023
22
Der Flug nach Pela
Der Kristall war grau geworden und hatte seine Klarheit verloren.
Gorian stand da und war einen Augenblick lang nicht in der Lage, etwas zu sagen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Körper fühlte sich eigenartig schwer an. Selbst die Luft in der Halle des Geistes schien auf einmal auf ihm zu lasten. Wie leicht war ihm hingegen das Reich des Geistes erschienen, und er verstand auf einmal, warum in dem legendären Magier Andir der Wunsch erwacht war, völlig in diese Ebene der Existenz überzuwechseln.
Von der anderen Seite des ovalen Altarsteins aus sah ihm Torbas entgegen, mit Augen, die vollkommen von Schwärze erfüllt waren. Gorian musste an Sheera denken und den Zustand, in dem sie sich befand.
Torbas schien völlig erstarrt, und auch seine Miene war zunächst ganz und gar reglos. Gorian war sich angesichts der blicklosen schwarzen Augen nicht einmal sicher, ob ihn sein Gefährte überhaupt bemerkte. Eine gedankliche Verbindung gab es nicht, sie war in jenem Moment abgerissen, als sich das Himmelsschiff so plötzlich aufgelöst hatte, fortgerissen von Kräften aus den Tiefen des Geistreichs.
Auf einmal aber atmete Torbas tief durch, sein Brustkorb hob und senkte sich, und er sagte: »Wir sind wieder zurück, wie es scheint.«
Die von Schwärze erfüllten Augen machten deutlich, dass er noch immer Kräfte sammelte, aber ansonsten schien er völlig in Ordnung. Schon der nur indirekte Kontakt mit dem Reich des Geistes hatte Sheera sehr geschwächt und sie dem Wahnsinn nahegebracht, doch auf Torbas schien das nicht einmal ansatzweise zuzutreffen. Seine Gedanken waren verschlossen, aber seine Kraft deutlich zu spüren. Mehr noch, sie war sogar angewachsen, wie Gorian erkannte, auch wenn er dafür keine Erklärung hatte.
»Es ist so viel Wissen in mir, dass es kaum auszuhalten ist«, sagte Torbas und ballte die Hände zu Fäusten. »Die Gedanken… Sie rasen, es gibt keine Grenzen für sie. Ich brauche nur in mich hineinzuhorchen, dann entdecke ich so vieles, was zuvor nicht da war …«
»Du warst plötzlich verschwunden, mitsamt dem Schiff«, erklärte Gorian.
»Es… etwas…« Torbas brach ab, schüttelte den Kopf. »Ich konnte nichts dagegen tun.« Er lächelte auf eine Art, die Gorian an das Lächeln von jemand anderem erinnerte. Aber dieser Eindruck währte nur einen Moment, und vielleicht war er auch nur eine Nachwirkung dessen, was ihm im Reich des Geistes widerfahren war.
»Glaubst du, diese vergeistigten Brüder lassen uns mal mit einem ihrer Himmelsschiffe fliegen?«, fragte Torbas spöttisch und meinte damit natürlich die Caladran.
»Es ist etwas anderes, die metamagischen Winde in Wirklichkeit beherrschen zu wollen statt nur in Gedanken«, warnte ihn Gorian.
»Mag sein. Aber ich traue es mir zu. Und ich glaube, auch du würdest nicht Nein sagen, würde sich dir die Gelegenheit bieten.« Torbas hob die Brauen. Seine Augen waren noch immer vollkommen schwarz, und das würde wohl auch erst einmal so bleiben, während die von Gorian längst wieder ihr normales Aussehen angenommen hatten.
Er fragte sich, woher Torbas die zusätzliche Kraft hatte, doch er ließ niemand anderen, schon gar nicht seinen Gefährten, an diesem Gedanken teilhaben. War diese Kraft vielleicht schon immer in Torbas gewesen und nur durch die Erkenntnisse im Reich des Geistes wachgerufen worden? Oder bestand Grund, sich um ihn Sorgen zu machen?
 
Das Flaggschiff des Königs trug den klangvollen Namen Hoffnung des Himmels. König Abrandir machte Gorian und seinen Gefährten das Angebot, an Bord dieses Schiffes zu reisen statt in der mittlerweile ziemlich ramponierten Greifengondel.
Meister Thondaril gefiel das zunächst nicht. Er wollte sich nicht derart abhängig von den Caladran machen. Andererseits hegte er nach wie vor ein tiefes Misstrauen gegen Ar-Don, und es missfiel ihm erst recht, sich erneut in dessen Hände zu begeben.
Gorian und Torbas allerdings hatten gegen das Himmelsschiff nichts einzuwenden. Das, was sie im Reich des Geistes erlebt hatten, hatte diese Reise bereits vorweggenommen, auch wenn weder Torbas noch Gorian ernsthaft damit rechneten, dass man einem von ihnen auch nur für einen Moment die Steuerung des Schiffes überließ.
Schließlich überwand sich auch Thondaril zu der Entscheidung, dass die ganze Gruppe an Bord des Himmelsschiffs gehen und man die Gondel zurücklassen sollte. Gorian versuchte mit dem zur Greifenstatue versteinerten Ar-Don in gedankliche Verbindung zu treten, aber Ar-Dons Geist schwieg.
»Er tut ohnehin, was er will«, meinte Thondaril. »Gleichgültig, was du ihm auch mitteilen oder befehlen magst, er folgt nur seinem eigenen Willen.«
»Als ich das letzte Mal geistigen Kontakt zu ihm hatte, gab er an, Kraft zu sammeln«, erklärte Gorian. »Er würde sehr bald viel davon brauchen. Was könnte er damit gemeint haben?«
Thondarils Gesicht verzog sich zu einem harten Lächeln. »Da fragst du mich? Niemand kennt diesen Brocken Sternengestein besser als du.«
Die Hoffnung des Himmels verließ das äußere Hafenbecken des Stadtbaums von Caladrania und fuhr in die offene See. Die Wellen waren mittlerweile so hoch, dass sie die äußere Hafenmauer überspülten, die Reling des Himmelsschiffs jedoch nicht; die Gischt perlte an einem magischen Schirm ab, der offenbar auch den Wind fernhielt.
Der Steuermann hieß Lendaris. Er hatte sein schulterlanges schneeweißes Haar zu einem Dutzend Zöpfe geflochten und zählte zu den wenigen Caladran, die sich einen Bart hatten wachsen lassen. In Lendaris’ Fall war er auf das Kinn beschränkt und ebenfalls zu einem Zopf geflochten, der ihm bis auf Höhe des Brustbeins herabreichte.
Er stand auf dem Achterdeck, und das Schiff folgte seinem Willen. Dafür bedurfte es nur einer Anstrengung des Geistes. Torbas und Gorian spürten, wie er seine Kräfte einsetzte, um die metamagischen Raumzeitwinde zu nutzen, die das Großsegel der Hoffnung des Himmels nicht blähten, aber dennoch das Schiff vorantrieben. Gorian hatte das Gefühl, diese Winde ebenso zu spüren wie den eisigen Sturmwind, der zurzeit aus Norden wehte, oder jene sanfte Sommerbrise, die geherrscht hatte, als seine Erinnerungen im Alter von zweieinhalb Jahren auf dem Boot seines Vaters einsetzten, das in der Bucht von Thisilien gesegelt war. Aber jene Welt war vergangen, begraben unter dem Eispanzer des Frostreichs.
Der Gedanke dämpfte die optimistische Hochstimmung, in der er sich seit seinem Aufenthalt im Reich des Geistes befunden hatte. Zudem sorgte er sich um Sheera, die reglos an der Reling stand und hinaus in den Sturm blickte, dessen Gischt sie aufgrund des magischen Schutzschirms nicht erreichen konnte. Es kostete sie im Moment wohl all ihre Kraft, einigermaßen bei Sinnen zu bleiben. Ihre Augen waren weiterhin von Dunkelheit erfüllt.
Für Torbas’ Augen galt dasselbe. Allerdings schien es ihm nicht im Mindesten etwas auszumachen, ständig, ohne irgendeine erkennbare Unterbrechung, die Alte Kraft zu sammeln. Im Gegenteil, er schien Vergnügen an dieser Fahrt zu haben und nahm begierig alles in sich auf, was er sah.
Gorian dachte daran, dass Torbas und er beide in der Nacht des fallenden Sterns geboren waren. Vielleicht war es ein Irrtum zu glauben, nur er selbst wäre auserwählt, Morygor gegenüberzutreten. Schon in dem Moment, als er Torbas Schattenstich überließ, musste ihm das instinktiv bewusst gewesen sein.
Aufmerksam verfolgten er und Torbas alles, was Lendaris tat. Jede Verlagerung der Kraft, jede Anstrengung seines Geistes war für sie deutlich zu erkennen.
Lendaris bemerkte, dass er beobachtet wurde, und das auch auf geistiger Ebene, und er war darüber zunächst irritiert.
»Wir sehen einem erfahrenen Steuermann dabei zu, wie er sein Handwerk in Vollendung ausführt«, sagte Torbas, als er Lendaris’ Unmut erkannte. Es war das erste Mal, dass er Caladranisch sprach.
Davon abgesehen trug er nun wie Gorian den Ring eines Schwertmeisters an der Hand. Meister Thondaril hatte das Versprechen wahr gemacht, das er Gorian gegeben hatte.
 
In dem Moment, da sich die Hoffnung des Himmels aus den Fluten erhob, erwachte Ar-Don aus seiner Versteinerung. Der Greifengargoyle breitete plötzlich mit ungelenk wirkenden Bewegungen die Flügel aus und schwang sich in den Himmel über den Stadtbaum Caladrania, schwebte dann über das tosende Meer und sank zunächst in die Tiefe, ehe er sich fing und dem Himmelsschiff folgte. Die Gondel ließ er zurück.
Als König Abrandir den Gargoyle gewahrte, wandte er sich an Gorian. »Ihr habt doch Gewalt über diese Kreatur.«
»Nur in Grenzen, mein König.«
»Befehlt diesem Wesen umzudrehen und in Caladrania auf unsere Rückkehr zu warten!«
»Ar-Don ist mein Gefährte«, erwiderte Gorian. »Er hat mir das Leben gerettet und wird es vielleicht in Zukunft wieder tun.«
»Er könnte Euch auch umbringen«, gab Abrandir zu bedenken. »Ihn umgibt eine Aura des Zwielichts. Er ist unberechenbar und verfügt zugleich über beträchtliche Kräfte.«
Gorian lächelte mild. »Ein Element des Chaos, wie Torbas und ich selbst. Ihr solltet seinen Beistand daher begrüßen und ihn nicht fürchten. Abgesehen davon hat er ein Talent dafür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Darauf vertraue ich.«
»Ihr habt also nichts dagegen einzuwenden, dass uns dieses Wesen begleitet?«
»Nicht das Geringste.«
König Abrandir atmete tief durch. »Es scheint, als wärt Ihr in der besseren Verhandlungsposition und könnt Eure Wünsche durchsetzen; schließlich brauchen wir Eure Hilfe. Aber vergesst nicht, dass Caladran es mitunter als besondere Schmach empfinden, sich in die Abhängigkeit sterblicher Menschen zu begeben.«
»Euer Volk ist nicht in Gefahr, von Menschen abhängig zu werden«, gab Gorian ruhig zurück. »Den Caladran bleibt die Flucht zu den Sternen, allen anderen Bewohnern Erdenrunds nur die Hoffnung, dass ich Morygors Schicksalslinie beende.«
»Vielleicht bleibt auch uns nur diese eine Hoffnung«, entgegnete König Abrandir. »Es mag sein, dass der große Caladir den Sternenflug beherrschte. Ein Jahrtausend lang blieb die geistige Verbindung zu ihm und den seinen bestehen, bis der Abgrund der Raumzeit zu groß wurde. Aber zu Rudanas verloren unsere Magier und Schamanen schon am dritten Tag nach seinem Aufbruch jede Verbindung. Mögen die Vergessenen Götter unserer Vorfahren erahnen, wo ihn die metamagischen Winde haben stranden lassen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass unsere Magie im Moment bereits in der Lage wäre, Caladirs Reise zu wiederholen. Und abgesehen davon würden die Kräfte, die dafür aufgebracht werden müssten, kaum ausreichen, uns alle zu retten. Wir bräuchten Jahrhunderte, vielleicht ein Jahrtausend, um die Kunst des Sternenflugs zu perfektionieren, und selbst dann wäre das Ergebnis ungewiss.«
»In der Zwischenzeit hätte Morygor Euer Reich in jedem Fall vernichtet.«
»Ja.«
»Warum hasst er die Caladran so, obwohl er doch einer von euch war?«
»Seid Ihr denn nicht im Reich des Geistes gewesen, Gorian?«, wunderte sich Abrandir.
»Doch, und ich weiß inzwischen vieles über Morygors Vergangenheit. Aber auch wenn es nicht möglich ist, Erinnerungen und Spuren aus dem Reich des Geistes zu tilgen, so wird doch manches geschickt verborgen.«
Abrandir lächelte. »Zu geschickt für einen flüchtigen Besucher wie Euch?«
»Mag sein.«
»Morygor griff die alte Lehre des Renegaten wieder auf, doch solchen Irrlehren gegenüber sind die Caladran nicht sehr tolerant. Darum verstießen sie ihn, verbannten ihn und machten ihn zu einem Ausgestoßenen, so wie den Namenlosen Renegaten.«
»Aber Morygor hat Euch gezeigt, dass dessen Lehre keine Irrlehre war. Die Gestirne lassen sich bewegen und das Schicksal bestimmen.«
»Ja.« Abrandir nickte. »Und ironischerweise werden wir in Pela diese Lehre gegen Morygor selbst richten.«
 
Caladranien war die südlichste und größte der fünf Inseln, aus denen König Abrandirs Reich bestand. Von Caladranien durch eine Meeresstraße getrennt lag die Insel Pela mit dem gleichnamigen, an einer Bucht gelegenen Stadtbaum. Nördlich davon reihten sich die Inseln Segell, Calarien und die Nördliche Insel aneinander, die man auch Klein-Calarien oder Ohne-Baum-Land nannte, da sie die einzige der fünf Caladran-Inseln war, auf der es keinen Stadtbaum gab. Inzwischen war die Nördliche Insel von ihren wenigen, vereinzelt lebenden Bewohnern verlassen worden, und man musste sie wohl als vom Frostreich erobert betrachten.
Während des ganzen Fluges peitschte der Hoffnung des Himmels ein eisiger Sturm entgegen, doch weder Schneeregen noch Hagel konnten den magischen Schirm durchdringen, und der Gegenwind hatte keinerlei Einfluss auf die Geschwindigkeit des Schiffes.
Wie stark dieser Sturm aus Norden über Land und Meer fegte, konnte man beim Blick über die Reling ermessen. Das Himmelsschiff flog zumeist an der zerklüfteten Steilküste Caladraniens entlang, und dort bogen sich die Bäume, wurden teilweise mit ihrem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen und durch die Luft geschleudert. Hier und dort standen auch kaum von der Umgebung zu unterscheidende Burgen vereinzelt lebender Caladran. Noch blieben sie unberührt von den Unbilden aus dem Norden, geschützt durch Magie wie die Himmelsschiffe, die in der Nähe dieser Residenzen vor Anker lagen. Aber dass man manche dieser Schiffe an Land gebracht hatte, wies darauf hin, wie ungewöhnlich dieses Klima war. Wilde Strömungen und Strudel waren zu sehen, und immer wieder bewegten sich Wellen gegen die Windrichtung.
»Die Wetterzauber, die einst das Klima der Inseln bezähmten, können dem Sturm nicht mehr standhalten«, stellte Orawéen fest, als sie dies alles sah.
»Darum bemüht man nun die Magie der Meeresströmungen«, erkannte Gorian.
»Ja, aber es ist lange her, dass wir sie anwenden mussten. Das war noch zu jenen Zeiten, da Caladir auf dem Thron saß.«
»Gibt es nicht noch genügend Magier, die damals schon gelebt haben? Euer Volk ist doch fast unsterblich.«
»Auch die Unsterblichen vergessen. Und auch die wichtigste Erkenntnis kann in die Tiefen des Geistreichs versinken. Die wenigsten von uns könnten der Zeit widerstehen, ohne zu vergessen.«
Als die Hoffnung des Himmels schließlich die Meerenge zwischen Caladranien und der Insel Pela erreichte, griff ein Schwarm Eiskrähen an.
Es waren Tausende, und niemand hatte sie kommen sehen, denn ihre gefiederten Körper hoben sich kaum gegen die ewige Dämmerung ab, die den ganzen Tag über herrschte. Zudem war die Sicht schlechter geworden, weil der Schneefall immer dichter geworden war.
Mit durchdringendem Kreischen stürzte sich der Schwarm im Sturzflug auf das Schiff, doch die Vögel prallten reihenweise an dem Schutzschirm ab. Manchmal verfing sich auch eines der Tiere in dem magischen Schirm, dann umgab ein blaues Leuchten den Vogel, der krächzende Laute ausstieß, ehe er davongeschleudert wurde. Taumelnd gewann die Krähe schließlich wieder an Höhe, um sich einer neuen Angriffswelle anzuschließen.
»Ich habe bereits König Abrandirs Großvater gedient«, äußerte Lendaris. »Aber seit ich an Deck dieses Schiffes stehe, habe ich so etwas noch nicht erlebt.«
Gorian, der im Reich des Geistes gewesen war, begriff sofort, was der Steuermann damit zum Ausdruck bringen wollte. Es war viele Zeitalter her, dass jemand dreist genug gewesen war, ein Himmelsschiff der Caladran anzugreifen. Den Krieg mit den Greifenreitern hatte schließlich auch Lendaris noch nicht erlebt.
»Dieser Angriff gilt dir«, sagte Meister Thondaril zu seinem ehemaligen Schüler. »Morygor weiß, dass etwas geschehen wird, was für ihn zu einer entscheidenden Niederlage führen kann. Er will um jeden Preis verhindern, dass wir Pela erreichen.«
Eine der Eiskrähen schaffte es schließlich sogar, den Schirm zu durchdringen. Mit dem Schnabel voran schoss sie pfeilgleich auf Gorian zu, so als wollte sie Thondarils Worte bestätigen.
Blitzschnell riss der zweifache Ordensmeister sein Schwert hervor und fing das Tier nur eine Handbreit vor Gorians Stirn ab. Seine Klinge zerteilte es, und Krähenblut spritzte aufs Deck.
»Ich hoffe nicht, dass der Aufenthalt im Reich des Geistes deiner Fähigkeit zur Voraussicht geschadet hat«, sagte Thondaril, und ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme.
»Ich habe den Angriff des Vogels ebenso vorausgesehen wie Euer Eingreifen«, erwiderte Gorian.
Meister Thondaril steckte das Schwert wieder ein. »Du solltest dich in Zukunft auf niemanden mehr verlassen, Gorian. Auch nicht auf mich.«
Hunderttausende von Eiskrähen umlagerten mittlerweile das Schiff. Auf einmal stürzten sie sich alle zugleich gegen den magischen Schirm, der die Hoffnung des Himmels umgab. Der Schirm konnte sie nicht mehr zurückwerfen, weil zu viele von ihnen nachdrängten, und wären nicht aufgrund des dämmerigen Tageslichts magische Schiffslaternen entzündet worden, hätte vollkommene Dunkelheit an Bord geherrscht. Körper an Körper drängten die Eiskrähen gegen den Schirm und umschwirrten das Schiff wie ein Bienenschwarm, der sich auf eine einzelne Hornisse stürzte, um sie mit ihrer Körperwärme zu töten. Dieses Bild entstand vor Gorians innerem Auge – eine jener vielen, unbedeutend erscheinenden Erkenntnisse, die aus dem Reich des Geistes zusammen mit dem großen Gedankenstrom in seine Seele gespült worden waren.
Aber in diesem Fall war es nicht die Wärme, die töten sollte, sondern die Kälte, erkannte Gorian. Und da die Caladran gegen Kälte recht unempfindlich waren, war jeder Zweifel daran beseitigt, wem dieser Angriff in erster Linie galt.
Es wurde innerhalb von Augenblicken so eisig, wie Gorian es nicht einmal in den Tiefen des Frostreichs erlebt hatte, als er den Kampf am Speerstein von Orxanor hatte bestehen müssen. Diese Kälte war zweifellos magischen Ursprungs, die Kehlen tausender Eiskrähen hauchten sie aus, und sie ließ innerhalb weniger Augenblicke eine Eisschicht entstehen, die sich über den magischen Schirm legte und sich sehr schnell ausbreitete.
Der Maskierte nahm sein Schwert, ließ dessen Klinge zu einer Flamme werden und richtete diese empor.
»Nein!«, rief Orawéen und sandte dabei einen Gedanken aus, der von tiefstem Entsetzen geprägt war.
Aber der Maskierte hatte bereits gehandelt und ließ den Flammenstrahl seines Schwertes nach oben schießen. Dieser traf auf den schon zu zwei Dritteln vereisten Schirm, der daraufhin von einem magischen, grünlich und bläulich schimmernden Feuer erfasst wurde. Zischend schmolz das Eis und regnete herab, und die Eiskrähen, die noch gegen den Schirm drängten, verglühten zu Asche.
Wie ein Blitz erfasste das magische Feuer den gesamten Bereich um die Hoffnung des Himmels, die nun von einer ovalen Flammenhülle umgeben wurde. Sie war so hell, dass sie jeden an Bord blendete, aber keinerlei Wärme oder gar Hitze ging von ihr aus; dieses Feuer war so kalt wie das Eis, das die Hoffnung des Himmels gerade noch wie die Schale eines riesigen Eises umgeben hatte.
Der eisige Nordwind fegte über das Deck des Schiffs, trieb allen an Bord Schnee ins Gesicht und machte klar, dass es keinen magischen Schutz mehr gab, weder vor dem Wetter noch vor anderen Gewalten, die dem Frostreich dienten.
Von den Eiskrähen waren einige wenige entkommen – Kundschafter Morygors, über deren Augen er mit Sicherheit erfahren würde, was sich in der Meeresenge zwischen Caladranien und der Insel Pela zugetragen hatte.
»Ihr habt den magischen Schirm zerstört«, sagte Orawéen anklagend zu dem Maskierten. »Der Zauber, der ihn neu erschafft, wirkt nicht so schnell.« Während sie sprach, zerzauste der Wind ihr Haar und zerrte an ihrem dünnen Gewand.
»So werden wir den Rest der Reise ohne diesen Schutz auskommen müssen«, erklärte der Maskierte ungerührt, während sich die Flammenklinge in Stahl zurückverwandelte. »Ihr werdet Euch wohl oder übel auf meinen Schutz verlassen müssen, bis wir den Stadtbaum von Pela erreicht haben.«
 
Ar-Don tauchte aus dem Grau des Schneegestöbers auf und stieß einen durchdringenden fauchenden Laut aus, der sogar das Tosen des Windes übertönte. Er hielt mit seinen Krallen ein schiffsgroßes Fledertier mit weißem Fell und drei walrossähnlichen Zähnen umklammert, einen Dreizahnigen. Der Legende nach gab es sieben von ihnen, und sie gehörten zu den legendären Frostgöttern, die einst in der Schlacht am Weltentor vertrieben und von Morygor zurück nach Erdenrund geholt worden waren.
Der Dreizahnige war um einiges größer als Ar-Dons Mischgestalt aus Gargoyle und Greif, dennoch war es Ar-Don offenbar gelungen, einen bevorstehenden Angriff des Frostgottes abzuwehren. Sein Blut spritzte fontänengleich aus den geöffneten Adern. Ar-Don hatte gleich ein halbes Dutzend steinerner Dornen ausgebildet und sie in den Leib des riesenhaften Ungeheuers gerammt.
»Ar-Don gesiegt … Ar-Don sammelt … Substanz … für langen Weg zum Ursprung.«
Dieser rätselhafte Gedanke seines zwielichtigen Gefährten erreichte Gorian, während sich der Körper des dreizahnigen Frostgottes bereits umzuwandeln begann und ein Teil Ar-Dons wurde. Der sank tiefer, flatterte wild mit den Flügeln, hatte offenbar Schwierigkeiten, die zusätzliche Masse zu bewältigen. Doch nach und nach verwandelte sich der Körper des getöteten Frostgottes, und der Kadaver des Dreizahnigen wurde zu einem Teil von Ar-Dons steinernem Leib.
Die meisten Besatzungsmitglieder und Passagiere der Hoffnung des Himmels gingen unter Deck, um nicht ungeschützt der stürmischen Witterung ausgesetzt zu sein. Zu den wenigen, die im Freien blieben, gehörten neben dem Steuermann Lendaris und dem Maskierten auch Gorian und Torbas.
Ar-Don hatte unterdessen eine leuchtend rote Farbe angenommen, sein Körper war durch die Substanz des Dreizahnigen um mehr als das Doppelte angewachsen, er hatte ein zusätzliches Paar Flügel ausgeformt und außerdem ein paar Zähne, die jenen des Frostgottes sehr ähnlich waren.
Der Schneesturm ließ nach, die Sicht verbesserte sich, und so konnte man in der Ferne weitere Dreizahnige sehen, die offenbar auf eine Gelegenheit zum Angriff warteten.
Aber die Anwesenheit Ar-Dons schien sie davon abzuhalten. Sie hatten wohl mitbekommen, was mit einem von ihnen geschehen war, und Ar-Don hatte jetzt eine Größe, die es wohl keinem der anderen Dreizahnigen geraten erscheinen ließ, mit ihm anzubinden.
Immer wieder näherten sie sich, umkreisten in einigem Abstand die Hoffnung des Himmels und verzogen sich wieder, sobald Ar-Don einen seiner durchdringenden Schreie ausstieß.
»Es sind alle sechs Dreizahnige, die noch übrig sind«, stellte Torbas fest. »Aber selbst gemeinsam trauen sie sich nicht mehr an Ar-Don heran.«
»Warum tut er das?«, murmelte Gorian.
»Was meinst du?«
»Das Sammeln von Substanz. Wieso legt er so viel Wert darauf, immer größer zu werden? Bisher hatte er immer Angst davor, dass sich seine Seele dadurch verändert.«
»Ich bin nicht der Richtige, den du über das Seelenheil dieses Steindrachen befragen solltest«, antwortete ihm Torbas.
»Und was ist mit der deinen?«
»Was soll damit sein?«
»Deine Augen sind immer noch schwarz, Torbas. Das ist, als ob man seine Muskeln ständig angespannt hält. Niemand hält das über einen längeren Zeitraum aus.«
»Ich anscheinend schon.« Er lachte. »Beunruhigt es dich vielleicht, dass ich etwas kann, wovon du glaubst, dass es unmöglich wäre?« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe so viel Kraft, Gorian. So unvorstellbar viel.«