15
Sonnenflüchter
Hunderte von Steinmahren hatten sich am
gegenüberliegenden Seeufer eingefunden, offenbar um zu trinken. So
zumindest hatte es zunächst den Anschein, aber einige von ihnen
rutschten immer tiefer in das Wasser hinein, bis sie schließlich
völlig darin verschwunden waren.
»Diese Wesen kann man nicht durch Magie
beeinflussen«, erklärte der Namenlose Renegat. »Weder die
Steinmahre, noch ihre Herren. Deshalb dauerte der Krieg zwischen
Caladran und Sonnenflüchtern den Chroniken nach selbst für
Caladran-Verhältnisse recht lange.« Er deutete zu den nach und nach
im Wasser verschwindenden Steinmahren hinüber. »Wilde Steinmahre
verhalten sich anders, sie treten nicht in Gruppen, sondern nur
vereinzelt auf, anders als diese dort.«
»Am Grund dieses Sees werden sie uns kaum in die
Quere kommen«, meinte Torbas.
»Dort werden sie nicht bleiben«, war der Namenlose
überzeugt und stand auf, während er immer noch den Blick suchend
durch die Nacht schweifen ließ.
Aus dem Schatten eines Felsen trat auf einmal eine
Gestalt hervor. Der Körper wirkte menschlich, doch der Kopf war
nicht zu sehen, denn er wurde völlig von der Schwärze der Nacht
umhüllt.
Thondaril und Torbas erhoben sich ebenfalls, auch
Gorian, der den Griff seines Dolchs umfasste. Sheera stellte sich
neben ihn, und Zog Yaal war der Letzte, der sich von seinem Platz
erhob.
Nur den Maskierten schien all das nicht zu kümmern.
Er harrte am Feuer aus, steckte sich ein Stück Trockenfisch durch
den Mundschlitz seiner Maske und sog es mit einem schlürfenden
Geräusch in sich hinein.
»Habe ich’s mir doch gedacht«, murmelte der
Namenlose.
Die Gestalt trat aus dem Schatten heraus, sodass
auch der Kopf sichtbar wurde. Er glich dem eines Käfers, große
Beißwerkzeuge schimmerten im Mondlicht, die in sensenartigen
Klingen endeten.
Das unheimliche Wesen trug eng anliegende Hosen und
einen Brustpanzer aus einem unbekannten, auf jeden Fall aber nicht
metallischen Material. Als wären die sensenartigen Beißwerkzeuge an
seinem Kopf nicht schon Drohung genug gewesen, führte es noch ein
kurzes Schwert an der Seite mit sich und hielt in der Rechten einen
Stab aus Metall.
»Ein Sonnenflüchter«, sagte der Namenlose. »Es kann
eigentlich nicht mehr viele von ihnen geben.«
Die Gestalt mit dem Käferkopf trat näher und hob
den Stab, aus dem im nächsten Moment ein Blitz fuhr. Ungefähr
zweihundert Schritt vom Lager der Gefährten entfernt schlug er ins
Seeufer und tanzte dann über das Wasser, ehe er schließlich
verlosch.
Wenig später tauchten an jener Stelle, wo er ins
Seeufer gefahren war, die ersten Steinmahre aus dem Wasser auf und
schoben sich mit grunzenden Lauten an Land. Ihre Körper wirkten
aufgequollen und erinnerten an Schwämme. Manchen hing noch das
Wassergras aus dem Maul, das sie
auf dem Grund des Sees offenbar gefressen hatten, andere
schmatzten laut.
Die ganze Herde blieb dicht gedrängt zusammen, und
diejenigen, die bereits an Land waren, machten nur unwillig jenen
Platz, die gerade aus dem Wasser stiegen. Immer wieder gab es
Gedränge, bis der käferartige Sonnenflüchter erneut Blitze zwischen
die Steinmahre sandte, um sie auf diese Weise zu lenken.
»Ich habe den Eindruck, dass sie uns gar nicht
beachten«, sagte Sheera.
Nun setzte sich der Sonnenflüchter in Bewegung und
rannte im Laufschritt zu seiner Herde von Steinmahren. Er kletterte
auf einen Felsbrocken am Ufer, sodass er einen guten Überblick
hatte, wandte den Käferkopf, bewegte dabei die übergroßen
Beißwerkzeuge und schabte sie laut gegeneinander.
Daraufhin entstanden wie aus dem Nichts weitere
Sonnenflüchter, bildeten sich überall aus vollkommen unscheinbaren
rötlichen Felsbrocken, auch aus den Heilsteinen, die von dem Körper
des Greifen abgefallen waren.
Es dauerte nur Augenblicke, und Thondaril und seine
Begleiter waren von allen Seiten umstellt. Es waren Hunderte von
Sonnenflüchtern, die in den Steinen ringsum geschlummert hatten und
nun erwacht waren.
Das Schaben der Beißwerkzeuge bildete einen
schauerlichen Chor, lauter als wenn sich alle Scherenschleifer von
Port Gryphenklau verschworen hätten, zur selben Zeit in derselben
Gasse ihr Handwerk auf möglichst geräuschvolle Weise zu
verrichten.
»Ich hoffe, wenigstens die Voraussicht der
Schwertmeister funktioniert noch bei diesen Kreaturen, wenn es zum
Kampf kommt«, murmelte Torbas.
»Keine Sorge, dass tut sie«, versicherte der
Namenlose Renegat. »Aber niemand kann in ihre Seelen blicken, wenn
sie es nicht wollen. Und keine Magie beeinflusst ihren Geist. Darum
kann ich sie auch nicht einfach mit einem Illusionszauber
davonjagen.«
»Und wie machen wir ihnen dann klar, dass wir ihnen
nichts Übles wollen?«, fragte Gorian.
»Da ist besonderes diplomatisches
Fingerspitzengefühl gefragt, zumal sie meinesgleichen nicht
besonders mögen. Ein sehr intensiver Gedanke erreicht sie
vielleicht. Wenn sie es zulassen.«
»Können sie denn unsere Gedanken erfassen, wenn sie
es wollen?«, fragte Gorian. »Gegen unseren Willen, meine
ich?«
Der Namenlose wirkte unruhiger als sonst. »Das ist
eine Frage, die selbst während des Krieges, den die Caladran gegen
sie führten, nie beantwortet werden konnte. Die Schriften, in denen
die verschiedenen Ansichten dazu niedergelegt sind, füllen ganze
Bibliotheken.«
Torbas wollte sein Schwert ziehen, aber der Renegat
hielt ihn mit einem sehr energischen Gedanken davon ab. »Gegen
diese Übermacht hätte selbst der beste Schwertmeister keine
Chance.« Er wandte sich an Gorian. »Sprich du mit ihnen! Du
hast die größte Kraft, deine Gedanken werden vielleicht zu ihnen
durchdringen.«
»Aber …«
»Und du bist kein Caladran!«
Einige der Sonnenflüchter hatten sich in der
Zwischenzeit dem regungslos daliegenden Greifen genähert. Einer von
ihnen hob seinen Metallstab, und ein Blitz zuckte hervor, erfasste
den Körper des riesigen Tieres und ließ ihn zucken.
»Nein!«
Sheeras durchdringender Gedanke dröhnte in den
Köpfen
aller. Ihre Augen waren schwarz. Der Sonnenflüchter drehte sich
um, richtete den Stab auf sie und schleuderte einen Blitz.
Sheera hob im selben Moment die Hände, stieß einen
magischen Kraftschrei aus, und der Blitz schlug gegen die
unsichtbare Wand, die sie mit ihrer Magie erschaffen hatte, und
knisterte zurück zu dem Sonnenflüchter, der ihn geschleudert hatte.
Er wurde von den Beinen gerissen und prallte gegen den Körper des
Greifen, der daraufhin aufstöhnte, ohne jedoch aus seiner
schlafähnlichen Starre zu erwachen, in die ihn der Namenlose
Renegat versetzt hatte.
Dutzende der Sonnenflüchter zogen ihre Schwerter,
deren Spitzen wie die Zungen von Schlangen gespalten waren, und
diejenigen, die mit den Blitze schleudernden Metallstäben
ausgestattet waren, richteten diese gegen Sheera und ihre
Gefährten.
Ein Chor schriller, zirpender Geräusche erhob sich
und mischte sich mit dem Schaben der Beißwerkzeuge.
»Kein Kampf!« Gorian legte alle Kraft, die
er aufbringen konnte, in diesen einen Gedanken. Sheera war es
gelungen, zu den Sonnenflüchtern durchzudringen, also würde ihm das
auch gelingen.
Zog Yaal hielt sich hinter Gorian und ließ den
gekrümmten Greifenreiter-Dolch klugerweise stecken. Damit wehren
hätte er sich im Falle eines Angriffs ohnehin nicht gekonnt.
»Warum antwortet ihr nicht?«, fragte Gorian
in Gedanken. »Wir sind auf der Durchreise und wollen nur
unbeschadet von hier fortkommen.«
Noch immer war nicht ein einziger Gedanke der
Sonnenflüchter zu erfassen. Ihre Seelen blieben verschossen.
Dennoch glaubte Gorian erkennen zu können, dass es unter den
Sonnenflüchtern zu einem intensiven Austausch kam.
Einige von ihnen trieben derweil die Herde von
Steinmahren ein Stück weiter. Diese schienen sich kaum beruhigen zu
können, stießen immer wieder gurgelnde Laute aus, und manche von
ihnen würgten halbverdaute Wasserpflanzen aus.
»Ein Gedanke, Gorian! Ein weiterer Gedanke!
Jetzt! Schnell!«, drängte ihn der Namenlose. »Ich glaube,
dass sie dich anhören werden!«
Woraus der Namenlose dies schloss, war Gorian
schleierhaft, und er fragte sich, weshalb der Renegat nicht einfach
mittels Steinreise floh. Dasselbe galt natürlich auch für den
Maskierten, der sich bisher vollkommen ruhig verhielt, so als würde
ihn das Ganze nichts angehen.
»Diese Option halte ich mir für den Notfall
vor«, erklärte der Namenlose und machte dadurch erneut
deutlich, dass er Gorians Gedanken genau verfolgte. »Allerdings
könnten der Maskierte und ich nur jeweils einen von euch auf diese
Flucht mitnehmen, und auch das nur für eine kurze Strecke, so wie
im Massiv von Felsenburg. Wir hätten dann zu entscheiden, wer von
euch für unseren Plan verzichtbar ist, sodass wir ihn zurücklassen
können.«
Die Kälte in den Gedanken des Namenlosen
erschreckte Gorian für einen Moment. Aber er spürte auch etwas
anderes darin.
Furcht.
Inzwischen war es den käferköpfigen Treibern
gelungen, die Steinmahre einigermaßen zu beruhigen. Manche
erstarrten für kurze Zeit wieder zu Stein, nur um Augenblicke
später wieder aus diesem Zustand zu erwachen. Die Treiber befahlen
ihnen offenbar immer wieder, in den versteinerten Zustand
überzugehen. Aber die Steinmahre gehorchten nicht auf Dauer, dafür
waren sie zu aufgeregt. Vielleicht lag
das an der Anwesenheit der Fremden. Oder an dem Ring der magischen
Feuer, die der Maskierte entzündet hatte.
Eine Gasse bildete sich zwischen den käferköpfigen
Kriegern, und aus einem sehr großen Felsblock entwuchs ein
Sonnenflüchter, der inmitten seiner Artgenossen geradezu riesig
wirkte. Er maß in etwa die doppelte Länge eines hochgewachsenen
Mannes. Außerdem hatte er vier Beißwerkzeuge, von denen jedes
länger war als die Klinge eines gewöhnlichen heiligreichischen
Schwertes.
Das Zirpen verstummte ebenso wie das Schaben der
Beißwerkzeuge. Der riesige Sonnenflüchter trat auf Thondarils
Gruppe zu und wandte sich an Gorian.
»Du bist der, der getötet werden muss!«
Das war der erste Gedanke, den Gorian von einem der
Sonnenflüchter empfing. Der Riese, dem offenbar die Rolle des
Anführers zukam, beugte sich etwas herab, die spitzen Enden seiner
Beißwerkzeuge richteten sich auf Gorian und verharrten, so als
wollten sie im nächsten Moment zuschlagen.
Der Gedanke, den er empfangen hatte, war für Gorian
von überraschender Klarheit. Er hatte kaum etwas Fremdartiges und
war bei Weitem nicht so verwirrend wie das, was ihm manchmal Ar-Don
übermittelte.
»Ich bin Gorian«, sagte der Ordensschüler laut.
»Und weder ich noch irgendjemand sonst hier will euch
schaden.«
»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte der
Sonnenflüchter-Riese mit einem sehr eindringlichen Gedanken. Gorian
nahm an, dass ihn auch die anderen empfingen. Bei Sheera war er
sich dessen sogar sicher. Für einen kurzen Moment erreichte ihn ein
Sturm von Bildern. Er selbst kam darin vor. Er sah sich als kleiner
Junge in einem Boot in der thisilischen Bucht,
zusammen mit seinem Vater. Er sah, wie die Schattenreiter Nhorichs
Hof erreichten und den Gargoyle Ar-Don aussandten, um ihn zu töten.
Er sah die verlorene Schlacht um die Ordensburg und dann, wie sich
ihm während des Kampfes am Speerstein von Orxanor sein eigener
Dolch aus Sternenmetall in die Schulter bohrte.
»Jemand hat mir all dieses Wissen gegeben. Es
wurde entnommen aus den Erinnerungen von Lebenden und Toten und
soll mir helfen, dich zu vernichten, denn das zu tun sei
schwer.«
»Warum soll ich vernichtet werden?«, fragte
Gorian.
»Weil du derjenige bist, der getötet werden
muss, damit geschieht, was geschehen soll.«
»Wem dienst du?«
»Niemandem. Darum werde ich auch nicht tun,
was man von mir erwartet.«
»Wer erwartet etwas von dir?«
Zur Antwort erreichte Gorian ein Bild, das
mindestens tausend Schattenreiter zeigte, die durch die Nacht
ritten. Sie schwebten förmlich über die Berge. Die Hufe ihrer
vollkommen dunklen achtbeinigen Riesenpferde berührten kaum den
Boden.
Das war es also, was der Maskierte gemeint hatte,
als er sagte, die Schattenreiter seien im Begriff, nach Verbündeten
zu suchen, die in diesem Landstrich beheimatet waren und die sich
nicht so einfach versklaven ließen, da sie nicht durch Magie
beeinflussbar waren.
Auf irgendeine Weise hatten die Verfolger also
Verbindung zu den Sonnenflüchtern aufgenommen.
Und dann begriff Gorian, was diese Gedankenbilder
eigentlich bedeuteten. »Die Schattenreiter sind auf dem Weg
hierher!«
»Sie bringen Unglück«, erwiderte der
Sonnenflüchter. »Sie
führen einen Krieg, der uns nichts angeht. Was sie tun, ist zu
unserem Nachteil. Ihr Herr verdunkelt die Sonne.«
Gorian war verwirrt. »Ich dachte, es würde euch
entgegenkommen, dass der Schattenbringer die Sonne verdunkelt.
Nennt man euch nicht die Sonnenflüchter?«
»Nur unsere Feinde tun dies. Weil sie es
nicht besser wissen.«
»So stimmt es nicht, dass ihr erst dann aus
eurer Erstarrung erwacht, wenn die Sonne nicht mehr vom Himmel
brennt?«
»Doch, das ist richtig. Bei Dunkelheit finden
unsere Steinmahre keine Ruhe und verlangen immerzu nach dem
Unterseegras, das sie aufquellen lässt. Und auch wir müssen dann
erwachen, weil nur die wärmende Sonne uns den steinernen Schlaf des
Überdauerns ermöglicht.«
»Dann solltet ihr uns helfen, denn wir wollen
verhindern, dass unsere Welt zu einem dunklen, kalten Ort
wird.«
Der Anführer der Sonnenflüchter bewegte hektisch
die Beißwerkzeuge. Vielleicht war das seine Art auszudrücken, dass
ihn Gorians Aussage irritierte. Dann verharrten seine Beißwerkzeuge
wieder, er richtete sich zu voller Größe auf und stemmte die
rechte, beinahe menschlich wirkende Faust in die Hüfte. Als
Einziger der Sonnenflüchter trug er keinerlei Waffen, wohl aber
einen Brustpanzer, auf dem in seinem Fall ein silbernes Amulett
eingelassen war, das an die verschlungenen Schriftzeichen der
Caladran erinnerte.
»Wir stehen auf keiner der beiden Seiten, die
hier einen Krieg führen. Uns interessiert nur unser eigener Krieg,
der noch lange nicht zu Ende ist. Ihr gefährdet unsere Pläne ebenso
wie eure Verfolger.«
Der riesenhafte Sonnenflüchter drehte sich zur
Seite. Seine dunklen, vorgestülpten Augen, in denen sich das
Mondlicht spiegelte, waren für menschliche Begriffe blicklos; es
war nicht zu erkennen, wem gerade seine Aufmerksamkeit
galt. Dann aber wandte er sich eindeutig dem Namenlosen Renegaten
zu. Auch der Gedanke, den er an ihn richtete, war für alle klar und
verständlich: »Alter Feind!«
»Selbst meine Eltern waren noch nicht geboren, als
unsere Völker Krieg gegeneinander führten«, entgegnete der
Namenlose laut.
»Für mich spielt es keine Rolle, ob es deine
Vorfahren waren oder du selbst, der das Schwert gegen uns führte.
Es kann keinen Frieden zwischen uns geben. Stattdessen haben wir
unseren endgültigen Sieg über euch beschlossen.«
»Es existieren nur noch sehr wenige von euch«,
erinnerte ihn der Namenlose. »Euer Volk würde einen erneuten Krieg
nicht überleben. Es wäre besser, wenn ihr euch einem Bündnis aller
Völker gegen Morygor anschließt. Und wenn euch dieser Streit
gleichgültig ist, dann lasst uns zumindest ziehen, anstatt die
Schlachten der Vergangenheit, die längst geschlagen sind, zu
wiederholen.«
»Wir wollen nichts wiederholen. Die
Schlachten der Vergangenheit sind entschieden. Und doch haben wir
den Gedanken an den Sieg nicht aufgegeben. Die Zeit ist unser
stärkster Verbündeter. Ihr mögt euch für eine langlebige Rasse
halten, aber gemessen an unseren Maßstäben ist eure Existenz nur
kurz. Versteinert können wir Ewigkeiten überdauern, gespeist von
der Kraft der Sonne, die uns bescheint. Nur in der Dunkelheit, wenn
wir erwacht sind, altern wir. Eines Tages werden wir uns alles
zurückholen, was man uns weggenommen hat, all die Länder und
Inseln. Die Caladran werden in den Ewigkeiten, in denen wir als
Steine ausharren, längst vergangen sein, und wir werden ihre Ruinen
als Mahnmale herrichten, die an unseren Sieg erinnern. Deine
Vorfahren haben uns niemals wirklich besiegt. Nicht endgültig
jedenfalls. Und jetzt steht es dir frei zu fliehen. An deinem Tod
ist niemand interessiert. Nicht einmal eure Verfolger.«
In diesem Moment ertönte ein Fauchen wie das einer
Wildkatze, und Ar-Don schwang sich auf seinen Schwingen aus der
Greifengondel. Aus einem unbekannten Grund war er aus seiner
Erstarrung erwacht.
»Ah, ein Wesen aus Stein!«, äußerte sich der
Anführer mit einem Gedanken, der interessiertes Staunen
vermittelte. »Eine verwandte Seele!«
Ar-Don drehte eine Runde über dem Tal. »Feinde
kommen! Bedrohung ist nahe!«, empfing Gorian seine Gedanken,
vermischt mit Erinnerungen von Meister Domrich, der in der
Frostfeste so furchtbar gefoltert worden war und dessen Geist
Morygor selbst zu einem Bestandteil von Ar-Don hatte werden lassen.
Es waren Erinnerungen an schreckliche Schmerzen, an unvorstellbare
Qualen, die sich in völlig chaotischen Eindrücken von Furcht, Pein
und todesähnlicher Kälte mitteilten. »Habe Kraft gesammelt …
Habe viel Kraft gesammelt, um den Kampf zu bestehen …«
Das war der einzige klar formulierte Gedanke, der
Gorian noch erreichte. Der Rest war ein wilder Strudel aus Bildern
und Eindrücken, den offenbar auch die Sonnenflüchter wahrzunehmen
vermochten.
Unruhe entstand unter ihnen. Die zirpenden Laute
hoben wieder an, wieder schabten Beißwerkzeuge gegeneinander, und
die gerade einigermaßen erfolgreich in den Steinschlaf versetzten
Steinmahre erwachten erneut aus ihrer Starre und fügten dem
allgemeinen Lärm ihre gurgelnden Geräusche hinzu.
»Das kann nur bedeuten, dass die Schattenreiter
schon sehr nahe sind«, sagte Thondaril düster.
»Wir werden auf eurer Seite kämpfen!«,
verkündete der Anführer der Sonnenflüchter. »Nicht um
euretwillen. Und schon gar nicht um deinetwillen!« Damit
deutete er auf den Namenlosen
Renegaten. »Sondern allein um unserer selbst willen! Denn wenn
sich die Sonne weiter verdunkelt, werden wir unsere Lebenskraft
nicht lange genug aufsparen können, um unsere Feinde in den
Himmelsschiffen zu überdauern. Außerdem ist auch Morygor, der Herr
eurer Verfolger, letztlich ein Caladran, wie schon an der Art
seiner Gedanken zu erkennen ist, mit denen er uns erfolglos
bedrängte.«
»Wenn mein Volk erfährt, dass ich Seite an Seite
mit Sonnenflüchtern gekämpft habe, wird es mich zum zweiten Mal
verstoßen«, murmelte der Namenlose finster. »Aber … das nehme ich
gern in Kauf.«
Ar-Don stieß einen schrillen Ruf aus, während er
ein weiteres Mal eine Runde über das Tal flog.
In diesem Augenblick flammten in den Bergen auf
der anderen Seite des Sees jene magischen Feuer hoch auf, die der
Maskierte entzündet hatte. Immer wieder fauchten die Flammen empor
und sanken dann wieder in sich zusammen.
Dahinter hoben sich die Umrisse von Schattenreitern
auf ihren achtbeinigen Riesenpferden ab; sowohl Reiter als auch
Pferd schienen aus purer Finsternis zu bestehen. Der Bannkreis aus
brennenden Steinen, den der Maskierte um das Tal gezogen hatte,
verfehlte seine Wirkung nicht, denn wenn einer der Reiter
versuchte, zwischen zwei dieser magischen Leuchtfeuer
hindurchzudringen, verbanden sich die grünlich schimmernden Flammen
jeweils von einem Feuer zum anderen und versperrten ihm den Weg. Es
zischte und blitzte grell, wenn die dunklen Krieger von den Flammen
berührt wurden und ihre magischen Kräfte mit jenen zusammentrafen,
die zweifellos in den Leuchtfeuern vorhanden waren.
Aus der Ferne schallten die Stimmen der
Schattenreiter herüber. Menschliche Stimmen, durchfuhr es Gorian.
Aber das war nicht verwunderlich, immerhin waren diese Verdammten
ehemalige Schwertmeister, die nun dazu gezwungen waren, Morygor zu
dienen.
Immer wieder ritten sie gegen die Flammenwände an,
versuchten sie zu überspringen oder einfach hindurchzureiten, doch
sie prallten regelrecht von den sich formierenden Feuerwänden
zurück, wobei jeweils grelle Lichtblitze entstanden, vermischt mit
Entladungen aus Schwarzlicht und dunklem Rauch, der schließlich
ganze Teile des gebirgigen Horizonts einhüllte.
»Was glaubst du, wie lange diese magische Barriere
halten wird?«, wandte sich Torbas an Gorian.
»Das kann ich nun wirklich nicht sagen«, antwortete
Gorian, aber er hatte ein schlechtes Gefühl, und dem Maskierten
schien es ähnlich zu gehen. Auch er wirkte nun beunruhigt, war
aufgestanden und trat zu dem Namenlosen. Gorian nahm an, dass sich
die beiden gedanklich austauschten, ohne irgendjemand anderen daran
teilhaben zu lassen.
Sheera bahnte sich auf einmal einen Weg durch die
dicht beieinanderstehenden Sonnenflüchter. Mit lautem Zirpen
machten sie ihr Platz. Nachdem sie einen von ihnen mit ihrem
Schutzzauber die Kraft seines eigenen Blitzes hatte spüren lassen,
hatten sie einen gewissen Respekt vor ihr, und außerdem hatte der
riesenhafte Anführer ja verkündet, dass er die Fremden als
Verbündete betrachtete.
Sheera erreichte den Greifen. Gorian wunderte sich
darüber, dass sie ihn nicht mit ihren Gedanken in das einbezog, was
auch immer sie vorhatte.
»Sheera?«
Offenbar machte sie sich Sorgen um das riesige
Geschöpf.
Seit sie über zahlreiche Heilsteine ihre Heilkräfte auf diese
Kreatur konzentriert hatte, bestand eine besondere Verbindung
zwischen ihr und dem Greifen. Sie legte die Hände gegen seinen
Kopf, und der Greif stieß einen Laut aus, ohne aus seiner Starre zu
erwachen. Aber diesmal war es kein Laut des Schmerzes, sondern ein
krächzendes Fauchen, wie es Wildgreifen bei ihren Kämpfen um die
Rangfolge innerhalb ihres Schwarms ausstoßen mochten.
Als Sheera ihren Kopf etwas wandte, sah Gorian,
dass ihre Augen vollkommen schwarz waren. Sie konzentrierte ihre
Kräfte in höchstem Maß.
»Was ist mit dem Greifen, Sheera?«
»Ich weiß es nicht. Die Wunden bluten nicht
mehr, aber ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob die Heilmagie der
Caladran ihm wirklich geholfen hat.«
Gorian wusste nicht warum, aber als er Sheeras
vollkommen schwarze Augen sah, musste er unwillkürlich an jenen
Moment denken, als er die Verbindung der schwarzen Lichtfäden
zwischen Sheera und Torbas gesehen hatte.
Inzwischen war das Tal von allen Seiten von
Schattenreitern umzingelt. Sie griffen die magische Barriere
unermüdlich an, und das Aufflammen des magischen Feuers wurde mit
jedem Angriff schwächer. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die
Kräfte der Schattenreiter die Magie des Maskierten überwinden
würden.
Auf einmal aber brachen ihre Attacken ab, und für
eine Weile flackerte keines der Feuer mehr auf.
Gorian nahm jedoch nicht an, dass die Untoten ihr
Ziel aufgegeben hatten. Und tatsächlich – die Schattenreiter
griffen wieder an, stürmten von allen Talseiten gleichzeitig heran,
und ihre Pferde preschten über das unwegsame Gelände. Dieses Mal
aber hielten etliche der Schattenreiter
Fackeln in der Hand, an denen schwarzes Feuer brannte. Dunkler
Rauch quoll von den Flammen, der sich offenbar durch die Kraft der
Magie lenken ließ. Das Gemurmel der Schattenreiter hallte zwischen
den Bergen wider und war im ganzen Tal zu hören, ein Singsang aus
Formeln der Caladran-Magie, die Morygor wohl in seinem Sinne
verändert hatte.
Der Rauch ihrer schwarzen Fackeln zog auf die
magischen Feuer des Maskierten zu, hüllte sie ein und erstickte sie
an einem halben Dutzend Stellen gleichzeitig, und es dauerte nicht
lange, bis weitere Feuer verloschen. Doch erst, als alle
vollständig erstickt waren, überquerten die ersten Schattenreiter
jene Banngrenze, die der Maskierte gesetzt hatte.
Torbas zog sein Schwert. »Jetzt wird es
ernst!«