6

Der Chef hatte die Mitglieder im Vereinsraum zusammenge­trommelt. Sie lungerten im Kreis auf dem gewachsten Boden, als Egon in ihre Mitte trat und sich setzte. Diese Treffen fanden seit einigen Wochen regelmäßig statt, ein Pflichttermin, den Otto nie verpasste. Im Gegensatz zu den meisten saß er kerzengerade da und sog die Worte des Chefs wissbegierig in sich auf. Egons Blick machte die Runde, das gelangweilte Gemurmel verstummte.

»Ick will euch heute wat von Karl Marx erzählen. Kennt den wer?«

Die Arbeiter sahen ihn aus leeren Augen an.

»Jut, wat nich is’, kann ja noch werden. Rom is ooch nich an eenen Tach erbaut worn. Paulchen, kieck nich wie ’ne Kaulquappe, det jeht hier um deene Sukunft.« Er machte eine gewichtige Pause. »Und um die von deene Leute, also sperr de Lauscher uff. Wenn ooch nur een Halbsatz bei euch Pachholken hängen bleebt, hat sich die Nummer jelohnt. – Also, der Karl Marx, der hat sich det mal so jedacht und dabei hata ’ne janze Menge Hirnschmalz vabraten und allet wat die so vor ihn jedacht und jesacht ham, hata von’ Kopp uff de Füße jestellt. Desdawegen is det jerade für euch so brauchbar, kapee?«

Alle nickten stumm.

»Wat denn nu?«, quakte ein schwitzender Struwwelpeter dazwischen.

»Janz ruhig, Brauner.«

Hinter Egon juchzte ein eselartiges Wiehern auf.

»Ick sehe, wir sind von Jeistesjrößen umzingelt.«

Das Lachen verstummte.

»Also …«

Otto fühlte, er atmete mit Egon. Er sah, wie dieser blitzschnelle, kraftvolle Ringer, der jeden zu Boden zwang, nach Worten rang. Wie er sich bemühte, alles, was er in der marxistischen Arbeiterschulung gelernt hatte, in eigenen Formulierungen verständlich weiterzugeben – und wie sehr es ihm misslang.

Wieder machte Egon eine Pause. Er sah in die Runde.

»Un’ wenn de Betriebe nich investiern können, weil ihnen de Banken keen Jeld mehr leihen, ham ooch die, also de Banken, irgendwann keen Zasta mehr, weil de Betriebe un’ überhaupt alle nüscht mehr uff de Bank tragen und dann … dann is allet wech und dann is sappenduster. Ente.«

Die Ringer klatschten. Außer Otto hatte keiner ein Wort verstanden.

Auf dem Heimweg blieb Otto vor dem Elektrofachgeschäft stehen. In der Auslage stand noch immer das Radio. Seine Augen streiften sanft das Mahagonigehäuse. In der unteren linken Ecke prangte stolz ein Schriftzug, der sich dunkel von dem hellen, vornehmen Stoff abhob. Enigma. Er malte sich aus, wie seine Mutter in der Küche sitzend den Konzertübertragungen lauschte. Der Klang würde sich wie ein Adler durch den Raum schwingen. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, sich so etwas Außergewöhnliches zu wünschen. Jeder Groschen wurde für die Familie gespart. Und für schlechte Zeiten. Aber die schlechten Zeiten waren immer da, dachte Otto. Er kannte keine anderen. Worauf sollte man denn warten? Auf noch schlechtere? Wofür arbeiten, wenn sich das Leben nicht verbessern ließ? Was war wichtiger, ein besseres Leben oder ein höheres? Worin bestand der Unterschied? Konnte man durch das Höhere auch das Bessere erreichen? Egons Ausführungen schwirrten ihm durch den Kopf. Es hatte alles ganz überzeugend geklungen. Dann sah er die tumben Gesichter seiner Vereinskameraden vor sich. Egon war es nicht gelungen, sie zu erreichen. Solange sie nicht genügend zu beißen hatten, würde alles Reden sinnlos sein. Also erst das Bessere, dachte Otto, dann vielleicht das Höhere.

Die Türglocke schrillte hell, als er das Geschäft betrat. Ein muffiger Geruch wehte ihm entgegen. Ein alter Mann blickte mürrisch hinter der Kasse auf. Otto wandte sich, ohne ihn zu beachten, der Rückseite des Radios zu. Was verbarg sich dahinter? Wie wurden die fernen Klänge empfangen? Irgendwo saßen Orchestermusiker in einem Konzertsaal, und während sie musizierten, konnte man ebendiese Musik zeitgleich an einem anderen Ort hören. Menschen, deren Geld nicht reichte, um die Konzerte zu besuchen, sich fein zu machen oder nach dem Konzert noch in einem Lokal zu speisen, konnten mit dem Radioempfänger zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Der Verkäufer drehte unbemerkt das Radio an. Otto wippte im Rhythmus der schwingenden Tanzmusik. Der Gestank von Mottenpulver kroch ihm in die Nase. Fragend sah er den Verkäufer an.

»Ein Radiogerät für drahtlose Belehrung und Unterhaltung. Enigma. Das Beste auf dem Markt.«

Der Alte drehte weiter an den Knöpfen. Verzerrtes Stimmengewirr und Musikfetzen. Eine sonore Stimme schälte sich aus dem dumpfen Wellenrauschen. »… Amelia Earharts Pionierleistung, dem ersten Transatlantikflug durch eine Frau, ein Jahr nach der legendären Nonstop-Alleinüberquerung durch Charles Lindbergh mit seinem einmotorigen Eindecker Spirit of Saint Louis …«

»33 Stunden und 32 Minuten von New York nach Paris«, wiederholte Otto flüsternd. »… Millionen Menschen haben letztes Jahr weltweit die Berichte darüber in den Zeitungen oder am Radioempfänger verfolgt. Lindbergh konnte die ganze Zeit nicht schlafen«, betonte die Stimme eindringlich, »er ist ohne jede Begleitung geflogen und hat die ganze Strecke ohne Navigationsgerät bewältigt, was über dem Meer bis dahin unmöglich schien. Und jetzt beweist Amelia Earhart, dass Frauen den Männern an fliegerischem Talent in nichts nachstehen. In nur 20 Stunden und 40 Minuten ist es ihr gelungen, mit einer dreimotorigen Fokker Friendship den Atlantik zwischen Neufundland und Wales zu überqueren.«

Neufundland. Das Wort hallte in Ottos Kopf nach.

»Was kostet dieses Gerät?«, fragte er, ohne die geringste Berliner Klangfärbung.

Der Verkäufer nannte eine Zahl, bei der Otto schwindelig wurde. All sein Erspartes würde er dafür hergeben müssen. Sei’s drum. Das war es wert. Seine Mutter würde ihre Konzerte hören können, und er würde mehr von der Welt erfahren. Er konnte ihr Gesicht sehen, wusste, dass sie ihm Verschwendung vorwerfen und trotzdem lachen würde, wie ein Mädchen, das freudestrahlend den Kopf schüttelt, wenn es zum Tanz aufgefordert wird, um kurz darauf über das Parkett zu fliegen.

»Können Sie es für mich reservieren? Ich komme noch heute Abend und werde bezahlen.«

Der Verkäufer blickte misstrauisch.

»Drei Stunden. Mehr nicht.«

»Abgemacht.«

Otto streckte dem alten Mann die Hand entgegen.

Die Familie war um den Küchentisch versammelt. Karl schraubte ungeschickt an den Knöpfen des neuen Radioempfängers herum.

»Nimm deine Finger weg, du machst det Ding hin, hat ma ’ne Stange jekostet.«

Ein Zittern huschte über Karls Gesicht. Tränen sprangen aus seinen erschöpften Augen. Otto stand betroffen da. Höher, det heißt: raus hier, dachte er, während der Kloß in seinem Hals ihm die Kehle zuschnürte.

Der Schuldirektor musterte das ungleiche Paar, das vor seinem Schreibtisch Platz nahm. Mutter und Sohn, gewiss, aber dieser Junge war das, was die Berliner »’ne Marke« nannten. Sein Alter war schwer zu schätzen. Und wer hier wen hereingeführt hatte, war auch nicht klar. Amüsiert lehnte er sich zurück. Wie aus einer Zillezeichnung mitten ins Büro gesprungen, dachte er. Er nahm seine runde Brille ab, putzte abwartend die verschmutzten Gläser und entschied sich dann, zunächst dem Jungen aufmunternd zuzunicken. »Warum willst du zu uns kommen?«

»Ick will wat lernen.«

»Was denn?«

»Wenn ich das wüsste, wär ich nich hier.«

Otto spürte den Blick seiner Mutter und bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen.

»Was macht dein Vater? Willst du nicht in seine Fußstapfen treten und ein Handwerk erlernen?«

»Der arbeitet inne Fabrik.«

»Ah ja.«

»Sein Vater ist kurz vor Ottos Geburt gefallen. Er war Barbier«, sprang Anna ihrem Sohn bei.

»Der Krieg. Ja. Der Krieg. – Das tut mir leid. Und in welcher Fabrik arbeitet dein Stiefvater?«

»Mal hier, mal da – immer, wo se ihn brauchen. Und sie brauchen ihn immer.«

Otto war selber überrascht, dass er Karl in so gutem Licht erscheinen ließ.

»Lass mal deine Zeugnisse sehen.«

Otto händigte ihm eine Mappe aus. Der Direktor blätterte sich nachdenklich durch Ottos erste Schuljahre.

»Des soll jetzt alles anders werden, am Anfang hab ich nich gewusst, was das alles soll, aber jetzt weiß ich’s.«

»Und?«

»Det is wie Muskeltraining, egal wie weh es tut, man muss einfach weitermachen.«

»Bist du im Sportverein?«

»Sport-Club Lurich 02. Ich bin Ringer, hab schon bei de Bezirksmeisterschaften mitgemacht. Und im Verein ham wir auch Karl Marx gelesen.«

Der Direktor sah überrascht auf.

Der Wechsel war schwieriger als erwartet. Den neuen Unterrichtsstoff bewältigte Otto ohne große Mühen, aber er fühlte sich fremd unter den Mitschülern, die aus bürgerlichen Häusern kamen. Ihre Bewegungen, ihre Sprache, der Umgang miteinander, alles war anders. Bald kamen die ersten Magenkrämpfe. Er stürzte auf die Toilette. Manchmal übergab er sich, an anderen Tagen quälte ihn ein lang anhaltender Durchfall, der ihm alle Kraft entzog. Müde schleppte er sich zur Schule und schlief während des Unterrichts ein. Da seine kräftige Statur seinen Klassen­kameraden Respekt einflößte, zogen sie nicht offen über ihn her. Otto lernte den stillen Widerstand des Spießers kennen, die Macht der schleichenden Ausgrenzung. Keiner griff ihn offen an, wie sollte er sich da verteidigen? Bald war er nur noch gelitten. Eine lästige Randfigur, die sich irgendwann in Luft auflösen würde. Immer öfter blieb er dem Unterricht fern, streunte durch die Straßen, durch den Tiergarten, rastlos, auf der Suche.

Im Sport-Club Lurich 02 ging es nicht viel besser. Auch hier fühlte er sich plötzlich fremd. Die Schlichtheit seiner ehemaligen Freunde begann ihn zu stören. Egons Unterricht erschien ihm einfältig. Zu Hause machte er sich über die einfache Ausdrucksweise seiner Familie lustig. Anna beobachtete seine Veränderung mit Sorge, während die anderen ihm aus dem Weg gingen.

Nur mit Roland verstand er sich noch. Seit ein paar Wochen gingen sie regelmäßig nach dem Training ein Bier trinken, dazu mal einen Korn, ein Gläschen Eierlikör, oder der Wirt schob ihnen billigen Selbstgebrannten über den Tresen.

»Otto?« Roland sah ihn schief grinsend von der Seite an. Ihre Gesichter waren vom Alkohol gerötet, die Haut schimmerte feucht, »Lurich 02, Egon, Karl Marx, det is doch allet pillepalle. Profis im Ring wern wa nich. Also …«

Das letzte Wort hatte er bedächtig in der Luft hängen lassen. Sein Nachklang füllte den Raum zwischen ihnen. Otto zündete sich eine Selbstgedrehte an.

»Spuck’s aus!«

»Immertreu. Schon ma von jehört?«

»Nee.«

»Ooch son Vaein.«

»Ringer?«

Roland nickte.

»Und?«

»Na ja … die sind ’n bisken andas druff.«

»Krumme Dinga?«

»Wusst ick doch, det dir det jefällt!«

»Ha’ick det jesacht?«

»Nee, aba so jekiekt.«

7

Der Ringverein Immertreu war eine große Vereinigung der organisierten Kriminalität. Sie kontrollierten das Nachtleben, verteidigten brutal ihr Revier gegen rivalisierende Banden, hatten Mädchen am Laufen, zogen ihre Kokslinien durch die Hinterzimmer zwielichtiger Spelunken, in denen sie ahnungslosen Nachteulen, die das schnelle Abenteuer suchten, mit gezinkten Karten die dicken Scheine aus den Taschen holten. Wer den Braten roch oder aufmuckte, wurde verdroschen und auf dem Hinterhof kopfüber in die Mülltonne gesteckt. Wer diese Sprache nicht verstand, wurde bewusstlos geschlagen und auf einer Halde verschrottet oder in einem Zementwerk verbaut.

»Det is der Otto, von den ick dir ersählt habe.«

Sie standen vor einem bulligen Zwerg, der sie aus stecknadel­großen Augen taxierte. Nach einer endlosen Pause streckte er Otto die Hand hin. Seine Finger legten sich um Ottos Hand, dann drückte er mit aller Kraft zu. Es war ihm eine Freude, Neulingen bei der ersten Begrüßung die Finger zu zerquetschen. »Nach ’n jeflegten Händedruck weeßte, wen de vor dir hast«, pflegte er dann zu sagen. »Da trennste janz schnell die Spreu von ’n Weizen.«

Otto hielt dem Druck stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Roland hatte ihn gewarnt, und er hatte sofort seine Hand tief in die seines Gegenübers hineingeschoben, um seine Finger zu schützen. Für einen Moment schien es, als sei der kleine Bulle irritiert. Sein Kopf zuckte zurück. Dann gab er Otto einen Katzenkopf und fasste ihn hart an der Schulter.

»Bist ’n flinker Junge. Hast ’n juten Blick. Kannst bei Mario anne Tür anfangen.«

»Und wie heißt du?« Otto wollte nicht gehen, ohne etwas gesagt zu haben. Die kleine Bulldogge grinste ihn feindselig an.

»Uschi.«

Uschi hatte den richtigen Riecher gehabt. Otto machte sich gut an der Tür. Sein Instinkt war ebenso unbestechlich wie seine Augen. Er wusste, wen er reinlassen durfte und wen nicht, wann es sich bei angebotenem Geld um einen Bestechungsversuch oder um eine großzügige Geste handelte, die man emotionslos entgegennehmen konnte, so wie man die albernen Wichtigtuer höflich, aber bestimmt vertröstete. Er erkannte die Schwächen, die die Menschen nachts auf die Straße trieben, lernte schnell, gutes Koks von gestrecktem zu unterscheiden, und wusste, wem er was anbieten konnte und wem besser nicht. Er selbst ließ die Finger davon. Seine Einnahmen vervielfachten sich.

Dennoch zog etwas an ihm. Beim Kartenspiel forderte er sein Glück heraus, bis der letzte Groschen verloren war. Egal. Hauptsache, er spürte etwas. Die Freude darüber, dass ihm das Schicksal hold war, befeuerte ihn ebenso, wie der kurz darauf folgende Absturz ihn in Rage versetzte. Nach solchen Niederlagen musste er seine Lebenskräfte mobilisieren, um sich aufzurappeln. Oben und unten rauschte das Leben, dazwischen gähnte der Abgrund.

Bald brauchte Otto mehr Geld, um seine Spielleidenschaft zu finanzieren. Der Kick des Gewinnens verflog immer schneller. Hatte es ihn anfangs nur an den Wochenenden an den Spieltisch getrieben, verbrachte er nun eine Nacht nach der anderen dort. Er entfremdete sich von seiner Familie, meldete sich nach der neunten Klasse von der Schule ab und begleitete Roland auf seinen Einbruchstouren. Die Beute lieferten sie bei »Uschi« ab, der die Kontakte zu Hehlern hatte. Seinen Anteil verspielte Otto noch vor Sonnenaufgang.

Dann geschah etwas Merkwürdiges. Otto beobachtete, wie die Menschen um ihn herum in Panik verfielen. In dunklen Ecken schossen sich Männer eine Kugel in den Kopf, andere sprangen am hellen Morgen aus den Fenstern ihrer Hinterhofswohnungen. Aber auch die Wohlhabenden stürzten. Einmal sah er einen vornehm gekleideten Mann auf dem Bürgersteig neben seinem großen Auto stehen: »Hundert Mark. Brauche Bargeld. Habe alles an der Börse verloren.« Andere, bereits vom Hunger gezeichnet, trugen ein Schild um den Hals: »Habe Hunger. Suche Arbeit. Mache alles.« Erstaunt stellte Otto fest, dass nun immer mehr Menschen um ihr Überleben kämpften, wie er es von seiner frühesten Kindheit an gewohnt war. Er wusste zwar nicht, was diese Veränderung herbeigeführt hatte, aber die Angst, die Verzweiflung und die Würdelosigkeit, die sich um ihn herum ausbreiteten, überraschten ihn. Bis auf seinen Stiefvater verhielt sich niemand in seiner Familie so. Lag das daran, dass es ihnen nie anders ergangen war? Konnte er etwas, was diese Menschen erst lernen mussten? Er betrachtete sie mit der Neugierde eines Insektenforschers. Offenbar dauerte es länger aufzusteigen als herunterzufallen. Etwas in ihm geriet ins Wanken. Bei jeder Diebestour spürte er, dass der Wohlstand nur noch Makulatur war, ein schäbiger Lack, der vom darunter wachsenden Rost bereits abgestoßen wurde.

Rolands Truppe machte sich das steigende Chaos zunutze: Auf ihren Touren wurden sie immer dreister. Meistens drangen sie nun tagsüber in die kaum mehr ausgespähten Wohnungen und Häuser ein. Nachts blieben die Menschen zu Hause. Die Lust, auf dem Vulkan zu tanzen, war den meisten vergangen.

8

Er stand Schmiere, als seine Kumpanen die schwere Holztür einer Beletage in Friedenau knackten. Von der Ecke aus hatte Otto beide Straßen im Blick. Sekundenschnell waren sie drin. Wie unbeteiligt hüpfte er hinterher und blieb erschrocken stehen. Diesmal versprach es ein großer Fischzug zu werden. Teppiche an Wand und Boden, alte Gemälde, silberne Leuchter, weite Räume dehnten sich vor ihnen aus. Der morbide Duft eines versunkenen Reichs wehte sie an. Keiner rührte sich. Roland fing sich als Erster. Er winkte seine Truppe zusammen und bedeutete ihnen, auszuschwärmen. Mit knappen Gesten teilte er jedem seinen Raum zu. Otto blieb allein zurück. Zögernd ging er durch die weiten Zimmer. Eine majestätische Flügeltür aus heller Eiche öffnete den Blick auf einen Raum voller Bücher. Meterhohe Wände mit golden funkelnden Buchstaben, eintätowiert auf den leuchtenden Buchrücken. Vorsichtig tastete er die Hügel in den Regalen ab, stieg auf eine der fahrbaren Leitern, stieß sich vom Fenstersims ab, um schwerelos an diesen fremden Landschaften vorbeizufliegen. Geräuschlos kam er zum Stehen. Seine Augen hefteten sich auf einen Titel. Das Buch ragte hervor, als hätte es jemand unachtsam zurückgestellt. Er nahm es in beide Hände und klappte es behutsam auf. Theodor Mommsen, las er, darunter Römische Geschichte. Er wollte gerade weiterblättern, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ. In der Tür stand ein junges Mädchen. Es trug ein knielanges schwarzes Kleid, ein weißer Kragen leuchtete um den Hals. Schweigend sahen sie einander an.

Aus der Ferne heulte ein Martinshorn heran. Füße flogen durch die Räume. Fenster zerbrachen klirrend. Lautes Schreien. »Polizei, stehen bleiben!« Ein Schuss fiel. Gebrüll. Ottos Augen ruhten ungerührt auf dem schmalen Antlitz des jungen Mädchens. Aus ihren dunklen Augen flog ihm ein schmales Lächeln zu. Er erwachte wie durch einen Schauer an einem schwülen Sommertag. Erfrischt stieg er von der Leiter, folgte ihrem ausgestreckten Arm, der auf eine niedrige, halb offene Klappe unter der linken Bücherwand deutete. Ruhig zwängte er sich in den dahinter­liegenden Hohlraum, der gerade genug Platz für seinen zusammengerollten Körper bot, als das schillernde Wesen die Klappe zuschlug. Schwere Schritte betraten den Raum. Er hörte atemloses Keuchen.

»Allet in Ordnung, Mädchen?«

»Ja.«

Der dunkle Klang ihrer Stimme ließ ihn überrascht den Kopf heben. Er stieß an die Holzdecke seiner engen Behausung. »Wat war’n det?«, fragte die kratzige Männerstimme in die Stille hinein.

»Was?«, kam es klar und unbeirrt zurück.

»Haste eenen von den Ganoven jesehen?«

»Nein.«

Otto spürte, wie ihm siedend heiß wurde. Erinnerungen an die Eisbäder durch seine Peiniger von der Kinderlandverschickung schossen in ihm hoch. Seine Lungenflügel brannten, als hätte er glühendes Erz verschluckt. Er fürchtete zu ersticken, als er wieder die ruhige Stimme vernahm.

»Ich war müde von der Arbeit und bin wohl auf dem Sessel dort eingenickt, als mich plötzlicher Lärm geweckt hat. Dann standen Sie vor mir.«

»Da haste aber Mazel jehabt, Kleene. Wenn dir noch wat einfällt, meldste dich bei uns uff der Wache.«

Die Schritte entfernten sich, blieben wieder stehen.

»Du bist keen Arbeiterkind nich.« Es hatte halb wie eine Frage, halb wie eine Feststellung geklungen.

»Ich wohne hier.«

»Wie heißen Sie denn?« Der Ton war jetzt überraschend förmlich.

»Sala.«

»Und weiter?«

»Nohl.«

»Wo sind denn Ihre Eltern, mein Kind?«

»Mein Vater müsste bald nach Hause kommen.«

»Und Ihre Mutter?«

»Lebt nicht mehr …«

»Das tut mir leid, Frollein Nohl.«

»…nicht mehr hier«, fügte sie schnell hinzu.

Der Gendarm sah sie verwirrt an.

»Äh …wenn wir noch Fragen ham, werden wir uns bei Ihnen melden. Is hier irgendwat wegjekommen?«

»Ich glaube nicht.«

»Und hier ist wirklich keiner drin jewesen?«

Wieder schlug Ottos Herz bis zum Hals. Wenn sie wollte, konnte sie ihn jetzt vernichten. Ein einfaches »Doch« oder »Vielleicht, ja«, ein etwas zu langes Zögern, ein verräterischer Zug um die Lippen würden reichen, um sein Schicksal zu besiegeln.

»Nein.«

Die Antwort kam weder zu schnell noch zu langsam.

»Dann erholen Sie sich von den Schrecken, meen Kind.«

»Danke, Herr Wachtmeister. Danke, dass Sie mich gerettet haben.«

»Dafür sin’ wa ja schließlich da, Frollein.«

Otto hörte ein Hackenzusammenschlagen. Dann entfernten sich die Schritte laut und schwer. Die Eingangstür fiel zu und klappte wieder auf. Das Schloss war nicht mehr zu gebrauchen.

Wäre der Hohlraum groß genug gewesen, wäre Otto jetzt erschöpft in sich zusammengesackt. Er atmete zitternd aus. Wie von Geisterhand wurde die Klappe geöffnet. Er schaute schweißüberströmt zu dem Mädchen hoch. Ihm war übel, und er spürte ein heftiges Stechen in der Blase. Sie sah ihn an, ernst und vertraut.

Wie ferngelenkt steuerte er den Tiergarten an. In seiner Linken hielt er immer noch das gestohlene Buch fest umklammert, als sei es angewachsen. Roland hatten sie erwischt. Der Schmerz um den verlorenen Freund traf ihn kurz und hart. Von hinten mit einer Kugel niedergestreckt. Er musste sich ändern. Aber wie? Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich ratlos. Zurück in die Schule? Ja. Und dann?

Die mächtigen Bäume warfen ihre Schatten auf die Allee. Otto atmete den Duft des nahenden Sommers ein. Er fiel vom Weg ab, ließ sich treiben, überquerte eine kleine Brücke, kletterte die Böschung hinunter, zog die Schuhe aus und streckte seine Füße in das kühlende Wasser. Der Bach plätscherte vor sich hin. Otto sank in das Gras. Die Pollen kitzelten seine Nase. Er fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.

Als er erwachte, wölbte sich der Himmel tiefblau über ihm. Die Natur hatte ausgeatmet. Er fühlte das Buch in seiner Hand, nahm es hoch, reckte die Arme zum Himmel, um sich zu strecken, und richtete sich auf. Er blätterte durch die Seiten. Der fremde Geruch von Buchstaben und Papier stach ihm in die Nase. Er klappte das Buch wieder zu und machte sich auf den Heimweg.

Als er sich der Parterrewohnung näherte, blieb er stehen. Polternd war er davongezogen, auf Zehenspitzen kam er zurück in sein altes Leben, mit nichts als einem Buch in der Hand. In der Küche zum Hof brannte noch Licht. Sein Stiefvater schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte. Seine Mutter wischte vorsichtig mit einem Lappen um ihn herum. Otto biss seine Zähne zusammen. Er fühlte heiß und unerbittlich aufsteigende Scham.

9

Am nächsten Morgen lag er wieder im Tiergarten. Im Schatten der Eichen klappte er das neue Buch auf. In seinem Rücken gurgelte der Bach. Das Werk schien auf mehrere Bände angelegt. Er hielt den fünften in Händen. Überall tauchte der Name Caesar auf. Schlachten wurden beschrieben, Legionen fielen in fremde Länder ein, deren Namen er ebenso wenig kannte wie die Kriegsherren und Politiker, die Mommsen vor seinen Augen nur mit Worten lebendig werden ließ.

Seine Haut brannte. Eine Hummel summte über ihn hinweg. War er eingeschlafen? Auf seinem Bauch lag das Buch. Schweiß lief ihm in die Augen, seine Lippen schmeckten salzig. Wie lange hatte er hier gelegen? Langsam richtete er sich auf, streckte trotzig sein verbranntes Gesicht der Sonne entgegen. Diese verdammte Hitze. Er musste sich abkühlen. Er sah sich um. Niemand da. Schnell streifte er seine Kleidung ab, rannte hinunter zur Böschung. Ein Sprung, und das kühlende Wasser verschluckte ihn. Den Atem anhaltend blieb er so lange auf dem Grund, drückte seinen Körper so lange in den Schlamm, bis ihn die Lebensgier nach oben trieb. Ungestüm schoss er mit einem Sprung heraus und ans Ufer. Dort blieb er liegen, roch das trockene Gras. Dann richtete er sich auf. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Wo er lesend eingeschlafen war, lag jetzt lässig aufgestützt ein Mann um die fünfzig, vielleicht auch jünger. Bevor er ihn studieren konnte, hatte er das Buch in den Händen des Fremden entdeckt. Was blätterte der neugierig darin? Jetzt hob er den Kopf. Otto erschrak. Er merkte, dass er nackt war. Der Mann musterte ihn grinsend.

»Verstehen Sie, was Sie da lesen?«

Es klang kein wenig spöttisch.

»Ick gloobe schon«, hörte er sich murmeln.

»Wie alt sind Sie?«

»Siebzehn.«

»Haben Sie Theodor Mommsen im Geschichtsunterricht studiert?«

Der Fremde warf ihm seine Hose zu.

»Nee.«

Otto zog sich an, streifte sein Hemd über.

»Gehen Sie noch zur Schule?«

Die Frage ärgerte ihn. Hielt sich dieser vornehme Kerl in seinem hellblauen Tuntenanzug für etwas Besseres?

»Wieso nich?«

»Es ist noch nicht einmal Mittag …«

»Na und? Ick schwänze gerade. Se können mir gerne ’ne Entschuldjung schreiben, anstatt mir Löcher in’n Bauch zu fragen.«

»Auf welchen Namen soll sie denn lauten?«

Der lässt nicht locker, dachte Otto.

»Otto.«

»Otto der Große? Aus dem Geschlecht der Liudolfinger, Herzog von Sachsen, König des Ostfrankenreichs, römisch-deutscher Kaiser?«

»Jibt nur eenen in meener Klasse.«

Otto musterte ihn genauer. Der Mann war vielleicht Ende vierzig, vielleicht auch älter. Oder jünger? Eine große Nase beherrschte das feine Gesicht. Trotz der Hitze trug er einen Anzug, ein weißes Hemd und eine locker gebundene Schleife. Der Anzug war gar nicht hellblau, bemerkte Otto jetzt, eher aus mittelgrauem, für die Jahreszeit viel zu dickem Stoff. Bestimmt teuer, dachte Otto.

»Krieg ick nu’ den Wisch für die Schule?«

»Um das verantworten zu können, müsste ich Sie näher kennenlernen.«

Otto sah ihn überrascht an.

»Wie wär’s am kommenden Sonntagnachmittag? Dieckhardtstraße 17, in Friedenau.«

»Abjemacht.«

»Genießen Sie die letzten Sonnenstrahlen«, empfahl der Fremde im Aufstehen.

»Un’wo muss ick klingeln?« Otto versuchte nicht einmal, Hochdeutsch zu sprechen. Irgendetwas hatte dieser Mann an sich, dass man sich in seiner Gegenwart sicher fühlte. Bereits im Gehen warf er ihm über die Schulter zu: »Johannes Nohl, aber meine Freunde nennen mich Jean.«

Otto sah ihm nach. Woher kannte er diesen Namen?