20. Kapitel

Rogue fühlte sich besser, als er aus dem Notausgang in eine Nebenstraße trat. Es stank zwar bestialisch nach Abfall, aber wenigstens roch es nicht nach Magie. Er wusste, dass er ein Risiko eingegangen war, als er das Triple Six aufgesucht hatte, aber er hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet auf Dutch zu treffen. Er hatte keinen Zweifel daran, wie ihre Begegnung ausgegangen wäre, und war froh, dass er ohne Schwierigkeiten wieder herausgekommen war. Seine Begleiterin war offenbar nicht so erfreut.

»Du hast vielleicht Nerven, mich einfach so hier rauszuschleppen«, sagte das Mädchen gereizt.

»Nur keine Aufregung …« Rogue hob eine Braue.

»Was willst du überhaupt von mir, Mann?« Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie war nervös. Gut.

»Erstens kannst du deine Fassade fallen lassen, Marty. Das geht mir allmählich auf die Nerven.« Er warf ihr einen Blick über seine Sonnenbrille zu.

Marty seufzte, schloss die Augen, und ihre Gestalt begann zu flackern. Magie knisterte in der Luft um sie herum, als sich ihre Gesichtszüge verzerrten. Ihre Hüfte und ihre Brüste schienen zu schrumpfen, während ihre Finger beinahe doppelt so lang wurden. Ihre glatte weiße Haut nahm eine bläuliche Färbung an, wie bei einem Ertrunkenen. Die Haut auf ihrer Stirn dehnte sich, so dass Rogue die kleinen Hörner darunter sehen konnte. Ganz gleich, wie oft er es beobachtete, der Trick faszinierte ihn immer wieder. Marty verwandelte sich von einer unauffälligen Hexe in etwas, das ganz und gar nicht von dieser Welt war.

Marty war ein Gestaltwandler, einer der niederen Dämonen, die während des ersten Dunklen Sturms entkommen waren. Sie waren mit den Werwesen verwandt, besaßen jedoch keine nennenswerte Macht. Sie brauchten sie bei ihren einzigartigen Fähigkeiten auch gar nicht. Martys Spezies konnte sich in jedes beliebige lebende Wesen verwandeln, weshalb man sie fast nicht aufspüren konnte, wenn sie das nicht wollten, es sei denn, man hatte den Kniff heraus. Und das hatte Rogue.

»Bist du jetzt zufrieden?« Marty rückte seine verschlissene Jeansjacke zurecht.

»Das ist der Marty, den ich kenne.« Rogue klopfte ihm anerkennend auf den Rücken.

»Scheiß auf dich, Rogue. Sag mir, was du von mir willst, damit ich hier weg kann.« Marty schlug nach Rogues Hand.

»Ich muss wissen, welche magischen Irritationen die Stadt heute getroffen haben. Sie stanken nach Hölle, und ich muss ihre Quelle finden.«

Marty zuckte mit den Schultern. »Das hier ist New York City, einer der Orte der Macht. Schwarze Magie taucht hier jederzeit auf, daran ist nichts ungewöhnlich.«

»Aber es ist durchaus ungewöhnlich, wenn sie eine ganze Armee von Nachtwandlern im Gefolge hat«, erklärte Rogue.

»Ich weiß von nichts.« Marty versuchte, die Furcht zu verbergen, die ihn durchströmte, aber es fiel Dämonen schwer, etwas vor Rogues Augen zu verbergen.

»Blödsinn.« Rogue stieß ihn gegen die Wand. »Ihr Gestaltwandler belauscht mehr geheime Treffen, als ich Todesdrohungen bekomme. Marty, deine Leute sehen den Mist, noch bevor er passiert, deshalb weiß ich genau, dass du mir etwas zu sagen hast.«

»Hast du nicht zugehört? Ich sagte, ich weiß von nichts! Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest?« Marty versuchte, an Rogue vorbeizukommen, aber der Magus hielt ihn am Arm fest.

»Marty, entweder erzählst du mir etwas, oder wir haben hier ein Problem«, erklärte Rogue ernst.

Marty schien ernsthaft über diese Worte nachzudenken, als er sich plötzlich losriss. Rogue wollte ihn festhalten, aber Martys Arm war auf einmal so dünn wie eine Weidenrute geworden. Als Rogue begriff, was hier geschah, rannte Marty bereits die Straße entlang.

»Mach es doch nicht schwerer als nötig, Marty!«, rief Rogue ihm nach. Als er die Beschwörung murmelte, spürte er, wie der Besitzer seiner Augen sich in seinem Hinterkopf rührte. Er zapfte sein dämonisches Band so selten wie möglich an, wegen der Nachwirkungen, die das manchmal hatte, aber zu Fuß würde er Marty niemals einholen. Die Schatten in der Gasse antworteten auf seinen Ruf und stürzten sich auf den fliehenden Marty. Er versuchte ihnen auszuweichen, aber die ersten Tentakel hatten sich bereits um seine Knöchel geschlungen, so dass er stolperte. Marty wehrte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier, während die Tentakel aus Schatten ihn von den Zehen bis zum Kinn umhüllten. Er versuchte, seinen Körper schrumpfen zu lassen, doch die Tentakel schlangen sich nur dichter um ihn und glichen den Schwund seines Körpers aus.

»Verfluchte Schattenmagie!«, kreischte Marty. »Und dabei heißt es, du wolltest mit der dunklen Seite nichts zu tun haben! Das ist Blödsinn! Diese Magie hier ist so schwarz, wie sie nur sein kann!« Marty wand sich auf dem Boden hin und her und sah irgendwie unterernährt aus, weil er so viel Gewicht abgeworfen hatte, um sich aus den Fesseln zu befreien. Er kämpfte nach Leibeskräften, aber die Dunkelheit gab nicht nach.

»Also, warum bist du weggelaufen, Marty?«, fragte Rogue und hob langsam die Hand. Die Schatten zogen Marty auf die Füße, als wäre er eine Marionette, die an dunklen Fäden hing.

»Du solltest mich lieber loslassen, oder ich …«

»Oder was?« Rogue riss die Hand empor und hob Marty durch die Schatten vom Boden hoch. »Rufst du deine Brüder, damit sie dich rächen?« Rogue holte mit dem Arm aus, schleuderte Marty gegen eine Wand und riss ihn dann brutal zurück. Er schloss die Hand, was die Schattenbänder um Marty fester anzog. »Mistkerl, ich könnte dir deinen missgebildeten Hintern in dieser Gasse zu einer Pfütze zusammenquetschen, und niemand würde dich vermissen. Also, redest du jetzt vernünftig mit mir, oder soll ich einen widerlichen Fleck für die Straßenreinigung hier hinterlassen? Was ist dir lieber, Marty?«

»Schon gut, schon gut. Mach erst mal diese Fesseln lockerer.« Marty traten Tränen in die Augen. Rogue nickte und öffnete seine Hand. Die Bänder lösten sich ein wenig, gaben Marty jedoch nicht frei. »Willst du mich nicht loslassen?«

Rogue schüttelte grinsend den Kopf. »Und riskieren, dass du mich zum nächsten 100-Meter-Lauf einlädst? Nein danke. Das Einzige, was sich bewegen muss, ist dein Mund, also lass hören. Etwas wirklich Hässliches passiert gerade, und ich glaube, dass du weißt, was es ist.«

Marty wehrte sich noch einmal schwach gegen die Fesseln, aber sie zogen sich dadurch nur enger zusammen. Seufzend ergab er sich in sein Schicksal und beschloss zu kooperieren. »Du musst mir aber dein Wort geben, dass du niemandem sagst, woher du das hast, Rogue«, bat er ihn.

»Marty, man kann mir alles Mögliche vorwerfen, aber ich bin keine Ratte. Also, was ist es?«

Marty sah sich um, als würden die Schatten zuhören. »Es heißt, dass jemand versucht, den Sturm zurückzubringen.«

»Den Sturm?«, fragte Rogue.

»Den Dunklen Sturm. Hast du in Geschichte nicht aufgepasst? Die große Schlacht, in der die Ritter Jesu die meisten unserer Ärsche durch den Riss in den Dimensionen zurückbefördert haben.«

»Werd nicht komisch, Marty. Ich kenne die Geschichte der Siebentägigen Belagerung. Angeblich sind all diese Kerle gestorben, und die Waffen sind verschwunden. Der Sturm war ein verrückter Zufall, und selbst wenn jemand versuchen wollte, ihn neu zu beschwören, bräuchten sie alle Waffen, um auch nur einen Funken von dem zu erzeugen, was damals war. Ich habe jedenfalls gehört, dass die Waffen und ihre Besitzer im Laufe der Jahrhunderte verschwunden sind.«

»Das sind sie nicht.« Marty senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Die Kirche hatte sich einige davon unter den Nagel gerissen; einige behaupten, die Inquisition hätte Glück gehabt. Es gibt keine Beweise, aber es heißt, dass die Waffen noch existieren und nur auf irgendeinen armen Idioten warten, der sie erweckt. Die meisten Leute, die damit in Berührung kommen, können nichts mit ihnen anfangen, aber es gibt einige, die mit ihnen umgehen können und es auch schon bewiesen haben.«

»Marty, ich glaube wirklich, du verarschst mich.« Rogue hob die Hand und damit auch Marty, der an einem Schattententakel hing. »Diese Waffen, die an verschiedenen Orten auf der Welt sind, können diesen Aufruhr nicht verursacht haben.«

»Hey, erschieß nicht den Boten«, keuchte Marty. »Du wolltest Informationen, und ich gebe sie dir. Es ist nicht meine Schuld, wenn du nicht in der Lage bist, sie zu verarbeiten! Es sind nicht einfach die Waffen – es ist die eine Waffe! Man sagt, der Bischof selbst hätte einen Gastauftritt im Big Apple hingelegt.«

»Der Bischof?« Rogue ließ Marty herunter. Er kannte die Geschichten über diese verfluchte Waffe und fürchtete schon allein den Gedanken daran, dass sie in die falschen Hände geraten könnte.

»Genau der, Rogue. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber angeblich ist er vor ein paar Wochen in die Stadt gekommen. Niemand weiß etwas Konkretes, aber wie ich höre, sind selbst die Oldtimer aufgeschreckt. Einige spielen sogar mit dem Gedanken, in den Untergrund zu flüchten. Wenn dieses Ding tatsächlich aufgetaucht ist, dann gehen wir alle den verdammten Bach runter.«

»Wo finde ich diesen Dreizack, Marty?«

»Diese Frage stellen sich alle, aber den Dreizack kann man nicht finden, außer er will einen selbst finden«, erwiderte Marty. »Es ist eine Ewigkeit her, dass ich das letzte Mal von ihm gehört habe, das war irgendwo unten in Afrika, glaube ich. Man hörte überhaupt nur etwas, weil dieses Ding den armen Idioten umgebracht hat, der es erweckte, und dabei sein ganzes Dorf ausgelöscht hat. Ich weiß nicht genau, ob oder warum es wieder aufgetaucht ist, aber du kannst deinen Hintern drauf verwetten, dass es kein Zufall ist.«

»Also ist es das, wonach die Nachtwandler gesucht haben?«, erkundigte sich Rogue.

»Sehr wahrscheinlich. Aber du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, wer sie geschickt hat, statt darüber nachzudenken, warum sie hier waren.«

»Es gibt etliche, die diese Missgeburten erschaffen könnten«, sagte Rogue.

»Schon, aber wie viele von ihnen sind so scharf auf den Dreizack, dass sie ein Rudel Nachtwandler nach Manhattan schicken, um die Stadt auseinanderzunehmen?«

»Titus!« Rogue kannte zwar den Ruf des sogenannten Lieblingssohns von Belthon, aber besser kannte er Titus’ Berater Flag. Flag war ein Magus, genau wie Rogue, stammte jedoch aus dem Hause Renoit. Das Haus Renoit und das Haus Thanos waren die beiden letzten offiziellen Magierhäuser. Wie Rogue war auch Flag von seiner Familie ausgestoßen worden. Rogue, weil er die Dunkelheit scheute, und Flag, weil er sich kopfüber hineingestürzt hatte. Vor etlichen Jahren hatte Flag das Leben der Ältesten seines Hauses gegen die Gunst des Fürsten der Finsternis eingetauscht. Mit dem Ergebnis, dass Flag zum Tode verurteilt worden war, und sein Henker die Krone seines ausgebluteten Hauses und all die Geheimnisse, die es hütete, gewinnen würde.

»Ganz recht«, erwiderte Marty. »Sobald ich erfahren habe, dass Riel und Moses in der Stadt gesehen worden sind, wusste ich, dass es eine hässliche Angelegenheit werden würde. Diese Kerle verheißen nichts Gutes. Rogue, ich weiß, dass wir nicht immer derselben Meinung sind, aber halt dich aus dieser Sache raus, okay?«

Rogues Vernunft sagte ihm, dass Marty recht hatte und er die Ermittlungen aufgeben sollte, aber seine verfluchte Moral ließ das nicht zu. Belthon war einer der neun Fürsten der Hölle und der bei weitem bedrohlichste. Er hatte das süße Chaos der Welt der Sterblichen gekostet, und ihn dürstete nach mehr. Sollte Titus tatsächlich den Nimrod für seinen Meister erbeuten, würde damit die Hölle auf Erden beginnen.

»Das kann ich nicht, Marty.« Rogue machte eine kurze Handbewegung, und die Schatten ließen Marty frei. »Wir wissen beide, was passiert, wenn diese Waffe Titus in die Hände fällt. Irgendjemand muss ihm an den Karren pinkeln, richtig?«

Marty schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich ein ehrenhafter Kerl, Rogue. Dumm, aber ehrenhaft.«

»Vielen Dank. Hast du zufällig auch eine Idee, wo ich eine Spur von diesem Ding finden kann?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn du dich lange genug vor dem Triple Six herumdrückst, solltest du eigentlich auf eine Fährte stoßen.«

»Oder umgebracht werden«, fügte Rogue hinzu.

»Das ist mehr als wahrscheinlich, aber wenn du darauf bestehst, deinen Kopf unter das Henkersbeil zu legen, kann ich dich zumindest mit einem Rollkragenpullover dorthin schicken. Die Art von Magie, die der Nimrod ausstrahlt, und der, der ihn besitzt, werden die Dunkelheit anziehen wie eine Flamme die Motten. Du magst vielleicht deine Augen verfluchen, aber bei dieser Sache werden sie deine besten Freunde sein.«

»Danke, Marty. Vielleicht solltest du lieber in Deckung bleiben, bis das alles vorbei ist.«

»Oh, genau das habe ich vor.« Seine Gestalt flackerte, als er das Äußere eines älteren Obdachlosen annahm. »Ein Kumpel von mir hat ein Boot am Ufer liegen, auf dem ich schlafen kann. Ich werde mich besaufen und auf den Ozean starren, bis dieser Sturm vorüber ist«, rief er Rogue über die Schulter hinweg zu, als er ins Dunkel der Gasse hineinging.

»Eine kluge Entscheidung«, stimmte Rogue ihm zu.

»Dann trifft wenigstens einer von uns eine«, meinte Marty lachend, bevor er im Schatten verschwand.

»Die Geschichte meines Lebens«, murmelte Rogue, schob die Hände in die Taschen und ging zur Hauptstraße.

Als er aus der Gasse trat, stellte er fest, dass die Schlange der Leute, die in den Club wollten, noch länger geworden war. Er wollte gerade wieder zur Hintertür gehen, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Ein junger Mann in einer Windjacke betrat mit zwei attraktiven Mädchen in den Armen den Club. Rogue hätte nicht weiter auf ihn geachtet, wenn sein Dämon nicht ausgeflippt wäre und die Aura des Jungen nicht heller geleuchtet hätte als alles, was Rogue bisher gesehen hatte.

»Offenbar hatte Marty recht, was diese Augen angeht«, murmelte Rogue, bevor er sich in Dunkelheit einhüllte und verschwand.