Epilog

Dutchs Aufmerksamkeit wurde von den Buch losgerissen, in dem er las, als der Spiegel, der als Eingang zu seinem Büro diente, explodierte. Er schützte seine Augen vor den Glassplittern, spürte jedoch keine. Als er hinter seinem Arm hervorblickte, hingen Hunderte von winzigen Scherben in der Luft um ihn herum. Er griff nach seiner Schreibtischschublade, und im selben Moment grub sich eine der Scherben in das Holz unmittelbar über seiner Hand.

»Wer wagt es, in mein innerstes Heiligtum einzudringen?«, knurrte Dutch.

»Ich wage es.« Der Stimme, die von der anderen Seite des Spiegels in den Raum drang, folgte eine Frau, die in ihren weißen Stilettostiefeln fast einen Meter neunzig maß. Unter ihrem bodenlangen weißen Pelzmantel trug sie einen hellen, eng anliegenden Lederoverall. Blonde Locken umrahmten ihr Gesicht wie eine Krone. Mit Augen von der Farbe des Pazifiks starrte die Weiße Königin Dutch an.

»Angelique, du hast nicht das Recht …«, begann Dutch, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Schweig, Schlange!« Angelique machte eine Handbewegung, und die Scherben glitten näher zu Dutch. »Ich habe jedes Recht, wenn es darum geht, das Leben meiner Schülerinnen und die Integrität dieses Covens zu schützen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, entgegnete Dutch nervös. Er war ein sehr mächtiger Hexenmeister, aber Angelique war eine ebenso mächtige Hexe.

»Das bezweifle ich.« Sie hockte sich auf den Rand seines Schreibtisches. »Ich habe nur zwei Stunden geschlafen, also bringe ich keine Geduld für deinen Unsinn auf, Dutch. Heute habe ich zwei meiner vielversprechendsten Schülerinnen verloren, und ich habe guten Grund zu der Annahme, dass es deine Schuld ist.«

»Zwei deiner Mädchen sind tot?« Dutch war wirklich überrascht.

»Wie du vermutlich bereits gehört hast, ist heute Morgen das Allerheiligste gefallen«, erklärte Angelique, während sie auf verräterische Anzeichen lauerte, dass er log. Dutch wusste das, deshalb sagte er die Wahrheit, jedenfalls so viel, wie er musste.

»Ich habe davon gehört. Weiß jemand genau, was passiert ist?« Er hatte unterschiedliche Geschichten gehört und wusste noch nicht, welche er glauben sollte.

»Einige meinen, es wären die Nachtwandler gewesen, angeführt von diesem Querulanten Riel. Andere behaupten, dass die Trolle ihre Hand im Spiel hatten. Im Moment jedoch interessiert mich keine dieser Theorien. Für mich ist nur wichtig, dass Sulin und Lucy zusammen hier weggegangen sind. Jetzt ist Sulin tot, und ich kann keine Spur von Lucy finden. So wie es aussieht, dürfte sie wahrscheinlich ebenfalls tot sein. Die Heilerin ist einer Klinge zum Opfer gefallen, so viel weiß ich sicher. Aber ich habe Grund zu der Annahme, dass Lucy ein Opfer von Magie wurde, und zwar von Blutmagie.« Angelique betrachtete Dutch und sah das verräterische Zucken in seinem Auge. »Deiner Miene nach zu urteilen weißt du etwas?«

»Sowohl Lucy als auch Sulin waren letzte Nacht hier, aber ich weiß nicht, wohin sie danach gegangen sind.« Dutch faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und versuchte so gelassen wie möglich zu bleiben, aber ihn beschlich die ungute Ahnung, dass er genau wusste, worauf Angelique hinauswollte. Trotz seiner äußeren Gelassenheit zeichnete sich ein sehr hässliches Szenario in seinem Kopf ab.

»Lügner!« Angelique durchbohrte den Vorhang hinter Dutch mit etlichen Scherben. »Wir haben den Körper ihres Schutzgeistes gefunden, aber er liegt in einer Art Koma und kann uns noch nichts sagen. Dutch, du kennst mich lange genug und weißt genau, dass ich keine Närrin bin und mich nicht verschaukeln lasse. Du hast Asha heute Nacht auf eine geheime Mission geschickt, über deren Natur ich bloß spekulieren kann, aber das ist nur ein zweitrangiger Punkt auf meiner Liste. Was ich wissen will, ist, was zwischen Lucy und Asha vor diesen Morden vorgefallen ist!«

»Angelique, du weißt genauso gut wie ich, dass Lucy und Asha seit ihrer Jugend verfeindet sind. Was ist daran so ungewöhnlich?« Im Moment verstand Dutch nicht genau, worauf Angelique hinauswollte.

»Ungewöhnlich ist, dass meine Leute Spuren sowohl von Lucys als auch Ashas Magie am Tatort gefunden haben. Lucys Spuren waren schwach, aber irgendjemand hat eine dunkle Blutmagie beschworen«, informierte ihn Angelique. »Nur die Göttin weiß, was dort passiert ist, aber du kannst sicher sein, dass der Tod meiner Schülerinnen nicht ungesühnt bleiben wird.«

»Einverstanden. Ich werde die Hatz mobilisieren, damit sie eine gründliche Untersuchung durchführt«, versicherte ihr Dutch.

»Wie passend; schick die Kriminellen aus, um das Verbrechen zu vertuschen!«, blaffte Angelique.

»Was willst du damit andeuten, Angelique?«

Die Glassplitter bewegten sich, als die Weiße Königin vom Schreibtisch aufstand. »Ich will gar nichts andeuten. Was ich sage, ist, dass ich Wanda das Versprechen gegeben habe, über ihre Tochter zu wachen. Sie könnte jetzt tot sein oder noch Schlimmeres. Wenn wir ihren Schutzgeist wiederbelebt haben, wird er uns erzählen, was tatsächlich passiert ist.« Angelique ging rückwärts zu dem zerbrochenen Spiegel. »Diese Angelegenheit kann nur auf zwei Weisen enden, Dutch.«

»Und die wären?«, fragte er trotzig.

»Entweder lieferst du mir Asha aus, damit wir der Sache auf den Grund gehen können, oder ich werde den Schwarzen Hof formell wegen Hochverrats anklagen.«

»Meine Anhänger werden nicht untätig daneben stehen, während du versuchst, mich für etwas verurteilen zu lassen, mit dem ich nichts zu tun habe«, erwiderte er drohend.

»Dann stehen wir am Rand einer zweiten Scheidung der Magien. Bring mir die Mörder meiner Kinder oder bereite dich auf einen Krieg vor, guter König.« Angelique verbeugte sich sarkastisch, bevor sie durch den zerbrochenen Spiegel trat. Erst als sie das Triple Six verlassen hatte, fielen die Glassplitter harmlos zu Boden.

Julius keuchte, als er wie aus einem schlechten Traum hochschreckte. Als der Nebel sich von seinem Verstand löste, erinnerte er sich wieder an die Geschehnisse der Nacht. Er hatte in dem Nebel gegen die Trolle gekämpft, die das Allerheiligste bestürmten. Er hatte nach Leibeskräften gefochten, aber sie waren zu viele gewesen. Schließlich hatten die Trolle ihn und die restlichen Angehörigen der Inquisition überrannt und die heiligen Männer mit ihren Klingen niedergemetzelt.

Julius wollte die Wunde an seinem Bauch untersuchen, an die er sich erinnerte, stellte jedoch fest, dass sein Arm angekettet war. Als er sich umblickte und erwartete, den Häuserblock zu sehen, vor dem er beobachtet hatte, wie Freund und Feind gefallen waren, erblickte er stattdessen nur die Dunkelheit eines kühlen, engen Raumes, in dem er sich befand. Julius zerrte heftig an der Kette, aber sie gab nicht nach.

»Diese Ketten wurden geschmiedet, um weit stärkere Wesen zu binden als dich!«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit.

»Wer ist da?«

Die Dunkelheit riss auf, und ein Mann stand vor Julius. Er trug eine schwarze Lederrüstung, und Sandalen aus dem gleichen kräftigen Material bedeckten seine bronzefarbenen Füße bis zu den Zehen. Sein Kopf war vollkommen kahl, bis auf einen dicken schwarzen Zopf, der über seine Schulter fiel. Mit geisterhaft weißen Augen, die von schwarzer Kohle umgeben waren, betrachtete er Julius, bevor er antwortete.

»Man nennt mich Ezrah. Ich bin der Fährmann der Toten, und du befindest dich auf meinem Schiff, der Jihad

»Ich bin tot?« Julius hatte Geschichten von den Fährmann und seinem Geisterschiff gehört.

»Fast. Ich habe meine Schatten ausgeschickt, um dich kurz vor deinen letzten Atemzügen zu retten«, teilte ihm Ezrah mit.

»Du hast mich also gerettet, damit ich ein Teil deiner Piratenmannschaft werde?«, erkundigte sich Julius.

Ezrah betrachtete ihn. »Nur diejenigen, die als Mitglieder dieser Mannschaft gestorben sind, können auf meinem Schiff fahren. Für dich habe ich eine andere Verwendung, Magus.«

Julius Gesichtszüge wurden schlaff, als der Fährmann seine wahre Natur nannte. Seit er zum Orden gekommen war, war seine Herkunft ein Geheimnis gewesen, das nur Bruder Angelo und Bruder David gekannt hatten. »Wenn ich dir nicht dienen soll, was willst du dann von mir?«

Ezrah richtete den Blick seiner geisterhaften Augen auf Julius. »Die Chance, wieder Fleisch zu werden.«

Das Erste, was Lucy bemerkte, war das Gefühl, dass ihr Kopf gleich explodieren würde. Obwohl es sehr schmerzhaft war, war sie dankbar dafür. Wenn sie Kopfschmerzen spüren konnte, bedeutete das, dass sie nicht tot war. Dem Geruch nach zu urteilen könnte sie sich allerdings sehr wohl in einem Grab befinden. Das Letzte, woran Lucy sich erinnerte, war der schreckliche Ausdruck auf Sulins Gesicht. Lucy hatte sich immer vorgestellt, dass sie einmal eines gewaltsamen Todes sterben würde, aber nicht Sulin. Sie würde sich an demjenigen rächen, der Sulin getötet hatte, aber erst musste sie herausfinden, wo zum Teufel sie war.

Langsam hob sie den Kopf und betrachtete ihre Umgebung. Es stank stark nach tierischen Exkrementen, wie in einer Scheune oder einem Zoo. Um sie herum befanden sich kalte Stahlgitter, die schwach glühten. Als sie sie genauer betrachtete, bemerkte sie die Runen, die darin eingraviert waren. Sie versuchte, einen Bann zu wirken, aber wie sie erwartet hatte, passierte nichts.

Wer auch immer den Käfig gebaut hatte, verstand offensichtlich etwas von Magie. Lucy versuchte, Tiki mit ihrem Verstand zu rufen, bekam jedoch keine Antwort. Einen Moment lang befürchtete sie das Schlimmste, doch dann wusste sie, dass sie es gespürt hätte, wenn er tot wäre. Er musste schrecklich zugerichtet worden sein, aber der Käfig hinderte sie daran herauszufinden, wie schlimm es war.

»Vom Regen in die Traufe«, sagte Lucy laut.

»Sehr gut ausgedrückt«, antwortete jemand hinter ihr.

Lucy drehte sich um und stellte fest, dass sie nicht allein war. In der anderen Ecke des Käfigs hockte ein grauhaariger alter Mann. Er war von Wunden übersät, aber so wie ihr Körper schmerzte, konnte sie sich vorstellen, dass sie genauso mitgenommen aussah.

»Wer sind Sie und wo zum Teufel sind wir?« Lucy näherte sich dem alten Mann.

»Mein Name ist Redfeather, und wir sind Gefangene der Trolle. Sie haben uns hierhergebracht, nachdem sie das Allerheiligste zerstört haben.« Redfeather richtete sich mühsam auf.

»Sie haben es zerstört?«, fragte Lucy schockiert.

Redfeather nickte. »Ich fürchte, ja. Der Dunkle Orden beabsichtigt, die gesamte Menschheit zu versklaven.«

»Tut mir leid, ich bin wirklich nicht gut, was körperliche Schwerstarbeit angeht. Ich glaube, ich kann darauf verzichten, ein Sklave der Trolle zu werden.« Zu ihrer Überraschung lachte Redfeather. »Was ist so komisch daran?«

»Die Trolle nehmen keine Gefangenen, liebes Kind. Das würden sie als viel zu barmherzig erachten.«

»Was haben Sie dann mit uns vor?«, fragte Lucy besorgt.

Irgendwo am anderen Ende des Korridors ertönte ein unmenschlicher Schrei, dem der Gestank von verbranntem Fleisch folgte.

Redfeather sah sie traurig an. »Sie haben vor, uns zu verspeisen.«