30. Kapitel
»Gott, ich hasse Regen«, sagte Sulin, als sie am Prospect Park Loop abbog. Als sie aufgebrochen waren, war der Himmel noch klar gewesen, aber als sie jetzt über die Brooklyn Bridge fuhren, hatte der Sturm eingesetzt. »Woher ist dieser verdammte Monsun nur gekommen?«
Lucy streckte die Hand aus dem Fenster und fing Regentropfen auf. Der Regen war überraschend kalt, viel kälter als die Luft. »Eine plötzliche Sintflut?«
Sulin sah sie an. »In einer perfekten Welt, ja, aber wir beide wissen, dass keine der Welten, in der wir leben, perfekt ist.«
»Also hältst du es für wilde Magie?«, wollte Lucy wissen.
Sulin warf einen Blick durch die regennasse Fensterscheibe. »Das glaube ich nicht; es gibt keine Quelle dafür. Es scheint, als würde der Regen von überallher kommen; das ist typisch Mutter Natur.«
Lucy zuckte zusammen, als es über ihnen blitzte. Sie streichelte Tikis Kopf. »Das gefällt mir nicht, Sulin. Es fühlt sich irgendwie nicht richtig an.«
»Meine Güte, mir war nicht klar, dass du so paranoid bist, Lucy.« Sulin lachte. »Es regnet vermutlich nur deshalb so verrückt, weil wir uns dem Allerheiligsten nähern.«
Lucy versuchte zu lächeln, obwohl ihre Angst größer wurde. »Wer hätte gedacht, dass das Ellis Island der Dämonenwelt am Central Park liegt?« Sie sah sich um, als Sulin vor dem Gebäude anhielt. Irgendwie fand sie es merkwürdig, dass der Nebel sich ausgerechnet auf diesen Block zu konzentrieren schien.
»Wirklich beste Lage«, sagte Sulin, stieg aus und nahm ihr Hündchen auf den Arm. Der Zwergspitz zappelte in ihren Händen, weil ihn offenbar etwas an dem Gebäude nervös machte. »Was ist denn los, mein Junge? Ist dir dieses verwünschte Haus unheimlich?« Sie drückte dem Hund einen Kuss auf den Kopf. »Keine Sorge, wir gehen nur kurz rein und sind gleich wieder draußen.«
»Ich kann es ihm nicht verübeln, dass es ihm unheimlich ist; hier stinkt es nach schwarzer Magie.« Lucy hielt sich die Nase zu. »Ich weiß nicht, wie lange ich es hier aushalte, Sulin.«
»Hör auf zu meckern, Lucy; es wird nicht lange dauern. Angelique hat zwar nicht gesagt, was los ist, aber sie schien davon überzeugt zu sein, dass ich die Sache im Griff behalten kann, bis sie selbst hierherkommt.«
»Moment, du hast mir nicht gesagt, dass Angelique auch hierherkommt.« Lucy blieb wie angewurzelt stehen.
»Lucy, hör auf rumzuzicken. Bis Angelique hier eintrifft, habe ich die Sache bereits geklärt, und du kannst dich bei ihr einschmeicheln, weil du mir geholfen hast. Du solltest wirklich so viele Pluspunkte bei der Weißen Königin sammeln, wie du nur kannst.«
»Sulin, erinnere mich daran, dass ich dich nie wieder bei einem Auftrag begleite.« Lucy folgte Sulin den Weg zum Allerheiligsten hinauf. Als sie den geheiligten Grund betrat, durchlief sie ein Frösteln. »Hätten sie keinen Priester rufen können, um den Exorzismus auszuüben?«
»Es geht hier nicht um Exorzismus, Dummchen. Sie brauchten einen Heiler, und natürlich hat Angelique ihre beste Heilerin geschickt«, erwiderte Sulin etwas angeberisch.
»Wenn du das sagst.« Lucy verschränkt die Arme. »Mach einfach das, weswegen du hergekommen bist, damit wir hier verschwinden können.« Sie trat zur Seite, als Sulin an die Tür klopfte. Während sie darauf warteten, dass jemand öffnete, betrachtete Lucy zerstreut den Nebel. Von ihrem Standort auf der obersten Stufe konnte sie die Straße ebenso wenig sehen wie den Wagen. Sie drehte sich herum, um das Sulin zu sagen, als etwas Nasses auf ihr Gesicht spritzte.
Sulins perfekte Lippen verzerrten sich, während der Hund in ihren Händen zappelte. Eine dicke rote Linie erschien auf ihrem schlanken Hals. Das Blut quoll erst langsam heraus, aber als sie auf die Knie sank, strömte es schneller aus ihrer Kehle. Dann verschwand Sulin im Nebel, und nur der jaulende Hund kündete davon, dass sie da gewesen war.
Lucys magische Schilde zuckten hoch, ohne dass sie es ihnen befehlen musste, als der Nebel dichter wurde. Sie wich langsam rückwärts zu dem Gebäude zurück, während sie sich hektisch umsah, um herauszufinden, wer oder was Sulin getötet hatte. Aber der Nebel war undurchdringlich. Dann spürte sie eine Bewegung hinter sich, aber bevor sie erkennen konnte, worum es sich handelte, wurde ihr schwarz vor Augen.
Flag trug eine rote Robe, die mit den Symbolen seines Hauses besetzt war. Flankiert wurde er von zwei jungen Hexen, einer Blonden und einer Brünetten. Im Gegensatz zu Flag konnten sie ihre Furcht darüber, dass sie so tief in den Eisernen Bergen waren, nicht verbergen. Hätte er mehr Zeit gehabt, hätte er sich erfahrenere Assistentinnen für den Bann gesucht, aber ihm blieben kaum noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang, also war Zeit ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Es brauchte drei Bannwirker, um den Zauber zu beschwören, also mussten sie genügen.
»Beweg dich, du Hund. Streng dich an!«, blaffte Prinz Orden, während er gefolgt von einer Truppe Trolle den Hügel hinaufstieg. Sie waren mit Schwertern, Knüppeln und anderen Mordwerkzeugen bewaffnet. Orden schlug mit der Peitsche auf einen Troll ein, der nur unwesentlich kleiner war als ein einstöckiges Haus. »Wenn du dein Pfund Fleisch haben willst, dann beweg deine wertlose Haut!« Orden hörte nicht auf, den Troll zu misshandeln. Der heulte auf und zog stärker an den Ketten, die an seinem Harnisch befestigt waren. Am anderen Ende der Ketten befand sich eine Kanone auf einem Holzkarren. Die Kanone hatte die Größe eines Raketenwerfers und war bemalt wie eine angreifende Schlange.
»Öffne das Tor, Magus, wir wollen ein Festmahl feiern«, befahl Orden Flag.
Statt dem Prinz zu antworten, drehte sich Flag zu den Hexen um, die bereits mit dem Zauber begonnen hatten. Der große Kreis, den sie auf die Ziegel gemalt hatte, begann schwach zu glühen. Der Übergangszauber, den sie wirken wollten, war einer der gefährlichsten und komplexesten Reisezauber, und das erst recht, wenn man versuchte, ihn für den Übergang zwischen zwei Reichen zu verwenden. Aus diesem Grund war er aus allen Zirkeln der Magier verbannt worden. Dieser Bann bedeutete Titus natürlich nichts, wenn ihm der Zauber in den Kram passte, deshalb hatte er Flag befohlen, ihn zu wirken.
Eine der Hexen war bereits erschöpft, und die andere blutete aus den Ohren, aber sie konnten die Verbindung nicht unterbrechen, weshalb Flag ihnen befohlen hatte, mit dem Bann anzufangen. Je mehr Macht ein Magus in den Bann legte, desto größer war die Gefahr, dass er von ihm verzehrt wurde. Flag wollte so wenig von sich selbst wie möglich hineingeben, aber er wusste, dass seine Magie gebraucht wurde, um den Zauber zu vervollständigen. Als er nun seine Magie zu der der Hexen hinzufügte, strahlte der Kreis heller, und aus dem Nichts tauchte ein Nebel auf, der in den Kreis quoll. Hinter dem Nebel sahen sie so etwas wie ein Gebäude, dessen Portal mit zwei Kreuzen geschmückt wurde. Auf den Stufen standen zwei junge Frauen.
»Das zarte Fleisch von Hexen schmecken noch besser als das der Inquisitoren.« Orden zog eine lange, gebogene Klinge aus der Scheide auf seinem Rücken. »Illini, der erste Bissen sei der deine«, sagte er seinem Hauptmann.
»Es wird mir ein Vergnügen sein.« Illini trat durch den Kreis und verschwand im Nebel.
Dann drehte sich Prinz Orden zu seinen Truppen um. »Zu den Waffen, meine Brüder, und möge das Blut des Feindes wie der süßeste Wein schmecken, wenn wir in der Großen Halle an ihren Knochen knabbern.« Damit schickte er seine Trolle durch das Portal.
Der Zauber hatte die Hexen so sehr erschöpft, dass sie jetzt wie alte Weiber aussahen. Sie knieten im unerbittlichen Griff der Macht auf dem Boden und sahen Flag flehentlich an. Der jedoch ignorierte sie, während er sich an die Trolle wandte, die noch nicht durch den Kreis gegangen waren. »Wartet, bis ich durch das Portal geschritten bin. Dann könnt ihr euch an ihnen bedienen.« Flag deutete auf die hilflosen Hexen. Noch bevor er auf der anderen Seite des Kreises herausgetreten war, hörte er das Kreischen der Hexen und das Reißen von Fleisch.