihre Beute zu erreichen, doch der Greif stieg instinktiv höher, als er die ersten Felsen des Schlangenzahns überflog.
In diesem Moment rutschte Centros Bal seitlich vom Rücken des Greifen, und während er in die Tiefe stürzte, sah Gorian, dass ihm eine der Eiskrähen mitten im Herzen steckte. Sein Körper verglühte, als ihn einer der Feuerdämonen packte.
Gleichzeitig setzte der sie verfolgende Leviathan zu seinem letzten Sprung an, um die Gondel mitsamt dem Greifen in die Tiefe zu reißen. Auf sein eigenes Schicksal nahm das riesenhafte Ungetüm dabei keine Rücksicht, denn es stand vollkommen unter Morygors Kontrolle, war nichts weiter als sein Werkzeug, und obgleich es keineswegs untot war, so war doch jeglicher Überlebenswille in ihm völlig abgestorben.
Es traf die Gondel an der Rückseite, so heftig, dass ein Riss die Wand aufklaffen ließ und die Glasfenster zersplitterten. Die Gondel schwang heftig nach vorn und riss den Greifen mit sich. Einige der Seilschlangen verloren den Halt, und der Greif konnte sich kaum noch in der Luft halten, als die Gondel zurückschwang und der verwundete Greif dies mit verzweifelten Flügelschlägen auszugleichen versuchte.
Der Körper des Leviathans fiel krachend auf die Felsen, wo sich die Feuerdämonen sofort auf ihn stürzten. Diese Beute ließen sie sich nicht entgehen, und innerhalb von Augenblicken verbrannte der gewaltige Körper zu Asche, die in einer schwarzen Wolke aufgewirbelt wurde.
Herrenlos und vom Schmerz getrieben flog der verwundete Greif weiter und versuchte trotz der Pendelbewegungen der Gondel aufzusteigen, während die Flammengestalten der Feuerdämonen emporzüngelten. Aber in diesem Moment wirkte das Ritual des Namenlosen Renegaten. Ein Zauber, offenbar eigens zur Abwehr der Feuerdämonen geschaffen. Mit einem Knall bildete sich eine bläulich schimmernde Blase um den Greifen, an deren Oberfläche die Flammengestalten abprallten. Ihre fratzenhaften Gesichter verrieten Verwirrung, und wütend attackierten sie wieder und wieder die für sie undurchdringliche Blase, aber sie kamen nicht durch.
Gorian stand auf dem Greifenrücken, steckte das Schwert ein und schrie einen einzigen Namen, den er mit einem ebenso intensiven, fast zwingenden Gedanken unterlegte: »Zog Yaal!«
Danach versuchte er durch die Anwendung magischer Formeln beruhigend auf den Geist des Greifen einzuwirken. Das schwarze Blut, das aus den bedenklich großen Wunden im Bauchbereich quoll, sammelte sich in einer Lache an der Unterseite der bläulich schimmernden Blase, die Gondel und Greifen umgab.
Als sich Zog Yaal endlich von einer der Seilschlangen auf den Rücken des Flugtiers heben ließ, war sein Greifenreiter-Anzug zerrissen, und Gorian erkannte, dass auch er von den Eiskrähen verwundet worden war.
»Centros Bal ist tot. Er kann uns nicht mehr helfen«, rief Gorian. »Du bist der Einzige unter uns, der etwas vom Greifenreiten versteht und dieses Tier noch zu bändigen vermag, aber …«
»Es wird schon gehen«, versicherte Zog Yaal. Allerdings fehlte seinen Worten die rechte Zuversicht. »Sheera hat meine Wunden notdürftig behandelt, ich spüre schon eine Besserung. Doch es wäre gut, wenn wir so bald wie möglich einen Landeplatz fänden.«
»Ich hoffe, du hältst durch!«
»Länger als der Greif«, versicherte der Dritte Greifenreiter und begab sich an seine Position.
Gorian murmelte eine Stärkungsformel und legte zugleich seine Hand auf Zog Yaals Schulter.
»Für eine Weile wird es gehen!«, bestätigte ihm Sheera mit einem Gedanken.
Torbas ließ sich von seiner Seilschlange ebenfalls auf den Rücken des Greifen heben. Aus mindestens einem Dutzend Wunden rann schwarzes Blut aus dem Körper der Seilschlange, und sie stieß wimmernde Laute aus.
Torbas presste eine Hand auf seine Schulter. Ebenfalls schwarzes Blut sickerte ihm zwischen den Fingern hindurch, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Alles halb so wild«, behauptete er. »Nur die Seilschlange, um die ist es schade, denn ich glaube nicht, dass sie ihre Verletzungen überstehen wird.«
Ein Gedanke durchzuckte Gorian. Torbas war an der linken Schulter verwundet, genau wie er selbst!
Torbas schien seine Gedanken zu erahnen. »Ja, ich bin in allem scheinbar etwas später dran als du. Aber nach und nach werden wir uns immer ähnlicher. Fast könnte man meinen, wir wären Brüder!«
»Wir sind beide im Zeichen des fallenden Sterns geboren«, erwiderte Gorian. »Die Gestirne scheinen unser beider Schicksal maßgeblich zu bestimmen.«
 
Der Morgen graute, als sie den Schlangenzahn hinter sich ließen. Das Land dahinter war bisher weder von den Feuerdämonen noch vom Frostreich in Beschlag genommen worden. Aber das würde noch geschehen.
Ein schroffer, sehr tiefer Grabenbruch bildete an dieser Stelle die Grenze zwischen Gryphland und Westreich. Jenseits davon begann Bergland, das in gewisser Weise die Fortsetzung des mittelgryphländischen Bergrückens bildete. Allerdings hatten die Felsen auf der westreichischen Seite des Grabens eine deutlich rötliche Färbung. Ansonsten erstreckte sich auch hier ein zerklüftetes, sehr unzugängliches Gebiet.
Zog Yaal kannte sich in der Gegend aus. »Ich bin schon ein paar Mal hierhergeflogen«, erklärte er. »Na ja, besser gesagt, ich bin mitgeflogen, denn wie ihr wisst, war ich bislang ja noch nicht allzu oft als Greifenreiter im Einsatz.«
»Dafür machst du es hervorragend«, meinte Torbas. »Es erstaunt mich, dass du den Greifen überhaupt noch in der Luft halten kannst, so übel, wie die Eiskrähen ihn zugerichtet haben.«
»Lange wird es nicht mehr so weitergehen«, befürchtete Zog Yaal. »Wir werden uns in den Bergen einen Platz suchen müssen, wo wir landen können.«
»Dann halte danach Ausschau«, entgegnete Gorian. »Vielleicht gibt es hier in der Gegend ja auch einen Ort, an dem wir Hilfe bekommen können.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, sagte Zog Yaal.
»Wieso? Westreich soll ein kultiviertes Land sein. Die besten Schiffe werden dort gebaut, und die hiesige Glasbläserkunst ist einzigartig.«
»Mag sein. Aber alles, was du sagst, trifft auf die großen Städte an der Küste zu. Das Innere von Westreich – und insbesondere das Bergland im Süden – ist nur sehr spärlich besiedelt. Aber so, wie es aussieht, lassen uns die schwindenden Kräfte des Greifen keine Wahl; wir müssen runter.«
»Du nennst ihn immer nur den Greifen«, stellte Gorian fest. »Und auch Centros Bal habe ich nie etwas anderes sagen hören.«
»Das ist richtig«, bestätigte Zog Yaal.
»Hat euer Greif denn keinen Namen?«
»Ich fürchte, bald wird er einen haben«, murmelte Zog Yaal. »Früher, als allen lieb sein kann.«
»Das verstehe ich nicht.«
Zog Yaal wandte den Kopf, um Gorian anzusehen, und ein angestrengtes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Du hast dich lange genug in Port Gryphenklau herumgetrieben, um unsere Sprache zu lernen, aber du hast nie etwas von den Namen der Greifen gehört?«
»Nein.«
»Ein Greif erhält seinen Namen erst nach seinem Tod, damit man sich seiner erinnert. Zuvor nennt man ihn einfach nur ›den Greifen von Centros Bal‹ oder meinetwegen auch ›den fünften Greifen von Centros Bal‹. Alles andere wäre respektlos.«
»Weshalb?«
»Wir wissen nicht, wie sich die Greifen untereinander nennen oder ob sie sich überhaupt Namen geben. Jemandem bei einem Namen zu nennen, der nicht wirklich der seine ist, wäre extrem unhöflich.«
»Und nach dem Tod ist das anders?«
Zog Yaal nickte. »Wenn ein Gryphländer stirbt, wird ihm von seiner Verwandtschaft sehr häufig ein anderer Name verliehen, damit er unbelastet von den Sünden seines Lebens vor den Verborgenen Gott treten kann.«
»Ich glaube nicht, dass dies der Lehre der Priesterschaft und des Bischofs von Atrantia entspricht.«
»Nein, das tut es nicht. Aber die Priesterschaft hat es nie geschafft, diese Sitte auszumerzen. Und warum sollte es Menschen nicht erlaubt sein, sich hinter einem anderen Namen zu verbergen, wenn sie vor einen Gott treten, der sich ebenfalls verbirgt und keinen Namen führt?« Zog Yaal beugte sich vor und berührte einen Druckpunkt am Hals des Greifen, um ihn etwas anzutreiben, woraufhin das riesenhafte Tier einen krächzenden Laut ausstieß, aus dem alle Schmerzen, die es litt, herauszuhören waren. »Centros Bal hat es immer abgelehnt, den Todesnamen eines Greifen schon im Voraus festzulegen, obwohl das viele tun. Er aber war der Meinung, dies würde Unglück bringen. Nun ja, mein Todesname steht auf dem Amulett, das ich trage. Und ich wäre dankbar, wenn ihn jemand dreimal ausrufen und das Gebet sprechen würde, das auf der anderen Seite des Amuletts eingraviert ist.«
»Du hast noch ein langes Leben vor dir«, sagte Gorian.
»Ich fürchte, das stimmt nicht. Da ist eine Kälte in mir, seit mich die Vögel verletzt haben.«
»Die wird vorübergehen«, behauptete Gorian, obwohl er sich dessen alles andere als sicher war.
 
Immer tiefer sank der Greif. Die bläuliche Blase, die der Namenlose Renegat mit seinem Ritual erzeugt hatte, gab es inzwischen nicht mehr. Sie war immer durchscheinender geworden und hatte sich nach und nach aufgelöst, bis das schwarze Blut, das sich an ihrem Grund gesammelt hatte, in die Tiefe fiel und sie ganz verblasste.
Der Greif stieß immer wieder klagende Laute aus. In einem Hochtal ließ ihn Zog Yaal schließlich landen. Es gab dort einen Bergsee, der bei Greifenreitern aufgrund der guten Wasserqualität bekannt war. Dort konnte man sein Reittier bedenkenlos trinken lassen. Greifen tranken zwar nur selten, dann aber gewaltige Mengen.
Die Landung des Greifen war alles andere als elegant, und das lag nicht nur an dessen Zustand, sondern auch an Zog Yaals mangelnden Erfahrungen als Greifenreiter. Davon abgesehen war es aber auch alles andere als einfach, den Greifen eines anderen Reiters zu lenken, schon gar nicht den eines Mannes wie Centros Bal, der stets darauf bestanden hatte, selbst auf dem Rücken seines Greifen zu sitzen.
Die ohnehin schon ziemlich ramponierte Gondel setzte ziemlich hart auf, und der Greif schrammte mit seinem blutenden Bauch über den harten, steinigen Untergrund. Die Seilschlangen waren klug genug, sich sofort zu lösen, sonst hätte der Greif die ganze Gondel umgerissen und noch ein gutes Stück hinter sich hergeschleift. So aber blieb den Reisenden dies erspart.
Gorian stieg so schnell es ging vom Rücken des Greifen, und Torbas folgte seinem Beispiel. Zog Yaal bleib noch etwas länger dort sitzen, um das Tier zu beruhigen und ihm zuzusprechen. Sheera und Thondaril kamen aus der Gondel, und ihnen folgte der Maskierte, während es der Namenlose Renegat zunächst vorzog, in der Gondel zu bleiben.
»Wir sollten uns hier nicht allzu lange ausruhen«, sagte Thondaril, nachdem er sich zu Gorian gesellt hatte.
Gorian deutete auf den Greifen. »Vermutlich werden wir aber dazu gezwungen sein.«
»Das wäre nicht gut«, erwiderte Thondaril missmutig, der beim Angriff der Eiskrähen unverletzt geblieben war. Er fasste Gorian am Arm und zog ihn etwas beiseite, um sich von den anderen unbelauscht mit ihm unterhalten zu können. »Morygor wird nicht aufgeben. Er hat so viel darangesetzt, uns zu vernichten, dass er uns jetzt nicht unbehelligt zu den Inseln der Caladran ziehen lassen wird.«
»Das Frostreich dehnt sich nicht schnell genug aus, dass es uns einholen wird«, gab Gorian zu bedenken, doch dann fielen ihm wieder die Worte des Caladran-Gesichts ein, das ihm erschienen war: »Du bist wie ein geworfener Stein, dessen Bahn ich erkenne und den ich mit ausgestreckter Hand fange …«
»Morygor ist uns stets einen, wenn nicht gar zwei oder drei Schritte voraus«, stellte Thondaril klar. »Und wir brauchen uns nicht innerhalb seines Frostreichs aufzuhalten, damit er uns erreichen und uns seine Macht demonstrieren kann. Sieh sie dir an, mit denen du zu den Inseln der Caladran reisen willst. Kaum einer ist ohne Blessuren davongekommen. In den Eiskrähen steckte mehr von Morygors verderblichem Geist, als es bisher bei seinen anderen Dienerkreaturen der Fall war, und mit jeder Wunde, die diese Vögel geschlagen haben, ist etwas von seiner bösen Kraft in den Betreffenden eingedrungen.« Thondarils Miene wirkte düster und wie aus Stein gemeißelt. »Das wird nicht ohne Wirkung bleiben. Es ist wie ein schleichendes Gift.«
Er sah sich nach dem Greifen um, der sich, befreit von den Seilschlangen und tödlich verwundet, zum Wasser geschleppt hatte. Zog Yaal blieb in seiner Nähe, um sich um das Tier zu kümmern. Währenddessen behandelte Sheera Torbas’ blutende Schulter. Der Schwertschüler hatte seinen Oberkörper entblößt, und dadurch wurde erst ersichtlich, was für eine furchtbare Wunde er davongetragen hatte.
»Wir werden uns alle gegenseitig genau beobachten müssen«, sagte Thondaril. »Achte auf Torbas – und teile nicht unnötig viele Gedanken mit Sheera. Fürchte deine Freunde mehr als deine Feinde, lautet ein Axiom unseres Ordens.«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen?«, fragte Gorian, und es gelang ihm nicht, die Empörung, die er empfand, zu verbergen. Dass der zweifache Ordensmeister Ar-Don gegenüber misstrauisch war, war für ihn noch nachvollziehbar, schließlich war der Gargoyle letztlich ein Geschöpf Morygors. Aber Torbas? Und vor allem Sheera, die Gorian von all seinen Begleitern zweifellos am nächsten stand?
»Durch seinen mutigen Einsatz hat uns Torbas allen das Leben gerettet«, erklärte Gorian aufgebracht. »Hätte er den Greifen nicht zu schützen versucht, wäre dieser sicherlich noch schwerer verletzt worden, und wir hätten es vermutlich niemals bis hierher geschafft.«
»Das mag sein«, gab Thondaril zu.
»Und Sheeras Loyalität steht wohl außer Frage.«
»Wirklich?«
»Sie hat mich gerettet, als ich nach dem Kampf am Speerstein tödlich verwundet darniederlag!«
»Wir sprechen nicht über die Vergangenheit«, ermahnte ihn Thondaril.
»Es gibt niemanden, dessen Gedanken ich besser kenne als die ihren.«
»Und umgekehrt«, entgegnete Thondaril. »Und genau das macht sie für Morygor ganz besonders interessant.«
»Könnt Ihr eigentlich selbst in den engsten Gefährten nur das Schlechte sehen, das sie möglicherweise in sich tragen?«, fragte Gorian herausfordernd.
»Gerade bei engsten Gefährten lohnt sich diese Aufmerksamkeit«, behauptete Thondaril. »Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«
»Dann könnt Ihr auch mir nicht trauen!«, sagte Gorian gereizt. »Immerhin wurde ich beim Kampf am Speerstein schwer verwundet, und dabei dürfte viel von dem, was Ihr als Morygors schleichendes Gift bezeichnet, in mich eingedrungen sein!«
»Und ein Teil davon ging gewiss in diejenige über, die dich heilte«, gab Thondaril zu bedenken. »Das geschieht immer. Deine Ausbildung im Haus der Heiler ist weit genug fortgeschritten, dass dir derart grundlegende Dinge klar sein sollten.«
»So misstraut Ihr also auch mir.«
»Ich rechne mit der Schwäche eines jeden«, erklärte Thondaril.
»Auch bei Euch selbst?«
»Als wir unterwegs zum Speerstein waren, habe ich meine eigene innere Schwäche bitter erfahren müssen. Aber ich habe mich selbst betreffend Vorkehrungen getroffen.«
Während sie sich unterhielten, sah Gorian, wie Sheera einen der roten Steine, die man in diesem kargen Hochlandtal überall finden konnte, auf Torbas’ Wunde drückte. Torbas Augen waren vollkommen schwarz. Der rote Stein verwandelte sich, auch er wurde schwarz – ebenso wie Sheeras Augen.
Und für einen ganz kurzen Moment glaubte Gorian, zwei feine Strahlen aus Schwarzlicht zu sehen, jeweils so dünn wie ein Zwirnsfaden, die sich von Torbas’ Augen zu Sheeras spannten.