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Sehnsüchtig warte ich am Nachmittag auf Bens Anruf. Er hat versprochen, sich sofort nach dem Simulationsabenteuer zu melden.

Vor lauter Ungeduld bin ich kurz davor, zwei Beruhigungspillen einzuwerfen. Ich kriege dieses Horrorszenario einfach nicht aus dem Kopf: ein verzweifelter Ben, der im Flugsimulator keuchend und panisch vor Angst im Sitz kauert und auch noch den letzten Rest seines Gedächtnisses verliert.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, schrillt mein Handy, das ich griffbereit in der Hand halte.

«Ella, es hat funktioniert!», jubelt Ben. «Ich bin in einer Stunde bei dir!»

Er klingt extrem aufgekratzt, und bevor ich irgendetwas erwidern kann, ist die Verbindung unterbrochen. Ich drücke auf Rückruf, doch nun sagt mir eine Computerstimme: Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.

Funkloch? Akku leer?

Verwirrt versuche ich, meinen flatternden Atem in den Griff zu bekommen und einen klaren Gedanken zu fassen. Es hat funktioniert!? Das heißt ja wohl, er kann sich an alles erinnern, oder? Ich drücke nochmal auf Rückruf, doch es bleibt bei derselben Ansage.

Völlig überdreht flüstere ich immer wieder Ben ist gleich bei mir vor mich hin – und registriere erst nach einer Weile, dass er damit ja nur Mamas Wohnung meinen kann. Mist! Er glaubt ja, dass ich dort auch wohne.

Was jetzt?

Er hat mich außerdem Ella genannt. Hat er sich also doch nicht an mich als Nelly erinnert? Bevor ich mich noch mehr verrückt mache, beschließe ich, so schnell wie möglich in die Praxis zu fahren.

Eilig schlüpfe ich in eine Hose und ein Paar Flipflops, schnappe mir meine rosa Häkelhandtasche und düse los.

 

Abgehetzt erreiche ich Mamas Wohnung. Vor Anspannung und Neugier fühle ich mich ganz flau im Magen. Aber Ben scheint noch nicht da zu sein, und auch von Phillip fehlt jede Spur.

Unruhig tigere ich über den Flur und sehe bei jeder Gelegenheit auf die in der Wohnung verteilten Uhren. Doch die Zeiger wollen sich einfach nicht bewegen. Und mir scheint, als wäre ich nun in einer Zeitschleife gefangen. Dagegen hilft auch kein Durchatmen. Nur Ben kann meine Qualen beenden.

Plötzlich durchfährt mich ein Schreckensgedanke: Was, wenn Ben sich doch an Nelly erinnert und mich nur aus Gewohnheit Ella genannt hat? Wird er mich dann nicht in Moabit suchen?

Panisch versuche ich erneut, ihn auf dem Handy zu erreichen, als es an der Tür klingelt.

«Ella!»

Ben steht in ausgewaschenen Jeans und einem hellblauen Hemd vor mir.

Mein Lächeln gefriert, und für eine Nanosekunde setzt mein Herzschlag aus.

Doch er scheint mein Entsetzen nicht zu bemerken, sondern stürmt an mir vorbei und verkündet: «Meine geniale Therapeutin!», als hätte ich die psychotherapeutische Behandlung an einem einzigen Tag revolutioniert.

Aber das habe ich wohl eher nicht, wenn Ben sich immer noch nicht an Nelly erinnert. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter Ella zu spielen. Keine Ahnung, wie lange ich das noch durchhalte.

«Schönen Gruß von deinem Bruder», flötet Ben, als er mir durch den Flur ins Sprechzimmer folgt. «Er kommt erst später nach Hause.»

«Oh, danke. Aber das wolltest du mir doch nicht erzählen, oder?», frage ich und bedeute ihm, Platz zu nehmen. Vor Nervosität kann ich mich kaum noch zurückhalten.

Ben steuert direkt auf das rote Sofa zu, lässt sich grinsend fallen, verschränkt lässig die Hände hinterm Kopf und lacht wie ein kleiner Junge, der gerade einen Streich begangen hat.

«Es war der absolute Hammer, Ella», beginnt er euphorisch mit seinem Bericht. «Der absolute Oberhammer! Von außen sieht dieser Flugsimulator wie ein riesiges Ei aus, aber innen steckt ein echtes Cockpit. Man kann wählen zwischen einem Nachthimmel, einem wolkenverhangenen Horizont, einer Landschaft oder einer Stadtansicht. Ganz, wie man möchte. Der Bordcomputer kann alles herzaubern. Und es gibt so viele Knöpfe, Lichter und Schalter, dass man als Laie sofort den Überblick verliert. Wirklich sehr beeindruckend und total real.» Atemlos redet er ohne Pause. «Anfangs kamen mir große Zweifel, ob ich mich wie in einem echten Flugzeug fühlen würde. Aber als ich dann wie bei einem echten Start in den Sitz gedrückt wurde –»

«Ben …», unterbreche ich seinen Erlebnisbericht, weil ich die Ungewissheit nicht länger ertrage. «Das ist wirklich alles sehr interessant. Aber woran hast du dich erinnert?»

«Einen Moment noch», vertröstet er mich. «Also, Phillip, der übrigens ein toller Pilot ist, wollte einen Anflug auf Stuttgart üben. Es gibt wohl irgendwelche Besonderheiten auf diesem Flughafen … wie auch immer. Als er dann mit der Ansage begann: Meine Damen und Herren und so weiter …, du weißt ja, was da immer so gelabert wird, hat es bei mir klick gemacht.»

«Klick?»

«Ja, klick.»

«Aha. Und an was hast du dich erinnert?»

«An Vera!»

«Wen?» Irritiert lasse ich mich auf einem Stuhl nieder.

«Vera ist eine Flugbegleiterin, die ich mal auf einer Reise nach Stuttgart kennengelernt habe.»

«Aber Stewardessen sind doch normalerweise alle sehr freundlich und nett zu den Passagieren», wende ich verständnislos ein.

«Das war sie ja auch, zumindest am Anfang …» Er stockt, als wäre allein der Gedanke an sie quälend. «Wir lernten uns nämlich nicht im Flugzeug, sondern in einer Hotelbar in Stuttgart kennen. Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und wollte nur schnell noch ein Bier trinken, um runterzukommen, und anschließend gleich ins Bett. Doch dann kamen wir ins Gespräch, und aus dem Bier wurden einige Drinks. Danach sind wir auf ihr Zimmer und –»

«Ähm, Einzelheiten muss ich nicht wissen», unterbreche ich ihn mit betont ruhiger Therapeutinnenstimme. Pikante Details würde ich jetzt auf keinen Fall ertragen. «Erzähl mir lieber, was eine Flugbegleiterin mit deiner Amnesie zu tun haben soll.»

«Entschuldige.» Ben sieht mich ernst an. «Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Aber dieser One-Night-Stand war der Beginn einer verhängnisvollen Affäre. Wie in diesem Film, falls du den kennst.»

«Verfolgt da nicht eine durchgeknallte Tussi einen Familienvater?», frage ich, und im selben Moment durchfährt mich ein schrecklicher Gedanke: Ist Ben etwa verheiratet und hat Kinder?

Quatsch, dann würde er ja unter einer totalen Amnesie leiden.

«Jedenfalls traf ich sie einige Zeit später auf einem Flug wieder.» Bens Miene verdüstert sich. «Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Sache auch für Vera nur … na ja, du weißt schon, nur eine Bettgeschichte war.»

Am liebsten würde ich ihm ein medizinisches Fachbuch an den Kopf werfen, so sehr quält mich die Eifersucht. Aber was bleibt mir anderes übrig, als verständnisvoll zu lächeln und zu meiner eigenen Beruhigung mit einer Haarsträhne zu spielen.

«Vera sah in diesen Treffen aber anscheinend viel mehr», berichtet Ben weiter. «Sie entwickelte sich zu einer Stalkerin. Vielleicht hatte sie Torschlusspanik, weil sie einige Jahre älter ist als ich. Aber das ist nur eine Vermutung. Jedenfalls rief sie mich ständig an, nervte mich mit schwülstigen SMS und E-Mails … Und ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber wann immer ich eine Lufthansa-Maschine bestieg, hatte sie zufällig Dienst auf diesem Flug.»

«Für Angestellte einer Airline ist es sicher ein Klacks, die Passagierlisten einzusehen», vermute ich und weiß jetzt, von wem die SMS kam, die Ben bei unserem ersten Abendessen so verärgert hat. «Bist du deshalb umgezogen?»

«Ja, ich sah keine andere Möglichkeit mehr», bestätigt Ben meine Vermutung und sieht mich bekümmert an. «Diese Wahnsinnige hat mir sogar zu Hause aufgelauert.»

«Das muss schrecklich gewesen sein», mutmaße ich, und mir fällt plötzlich ein, dass ich ihn nicht erreichen konnte, als ich die Therapiesitzung absagen wollte. «Hast du damals auch deine Handynummer geändert?»

«Ja, hab ich. Sonst würde sie mich wahrscheinlich noch immer rund um die Uhr belästigen. Es war der absolute Horror! Ich hab mich kaum noch nach Hause gewagt.» Bens Stimme zittert, und sein flackernder Blick sucht die Stuckdecke ab, als würde ihn das Betrachten der steinernen Blumengirlande beruhigen. Die Erinnerung an diese Frau scheint ihn auch körperlich anzustrengen.

«Möchtest du vielleicht eine kleine Pause einlegen und etwas trinken?», frage ich unsicher, denn ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Auch mir würde eine Unterbrechung guttun.

«Sehr gerne …», antwortet Ben aufatmend. «Ich könnte einen starken Kaffee vertragen.»

«Dann ruh dich einen Moment aus und versuche, dich auf dem Sofa zu entspannen», schlage ich vor und verschwinde in die Küche.

Während ich die Kaffeemaschine präpariere, beschäftigt mich vor allem eine Frage: Was kann ich tun, damit Ben sich an mich erinnert und nicht an diese Frau.

Ohne eine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden zu haben, kehre ich kurz darauf mit dem Kaffee-Tablett ins Behandlungszimmer zurück.

«Hab ich schon erzählt, dass die Lieblingsfarbe dieser Wahnsinnigen Weiß ist?», fragt Ben, als ich den Raum betrete.

Ich sehe ihn mit großen Augen an. «Mmm … Dadurch könntest du deine Weiß-Phobie entwickelt haben», folgere ich und bin froh darüber, nicht mein weißes Kleid angezogen zu haben.

Ben zuckt beinahe hilflos mit den Schultern. «Ihre gesamte Wohnung ist komplett weiß eingerichtet, sogar der Fußboden und die Türgriffe sind weiß. Sie fährt auch ein weißes Auto, und wenn sie nicht in der Uniform steckt, trägt sie nur weiße Klamotten.»

«Wie eine Schneekönigin», entfährt es mir, und ich verschütte beinahe den Kaffee beim Abstellen.

Ben verschränkt die Arme vor der Brust, als würde er frieren. «Das trifft es genau», murmelt er tonlos. «Sie ist eiskalt wie eine Schneekönigin … Jedenfalls hat sie mich irgendwann um ein klärendes Gespräch gebeten und mir versprochen, mich danach nie wieder zu belästigen. Und ich Idiot …» Er stockt und sucht meinen Blick.

«Du hast ihr geglaubt, und das finde ich menschlich», sage ich mitfühlend. «Aber wie ging die Sache weiter?», frage ich beiläufig, während ich Kaffee für uns einschenke.

«Das ist ja das Merkwürdige … Das Ende fehlt mir noch. Ich weiß einfach nicht, wie ich aus ihrer Eishöhle entkam.» Ben rührt etwas Zucker in seine Tasse und trinkt einen Schluck. «Oh, heiß!»

Mit einer fahrigen Bewegung will er die Tasse zurückstellen, verfehlt jedoch die Untertasse, und der Kaffee ergießt sich über den Schreibtisch und tropft auf seine Jeans. «Verdammt!»

Geistesgegenwärtig reiße ich einige Papiertücher aus der für Weinkrämpfe bereitliegenden Kleenexbox, wische die Pfütze auf und bagatellisiere das Malheur mit einem Lächeln. «Schon erledigt. War doch nur Kaffee.»

«Kaffee!» Mit einem Mal springt Ben vom Sofa auf, rennt im Zimmer auf und ab und schlägt sich dabei mit der Hand an die Stirn. «Genau, das war’s! Es war Kaffee! Ein lächerlicher kleiner Kaffeefleck!»

Der irre Ton in Bens Stimme gefällt mir gar nicht. «Bitte, Ben», versuche ich ihn zu beruhigen, «es ist wirklich nichts passiert. Der Schreibtisch hat es unbeschadet überstanden.» Demonstrativ wische ich mit der Hand nochmal über die glatte Oberfläche. «Sieht aus wie neu.»

Ben setzt sich wieder aufs Sofa und stiert kopfschüttelnd vor sich hin. «Ein winziger Fleck», flüstert er apathisch. «In Daumennagelgröße.»

«Daumennagelgröße», wiederhole ich in gewohnter Therapeutinnen-Manier, um ihm das Gefühl zu geben, ich hätte die Situation im Griff. In Wahrheit fühle ich mich vollkommen überfordert von seinem unerwartet heftigen Gefühlsausbruch. Was mache ich, wenn er jetzt komplett durchdreht? Muss ich dann einen Notarzt verständigen? Oder sollte ich lieber gleich Tante Tessa anrufen?

Durchatmen und bloß keine Panik, versuche ich mir selbst Mut zuzureden und spiele wieder gedankenverloren mit einer Haarsträhne.

Ben mustert mich eindringlich. Für einen kurzen Augenblick meine ich in seinen flackernden Augen zu erkennen, dass er sich an noch viel mehr erinnert als nur an die weiße Wohnung dieser Verrückten. Doch dann schüttelt er stumm den Kopf und sieht zur Seite.

«Und wie … wie ging es weiter?», frage ich zögernd.

Gedankenverloren fährt er sich durchs Haar, erhebt sich erneut und läuft wieder im Zimmer umher. Er wirkt plötzlich rastlos, und es dauert eine Weile, bis er sich gefangen hat. Mit einem Seufzer nimmt er auf einem der Thonet-Stühle Platz. Aufmerksam beobachtet er, wie ich die Haarsträhne um den Zeigefinger wickle, sie loslasse und von neuem beginne. Seine Augen flackern jetzt noch unruhiger als vorhin.

Plötzlich lächelt er mich zärtlich an.

«Nelly?»