10. Kapitel
Titus stützte sich auf seinen Schreibtisch und wartete darauf, dass der Schmerz verging. Er war dem Schmerz ganz ähnlich, den er schon zuvor empfunden hatte, nur intensiver. Irgendwo in New York musste der Nimrod zum Leben erwacht sein.
Als Titus seinen Pakt mit Belthon geschlossen hatte, war ihm versprochen worden, dass alle seine Leiden ein Ende hätten. Der Schmerz in seiner Brust jedoch war ein unverkennbarer Hinweis darauf, dass jemand seinen Teil der Abmachung nicht einhielt. Als der Schmerz schließlich langsam verebbte, geschahen zwei Dinge: Titus konnte sich wieder aufrichten, und Flag stieß den Atem aus, den er angehalten hatte.
»Meister.« Flag flüsterte fast.
»Einen Augenblick.« Titus rollte seine breiten Schultern, um die Anspannung zu lockern. Als er Flag schließlich ansah, waren seine Augen glasig, vom Schmerz oder vielleicht auch von extremer Ekstase. »Sprich!«, befahl er.
»Wir haben Nachrichten aus New York«, antwortete Flag und spannte sich an.
»Der Nimrod?«
»Jawohl, Lord Titus. Riel ist auf den Dreizack gestoßen, hatte jedoch Probleme, ihn in seinen Besitz zu bringen. Er …«
»Schweig!« Titus unterstrich seinen Befehl mit einer Handbewegung. »Du weißt, dass ich schlechte Nachrichten lieber aus erster Hand erfahre.«
Flag verbeugte sich, dankbar, dass er nicht für die Überbringung schlechter Nachrichten bestraft wurde. »Selbstverständlich, Meister. Ich bereite den Spiegel vor.« Flag trat zu einem Spiegel in einem silbernen Rahmen, der etwa einen Meter fünfzig hoch und an der Wand von Titus’ Büro montiert war. Der Magus flüsterte eine Beschwörung und fuhr mit der Hand über das Glas, das sich sofort mit Rauch zu füllen schien. Als der Rauch sich verzog, tauchte ein verzerrtes Bild von Riel im Spiegel auf.
»Und welche Neuigkeiten hat mein bester Hauptmann heute Nacht für mich?« Titus klang, als wüsste er die Antwort bereits.
Riel zögerte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass seinem Meister die Neuigkeiten, die er hatte, nicht gefallen würden, und Riel hatte seinen Wirtskörper durchaus lieb gewonnen. New York lag zwar Hunderte von Meilen von Titus’ Hauptquartier entfernt, aber wenn es um Magie ging, spielte Distanz keine Rolle. Obwohl man den Zauberspiegel nicht für Reisen benutzen konnte, war Riel durch ihn bis zu einem gewissen Punkt durchaus erreichbar.
»Lord Titus, Lieblingssohn von Belthon, ich begrüße Euch demütigst …«, begann Riel, wurde jedoch von einer knappen Handbewegung unterbrochen.
»Riel, bitte überspring die Förmlichkeiten und komm zum Punkt.« Titus’ Stimme war zwar neutral, aber seine Augen funkelten bedrohlich.
»Wie Ihr wünscht.« Riel schluckte. »Ich habe heute Abend mit einem Ritter gekämpft, der mit dem Dreizack des Himmels gefochten hat.«
»Da du, wie ich sehe, noch am Leben bist, darf ich annehmen, dass du die Waffe für den Finsteren Vater erbeutet hast?«, erkundigte sich Titus.
Riel senkte den Blick. »Nein. Die Nachtwandler wurden vernichtet, und ich bin nur knapp der Zerstörung meines Wirtskörpers entkommen.«
Ohne Vorwarnung zuckte Titus’ Hand in den Spiegel. Als seine Finger die Oberfläche durchstießen, zerbrach kein Glas, sondern es ertönte nur ein dumpfes Geräusch, als wäre etwas hingefallen. Auf der anderen Seite umklammerten knorrige Finger Riels Kehle, und schwarze Nägel gruben sich tief in sein gestohlenes Fleisch. Er spürte, wie seine Haut Blasen warf, als Titus drohte, ihn durch Flammen zu vernichten.
»Die Alten nannten dich den Königsmacher, ich aber nenne dich einen Versager!« Titus’ Augen glühten, ebenso wie seine Hände. »Seit Jahrhunderten suchen wir nach den restlichen Waffen dieser verfluchten Ritter, und du hast es geschafft, die mächtigste von ihnen an den Bastard einer vergangenen Ära zu verlieren. Riel, du kennst ebenso gut wie alle anderen Mitglieder des Dunklen Ordens den Preis für Versagen.«
Riel war einer der gefürchtetsten und mächtigsten Dämonen in der Geschichte der Welt, dennoch versuchte er vergeblich, sich aus Titus’ Griff zu befreien. Die Hauptfunktion des Spiegels diente der Kommunikation, aber die Geschicktesten im Umgang mit dem Objekt oder seinem Zauber konnten Gegenstände durch das Glas hindurchschicken oder empfangen, wie Titus es Riel gerade zeigte. Die Tatsache, dass die Übertragung durch den Spiegel über die Ebene der Dämonen führte, erlaubte es Titus, seine Dämonengestalt anzunehmen und sich von den üblichen Beschränkungen des Reichs der Sterblichen freizumachen. Schon in der Menschenwelt war Titus mächtig, aber auf der Ebene der Dämonen verfügte er über die Macht von Belthon selbst.
Riel keuchte. Er versuchte noch immer, seine eigene Macht gegen Titus einzusetzen, aber ihm fehlte die Kraft. Als ihm klar wurde, dass er Titus niemals würde besiegen können, suchte er sein Heil in der Diplomatie. »Er hat den Sturm beschworen!«, krächzte er.
Titus lockerte seinen Griff. »Ausgeschlossen. Erbärmliche Lügen werden dein Schicksal nicht abwenden.«
»Es ist die Wahrheit«, beharrte Riel. »Sturmwolken tanzten in seinen Augen, Meister, während er das gesamte Rudel von Nachtwandlern erledigte. Ich schwöre es, Lord Titus; der Bischof selbst hat durch den Jungen zu mir gesprochen!«
Titus ließ von Riel ab und zog seine Hände aus dem Spiegel. Sie hatten wieder menschliche Form angenommen, aber die Haut um die Knöchel war ein wenig versengt. Titus musterte Riel, während er über dessen Worte nachdachte. »Erzähl mir mehr davon, Bastard«, befahl er dann.
Riel berichtete die Geschichte von dem jungen Mann, mit dem er zu Beginn dieser Nacht zusammengestoßen war, und erwähnte auch das Licht, das ihn beinahe an denselben schwarzen Ort zurückgeschickt hätte, zu dem die Nachtwandler verschwunden waren. Selbstverständlich färbte er die Geschichte ein wenig ein und ließ den Teil aus, in dem er seinen Schattenumhang beschworen hatte, um zu fliehen.
Titus bezweifelte allerdings ohnehin, dass sich alles so zugetragen hatte, wie Riel es schilderte. Dämonen waren von Natur aus ausgezeichnete Lügner. Dennoch war ihm klar, dass der Nimrod zum Leben erweckt worden war und mit ihm die Seele des verfluchten Bischofs. Das dumpfe Pochen in Titus’ Brust bestätigte das. Er hätte schwören können, dass er tief in seinem Bewusstsein wahrnahm, wie der Bischof ihn auslachte. Aber selbst wenn der Nimrod wieder aktiv war und die Seele des Bischofs sich rührte, war er noch nicht im Vollbesitz seiner ganzen Macht. Nur mit einem willigen und fähigen Wirt konnte der Bischof die Ebenen durchqueren. So bestand also immer noch die Chance, die Waffe zu erbeuten, es sei denn, Riel hatte die Wahrheit gesagt, und der legendäre Nimrod hatte gewählt. So unwahrscheinlich das auch klingen mochte, Titus konnte das Gefühl der Macht dieses Artefakts, das ihn durchströmte, nicht ignorieren.
Während der letzten Jahrhunderte hatte der Nimrod fast durchgehend geschlummert. Er war durch viele Hände gegangen, und die meisten Menschen hatten ihn für das gehalten, wonach er aussah, für eine zerbrochene Mistgabel nämlich. Einmal war er kurz zum Leben erwacht, hatte aber den armen Teufel, der ihn aus Versehen geweckt hatte, verzehrt, bevor er wieder in tiefen Schlummer fiel. Sollte der Dreizack jetzt jedoch einen Herrn erwählt haben, so konnte das den Beginn eines neuen Krieges bedeuten. Und wenn sie tatsächlich an der Schwelle einer weiteren Siebentägigen Belagerung standen, dann würde Titus, wie er sehr wohl wusste, seine besten Dämonenkrieger an seiner Seite brauchen.
»Riel, du hast dem Orden jahrhundertelang treu gedient und dich zumeist als sehr wertvoll erwiesen. Nur aus diesem Grund werfe ich dich nicht zurück ins Feuer, auf dass du dich Belthon gegenüber verantworten musst«, erklärte Titus.
»Ich danke Euch, Meister.« Riel wäre beinahe vor Titus gekrochen.
»Deinen Dank brauche ich nicht, du Wurm. Ich brauche Ergebnisse. Es ist mir egal, ob du einen ganzen Friedhof erwecken musst, um den Jungen zu töten und den Dreizack zu erbeuten. Ich will die Waffe!«
»Euer Wunsch ist mir Befehl«, antwortete Riel, während sein Bild im Spiegel verblasste.
»Inkompetent«, murmelte Flag. Titus sah den Magus an, als würde er sich jetzt erst bewusst, dass er nicht allein im Raum war. »Nicht Ihr, Lord Titus, ich meine Riel«, erklärte Flag hastig.
»Flag, Riel hat schon länger Blut vergossen – das von Menschen und das von Dämonen –, als du und ich am Leben sind. Und obwohl es ihm nicht gelungen ist, den Nimrod zu erbeuten, hat er uns soeben zwei sehr wichtige Dinge mitgeteilt.« Als Titus den verwirrten Ausdruck auf Flags Gesicht bemerkte, fuhr er erklärend fort: »Das Erste ist, dass der Nimrod erweckt ist, und das Zweite ist die Mahnung, niemals einen Gegner zu unterschätzen. Riel hielt seine Gegner für schwach, weil sie Menschen waren, doch Magie kann selbst ein ängstliches Schaf in einen wilden Löwen verwandeln. Dieser Sterbliche muss gefunden und der Nimrod erbeutet werden, bevor es dem Bischof gelingt, in dieser Welt Fuß zu fassen.« Die Nervosität in Titus’ Stimme war nicht zu überhören.
»Sollen wir Belthon informieren?«, erkundigte sich Flag und betete insgeheim, dass Titus seine Frage verneinen würde. Flags Meister war eine Bestie, aber neben dem Dämonenlord wirkte er wie ein Schmusekätzchen. Obwohl der Magus schon seit seiner Kindheit für den Dunklen Orden arbeitete, bereiteten ihm die mächtigeren Wesen immer noch Unbehagen, selbst wenn sie keine reinen Dämonen waren.
»Noch nicht«, entgegnete Titus. »Ich glaube nicht, dass ein einzelner Sterblicher mächtiger sein kann als die Armeen der Hölle, nicht einmal mit dem Dreizack. Wir müssen einen Plan schmieden, aber zunächst brauchen wir Antworten. Finden wir heraus, was Leah dazu zu sagen hat.«
»Herr, haltet Ihr es wirklich für notwendig, sie zurate zu ziehen?«, fragte Flag mit besorgter Miene.
»Flag, sind deine Vorurteile etwa so groß, dass du die Gesellschaft einer Fee nicht mehr erträgst?«, erkundigte sich Titus spöttisch.
»Leah ist viel mehr als nur eine Fee«, brummte Flag mürrisch.
»Allerdings. Sie ist die Antwort auf unsere Fragen. Begleite mich, Magus, wir haben Pläne zu schmieden«, befahl Titus, während er sein Büro verließ.