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24. April

Ich musste sterben. Ich spürte, wie mir die Todesangst in die Knochen kroch. Der Arzt hatte sein Verbrechen fast vollendet. Bald hatte er es geschafft. Doch dann hat er die Nerven verloren. Wahrscheinlich bekam er plötzlich Panik und hat das Warten nicht mehr ausgehalten. Er kam zu mir in den Raum, um nach mir zu sehen. Um etwas zu Ende zu bringen, was von ganz allein zu Ende gegangen wäre.

Als ich hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, war ich schweißgebadet und so schwach, dass ich im ersten Moment glaubte, ich hätte mir das Geräusch nur eingebildet. Doch dann sah ich, wie sich die Tür langsam öffnete, und nahm meine allerletzte Kraft zusammen. Ich lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte das Notizbuch und das Seil hinter mir versteckt. Regungslos und mit halb geschlossenen Lidern sah ich zu, wie er den Raum betrat. Er machte die Tür zu und verschloss sie. Dann blieb er so weit weg von mir stehen, wie es in dem kleinen Raum nur möglich war, und betrachtete mich forschend. Genau wie ich ihn. Er trug Freizeitkleidung: Jeans und Anorak. Sein Gesicht sah älter aus, als ich es in Erinnerung hatte. Die Haut war bleich und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Es war das erste Mal, dass ich ihn in aller Ruhe ansehen konnte. Ich suchte in seinen Augen nach dem Monster, das in ihm lauerte, doch sein Blick war leer. Ich fragte mich, was er vorhatte, und versuchte zu erahnen, was er als Nächstes tun würde. Einen Moment würde es geben. Meine allerletzte Chance. Ich versuchte, meine letzten Reserven zu mobilisieren und meine Muskeln zum Leben zu erwecken, ohne mich zu bewegen.

Der Arzt zog eine Spritze aus der Jackentasche.

»Du kannst mich hören, Marko, nicht wahr?«, sagte er mit sanfter Stimme. So wie Ärzte mit ihren Patienten sprechen. Ich nickte.

»Es wird überhaupt nicht wehtun. Du wirst einfach einschlafen. Du bist bestimmt sehr müde.«

Und wenn ich mir die Stimme unter anderen Umständen vorstelle, könnte ich fast glauben, dass er sich auf eine kranke Weise tatsächlich Sorgen um mich machte. Dass er es mir leicht machen wollte. Ich ließ ihn nicht aus den Augen und verfolgte jede seiner Bewegungen. Er hielt die Spritze prüfend vors Licht. Dann trat er einen Schritt nach vorn und ich tat so, als wollte ich zurückweichen, wäre aber schon zu schwach. Meine Hand umklammerte das Ende des Seils hinter meinem Rücken. Meine Chance. Noch war es nicht so weit. Seine Bewegungen waren vorsichtig, als rechnete er jeden Moment mit einem Angriff von mir.

»Sie brauchen mich nicht umzubringen«, krächzte ich und sah ihm ins Gesicht. In seinem Blick lag plötzlich unendliche Trauer, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich musste mich zwingen, wieder wegzusehen und auf seine Bewegungen zu achten.

»Ich will dich nicht töten, Marko. Ich wollte, dass du lebst. Ich habe dir das Leben gerettet. Du warst halb tot, als sie dich hierher gebracht haben. Ich habe geholfen, deinen Kreislauf zu stabilisieren.«

Die Hand mit der Spritze sank kraftlos nach unten, als hätte er es sich plötzlich anders überlegt. Er wollte sich etwas von der Seele reden. Ich würde ihm ein bisschen helfen, sodass seine Aufmerksamkeit nachließ.

»Aber jetzt wollen Sie mich töten.«

»Nicht ich, Marko. Sondern die Umstände.«

Er sagte es, als hätte er die Worte schon oft gesagt. Als hätte er dieses Gespräch schon hundertmal in Gedanken geführt. Ich beobachtete ihn und versuchte, nicht zuzuhören. »Am Ende sterben wir alle daran. Unter anderen Umständen würdest du mich töten. Wenn du unbedingt jemandem die Schuld geben willst, dann gib sie Schwester Margaret. Sie war diejenige, die alles besser wusste. Die entgegen meinen Anweisungen mit deiner Dosierung herumexperimentiert hat. Wenn sie sich rausgehalten hätte, wärst du immer noch am Leben.«

»Ich bin immer noch am Leben.«

»Ja, das stimmt. Es hat lange genug gedauert.«

Ich drückte mich von der Wand ab. Ich saß immer noch auf dem Boden und beugte mich zu ihm vor, als wäre ich völlig verzweifelt und am Ende meiner Kräfte. Ich war noch nie ein besonders guter Schauspieler gewesen, aber ich sah, dass er es mir abnahm. Er wich nicht einmal zurück.

»Warum haben Sie es getan? Warum haben Sie sie umgebracht?«

»Es war ein Unfall.« Er wich meinem Blick aus. »Das kommt vor. Ich wollte das nicht.«

Er nahm meinen Arm und wieder leistete ich kaum Widerstand. Er lehnte sich mit seinem vollen Gewicht auf mich, mit dem Rücken an meiner Brust, und hielt mich fest wie ein Scherer ein widerspenstiges Schaf. Ich wartete. Mein Moment würde kommen, wenn er nach einer Vene suchte und die Routine für ein paar Sekunden seine Aufmerksamkeit minderte. Ich spürte, wie sein Gewicht auf mir nachließ. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Kraft ich noch hatte.

Ich zog meinen Arm, so schnell ich konnte, über seinen Kopf, schlang ihm das Seil um den Hals und packte das lose Ende mit der freien Hand. Ich war sehr schwach und die Bewegung war unbeholfen, aber ich hatte den Überraschungseffekt auf meiner Seite. Er hatte nicht viel gelernt. Er riss die Hände hoch und versuchte, das Seil zu lockern, um mehr Luft zu bekommen. Sein Druck auf mich erschlaffte und ich kniete mich hinter ihn und zog mit aller Kraft an den überkreuzten Seilenden.

Es war ein einziges Chaos. Er zappelte wie verrückt. Er war viel stärker als ich und ich hielt ihn wie ein Rodeoreiter fest und kämpfte mit meiner letzten Kraft gegen seine. Ohne Luft würde er den Kampf bald verlieren. Als seine Bewegungen schwächer wurden, zog ich das Seil noch straffer – falls er mich reinlegen wollte. Ich hätte ihn töten können, aber mein Hass war größer als meine Wut. Er verdiente keinen schnellen Tod.

Ich zog weiter an dem Seil, bestimmt eine volle Minute, bis er halb ohnmächtig zusammensackte. Dann stieß ich ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Betonboden. Ich kniete auf seinen Schulterblättern, drehte ihm einen Arm auf den Rücken und hielt mit der linken Hand sein Handgelenk fest, während ich mit der rechten seinen Kopf zurückzog.

»Eine Bewegung und ich breche dir zuerst den Arm und dann das Genick«, stieß ich hervor.

»Bitte nicht!«, keuchte er. »Ich wollte das alles nicht. Glaub mir. Ich komme auch mit zur Polizei. Ich werde alles gestehen.«

Ich antwortete nicht. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich ließ sein Gesicht auf den Boden fallen und durchsuchte seine Taschen. Ich fand den Schlüssel. Ein einfacher Plan nahm Gestalt an. Er würde bekommen, was er verdiente.

Mit raschen Bewegungen band ich ihm das eine Ende des Seils um die Hand. Er versuchte, mich abzuwerfen, aber darauf war ich gefasst. Ich packte ihn an den Haaren und knallte sein Gesicht zu Boden. Dann schlang ich ihm das Seil um den Hals und band die zweite Hand an der ersten fest. Ich hörte, wie er verzweifelt röchelte. Ich trat einen Schritt zurück. Endlich war ich vor ihm sicher. Er drehte sich auf die Seite und starrte mich an.

Ich rechnete damit, dass er nach mir treten würde, als ich ihm Schuhe, Strümpfe und Hose auszog, aber sein Kampfgeist hatte schon nachgelassen. Die Hosen passten nicht besonders gut, aber mit hochgekrempelten Beinen ging es. Wahrscheinlich sah ich ein bisschen merkwürdig aus, aber nicht so merkwürdig wie in einer Schlafanzughose. Ich sagte immer noch nichts. Mir war schwindlig. Nicht vor Schwäche, sondern vor Triumph. Ich durchsuchte noch einmal seine Taschen und fand seine Brieftasche. Ich nahm mir sechzig Dollar. Mehr hatte er nicht.

»Du kannst mich nicht hierlassen«, sagte er schwach. »Bitte nicht!«

Dann versuchte er zu schreien. Ein so tiefer und jämmerlicher Laut, dass ich ihn knebeln musste. Meine Schlafanzughose war dafür bestens geeignet.

Ich nahm die Spritze und schob sie in meine Jackentasche. Dann hob ich das Buch und den Stift auf. Endlich konnte ich das Krankenhaus für immer verlassen.

»Jeder bekommt das, was er verdient«, sagte ich nur noch, ehe ich die Tür verschloss. Ich sah ihm noch einmal in die Augen. In ihnen lag keine Angst, sondern Hoffnung. Verzweifelte Hoffnung. Auch die wird irgendwann schwinden und dann wird er sich so fühlen, wie ich mich gefühlt habe.

Ich ging in eine andere Welt hinaus. Plötzlich fielen mir Dinge auf, die ich kaum wahrgenommen hatte, als Andrew mich hierher gebracht hatte. Ich lief durch halb fertige Korridore. Menschenleer und totenstill. Ich kam an einem verbarrikadierten Aufzugschacht vorbei und ging durch einen dunklen Gang mit Stromkabeln, die von der Decke hingen. Ein Kerker am Ende eines verschlungenen Labyrinths. Sogar ein »Zutritt verboten«-Schild an der Stelle, wo der Gang auf das Hauptgebäude stieß. Der Arzt hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie hätten mich niemals lebend gefunden. Ihn werden sie auch nicht finden.

Als ich versuchte, den Ausgang zu finden, sprach mich eine Krankenschwester an.

»Hier kannst du nicht durchgehen«, sagte sie mit einem Lächeln, das mich an Lisa erinnerte.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich glaube, ich hab mich verlaufen.«

»Wohin willst du denn?«, fragte sie freundlich. Ein normales Gespräch zwischen zwei normalen Menschen. Ich war frei.

»Zur Cafeteria.«

»Oh, da bist du wirklich völlig falsch. Du musst da entlang zum Aufzug gehen und dann runter ins Erdgeschoss fahren. Dort folgst du dann den Schildern zum Empfang und von dort ist es dann angeschrieben.«

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache.« Wieder ein Lächeln. Jemanden zu töten ist einfacher, als man denkt.

Die Cafeteria war leer. Draußen war es hell. Die Wanduhr zeigte halb zehn. Ich kaufte mir etwas zu essen und zu trinken. Vor allem zu trinken: zwei riesige Flaschen mit Saft. Die Frau an der Kasse lächelte. Wahrscheinlich war ich nicht gerade der bestgekleidete Mensch, den sie jemals gesehen hatte, aber auch nicht der schlechtestgekleidete. Ich ging nach draußen und lief zwei Straßen weiter bis zum nächsten Park. Erst dort setzte ich mich zum Essen auf eine Bank. Die Sonne schien und das grelle Licht blendete mich. Ich aß langsam und bedächtig. Es ging mir viel besser, als ich erwartet hatte. Als ich an den Arzt dachte, lag ein Lächeln auf meinen Lippen.

Jetzt sitze ich im Bus auf dem Weg nach Hause. Die anderen Fahrgäste wundern sich bestimmt über mein sonderbares Lächeln. Vielleicht halten sie mich für verrückt. Ich habe nicht zu Hause angerufen. Sie wissen nicht, dass ich komme. Ich will sie überraschen. Außerdem kann ich so meine Geschichte mit Mum und Duncan üben. Sie werden mir nicht so viele Fragen stellen. Ich kann es kaum erwarten. Ich schreibe das hier nur auf, damit ich nicht andauernd aus dem Fenster sehe und feststelle, wie unerträglich langsam wir vorankommen. Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer. Sie glauben bestimmt, dass ich tot bin. Das denkt bestimmt jeder. Aber ich lebe und ich bringe eine Geschichte mit, die ich selbst kaum glauben kann.

Trotzdem werde ich sie nicht erzählen. Nicht sofort. Ich habe es mir genau überlegt. Nur Jonathan, Rebecca und Lisa werden es jemals erfahren. Falls sie noch leben. Aber das tun sie bestimmt. Das spüre ich. Sie sind die einzigen Menschen, die es verstehen werden. Aber nicht sofort. Erst wenn es vorbei ist. Erst wenn ich ganz sicher bin, dass er tot ist. Sonst will sich Rebecca bestimmt einmischen und Jonathan noch mal hingehen, um zu sehen, wie er leidet. Ich muss noch ein bisschen warten. Aber das macht nichts. Daran bin ich mittlerweile gewöhnt. Sie werden überrascht sein, dass ich endlich etwas richtig gemacht habe. Es ist mein Geschenk an sie.

Das war's. Ab jetzt ist die Straße so holprig, dass man nicht mehr schreiben kann. Ich habe alles gesagt. Ich habe gewonnen. Ich bin endlich wieder zu Hause. Alles wird gut.