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Torbas und Sheera
Ein Licht flammte auf der ansonsten vollkommen
dunklen Oberfläche des Schattenbringers auf. Ar-Don!,
durchfuhr es Torbas. Offenbar hatte das zwielichtige,
undurchschaubare Wesen nur für diesen Moment all die Kraft und die
Materie gesammelt und die grotesk vermehrte Substanz seines Körpers
mit purer Magie aufgeladen. Für diesen Moment, den diese Kreatur
vielleicht vorhergesehen hatte – doch wer vermochte das schon mit
Bestimmtheit zu sagen?
Aber auch wenn der Gargoyle dieses magische
Experiment letztlich doch noch zu einem gewissen Erfolg geführt
hatte, er konnte sich nur einmal opfern.
Torbas glaubte fast körperlich zu spüren, wie der
Schattenbringer in Bewegung geriet, und wenige Augenblicke später
veränderte sich der Sonnenlichtkranz, wurde breiter, heller und
schloss sich schließlich sogar wieder.
»Hierher!« Torbas streckte die Hände aus,
und ein Chor durchdringender Schreie antwortete ihm. Es waren die
dreizahnigen Riesenfledertiere, die wie in einer Phalanx auf den
Turm zuflogen, riesenhaft, doch pfeilschnell. Sie umkreisten den
Turm, bis eines der Monstren aus der Formation ausscherte und auf
dem Turm landete.
Torbas wandte sich an Sheera, die noch immer in
ihrer Starre gefangen war.
»Komm!«
Ein Gedanke wie ein Peitschenschlag. Sie zuckte
regelrecht darunter zusammen, und ein wimmernder Laut drang ihr
über die Lippen, der vielleicht ein Wort des Protestes hatte werden
sollen, aber nicht mehr als das schmerzerfüllte Aufbäumen einer
gefangenen Seele war, die kaum noch wusste, wer sie war, und aus
der alle Klarheit der Gedanken längst verschwunden war.
Abermals ging ein Ruck durch ihren zierlichen
Körper, dann gehorchte sie. Torbas half ihr auf den Rücken des
Dreizahnigen und setzte sich hinter sie. Ein Gedanke genügte, damit
sich das Wesen mit machtvollem Flügelschlag emporhob.
Gleich darauf stürzten sich die fünf anderen
Dreizahnigen auf den Hohlspiegel, packten ihn mit ihren Pranken.
Blitze zuckten aus dem Sternenmetall, aber sie konnten den
Kreaturen nicht gefährlich werden, schließlich zählten die
Dreizahnigen zu den Frostgöttern, und auch wenn Morygor sie zu
Befehlsempfängern degradiert hatte, so waren sie in der alten Zeit
vor der Schlacht am Weltentor von den Völkern des Nordens als
machtvolle Herrscher verehrt worden.
Die dreizahnigen Riesenfledertiere rissen den
Spiegel aus seiner Verankerung und flogen mit ihm davon, hinaus in
die Weite des Meeres. Als sie das seichte Küstengewässer um die
Caladranischen Inseln verlassen hatten und über der Tiefsee
schwebten, ließen sie den Spiegel fallen. Funkensprühend und Bälle
aus purem Licht abstoßend sank der Spiegel in die Fluten,
tausendmal schwerer als jeder Stein. Konzentrische Wellen, auf
denen grelle Blitze tanzten und erst nach mehr als einer
caladranischen Meile verloschen, bildeten sich dort, wo der Spiegel
ins Meer geschlagen war. Blasenartige Gebilde aus bläulichem und
gelblichem Licht sprudelten
an die Oberfläche und zerplatzten dort, man sah das magische Feuer
noch über Stunden im Meer leuchten, als würde ein unterseeischer
Vulkan sein Magma ausspeien. Aber je tiefer der Spiegel sank, desto
schwächer wurden diese Erscheinungen.
Niemand konnte in diese schier unergründliche Tiefe
gelangen, um dieses magische Werkzeug zu bergen und es ein zweites
Mal gegen Morygor einzusetzen, zumal sich bald ein meilendicker
Eispanzer auch über diesen Teil des Ozeans bilden würde.
Die dreizahnigen Fledertiere zogen nach Nordosten,
Morygors Reich entgegen.
»Wir waren schwach«, murmelte Sheera. »Viel zu
schwach …«
Es waren die ersten klaren Worte seit ihrem
Aufbruch, und in ihrer Stimme lag die Trauer über das eigene
Versagen.
»Nein«, widersprach Torbas. »Wir hatten die nötige
Stärke, um uns auf die Seite des Siegers zu schlagen.«
Sheera schluckte. »Morygor …«
»Nur ein Narr wie Gorian könnte daran
zweifeln.«
Der Stadtbaum von Pela, die Bucht, der Hafen mit
den Himmelsschiffen – all das schien auf Gorian zuzurasen.
Er fiel aus einer Höhe, die die jedes bekannten
Berggipfels überstieg. Der schier ins Endlose gewachsene Turm
wirkte wie ein gerader, schwankender Strich, der sich von der
höchsten Astgabelung des Baumes in den Himmel emporzog, aufrecht
gehalten durch Magie. Aber auch Magie würde ein derartiges Bauwerk
nicht auf Dauer stützen können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis
es in sich zusammenstürzen würde, zumal sein Baumeister nicht mehr
existierte, um die Magie zu erneuern.
Abgesehen davon wirkten mächtige Kräfte darauf ein.
Magische Kräfte, allen voran die stärker werdende Aura Morygors und
die kalten Frostwinde, die er von den Frostgöttern nach Süden
schicken ließ. Spätestens das Eis würde alles niederwalzen und
einknicken wie Grashalme, die man niedertrat. Den Turm und den
Stadtbaum gleich mit. Nichts würde dieser Urgewalt
widerstehen.
Gorian fühlte sich wie betäubt. Seine Hand
umklammerte noch immer den Griff von Sternenklinge, obwohl ihn die
Waffe nicht davor bewahren würde, am Boden zerschmettert zu werden.
Einen solchen Fall konnte niemand so abbremsen, dass er ihn
überlebte. Zumindest nicht, wenn man einen vergleichsweise
empfindlichen menschlichen Körper hatte. Für Gargoyles mochten
andere Gesetze gelten.
Die Gedanken rasten in Gorian, während sich die
Zeit zu dehnen schien. Sollte das, was er als seine Bestimmung
angesehen hatte, bereits sein Ende gefunden haben? Sollte die
letzte Begegnung mit Morygor niemals stattfinden und er nie dessen
Schicksalslinie kreuzen?
Wenn dem so war, hatte Morygor gesiegt.
Und das vermutlich endgültig.
Erdenrund würde ein einziges Reich der Kälte
werden, von den Polen bis zum Äquator mit Eis bedeckt. Selbst
entfernte, unbekannte Länder würden unter der sich ausbreitenden
Kälte untergehen, noch bevor die dort lebenden Wesen auch nur
ahnten, welche Macht für ihre Vernichtung verantwortlich war.
Gorian dachte an Sheera, seine Seelenverwandte,
deren Gedanken nicht mehr zu ihm sprachen. Aber für einen Moment
war ihm, als ob er durch ihre Augen blickte. Er sah aus ihrer
Perspektive von einem weißen Riesenfledertier hinab, dessen Flügel
ruhig in der Luft standen, blickte kurz
zurück zu dem nadelartig in den Himmel ragenden Turm und sah aus
den Augenwinkeln das schattenhafte Profil von Torbas’
Gesicht.
»Warum folgst du ihm?«, dachte er – aber es
gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sein Gedanke sie
erreichte.
Er hatte Torbas für einen Freund gehalten. Seinen
Zwilling im Geiste, dem er Schattenstich überlassen hatte.
Als er das Feuer auf dem Schattenbringer aufblitzen
sah, dachte er an Ar-Don. Wer hätte gedacht, dass sich ausgerechnet
der Gargoyle als Gorians treuester Gefährte erweisen würde, zumal
er doch einst gekommen war, um Gorian zu töten. Ausgerechnet er
…
Er sah sein Leben wie im Flug an sich
vorüberziehen. All die Erinnerungen, die mit jenem Moment begannen,
da er im Boot seines Vaters in der Bucht von Thisilien erwacht war.
Und noch einmal sah er vor seinem geistigen Auge, wie Nhorich, sein
Vater, von den Frostkriegern erschlagen worden war.
Sollte all das umsonst gewesen sein?
Nein!
Der Moment der Agonie ging vorüber, und wie ein
Fanal durchschoss Gorian die Erkenntnis, dass es nur eine
Möglichkeit gab, am Leben zu bleiben.
Die Schattenpfade!
Er hatte die Ausbildung im Haus der Schattenmeister
begonnen, aber in den Wochen vor dem Fall der Ordensburg hatte kein
geordneter Unterricht mehr stattfinden können. So gut wie alle
Schattenmeister waren für den Kampf gegen Morygors Horden oder für
Kundschafterdienste im Frostreich abgezogen worden, und so hatte
Gorian im Wesentlichen nur theoretisches Wissen über die
Schattenpfadgängerei erlangt. Bis auf kurze unfreiwillige
Aufenthalte im
Zwischenreich der Schattenpfade, wie etwa während seines Kampfes
gegen den Totenalb im Palast des Greifenreiter-Königs.
Die Gefahr, in den Zwischenwelten zu stranden, war
immens groß. Wenn ihm das widerfuhr, gab es kaum noch Rettung. Im
schlimmsten Fall würde er sich auf einer Welt wiederfinden, auf der
er fortan vollkommen allein existieren würde, bar jeden
Sinneseindrucks und jeden Voranschreitens der Zeit, eine Ewigkeit
gefangen in den eigenen Gedanken eines einzigen Moments. Konnte man
sich eine furchtbarere Folter vorstellen? Selbst der Tod konnte
nicht schlimmer sein, auch dann nicht, wenn die schrecklichsten
Vorstellungen der Priesterschaft des Verborgenen Gottes über die
Hölle der Wahrheit entsprachen.
Als Gorian die Dreizahnigen davonfliegen sah – auf
einem von ihnen unverkennbar Sheera und Torbas -, war sein erster
Gedanke, sie über die Schattenpfade zu verfolgen. Wohin sie sich
auch wenden würden, er konnte sie einholen. Das Beschreiten der
Schattenpfade erlaubte schließlich, die entferntesten Orte ohne
nennenswerten Zeitverlust zu erreichen. Und in diesem Moment wäre
es ihm auch gleichgültig gewesen, wenn er dafür so viel Kraft hätte
aufwenden müssen, dass er dadurch zum vorzeitig gealterten Greis
wurde.
Aber dann entschied er sich dagegen. Eine lange
Strecke im Zwischenreich der Schattenpfade zurückzulegen barg ein
zu großes Risiko, und selbst eine kurze Entfernung auf diese Weise
zu überwinden konnte ihm schon zum Verhängnis werden. Und wenn er
sein Ziel nicht erreichte, half er damit niemandem.
So wählte er ein anderes.
Er sammelte die Alte Kraft in sich und murmelte in
Gedanken eine unterstützende Formel der Schattenmeister.
Kurz bevor sein Körper auf den felsigen Berghängen
in der Nähe des Stadtbaums von Pela aufschlug, verwandelte er sich
in einen schwarzen Rauchwirbel …
… und erreichte dann den Hafen von Pela. Über einem
der Himmelsschiffe verstofflichte er wieder, stolperte aus Hüfthöhe
ungeschickt zu Boden und schlug hart auf den Planken auf, denn er
hatte nicht daran gedacht, diesen letzten kleinen Fall magisch
abzumildern. Sternenklinge entglitt seiner Hand und rutschte ein
Stück über das Deck.
Auf die Schattenmeisterwürde musste er wohl noch
etwas warten.
Er streckte die Hand aus, und das Schwert kehrte zu
ihm zurück. Dann besann er sich auf das, was er im Reich des
Geistes gelernt hatte. Dort war er schon einmal mit einem
Himmelsschiff geflogen, wenn auch nur in Gedanken.
Aber der Unterschied konnte so groß nicht sein.
Alles, was notwendig war, um dieses Schiff sich in die Lüfte
erheben zu lassen und den dreizahnigen Riesenfledertieren zu
folgen, wusste er.
Er ging zum Heck, zerschlug die Taue aus feinstem
Caladran-Seil mit ein paar Schwerthieben, eilte dann zum Bug und
machte das Schiff auch dort frei.
Es trug den Namen Sonnenbarke von Pela, wie
die Caladran-Runen verrieten, die die Aufbauten weithin zierten.
Allerdings hatte das Schiff nicht einmal ein Drittel der Länge, die
das Flaggschiff des Königs auszeichnete.
Die Sonnenbarke von Pela setzte sich in
Bewegung, ohne dass sich das Segel rührte. Gorian spürte die
metamagischen Winde. Und er spürte auch all die Möglichkeiten des
Schiffes, die sich durch einen puren, auf die richtige Weise
formulierten Gedanken in Gang setzen ließen.
Das Schiff trieb auf die Einfahrt des Hafens zu,
dann ließ
er es schneller fahren, und es durchpflügte die hohen Wellen in
der Bucht von Pela, ehe es sich schließlich aus dem Wasser erhob.
Ein Ruck ging durch die Sonnenbarke, als Gorian noch einmal
die Geschwindigkeit erhöhte und dafür sorgte, dass die
metamagischen Winde das Gefährt vorantrieben.
Vielleicht war das etwas zu schnell, denn die
Umgebung begann zu verschwimmen. Selbst der noch relativ nahe
Stadtbaum von Pela war nur noch als verwaschene, gebogene Kontur
wahrzunehmen, wie ein Zerrbild seiner selbst.
Er durfte nicht außer Acht lassen, dass er ein
Anfänger war und ihm die Magie der Caladran noch viele ungelöste
Rätsel aufgab. Gleichzeitig entsann er sich all der Warnungen im
Zusammenhang mit den Himmelsschiffen und den metamagischen Winden.
Es bedurfte eines starken Geistes, um nicht ungewollt allein in
einer eigenen metamagischen Raumzeit zu enden.
Die Umgebung verformte sich noch stärker, während
Gorian zusätzliche Kräfte zu sammeln versuchte. Seine Augen waren
mittlerweile permanent von Schwärze erfüllt. Er drosselte die
Geschwindigkeit ein wenig, und die Formen der Umgebung wurden
wieder klarer und vertrauter, waren nicht mehr verzerrt.
»Es sind nicht deine eigenen Kräfte, die dieses
Schiff vorantreiben, sondern die metamagischen Winde und
Schwingungen«, hörte er eine Gedankenstimme in sich, die
geradewegs aus dem Reich des Geistes zu kommen schien. »Du
bestimmst nur, wie sehr du ihnen das Schiff überantwortest. Also
verhalte dich nicht wie ein Koggenkapitän, der selbst den Wind zu
blasen versucht, anstatt ihn zu erwarten und die Segel nach ihm
auszurichten!«
Es war die Gedankenstimme des Namenlosen Renegaten.
Dort, wo alle Gedanken und Erinnerungen der Caladran
aufgehoben waren, würden wohl auch die seinen für alle Zeiten
bewahrt bleiben. Mochte er sich auch noch so sehr von seinem Volk
losgesagt haben, die Spuren, die er im Reich des Geistes
hinterlassen hatte, waren unauslöschlich.
Und so achtete Gorian mehr auf die metamagischen
Strömungen und versuchte, ihre Kraft zu nutzen, statt seine eigene
zu verschwenden.
Das Schiff gewann überraschenderweise an Fahrt,
während es Gorian plötzlich sehr viel leichter fiel, es unter
seiner Kontrolle zu halten. Es dauerte nicht lange, und er gewann
beinahe dieselbe Leichtigkeit im Umgang damit, wie er sie bereits
während der Fahrt mit Torbas im Reich des Geistes empfunden
hatte.
Den eisigen Wind, der ihm entgegenwehte, milderte
er mittels eines leichten magischen Schirms, der sich durch einen
einfachen Gedanken über das Schiff wölben ließ. Den Zauber, der
dazu nötig war, brauchte der gegenwärtige Steuermann der
Sonnenbarke von Pela keineswegs selbst zu wirken, er war
vielmehr schon da und musste nur noch in Kraft gesetzt
werden.
Ein gleißendes Licht ließ ihn den Blick wenden, und
er sah zum Schattenbringer, um den sich der Sonnenkranz noch einmal
deutlich vergrößert hatte. Das dunkle Gestirn hatte sich zweifellos
in Bewegung gesetzt, und erstmals seit längerer Zeit brach die
Dämmerung sichtbar auf. So viel Helligkeit hatte es lange nicht
gegeben. Man konnte fast meinen, dass ein neuer Tag anbrach.
Der Schattenbringer gab stetig ein bisschen mehr
von der Sonne frei. Aber Gorian gab sich keinen Illusionen hin. Die
Kraft, die den finsteren Himmelskörper in Bewegung versetzt hatte,
würde längst nicht ausreichen, um ihn gänzlich von der Sonne
wegzuschieben. Sie würde erlahmen, und
dann gewannen wieder jene dunklen Kräfte die Überhand, die Morygor
einsetzte, um die Welt zu verderben. Das Pendel würde
zurückschwingen und die Finsternis danach tiefer sein als
zuvor.
Und auch die Hoffnungslosigkeit …
Meister Thondaril meldete sich über das
Handlicht.
Es war nicht das erste Mal, dass der zweifache
Ordensmeister versuchte, Gorian seit seinem plötzlichen Aufbruch
aus dem Hafen von Pela zu erreichen. Diesen hatte Thondaril ebenso
verfolgt wie zuvor den schrecklichen Sturz und die Flucht von
Torbas und Sheera.
Aber zunächst hatte sein ehemaliger Schüler seine
Versuche ignoriert, mit ihm in Verbindung zu treten, um sich voll
auf die Lenkung des Himmelsschiffs konzentrieren zu können; das
hatte seine Aufmerksamkeit zunächst vollkommen in Beschlag
genommen.
Nun endlich legte er die Handkanten gegeneinander,
ließ ein Licht in seinen Händen entstehen, und das Gesicht des
zweifachen Ordensmeisters erschien darin.
»Endlich, Gorian! Ich hatte schon die schlimmsten
Befürchtungen …«
»Es geht mir den Umständen entsprechend«, erklärte
Gorian. »Torbas hat sich auf Morygors Seite geschlagen. Und er hat
Sheera in seiner Gewalt.«
»Sie waren schwach, Gorian. Jedem von uns hätte das
passieren können.«
»Können, aber nicht dürfen«, erwiderte Gorian.
»Meister, warum habe ich nicht bemerkt, welche Veränderungen in
meinen Gefährten vor sich gingen?«
»Vielleicht hast du es und wolltest die Wahrheit
nur nicht sehen. Davon will ich mich selbst nicht
freisprechen.«
»Mag sein. Ich bin ihnen jetzt auf den Fersen und
werde ihnen bis in die Frostfeste folgen, wenn es sein muss.«
»Kehr um, Gorian. Du begibst dich in eine Gefahr,
der du noch nicht gewachsen bist.«
»Nein, das kann ich nicht«, widersprach Gorian mit
Bestimmtheit.
»Verbanne die Gedanken an Torbas und Sheera aus
deinem Geist. Sie werden dich nur schwächen bei den großen
Herausforderungen, die dir immer noch bevorstehen.«
»Ich kann Sheera nicht einfach aufgeben. Sie ist
Torbas nicht aus freien Stücken gefolgt.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Meister
Thondaril.
Die Wahrheit war, dass er sich keineswegs sicher
war. Immerhin war die gedankliche Verbindung zwischen ihnen
abgerissen.
»Ihr hattet von Anfang an recht, als Ihr daran
gezweifelt habt, dass Torbas des Meisterrings würdig ist«, murmelte
er.
Auf einmal wurde Thondarils Bild in seinen Händen
undeutlich. Es verschwamm und war im nächsten Moment
verschwunden.
»Gorian?«, klang ihm noch die Gedankenstimme
seines Mentors im Kopf.
Dann riss die Verbindung vollkommen ab.
Morygors Aura, dachte Gorian. Es war ihm nicht
bewusst gewesen, wie stark sie in dieser Gegend bereits war. Je
tiefer er in das Frostreich eindrang, desto mehr überlagerte sie
alles andere, den eigenen Willen ebenso wie jede Art von Magie, die
Morygor nicht zu dulden bereit war.
Gorian versuchte mithilfe seiner magischen Sinne zu
erspüren, wohin genau sich Torbas und Sheera gewandt hatte. Die
grobe Richtung kannte er.
Schließlich spürte er deutlich Torbas’ magische
Kraft –
und die Magie der Dreizahnigen. Beides war für ihn wie eine gut
sichtbare Fährte, und so war es ihm ein Leichtes, ihr zu
folgen.
Unter sich sah er immer wieder Eisschollen gen
Süden treiben, die bis zum Rand mit den Horden des Frostreichs
besetzt waren. Sie manövrierten mit einer Leichtigkeit gegen die
Strömung und dem Wind, dass es einen westreichischen
Galeerenkapitän vor Neid hätte erblassen lassen.
Wo auch immer diese Horden anlanden würden, ob auf
Pela, in Caladranien oder noch weiter südlich an der Küste
Mituliens und des Westreichs, würden sie Angst und Schrecken
verbreiten und alles zerstören, was endlose Generationenfolgen
mühevoll errichtet und aufgebaut hatten.
Endlich erreichte Gorian jene weiße Grenze, die
sich mitten durch den Ozean zog und an der sich der nach Süden
drängende, ständig wachsende Eispanzer durch das endlose
Wasserreservoir des Meeres von Ost-Erdenrund speiste. Auch das
wenige Sonnenlicht, das wieder auf Erdenrund strahlte, hatte nicht
dazu geführt, dass sich der Frost zurückgezogen hätte. Nicht eine
Meile. Das Gegenteil war der Fall.
An der Bruchkante des Eispanzers lagerten
Leviathane und Hunderttausende von Wollnashornreitern. Untote aus
Orxanien, aus Torheim und von den Torlinger Inseln und aus Eisrigge
formierten sich dort.
Immer wieder brachen Stücke aus dem Panzer, aber
diese Brüche wurden bewusst herbeigeführt, wie Gorian erkannte. Sie
waren zu gerade, zu akkurat, um nur Ergebnis blinden Zufalls oder
chaotischer Spannungskräfte zu sein. Auf diesen Schollen fuhren die
einzelnen Kriegsverbände gen Süden; es war der Beginn einer Reise,
die mit Eroberung und Zerstörung ihren Höhepunkt finden
sollte.
Gorian ließ das Himmelsschiff höher steigen. Er
wollte
kein Ziel für Katapultbeschuss oder den Angriff durch einen
Schwarm Eiskrähen darstellen.
Eine ganze Weile flog er die sich beständig nach
Süden voranschiebende Eisgrenze entlang, dann drang er schließlich
in jene weiße Wüste vor, die ehedem Meer gewesen war.
Schneegestöber behinderte seine Sicht, und er war
froh, dass der magische Schirm der Sonnenbarke von Pela die
Auswirkungen des Wetters weitgehend fernhielt.
Die Nacht brach herein.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Gorian den
Unterschied wieder deutlich bemerken können. Der Schneefall hörte
auf, und ein fahler, bleicher Mond stand am Himmel und leuchtete
auf eine weiße Ebene hinab, die sein Licht zurückstrahlte.
Als die Sonne aufging, sah sie aus wie eine
riesige Feuersichel und wirkte auf den ersten Blick wie ein
unnatürlich großer und greller Mond. Es wurde so hell wie schon
seit langer Zeit an keinem Morgen mehr, auch wenn noch immer einige
Sterne sichtbar blieben.
Ein trügerisches Zeichen der Hoffnung, dachte
Gorian. Aber vielleicht machte es dem einen oder anderen Mut, der
nun in Gryphland oder in den südlichen Herzogtümern des Heiligen
Reichs darüber nachdachte, sich gegen Morygors Macht zu
stemmen.
Im Morgengrauen holte Gorian die dreizahnigen
Riesenfledertiere ein. Sie schwebten über schneebedeckte Anhöhen
und Gebilde, bei denen es sich womöglich um die Turmspitzen hoher
Gebäude handelte.
Das musste die Torlinger Stadt sein. Gorian
erinnerte sich der präzisen Darstellungen auf König Abrandirs
Globus.
Vor kurzem noch war die Torlinger Stadt ein großer Seehafen und
Zentrum des Handels im nördlichen Meer von Ost-Erdenrund gewesen,
nun war sie begraben unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee.
Immerhin waren wieder Konturen in der Landschaft zu erkennen, und
so gab es etwas Abwechslung in der weißen Einöde.
Gorian spürte die Wirkung von Morygors Aura. Aber
sie beeinträchtigte ihn keineswegs mehr so stark wie bei seinem
ersten Vorstoß ins Frostreich, als er zum Speerstein von Orxanor
gelangt war. Und das, obwohl der Einfluss Morygors keineswegs
schwächer geworden war, sondern sich ganz im Gegenteil noch
erheblich weiter ausgedehnt hatte.
Gorian beschleunigte das Schiff.
Sheera!, dachte er und versuchte alle Kraft
in diesen Gedanken zu legen, die er im Moment aufzubringen
vermochte. Warum sollte es nicht trotz allem möglich sein, zu ihrer
Seele vorzudringen? Es konnte nicht ihre freie Entscheidung sein,
dass sie auf Torbas’ Seite stand und zu Morygors Dienerin geworden
war.
Die Dreizahnigen veränderten ihre Flugbahn. Alle
bis auf jene Kreatur, auf der Torbas und Sheera saßen, flogen einen
Bogen und stießen annähernd gleichzeitig auf die Sonnenbarke von
Pela zu. Dann stürzten sich gleich drei von ihnen von oben
herab auf das Himmelsschiff.
Zischend prallten sie gegen den magischen
Schutzschirm, sodass es grell aufblitzte. Zwei weitere Dreizahnige
krallten sich von unten an die Sonnenbarke und rissen sie in
die Tiefe. Ein geübterer Himmelsschiff-Steuermann hätte das
vielleicht rechtzeitig ausgleichen können. So aber schrammte das
Schiff wenig später über das Eis, grub sich in den Schnee und blieb
schließlich kurz vor den Ruinen der Torlinger Stadt stecken.
Bevor sie unter dem Schiff begraben worden wären,
waren jene Dreizahnigen, die sich von unten an das Gefährt gekrallt
hatten, davongeflogen. Nun stürzten sie sich wie die anderen von
oben auf die Sonnenbarke von Pela.
Der magische Schirm schleuderte sie davon und
flackerte. Die Dreizahnigen taumelten durch die Luft, aber sie
gewannen sehr schnell wieder eine stabile Flugbahn. Erneut kam
einer von ihnen im Sturzflug heran. Der magische Schirm war bereits
über Gebühr strapaziert worden, der Zauber, der ihn
aufrechterhielt, wirkte nur noch schwach.
Als der herabstürzende Dreizahnige erneut gegen den
Schirm prallte, zerplatzte dieser mit einem grellen blauen Blitz.
Gorian stieß einen Kraftschrei aus und stieß den Strahl von
Sternenklinge in den Körper des Monstrums. Zischend übertrug sich
die angesammelte Kraft auf den Dreizahnigen. Blitze wanderten die
Klinge entlang, das Riesenfledertier stieß einen röchelnden Laut
aus und stob davon, taumelte durch die Luft und fiel zuckend zu
Boden, krachte auf das Eis und blieb reglos liegen.
Die anderen Dreizahnigen waren daraufhin
vorsichtiger. Sie kreisten etwas höher um Gorian und die
Sonnenbarke von Pela. Dann wagte wieder einer einen Vorstoß,
und Gorian schleuderte ihm seinen Dolch Rächer entgegen, der ihn
genau zwischen die Augen traf. Die Klinge aus Sternenmetall bohrte
sich in den Schädel des weißen Riesenfledertiers, das daraufhin
gegen eine der Turmspitzen rammte, die noch aus dem Eis ragten. Das
Mauerwerk bröckelte, die Turmspitze brach mitsamt dem massigen
Körper des Dreizahnigen seitwärts und wurde umgerissen.
Gorian streckte die Hand aus, und der Dolch kehrte
zu ihm zurück.
»Wo bist du, Torbas? Du wirst nicht damit
gerechnet haben,
mich noch einmal lebend zu sehen! Was wird dein Herr sagen, wenn
du vor ihn trittst, ohne seinen Auftrag erledigt zu haben? Du wirst
mich hier und jetzt töten müssen, wenn du nicht in Ungnade fallen
willst!«
Es dauerte nicht lange, da kehrte jener
Dreizahnige, auf dem Sheera und Torbas ritten, zurück und landete
kaum fünfzig Schritt von dem im Eis gestrandeten Himmelsschiff
entfernt.
Mit einem Gedanken, der so mächtig war, dass auch
Gorian ihn mitbekam, scheuchte Torbas die anderen Dreizahnigen
davon. Sie reagierten erst etwas ungläubig, doch dann flogen sie
tatsächlich fort.
Torbas stieg von seinem Reittier, während Sheera
dort sitzen blieb, reglos, mit starrem Gesicht und von Finsternis
erfüllten Augen.
Torbas ging auf das gestrandete Himmelsschiff zu,
Schattenstich mit beiden Händen umfassend, und Gorian sprang über
die Reling der Sonnenbarke.
In einem Abstand von kaum fünf Schritten blieben
sie stehen. Gorian hatte Rächer eingesteckt, denn so leicht wie ein
Dreizahniger war ein Schwertmeister mit einer solchen Waffe nicht
zu besiegen.
Und noch mehr galt dies für einen Schwertmeister,
der im Reich des Geistes der Caladran gewesen war und dort sein
magisches Wissen noch in einer Weise vervielfältigt hatte, wie es
in der Vergangenheit keinem Meister des Ordens möglich gewesen
war.
»Ich habe dich schon einmal besiegt und werde es
wieder tun«, sagte Torbas. »Die Dinge geschehen, wie sie geschehen,
und Morygor bestimmt das Schicksal und die Gestirne. Sieh zum
Himmel, sieh zur Sichel der Sonne, und benutze
dabei deine Augen so, wie es die Caladran tun und wie es auch dir
möglich ist, seit du im Reich des Geistes warst. Dann erkennst du,
dass die Sichel bereits wieder schmaler wird und der
Schattenbringer die Sonne langsam, aber unaufhaltsam verlöschen
lässt. Morygor ist sehr großzügig, bedauerlicherweise aber nicht
dir gegenüber. Sheera und mir steht der Weg frei, uns auf die Seite
dessen zu stellen, der eine neue Welt schaffen wird. Dir aber ist
dieser Weg verwehrt. Für dich gibt es – früher oder später – nur
den Tod und das ewige Vergessen.«
»Das werden wir sehen«, murmelte Gorian.
»Nein, es steht schon fest!«
Dann griff Torbas an. Eine Folge wilder Schläge
prasselte auf Gorian ein, so blitzschnell, dass sie auch für
jemanden, der die Kunst der Voraussicht beherrschte, gefährlich
waren. Gorian musste zurückweichen, und Torbas trieb ihn fast ein
Dutzend Schritte vor sich her.
Auf einmal aber hielt er inne. Ein kaltes Lächeln
spielte um seine dünn gewordenen Lippen. »Die Aura Morygors
verleiht mir ungeahnte Kräfte, aber deine werden dadurch
geschwächt. Insofern hast du einen guten Ort gewählt, um diesen
Kampf zu verlieren.«
Erneut griff er an, und in seinen Schwerthieben lag
eine unbändige Wut, die ihnen noch zusätzliche Energie verlieh.
Sternenmetall schlug auf Sternenmetall, Funken sprühten, Blitze
zuckten die Klingen entlang und sprangen von einer Waffe zur
anderen.
Gorian parierte die Hiebe und ging dann selbst zum
Angriff über. Mit aller Macht schlug er zu, aber so rasch er seine
Hiebe auch aufeinander folgen ließ, Torbas wehrte sie alle
scheinbar mühelos ab. Immerhin gelang es Gorian, seinen Gegner
einige Schritte zurückzutreiben, ehe dieser wieder
die Oberhand gewann. Ein mörderischer Hieb sauste dicht über
Gorians Kopf hinweg; er hatte sich im letzten Augenblick ducken
können. Er stieß mit Sternenklinge zu, aber Torbas wich mit einer
unglaublichen Leichtigkeit aus und schlug Gorians Klinge mit
Schattenstich einfach zur Seite.
»Du kannst mich nicht besiegen, Gorian. Du wirst
gegen mich verlieren, weil du gegen mich einfach nicht gewinnen
kannst. Die entsprechende Schicksalslinie wurde durch die letzten
Ereignisse festgelegt!«
Gorian empfand auf einmal die schreckliche
Gewissheit, dass Torbas recht hatte. Erneut trieb dieser ihn vor
sich her, drängte ihn Schritt für Schritt zurück. Gorian konnte die
überlegene Kraft seines Gegners deutlich spüren. Es folgte Schlag
auf Schlag…
… und dann stieß Torbas einen Kraftschrei aus, wie
Gorian ihn noch nie gehört hatte. Schattenstich glühte auf, und
dieses Glühen sprang innerhalb eines Augenaufschlags auf
Sternenklinge über, raste über den Griff in Gorians Hände, und ein
höllischer Schmerz stieß von dort aus über Arme und Schultern in
seinen gesamten Körper.
Ein Bild erschien in diesem Moment vor seinem
inneren Auge. Er sah Nhorich, seinen Vater, als er die Schwerter
Sternenklinge und Schattenstich schmiedete, damals, in jener Nacht,
als das Sternenerz vom Himmel fiel und zwei Jungen mit besonderer
Begabung geboren wurden.
Gorian schrie auf. Er hatte das Gefühl, seine Hände
und Arme würden verbrennen. Verzweifelt versuchte er, das Schwert
zu halten, aber es gelang ihm nicht; die Wucht eines zweiten Hiebes
riss es ihm aus den Händen, schleuderte es hoch empor, wo es noch
einmal aufglühte, um dann mehr als dreißig Schritte entfernt mit
der Spitze in einen Eisblock zu fahren, wo es zischend stecken
blieb.
Gorian riss Rächer heraus, schleuderte ihn auf
Torbas, einen Kraftschrei auf den Lippen, doch der wehrte den Dolch
mit Schattenstich ab.
Torbas’ schwarze Augen veränderten sich. Sie
wirkten auf einmal, als wären sie von flüssiger Lava erfüllt. Er
streckte die Hand aus, stieß erneut einen Schrei aus, und im
nächsten Moment wurde Gorian zu Boden geschleudert und gegen das
Eis gepresst. Er versuchte sich zu befreien, aber unsichtbare
Fesseln banden ihn. Auch Rächer oder Sternenklinge konnte er auf
einmal nicht mehr zu sich rufen.
Eine lähmende Macht drückte ihn zu Boden wie eine
Grabplatte aus schwerem Blei. Ausgestreckt lag er auf dem Eis,
hilflos, magisch gefesselt und nahezu kraftlos.
Torbas näherte sich.
»Es wird Zeit, dass auch du den Moment
vollkommener Schwäche erlebst«, wisperte eine Gedankenstimme,
bei der sich Gorian nicht sicher war, ob sie wirklich Torbas
gehörte oder jemand anderes ihm die Worte sandte, vielleicht sogar
Morygor selbst.
Torbas streckte die Linke aus, und Sternenklinge
wurde wie von einer unsichtbaren Hand aus dem Eis gerissen,
schwebte durch die Luft, wirbelte um den Schwerpunkt und landete
schließlich in Torbas’ zuschnappenden Fingern.
»Zwei Schwerter, endlich wieder vereint. Aber sie
haben keine Bedeutung mehr, denn niemand wird den Spiegel aus der
Tiefsee bergen können, um noch einmal zu versuchen, das dunkle
Gestirn zu bewegen. Niemand!«
Torbas lachte auf und trat mit beiden Schwertern in
den Händen auf den hilflos daliegenden Gorian zu.
»Du wunderst dich darüber, welche Kraft dich zu
Boden zwingt und dich lähmt? Es ist zum größten Teil deine eigene,
die ich gegen dich gewandt habe. Eine interessante Art von
Magie haben die Caladran in ihrem Reich des Geistes bewahrt. Eine
Magie, die fast gänzlich ohne eigene Kraft auskommt, wenn man sie
richtig anwendet.« Er lachte wieder.
Dann stand er über Gorian, der inzwischen
eingesehen hatte, dass es sinnlos war, sich von den unsichtbaren
Fesseln befreien zu wollen. Sie drückten ihn nur noch ärger zu
Boden, je mehr er sich dagegen auflehnte.
»Torbas, warum tust du das? Wie konntest du mich so
verraten? Ich habe dir vertraut!«
»Ich dir nie. Wer in den Straßen von Thiskaren
aufgewachsen ist, traut niemandem«, gab Torbas kühl zurück. Er
wandte sich halb herum. »Komm her, Sheera!«, rief er. »Sofort!
Jetzt ist der Augenblick gekommen, da du beweisen kannst, dass du
Morygors Gunst wirklich verdienst!«
Sheera stieg zögernd und mit ruckartigen, seltsam
ungelenken Bewegungen vom Rücken des weißen dreizahnigen
Riesenfledertiers. Langsam näherte sie sich. Ihre Schritte waren
klein und unsicher, die dunklen Augen weit aufgerissen und wirkten
aus der Entfernung wie die leeren Höhlen eines Totenschädels. Sie
war bleich und zitterte leicht.
Torbas trat einen Schritt zur Seite und warf ihr
Sternenklinge zu. Sie hob die Hand und fing die Waffe sicher
auf.
»Töte ihn«, verlangte Torbas. »Jetzt! Das wird
Morygor von deiner Treue überzeugen!«
»Sheera!«, rief Gorian.
»Tu, was ich dir sage!« Torbas steckte
Schattenstich in die Schwertscheide seines Waffengehänges.
Sheera trat weiter vor. Ihre Bewegungen wirkten
marionettenhaft. Sie packte den Griff von Sternenklinge mit beiden
Händen, hob das Schwert, als wollte sie es Gorian in die Brust
rammen.
Dann wirbelte sie herum, stieß einen Kraftschrei
aus und wollte Torbas den Kopf abschlagen.
Torbas hob nur seine Hand.
Sternenklinge prallte von einer unsichtbaren Wand
ab, so schien es, schnellte zurück – und durchschnitt Sheeras
Kehle!
Blut spritzte aus ihrer geöffneten Halsschlagader,
während sie röchelnd zu Boden ging.
Torbas ließ Sternenklinge in seine Hand schweben.
Sheeras Blut troff von der Klinge, die er dicht neben Gorians Kopf
in das Eis rammte.
»Worauf wartest du?«, schrie Gorian entsetzt. »Töte
mich!«
»Ich habe dich schon besiegt.«
»Dann mach ein Ende!«
»Es ist mir nicht mehr bestimmt, dich zu töten, wie
auch dir nicht mehr bestimmt ist, Morygors Schicksalslinie zu
beenden. Was auf dem Turm geschah, hat alles verändert. Das
Schicksal ganz Erdenrunds ist nicht mehr dasselbe. Auf dem Turm
hätte ich dich töten sollen – hier nicht.«
»Hat Morygor dir seine Voraussicht der
Schicksalslinien offenbart?«, fragte Gorian ächzend.
Torbas verzog das Gesicht zu einem kalten Lächeln.
»Er fürchtet dich nicht mehr, denn er weiß, dass von dir keine
Gefahr mehr für ihn ausgeht. Du wirst Morygor nicht töten,
Gorian.«
Dann wandte er sich der am Boden liegenden Sheera
zu, deren Blut in den Schnee strömte und dort dampfend
verrann.
»Und du – heile dich selbst!«