016
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Sonnenflüchter
Hunderte von Steinmahren hatten sich am gegenüberliegenden Seeufer eingefunden, offenbar um zu trinken. So zumindest hatte es zunächst den Anschein, aber einige von ihnen rutschten immer tiefer in das Wasser hinein, bis sie schließlich völlig darin verschwunden waren.
»Diese Wesen kann man nicht durch Magie beeinflussen«, erklärte der Namenlose Renegat. »Weder die Steinmahre, noch ihre Herren. Deshalb dauerte der Krieg zwischen Caladran und Sonnenflüchtern den Chroniken nach selbst für Caladran-Verhältnisse recht lange.« Er deutete zu den nach und nach im Wasser verschwindenden Steinmahren hinüber. »Wilde Steinmahre verhalten sich anders, sie treten nicht in Gruppen, sondern nur vereinzelt auf, anders als diese dort.«
»Am Grund dieses Sees werden sie uns kaum in die Quere kommen«, meinte Torbas.
»Dort werden sie nicht bleiben«, war der Namenlose überzeugt und stand auf, während er immer noch den Blick suchend durch die Nacht schweifen ließ.
Aus dem Schatten eines Felsen trat auf einmal eine Gestalt hervor. Der Körper wirkte menschlich, doch der Kopf war nicht zu sehen, denn er wurde völlig von der Schwärze der Nacht umhüllt.
Thondaril und Torbas erhoben sich ebenfalls, auch Gorian, der den Griff seines Dolchs umfasste. Sheera stellte sich neben ihn, und Zog Yaal war der Letzte, der sich von seinem Platz erhob.
Nur den Maskierten schien all das nicht zu kümmern. Er harrte am Feuer aus, steckte sich ein Stück Trockenfisch durch den Mundschlitz seiner Maske und sog es mit einem schlürfenden Geräusch in sich hinein.
»Habe ich’s mir doch gedacht«, murmelte der Namenlose.
Die Gestalt trat aus dem Schatten heraus, sodass auch der Kopf sichtbar wurde. Er glich dem eines Käfers, große Beißwerkzeuge schimmerten im Mondlicht, die in sensenartigen Klingen endeten.
Das unheimliche Wesen trug eng anliegende Hosen und einen Brustpanzer aus einem unbekannten, auf jeden Fall aber nicht metallischen Material. Als wären die sensenartigen Beißwerkzeuge an seinem Kopf nicht schon Drohung genug gewesen, führte es noch ein kurzes Schwert an der Seite mit sich und hielt in der Rechten einen Stab aus Metall.
»Ein Sonnenflüchter«, sagte der Namenlose. »Es kann eigentlich nicht mehr viele von ihnen geben.«
Die Gestalt mit dem Käferkopf trat näher und hob den Stab, aus dem im nächsten Moment ein Blitz fuhr. Ungefähr zweihundert Schritt vom Lager der Gefährten entfernt schlug er ins Seeufer und tanzte dann über das Wasser, ehe er schließlich verlosch.
Wenig später tauchten an jener Stelle, wo er ins Seeufer gefahren war, die ersten Steinmahre aus dem Wasser auf und schoben sich mit grunzenden Lauten an Land. Ihre Körper wirkten aufgequollen und erinnerten an Schwämme. Manchen hing noch das Wassergras aus dem Maul, das sie auf dem Grund des Sees offenbar gefressen hatten, andere schmatzten laut.
Die ganze Herde blieb dicht gedrängt zusammen, und diejenigen, die bereits an Land waren, machten nur unwillig jenen Platz, die gerade aus dem Wasser stiegen. Immer wieder gab es Gedränge, bis der käferartige Sonnenflüchter erneut Blitze zwischen die Steinmahre sandte, um sie auf diese Weise zu lenken.
»Ich habe den Eindruck, dass sie uns gar nicht beachten«, sagte Sheera.
Nun setzte sich der Sonnenflüchter in Bewegung und rannte im Laufschritt zu seiner Herde von Steinmahren. Er kletterte auf einen Felsbrocken am Ufer, sodass er einen guten Überblick hatte, wandte den Käferkopf, bewegte dabei die übergroßen Beißwerkzeuge und schabte sie laut gegeneinander.
Daraufhin entstanden wie aus dem Nichts weitere Sonnenflüchter, bildeten sich überall aus vollkommen unscheinbaren rötlichen Felsbrocken, auch aus den Heilsteinen, die von dem Körper des Greifen abgefallen waren.
Es dauerte nur Augenblicke, und Thondaril und seine Begleiter waren von allen Seiten umstellt. Es waren Hunderte von Sonnenflüchtern, die in den Steinen ringsum geschlummert hatten und nun erwacht waren.
Das Schaben der Beißwerkzeuge bildete einen schauerlichen Chor, lauter als wenn sich alle Scherenschleifer von Port Gryphenklau verschworen hätten, zur selben Zeit in derselben Gasse ihr Handwerk auf möglichst geräuschvolle Weise zu verrichten.
»Ich hoffe, wenigstens die Voraussicht der Schwertmeister funktioniert noch bei diesen Kreaturen, wenn es zum Kampf kommt«, murmelte Torbas.
»Keine Sorge, dass tut sie«, versicherte der Namenlose Renegat. »Aber niemand kann in ihre Seelen blicken, wenn sie es nicht wollen. Und keine Magie beeinflusst ihren Geist. Darum kann ich sie auch nicht einfach mit einem Illusionszauber davonjagen.«
»Und wie machen wir ihnen dann klar, dass wir ihnen nichts Übles wollen?«, fragte Gorian.
»Da ist besonderes diplomatisches Fingerspitzengefühl gefragt, zumal sie meinesgleichen nicht besonders mögen. Ein sehr intensiver Gedanke erreicht sie vielleicht. Wenn sie es zulassen.«
»Können sie denn unsere Gedanken erfassen, wenn sie es wollen?«, fragte Gorian. »Gegen unseren Willen, meine ich?«
Der Namenlose wirkte unruhiger als sonst. »Das ist eine Frage, die selbst während des Krieges, den die Caladran gegen sie führten, nie beantwortet werden konnte. Die Schriften, in denen die verschiedenen Ansichten dazu niedergelegt sind, füllen ganze Bibliotheken.«
Torbas wollte sein Schwert ziehen, aber der Renegat hielt ihn mit einem sehr energischen Gedanken davon ab. »Gegen diese Übermacht hätte selbst der beste Schwertmeister keine Chance.« Er wandte sich an Gorian. »Sprich du mit ihnen! Du hast die größte Kraft, deine Gedanken werden vielleicht zu ihnen durchdringen.«
»Aber …«
»Und du bist kein Caladran!«
Einige der Sonnenflüchter hatten sich in der Zwischenzeit dem regungslos daliegenden Greifen genähert. Einer von ihnen hob seinen Metallstab, und ein Blitz zuckte hervor, erfasste den Körper des riesigen Tieres und ließ ihn zucken.
»Nein!«
Sheeras durchdringender Gedanke dröhnte in den Köpfen aller. Ihre Augen waren schwarz. Der Sonnenflüchter drehte sich um, richtete den Stab auf sie und schleuderte einen Blitz.
Sheera hob im selben Moment die Hände, stieß einen magischen Kraftschrei aus, und der Blitz schlug gegen die unsichtbare Wand, die sie mit ihrer Magie erschaffen hatte, und knisterte zurück zu dem Sonnenflüchter, der ihn geschleudert hatte. Er wurde von den Beinen gerissen und prallte gegen den Körper des Greifen, der daraufhin aufstöhnte, ohne jedoch aus seiner schlafähnlichen Starre zu erwachen, in die ihn der Namenlose Renegat versetzt hatte.
Dutzende der Sonnenflüchter zogen ihre Schwerter, deren Spitzen wie die Zungen von Schlangen gespalten waren, und diejenigen, die mit den Blitze schleudernden Metallstäben ausgestattet waren, richteten diese gegen Sheera und ihre Gefährten.
Ein Chor schriller, zirpender Geräusche erhob sich und mischte sich mit dem Schaben der Beißwerkzeuge.
»Kein Kampf!« Gorian legte alle Kraft, die er aufbringen konnte, in diesen einen Gedanken. Sheera war es gelungen, zu den Sonnenflüchtern durchzudringen, also würde ihm das auch gelingen.
Zog Yaal hielt sich hinter Gorian und ließ den gekrümmten Greifenreiter-Dolch klugerweise stecken. Damit wehren hätte er sich im Falle eines Angriffs ohnehin nicht gekonnt.
»Warum antwortet ihr nicht?«, fragte Gorian in Gedanken. »Wir sind auf der Durchreise und wollen nur unbeschadet von hier fortkommen.«
Noch immer war nicht ein einziger Gedanke der Sonnenflüchter zu erfassen. Ihre Seelen blieben verschossen. Dennoch glaubte Gorian erkennen zu können, dass es unter den Sonnenflüchtern zu einem intensiven Austausch kam.
Einige von ihnen trieben derweil die Herde von Steinmahren ein Stück weiter. Diese schienen sich kaum beruhigen zu können, stießen immer wieder gurgelnde Laute aus, und manche von ihnen würgten halbverdaute Wasserpflanzen aus.
»Ein Gedanke, Gorian! Ein weiterer Gedanke! Jetzt! Schnell!«, drängte ihn der Namenlose. »Ich glaube, dass sie dich anhören werden!«
Woraus der Namenlose dies schloss, war Gorian schleierhaft, und er fragte sich, weshalb der Renegat nicht einfach mittels Steinreise floh. Dasselbe galt natürlich auch für den Maskierten, der sich bisher vollkommen ruhig verhielt, so als würde ihn das Ganze nichts angehen.
»Diese Option halte ich mir für den Notfall vor«, erklärte der Namenlose und machte dadurch erneut deutlich, dass er Gorians Gedanken genau verfolgte. »Allerdings könnten der Maskierte und ich nur jeweils einen von euch auf diese Flucht mitnehmen, und auch das nur für eine kurze Strecke, so wie im Massiv von Felsenburg. Wir hätten dann zu entscheiden, wer von euch für unseren Plan verzichtbar ist, sodass wir ihn zurücklassen können.«
Die Kälte in den Gedanken des Namenlosen erschreckte Gorian für einen Moment. Aber er spürte auch etwas anderes darin.
Furcht.
Inzwischen war es den käferköpfigen Treibern gelungen, die Steinmahre einigermaßen zu beruhigen. Manche erstarrten für kurze Zeit wieder zu Stein, nur um Augenblicke später wieder aus diesem Zustand zu erwachen. Die Treiber befahlen ihnen offenbar immer wieder, in den versteinerten Zustand überzugehen. Aber die Steinmahre gehorchten nicht auf Dauer, dafür waren sie zu aufgeregt. Vielleicht lag das an der Anwesenheit der Fremden. Oder an dem Ring der magischen Feuer, die der Maskierte entzündet hatte.
Eine Gasse bildete sich zwischen den käferköpfigen Kriegern, und aus einem sehr großen Felsblock entwuchs ein Sonnenflüchter, der inmitten seiner Artgenossen geradezu riesig wirkte. Er maß in etwa die doppelte Länge eines hochgewachsenen Mannes. Außerdem hatte er vier Beißwerkzeuge, von denen jedes länger war als die Klinge eines gewöhnlichen heiligreichischen Schwertes.
Das Zirpen verstummte ebenso wie das Schaben der Beißwerkzeuge. Der riesige Sonnenflüchter trat auf Thondarils Gruppe zu und wandte sich an Gorian.
»Du bist der, der getötet werden muss!«
Das war der erste Gedanke, den Gorian von einem der Sonnenflüchter empfing. Der Riese, dem offenbar die Rolle des Anführers zukam, beugte sich etwas herab, die spitzen Enden seiner Beißwerkzeuge richteten sich auf Gorian und verharrten, so als wollten sie im nächsten Moment zuschlagen.
Der Gedanke, den er empfangen hatte, war für Gorian von überraschender Klarheit. Er hatte kaum etwas Fremdartiges und war bei Weitem nicht so verwirrend wie das, was ihm manchmal Ar-Don übermittelte.
»Ich bin Gorian«, sagte der Ordensschüler laut. »Und weder ich noch irgendjemand sonst hier will euch schaden.«
»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte der Sonnenflüchter-Riese mit einem sehr eindringlichen Gedanken. Gorian nahm an, dass ihn auch die anderen empfingen. Bei Sheera war er sich dessen sogar sicher. Für einen kurzen Moment erreichte ihn ein Sturm von Bildern. Er selbst kam darin vor. Er sah sich als kleiner Junge in einem Boot in der thisilischen Bucht, zusammen mit seinem Vater. Er sah, wie die Schattenreiter Nhorichs Hof erreichten und den Gargoyle Ar-Don aussandten, um ihn zu töten. Er sah die verlorene Schlacht um die Ordensburg und dann, wie sich ihm während des Kampfes am Speerstein von Orxanor sein eigener Dolch aus Sternenmetall in die Schulter bohrte.
»Jemand hat mir all dieses Wissen gegeben. Es wurde entnommen aus den Erinnerungen von Lebenden und Toten und soll mir helfen, dich zu vernichten, denn das zu tun sei schwer.«
»Warum soll ich vernichtet werden?«, fragte Gorian.
»Weil du derjenige bist, der getötet werden muss, damit geschieht, was geschehen soll.«
»Wem dienst du?«
»Niemandem. Darum werde ich auch nicht tun, was man von mir erwartet.«
»Wer erwartet etwas von dir?«
Zur Antwort erreichte Gorian ein Bild, das mindestens tausend Schattenreiter zeigte, die durch die Nacht ritten. Sie schwebten förmlich über die Berge. Die Hufe ihrer vollkommen dunklen achtbeinigen Riesenpferde berührten kaum den Boden.
Das war es also, was der Maskierte gemeint hatte, als er sagte, die Schattenreiter seien im Begriff, nach Verbündeten zu suchen, die in diesem Landstrich beheimatet waren und die sich nicht so einfach versklaven ließen, da sie nicht durch Magie beeinflussbar waren.
Auf irgendeine Weise hatten die Verfolger also Verbindung zu den Sonnenflüchtern aufgenommen.
Und dann begriff Gorian, was diese Gedankenbilder eigentlich bedeuteten. »Die Schattenreiter sind auf dem Weg hierher!«
»Sie bringen Unglück«, erwiderte der Sonnenflüchter. »Sie führen einen Krieg, der uns nichts angeht. Was sie tun, ist zu unserem Nachteil. Ihr Herr verdunkelt die Sonne.«
Gorian war verwirrt. »Ich dachte, es würde euch entgegenkommen, dass der Schattenbringer die Sonne verdunkelt. Nennt man euch nicht die Sonnenflüchter?«
»Nur unsere Feinde tun dies. Weil sie es nicht besser wissen.«
»So stimmt es nicht, dass ihr erst dann aus eurer Erstarrung erwacht, wenn die Sonne nicht mehr vom Himmel brennt?«
»Doch, das ist richtig. Bei Dunkelheit finden unsere Steinmahre keine Ruhe und verlangen immerzu nach dem Unterseegras, das sie aufquellen lässt. Und auch wir müssen dann erwachen, weil nur die wärmende Sonne uns den steinernen Schlaf des Überdauerns ermöglicht.«
»Dann solltet ihr uns helfen, denn wir wollen verhindern, dass unsere Welt zu einem dunklen, kalten Ort wird.«
Der Anführer der Sonnenflüchter bewegte hektisch die Beißwerkzeuge. Vielleicht war das seine Art auszudrücken, dass ihn Gorians Aussage irritierte. Dann verharrten seine Beißwerkzeuge wieder, er richtete sich zu voller Größe auf und stemmte die rechte, beinahe menschlich wirkende Faust in die Hüfte. Als Einziger der Sonnenflüchter trug er keinerlei Waffen, wohl aber einen Brustpanzer, auf dem in seinem Fall ein silbernes Amulett eingelassen war, das an die verschlungenen Schriftzeichen der Caladran erinnerte.
»Wir stehen auf keiner der beiden Seiten, die hier einen Krieg führen. Uns interessiert nur unser eigener Krieg, der noch lange nicht zu Ende ist. Ihr gefährdet unsere Pläne ebenso wie eure Verfolger.«
Der riesenhafte Sonnenflüchter drehte sich zur Seite. Seine dunklen, vorgestülpten Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte, waren für menschliche Begriffe blicklos; es war nicht zu erkennen, wem gerade seine Aufmerksamkeit galt. Dann aber wandte er sich eindeutig dem Namenlosen Renegaten zu. Auch der Gedanke, den er an ihn richtete, war für alle klar und verständlich: »Alter Feind!«
»Selbst meine Eltern waren noch nicht geboren, als unsere Völker Krieg gegeneinander führten«, entgegnete der Namenlose laut.
»Für mich spielt es keine Rolle, ob es deine Vorfahren waren oder du selbst, der das Schwert gegen uns führte. Es kann keinen Frieden zwischen uns geben. Stattdessen haben wir unseren endgültigen Sieg über euch beschlossen.«
»Es existieren nur noch sehr wenige von euch«, erinnerte ihn der Namenlose. »Euer Volk würde einen erneuten Krieg nicht überleben. Es wäre besser, wenn ihr euch einem Bündnis aller Völker gegen Morygor anschließt. Und wenn euch dieser Streit gleichgültig ist, dann lasst uns zumindest ziehen, anstatt die Schlachten der Vergangenheit, die längst geschlagen sind, zu wiederholen.«
»Wir wollen nichts wiederholen. Die Schlachten der Vergangenheit sind entschieden. Und doch haben wir den Gedanken an den Sieg nicht aufgegeben. Die Zeit ist unser stärkster Verbündeter. Ihr mögt euch für eine langlebige Rasse halten, aber gemessen an unseren Maßstäben ist eure Existenz nur kurz. Versteinert können wir Ewigkeiten überdauern, gespeist von der Kraft der Sonne, die uns bescheint. Nur in der Dunkelheit, wenn wir erwacht sind, altern wir. Eines Tages werden wir uns alles zurückholen, was man uns weggenommen hat, all die Länder und Inseln. Die Caladran werden in den Ewigkeiten, in denen wir als Steine ausharren, längst vergangen sein, und wir werden ihre Ruinen als Mahnmale herrichten, die an unseren Sieg erinnern. Deine Vorfahren haben uns niemals wirklich besiegt. Nicht endgültig jedenfalls. Und jetzt steht es dir frei zu fliehen. An deinem Tod ist niemand interessiert. Nicht einmal eure Verfolger.«
In diesem Moment ertönte ein Fauchen wie das einer Wildkatze, und Ar-Don schwang sich auf seinen Schwingen aus der Greifengondel. Aus einem unbekannten Grund war er aus seiner Erstarrung erwacht.
»Ah, ein Wesen aus Stein!«, äußerte sich der Anführer mit einem Gedanken, der interessiertes Staunen vermittelte. »Eine verwandte Seele!«
Ar-Don drehte eine Runde über dem Tal. »Feinde kommen! Bedrohung ist nahe!«, empfing Gorian seine Gedanken, vermischt mit Erinnerungen von Meister Domrich, der in der Frostfeste so furchtbar gefoltert worden war und dessen Geist Morygor selbst zu einem Bestandteil von Ar-Don hatte werden lassen. Es waren Erinnerungen an schreckliche Schmerzen, an unvorstellbare Qualen, die sich in völlig chaotischen Eindrücken von Furcht, Pein und todesähnlicher Kälte mitteilten. »Habe Kraft gesammelt … Habe viel Kraft gesammelt, um den Kampf zu bestehen …«
Das war der einzige klar formulierte Gedanke, der Gorian noch erreichte. Der Rest war ein wilder Strudel aus Bildern und Eindrücken, den offenbar auch die Sonnenflüchter wahrzunehmen vermochten.
Unruhe entstand unter ihnen. Die zirpenden Laute hoben wieder an, wieder schabten Beißwerkzeuge gegeneinander, und die gerade einigermaßen erfolgreich in den Steinschlaf versetzten Steinmahre erwachten erneut aus ihrer Starre und fügten dem allgemeinen Lärm ihre gurgelnden Geräusche hinzu.
»Das kann nur bedeuten, dass die Schattenreiter schon sehr nahe sind«, sagte Thondaril düster.
»Wir werden auf eurer Seite kämpfen!«, verkündete der Anführer der Sonnenflüchter. »Nicht um euretwillen. Und schon gar nicht um deinetwillen!« Damit deutete er auf den Namenlosen Renegaten. »Sondern allein um unserer selbst willen! Denn wenn sich die Sonne weiter verdunkelt, werden wir unsere Lebenskraft nicht lange genug aufsparen können, um unsere Feinde in den Himmelsschiffen zu überdauern. Außerdem ist auch Morygor, der Herr eurer Verfolger, letztlich ein Caladran, wie schon an der Art seiner Gedanken zu erkennen ist, mit denen er uns erfolglos bedrängte.«
»Wenn mein Volk erfährt, dass ich Seite an Seite mit Sonnenflüchtern gekämpft habe, wird es mich zum zweiten Mal verstoßen«, murmelte der Namenlose finster. »Aber … das nehme ich gern in Kauf.«
Ar-Don stieß einen schrillen Ruf aus, während er ein weiteres Mal eine Runde über das Tal flog.
 
In diesem Augenblick flammten in den Bergen auf der anderen Seite des Sees jene magischen Feuer hoch auf, die der Maskierte entzündet hatte. Immer wieder fauchten die Flammen empor und sanken dann wieder in sich zusammen.
Dahinter hoben sich die Umrisse von Schattenreitern auf ihren achtbeinigen Riesenpferden ab; sowohl Reiter als auch Pferd schienen aus purer Finsternis zu bestehen. Der Bannkreis aus brennenden Steinen, den der Maskierte um das Tal gezogen hatte, verfehlte seine Wirkung nicht, denn wenn einer der Reiter versuchte, zwischen zwei dieser magischen Leuchtfeuer hindurchzudringen, verbanden sich die grünlich schimmernden Flammen jeweils von einem Feuer zum anderen und versperrten ihm den Weg. Es zischte und blitzte grell, wenn die dunklen Krieger von den Flammen berührt wurden und ihre magischen Kräfte mit jenen zusammentrafen, die zweifellos in den Leuchtfeuern vorhanden waren.
Aus der Ferne schallten die Stimmen der Schattenreiter herüber. Menschliche Stimmen, durchfuhr es Gorian. Aber das war nicht verwunderlich, immerhin waren diese Verdammten ehemalige Schwertmeister, die nun dazu gezwungen waren, Morygor zu dienen.
Immer wieder ritten sie gegen die Flammenwände an, versuchten sie zu überspringen oder einfach hindurchzureiten, doch sie prallten regelrecht von den sich formierenden Feuerwänden zurück, wobei jeweils grelle Lichtblitze entstanden, vermischt mit Entladungen aus Schwarzlicht und dunklem Rauch, der schließlich ganze Teile des gebirgigen Horizonts einhüllte.
»Was glaubst du, wie lange diese magische Barriere halten wird?«, wandte sich Torbas an Gorian.
»Das kann ich nun wirklich nicht sagen«, antwortete Gorian, aber er hatte ein schlechtes Gefühl, und dem Maskierten schien es ähnlich zu gehen. Auch er wirkte nun beunruhigt, war aufgestanden und trat zu dem Namenlosen. Gorian nahm an, dass sich die beiden gedanklich austauschten, ohne irgendjemand anderen daran teilhaben zu lassen.
Sheera bahnte sich auf einmal einen Weg durch die dicht beieinanderstehenden Sonnenflüchter. Mit lautem Zirpen machten sie ihr Platz. Nachdem sie einen von ihnen mit ihrem Schutzzauber die Kraft seines eigenen Blitzes hatte spüren lassen, hatten sie einen gewissen Respekt vor ihr, und außerdem hatte der riesenhafte Anführer ja verkündet, dass er die Fremden als Verbündete betrachtete.
Sheera erreichte den Greifen. Gorian wunderte sich darüber, dass sie ihn nicht mit ihren Gedanken in das einbezog, was auch immer sie vorhatte.
»Sheera?«
Offenbar machte sie sich Sorgen um das riesige Geschöpf. Seit sie über zahlreiche Heilsteine ihre Heilkräfte auf diese Kreatur konzentriert hatte, bestand eine besondere Verbindung zwischen ihr und dem Greifen. Sie legte die Hände gegen seinen Kopf, und der Greif stieß einen Laut aus, ohne aus seiner Starre zu erwachen. Aber diesmal war es kein Laut des Schmerzes, sondern ein krächzendes Fauchen, wie es Wildgreifen bei ihren Kämpfen um die Rangfolge innerhalb ihres Schwarms ausstoßen mochten.
Als Sheera ihren Kopf etwas wandte, sah Gorian, dass ihre Augen vollkommen schwarz waren. Sie konzentrierte ihre Kräfte in höchstem Maß.
»Was ist mit dem Greifen, Sheera?«
»Ich weiß es nicht. Die Wunden bluten nicht mehr, aber ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob die Heilmagie der Caladran ihm wirklich geholfen hat.«
Gorian wusste nicht warum, aber als er Sheeras vollkommen schwarze Augen sah, musste er unwillkürlich an jenen Moment denken, als er die Verbindung der schwarzen Lichtfäden zwischen Sheera und Torbas gesehen hatte.
Inzwischen war das Tal von allen Seiten von Schattenreitern umzingelt. Sie griffen die magische Barriere unermüdlich an, und das Aufflammen des magischen Feuers wurde mit jedem Angriff schwächer. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Kräfte der Schattenreiter die Magie des Maskierten überwinden würden.
Auf einmal aber brachen ihre Attacken ab, und für eine Weile flackerte keines der Feuer mehr auf.
Gorian nahm jedoch nicht an, dass die Untoten ihr Ziel aufgegeben hatten. Und tatsächlich – die Schattenreiter griffen wieder an, stürmten von allen Talseiten gleichzeitig heran, und ihre Pferde preschten über das unwegsame Gelände. Dieses Mal aber hielten etliche der Schattenreiter Fackeln in der Hand, an denen schwarzes Feuer brannte. Dunkler Rauch quoll von den Flammen, der sich offenbar durch die Kraft der Magie lenken ließ. Das Gemurmel der Schattenreiter hallte zwischen den Bergen wider und war im ganzen Tal zu hören, ein Singsang aus Formeln der Caladran-Magie, die Morygor wohl in seinem Sinne verändert hatte.
Der Rauch ihrer schwarzen Fackeln zog auf die magischen Feuer des Maskierten zu, hüllte sie ein und erstickte sie an einem halben Dutzend Stellen gleichzeitig, und es dauerte nicht lange, bis weitere Feuer verloschen. Doch erst, als alle vollständig erstickt waren, überquerten die ersten Schattenreiter jene Banngrenze, die der Maskierte gesetzt hatte.
Torbas zog sein Schwert. »Jetzt wird es ernst!«