19. Kapitel
Gabriel stolperte durch die Straßen von Harlem, genauso gefangen in seinen eigenen Gedanken wie im Griff des Nimrod. Das Artefakt hatte sich ruhig verhalten, seit er das Haus verlassen hatte, aber er spürte es noch. Das Gefühl richtete die Haare auf seinen Armen auf, als würde ein kühler Wind darüber wehen. Er hätte die Tätowierung gerne untersucht, aber er wollte nicht riskieren, dass sie eine neue Welle von Macht aussandte.
Mit gesenktem Kopf und der rechten Hand tief in der Tasche setzte Gabriel seinen Weg nach Westen auf der 126th Street fort. An der Ecke Eighth Avenue sah er die grünen Lichter, die den U-Bahn-Eingang St. Nicholas anzeigten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Gruppe von Jungs, die auf einer offenen Veranda saßen, tranken und einen Joint kreisen ließen. Er schaute vor sich auf den Boden, als er an ihnen vorbeiging, aber vergebens. Sie sprachen ihn trotzdem an.
»Hey, was kommt denn da für ein Idiot!«, rief ihm einer von ihnen zu. Gabriel ging weiter. »Yo, Alter, ich weiß, dass du mich hörst«, sagte der Junge etwas nachdrücklicher. Er sprach undeutlich, war offenbar betrunken, aber die Feindseligkeit in seinen Worten war nicht zu überhören. Gabriel versuchte, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aber als er die vielen Schritte hinter sich hörte, war ihm klar, dass es ihm nicht gelingen würde.
»Hey, Arschloch, du läufst hier durch meinen Block, ohne mich zu grüßen?«, sagte der Junge, der Gabriel angesprochen hatte, und versperrte ihm den Weg. Er war noch fast ein Kind, hatte braune Haut, breite Schultern und bereits einen ziemlich dicken Bauch. Er war noch nicht völlig kaputt, aber wenn er weitertrank, würde er es bald sein. Gabriel wollte um ihn herumgehen, aber ein anderer Junge baute sich vor ihm auf. Er war dünner, aber seine glasigen Augen verrieten, dass er genauso viel Ärger machen würde wie der Dicke.
»Ich glaube nicht, dass mein Kumpel schon mit dir fertig war«, sagte er und ballte die Faust. In diesem Moment spürte Gabriel, wie seine Tätowierung sich regte.
»Seht euch das an, er hat Haare wie eine Tussi. Bist du ein Schwuler oder so was?«, höhnte der dicke Junge.
»Ich finde, er sieht aus wie eine Tunte, und ihr wisst ja, dass Homos immer flüssig sind«, sagte der Dünnere.
»Hört zu, ich will keinen Ärger.« Gabriel versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen, als ihm jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzte. Er stolperte und fiel über die Stufen einer Eingangstreppe und landete hart auf seinen Händen. Er versuchte, die Geräusche auszuklammern, aber das Donnern in seinen Ohren war nicht zu überhören.
»Es interessiert uns einen Scheiß, was du willst, aber wir wissen genau, was du hast und dass du es uns geben wirst«, sagte der dickere Junge. Er stand unmittelbar vor Gabriel und hielt eine kleine Pistole in der Hand. »Rück raus damit, Pussy!«, verlangte er.
Auf dass die Reinigung beginne. Mein Wille wird geschehen, flüsterte der Bischof.
Gabriel erhob sich langsam, um den Jungen mit der Pistole nicht zu erschrecken. Er musste seine ganze Konzentration aufbringen, damit seine Stimme nicht dröhnte, als er sprach. »Ich habe kein Geld; ich will nur zur U-Bahn-Station.« Er hob die rechte Hand. Die Farbe der Tätowierung schien unter seinem Ärmel herauszusickern und bildete den groben Umriss einer Gabel auf seinem Handrücken.
»Wenn du kein Geld bei dir hast, wie zum Teufel willst du dann mit der U-Bahn fahren?« Der Dicke näherte sich ihm und schien die Pistole fester zu packen.
»Ich glaube, der Kerl will uns reinlegen«, mischte sich ein dritter Junge ein. Er war fett und trug eine schmutzige Baseball-Cap, die er tief in die Stirn gezogen hatte.
Der Dicke hob die Pistole und zielte auf Gabriels Gesicht. »Willst du uns verarschen, Tunte?« Er bemerkte nicht einmal, wie Gabriel sich bewegte. Metall schlug gegen Metall, und dann fiel seine Pistole zu Boden. Der Junge starrte Gabriel an und wich zurück, als er die Blitze in dessen Augen zucken sah.
Der dünnere Junge hatte nicht wahrgenommen, was sein Freund gerade beobachtet hatte, und stürzte sich auf Gabriel. Er holte zu einem heftigen Schlag aus. Gabriel fing seine Faust mit der Linken ab und hielt sie fest. Der Junge sah zu, wie Gabriel seine rechte Hand hob, die von einem hellen, silbrigen Schimmer umhüllt war. Gabriel berührte die Brust des Jungen mit einem Finger und jagte ihm einen Stromstoß ins Herz. Er fiel zu Boden und wand sich hin und her, während ihm der Schaum vor den Mund trat. Der dritte Junge war längst abgehauen, aber der Dicke hatte sich vor Angst nicht von der Stelle rühren können.
Gabriel packte seinen Kiefer und verbrannte die Haut seines Gesichts, wo seine Finger ihn berührten. Einen Moment lang konnte er das Braune in Gabriels Augen sehen, und so etwas wie Reue zeigte sich auf seiner Miene. »Du hast keine Ahnung, wie viel Glück du gerade hast.« Gabriel schleuderte den verängstigten und verbrannten Jungen zu Boden. Er kümmerte sich nicht darum, ob sein Kumpan noch am Leben war, sondern rannte einfach davon. Der Nimrod war wieder ruhig, aber Gabriel hörte die Stimme des Bischofs in seinem Kopf.
Mein Wille wird geschehen.
»Das sagtest du schon.« Gabriel zog seinen Jackenärmel herunter und stieg die Treppe zur U-Bahn hinab.
Er seufzte erleichtert, als er den Waggon in Richtung Innenstadt betrat. Es gab natürlich keine freien Sitzplätze, aber er war froh, dass er das Chaos, das in der Welt dort oben herrschte, hinter sich gelassen hatte. Noch vor wenigen Stunden war er ein College-Student gewesen, von dem niemand Notiz genommen hatte, und jetzt kam es ihm vor, als sei die ganze Welt hinter ihm her. Sein Leben und die Naturgesetze, wie die Wissenschaft sie festgeschrieben hatte, gingen vor seinen Augen zum Teufel, und er schien nichts dagegen tun zu können, als auf der Welle zu reiten und zu hoffen, dass er nicht ertrank.
Gabriel versuchte sich abzulenken, indem er die Werbeplakate las, mit denen der U-Bahn-Wagen gepflastert war, aber das Kribbeln auf seinem Arm ließ das nicht zu. Offenbar schienen die zufälligen Ströme von Macht unter der Erde den Nimrod zu stören.
Gabriel hielt es für das Beste, ständig in Bewegung zu bleiben, und schlenderte langsam durch den Wagen. Er ging um eine Frau herum, die mit ihrem kleinen Sohn zusammen unterwegs war, und ihre Hände streiften sich zufällig. Im selben Moment wurde Gabriel mit Fragmenten ihres Lebens überschüttet. Er wusste plötzlich, dass sie eine vielversprechende Tänzerin gewesen war, bevor sie schwanger wurde und jetzt eine erschöpfte Hausfrau war. Das Gefühl der Traurigkeit in ihr war so stark, dass es ihn erschütterte.
Während er versuchte, der Frau auszuweichen, stieß er gegen ein junges Mädchen, das mit seinem Freund hinter ihm stand. Gabriel sah sofort, dass er in seinem Job als Wachmann Doppelschichten fuhr, um den Verlobungsring bezahlen zu können, den er ihr vor ein paar Stunden überreicht hatte. Er hatte ihr mitten in einer belebten Straße einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte ihn impulsiv und freudig akzeptiert, aber jetzt war sie dabei, sich zu überlegen, wie sie ihm sagen sollte, dass sie ihn betrogen hatte und gerade herausgefunden hatte, dass sie HIV-positiv war.
Gabriel stolperte unbeholfen durch den Wagen, und von jeder Person, die er berührte, erfuhr er ihre Geschichte und ihre Schmerzen. Als er den Zug an der West 4th Street verließ, konnte er vor lauter Tränen in den Augen fast nichts mehr sehen. Noch nie in seinem Leben hatte er solch intensiven Schmerz empfunden. Er hätte gern das Leid von jedem dieser Menschen ungeschehen gemacht, hätte sie gerne erlöst.
Und wenn du zuschlägst, gewähre ihnen keine Gnade. Lass den Sturm ihre Sünden davonspülen und die Welt neu erschaffen, sagte der Bischof leidenschaftlich.
»Ich bin kein Mörder«, flüsterte Gabriel.
Kain riskierte den Zorn Gottes, als er seinen Bruder meuchelte, damit die Geschichte sich so ereignen konnte, wie es geschrieben stand, verkündete der Bischof.
Gabriel griff sich mit den Händen ins Haar und zerrte daran, dass es wehtat. »Reiß dich zusammen, Mann«, befahl er sich selbst. »Du redest mit deinem Arm.« Als er die Straße erreichte, holte er tief Luft. Er war erleichtert, die unterirdischen Tunnel verlassen zu können. Etwas Vertrautes kitzelte ihn in der Nase, aber er achtete nicht darauf. Er musste sich jetzt orientieren und das Triple Six finden.
Gabriel hatte zwar eine Ahnung, wo sich der Club befand, wusste es aber nicht genau, weil er noch nie dort gewesen war. Zu seiner Überraschung brauchte er jedoch nicht lange, weil ihm jeder den Weg sagen konnte. Offenbar wussten außer ihm alle, wo der exklusive Nachtclub lag. Als Gabriel den Block erreichte, in dem sich der Club befand, spielte der Nimrod plötzlich verrückt. Die Tätowierung war beinahe vollkommen zum Leben erwacht, bevor es Gabriel gelang, sie wieder auf seinen Arm zu zwingen. Dass er den Nimrod zur Kooperation zwingen konnte, war etwas, was ihm zukünftig sicher von Nutzen sein würde. Offenbar hatte der Nimrod etwas oder jemanden in dem Club erkannt und deshalb reagiert. Wenn er Carter im Triple Six treffen und Antworten für den Nimrod finden konnte, war er eindeutig an der richtigen Adresse.
Die Schlange der Leute, die auf Einlass warteten, erstreckte sich fast über den ganzen Block und wuchs, während Gabriel sich dem Clubeingang näherte. Die gnadenlosen Türsteher wiesen permanent Leute ab, weil sie entweder nicht angemessen gekleidet oder nicht cool genug für den exklusiven Club waren. Gabriel fragte sich, wie er hineinkommen sollte, als der Türsteher ihn auf eine kühne Idee brachte.
»Leute, wir lassen in der nächsten Stunde nur Pärchen rein. Wenn ihr nicht mit jemandem zusammen hier seid, müsst ihr warten«, sagte der Mann den Gästen.
Gabriel näherte sich langsam zwei Mädchen, die ziemlich enttäuscht wirkten. Sie waren langbeinig und dunkelhäutig, und ihre Gesichter waren süß, jedoch nicht markant genug, um wirklich schön zu sein. Aber selbst an ihren schlimmsten Tagen waren sie weit oberhalb von Gabriels Liga, also überraschte es ihn selbst fast noch mehr als die beiden Mädchen, als er sich bei ihnen einhakte und sie zum Eingang führte. Der Türsteher musterte skeptisch Gabriels Windjacke, machte jedoch Platz und erlaubte dem Trio einzutreten.
»Das war echt interessant«, sagte das kräftigere der beiden Mädchen lächelnd zu Gabriel.
»Tut mir leid. Ich wollte euch nicht zu nahe treten, aber ich dachte …«, stotterte Gabriel.
»Das war absolut cool!« Das schlankere Mädchen nahm seine Hand, drehte seine Handfläche herum und drückte eine Visitenkarte hinein. »Heute Abend bin ich mit jemandem verabredet, aber ruf mich mal an.« Dann ging sie davon.
»Ich bin mit niemandem verabredet, also wenn du einen Drink willst, wir sind da drüben an der Bar. Danke, dass du uns geholfen hast reinzukommen.« Die Kräftigere zwinkerte ihm zu und ging dann rasch hinter ihrer Freundin her.
Gabriel blieb einen Moment ratlos stehen. Er warf einen Blick auf die Visitenkarte in seiner Hand und sah, wie die Tinte der Tätowierung um seine Handgelenke glitt. »Offenbar bist du doch ganz nützlich«, sagte er, schob das Kärtchen in seine Tasche und machte sich auf die Suche nach Carter.