9. Kapitel
»Du dummes Mädchen, du hättest ihn umbringen können!« Redfeather tastete sich durch die Ruine seines Arbeitszimmers. Die Möbel waren zertrümmert, und Bücher, in denen jahrhundertealtes Wissen verwahrt war, lagen jetzt als Aschehaufen auf den Resten der mächtigen Bücherregale. Der Nimrod hatte seine Macht gezeigt.
»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihn gerade daran gehindert, Sie umzubringen!«, konterte De Mona.
Redfeather ignorierte sie und tastete sich weiter zu seinem Enkel vor. Gabriel lag auf dem Boden. Seine Kleidung qualmte. Der Nimrod war verschwunden, aber in der Luft lagen immer noch die Reste von Magie. Redfeather wollte Gabriels Puls fühlen, aber er zog seine Hand schnell zurück. Die Haut seines Enkels war noch zu heiß, um sie berühren zu können.
»Gabriel!«, rief Redfeather, aber der Junge rührte sich nicht. Der alte Mann lief hastig in das kleine Badezimmer, das an das Arbeitszimmer angrenzte, und kam mit einem nassen Handtuch zurück. Als er es dem jungen Mann auf die Stirn legte, stieg Dampf auf. Nach einigen Augenblicken war er jedoch abgekühlt genug, dass Redfeather ihn zur Couch tragen konnte.
»Was zum Teufel war das?« De Mona trat neben die Couch, während sich Redfeather um Gabriel kümmerte.
»Das war eine Kostprobe der Macht des Nimrod«, erwiderte Redfeather, der immer noch versuchte, seinen Enkel aufzuwecken.
»Eine Kostprobe?«, fragte De Mona ungläubig. »Himmel, dieser Sturm hätte fast das ganze Haus zerstört!«
»Liebes Kind, das war nur ein Tropfen Wasser in einem Ozean«, antwortete Redfeather ernst. »In den richtigen Händen könnte der Nimrod einen ganzen Wohnblock versetzen, und in den Händen des Dunklen Ordens könnte er die Menschheit versklaven.«
»Geht es ihm gut?«, erkundigte sich De Mona, als sie bemerkte, dass Gabriels Kleidung immer noch dampfte.
»Das hoffe ich«, antwortete Redfeather. Er legte ein Ohr auf Gabriels Brust. »Er atmet, aber ich kann ihn nicht wecken.«
»Liegt er vielleicht in einer Art Koma?« De Mona trat vorsichtig um die Couch herum.
»Nein. Ich fürchte, das ist das Werk des Nimrod und ein Ergebnis der dunklen Pläne, die er mit meinem Enkel im Sinn hat.« Redfeather hob die Hände in die Luft und murmelte etwas über Gabriels Körper.
»War das ein Zauberwort?«, wollte De Mona neugierig wissen.
»Nein, ein Gebet«, erwiderte Redfeather.
»Ja, davon werden wir wahrscheinlich eine Menge brauchen.« De Mona betrachtete Gabriel. Als ihr Blick über seinen Arm glitt, der über den Rand der Couch baumelte, stockte ihr der Atem. »Heilige Scheiße!«
Redfeather schaute auf die Stelle, auf die De Mona starrte, und öffnete vor Verblüffung den Mund. Das Artefakt war keineswegs verschwunden; es hatte sich in Gabriels Arm eingenistet. Wo die Haut zuvor glatt und rein gewesen war, befand sich jetzt die Tätowierung eines Dreizacks im Herzen eines Sturms.
»Ist es normal, dass es so etwas tut?«, fragte De Mona.
»Ich … das … das ist äußerst ungewöhnlich.« Redfeather beugte sich herunter und musterte die Tätowierung genauer. Sie war etwas erhaben und glühte schwach, als könnte sie jeden Moment zum Leben erwachen.
»Was passiert da?« De Mona wich zurück.
»Das werden wir kaum herausfinden.« Redfeather wickelte Gabriels Arm in die Reste eines Vorhangs. »Wir brauchen keine Wiederholung von dem, was eben passiert ist.«
»Das alles ist vollkommen irreal.« De Mona ging aufgeregt auf und ab und versuchte dabei, nicht über die Trümmer zu stolpern.
»Ich fürchte leider, es ist sehr real. Ich hätte es kommen sehen müssen.« Redfeather sank zu Boden und stützte den Kopf in die Hände.
»Aber Sie hätten doch nie und nimmer vorhersagen können, dass dieses Ding zu Ihrem Enkel kommen würde, ganz zu schweigen davon, dass es zum Leben erwachen könnte.«
»Doch, das hätte ich.« Er sah sie mit glasigen Augen an. »Wir sind die letzten Angehörigen unseres Stammes und direkte Nachfahren des großen Jägers. Aber wir trugen nicht alle den Funken in uns, der unser Geschlecht so besonders machte. In all den Jahren, in denen ich den Dolch besessen habe, hat er nie auf meine Berührung reagiert. Doch bei meinem Sohn, Gabriels Vater, tat er es. So wie ich ihn von meinem Vater bekam, habe ich ihn an meinen Sohn weitergegeben. Ich hatte es nicht erwartet. Und als der Dolch auf mein Kind reagierte, führte ich ihn in das hier ein«, er deutete auf den zerstörten Raum, »was seinen Untergang herbeiführte, so wie jetzt mein Enkel vom Nimrod bedroht wird.«
De Mona betrachtete ihn eine Weile. Als sie sich auf die Suche nach den Redfeathers gemacht hatte, hatte sie eigentlich nur Antworten von ihnen gewollt, die sie brauchte, um das Geheimnis des Dreizacks aufzudecken. Doch jetzt, da sie sie besser kennen lernte, erkannte sie das Gute im Kleinen, von dem ihr Vater immer gesprochen hatte.
»Wir werden nicht zulassen, dass ihm das Gleiche geschieht.« De Mona legte Redfeather beruhigend eine Hand auf die Schulter. Diesmal zuckte er vor der Berührung des Dämons nicht zurück. »Vielleicht können uns ja diese Jungs vom Allerheiligsten helfen?«
»Das ist es!« Redfeather sprang so unvermittelt auf die Füße, dass De Mona erschrak. »Helfen Sie mir, ihn nach oben zu bringen. Wir müssen gehen.« Redfeather packte Gabriels Beine, während De Mona ihn unter den Achseln fasste. Die Valkrin hätte ihn auch allein schleppen können, aber sie ließ es zu, dass Redfeather ihr half.
»Und wo genau gehen wir hin? Wir können ihn hier nicht allein lassen«, sagte sie, als sie ins Obergeschoss des Mietshauses stiegen.
»Das werden wir auch nicht. Ich habe einen Freund, den ich bitten kann, bei ihm zu bleiben, während wir unterwegs sind. Wenn jemand erklären kann, was gerade mit meinem Enkel geschieht, dann ist es Bruder Angelo.«
»Sieh an, was haben wir denn hier?« Morgan beugte sich über den Rand des Daches. Als seine helle Hand den Zement der Balustrade berührte, wurde seine Haut dunkler und nahm die Farbe des Steins an. »Sieht so aus, als wäre noch jemand zu der Party gekommen.«
»Das ist nicht derselbe Kerl, mit dem wir sie vorhin gesehen haben.« Jackson spielte zerstreut mit einem silbernen Stilett, während er näher zu Morgan trat. Wenn Jackson sich bewegte, sah es aus, als würde man einen Schatten beobachten. Er warf einen Blick über den Rand, und seine übernatürlich scharfen Augen erblickten seine Beute, die gerade das Mietshaus verließ.
»Brillant beobachtet«, erwiderte Morgan sarkastisch.
Jackson grinste seinen Partner an, und seine mit Gold und Diamanten besetzten Zähne blitzten. »Spiel nicht den Klugscheißer, Rotfuchs. Wer ist der alte Knacker?«
»Warum fragst du nicht den Hexer?«
»Das habe ich gehört«, drang Jonas’ Stimme aus Morgans Ohrhörer. »Könnt ihr nahe genug herankommen, damit ich ein Bild kriege, mit dem ich arbeiten kann?«
»Wahrscheinlich könnte ich nah genug rankommen«, erwiderte Jackson. Er besaß die unheimliche Gabe, sich ungesehen bewegen zu können, wenn er wollte. Er wurde zwar nicht unsichtbar, aber man bemerkte ihn einfach nicht, bis er direkt vor einem stand. Das war eine weitere, unerklärliche Nebenwirkung von dem, was sie jetzt nur als »jene Nacht« bezeichneten.
Damals war Jackson ein hartgesottener Teenager gewesen, der in der Bronx geboren und auf den Straßen von New York aufgewachsen war. Er gehörte einer Gang von gewalttätigen jungen Punks an, die die Geißel ihrer Wohnanlagen waren. In »jener Nacht« hatten Jackson und seine Bande zwei Angehörige einer rivalisierenden Gang, wie sie glaubten, bis zu einem entlegenen Gebiet von Hunt’s Point gejagt. Als es Jackson und seinen Leuten schließlich gelang, sie bei einer stillgelegten Fleischverpackungsfabrik in die Enge zu treiben, lernten sie die hässliche Wahrheit kennen. Die beiden Männer waren nur Lockvögel gewesen, die Jacksons Gang mitten in ein Nest von Vampiren geführt hatten. Diese Kreaturen schlugen so schnell zu, dass Jacksons Freunde allesamt tot waren, bevor er auch nur einen Schrei ausstoßen konnte.
Als Morgan Jackson gefunden hatte, war von ihm nicht mehr viel übrig gewesen. Er hatte mit allem, was ihm zur Verfügung stand, gekämpft, und zur Belohnung hatten die Vampire ihm sämtliche Gliedmaßen ausgerissen und ihn dann verbluten lassen. Während Jackson dalag und seine – wie er wusste – letzten Atemzüge tat, warf ihm das Schicksal einen Knochen zu, und zwar in Form eines blendenden Lichtblitzes. Was danach geschah, war wie hinter einem Schleier verborgen, weil er immer wieder das Bewusstsein verlor, aber er erinnerte sich daran, dass er einen roten Bart gesehen und Schreie gehört hatte.
Die Vampire waren bösartig, aber kein echter Gegner für Morgans juwelenbesetzten Hammer. Als der Ire mit ihnen fertig war, war nicht einmal etwas von ihnen übrig, das die Morgensonne hätte kochen können. Morgans Wut vollendete ihr Werk sehr schnell, aber bedauerlicherweise für Jackson nicht schnell genug. Sein Körper war nur noch eine Masse von Prellungen, blutigen Wunden und verstümmelten Gliedern. Morgan hatte angenommen, dass der Mann tot sei, bis er ihn mit Kerosin übergoss. Das entlockte dem malträtierten Körper ein leises Stöhnen. Jackson atmete zwar nur noch schwach, aber regelmäßig, und das Feuer, das in seinen Augen brannte, hätte die Polkappen schmelzen lassen können. Er war noch nicht bereit zu sterben, was Morgan irgendwie berührte. Deshalb tötete er Jackson nicht.
Als Jonas herausfand, was Morgan vorhatte, befahl er ihm quasi, Jackson zu erledigen, bevor die Infektion durch die Vampirbisse sich ausbreiten konnte. Aber Morgan brachte es nicht fertig. Genau wie der junge Mann war auch Morgan einmal ein Opfer gewesen. Die Handlanger der Hölle hatten seine Frau und seine Kinder abgeschlachtet und ihn sterbend zurückgelassen. So wie Jonas es mit Morgan gemacht hatte, so wollte er dem verstümmelten jungen Mann eine Chance geben. Er sammelte die Körperteile ein, ignorierte Jonas’ Tirade, dass der Mann von den Vampiren infiziert wäre, und verschwand mit ihm.
Die erste Woche war die härteste. Die Infektion wütete in Jacksons Körper. Es war, als sähe man einem Heroinsüchtigen beim Entzug zu, nur zehnmal schlimmer. Tag und Nacht hielt Morgan neben dem jungen Mann Wache, bereit, ihn sofort zu töten, falls er Anzeichen einer Transformation zeigen sollte. Zu Morgans Verblüffung trat das jedoch nicht ein. Seine Wunden heilten schneller als erwartet, und er schien die Infektion nicht weiterzutragen. Morgan päppelte den jungen Mann wieder auf und half ihm dabei, sich daran zu gewöhnen, dass er behindert war. Jacksons Verstand funktionierte ausgezeichnet, aber sein Körper war immer noch gebrochen.
Jonas war sauer gewesen und hatte sogar persönlich versucht, Jackson zu erledigen, doch glücklicherweise war es Morgan gelungen, ihn daran zu hindern. Er hatte zu viele junge Männer und Frauen gesehen, die der Finsternis anheimfielen, und er wollte diesem Fremden eine faire Chance geben. Und Jacksons Körper wehrte nicht nur die Infektion ab, er schien auch beunruhigend schnell gesund zu werden. Bereits nach drei Wochen konnte er wieder gehen, und seine schlimmsten Wunden waren verheilt. Jonas glaubte, dass es eine verzögerte Reaktion der Transformation sein könnte, aber sämtliche Tests, denen man Jackson unterzog, lieferten ein negatives Ergebnis. Er war vielleicht nicht von den Vampiren infiziert worden, aber irgendetwas hatte eine biologische Reaktion in ihm ausgelöst. Einen Monat später überreichte Morgan dem ehemaligen Opfer zwei Geschenke, die sein Leben verändern sollten.
Nach sechs langen Monaten Physiotherapie und einem Crashkurs in der Welt des Übernatürlichen war Jackson ausreichend vorbereitet, um wieder in die Welt hinauszugehen – nur hatte er keinen Ort, an den er hätte gehen können. Seine Gang war seine Familie gewesen, und wie schon Morgan und Jonas zuvor hatte die Armee der Hölle ihn zum Waisen gemacht. So war es keine große Überraschung, dass Jackson sie bat, bleiben zu dürfen. Nach dem, was er gesehen und durchgemacht hatte, hätte er ohnehin kein normales, unbeschwertes Leben mehr führen können. Morgan und Jonas hatten ihm die Scheuklappen genommen, und Jackson sah die Welt jetzt mit ganz neuen Augen. Und was er sah, war nicht sonderlich hübsch. In jener Nacht wurde aus dem Duo ein Trio. In den nächsten Jahren gerieten sie immer wieder in gefährliche Situationen, und dabei wurde eines über ihr neues Mitglied deutlich: Jackson hatte sich zwar nicht die Vampirinfektion zugezogen, aber er hatte eine Neigung für Blut entwickelt, genauer, für Blutvergießen.
»Negativ. Wir wissen immer noch nicht, ob es wirklich Menschen sind oder nur Lockvögel. Morgan, du musst herkommen, damit wir aus den Daten schlau werden, die wir bereits gesammelt haben. Jackson, ich möchte, dass du ihnen folgst, aber du darfst dich ihnen auf keinen Fall nähern, ist das klar?«
»Komm schon, Alter, darf ich nicht wenigstens ein bisschen Spaß haben?«, beschwerte sich Jackson.
»Sicher, es ist bestimmt spaßig, wenn du herausfindest, dass du dich gerade mit zwei Werwesen angelegt hast und sie dich zu einem Kerzenlichtdinner einladen«, warnte ihn Jonas. »Halt dich zurück, Jackson. Wir dürfen kein Risiko eingehen, bis wir genau wissen, um wen es sich da eigentlich handelt.«
»Alles klar«, erwiderte Jackson und schaltete sein Funkgerät aus. Dann murmelte er etwas und schlug mit der Faust gegen die Ziegelwand neben der Tür. Der Stein zerbröselte.
Morgan wartete, bis er sicher war, dass Jonas nicht mehr am Funk mithörte, bevor er mit seinem Freund sprach. »Also, machst du jetzt das, worum Jonas dich gebeten hat, oder das, was Jackson gern tun würde?«
Jackson sah Morgan an, als wäre das eine besonders dumme Frage. »Mann, wie lange kennst du mich jetzt?«
»Mein Gott, Junge, warum kannst du die Sachen nicht einmal korrekt erledigen?«
Jackson zuckte mit den Schultern. »Weil ich vielleicht eines Tages aufwache, herausfinde, wie langweilig mein Leben eigentlich ist, und mich dann umbringe.« Jackson zwinkerte seinem Partner zu und sprang über die Balustrade des Gebäudes in die Tiefe.
Morgan schüttelte nur den Kopf und ging langsam zur Treppe.