021
20
Orawéen
Lange Zeit herrschte nur Leere in ihm. Da war kein Geist, keine Erinnerung, keine Empfindung und kein Wille mehr.
»Gorian!«
Ein Gedanke. Ein Name.
Zuerst mutete er ihm fremd an, so wie der Name von jemandem, den man lange nicht mehr gesehen hat und an den man sich kaum noch erinnert.
»Gorian, wacht auf!«, drängte ihn erneut ein Gedanke, von dem er zumindest wusste, dass es nicht sein eigener war. »Öffnet die Augen, oder Ihr werdet sie vielleicht für immer geschlossen halten.«
Gorian gehorchte und wurde zunächst von grellem Licht geblendet. Es dauerte ein wenig, ehe sich sein Blick klärte.
Eine Gestalt hob sich gegen die Helligkeit ab, die durch ein Fenster fiel. Dann kehrte Stück für Stück die Erinnerung zurück. Die Erinnerung an den Kristall, diesen einzigartigen Zugang zum geheimnisvollen Reich des Geistes der Caladran.
Gorian lag auf einem weichen Lager aus einem ihm unbekannten Material, das sich bei jeder noch so geringen Bewegung seinem Körper anpasste.
Er setzte sich auf. Der Raum war hell und sehr spartanisch eingerichtet. Das Fenster schien glaslos, was Gorian im ersten Moment verwunderte. Sollten die edlen Caladran hinsichtlich ihrer Wohnkultur nicht einmal das Niveau der Westreicher erreicht haben, deren Glaserkunst in ganz Ost-Erdenrund berühmt war?
»Ihr wisst es besser«, meldete sich die Gedankenstimme wieder in seinem Kopf. Und tatsächlich, plötzlich sah er ein schwaches Flimmern in dem offenen Fenster.
Die Gestalt hob die Hand, und das Fenster verdunkelte sich. Magisches Glas, erkannte Gorian. Fast unsichtbar, und doch selbst für einen abgeschossenen Armbrustbolzen nicht zu durchdringen. Auch das gehörte offenbar zu dem Wissen, das er bei seiner kurzen Berührung mit dem Reich des Geistes in sich aufgenommen hatte.
Die Gestalt hob sich nicht mehr als dunkler Schatten gegen die Helligkeit ab, sondern war deutlich sichtbar.
»Orawéen!«, entfuhr es ihm erstaunt. Ganz gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass die Königin selbst an seinem Lager saß, wenn er erwachte. Ein Heiler vielleicht, schließlich war der Ruf der Caladran auf diesem Gebiet geradezu legendär, aber nicht die erhabene Gemahlin von König Abrandir.
»Wie geht es Euch, werter Gorian?«, fragte Orawéen. Sie trug ein anderes Kleid als bei der Begrüßung; es war weiß, aber aus einem ebenso fließenden Stoff und veränderte sich ebenfalls ständig. Doch diesmal waren es keine Bilder, die changierten, sondern Caladran-Runen, die sich immer wieder aufs Neue zu waagerechten oder senkrechten Zeilen zusammenfanden und manchmal auch kleine Kolonnen bildeten oder zu Ligaturen verschmolzen. Dabei änderte sich stets die Bedeutung dessen, was dort stand. Es erinnerte Gorian an die Runen auf dem Marmor.
Orawéen lächelte. »Es war nicht meine Absicht, Euch zu verwirren«, sagte sie. »Euer Geist ist schon genug geprüft und beansprucht worden. Man sollte ihn nicht überreizen.« Sie strich sich mit einer beiläufigen Geste über das Kleid, es raschelte, und all die Runen lösten sich auf, sodass nichts weiter zurückblieb als eine schneeweiße Fläche. »Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet«, sandte sie ihm wieder einen Gedanken.
Gorian erhob sich. Im ersten Moment fühlten sich seine Beine schwach an, aber diese Empfindung verflüchtigte sich rasch, als er nur ein wenig der Alten Kraft sammelte. Er sprach dazu ein paar Worte, eine Formel. Und erst da fiel ihm auf, dass die Königin in der Sprache der Caladran zu ihm gesprochen und er dennoch jedes Wort verstanden hatte. Es war ihm so selbstverständlich vorgekommen, dass er es gar nicht bemerkt hatte.
»Es ist ein Glück, dass Ihr noch am Leben seid, werter Gorian«, sagte Orawéen. »Das Reich des Geistes gehört den Caladran; für alle anderen ist es sehr gefährlich, sich dorthin zu begeben. Euch muss der pure Leichtsinn getrieben haben, dass Ihr es versucht habt.«
»Es war die pure Verlockung«, erwiderte Gorian. »Ich konnte nicht widerstehen, als ich die Kraft des Kristalls spürte.«
»Dann werdet Ihr Selbstbeherrschung lernen müssen, Gorian. Aber vielleicht ist das zu viel verlangt für jemanden, dem nur ein so kurzes Leben vergönnt ist. Und wer weiß, vielleicht ist es gerade die aus Eurer Unerfahrenheit geborene Unberechenbarkeit, die Morygor so sehr fürchtet.«
»Das mag sein.«
»Tut mir einen Gefallen und tut das, was Ihr heute getan habt, nie wieder. Es würde Euch umbringen.«
»Vielleicht aber würde ich beim zweiten Versuch auch sehr viel besser mit den Kräften zurechtkommen, die in dem Kristall wirksam sind. Ehrenwerte Orawéen, ich brauche dieses Wissen! Ich will die Magie der Caladran erlernen, denn nur so kann ich Morygors Schicksalslinie kreuzen und vielleicht Erdenrund retten.«
Orawéen bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Ihr scheint an Selbstüberschätzung zu leiden.«
»Ich spüre, dass ich schon vieles an Wissen aus dem Reich des Geistes in mich aufgenommen habe. Wenn ich in mich hineinhorche, entdecke ich so viel Neues, was dort vorher nicht war.«
»Ist Euch bewusst, dass auch Morygor die Verbindung zum Reich des Geistes nie wirklich abgebrochen hat?«
»Der Namenlose Renegat hat es auch nicht vermocht«, erinnerte sich Gorian.
Orawéen nickte, während Gorian ihrem Blick standhielt. Einem sehr prüfenden Blick, wie ihm durchaus bewusst war. »Morygor meidet das Reich des Geistes, damit niemand Rückschlüsse auf seine finsteren Pläne ziehen kann. Aber kein Caladran ist imstande, die Verbindung zum Reich des Geistes endgültig abzubrechen, auch wenn für ihn immer die Gefahr besteht, dass er etwas von sich selbst und seinen Gedanken und Absichten ungewollt preisgibt. Daher wissen wir auch, wie sehr Morygor Euch fürchtet. Mehr als alles andere auf der Welt. Aber bisher ist jener Schicksalsweg, auf dem Ihr ihm zum Verhängnis werden könntet, nichts weiter als eine Möglichkeit, die noch weit davon entfernt ist, Gewissheit zu werden.«
»Das mag sein, und darum muss ich die Caladran-Magie so beherrschen wie einer aus Eurem Volk, denn nur dann kann ich Morygor auf Augenhöhe begegnen.«
»So einfach wird das nicht sein, Gorian. Wir alle sind erstaunt darüber, dass Ihr diesen törichten Versuch überhaupt überlebt habt und auch nicht in einen Zustand geistiger Umnachtung gefallen seid. Die einzige Erklärung dafür ist Euer einzigartiges Talent. Zumindest für menschliche Begriffe ist es einzigartig. Aber jetzt solltet Ihr Euch erholen. Unsere Beratungen hinsichtlich des Weges, den wir in Zukunft einschlagen, werden noch eine Weile andauern. Ihr müsst wissen, dass wir Caladran nicht gerade ein besonders entscheidungsfreudiges Volk sind.«
»In dieser Situation ist das mehr als bedauerlich«, entgegnete Gorian, und Enttäuschung schwang unüberhörbar in seinen Worten mit.
Orawéen bewegte sich in Richtung Tür. Ihr fließendes Gewand raschelte dabei auf ganz besondere Weise.
»Wartet!«, forderte er. »Ich möchte genau wissen, was geschehen ist. Und was es mit diesem Kristall auf sich hat.«
»Später«, verweigerte sie ihm zunächst die Auskunft.
Gorian sprach weiter, als hätte er ihre Antwort überhört. »Und ich muss wissen, was für eine magische Apparatur auf der Insel Pela errichtet wird. Könnte sie uns helfen, Morygors Einfluss zurückzudrängen und vor allem den Schattenbringer zu vertreiben?«
Ein Ruck durchfuhr Orawéens schlanken Leib. Sie drehte sich herum, und ihr sehr ebenmäßiges Gesicht zeigte zum ersten Mal einen Ausdruck des Erstaunens. »Von dem Geheimnis auf Pela könnt Ihr nicht aus dem Reich des Geistes oder von seinen Abstrahlungen erfahren haben«, stellte sie in Gedanken fest. »Vielleicht seid Ihr sogar noch unberechenbarer, als wir alle bisher dachten. Und möglicherweise haben wir diesen Faktor nicht gebührend in unsere Überlegungen miteinbezogen. Eure Kraft und Euer Potenzial scheinen die unserer Magier und Schamanen zu übertreffen, vorausgesetzt man schöpft die verborgenen Möglichkeiten aus.«
»Also gut«, sagte sie dann laut. »Ihr sollt erfahren, was mit Euch geschehen und wie die Lage im Moment ist. Ihr scheint keine Schonung zu brauchen.«
»Sagt mir alles über diesen Kristall«, verlangte Gorian, denn der Zugang zum Reich des Geistes erschien ihm am wichtigsten zu sein.
»Einst lebten unsere Vorfahren auf dem Kontinent im Westen, den Ihr West-Erdenrund nennt, während wir ihn das Zwischenland nennen – oder auch das Falsche Bathranor.«
»Das Falsche Bathranor …«, murmelte Gorian.
»Unser Volk suchte nach den Gestaden der Erfüllten Hoffnung. Bathranor. Und für eine Weile glaubten einige unserer Vorfahren, es dort im Westen gefunden zu haben.«
»Und noch heute nennt ihr Caladran diesen Kontinent so.«
»Nach Meinung mancher Caladran beruht das auf einem Irrtum. Aber der Name blieb. Unsere Vorfahren lebten dort unter der Herrschaft von Fürst Bolandor, in einem Reich, in dem die Zeit langsamer als überall sonst verging, weil die Bewohner dieses Landes mit den Geistern ihrer Vorfahren lebten. Ein Magier namens Andir, der als Erster das Reich des Geistes fand und dort viele Jahre verweilte, schuf nach vielen Versuchen den Kristall, den Ihr in der Halle des Geistes gesehen habt. Alles, was unsere Vorfahren und Nachkommen je an Erkenntnis gewonnen haben oder noch gewinnen, sollte in diesem Kristall bewahrt werden.«
»Das gesammelte Wissen Eures Volkes.«
»Der Magier Andir wollte, dass dieses Wissen die Zeiten überdauert und allen Caladran zur Verfügung steht. Bevor er endgültig in das Reich des Geistes einging, übergab er den Kristall Fürst Bolandor. In dessen Reich, in dem die Zeit langsamer verging, glaubte Andir dieses Artefakt am sichersten.«
»Und wie ist es hierhergelangt?«, fragte Gorian. »Die Gedankenstimmen machten darüber nur dunkle Andeutungen.«
Orawéen lächelte huldvoll. Ein Lächeln, das von einer ganz besonderen Mischung aus Überlegenheit und Nachsicht geprägt war. »Na, was glaubt Ihr wohl? Natürlich war es Raub. Aber das wird selten erwähnt, weil kein Geringerer als der Erbauer der Himmelsschiffe darin verwickelt war, unser allererster König und der Vorfahr meines Gemahls. Doch die Wahrheit ist nun einmal die Wahrheit. Ihre Folgen sind auch dann spürbar, wenn man sie ignoriert.«
»Caladir!«, erkannte Gorian. »Ihr sprecht vom ruhmreichen Caladir! Er hat den Kristall geraubt!«
»Ja. Er war der Sohn von Fürst Bolandor, den dieser noch in einem Alter zeugte, das selbst für unser Volk sehr hoch ist. Ein Sohn der Freude, so hat er ihn genannt, aber er sollte nicht viel Freude an ihm haben. Caladir war das Leben in einem Reich, in dem die Zeit nahezu stillsteht, leid. Und vor allem hatte er den Traum nicht aufgegeben, irgendwann das Wahre Bathranor zu finden.«
»Er schuf den Zauber der Gewichtslosigkeit«, murmelte Gorian, denn manches, was zuvor nur ein wüstes Konglomerat aus Bildern, Eindrücken, Worten und Kolonnen von Runen gewesen und aus dem Reich des Geistes auf ihn abgestrahlt war, wurde nun klarer, das Wissen ordnete sich.
»Dass Caladir den Zauber der Gewichtslosigkeit als Erster entdeckte, möchten seine Nachfahren gern glauben, und mein Gemahl bildet da keine Ausnahme«, erklärte Orawéen. »Aber in Wahrheit entdeckte er den Zauber der Gewichtslosigkeit wieder – und auch die Kunst, Himmelsschiffe zu bauen. Denn beides gab es schon in einer sehr fernen Vergangenheit.«
»Ich nehme an, dass er mithilfe des Kristalls darauf gekommen ist«, vermutete Gorian.
»Natürlich. Durch den Kristall hatte er Zugang zum Reich des Geistes und zum verlorenen Wissen der Ahnen. Und zu ihrer mächtigen Magie, die im Lauf der Zeitalter immer schwächer wurde und nur noch ein müder Abklatsch ihrer einstigen Stärke war. Er musste nur lange genug suchen, um zu finden, was er brauchte – aber da unser Volk mit einer langen Lebensspanne gesegnet ist, können wir es uns leisten, viel Zeit mit der Suche nach mitunter auch nutzlosen Erkenntnissen zu verbringen. Es kam, wie es kommen musste. Caladir brach mit einer Schar Getreuen – den Caladran – nach Westen auf, um das Wahre Bathranor zu finden. Aber zuvor stahl er den Kristall des Andir und vertauschte ihn mittels des Zaubers der Zweiheit mit einem wertlosen Ebenbild.«
»Und als er mit seinen Himmelsschiffen diese Inseln erreichte und die Sonnenflüchter vertrieben hatte, wurde er der erste König der Caladran.«
»Aber er blieb es nicht lange. Und genau da liegt der Grund für eines von mehreren tiefgehenden Zerwürfnissen, die unser Volk bis heute durchziehen. Caladir glaubte schon sehr bald nicht mehr daran, dass diese Inseln oder der dazugehörige Kontinent, den Ihr Ost-Erdenrund nennt, das Wahre Bathranor waren. Und so traf er Vorbereitungen für eine noch weitere Reise. Eine Reise, die es in dieser Form noch nie gegeben hatte und die nicht einmal im Reich des Geistes existierte.«
»Die Reise zu den Sternen! Ich dachte, das wäre eine Legende.«
»Selbst in unserem Volk herrscht darüber keine Einigkeit, und im Reich des Geistes findet man sowohl die Bestätigung als auch die Widerlegung dieses Gedankens. Aber es heißt, dass Caladir den Sternenflug erfand und schließlich die Herrschaft an einen seiner Söhne abgab. Danach brach er mit seinen Getreuen in das Reich der Fernen Sterne auf, um dort das Wahre Bathranor zu finden, da es auf Erdenrund offenbar nicht existierte. Zwölf Schiffe sollen damals in den Nachthimmel gestiegen sein. Von keinem hat man je wieder gehört, und ihre Spuren im Reich des Geistes sind schwach. Mag sein, dass dies an den großen Entfernungen liegt, die diese Schiffe zurückgelegt haben, vorausgesetzt sie sind nicht doch nur Erfindungen der Legendenweber. Vielleicht sind Caladir und seine Himmelsfahrer aber auch den Gefahren in den Weiten des Polyversums zum Opfer gefallen. Tatsache ist, dass angesichts der Bedrohung, die Morygors Frostreich auch für uns darstellt, ein immer größerer Teil von uns denkt, es wäre das Beste, die Kunst des Sternenflugs wiederzuentdecken. Auch unser Oberster Magier vertritt diese Meinung. Er sucht ständig im Reich des Geistes nach jenen Erkenntnissen, die Caladir dazu befähigten, mit den Himmelsschiffen Erdenrund zu verlassen.«
»Die edlen Caladran wollen sich einfach so davonmachen und ganz Erdenrund sich selbst überlassen?«, fragte Gorian fassungslos. »Ich gebe zu, dass ich davon bereits gehört habe, bevor ich nach Caladrania gelangte, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es tatsächlich so sein soll.«
»Wir sind ein Volk, das nicht nur zum Gleichmut, sondern auch zur Gleichgültigkeit neigt«, stellte Orawéen klar.
»So ist Euch das Schicksal aller anderen Geschöpfe auf Erdenrund egal?«
»Wir beschäftigen uns vorwiegend mit den Pfaden unseres eigenen Schicksals«, gab die Königin kühl zurück. »Das heißt nicht, dass wir kein Mitgefühl hätten.«
»Aber es scheint nicht besonders ausgeprägt«, stellte Gorian fest.
»Wie gesagt, ein Teil von uns denkt daran, Erdenrund zu verlassen. Mein Gemahl allerdings ist in diesem Punkt anderer Ansicht. Er glaubt nicht, dass eine Wiederentdeckung des Sternenflugs schnell genug möglich ist, um uns zu retten. Die Spuren von Caladir sind sehr stark im Reich des Geistes, die seiner Erkenntnisse über den Sternenflug aber erschreckend schwach. Das ganze Vorhaben würde noch dadurch erschwert, dass wir nicht die Macht haben, Morygor den Zugang zum Reich des Geistes zu verwehren. Er würde solche Pläne gewiss hintertreiben. Auch deshalb denkt Abrandir durchaus daran, sich dem Bündnis gegen Morygor anzuschließen.«
»Das beruhigt mich«, bestand Gorian offen.
»Und Ihr werdet vielleicht der entscheidende Faktor dabei sein. Ihr und Euer Freund Torbas, wobei Letzterer ein etwas unsicherer Kandidat ist. Meinem Gemahl ist Euer Potenzial gleich aufgefallen. Schon das, was der Renegat uns durch das Reich des Geistes übermittelte, war vielversprechend. Ich persönlich bin überrascht, dass es außerhalb des Volkes der Caladran so viel Begabung gibt. Aber es hat ja auch in der Vergangenheit immer wieder Völker gegeben, deren Magier mit den unseren vergleichbar waren.«
Ihr Blick richtete sich auf einen Tisch, eines der wenigen Möbelstücke im Raum. Darauf waren neben einigen anderen persönlichen Dingen von Gorian auch seine Waffen abgelegt, Rächer und Sternenklinge.
Sie lächelte mild. »Offenbar könnt Ihr Eure Kraft noch nicht ohne primitive Werkzeuge der Sammlung gänzlich ausschöpfen. Doch das ist nicht weiter schlimm. Es gibt keine besseren Instrumente als jene, die aus Sternenmetall gefertigt wurden. Und doch sind diese Werkzeuge von unterschiedlicher Qualität.«
»So?«
Sie sah Gorian an. »Mein Gemahl glaubt, dass es mithilfe der richtigen Kräfte, konzentriert in die richtigen Instrumente, möglich sein müsste, die Gestirne zu verändern und den Schattenbringer ebenso zu bewegen, wie Morygor es tut.«
»Und glaubt auch Ihr dies?«, fragte Gorian erstaunt.
»Ich war mir anfangs nicht sicher, vor allem nicht hinsichtlich Euch und Eurer inneren Stärke.«
»Aber jetzt seid Ihr es?«
Sie nickte. »Was Euch angeht, ja. Was Euren Freund Torbas betrifft, nein. Aber Eure beiden Schicksale sind nun einmal untrennbar miteinander verwoben, das steht fest.«
»Was wird jetzt geschehen?«, fragte Gorian.
»Ihr werdet abwarten müssen. So schwer es Euch fällt. Und vielleicht werdet Ihr tatsächlich noch einmal das Reich des Wissens betreten müssen, um die Magie der Caladran in Euch aufzunehmen, so wie es Euer Wunsch ist. Ihr wärt dann für die eigentliche Prüfung, die Euch bevorsteht, zweifellos besser gewappnet – aber vielleicht auch tot oder wahnsinnig.«
»Ich scheue das Risiko nicht.«
»Nein.« Sie lächelte. »Aber es wird sich noch erweisen, ob Euch das zum Helden oder zum Narren macht.«
»Lasst mich zum Kristall!«, verlangte Gorian.
»Später vielleicht.« Sie ging erneut zur Tür, blieb dann noch einmal stehen und drehte sich halb herum. »Eines solltet Ihr noch wissen: Die Heilkunst der Caladran wäre in Eurem Fall machtlos gewesen, denn wir wissen zu wenig über die Natur anderer Völker. Wärt Ihr nicht gestorben, hättet Ihr zumindest unter dauerhaftem Wahn gelitten, hätte nicht jemand anderes Euch geheilt …«
»Sheera!«
»… und sich möglicherweise für Euch geopfert.«
»Geopfert?«, wiederholte Gorian entsetzt.
»Ist Euch nicht bewusst, dass ein Heiler einen Teil des Übels in sich aufnehmen muss, das er bekämpft? Zumindest wenn dieses mit Magie zu tun hat.«
»Doch, aber …«
»Ein Teil dessen, was Ihr aus dem Reich des Geistes in Euch aufgenommen habt, ist auch in sie geströmt. Auch ihr Potenzial ist ungewöhnlich hoch für eine Angehörige Eures Volkes, aber sie hat nicht Eure Stärke.«
»Wo ist sie?« Er versuchte gedanklich Verbindung zu ihr aufzunehmen. »Sheera!«
Aber er erhielt keine Antwort.
»Sie ist sehr schwach«, erklärte ihm Orawéen. »Und niemand weiß, ob ihr verbleibendes kurzes Leben ausreicht, um ihre geistige Gesundheit wiederherzustellen. Ich hatte Euch das eigentlich nicht sagen wollen, bis Ihr selbst …«
»Bringt mich zu ihr!«, unterbrach er sie.
 
Sheera befand sich in einem Raum, dessen Zentrum auf den ersten Blick wie ein Springbrunnen aussah. Beim zweiten Blick fiel jedoch der Unterschied auf: Es handelte sich um eine in ständiger Bewegung befindliche Skulptur aus Wasser, die fortwährend wechselnde Szenen und Gesichter in einer Klarheit und Naturgetreue nachbildete, wie kein menschlicher Bildhauer es vermocht hätte. Die Kraft der Magie hielt das Wasser in seiner Form – wie so vieles andere im Stadtbaum von Caladrania.
Sheera saß auf der mit Ornamenten verzierten Begrenzungsmauer der Wasserskulptur und schien Gorian zunächst gar nicht zu bemerken, zu sehr war sie in ihre eigenen Gedanken vertieft. Der Blick war starr und verlor sich in der Wasserskulptur.
»Sheera!«
Offenbar hatte sie sich in ihren Gedanken vollkommen verschlossen, denn sie vernahm seinen Ruf nicht.
Er setzte sich zu ihr und berührte sie an der Schulter, und erst da schien sie seine Gegenwart zu bemerken. Sie wandte langsam den Kopf.
Die Skulptur begann sich daraufhin zu verformen, zunächst war nichts mehr zu erkennen, dann entstand ein Abbild Gorians.
»Was hast du nur getan?«, murmelte sie.
»Wovon sprichst du?«
Sie antwortete nicht. Dass ihre Augen permanent von purer Finsternis erfüllt waren, konnte nur bedeuten, dass sie die Alte Kraft in sich sammelte und unter einer andauernden Anspannung stand.
Die Wasserskulptur veränderte sich erneut. Gorians Gesicht zerfloss, und das Wasser bildete das Gesicht eines jungen Caladran. Ein Gesicht, das Gorian nur allzu gut kannte.
»Morygor!«, murmelte er.
»Es war so schrecklich, Gorian …«
»Was ist geschehen?«
»Ich bin ihm begegnet.«
»Aber …«
»Ich weiß nicht, was alles aus dem so genannten Reich des Geistes mittels dieses Kristalls in dich eingedrungen ist und deine Seele vergiftet hat, aber da war auch Morygor. Ich bin mir ganz sicher.«
»Er ist ein Teil dieses Geistreichs und wird es wohl auch immer bleiben, selbst wenn es gelingen sollte, seine Schicksalslinie und seine Herrschaft zu beenden«, war Gorian überzeugt.
»Warum hast du das getan? Warum hast du dich mit all diesen Dingen verbunden? All dieser Magie, all diesem Wissen, all diesen Worten und Bildern, die einen den Verstand verlieren lassen?«
Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. »Weil es sein musste«, antwortete er. »Ich muss die Magie der Caladran beherrschen, um Morygor besiegen zu können.«
»Das bedeutet, du wirst erneut die Verbindung über den Kristall suchen.«
»Ich habe keine Wahl.«
»Ich werde dich vielleicht nicht noch einmal heilen können. Meine Kraft ist so erschöpft wie niemals zuvor, nicht mal, nachdem wir aus dem Frostreich zurückkehrten. Ich habe wirre Gedanken und weiß manchmal nicht mal mehr meinen Namen. Nur wenn ich genug an Alter Kraft sammle, kann ich meine Seele einigermaßen zusammenhalten.« Tränen glitzerten in ihren schwarzen Augen.
Gorian nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn. Er strich ihr übers Haar und spürte den Schlag ihres Herzens. Und doch hatte er in diesem Augenblick das Gefühl, dass sie weiter voneinander entfernt waren denn je.