22
Der Flug nach Pela
Der Kristall war grau geworden und hatte seine
Klarheit verloren.
Gorian stand da und war einen Augenblick lang nicht
in der Lage, etwas zu sagen oder auch nur einen klaren Gedanken zu
fassen. Sein Körper fühlte sich eigenartig schwer an. Selbst die
Luft in der Halle des Geistes schien auf einmal auf ihm zu lasten.
Wie leicht war ihm hingegen das Reich des Geistes erschienen, und
er verstand auf einmal, warum in dem legendären Magier Andir der
Wunsch erwacht war, völlig in diese Ebene der Existenz
überzuwechseln.
Von der anderen Seite des ovalen Altarsteins aus
sah ihm Torbas entgegen, mit Augen, die vollkommen von Schwärze
erfüllt waren. Gorian musste an Sheera denken und den Zustand, in
dem sie sich befand.
Torbas schien völlig erstarrt, und auch seine Miene
war zunächst ganz und gar reglos. Gorian war sich angesichts der
blicklosen schwarzen Augen nicht einmal sicher, ob ihn sein
Gefährte überhaupt bemerkte. Eine gedankliche Verbindung gab es
nicht, sie war in jenem Moment abgerissen, als sich das
Himmelsschiff so plötzlich aufgelöst hatte, fortgerissen von
Kräften aus den Tiefen des Geistreichs.
Auf einmal aber atmete Torbas tief durch, sein
Brustkorb
hob und senkte sich, und er sagte: »Wir sind wieder zurück, wie es
scheint.«
Die von Schwärze erfüllten Augen machten deutlich,
dass er noch immer Kräfte sammelte, aber ansonsten schien er völlig
in Ordnung. Schon der nur indirekte Kontakt mit dem Reich des
Geistes hatte Sheera sehr geschwächt und sie dem Wahnsinn
nahegebracht, doch auf Torbas schien das nicht einmal ansatzweise
zuzutreffen. Seine Gedanken waren verschlossen, aber seine Kraft
deutlich zu spüren. Mehr noch, sie war sogar angewachsen, wie
Gorian erkannte, auch wenn er dafür keine Erklärung hatte.
»Es ist so viel Wissen in mir, dass es kaum
auszuhalten ist«, sagte Torbas und ballte die Hände zu Fäusten.
»Die Gedanken… Sie rasen, es gibt keine Grenzen für sie. Ich
brauche nur in mich hineinzuhorchen, dann entdecke ich so vieles,
was zuvor nicht da war …«
»Du warst plötzlich verschwunden, mitsamt dem
Schiff«, erklärte Gorian.
»Es… etwas…« Torbas brach ab, schüttelte den Kopf.
»Ich konnte nichts dagegen tun.« Er lächelte auf eine Art, die
Gorian an das Lächeln von jemand anderem erinnerte. Aber dieser
Eindruck währte nur einen Moment, und vielleicht war er auch nur
eine Nachwirkung dessen, was ihm im Reich des Geistes widerfahren
war.
»Glaubst du, diese vergeistigten Brüder lassen uns
mal mit einem ihrer Himmelsschiffe fliegen?«, fragte Torbas
spöttisch und meinte damit natürlich die Caladran.
»Es ist etwas anderes, die metamagischen Winde in
Wirklichkeit beherrschen zu wollen statt nur in Gedanken«, warnte
ihn Gorian.
»Mag sein. Aber ich traue es mir zu. Und ich
glaube, auch du würdest nicht Nein sagen, würde sich dir die
Gelegenheit bieten.« Torbas hob die Brauen. Seine Augen waren noch
immer vollkommen schwarz, und das würde wohl auch erst einmal so
bleiben, während die von Gorian längst wieder ihr normales Aussehen
angenommen hatten.
Er fragte sich, woher Torbas die zusätzliche Kraft
hatte, doch er ließ niemand anderen, schon gar nicht seinen
Gefährten, an diesem Gedanken teilhaben. War diese Kraft vielleicht
schon immer in Torbas gewesen und nur durch die Erkenntnisse im
Reich des Geistes wachgerufen worden? Oder bestand Grund, sich um
ihn Sorgen zu machen?
Das Flaggschiff des Königs trug den klangvollen
Namen Hoffnung des Himmels. König Abrandir machte Gorian und
seinen Gefährten das Angebot, an Bord dieses Schiffes zu reisen
statt in der mittlerweile ziemlich ramponierten
Greifengondel.
Meister Thondaril gefiel das zunächst nicht. Er
wollte sich nicht derart abhängig von den Caladran machen.
Andererseits hegte er nach wie vor ein tiefes Misstrauen gegen
Ar-Don, und es missfiel ihm erst recht, sich erneut in dessen Hände
zu begeben.
Gorian und Torbas allerdings hatten gegen das
Himmelsschiff nichts einzuwenden. Das, was sie im Reich des Geistes
erlebt hatten, hatte diese Reise bereits vorweggenommen, auch wenn
weder Torbas noch Gorian ernsthaft damit rechneten, dass man einem
von ihnen auch nur für einen Moment die Steuerung des Schiffes
überließ.
Schließlich überwand sich auch Thondaril zu der
Entscheidung, dass die ganze Gruppe an Bord des Himmelsschiffs
gehen und man die Gondel zurücklassen sollte. Gorian versuchte mit
dem zur Greifenstatue versteinerten Ar-Don
in gedankliche Verbindung zu treten, aber Ar-Dons Geist
schwieg.
»Er tut ohnehin, was er will«, meinte Thondaril.
»Gleichgültig, was du ihm auch mitteilen oder befehlen magst, er
folgt nur seinem eigenen Willen.«
»Als ich das letzte Mal geistigen Kontakt zu ihm
hatte, gab er an, Kraft zu sammeln«, erklärte Gorian. »Er würde
sehr bald viel davon brauchen. Was könnte er damit gemeint
haben?«
Thondarils Gesicht verzog sich zu einem harten
Lächeln. »Da fragst du mich? Niemand kennt diesen Brocken
Sternengestein besser als du.«
Die Hoffnung des Himmels verließ das äußere
Hafenbecken des Stadtbaums von Caladrania und fuhr in die offene
See. Die Wellen waren mittlerweile so hoch, dass sie die äußere
Hafenmauer überspülten, die Reling des Himmelsschiffs jedoch nicht;
die Gischt perlte an einem magischen Schirm ab, der offenbar auch
den Wind fernhielt.
Der Steuermann hieß Lendaris. Er hatte sein
schulterlanges schneeweißes Haar zu einem Dutzend Zöpfe geflochten
und zählte zu den wenigen Caladran, die sich einen Bart hatten
wachsen lassen. In Lendaris’ Fall war er auf das Kinn beschränkt
und ebenfalls zu einem Zopf geflochten, der ihm bis auf Höhe des
Brustbeins herabreichte.
Er stand auf dem Achterdeck, und das Schiff folgte
seinem Willen. Dafür bedurfte es nur einer Anstrengung des Geistes.
Torbas und Gorian spürten, wie er seine Kräfte einsetzte, um die
metamagischen Raumzeitwinde zu nutzen, die das Großsegel der
Hoffnung des Himmels nicht blähten, aber dennoch das Schiff
vorantrieben. Gorian hatte das Gefühl, diese Winde ebenso zu spüren
wie den eisigen Sturmwind, der zurzeit aus Norden wehte, oder jene
sanfte Sommerbrise,
die geherrscht hatte, als seine Erinnerungen im Alter von
zweieinhalb Jahren auf dem Boot seines Vaters einsetzten, das in
der Bucht von Thisilien gesegelt war. Aber jene Welt war vergangen,
begraben unter dem Eispanzer des Frostreichs.
Der Gedanke dämpfte die optimistische Hochstimmung,
in der er sich seit seinem Aufenthalt im Reich des Geistes befunden
hatte. Zudem sorgte er sich um Sheera, die reglos an der Reling
stand und hinaus in den Sturm blickte, dessen Gischt sie aufgrund
des magischen Schutzschirms nicht erreichen konnte. Es kostete sie
im Moment wohl all ihre Kraft, einigermaßen bei Sinnen zu bleiben.
Ihre Augen waren weiterhin von Dunkelheit erfüllt.
Für Torbas’ Augen galt dasselbe. Allerdings schien
es ihm nicht im Mindesten etwas auszumachen, ständig, ohne
irgendeine erkennbare Unterbrechung, die Alte Kraft zu sammeln. Im
Gegenteil, er schien Vergnügen an dieser Fahrt zu haben und nahm
begierig alles in sich auf, was er sah.
Gorian dachte daran, dass Torbas und er beide in
der Nacht des fallenden Sterns geboren waren. Vielleicht war es ein
Irrtum zu glauben, nur er selbst wäre auserwählt, Morygor
gegenüberzutreten. Schon in dem Moment, als er Torbas Schattenstich
überließ, musste ihm das instinktiv bewusst gewesen sein.
Aufmerksam verfolgten er und Torbas alles, was
Lendaris tat. Jede Verlagerung der Kraft, jede Anstrengung seines
Geistes war für sie deutlich zu erkennen.
Lendaris bemerkte, dass er beobachtet wurde, und
das auch auf geistiger Ebene, und er war darüber zunächst
irritiert.
»Wir sehen einem erfahrenen Steuermann dabei zu,
wie er sein Handwerk in Vollendung ausführt«, sagte Torbas,
als er Lendaris’ Unmut erkannte. Es war das erste Mal, dass er
Caladranisch sprach.
Davon abgesehen trug er nun wie Gorian den Ring
eines Schwertmeisters an der Hand. Meister Thondaril hatte das
Versprechen wahr gemacht, das er Gorian gegeben hatte.
In dem Moment, da sich die Hoffnung des
Himmels aus den Fluten erhob, erwachte Ar-Don aus seiner
Versteinerung. Der Greifengargoyle breitete plötzlich mit ungelenk
wirkenden Bewegungen die Flügel aus und schwang sich in den Himmel
über den Stadtbaum Caladrania, schwebte dann über das tosende Meer
und sank zunächst in die Tiefe, ehe er sich fing und dem
Himmelsschiff folgte. Die Gondel ließ er zurück.
Als König Abrandir den Gargoyle gewahrte, wandte er
sich an Gorian. »Ihr habt doch Gewalt über diese Kreatur.«
»Nur in Grenzen, mein König.«
»Befehlt diesem Wesen umzudrehen und in Caladrania
auf unsere Rückkehr zu warten!«
»Ar-Don ist mein Gefährte«, erwiderte Gorian. »Er
hat mir das Leben gerettet und wird es vielleicht in Zukunft wieder
tun.«
»Er könnte Euch auch umbringen«, gab Abrandir zu
bedenken. »Ihn umgibt eine Aura des Zwielichts. Er ist
unberechenbar und verfügt zugleich über beträchtliche
Kräfte.«
Gorian lächelte mild. »Ein Element des Chaos, wie
Torbas und ich selbst. Ihr solltet seinen Beistand daher begrüßen
und ihn nicht fürchten. Abgesehen davon hat er ein Talent dafür,
zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Darauf vertraue
ich.«
»Ihr habt also nichts dagegen einzuwenden, dass uns
dieses Wesen begleitet?«
»Nicht das Geringste.«
König Abrandir atmete tief durch. »Es scheint, als
wärt Ihr in der besseren Verhandlungsposition und könnt Eure
Wünsche durchsetzen; schließlich brauchen wir Eure Hilfe. Aber
vergesst nicht, dass Caladran es mitunter als besondere Schmach
empfinden, sich in die Abhängigkeit sterblicher Menschen zu
begeben.«
»Euer Volk ist nicht in Gefahr, von Menschen
abhängig zu werden«, gab Gorian ruhig zurück. »Den Caladran bleibt
die Flucht zu den Sternen, allen anderen Bewohnern Erdenrunds nur
die Hoffnung, dass ich Morygors Schicksalslinie beende.«
»Vielleicht bleibt auch uns nur diese eine
Hoffnung«, entgegnete König Abrandir. »Es mag sein, dass der große
Caladir den Sternenflug beherrschte. Ein Jahrtausend lang blieb die
geistige Verbindung zu ihm und den seinen bestehen, bis der Abgrund
der Raumzeit zu groß wurde. Aber zu Rudanas verloren unsere Magier
und Schamanen schon am dritten Tag nach seinem Aufbruch jede
Verbindung. Mögen die Vergessenen Götter unserer Vorfahren erahnen,
wo ihn die metamagischen Winde haben stranden lassen. Jedenfalls
glaube ich nicht, dass unsere Magie im Moment bereits in der Lage
wäre, Caladirs Reise zu wiederholen. Und abgesehen davon würden die
Kräfte, die dafür aufgebracht werden müssten, kaum ausreichen, uns
alle zu retten. Wir bräuchten Jahrhunderte, vielleicht ein
Jahrtausend, um die Kunst des Sternenflugs zu perfektionieren, und
selbst dann wäre das Ergebnis ungewiss.«
»In der Zwischenzeit hätte Morygor Euer Reich in
jedem Fall vernichtet.«
»Ja.«
»Warum hasst er die Caladran so, obwohl er doch
einer von euch war?«
»Seid Ihr denn nicht im Reich des Geistes gewesen,
Gorian?«, wunderte sich Abrandir.
»Doch, und ich weiß inzwischen vieles über Morygors
Vergangenheit. Aber auch wenn es nicht möglich ist, Erinnerungen
und Spuren aus dem Reich des Geistes zu tilgen, so wird doch
manches geschickt verborgen.«
Abrandir lächelte. »Zu geschickt für einen
flüchtigen Besucher wie Euch?«
»Mag sein.«
»Morygor griff die alte Lehre des Renegaten wieder
auf, doch solchen Irrlehren gegenüber sind die Caladran nicht sehr
tolerant. Darum verstießen sie ihn, verbannten ihn und machten ihn
zu einem Ausgestoßenen, so wie den Namenlosen Renegaten.«
»Aber Morygor hat Euch gezeigt, dass dessen Lehre
keine Irrlehre war. Die Gestirne lassen sich bewegen und das
Schicksal bestimmen.«
»Ja.« Abrandir nickte. »Und ironischerweise werden
wir in Pela diese Lehre gegen Morygor selbst richten.«
Caladranien war die südlichste und größte der fünf
Inseln, aus denen König Abrandirs Reich bestand. Von Caladranien
durch eine Meeresstraße getrennt lag die Insel Pela mit dem
gleichnamigen, an einer Bucht gelegenen Stadtbaum. Nördlich davon
reihten sich die Inseln Segell, Calarien und die Nördliche Insel
aneinander, die man auch Klein-Calarien oder Ohne-Baum-Land nannte,
da sie die einzige der fünf Caladran-Inseln war, auf der es keinen
Stadtbaum gab. Inzwischen war die Nördliche Insel von ihren
wenigen, vereinzelt lebenden Bewohnern verlassen worden, und man
musste sie wohl als vom Frostreich erobert betrachten.
Während des ganzen Fluges peitschte der Hoffnung
des Himmels ein eisiger Sturm entgegen, doch weder Schneeregen
noch Hagel konnten den magischen Schirm durchdringen, und der
Gegenwind hatte keinerlei Einfluss auf die Geschwindigkeit des
Schiffes.
Wie stark dieser Sturm aus Norden über Land und
Meer fegte, konnte man beim Blick über die Reling ermessen. Das
Himmelsschiff flog zumeist an der zerklüfteten Steilküste
Caladraniens entlang, und dort bogen sich die Bäume, wurden
teilweise mit ihrem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen und durch die
Luft geschleudert. Hier und dort standen auch kaum von der Umgebung
zu unterscheidende Burgen vereinzelt lebender Caladran. Noch
blieben sie unberührt von den Unbilden aus dem Norden, geschützt
durch Magie wie die Himmelsschiffe, die in der Nähe dieser
Residenzen vor Anker lagen. Aber dass man manche dieser Schiffe an
Land gebracht hatte, wies darauf hin, wie ungewöhnlich dieses Klima
war. Wilde Strömungen und Strudel waren zu sehen, und immer wieder
bewegten sich Wellen gegen die Windrichtung.
»Die Wetterzauber, die einst das Klima der Inseln
bezähmten, können dem Sturm nicht mehr standhalten«, stellte
Orawéen fest, als sie dies alles sah.
»Darum bemüht man nun die Magie der
Meeresströmungen«, erkannte Gorian.
»Ja, aber es ist lange her, dass wir sie anwenden
mussten. Das war noch zu jenen Zeiten, da Caladir auf dem Thron
saß.«
»Gibt es nicht noch genügend Magier, die damals
schon gelebt haben? Euer Volk ist doch fast unsterblich.«
»Auch die Unsterblichen vergessen. Und auch die
wichtigste Erkenntnis kann in die Tiefen des Geistreichs versinken.
Die wenigsten von uns könnten der Zeit widerstehen, ohne zu
vergessen.«
Als die Hoffnung des Himmels schließlich die
Meerenge zwischen Caladranien und der Insel Pela erreichte, griff
ein Schwarm Eiskrähen an.
Es waren Tausende, und niemand hatte sie kommen
sehen, denn ihre gefiederten Körper hoben sich kaum gegen die ewige
Dämmerung ab, die den ganzen Tag über herrschte. Zudem war die
Sicht schlechter geworden, weil der Schneefall immer dichter
geworden war.
Mit durchdringendem Kreischen stürzte sich der
Schwarm im Sturzflug auf das Schiff, doch die Vögel prallten
reihenweise an dem Schutzschirm ab. Manchmal verfing sich auch
eines der Tiere in dem magischen Schirm, dann umgab ein blaues
Leuchten den Vogel, der krächzende Laute ausstieß, ehe er
davongeschleudert wurde. Taumelnd gewann die Krähe schließlich
wieder an Höhe, um sich einer neuen Angriffswelle
anzuschließen.
»Ich habe bereits König Abrandirs Großvater
gedient«, äußerte Lendaris. »Aber seit ich an Deck dieses Schiffes
stehe, habe ich so etwas noch nicht erlebt.«
Gorian, der im Reich des Geistes gewesen war,
begriff sofort, was der Steuermann damit zum Ausdruck bringen
wollte. Es war viele Zeitalter her, dass jemand dreist genug
gewesen war, ein Himmelsschiff der Caladran anzugreifen. Den Krieg
mit den Greifenreitern hatte schließlich auch Lendaris noch nicht
erlebt.
»Dieser Angriff gilt dir«, sagte Meister Thondaril
zu seinem ehemaligen Schüler. »Morygor weiß, dass etwas geschehen
wird, was für ihn zu einer entscheidenden Niederlage führen kann.
Er will um jeden Preis verhindern, dass wir Pela erreichen.«
Eine der Eiskrähen schaffte es schließlich sogar,
den Schirm zu durchdringen. Mit dem Schnabel voran schoss sie
pfeilgleich auf Gorian zu, so als wollte sie Thondarils Worte
bestätigen.
Blitzschnell riss der zweifache Ordensmeister sein
Schwert hervor und fing das Tier nur eine Handbreit vor Gorians
Stirn ab. Seine Klinge zerteilte es, und Krähenblut spritzte aufs
Deck.
»Ich hoffe nicht, dass der Aufenthalt im Reich des
Geistes deiner Fähigkeit zur Voraussicht geschadet hat«, sagte
Thondaril, und ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme.
»Ich habe den Angriff des Vogels ebenso
vorausgesehen wie Euer Eingreifen«, erwiderte Gorian.
Meister Thondaril steckte das Schwert wieder ein.
»Du solltest dich in Zukunft auf niemanden mehr verlassen, Gorian.
Auch nicht auf mich.«
Hunderttausende von Eiskrähen umlagerten
mittlerweile das Schiff. Auf einmal stürzten sie sich alle zugleich
gegen den magischen Schirm, der die Hoffnung des Himmels
umgab. Der Schirm konnte sie nicht mehr zurückwerfen, weil zu viele
von ihnen nachdrängten, und wären nicht aufgrund des dämmerigen
Tageslichts magische Schiffslaternen entzündet worden, hätte
vollkommene Dunkelheit an Bord geherrscht. Körper an Körper
drängten die Eiskrähen gegen den Schirm und umschwirrten das Schiff
wie ein Bienenschwarm, der sich auf eine einzelne Hornisse stürzte,
um sie mit ihrer Körperwärme zu töten. Dieses Bild entstand vor
Gorians innerem Auge – eine jener vielen, unbedeutend erscheinenden
Erkenntnisse, die aus dem Reich des Geistes zusammen mit dem großen
Gedankenstrom in seine Seele gespült worden waren.
Aber in diesem Fall war es nicht die Wärme, die
töten
sollte, sondern die Kälte, erkannte Gorian. Und da die Caladran
gegen Kälte recht unempfindlich waren, war jeder Zweifel daran
beseitigt, wem dieser Angriff in erster Linie galt.
Es wurde innerhalb von Augenblicken so eisig, wie
Gorian es nicht einmal in den Tiefen des Frostreichs erlebt hatte,
als er den Kampf am Speerstein von Orxanor hatte bestehen müssen.
Diese Kälte war zweifellos magischen Ursprungs, die Kehlen
tausender Eiskrähen hauchten sie aus, und sie ließ innerhalb
weniger Augenblicke eine Eisschicht entstehen, die sich über den
magischen Schirm legte und sich sehr schnell ausbreitete.
Der Maskierte nahm sein Schwert, ließ dessen Klinge
zu einer Flamme werden und richtete diese empor.
»Nein!«, rief Orawéen und sandte dabei einen
Gedanken aus, der von tiefstem Entsetzen geprägt war.
Aber der Maskierte hatte bereits gehandelt und ließ
den Flammenstrahl seines Schwertes nach oben schießen. Dieser traf
auf den schon zu zwei Dritteln vereisten Schirm, der daraufhin von
einem magischen, grünlich und bläulich schimmernden Feuer erfasst
wurde. Zischend schmolz das Eis und regnete herab, und die
Eiskrähen, die noch gegen den Schirm drängten, verglühten zu
Asche.
Wie ein Blitz erfasste das magische Feuer den
gesamten Bereich um die Hoffnung des Himmels, die nun von
einer ovalen Flammenhülle umgeben wurde. Sie war so hell, dass sie
jeden an Bord blendete, aber keinerlei Wärme oder gar Hitze ging
von ihr aus; dieses Feuer war so kalt wie das Eis, das die
Hoffnung des Himmels gerade noch wie die Schale eines
riesigen Eises umgeben hatte.
Der eisige Nordwind fegte über das Deck des
Schiffs, trieb allen an Bord Schnee ins Gesicht und machte klar,
dass
es keinen magischen Schutz mehr gab, weder vor dem Wetter noch vor
anderen Gewalten, die dem Frostreich dienten.
Von den Eiskrähen waren einige wenige entkommen –
Kundschafter Morygors, über deren Augen er mit Sicherheit erfahren
würde, was sich in der Meeresenge zwischen Caladranien und der
Insel Pela zugetragen hatte.
»Ihr habt den magischen Schirm zerstört«, sagte
Orawéen anklagend zu dem Maskierten. »Der Zauber, der ihn neu
erschafft, wirkt nicht so schnell.« Während sie sprach, zerzauste
der Wind ihr Haar und zerrte an ihrem dünnen Gewand.
»So werden wir den Rest der Reise ohne diesen
Schutz auskommen müssen«, erklärte der Maskierte ungerührt, während
sich die Flammenklinge in Stahl zurückverwandelte. »Ihr werdet Euch
wohl oder übel auf meinen Schutz verlassen müssen, bis wir den
Stadtbaum von Pela erreicht haben.«
Ar-Don tauchte aus dem Grau des Schneegestöbers
auf und stieß einen durchdringenden fauchenden Laut aus, der sogar
das Tosen des Windes übertönte. Er hielt mit seinen Krallen ein
schiffsgroßes Fledertier mit weißem Fell und drei walrossähnlichen
Zähnen umklammert, einen Dreizahnigen. Der Legende nach gab es
sieben von ihnen, und sie gehörten zu den legendären Frostgöttern,
die einst in der Schlacht am Weltentor vertrieben und von Morygor
zurück nach Erdenrund geholt worden waren.
Der Dreizahnige war um einiges größer als Ar-Dons
Mischgestalt aus Gargoyle und Greif, dennoch war es Ar-Don offenbar
gelungen, einen bevorstehenden Angriff des Frostgottes abzuwehren.
Sein Blut spritzte fontänengleich aus den geöffneten Adern. Ar-Don
hatte gleich ein halbes
Dutzend steinerner Dornen ausgebildet und sie in den Leib des
riesenhaften Ungeheuers gerammt.
»Ar-Don gesiegt … Ar-Don sammelt … Substanz …
für langen Weg zum Ursprung.«
Dieser rätselhafte Gedanke seines zwielichtigen
Gefährten erreichte Gorian, während sich der Körper des
dreizahnigen Frostgottes bereits umzuwandeln begann und ein Teil
Ar-Dons wurde. Der sank tiefer, flatterte wild mit den Flügeln,
hatte offenbar Schwierigkeiten, die zusätzliche Masse zu
bewältigen. Doch nach und nach verwandelte sich der Körper des
getöteten Frostgottes, und der Kadaver des Dreizahnigen wurde zu
einem Teil von Ar-Dons steinernem Leib.
Die meisten Besatzungsmitglieder und Passagiere der
Hoffnung des Himmels gingen unter Deck, um nicht ungeschützt
der stürmischen Witterung ausgesetzt zu sein. Zu den wenigen, die
im Freien blieben, gehörten neben dem Steuermann Lendaris und dem
Maskierten auch Gorian und Torbas.
Ar-Don hatte unterdessen eine leuchtend rote Farbe
angenommen, sein Körper war durch die Substanz des Dreizahnigen um
mehr als das Doppelte angewachsen, er hatte ein zusätzliches Paar
Flügel ausgeformt und außerdem ein paar Zähne, die jenen des
Frostgottes sehr ähnlich waren.
Der Schneesturm ließ nach, die Sicht verbesserte
sich, und so konnte man in der Ferne weitere Dreizahnige sehen, die
offenbar auf eine Gelegenheit zum Angriff warteten.
Aber die Anwesenheit Ar-Dons schien sie davon
abzuhalten. Sie hatten wohl mitbekommen, was mit einem von ihnen
geschehen war, und Ar-Don hatte jetzt eine Größe, die es wohl
keinem der anderen Dreizahnigen geraten erscheinen ließ, mit ihm
anzubinden.
Immer wieder näherten sie sich, umkreisten in
einigem Abstand die Hoffnung des Himmels und verzogen sich
wieder, sobald Ar-Don einen seiner durchdringenden Schreie
ausstieß.
»Es sind alle sechs Dreizahnige, die noch übrig
sind«, stellte Torbas fest. »Aber selbst gemeinsam trauen sie sich
nicht mehr an Ar-Don heran.«
»Warum tut er das?«, murmelte Gorian.
»Was meinst du?«
»Das Sammeln von Substanz. Wieso legt er so viel
Wert darauf, immer größer zu werden? Bisher hatte er immer Angst
davor, dass sich seine Seele dadurch verändert.«
»Ich bin nicht der Richtige, den du über das
Seelenheil dieses Steindrachen befragen solltest«, antwortete ihm
Torbas.
»Und was ist mit der deinen?«
»Was soll damit sein?«
»Deine Augen sind immer noch schwarz, Torbas. Das
ist, als ob man seine Muskeln ständig angespannt hält. Niemand hält
das über einen längeren Zeitraum aus.«
»Ich anscheinend schon.« Er lachte. »Beunruhigt es
dich vielleicht, dass ich etwas kann, wovon du glaubst, dass es
unmöglich wäre?« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe so viel
Kraft, Gorian. So unvorstellbar viel.«