20
Orawéen
Lange Zeit herrschte nur Leere in ihm. Da war kein
Geist, keine Erinnerung, keine Empfindung und kein Wille
mehr.
»Gorian!«
Ein Gedanke. Ein Name.
Zuerst mutete er ihm fremd an, so wie der Name von
jemandem, den man lange nicht mehr gesehen hat und an den man sich
kaum noch erinnert.
»Gorian, wacht auf!«, drängte ihn erneut ein
Gedanke, von dem er zumindest wusste, dass es nicht sein eigener
war. »Öffnet die Augen, oder Ihr werdet sie vielleicht für immer
geschlossen halten.«
Gorian gehorchte und wurde zunächst von grellem
Licht geblendet. Es dauerte ein wenig, ehe sich sein Blick
klärte.
Eine Gestalt hob sich gegen die Helligkeit ab, die
durch ein Fenster fiel. Dann kehrte Stück für Stück die Erinnerung
zurück. Die Erinnerung an den Kristall, diesen einzigartigen Zugang
zum geheimnisvollen Reich des Geistes der Caladran.
Gorian lag auf einem weichen Lager aus einem ihm
unbekannten Material, das sich bei jeder noch so geringen Bewegung
seinem Körper anpasste.
Er setzte sich auf. Der Raum war hell und sehr
spartanisch
eingerichtet. Das Fenster schien glaslos, was Gorian im ersten
Moment verwunderte. Sollten die edlen Caladran hinsichtlich ihrer
Wohnkultur nicht einmal das Niveau der Westreicher erreicht haben,
deren Glaserkunst in ganz Ost-Erdenrund berühmt war?
»Ihr wisst es besser«, meldete sich die
Gedankenstimme wieder in seinem Kopf. Und tatsächlich, plötzlich
sah er ein schwaches Flimmern in dem offenen Fenster.
Die Gestalt hob die Hand, und das Fenster
verdunkelte sich. Magisches Glas, erkannte Gorian. Fast unsichtbar,
und doch selbst für einen abgeschossenen Armbrustbolzen nicht zu
durchdringen. Auch das gehörte offenbar zu dem Wissen, das er bei
seiner kurzen Berührung mit dem Reich des Geistes in sich
aufgenommen hatte.
Die Gestalt hob sich nicht mehr als dunkler
Schatten gegen die Helligkeit ab, sondern war deutlich
sichtbar.
»Orawéen!«, entfuhr es ihm erstaunt. Ganz gewiss
hatte er nicht damit gerechnet, dass die Königin selbst an seinem
Lager saß, wenn er erwachte. Ein Heiler vielleicht, schließlich war
der Ruf der Caladran auf diesem Gebiet geradezu legendär, aber
nicht die erhabene Gemahlin von König Abrandir.
»Wie geht es Euch, werter Gorian?«, fragte Orawéen.
Sie trug ein anderes Kleid als bei der Begrüßung; es war weiß, aber
aus einem ebenso fließenden Stoff und veränderte sich ebenfalls
ständig. Doch diesmal waren es keine Bilder, die changierten,
sondern Caladran-Runen, die sich immer wieder aufs Neue zu
waagerechten oder senkrechten Zeilen zusammenfanden und manchmal
auch kleine Kolonnen bildeten oder zu Ligaturen verschmolzen. Dabei
änderte sich stets die Bedeutung dessen, was dort stand. Es
erinnerte Gorian an die Runen auf dem Marmor.
Orawéen lächelte. »Es war nicht meine Absicht, Euch
zu verwirren«, sagte sie. »Euer Geist ist schon genug geprüft und
beansprucht worden. Man sollte ihn nicht überreizen.« Sie strich
sich mit einer beiläufigen Geste über das Kleid, es raschelte, und
all die Runen lösten sich auf, sodass nichts weiter zurückblieb als
eine schneeweiße Fläche. »Ihr habt meine Frage noch nicht
beantwortet«, sandte sie ihm wieder einen Gedanken.
Gorian erhob sich. Im ersten Moment fühlten sich
seine Beine schwach an, aber diese Empfindung verflüchtigte sich
rasch, als er nur ein wenig der Alten Kraft sammelte. Er sprach
dazu ein paar Worte, eine Formel. Und erst da fiel ihm auf, dass
die Königin in der Sprache der Caladran zu ihm gesprochen und er
dennoch jedes Wort verstanden hatte. Es war ihm so
selbstverständlich vorgekommen, dass er es gar nicht bemerkt
hatte.
»Es ist ein Glück, dass Ihr noch am Leben seid,
werter Gorian«, sagte Orawéen. »Das Reich des Geistes gehört den
Caladran; für alle anderen ist es sehr gefährlich, sich dorthin zu
begeben. Euch muss der pure Leichtsinn getrieben haben, dass Ihr es
versucht habt.«
»Es war die pure Verlockung«, erwiderte Gorian.
»Ich konnte nicht widerstehen, als ich die Kraft des Kristalls
spürte.«
»Dann werdet Ihr Selbstbeherrschung lernen müssen,
Gorian. Aber vielleicht ist das zu viel verlangt für jemanden, dem
nur ein so kurzes Leben vergönnt ist. Und wer weiß, vielleicht ist
es gerade die aus Eurer Unerfahrenheit geborene Unberechenbarkeit,
die Morygor so sehr fürchtet.«
»Das mag sein.«
»Tut mir einen Gefallen und tut das, was Ihr heute
getan habt, nie wieder. Es würde Euch umbringen.«
»Vielleicht aber würde ich beim zweiten Versuch
auch sehr viel besser mit den Kräften zurechtkommen, die in dem
Kristall wirksam sind. Ehrenwerte Orawéen, ich brauche dieses
Wissen! Ich will die Magie der Caladran erlernen, denn nur so kann
ich Morygors Schicksalslinie kreuzen und vielleicht Erdenrund
retten.«
Orawéen bedachte ihn mit einem nachdenklichen
Blick. »Ihr scheint an Selbstüberschätzung zu leiden.«
»Ich spüre, dass ich schon vieles an Wissen aus dem
Reich des Geistes in mich aufgenommen habe. Wenn ich in mich
hineinhorche, entdecke ich so viel Neues, was dort vorher nicht
war.«
»Ist Euch bewusst, dass auch Morygor die Verbindung
zum Reich des Geistes nie wirklich abgebrochen hat?«
»Der Namenlose Renegat hat es auch nicht vermocht«,
erinnerte sich Gorian.
Orawéen nickte, während Gorian ihrem Blick
standhielt. Einem sehr prüfenden Blick, wie ihm durchaus bewusst
war. »Morygor meidet das Reich des Geistes, damit niemand
Rückschlüsse auf seine finsteren Pläne ziehen kann. Aber kein
Caladran ist imstande, die Verbindung zum Reich des Geistes
endgültig abzubrechen, auch wenn für ihn immer die Gefahr besteht,
dass er etwas von sich selbst und seinen Gedanken und Absichten
ungewollt preisgibt. Daher wissen wir auch, wie sehr Morygor Euch
fürchtet. Mehr als alles andere auf der Welt. Aber bisher ist jener
Schicksalsweg, auf dem Ihr ihm zum Verhängnis werden könntet,
nichts weiter als eine Möglichkeit, die noch weit davon entfernt
ist, Gewissheit zu werden.«
»Das mag sein, und darum muss ich die
Caladran-Magie so beherrschen wie einer aus Eurem Volk, denn nur
dann kann ich Morygor auf Augenhöhe begegnen.«
»So einfach wird das nicht sein, Gorian. Wir alle
sind erstaunt darüber, dass Ihr diesen törichten Versuch überhaupt
überlebt habt und auch nicht in einen Zustand geistiger Umnachtung
gefallen seid. Die einzige Erklärung dafür ist Euer einzigartiges
Talent. Zumindest für menschliche Begriffe ist es einzigartig. Aber
jetzt solltet Ihr Euch erholen. Unsere Beratungen hinsichtlich des
Weges, den wir in Zukunft einschlagen, werden noch eine Weile
andauern. Ihr müsst wissen, dass wir Caladran nicht gerade ein
besonders entscheidungsfreudiges Volk sind.«
»In dieser Situation ist das mehr als bedauerlich«,
entgegnete Gorian, und Enttäuschung schwang unüberhörbar in seinen
Worten mit.
Orawéen bewegte sich in Richtung Tür. Ihr
fließendes Gewand raschelte dabei auf ganz besondere Weise.
»Wartet!«, forderte er. »Ich möchte genau wissen,
was geschehen ist. Und was es mit diesem Kristall auf sich
hat.«
»Später«, verweigerte sie ihm zunächst die
Auskunft.
Gorian sprach weiter, als hätte er ihre Antwort
überhört. »Und ich muss wissen, was für eine magische Apparatur auf
der Insel Pela errichtet wird. Könnte sie uns helfen, Morygors
Einfluss zurückzudrängen und vor allem den Schattenbringer zu
vertreiben?«
Ein Ruck durchfuhr Orawéens schlanken Leib. Sie
drehte sich herum, und ihr sehr ebenmäßiges Gesicht zeigte zum
ersten Mal einen Ausdruck des Erstaunens. »Von dem Geheimnis auf
Pela könnt Ihr nicht aus dem Reich des Geistes oder von seinen
Abstrahlungen erfahren haben«, stellte sie in Gedanken fest.
»Vielleicht seid Ihr sogar noch unberechenbarer, als wir alle
bisher dachten. Und möglicherweise haben wir diesen Faktor nicht
gebührend in unsere Überlegungen miteinbezogen. Eure Kraft und Euer
Potenzial scheinen die unserer Magier und Schamanen
zu übertreffen, vorausgesetzt man schöpft die verborgenen
Möglichkeiten aus.«
»Also gut«, sagte sie dann laut. »Ihr sollt
erfahren, was mit Euch geschehen und wie die Lage im Moment ist.
Ihr scheint keine Schonung zu brauchen.«
»Sagt mir alles über diesen Kristall«, verlangte
Gorian, denn der Zugang zum Reich des Geistes erschien ihm am
wichtigsten zu sein.
»Einst lebten unsere Vorfahren auf dem Kontinent im
Westen, den Ihr West-Erdenrund nennt, während wir ihn das
Zwischenland nennen – oder auch das Falsche Bathranor.«
»Das Falsche Bathranor …«, murmelte Gorian.
»Unser Volk suchte nach den Gestaden der Erfüllten
Hoffnung. Bathranor. Und für eine Weile glaubten einige unserer
Vorfahren, es dort im Westen gefunden zu haben.«
»Und noch heute nennt ihr Caladran diesen Kontinent
so.«
»Nach Meinung mancher Caladran beruht das auf einem
Irrtum. Aber der Name blieb. Unsere Vorfahren lebten dort unter der
Herrschaft von Fürst Bolandor, in einem Reich, in dem die Zeit
langsamer als überall sonst verging, weil die Bewohner dieses
Landes mit den Geistern ihrer Vorfahren lebten. Ein Magier namens
Andir, der als Erster das Reich des Geistes fand und dort viele
Jahre verweilte, schuf nach vielen Versuchen den Kristall, den Ihr
in der Halle des Geistes gesehen habt. Alles, was unsere Vorfahren
und Nachkommen je an Erkenntnis gewonnen haben oder noch gewinnen,
sollte in diesem Kristall bewahrt werden.«
»Das gesammelte Wissen Eures Volkes.«
»Der Magier Andir wollte, dass dieses Wissen die
Zeiten überdauert und allen Caladran zur Verfügung steht. Bevor er
endgültig in das Reich des Geistes einging, übergab er
den Kristall Fürst Bolandor. In dessen Reich, in dem die Zeit
langsamer verging, glaubte Andir dieses Artefakt am
sichersten.«
»Und wie ist es hierhergelangt?«, fragte Gorian.
»Die Gedankenstimmen machten darüber nur dunkle Andeutungen.«
Orawéen lächelte huldvoll. Ein Lächeln, das von
einer ganz besonderen Mischung aus Überlegenheit und Nachsicht
geprägt war. »Na, was glaubt Ihr wohl? Natürlich war es Raub. Aber
das wird selten erwähnt, weil kein Geringerer als der Erbauer der
Himmelsschiffe darin verwickelt war, unser allererster König und
der Vorfahr meines Gemahls. Doch die Wahrheit ist nun einmal die
Wahrheit. Ihre Folgen sind auch dann spürbar, wenn man sie
ignoriert.«
»Caladir!«, erkannte Gorian. »Ihr sprecht vom
ruhmreichen Caladir! Er hat den Kristall geraubt!«
»Ja. Er war der Sohn von Fürst Bolandor, den dieser
noch in einem Alter zeugte, das selbst für unser Volk sehr hoch
ist. Ein Sohn der Freude, so hat er ihn genannt, aber er sollte
nicht viel Freude an ihm haben. Caladir war das Leben in einem
Reich, in dem die Zeit nahezu stillsteht, leid. Und vor allem hatte
er den Traum nicht aufgegeben, irgendwann das Wahre Bathranor zu
finden.«
»Er schuf den Zauber der Gewichtslosigkeit«,
murmelte Gorian, denn manches, was zuvor nur ein wüstes Konglomerat
aus Bildern, Eindrücken, Worten und Kolonnen von Runen gewesen und
aus dem Reich des Geistes auf ihn abgestrahlt war, wurde nun
klarer, das Wissen ordnete sich.
»Dass Caladir den Zauber der Gewichtslosigkeit als
Erster entdeckte, möchten seine Nachfahren gern glauben, und mein
Gemahl bildet da keine Ausnahme«, erklärte Orawéen. »Aber in
Wahrheit entdeckte er den Zauber der Gewichtslosigkeit
wieder – und auch die Kunst, Himmelsschiffe zu bauen. Denn
beides gab es schon in einer sehr fernen Vergangenheit.«
»Ich nehme an, dass er mithilfe des Kristalls
darauf gekommen ist«, vermutete Gorian.
»Natürlich. Durch den Kristall hatte er Zugang zum
Reich des Geistes und zum verlorenen Wissen der Ahnen. Und zu ihrer
mächtigen Magie, die im Lauf der Zeitalter immer schwächer wurde
und nur noch ein müder Abklatsch ihrer einstigen Stärke war. Er
musste nur lange genug suchen, um zu finden, was er brauchte – aber
da unser Volk mit einer langen Lebensspanne gesegnet ist, können
wir es uns leisten, viel Zeit mit der Suche nach mitunter auch
nutzlosen Erkenntnissen zu verbringen. Es kam, wie es kommen
musste. Caladir brach mit einer Schar Getreuen – den Caladran –
nach Westen auf, um das Wahre Bathranor zu finden. Aber zuvor stahl
er den Kristall des Andir und vertauschte ihn mittels des Zaubers
der Zweiheit mit einem wertlosen Ebenbild.«
»Und als er mit seinen Himmelsschiffen diese Inseln
erreichte und die Sonnenflüchter vertrieben hatte, wurde er der
erste König der Caladran.«
»Aber er blieb es nicht lange. Und genau da liegt
der Grund für eines von mehreren tiefgehenden Zerwürfnissen, die
unser Volk bis heute durchziehen. Caladir glaubte schon sehr bald
nicht mehr daran, dass diese Inseln oder der dazugehörige
Kontinent, den Ihr Ost-Erdenrund nennt, das Wahre Bathranor waren.
Und so traf er Vorbereitungen für eine noch weitere Reise. Eine
Reise, die es in dieser Form noch nie gegeben hatte und die nicht
einmal im Reich des Geistes existierte.«
»Die Reise zu den Sternen! Ich dachte, das wäre
eine Legende.«
»Selbst in unserem Volk herrscht darüber keine
Einigkeit, und im Reich des Geistes findet man sowohl die
Bestätigung als auch die Widerlegung dieses Gedankens. Aber es
heißt, dass Caladir den Sternenflug erfand und schließlich die
Herrschaft an einen seiner Söhne abgab. Danach brach er mit seinen
Getreuen in das Reich der Fernen Sterne auf, um dort das Wahre
Bathranor zu finden, da es auf Erdenrund offenbar nicht existierte.
Zwölf Schiffe sollen damals in den Nachthimmel gestiegen sein. Von
keinem hat man je wieder gehört, und ihre Spuren im Reich des
Geistes sind schwach. Mag sein, dass dies an den großen
Entfernungen liegt, die diese Schiffe zurückgelegt haben,
vorausgesetzt sie sind nicht doch nur Erfindungen der
Legendenweber. Vielleicht sind Caladir und seine Himmelsfahrer aber
auch den Gefahren in den Weiten des Polyversums zum Opfer gefallen.
Tatsache ist, dass angesichts der Bedrohung, die Morygors
Frostreich auch für uns darstellt, ein immer größerer Teil von uns
denkt, es wäre das Beste, die Kunst des Sternenflugs
wiederzuentdecken. Auch unser Oberster Magier vertritt diese
Meinung. Er sucht ständig im Reich des Geistes nach jenen
Erkenntnissen, die Caladir dazu befähigten, mit den Himmelsschiffen
Erdenrund zu verlassen.«
»Die edlen Caladran wollen sich einfach so
davonmachen und ganz Erdenrund sich selbst überlassen?«, fragte
Gorian fassungslos. »Ich gebe zu, dass ich davon bereits gehört
habe, bevor ich nach Caladrania gelangte, aber es fällt mir schwer
zu glauben, dass es tatsächlich so sein soll.«
»Wir sind ein Volk, das nicht nur zum Gleichmut,
sondern auch zur Gleichgültigkeit neigt«, stellte Orawéen
klar.
»So ist Euch das Schicksal aller anderen Geschöpfe
auf Erdenrund egal?«
»Wir beschäftigen uns vorwiegend mit den Pfaden
unseres eigenen Schicksals«, gab die Königin kühl zurück. »Das
heißt nicht, dass wir kein Mitgefühl hätten.«
»Aber es scheint nicht besonders ausgeprägt«,
stellte Gorian fest.
»Wie gesagt, ein Teil von uns denkt daran,
Erdenrund zu verlassen. Mein Gemahl allerdings ist in diesem Punkt
anderer Ansicht. Er glaubt nicht, dass eine Wiederentdeckung des
Sternenflugs schnell genug möglich ist, um uns zu retten. Die
Spuren von Caladir sind sehr stark im Reich des Geistes, die seiner
Erkenntnisse über den Sternenflug aber erschreckend schwach. Das
ganze Vorhaben würde noch dadurch erschwert, dass wir nicht die
Macht haben, Morygor den Zugang zum Reich des Geistes zu verwehren.
Er würde solche Pläne gewiss hintertreiben. Auch deshalb denkt
Abrandir durchaus daran, sich dem Bündnis gegen Morygor
anzuschließen.«
»Das beruhigt mich«, bestand Gorian offen.
»Und Ihr werdet vielleicht der entscheidende Faktor
dabei sein. Ihr und Euer Freund Torbas, wobei Letzterer ein etwas
unsicherer Kandidat ist. Meinem Gemahl ist Euer Potenzial gleich
aufgefallen. Schon das, was der Renegat uns durch das Reich des
Geistes übermittelte, war vielversprechend. Ich persönlich bin
überrascht, dass es außerhalb des Volkes der Caladran so viel
Begabung gibt. Aber es hat ja auch in der Vergangenheit immer
wieder Völker gegeben, deren Magier mit den unseren vergleichbar
waren.«
Ihr Blick richtete sich auf einen Tisch, eines der
wenigen Möbelstücke im Raum. Darauf waren neben einigen anderen
persönlichen Dingen von Gorian auch seine Waffen abgelegt, Rächer
und Sternenklinge.
Sie lächelte mild. »Offenbar könnt Ihr Eure Kraft
noch
nicht ohne primitive Werkzeuge der Sammlung gänzlich
ausschöpfen. Doch das ist nicht weiter schlimm. Es gibt keine
besseren Instrumente als jene, die aus Sternenmetall gefertigt
wurden. Und doch sind diese Werkzeuge von unterschiedlicher
Qualität.«
»So?«
Sie sah Gorian an. »Mein Gemahl glaubt, dass es
mithilfe der richtigen Kräfte, konzentriert in die richtigen
Instrumente, möglich sein müsste, die Gestirne zu verändern und den
Schattenbringer ebenso zu bewegen, wie Morygor es tut.«
»Und glaubt auch Ihr dies?«, fragte Gorian
erstaunt.
»Ich war mir anfangs nicht sicher, vor allem nicht
hinsichtlich Euch und Eurer inneren Stärke.«
»Aber jetzt seid Ihr es?«
Sie nickte. »Was Euch angeht, ja. Was Euren Freund
Torbas betrifft, nein. Aber Eure beiden Schicksale sind nun einmal
untrennbar miteinander verwoben, das steht fest.«
»Was wird jetzt geschehen?«, fragte Gorian.
»Ihr werdet abwarten müssen. So schwer es Euch
fällt. Und vielleicht werdet Ihr tatsächlich noch einmal das Reich
des Wissens betreten müssen, um die Magie der Caladran in Euch
aufzunehmen, so wie es Euer Wunsch ist. Ihr wärt dann für die
eigentliche Prüfung, die Euch bevorsteht, zweifellos besser
gewappnet – aber vielleicht auch tot oder wahnsinnig.«
»Ich scheue das Risiko nicht.«
»Nein.« Sie lächelte. »Aber es wird sich noch
erweisen, ob Euch das zum Helden oder zum Narren macht.«
»Lasst mich zum Kristall!«, verlangte Gorian.
»Später vielleicht.« Sie ging erneut zur Tür, blieb
dann noch einmal stehen und drehte sich halb herum. »Eines solltet
Ihr noch wissen: Die Heilkunst der Caladran wäre in Eurem Fall
machtlos gewesen, denn wir wissen zu wenig über die Natur anderer
Völker. Wärt Ihr nicht gestorben, hättet Ihr zumindest unter
dauerhaftem Wahn gelitten, hätte nicht jemand anderes Euch geheilt
…«
»Sheera!«
»… und sich möglicherweise für Euch
geopfert.«
»Geopfert?«, wiederholte Gorian entsetzt.
»Ist Euch nicht bewusst, dass ein Heiler einen Teil
des Übels in sich aufnehmen muss, das er bekämpft? Zumindest wenn
dieses mit Magie zu tun hat.«
»Doch, aber …«
»Ein Teil dessen, was Ihr aus dem Reich des Geistes
in Euch aufgenommen habt, ist auch in sie geströmt. Auch ihr
Potenzial ist ungewöhnlich hoch für eine Angehörige Eures Volkes,
aber sie hat nicht Eure Stärke.«
»Wo ist sie?« Er versuchte gedanklich Verbindung zu
ihr aufzunehmen. »Sheera!«
Aber er erhielt keine Antwort.
»Sie ist sehr schwach«, erklärte ihm Orawéen. »Und
niemand weiß, ob ihr verbleibendes kurzes Leben ausreicht, um ihre
geistige Gesundheit wiederherzustellen. Ich hatte Euch das
eigentlich nicht sagen wollen, bis Ihr selbst …«
»Bringt mich zu ihr!«, unterbrach er sie.
Sheera befand sich in einem Raum, dessen Zentrum
auf den ersten Blick wie ein Springbrunnen aussah. Beim zweiten
Blick fiel jedoch der Unterschied auf: Es handelte sich um eine in
ständiger Bewegung befindliche Skulptur aus Wasser, die fortwährend
wechselnde Szenen und Gesichter in einer Klarheit und Naturgetreue
nachbildete, wie kein menschlicher Bildhauer es vermocht hätte. Die
Kraft der
Magie hielt das Wasser in seiner Form – wie so vieles andere im
Stadtbaum von Caladrania.
Sheera saß auf der mit Ornamenten verzierten
Begrenzungsmauer der Wasserskulptur und schien Gorian zunächst gar
nicht zu bemerken, zu sehr war sie in ihre eigenen Gedanken
vertieft. Der Blick war starr und verlor sich in der
Wasserskulptur.
»Sheera!«
Offenbar hatte sie sich in ihren Gedanken
vollkommen verschlossen, denn sie vernahm seinen Ruf nicht.
Er setzte sich zu ihr und berührte sie an der
Schulter, und erst da schien sie seine Gegenwart zu bemerken. Sie
wandte langsam den Kopf.
Die Skulptur begann sich daraufhin zu verformen,
zunächst war nichts mehr zu erkennen, dann entstand ein Abbild
Gorians.
»Was hast du nur getan?«, murmelte sie.
»Wovon sprichst du?«
Sie antwortete nicht. Dass ihre Augen permanent von
purer Finsternis erfüllt waren, konnte nur bedeuten, dass sie die
Alte Kraft in sich sammelte und unter einer andauernden Anspannung
stand.
Die Wasserskulptur veränderte sich erneut. Gorians
Gesicht zerfloss, und das Wasser bildete das Gesicht eines jungen
Caladran. Ein Gesicht, das Gorian nur allzu gut kannte.
»Morygor!«, murmelte er.
»Es war so schrecklich, Gorian …«
»Was ist geschehen?«
»Ich bin ihm begegnet.«
»Aber …«
»Ich weiß nicht, was alles aus dem so genannten
Reich des Geistes mittels dieses Kristalls in dich eingedrungen ist
und deine Seele vergiftet hat, aber da war auch Morygor. Ich bin
mir ganz sicher.«
»Er ist ein Teil dieses Geistreichs und wird es
wohl auch immer bleiben, selbst wenn es gelingen sollte, seine
Schicksalslinie und seine Herrschaft zu beenden«, war Gorian
überzeugt.
»Warum hast du das getan? Warum hast du dich mit
all diesen Dingen verbunden? All dieser Magie, all diesem Wissen,
all diesen Worten und Bildern, die einen den Verstand verlieren
lassen?«
Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.
»Weil es sein musste«, antwortete er. »Ich muss die Magie der
Caladran beherrschen, um Morygor besiegen zu können.«
»Das bedeutet, du wirst erneut die Verbindung über
den Kristall suchen.«
»Ich habe keine Wahl.«
»Ich werde dich vielleicht nicht noch einmal heilen
können. Meine Kraft ist so erschöpft wie niemals zuvor, nicht mal,
nachdem wir aus dem Frostreich zurückkehrten. Ich habe wirre
Gedanken und weiß manchmal nicht mal mehr meinen Namen. Nur wenn
ich genug an Alter Kraft sammle, kann ich meine Seele einigermaßen
zusammenhalten.« Tränen glitzerten in ihren schwarzen Augen.
Gorian nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich
an ihn. Er strich ihr übers Haar und spürte den Schlag ihres
Herzens. Und doch hatte er in diesem Augenblick das Gefühl, dass
sie weiter voneinander entfernt waren denn je.