12. Kapitel
Das Taxi bog in eine ruhige Wohnstraße ein, die vom Prospect Park Loop in Brooklyn abging. Noch bevor der Wagen angehalten hatte, warf Redfeather dem Fahrer ein paar Geldscheine zu und sprang hinaus. De Mona folgte ihm. Auf dem Bürgersteig ging sie neben dem alten Mann her, ihre Gedanken waren jedoch bei dem jungen Redfeather.
Der Nimrod hatte Gabriel als einen Überträger seiner Macht benutzt, ihn dabei beinahe verbrannt und sie und Redfeather fast ertränkt. Gabriels Körper schien zwar noch intakt zu sein – bis auf die blauen Flecken, die sie selbst ihm mit dem Stuhl beigebracht hatte –, aber soweit sie sah, war sein Verstand verwirrt. Sie fragte sich, ob er in den Nimrod gesaugt worden war, wie der Geist des letzten Trägers, aber das würde nicht erklären, warum die Waffe sich an Gabriel gebunden hatte. Sowohl der Nimrod als auch der Jüngste des Redfeather-Clans waren ein Mysterium, das De Mona unbedingt lösen wollte.
Sie hatte gezögert, Gabriel in seinem Zustand und mit dem Mal des Nimrod auf dem Arm alleine in dem Mietshaus zu lassen, aber Redfeather hatte ihr versichert, dass sein Enkel bei Meg in Sicherheit sein würde. Obwohl die alte Frau sie nur mit einem recht zurückhaltenden Lächeln begrüßt hatte, hatte De Mona die Magie gespürt, die sie ausstrahlte. Als sie den alten Redfeather über die Frau hatte ausfragen wollen, hatte er nur geantwortet, Meg sei eine sehr alte Freundin.
Schließlich standen De Mona und Redfeather auf den Stufen eines Gebäudes, das eindeutig älter war als der Park gegenüber. De Mona betrachtete die Umrisse der Wasserspeier, die vom Dach herunterblickten. Einen Moment lang glaubte sie, sie sähe, wie einer von ihnen sich bewegte, schrieb das dann aber ihrer Nervosität zu. Das Gebäude war keine Kirche, aber es strahlte eine Atmosphäre von Heiligkeit und Macht aus, und das zu Recht. Es war das Allerheiligste, der Ort, zu dem ihr Vater gehen wollte, bevor er getötet wurde.
Das Allerheiligste bestand aus mehreren Gebäuden, die an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt verteilt standen. Alle waren beeindruckend, und das Gebäude am Prospect Park war zwar nicht das größte, aber das bedeutendste, wenn es um Informationen ging. Es war errichtet worden, schon lange bevor New York New Amsterdam genannt wurde, und war eine Zwischenstation für Dämonen, die ein anderes Leben führen wollten oder Schutz vor jenen suchten, die sie verraten hatten. Das Allerheiligste war für die übernatürlichen Kreaturen das, was Ellis Island einst für Amerikas Immigranten gewesen war. Im Austausch für die Dienste, die das Allerheiligste den Dämonen gewährte, mussten sie ihr Wissen über ihre Geschichte und Kultur preisgeben, damit der Orden seine Forschungen fortsetzen konnte.
Der Orden war ursprünglich von einer Gruppe wohlhabender Gelehrter und Mystiker gegründet worden, deren Namen schon vergessen gewesen waren, lange bevor die Belagerung überhaupt stattgefunden hatte. Sein ursprünglicher Zweck hatte einfach nur darin bestanden, paranormale Aktivitäten zu studieren. Doch die Gelehrten hatten bald herausgefunden, dass es manchmal nicht genügte, nur zuzusehen, sondern dass auch Taten erforderlich waren. In diesen Fällen schickten sie ihre Inquisitoren. Diese Männer waren mehr Soldaten als Gelehrte und dem Orden sowie der Menschheit unerschütterlich loyal ergeben. Die Inquisitoren waren von frühester Kindheit an in Kampftechnik ausgebildet worden und würden im Namen des Ordens töten oder sterben.
Es gab verschiedene Quellen, die sie hätten anzapfen können, um die benötigten Antworten zu bekommen, aber sowohl der alte Redfeather als auch De Monas verstorbener Vater hielten das Allerheiligste für die beste Wahl. Redfeather war mit dem Mann bekannt, der den Orden führte, Bruder Angelo, und schien der Meinung zu sein, dass man ihm vertrauen konnte. Trotzdem wirkte er ein wenig angespannt. Angesichts der Macht, die dieser Ort ausstrahlte, konnte De Mona nur hoffen, dass Redfeathers Vertrauen wohlbegründet war.
Als sie den Fuß auf die erste Stufe stellte, spürte sie ein Kribbeln am ganzen Körper. Es war kein feindseliges Gefühl, eher ein neugieriges Forschen. Die Muskeln unter ihrer Haut zogen sich zusammen und versuchten, die Transformation einzuleiten, aber sie widersetzte sich. Etwas in diesem Haus kommunizierte mit dem Dämon in ihr, und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Die Stufen bestanden aus feinstem Marmor, und obwohl sie bereits abgenutzt und rissig waren, konnte man immer noch die ausgezeichnete Steinmetzarbeit erkennen. Sie führten zu einer schweren, fast vier Meter hohen Tür. Am Türrahmen konnte De Mona schwache Runen erkennen, die sich zwar ein wenig von denjenigen unterschieden, mit denen Redfeather sein Heim gesichert hatte, die aber dennoch sehr machtvoll waren. De Mona streckte die Hand aus und strich mit dem Finger darüber. Sie bereiteten ihr keine Schmerzen wie die, die der alte Mann gewirkt hatte, obwohl sie wusste, dass sie es vermochten. Sie war gerade dabei, die Markierungen auf der anderen Seite der Tür zu betrachten, als diese sich plötzlich öffnete.
Ein Mann so schwarz wie die Nacht stand vor ihnen. In jedem seiner Ohrläppchen hingen zwei goldene Kreolen. Die Muskeln unter seiner schwarzen Lederweste sahen aus wie Stahlfedern, wenn er sich bewegte. Vom Kiefer bis zu den Augenwinkeln war er mit Stammestätowierungen geschmückt, und seine Augen schimmerten wie Gletscher, als sein Blick über Redfeather glitt und an De Mona hängen blieb. Ein Zucken auf seinem Gesicht verriet, dass er sie erkannte. Dann verzog er die Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
Jackson brachte seine neue Ninja an der Ecke des Blocks zum Stehen, an dem das Taxi abgebogen war. Es herrschte nicht viel Verkehr auf dem Weg zwischen Manhattan und Brooklyn, so dass es ihm schwergefallen war, ihnen unbemerkt zu folgen. Er hatte versucht, so weit hinter ihnen zu bleiben, dass sie ihn nicht bemerkten. Er wäre beinahe gestürzt, als er die scharfe Ausfahrt zur Brooklyn Bridge genommen hatte.
Sie in Brooklyn zu verfolgen war etwas leichter gewesen, weil der Verkehr zugenommen hatte. Selbst um diese Uhrzeit war es hier lebhafter, weil die Leute After-Hour-Bars verließen oder zu einem späten Dinner unterwegs waren. Trotzdem war er froh gewesen, als die Fahrgäste des Taxis endlich beschlossen hatten, ein paar Meter von einer alten Kirche entfernt anzuhalten. Mit seiner extrem scharfen Sehkraft identifizierte er die Adresse des Hauses und funkte Jonas an.
»Jonas, ich habe sie bis nach Brooklyn verfolgt.« Dann gab er ihm die Adresse.
Es dauerte eine Minute, bevor Jonas antwortete: »Jackson, untersuch den Ort nach Resten von Magie.«
»Jonas, das Haus sieht mehr nach einer Absteige aus als nach Draculas Burg.«
»Tu mir den Gefallen, Jack.«
Jackson murmelte einen leisen Fluch und griff in seine Tasche, um den Gegenstand herauszuziehen, den er für diese Aufgabe brauchte. Er hob den kleinen Kristall, der am Ende eines Lederbandes hing, auf Augenhöhe. Zuerst passierte nichts, doch dann begann der Kristall plötzlich an der Schnur zu pendeln. Zunächst schwach, als würde der Wind ihn bewegen, doch dann pendelte er immer heftiger, bis er schließlich ziemlich unerwartet hochschwang, mitten in der Luft innehielt und in Richtung des Gebäudes deutete. Er zog so mächtig an der Schnur, dass Jackson den Kristall mit der Hand festhalten musste, damit er nicht das Leder zerriss.
»Wow!«, stieß Jackson hervor und versuchte, den Kristall wieder in die Tasche zu stecken. »Jonas, ich bin nicht sicher, was da drin vorgeht, aber es muss sich um eine sehr starke Magie handeln. Der Kristall flippt völlig aus.«
»Wie ich es mir gedacht habe«, erwiderte Jonas. Im Hintergrund hörte man das Klicken der Tastatur seines Laptops. »Jackson, dieser Ort ist tabu, und zwar vollkommen. Wenn du die Spur verlierst, nehmen wir sie woanders wieder auf. Aber ich will, dass du dich auf keinen Fall diesem Ort näherst.«
»Was zum Teufel ist mit dir los, Mann? Ich dachte, du wolltest diese Kerle durchleuchten?«, fragte Jackson.
»Das will ich auch, aber ich will nicht, dass du das Risiko eingehst, dich dem Allerheiligsten zu nähern, solange wir deinen Zustand noch nicht diagnostiziert haben. Das ist zu riskant.«
»Herrgott, das ist jetzt Jahre her, und mir sind immer noch keine Reißzähne gewachsen, ebenso wenig wie ein Fell oder ein verdammter sechster Zeh, also warum lässt du es nicht ein bisschen cooler angehen?«, blaffte Jackson.
»Jackson, so meine ich das nicht … Hör zu.« Er holte tief Luft. »An Orten wie diesem lungern immer echt üble Typen herum, und zwar solche, die sich darauf spezialisiert haben, übernatürliche Kreaturen in Stücke zu reißen. Es würde mir nicht gefallen, wenn es jemand missversteht, warum du da herumschnüffelst. Halte einfach sicheren Abstand zu dem Haus, und wir warten ab, was sie als Nächstes tun.«
»Da bin ich anderer Meinung. Ich schlage vor, ich kassiere die beiden ein, und dann prügeln wir die Informationen aus ihnen raus.« Er ballte die Fäuste in den Lederhandschuhen.
»Du weißt genau, dass wir so nicht vorgehen, Jackson. Wenn wir anfangen, möglicherweise vollkommen unschuldige Leute zu entführen und zu fesseln, sind wir selbst nicht besser als diese Schleimschädel und ihre Bosse. Ich bin mir noch nicht sicher, welche Rolle sie in dieser ganzen Angelegenheit spielen, aber wenn der Dunkle Orden ihren Tod will, können wir sie vielleicht für unsere Zwecke nutzen.«
»So spricht mein guter Jonas, ein braver Soldatenwerber«, spottete Jackson.
»Nenn es, wie du willst, aber wir werden gegen die Armeen der Hölle alle Hilfe brauchen, die wir kriegen können. Halt einfach die Augen auf, und ich sehe mal, was ich hier so herausfinden kann.«
»Wie du willst, Boss«, erwiderte Jackson sarkastisch und unterbrach die Verbindung. Er liebte und respektierte Jonas, aber manchmal waren sie sich nicht einig, wie man gewisse Situationen handhaben musste. Jackson war sein ganzes Leben lang Soldat gewesen und daran gewöhnt, die Dinge direkt anzugehen, während Jonas an Diplomatie glaubte. Zugegeben, seine Methode hatte sich meistens als wirkungsvoll erwiesen, aber das konnte nichts an der Tatsache ändern, dass in Jacksons Herz immer noch Krieg herrschte. Jonas konnte seine Diplomatie haben, jedenfalls so lange, bis Jackson am Ende jemandem in den Hintern treten konnte.