42
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
18.30 Uhr
Michener fand zwei Zimmer in einem der neueren Hotels. Als sie Jasnas Haus verließen, hatte es zu regnen begonnen, und sie hatten es gerade noch ins Hotel geschafft, bevor es am Himmel losging wie eine Ladung Silvesterraketen. Dies sei die regnerische Jahreszeit, erklärte eine Hotelangestellte. Wenn die kalten Nordwinde auf die warme Luft der Adria stießen, käme es zu heftigen Schauern und Gewittern.
Sie aßen in einem Café in der Nähe zu Abend, in dem viele Pilger saßen. Die meisten Leute unterhielten sich auf Englisch, Französisch oder Deutsch, und die Gespräche kreisten um das Heiligtum. Jemand berichtete, dass zwei der Seher am Nachmittag in der St. Jakobskirche gewesen seien. Jasna sei erwartet worden, aber nicht aufgetaucht, und ein anderer Pilger merkte an, es komme durchaus vor, dass sie während der täglichen Erscheinung für sich bleibe.
»Morgen suchen wir diese beiden Seher«, sagte Michener beim Essen zu Katerina. »Ich hoffe, dass wir mit denen besser klarkommen.«
»Sie war ziemlich beeindruckend, oder?«
»Sie ist entweder eine äußerst gewiefte Betrügerin oder tatsächlich echt.«
»Warum hat es dich irritiert, als sie Bamberg erwähnte? Es ist doch kein Geheimnis, dass der Papst seine Heimatstadt liebte. Ich glaube nicht, dass sie den Namen gar nicht kennt.«
Er berichtete ihr, was Clemens in seiner letzten E-Mail über Bamberg geschrieben hatte: Verfahrt mit meiner Leiche, wie es euch beliebt. Zeremonieller Pomp macht keinen Toten frommer. Meine persönliche Präferenz allerdings ist Bamberg. In dieser wunderschönen Stadt an der Regnitz und in ihrem Dom, den ich so sehr geliebt habe, würde ich gern meine letzte Ruhe finden. Ich bedaure nur, dass ich ihn nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Vielleicht könnte mein Vermächtnis immer noch dort sein. Michener verschwieg jedoch, dass diese Worte aus dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders stammten. Das rief ihm eine andere Bemerkung Jasnas in den Sinn: Ich habe für den Papst gebetet. Seine Seele braucht unsere Gebete. Der Gedanke, sie könnte die Wahrheit über Clemens’ Tod wissen, war völlig verrückt.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass du heute Nachmittag Zeuge einer Marienerscheinung geworden bist?«, fragte Katerina. »Die Frau war völlig überspannt.«
»Ich glaube, Jasnas Visionen gehören ihr allein.«
»Ist das deine Art auszudrücken, dass die Madonna heute nicht da war?«
»So wenig wie sie in Fatima oder Lourdes oder La Salette war.«
»Jasna erinnert mich an Lucia«, bemerkte Katerina. »Bei unserem Treffen mit Hochwürden Tibor in Bukarest wollte ich nichts sagen. Aber vor ein paar Jahren habe ich einen Artikel über Lucia geschrieben, und ich weiß noch, dass sie als ein Mädchen mit schweren familiären Problemen geschildert wurde. Ihr Vater war Alkoholiker. Sie wurde von ihren älteren Schwestern erzogen. Sieben Kinder im Haus, und sie war die Jüngste. Kurz vor dem Beginn der Erscheinungen verlor ihr Vater einen Teil des Familienlandes, einige ihrer Schwestern heirateten, und die anderen suchten sich Arbeit außerhalb. Sie blieb mit einem Bruder, der Mutter und dem trunksüchtigen Vater zurück.«
»Etwas Ähnliches stand auch im Bericht der Kirche«, erwiderte Michener. »Der mit der Untersuchung betraute Bischof ging allerdings davon aus, dass ein solcher Hintergrund zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches darstellte. Bei meinen Recherchen bereiteten mir eher die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen Fatima und Lourdes Kopfzerbrechen. Der Gemeindepriester in Fatima bezeugt sogar, dass einige Worte der Heiligen Jungfrau mit denen in Lourdes praktisch identisch waren. Die Visionen von Lourdes waren in Fatima bekannt, und Lucia wusste darüber Bescheid.« Er trank einen Schluck Bier. »Ich habe die Berichte über alle Marienerscheinungen der letzten vierhundert Jahre gelesen. Viele Details stimmen immer wieder überein. Es handelt sich immer um Hirtenkinder, insbesondere um Mädchen mit geringer oder gar keiner Schulbildung. Visionen in freier Natur. Eine wunderschöne Dame. Geheimnisse des Himmels. Ganz schön viele Zufälle.«
»Dazu kommt noch, dass alle Berichte erst Jahre nach den Erscheinungen aufgeschrieben wurden«, fügte Katerina hinzu. »Da konnte man mühelos einige Details hinzufügen, um das Ganze glaubwürdiger zu machen. Ist es nicht sonderbar, dass keiner der Visionäre die Botschaften unmittelbar im Anschluss enthüllte? Immer vergehen erst Jahrzehnte, bevor die Details nach und nach durchsickern.«
Michener stimmte ihr zu. Lucia hatte erst 1925 einen detaillierten Bericht abgegeben und dann noch einmal 1944. Es wurde oft behauptet, dass sie ihre Botschaften erst da mit späteren Fakten ausgeschmückt habe. So etwa, als sie die Papstzeit Pius XI., den Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg Russlands erwähnte, allesamt Ereignisse, die nach 1917 eintraten. Da Francisco und Jacinta tot waren, konnte ja auch niemand ihrem Zeugnis widersprechen.
Noch eine weitere Tatsache ließ sich nicht abstreiten:
Im Juli 1917 hatte die Jungfrau im zweiten Geheimnis von Fatima verlangt, Russland ihrem Unbefleckten Herzen zu weihen. Russland war aber damals noch eine fromme, christliche Nation. Die Kommunisten kamen erst Monate später an die Macht. Welchen Sinn hätte es da gemacht, Russland zu weihen?
»Die Seher von La Salette waren psychische Wracks«, sagte Katerina gerade. »Maxims Mutter starb in seiner frühen Kindheit, und seine Stiefmutter schlug ihn. Bei der ersten Befragung nach seiner Vision berichtete er von einer Mutter, die sich darüber beschwert, dass ihr Sohn sie schlägt. Von der Jungfrau Maria war gar nicht die Rede.«
Er nickte. »Die veröffentlichten Versionen der Geheimnisse von La Salette liegen in den Archiven des Vatikans. Maxim berichtete von einer rachsüchtigen Jungfrau, die Hungersnöte ankündigte und Sünder mit Hunden verglich.«
»So etwas könnte ein verstörtes Kind ohne weiteres über eine Mutter sagen, die es misshandelt. Seine Stiefmutter ließ ihn oft zur Strafe hungern.«
»Er ist jung gestorben, gebrochen und bitter«, fügte Michener hinzu. »Mit einer der ersten beiden Seherinnen hier in Bosnien war es ähnlich. Einige Monate vor der ersten Vision hatte sie ihre Mutter verloren. Und die anderen Kinder hatten ebenfalls familiäre Probleme.«
»Das alles sind Halluzinationen, Colin. Aus gestörten Kindern wurden verwirrte Erwachsene, die ihre Phantasien von einst für bare Münze nehmen. Die Kirche verschleiert die Lebensumstände der Seherkinder gerne, weil die Seifenblase sonst platzen könnte. Man kriegt so seine Zweifel.«
Der Regen prasselte auf das Dach des Cafés.
»Warum hat Clemens dich hierher geschickt?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Er war besessen vom dritten Geheimnis, und dieser Ort hier steht damit in Verbindung.«
Er beschloss, ihr von Clemens’ Vision zu erzählen, vermied aber jeden Hinweis, dass die Jungfrau den Papst aufgefordert hatte, sein Leben zu beenden. Er sprach flüsternd.
»Du bist hier, weil die Jungfrau Maria Clemens aufgefordert hat, dich hierher zu schicken?«, fragte sie.
Er lenkte die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf sich und hob zwei Finger für zwei neue Bier.
»In meinen Ohren klingt das so, als hätte Clemens den Verstand verloren.«
»Und genau deshalb wird die Welt auch niemals erfahren, was geschehen ist.«
»Vielleicht sollte sie das aber.«
Diese Bemerkung gefiel ihm nicht. »Ich habe dir das im Vertrauen erzählt.«
»Das weiß ich. Ich sagte auch nur, dass die Welt vielleicht davon erfahren sollte.«
Angesichts der Umstände von Clemens’ Tod war das vollkommen ausgeschlossen. Er blickte auf die regengepeitschte Straße hinaus. Da war etwas, was er wissen wollte. »Wie steht es mit uns, Kate?«
»Ich weiß, wo ich als Nächstes hin will.«
»Was würdest du in Rumänien tun?«
»Diesen Kindern helfen. Ich könnte ein Tagebuch führen und Artikel veröffentlichen. Die Aufmerksamkeit der Welt auf dieses Leiden lenken.«
»Ziemlich hartes Leben.«
»Ich komme von dort. Du kannst mir da nicht viel Neues erzählen.«
»Ex-Priester verdienen nicht sonderlich viel.«
»Man lebt dort billig.«
Er nickte und hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und ihre Hand ergriffen, aber das wäre nicht klug. Nicht hier. Sie schien seinen Wunsch zu spüren und lächelte. »Heb es dir auf, bis wir im Hotel sind.«
43
Vatikanstadt, 19.00 Uhr
»Ich bitte um einen dritten Wahlgang«, sagte der Kardinal aus den Niederlanden. Er war Erzbischof von Utrecht und einer von Valendreas treuesten Anhängern. Valendrea hatte gestern mit ihm besprochen, dass er sofort um einen dritten Wahlgang bitten sollte, falls die ersten beiden ergebnislos blieben.
Valendrea war nicht glücklich. Ngovis vierundzwanzig Stimmen gleich beim ersten Wahlgang hatten ihn überrascht. Er hatte vielleicht mit einem Dutzend für den Afrikaner gerechnet, mehr nicht. Seine eigenen zweiunddreißig Stimmen waren in Ordnung, aber weit von den sechsundsiebzig entfernt, die er für die Wahl brauchte.
Der zweite Wahlgang hatte ihn jedoch bestürzt, und er hatte seine ganze diplomatische Zurückhaltung aufbringen müssen, um nicht in Wut zu geraten. Ngovis Unterstützung wuchs auf dreißig Stimmen an, während seine eigenen Anhänger es auf schlappe einundvierzig brachten. Die verbliebenen zweiundvierzig Stimmen verteilten sich auf drei weitere Kandidaten. Erfahrungsgemäß musste ein Favorit mit jedem Wahlgang gehörig zulegen, um seine Spitzenstellung zu behalten. Alles andere wurde als Schwäche empfunden, und es war bekannt, dass die Kardinäle einen geschwächten Kandidaten rasch fallen ließen. Es war schon oft vorgekommen, dass ein unbeschriebenes Blatt sich im zweiten Wahlgang plötzlich als aussichtsreicher Kandidat entpuppt und schließlich die Papstwürde gewonnen hatte. Johannes Paul I. und II. waren beide aus solchen Wahlen hervorgegangen, und Clemens XV. ebenfalls. Valendrea wünschte sich keine Wiederholung.
Er stellte sich vor, wie die Klugschwätzer auf dem Petersplatz über die beiden schwarzen Rauchwolken sinnieren würden, die bisher aufgestiegen waren. Arschlöcher wie Tom Kealy würden in die ganze Welt hinausposaunen, dass die Kardinäle offensichtlich geteilter Meinung seien und sich noch kein klarer Favorit herausgeschält habe. Die Presse würde weiter über Valendrea herziehen. In den letzten zwei Wochen hatte Kealy sich ein ganz gemeines Vergnügen daraus gemacht, ihn in den Dreck zu ziehen, und das zugegebenermaßen sehr raffiniert angestellt. Kealy hatte sich niemals über Valendrea persönlich geäußert. Keinerlei Hinweis auf Kealys anhängiges Exkommunikationsverfahren. Stattdessen hatte der Häretiker auf dem Italien-versus-die-Welt-Argument herumgeritten, das in den Medien offensichtlich zog. Valendrea hätte das Tribunal vor Wochen so schnell durchziehen sollen, dass Kealy jetzt ohne Soutane dastünde. Dann wäre der Idiot wenigstens nur noch ein ehemaliger Priester mit angekratzter Glaubwürdigkeit. So aber wurde er als der Einzelgänger wahrgenommen, der das Establishment herausforderte. David gegen Goliath, und da war nie einer für den Riesen.
Valendrea sah zu, wie der Kardinalarchivar neue Wahlzettel austeilte. Der alte Mann ging schweigend durch den Mittelgang und warf Valendrea einen kurzen, herausfordernden Blick zu, bevor er ihm den leeren Zettel reichte. Auch mit diesem Typ hätte er sich schon längst gründlicher befassen sollen.
Wieder fuhren die Stifte übers Papier, und das Ritual der Stimmzettelabgabe in den Kelch wiederholte sich. Die Wahlprüfer mischten die Stimmzettel und begannen mit der Auszählung. Valendreas Name wurde neunundfünfzig Mal laut vorgelesen, Ngovis dreiundvierzig Mal. Die restlichen elf Stimmen blieben weiterhin verteilt.
Sie würden den Ausschlag geben.
Er brauchte weitere siebzehn Stimmen für die Wahl. Selbst wenn es ihm gelänge, jeden Einzelnen der Unentschiedenen für sich zu gewinnen, fehlten ihm noch sechs von Ngovis Unterstützern, und der Afrikaner wurde erschreckend schnell stärker. Am beunruhigendsten war, dass er jede der elf noch nicht festgelegten Stimmen, die ihm jetzt entgingen, aus Ngovis Stimmblock gewinnen musste, und das könnte sich als unmöglich erweisen. Nach dem dritten Wahlgang legten die Kardinäle sich häufig endgültig fest.
Valendrea reichte es. Er stand auf. »Ich denke, Eminenzen, wir haben uns für heute genug zugemutet. Ich schlage vor, dass wir zu Abend essen, uns ausruhen und morgen weitermachen.«
Das war keine Bitte. Jeder Teilnehmer hatte das Recht, die Wahlprozedur zu unterbrechen. Er sah sich wütend in der Kapelle um und ließ seine Augen auf dem einen oder anderen möglichen Verräter ruhen.
Er hoffte, dass die Botschaft verstanden wurde. Der schwarze Rauch, der nun gleich aufsteigen würde, entsprach seiner Stimmung.
44
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
23.30 Uhr
Michener erwachte aus tiefem Schlaf. Katerina lag neben ihm. Er verspürte Unbehagen, das er aber nicht auf ihre Liebesnacht zurückführte. Er hatte kein schlechtes Gewissen wegen dieses neuerlichen Bruchs seines Priestergelübdes, doch es verunsicherte ihn, dass alles, worauf er sein Leben lang hingearbeitet hatte, so wenig bedeutete. Vielleicht empfand er das auch nur so, weil die Frau neben ihm im Bett ihm nun wichtiger war. Zwei Jahrzehnte lang hatte er der Kirche und Jakob Volkner gedient. Doch sein lieber Freund war tot, und in der Sixtinischen Kapelle lief alles auf Veränderungen hinaus, bei denen er keine Rolle mehr spielen würde. Bald würde der zweihundertachtundsechzigste Nachfolger Petri gewählt sein. Er selbst war der Kardinalswürde zwar sehr nahe gekommen, doch es hatte einfach nicht sein sollen. Sein Schicksal lag offensichtlich woanders.
Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihm auf – eine seltsame Mischung aus Sorge und Unruhe. Im Traum hatte er immer wieder Jasnas Stimme gehört: Vergessen Sie Bamberg nicht … Ich habe für den Papst gebetet. Seine Seele braucht unser Gebet. Versuchte sie, ihm etwas klar zu machen? Oder wollte sie ihn einfach nur überzeugen?
Er stand auf.
Katerina rührte sich nicht. Sie hatte beim Abendessen ein paar Bier getrunken, und Alkohol machte sie immer schläfrig. Draußen tobte noch immer das Unwetter. Der Regen hämmerte gegen die Scheiben, und das Licht der Blitze flackerte durchs Zimmer.
Er schlich zum Fenster und spähte nach draußen. Regen prasselte auf die Ziegeldächer der Häuser auf der Straßenseite gegenüber, und das Wasser schoss in Sturzbächen aus den Regenrohren. Auf beiden Seiten der verlassenen Gasse parkten Autos.
Mitten auf der Straße stand eine einsame Gestalt im strömenden Regen.
Er versuchte, das Gesicht zu erkennen.
Jasna.
Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah zu seinem Fenster herauf. Ihr Anblick bestürzte ihn, und er wollte schnell etwas überziehen, bis ihm klar wurde, dass sie ihn unmöglich sehen konnte. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen, doch vor dem Fenster hing noch eine Spitzengardine, und die Scheibe war vom Regen verschmiert. Michener stand ein Stück hinter dem Fenster, das Zimmer war dunkel, und draußen war stockdunkle Nacht. Doch im Licht der Straßenlaternen drei Stockwerke tiefer stand Jasna, die zu ihm heraufsah.
Etwas drängte ihn sich zu erkennen zu geben.
Er zog die Spitzengardine beiseite.
Sie winkte ihn mit dem rechten Arm zu sich hinunter. Er wusste nicht, was er tun sollte. Da winkte sie wieder. Sie war, einschließlich der Turnschuhe, noch genauso gekleidet wie bei ihrem Treffen, und das Kleid klebte an ihrem schmalen Körper. Ihr langes Haar war patschnass, doch das Unwetter schien ihr nichts auszumachen.
Wieder das Winken.
Er drehte sich zu Katerina um. Sollte er sie wecken? Dann starrte er wieder aus dem Fenster. Jasna schüttelte den Kopf, nein, und winkte ein weiteres Mal.
Verdammt. Konnte sie Gedankenlesen?
Er merkte, dass ihm keine Wahl blieb, und schlüpfte lautlos in seine Kleider.
Er trat aus dem Hotelausgang.
Jasna stand noch immer auf der Straße.
Oben zuckte ein Blitz, und aus dem schwarzen Himmel prasselte der Regen. Michener hatte keinen Regenschirm.
»Was machen Sie hier?«, fragte er.
»Wenn Sie das zehnte Geheimnis erfahren wollen, kommen Sie mit.«
»Wohin?«
»Müssen Sie ständig alles hinterfragen? Können Sie niemals einfach glauben?«
»Wir stehen mitten im heftigen Regen.«
»Das reinigt Körper und Seele.«
Die Frau machte ihm Angst. Vielleicht weil er das Gefühl hatte, ihr nichts entgegensetzen zu können.
»Mein Wagen steht dort drüben«, sagte sie.
Am Straßenrand parkte ein klappriger Ford Fiesta. Er folgte ihr zum Auto, und sie fuhren aus der Stadt und hielten auf einem leeren Parkplatz am Fuß eines Bergs. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf ein Hinweisschild: KREUZBERG.
»Warum hier?«, fragte er.
»Ich weiß es auch nicht.«
Er hätte sie gerne gefragt, wer denn wohl dann Bescheid wusste, ließ es dann aber. Es war offensichtlich Jasnas Show, und sie verlief genau nach Plan.
Sie stiegen aus, und er folgte ihr durch den Regen zu einem Pfad. Der Boden war matschig und der Fels rutschig.
»Gehen wir zum Gipfel?«, fragte er.
Sie drehte sich um. »Wohin denn sonst?«
Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was die Führerin im Bus über den Berg erzählt hatte: Er war mehr als fünfhundert Meter hoch, und oben stand ein Kreuz, das in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts von der Kirchengemeinde errichtet worden war. Dieses Kreuz stand zwar ursprünglich nicht mit den Erscheinungen in Beziehung, doch es gehörte mit zur ›Medjugorje-Erfahrung‹, zum Gipfel hinaufzuwandern. Heute Nacht allerdings nahm niemand diese Gelegenheit wahr. Auch Michener war nicht gerade begeistert von der Vorstellung, mitten in einem Unwetter mit Blitz und Donner auf einen fünfhundert Meter hohen Gipfel zu steigen. Doch Jasna schien das überhaupt nicht zu stören, und sonderbarerweise gab ihr Mut ihm Kraft.
War das Glaube?
Das Wasser, das in kleinen Bächen den Weg herabströmte, machte den Aufstieg noch schwerer. Micheners Kleider waren klatschnass, seine Schuhe schlammverklebt. Der Weg wurde nur hin und wieder durch einen Blitzstrahl erhellt. Er machte den Mund auf und ließ den Regen auf seine Zunge fallen. Oben grollte der Donner. Das Gewitter musste genau über ihnen sein.
Nach einem zwanzigminütigen, anstrengenden Aufstieg tauchte der Gipfel vor ihnen auf. Die Beine taten ihm weh, und es zog heftig in seinen Waden.
Vor ihm erhob sich im Dunkeln der Umriss eines großen, weißen Kreuzes, etwa zwölf Meter hoch. An seinem Betonsockel lagen Blumensträuße im peitschenden Wind. Einige Blumen hatte der Sturm auch durch die Gegend geweht.
»Sie kommen aus der ganzen Welt«, sagte Jasna auf die Blumen deutend. »Sie steigen hier herauf, legen ihre Gaben nieder und beten zur Jungfrau. Dabei ist sie hier niemals erschienen. Trotzdem kommen die Leute. Ihr Glaube ist bewunderungswürdig.«
»Meiner dagegen nicht?«
»Sie haben keinen Glauben. Ihre Seele ist in Gefahr.«
Ihr Tonfall war vollkommen sachlich, etwa so, wie wenn eine Hausfrau ihren Mann bittet, den Müll rauszutragen. Ein Blitzschlag zerriss den Himmel in zackige Strahlen blau-weißen Lichts. Er wartete, und dann grollte der unvermeidliche Donner wie eine Basstrommel im Einsatz. Er beschloss, die Auseinandersetzung mit der Seherin zu suchen. »Was gibt es denn hier zu glauben? Sie haben überhaupt keine Ahnung von Religion.«
»Ich weiß nur von Gott. Religionen werden von Menschen geschaffen. Man kann sie verändern, abwandeln oder auf den Müllhaufen der Geschichte befördern. Gott aber nicht.«
»Aber Menschen berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Religion auf die Macht Gottes.«
»Das hat nichts zu bedeuten. Solche Männer wie Sie sollten das ändern.«
»Wie sollte mir das möglich sein?«
»Indem Sie glauben, vertrauen, den Herrn lieben und tun, was er verlangt. Ihr Papst hat versucht, die Dinge zu ändern. Setzen Sie seine Bemühungen fort.«
»Ich bin nicht mehr in einer Position, in der ich irgendetwas bewirken könnte.«
»Sie sind in derselben Position wie einst Jesus, und ER hat alles verändert.«
»Warum sind wir hier?«
»Heute wird Unsere Liebe Frau zum letzten Mal erscheinen. Sie hat mir aufgetragen, um diese Stunde zu kommen und Sie mitzubringen. Sie wird ein sichtbares Zeichen ihrer Anwesenheit hinterlassen. Das hat sie bei ihrem ersten Besuch versprochen, und jetzt wird sie ihr Versprechen halten. Glauben Sie jetzt, in diesem Moment – und nicht später, wenn alles eindeutig ist.«
»Ich bin Priester, Jasna. Ich muss nicht bekehrt werden.«
»Sie zweifeln, bemühen sich aber nicht, Ihre Zweifel zu überwinden. Sie müssen bekehrt werden, mehr als jeder andere. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Eine Zeit der Glaubensvertiefung. Eine Zeit der Bekehrung. So hat die Jungfrau es mir heute aufgetragen.«
»Warum haben Sie Bamberg erwähnt?«
»Das wissen Sie genau.«
»Das ist keine Antwort. Erklären Sie sich bitte.«
Der Regen wurde noch stärker, und Windstöße trieben Michener die Tropfen wie Nadelstiche ins Gesicht. Er schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug, lag Jasna auf den Knien, die Hände zum Gebet gefaltet. Sie starrte zum schwarzen Himmel hinauf, und in ihren Augen stand derselbe abwesende Blick wie am Nachmittag: als würde sie in eine weite Ferne schauen.
Er kniete sich neben sie.
Sie wirkte so verletzlich. Gar nicht mehr die trotzige Seherin, die sich besser vorkam als alle anderen. Er blickte zum Himmel und sah nur den düsteren Umriss des Kreuzes. Sonst nichts. Ein Blitzstrahl ließ das Bild einen Moment lang lebendig aus der Nacht heraustreten. Dann war das Kreuz wieder von Dunkel umschlossen.
»Ich kann mich erinnern, das weiß ich genau«, sagte sie in die Nacht hinein.
Wieder rollte Donner über den Himmel.
Sie mussten hier weg, aber er brachte es nicht über sich, sie zu stören. Was ihr geschah, mochte für ihn nicht real sein, für sie aber war es das.
»Liebe Frau, das wusste ich nicht«, sagte sie zum Wind.
Ein gleißend heller Strahl traf die Erde und zerfetzte das Kreuz.
Michener flog rückwärts durch die Luft.
Er spürte ein merkwürdiges Kribbeln in den Gliedern. Dann schlug sein Kopf gegen etwas Hartes. Schwindel ergriff ihn, gleich darauf wurde ihm schlecht. Alles verschwamm ihm vor Augen. Er versuchte mit aller Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben, doch es gelang ihm nicht.
Schließlich versank alles in Stille.
45
Vatikanstadt
Mittwoch, 29. November
0.30 Uhr
Valendrea knöpfte seine Soutane zu und verließ sein Zimmer im Domus Sanctae Marthae. Als Staatssekretär hatte er eines der größeren Zimmer bekommen, das normalerweise von jenem Prälaten bewohnt wurde, der dem Gästehaus vorstand. Ein vergleichbares Privileg genossen der Camerlengo und der Vorsitzende des Kardinalskollegiums. Die Unterbringung entsprach zwar nicht Valendreas Niveau, war aber ein großer Fortschritt seit den Tagen, als man beim Konklave noch auf Feldbetten schlief und in einen Eimer pinkelte.
Der Weg vom Gästehaus zur Sixtinischen Kapelle führte über eine gesicherte, nach außen abgeriegelte Strecke. Noch beim letzten Konklave waren die Kardinäle in bewachten Bussen zwischen der Kapelle und dem Gästehaus gependelt, doch vielen waren diese Fahrten unter Aufsicht zuwider gewesen. Daher hatte man in den Korridoren des Vatikans einen Weg abgesperrt, der nur für Teilnehmer des Konklave passierbar war.
Valendrea hatte während des Abendessens dreien der Kardinäle in aller Stille klar gemacht, dass er sie später noch zu sehen wünsche, und jetzt warteten sie in der Sixtinischen Kapelle beim vorderen Marmorportal. Er wusste, dass draußen im Korridor jenseits des versiegelten Portals die Schweizergardisten darauf warteten, die bronzenen Flügeltüren aufzuwerfen, sobald sich weißer Rauch zum Himmel kräuselte. Nach Mitternacht rechnete aber niemand mehr mit einer solchen Entwicklung, und so würde die Kapelle den geeigneten Rahmen für eine vertrauliche Unterhaltung abgeben.
Er trat auf die drei Kardinäle zu und ließ ihnen keine Gelegenheit zum Sprechen. »Was ich Ihnen zu sagen habe, ist schnell erledigt.« Er redete bewusst leise. »Ich habe nicht vergessen, was Sie drei mir in den letzten Tagen versichert haben. Sie haben mir Ihre Unterstützung zugesagt und mich jetzt heimlich verraten. Warum, das wissen Sie allein. Ich möchte, dass der vierte Wahlgang der letzte ist. Andernfalls wird nächstes Jahr um diese Zeit keiner von Ihnen mehr die Kardinalswürde besitzen.«
Einer der Kardinäle setzte zum Sprechen an, doch er würgte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.
»Ich möchte nicht hören, dass Sie für mich gestimmt haben. Sie haben, jeder von Ihnen, Ngovi unterstützt. Doch das wird sich morgen Vormittag ändern. Außerdem möchte ich, dass Sie vor dem nächsten Wahlgang weitere unentschiedene Wähler für mich gewinnen. Ich erwarte einen Sieg im vierten Wahlgang, und es ist an Ihnen, das zu erreichen.«
»Das ist unrealistisch«, bemerkte einer der Kardinäle.
»Unrealistisch ist vor allen Dingen, wie Sie der spanischen Justiz nach der Veruntreuung von Kirchengeldern entkommen sind. Man hielt Sie zwar für einen Dieb, konnte Ihnen aber nichts nachweisen. Ich habe Beweise, die mir eine junge Señorita, die Sie recht gut kennen, freundlicherweise zur Verfügung stellte. Und Sie anderen beiden sollten auch nicht so überheblich sein. Ich besitze über jeden von Ihnen vergleichbare Unterlagen, und nichts davon ist sonderlich schmeichelhaft. Sie wissen, was ich will. Setzen Sie etwas in Gang. Berufen Sie sich auf den Heiligen Geist. Wie Sie es anstellen, ist mir egal. Tun Sie es einfach. Wenn Sie Erfolg haben, sorgen Sie damit auch dafür, dass Sie in Rom bleiben.«
»Und was, wenn wir gar nicht in Rom bleiben wollen?«, fragte einer der drei.
»Wären Sie lieber im Gefängnis?«
Vatikanbeobachter spekulierten nur zu gerne über das, was hinter den verschlossenen Türen des Konklave vor sich gehen mochte. Die Archive quollen über von Artikeln, in denen die Kardinäle als fromme Männer im Ringen mit ihrem Gewissen dargestellt wurden. Beim letzten Konklave hatte Valendrea mitbekommen, dass die Kardinäle seine relative Jugend als Nachteil ansahen, da die allzu lange Papstzeit eines Papstes für die Kirche nicht gut sei. Nach ihrer Ansicht waren fünf bis zehn Jahre gut, und alles, was darüber hinausging, wurde problematisch. Ganz verkehrt war diese Einstellung nicht. Die autokratische Herrschaft des Papstes konnte in Verbindung mit seiner Unfehlbarkeit eine explosive Mischung ergeben. Doch beides konnte auch dem Wandel dienen. Die Lehrmeinung des Papstes war unanfechtbar, und ein starker Papst ließ sich nicht ignorieren. Er hatte vor, ein solcher Papst zu werden, und von diesen drei kleinen Deppen würde er sich seinen Plan nicht kaputtmachen lassen.
»Ich möchte hören, dass mein Name morgen sechsundsiebzig Mal vorgelesen wird. Falls ich länger warten muss, wird das nicht ohne Konsequenzen bleiben. Heute wurde meine Geduld strapaziert. Eine Wiederholung würde ich nicht empfehlen. Falls ich nicht bis morgen Nachmittag lächelnd auf dem Balkon des Petersdoms stehe, ist Ihr Ruf zunichte, noch bevor Sie in Ihre Zimmer im Domus Sanctae Marthae zurückgekehrt sind, um Ihre Sachen abzuholen.«
Er wandte sich um und ging, bevor sie irgendetwas erwidern konnten.
46
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
Michener sah die Welt durch einen Schleier. Sein Kopf hämmerte, sein Magen rebellierte. Er versuchte aufzustehen, doch das war unmöglich. Es kam ihm hoch, und ständig wurde ihm schwarz vor Augen.
Er war noch immer im Freien, doch jetzt fiel nurmehr ein sanfter Regen auf seine klatschnassen Kleider. Das nächtliche Unwetter tobte jedoch weiter, denn am Himmel grollte nach wie vor der Donner. Er wollte auf die Uhr sehen, doch vor seinen Augen liefen chaotische Bilder ab, und er konnte die Leuchtzifferanzeige nicht erkennen. Er massierte sich die Stirn und betastete eine Beule am Hinterkopf.
Er fragte sich, was wohl mit Jasna war, und wollte sie gerade rufen, als er ein helles Licht am Himmel erblickte. Erst hielt er es einfach für einen weiteren Blitz, denn zweifellos hatte ein Blitzschlag das Kreuz getroffen, doch dieser Lichtball war kleiner und bewegte sich gleichmäßig. Dann dachte er, es wäre ein Hubschrauber, doch der bläulich weiße Fleck in der Luft kam ganz lautlos näher.
Dann schwebte das Bild über ihm in der Luft. Er konnte noch immer nicht aufstehen, dafür waren Magen und Kopf zu stark angegriffen, und so ließ er sich einfach auf den steinigen Boden zurücksinken und starrte nach oben.
Das Leuchten wurde immer strahlender.
Es verströmte eine tröstliche Wärme. Er beschirmte die Augen mit der Hand, spähte durch die Finger auf das gleißende Licht und sah, wie langsam ein Bild hervortrat.
Eine Frau.
Sie trug ein graues, hellblau gesäumtes Kleid. Ein weißer Schleier hing vor ihrem Gesicht und betonte die langen, kastanienbraunen Locken. Sie hatte ausdrucksvolle Augen, und ihre Gestalt schillerte in allen möglichen Farben von Weiß über Blau bis zu einem ganz hellen Gelb.
Er kannte dieses Gesicht und dieses Kleid. Es war die Statue, die er in Jasnas Haus gesehen hatte. Unsere Liebe Frau von Fatima.
Das Licht wurde weniger gleißend. Obgleich ihm alles andere noch immer vor Augen verschwamm, konnte er die Frau deutlich sehen.
»Stehe auf, Father Michener«, sagte sie mit sanfter Stimme.
»Ich … ich hab’s versucht … Ich kann nicht«, stammelte er.
»Steh auf.«
Er stand auf. Es war ihm nicht mehr schwindlig. Sein Magen gab Ruhe. Er sah zum Licht. »Wer sind Sie?«
»Das weißt du nicht?«
»Die Jungfrau Maria?«
»Du sagst das, als wäre es eine Lüge.«
»Das wollte ich nicht.«
»Du wehrst dich heftig. Ich verstehe, warum du auserwählt wurdest.«
»Wozu auserwählt?«
»Seit langem habe ich den Kindern versprochen, ein Zeichen für alle Ungläubigen zu hinterlassen.«
»Jasna kennt jetzt also das zehnte Geheimnis?« Es ärgerte ihn, dass er diese Frage gestellt hatte. Schlimm genug, dass er Halluzinationen hatte, aber jetzt unterhielt er sich auch noch mit seinen eigenen Hirngespinsten.
»Sie ist eine Gesegnete. Sie hat getan, was der Himmel von ihr verlangte. Andere Männer, die sich fromm nennen, können nicht dasselbe von sich behaupten.«
»Clemens XV.?«
»Ja, Colin. Ich gehöre auch dazu.«
Die Stimme klang jetzt dunkler, und das Bild verwandelte sich in Jakob Volkner. Er stand in vollem Papstornat da – Humerale, Zingulum, Stola, Papstkrone und Pallium – es war die Kleidung, in der er bestattet worden war, und er hielt einen Hirtenstab in der rechten Hand. Der Anblick bestürzte Michener. Was war das?
»Jakob?«
»Missachte die Wünsche des Himmels nicht länger, mein Sohn. Führe aus, worum ich dich gebeten habe. Vergiss nicht: Ein treuer Diener ist nicht zu verachten.«
Genau diese Worte hatte Jasna ihm gegenüber gebraucht. Aber es lag ja nahe, dass er beim Halluzinieren auf Erlebtes zurückgriff. »Was ist meine Bestimmung, Jakob?«
Die Erscheinung verwandelte sich in Hochwürden Tibor. Der Priester sah genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnung im Waisenhaus. »Ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist.«
Bevor er etwas erwidern konnte, war wieder das Bild der Jungfrau da.
»Handele so, wie dein Herz es dir befiehlt. Daran ist nichts Böses. Aber halte an deinem Glauben fest, denn am Ende wird er das Einzige sein, was dir bleibt.«
Die Erscheinung stieg nach oben und verwandelte sich in einen gleißenden Lichtball, der in die Nacht zurückwich. Je weiter das Licht sich entfernte, desto stärker schmerzte sein Kopf. Als es schließlich verschwunden war, fühlte er sich sehr schwindlig, und ihm drehte sich der Magen um.
47
Vatikanstadt, 7.00 Uhr
Das Frühstück im Speisesaal des Domus Sanctae Marthae verlief recht düster. Etwa die Hälfte der Kardinäle nahm schweigend Eier, Schinken, Obst und Brot zu sich. Viele beschränkten sich auch nur auf Kaffee oder Saft, doch Valendrea lud sich seinen Teller am Frühstücksbuffet voll. Er wollte allen Versammelten zeigen, dass die Ereignisse vom Vortag ihn kalt ließen und er immer noch seinen legendären Appetit hatte.
Er setzte sich mit ein paar Kardinälen an einen Fenstertisch. Es war eine wild gemischte Gruppe; die Männer kamen aus Australien, Venezuela, der Slowakei, dem Libanon und Mexiko. Zwei von ihnen rechnete er zu seinen Unterstützern, doch die anderen drei gehörten vermutlich zu den elf, die sich noch nicht festgelegt hatten. Sein Blick fiel auf Ngovi, der gerade den Speisesaal betrat. Der Kardinal unterhielt sich lebhaft mit zwei Kardinälen. Vielleicht gab auch er sich Mühe, sich nur ja keine Unruhe anmerken zu lassen.
»Alberto«, sagte einer der Kardinäle an seinem Tisch.
Er warf einen Blick auf den Australier.
»Haben Sie Vertrauen in den heutigen Tag. Ich habe den ganzen Abend gebetet und spüre, dass heute Vormittag etwas geschehen wird.«
Valendrea antwortete scheinbar ungerührt: »Gottes Wille leitet uns. Möge der Heilige Geist heute mit uns sein, das ist meine einzige Sorge.«
»Sie sind die logische Wahl«, sagte der libanesische Kardinal. Seine Stimme war lauter als nötig.
»Ja, das ist richtig«, pflichtete ein Kardinal an einem anderen Tisch ihm bei.
Valendrea blickte von seinem Frühstücksei auf und sah, dass es der Spanier war, den er sich am Vorabend zur Brust genommen hatte. Der untersetzte, kleine Mann war aufgestanden.
»Unsere Kirche liegt darnieder«, sagte der Spanier. »Es wird Zeit, dass etwas geschieht. Ich erinnere mich an Zeiten, als jeder Hochachtung vor dem Papst hatte. Die Regierungen achteten seine Worte, und selbst in Moskau musste man ihn ernst nehmen. Heute ist nichts mehr davon übrig. Unsere Priester sollen sich nicht mehr in die Politik einmischen und unsere Bischöfe ihren Standpunkt nicht mehr deutlich machen. Selbstzufriedene Päpste schaden der Kirche nur.«
Ein anderer Kardinal stand auf. Er trug einen Bart und kam aus Kamerun. Valendrea kannte ihn kaum, nahm aber an, dass er zu Ngovis Leuten gehörte. »Ich finde keineswegs, dass Clemens XV. selbstzufrieden war. Man hat ihn auf der ganzen Welt geliebt, und in seiner kurzen Zeit hat er viel bewirkt.«
Der Spanier hob die Hand. »Ich wollte niemandem zu nahe treten. Es geht hier um nichts Persönliches, sondern darum, was das Beste für die Kirche ist. Glücklicherweise haben wir einen Mann unter uns, den man weltweit achtet. Kardinal Valendrea wäre ein vorzüglicher Papst. Warum sollte man sich mit weniger zufrieden geben?«
Valendrea sah zu Ngovi hinüber. Falls der Camerlengo sich durch diese Bemerkung gekränkt fühlte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Dies war ein Ereignis, wie Kirchenexperten sie liebten. Später würden sie beschreiben, wie der Heilige Geist herabkam und das Konklave bewegte. Die Apostolische Konstitution verbot zwar Wahlkampagnen vor dem Konklave, doch in der Abgeschiedenheit der Sixtinischen Kapelle galt das nicht mehr. Tatsächlich war die offene Diskussion sogar der Zweck dieser Abgeschiedenheit. Das geschickte Manöver des Spaniers beeindruckte Valendrea. So etwas hätte er diesem Trottel gar nicht zugetraut.
»Wer Ngovi wählt, gibt sich nicht mit weniger zufrieden«, sagte der Kardinal aus Kamerun schließlich. »Er ist ein Mann Gottes. Ein Mann dieser Kirche. Untadelig. Er wäre ein ausgezeichneter Pontifex.«
»Valendrea etwa nicht?«, schrie der französische Kardinal und sprang auf.
Valendrea erstaunte diese Szene: Kirchenfürsten in vollem Ornat, die erregt debattierten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten sie alles getan, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.
»Valendrea ist jung. Und die Kirche braucht einen jungen Mann. Zeremonien und schöne Reden machen noch keinen Führer. Der Charakter ist es, der aus einem Mann einen Führer der Gläubigen macht. Valendrea hat seinen Charakter unter Beweis gestellt. Er hat unter vielen Päpsten gedient …«
»Genau das meine ich ja«, warf der Kardinal aus Kamerun ein. »Er hat nie einer Diözese gedient. Wie viele Beichten hat er abgenommen? Wie viele Menschen hat er beerdigt? Wie oft hat er Gemeindemitglieder beraten? Diese pastorale Erfahrung ist es, die wir auf dem Heiligen Stuhl brauchen.«
Die Kühnheit des Kameruners war beeindruckend. Valendrea hatte gar nicht gewusst, dass in einer purpurroten Soutane so viel Rückgrat stecken konnte. Ganz intuitiv hatte dieser Mann das von Valendrea so gefürchtete Argument der pastoralen Erfahrung angeführt. Er würde diesen Mann in den nächsten Jahren gut im Auge behalten müssen.
»Ganz im Gegenteil«, widersprach der Franzose. »Der Papst ist kein Pastor. Das Bild des Hirten ist etwas für Gelehrte. Eine Leerformel, mit der wir unsere Entscheidung begründen. Sie bedeutet nichts. Der Papst verwaltet und regiert. Er muss die Kirche führen, und um sie führen zu können, muss er die Kurie verstehen. Er muss wissen, wie sie funktioniert. Das weiß Valendrea besser als irgendeiner von uns. Wir haben pastorale Päpste gehabt. Doch jetzt brauchen wir einen Führer.«
»Vielleicht weiß er zu gut, wie die Kurie funktioniert«, warf der Kardinalarchivar ein.
Valendrea wäre um ein Haar zusammengezuckt. Der Kardinalarchivar war der ranghöchste Kardinal des Konklave. Seine Meinung würde bei den elf Unentschiedenen ins Gewicht fallen.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte der Spanier.
Der Archivar blieb sitzen. »Die Kurie kontrolliert zu viel. Wir alle klagen über die Bürokratie und ändern doch nichts daran. Warum? Weil sie unseren Bedürfnissen dient. Sie bildet einen Schutzschirm gegen alle Veränderungen, die wir uns nicht wünschen. Es ist so leicht, immer alle Schuld auf die Kurie zu schieben. Warum sollte ein Papst, der mit dieser Institution verwachsen ist, irgendetwas unternehmen, was sie bedroht? Ja, es gibt ein paar Veränderungen, alle Päpste basteln ein bisschen herum, aber keiner hat je Altes abgerissen, um Neues zu bauen.« Der alte Mann heftete den Blick auf Valendrea. »Und gewiss kann man das nicht von jemandem erwarten, der ein Produkt dieses Systems ist. Wir müssen uns fragen, ob Valendrea die nötige Kühnheit aufbringen würde.« Er machte eine Pause. »Ich glaube es nicht.«
Valendrea trank seinen Kaffee. Schließlich stellte er die Tasse ab und sagte gelassen zu dem Archivar: »Ihre Wahlentscheidung ist offensichtlich gefallen, Eminenz.«
»Dies ist mein letztes Konklave, und ich möchte, dass meine Stimme Gewicht hat.«
Valendrea nickte lässig. »Das ist Ihr gutes Recht, Eminenz. Ich werde mich hüten, mich da einzumischen.«
Ngovi trat in die Mitte des Saals. »Mir scheint, wir haben nun genug diskutiert. Beenden wir doch die Mahlzeit und begeben uns in die Kapelle. Dort können wir uns ausführlicher mit dieser Frage befassen.«
Keiner wandte etwas ein.
Valendrea war begeistert von der ganzen Szene.
Eine offenherzige Diskussion konnte ihm nur nutzen.
48
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
9.00 Uhr
Katerina machte sich allmählich Sorgen. Vor einer Stunde war sie aufgewacht und hatte festgestellt, dass Michener verschwunden war. Das Unwetter war abgezogen, und der Morgen war warm, aber wolkenverhangen. Erst hatte sie gedacht, er wäre schon auf einen Kaffee nach unten gegangen, doch als sie ihn eben im Speisesaal gesucht hatte, war er nicht da gewesen. Sie erkundigte sich an der Rezeption nach ihm, aber die Dame hatte ihn nicht gesehen. Katerina lief zur St. Jakobskirche, weil sie dachte, Michener könne dort hingegangen sein. Doch auch dort war er nicht. Es sah Michener nicht ähnlich, einfach wegzugehen, ohne etwas zu sagen. Außerdem lagen seine Reisetasche, Brieftasche und Ausweispapiere noch immer im Hotelzimmer.
Katerina stand jetzt auf dem belebten Platz vor der Kirche und überlegte, ob sie einen der Soldaten um Hilfe bitten sollte. Busse kamen und entließen Ströme von Pilgern. Als die Händler ihre Läden aufmachten, herrschte bereits dichter Verkehr auf den Straßen.
Sie hatten einen sehr schönen Abend gehabt. Ihre Unterhaltung im Restaurant war anregend gewesen, und später im Hotelzimmer war es zwischen ihnen noch aufregender geworden. Katerina war entschlossen, Valendrea nichts zu sagen. Sie war nach Bosnien gekommen, um mit Michener zusammen zu sein, nicht um ihn auszuspionieren. Sollten Ambrosi und Valendrea von ihr denken, was sie wollten. Sie war einfach nur froh, hier zu sein. An einer Karriere als Journalistin lag ihr nicht mehr viel. Sie würde nach Rumänien gehen und sich um die Kinder kümmern. Damit ihre Eltern stolz auf sie sein konnten. Und sie selbst auch. Endlich einmal etwas Gutes tun.
Sie hatte Michener all diese Jahre gegrollt, aber inzwischen war ihr aufgegangen, dass auch sie Fehler gemacht hatte. Sogar schlimme Fehler. Michener liebte seinen Gott und seine Kirche. Sie liebte nur sich selbst. Doch das würde sich ändern. Dafür würde sie sorgen. Beim Abendessen hatte Michener darüber geklagt, dass er noch nie eine Seele gerettet hatte. Vielleicht irrte er sich da. Vielleicht war sie die erste.
Sie überquerte die Straße und erkundigte sich im Besucherzentrum nach Michener. Doch dort hatte keiner einen Mann gesehen, auf den ihre Beschreibung passte. Sie marschierte den Bürgersteig entlang und spähte in die Geschäfte. Immerhin war es denkbar, dass er schon unterwegs war und Erkundigungen einzog, wo die anderen Seher wohnten. Dann ging sie einem Impuls folgend in die Richtung, die sie gestern eingeschlagen hatten, vorbei an denselben Reihen weißer Häuser mit Stuckfassaden und roten Ziegeldächern.
Sie fand Jasnas Haus und klopfte.
Niemand öffnete.
Sie ging zur Straße zurück. Die Fensterläden waren geschlossen. Sie wartete eine Weile, ob sich drinnen vielleicht irgendetwas rührte, doch alles blieb still. Dann fiel Katerina auf, dass Jasnas Auto nicht mehr am Straßenrand stand.
Sie machte sich auf den Rückweg zum Hotel.
Eine Frau stürzte aus dem Haus gegenüber auf Katerina zu und schrie auf Kroatisch: »Es ist furchtbar. Ganz furchtbar. Jesus steh uns bei.«
Ihr Entsetzen erschreckte Katerina.
»Was ist denn los?«, rief sie im besten Kroatisch, das sie zustande brachte.
Die ältere Frau blieb stehen. Ihre Augen waren voller Angst. »Es geht um Jasna. Sie haben sie auf dem Berggipfel gefunden. Ein Blitzschlag hat das Kreuz zerstört und sie verletzt.«
»Wie schlimm ist es?«
»Ich weiß es nicht. Sie wird gerade abtransportiert.«
Die Verzweiflung der Frau grenzte an Hysterie. Tränen strömten aus ihren Augen. Sie bekreuzigte sich immer wieder, umklammerte ihren Rosenkranz und flüsterte unter Schluchzern ein Gegrüßet-seist-du-Maria. »Mutter Jesu, rette sie. Lass sie nicht sterben. Sie ist gesegnet.«
»Ist es denn so schlimm?«
»Als man sie gefunden hat, hat sie kaum noch geatmet.«
Plötzlich kam Katerina ein Gedanke: »War sie allein?«
Die Frau schien die Frage nicht zu hören, murmelte weiter ihre Gebete und flehte Gott an, Jasna zu retten.
»War sie allein?«, wiederholte Katerina ihre Frage.
Die Frau riss sich zusammen, dieses Mal schien sie die Frage zu hören.
»Nein. Ein Mann war auch da. Schwer verletzt. Genau wie sie.«
49
Vatikanstadt, 9.30 Uhr
Valendrea ging die Treppe zur Sixtinischen Kapelle hinauf. Er glaubte fest daran, dass die Papstkrone zum Greifen nahe war. Ihm stand nichts mehr im Weg als ein Kardinal aus Kenia, der an der verfehlten Politik eines Papstes festhalten wollte, welcher sich selbst das Leben genommen hatte. Wenn es nach Valendrea ging, und vielleicht war es ja noch vor Ablauf des Tages so weit, würde er Clemens’ sterbliche Überreste aus der Krypta des Petersdoms entfernen und nach Deutschland transportieren lassen. Vielleicht würde ihm dieses Meisterstück wirklich gelingen, da Clemens in seinem Testament – das vor einer Woche veröffentlicht worden war – den ernsthaften Wunsch geäußert hatte, in Bamberg bestattet zu werden. Man könnte Valendreas Geste als Liebesdienst der Kirche an ihrem verstorbenen Papst auffassen, die bestimmt positiv aufgenommen würde. Außerdem hätte er dann den heiligen Boden von dieser erbärmlichen Seele gesäubert.
Er freute sich immer noch über den Vorfall beim Frühstück. Ambrosis Anstrengungen in den vergangenen Jahren zahlten sich nun aus. Die Abhörvorrichtungen waren Paolos Idee gewesen. Valendrea hatte der Gedanke an eine mögliche Entdeckung zunächst nervös gemacht, doch Ambrosi hatte Recht gehabt. Paolo hatte eine dicke Belohnung verdient. Er bedauerte, ihn nicht ins Konklave mitgenommen zu haben, doch Ambrosi hatte während der Wahl genug damit zu tun, draußen die Wanzen und Abhörvorrichtungen zu entfernen. Für diese Aufgabe war jetzt die perfekte Zeit, da der Vatikan fast ausgestorben war und alle nur Auge und Ohr für die Sixtinische Kapelle hatten.
Valendrea erreichte den Absatz der Marmortreppe. Dort stand Ngovi, der ihn offensichtlich erwartete.
»Der Tag des Gerichts ist da, Maurice«, sagte Valendrea auf der obersten Stufe angekommen.
»So kann man es durchaus sehen.«
Der nächste Kardinal stand fünfzehn Meter von ihnen entfernt, und die Treppe hinter ihnen war leer. Die meisten Kardinäle waren bereits in die Kapelle gegangen. Valendrea hatte sein Eintreten bis zum letzten Moment hinausgezögert. »Ich werde Ihre Rätsel nicht vermissen. Genauso wenig wie die von Clemens.«
»Was mich interessiert, ist die Antwort auf diese Rätsel.«
»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg in Kenia. Genießen Sie die Wärme.«
Mit diesen Worten setzte Valendrea sich in Bewegung.
»Sie werden nicht siegen«, sagte Ngovi.
Valendrea drehte sich um. Der überhebliche Ausdruck im Gesicht des Afrikaners gefiel ihm nicht, aber er konnte sich die Frage dennoch nicht verkneifen: »Warum?«
Ngovi antwortete nicht. Er schob sich einfach an Valendrea vorbei und trat in die Kapelle.
Die Kardinäle nahmen ihre Plätze ein. Ngovi, der vor dem Altar stand, wirkte vor der Farbenpracht von Michelangelos Jüngstem Gericht beinahe unbedeutend.
»Bevor dieser Wahlgang beginnt, muss ich Ihnen etwas sagen.«
Alle hundertdreizehn Kardinäle wandten sich Ngovi zu. Valendrea holte tief Luft. Er war hilflos. Noch war Ngovi Camerlengo und hatte die Kontrolle.
»Einige von Ihnen scheinen der Meinung zu sein, ich wäre ein geeigneter Kandidat für die Nachfolge unseres geliebten verstorbenen Papstes. Ihr Vertrauen schmeichelt mir zwar, doch ich muss es ablehnen. Sollte ich gewählt werden, werde ich die Wahl nicht annehmen. Ich bitte Sie, Ihre Entscheidung in diesem Wissen zu fällen.«
Ngovi trat vom Altar weg und setzte sich zu den Kardinälen.
Valendrea war klar, dass die dreiundvierzig Kardinäle, die Ngovi bisher unterstützt hatten, sich nun umorientieren würden. Sie wollten schließlich auch zur Siegermannschaft gehören. Da ihr Pferd gescheut hatte, würden sie auf ein anderes setzen. Dass so spät noch ein dritter Kardinal ins Rennen kommen würde, war unwahrscheinlich, und so konnte Valendrea sich das Ergebnis an fünf Fingern abzählen. Er musste nur seine derzeitigen neunundfünfzig Stimmen behalten und noch einen kleinen Teil von Ngovis führungslosem Block hinzugewinnen.
Das würde ein Leichtes sein.
Er hätte Ngovi gern gefragt, warum er auf eine Kandidatur verzichtete. Es kam ihm so unsinnig vor. Der Afrikaner hatte zwar bestritten, dass er die Papstwürde anstrebte, doch jemand musste eine Kampagne für ihn geführt haben, sonst hätte er es niemals auf dreiundvierzig Stimmen gebracht. Valendrea war sich verteufelt sicher, dass der Heilige Geist nichts damit zu tun hatte. Dies hier war ein Kampf zwischen Männern, der von Männern organisiert und ausgetragen wurde. Mindestens einer der Männer, die um ihn herumsaßen, war offensichtlich ein heimlicher Feind. Gut möglich, dass der Kardinalarchivar der Rädelsführer war, denn er besaß sowohl die Statur als auch die Erfahrung. Valendrea konnte nur hoffen, dass die zahlreichen Stimmen für Ngovi nicht eine starke Ablehnung seiner selbst bedeuteten. In den nächsten Jahren wollte er den Abweichlern eine Lektion erteilen, und da brauchte er loyale, enthusiastische Mitstreiter. Ambrosis erste Aufgabe würde darin bestehen, allen klar zu machen, dass eine falsche Wahl ihren Preis hatte. Aber eines musste er dem Afrikaner, der ihm gegenübersaß, lassen: Mit seinen Worten Sie werden nicht siegen hatte er Recht gehabt. Nein, Valendrea würde nicht siegen. Ngovi überließ ihm die Papstwürde einfach so. Aber wen störte das schon?
Sieg war Sieg.
Der Wahlgang dauerte eine Stunde. Nach Ngovis überraschender Ankündigung schienen alle es eilig zu haben, das Konklave zu beenden.
Valendrea führte keine Liste, er zählte seine Stimmen nur im Kopf mit. Als er sechsundsiebzig erreicht hatte, hörte er nicht mehr hin. Erst als die Wahlprüfer ihn mit hundertzwei Stimmen für gewählt erklärten, konzentrierte er sich wieder auf den Altar.
Er hatte sich oft gefragt, was er in diesem Moment wohl empfinden würde. Nun diktierte er allein, was eine Milliarde Katholiken glauben würden. Kein Kardinal durfte sich mehr seinen Anweisungen widersetzen. Man würde ihn Heiliger Vater nennen und ihn bis zum Tag seines Todes mit allem versorgen, was er brauchte. Manche Kardinäle hatten in diesem Moment vor Schreck aufgeschrien. Einige wenige waren sogar aus der Kapelle geflüchtet. Valendrea merkte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Er war nicht länger Alberto Kardinal Valendrea, Bischof von Florenz und Kardinalstaatssekretär.
Er war Papst.
Ngovi trat zum Altar. Valendrea wusste, dass der Afrikaner nun seine letzte Pflicht als Camerlengo erfüllen würde. Nach einem kurzen Gebet ging Ngovi schweigend durch den Mittelgang und stellte sich vor ihn.
»Nimmst du die kanonische Wahl zum höchsten Pontifex an?«
Diese Frage auf Lateinisch wurde dem Sieger seit Jahrhunderten gestellt.
Valendrea starrte in Ngovis durchdringende Augen und fragte sich, was dieser wohl dachte. Warum hatte er sich als Kandidat verweigert, obwohl er wusste, dass dadurch ein von ihm verabscheuter Mann fast mit Sicherheit zum Pontifex gewählt werden würde? So, wie er den Afrikaner einschätzte, war dieser ein frommer Katholik. Ein Mann, der alles in seiner Macht Stehende tun würde, um die Kirche zu schützen. Er war kein Feigling. Und doch war er einem Kampf ausgewichen, den er vielleicht hätte gewinnen können.
Valendrea verdrängte diese irritierenden Gedanken und sagte laut und deutlich: »Ich nehme die Wahl an.« Es war zum ersten Mal seit Jahrzehnten, dass diese Antwort auf Italienisch erfolgte.
Die Kardinäle standen auf und applaudierten.
Die Trauer um den toten Papst wich nun der Freude über den neuen Pontifex. Valendrea stellte sich die Szene vor den Türen der Kapelle vor, wo jetzt die Vatikanbeobachter hören mussten, wie im Inneren Unruhe entstand, und daraus gewiss schlossen, dass eine Entscheidung gefallen war. Er sah zu, wie einer der Wahlprüfer die Stimmzettel zum Ofen trug. Gleich würde weißer Rauch an den Morgenhimmel steigen, und auf dem Petersplatz würde man in lauten Jubel ausbrechen.
Der Applaus verstummte. Der Camerlengo würde nun die letzte Frage stellen.
»Wie willst du dich nennen?«, fragte Ngovi auf Lateinisch.
In der Kapelle wurde es still.
Die Wahl des Papstnamens war fast ein Programm. Johannes Paul I. hatte die Namen seiner unmittelbaren Vorgänger gewählt, eine Botschaft, dass er sowohl der Güte Johannes’ als auch der Strenge Pauls nacheifern wollte. Das war sein Vermächtnis gewesen. Eine ähnliche Botschaft hatte Johannes Paul II. vermittelt, als er sich für den Doppelnamen seines Vorgängers entschied. Viele Jahre lang hatte Valendrea überlegt, welchen Namen er wählen würde, und die beliebtesten Papstnamen im Kopf hin- und hergewälzt: Innozenz, Benedikt, Gregor, Julius oder Sixtus. Jakob Volkner hatte sich wegen seiner deutschen Abstammung für Clemens entschieden. Valendrea wollte jedoch ein eindeutiges Zeichen setzen, dass die Zeit der Weltherrschaft des Papstes wiedergekehrt war.
»Petrus II.«
In der Kapelle hörte man verblüfftes Keuchen. Ngovi verzog keine Miene. Es hatte zweihundertsiebenundsechzig Päpste gegeben, darunter dreiundzwanzig mit dem Namen Johannes, zwölfmal Paul, dreizehnmal Leo, zwölfmal Pius, achtmal Alexander und noch einige andere Namen.
Aber nur einen einzigen Petrus.
Der erste Papst.
Du bist Petrus, und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen.
Petrus’ Gebeine lagen nur ein paar Meter entfernt unter dem größten Gotteshaus der Christenheit. Er war der erste Heilige der katholischen Kirche und der am meisten verehrte. Zwei Jahrtausende lang hatte kein Papst seinen Namen gewählt.
Valendrea stand auf.
Die Zeit der Verstellung war vorbei. Alle Rituale waren ordnungsgemäß ausgeführt worden. Seine Wahl war bestätigt, er hatte sie förmlich angenommen und seinen Namen verkündet. Er war jetzt Bischof von Rom, Vikar Jesu Christi, Nachfolger der Apostelfürsten, Pontifex Maximus – und damit oberster Gesetzgeber der Universalkirche, Erzbischof der Provinz Rom, Oberhaupt des Vatikanstaates, Primas Italiens und Patriarch des Westens.
Diener der Diener Gottes.
Er sah die Kardinäle an, damit ihn auch wirklich keiner missverstand. »Ich wähle den Namen Petrus II.«, sagte er auf Italienisch. Keiner sagte ein Wort.
Dann begann einer der drei Kardinäle vom Vorabend zu applaudieren. Einige andere fielen ein. Bald hallte die Kapelle von donnerndem Applaus wider. Valendrea genoss den Triumph des Sieges, den man ihm nie wieder würde wegnehmen können. Und doch wurde seine Begeisterung durch zwei Dinge gedämpft:
Das Lächeln, das um Ngovis Lippen spielte, und das unerwartete Klatschen des Camerlengos, der sich dem allgemeinen Applaus anschloss.
50
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
11.00 Uhr
Katerina saß am Bett und wachte bei Michener. Sie hatte noch genau vor Augen, wie man Michener vorhin bewusstlos ins Krankenhaus getragen hatte, und sie wusste nun, wie furchtbar der Verlust dieses Mannes sie treffen würde.
Umso mehr schmerzte es sie, dass sie ihn verraten hatte, und sie beschloss, Michener die Wahrheit zu sagen. Hoffentlich würde er ihr verzeihen. Sie fand es schrecklich, dass sie auf Valendreas Forderungen eingegangen war. Aber andererseits hatte sie vielleicht genau diesen Anstoß gebraucht, denn sonst hätten Stolz und Zorn sie womöglich daran gehindert, sich Michener ein zweites Mal zu nähern. Ihre erste Begegnung vor drei Wochen auf dem Petersplatz war katastrophal verlaufen. Valendreas Angebot hatte ihr die Sache erleichtert, doch ihr Verhalten blieb weiterhin falsch.
Michener schlug die Augen auf.
»Colin.«
»Kate?« Seine Augen suchten sie, doch es gab kein Erkennen.
»Hier bin ich.«
»Ich höre dich, aber ich kann dich nicht sehen. Alles ist so verschwommen, wie unter Wasser. Was ist passiert?«
»Ein Blitz. Er ist in das Kreuz auf dem Kreuzberg eingeschlagen. Ihr beide, du und Jasna, wart zu dicht daran.«
Er rieb sich die Stirn. Vorsichtig tastete er die Schürfwunden und Schnitte ab. »Wie geht es ihr?«
»Sie scheint sich zu erholen. Sie war bewusstlos, genau wie du. Warum wart ihr da oben?«
»Später.«
»Natürlich. Hier, trink ein bisschen Wasser. Der Arzt hat gesagt, dass du trinken musst.« Sie setzte ihm eine Tasse an die Lippen, und er trank ein paar Schlucke.
»Wo bin ich?«
»In einem staatlichen Krankenhaus, das die Regierung für die Pilger betreibt.«
»Weiß man schon, was ich habe?«
»Keine Gehirnerschütterung. Du hast einfach nur einen zu starken Stromstoß abgekriegt. Wenn ihr noch näher dran gewesen wärt, wärt ihr jetzt beide tot. Du hast nichts gebrochen, aber eine hässliche Beule und einen Schnitt am Hinterkopf.«
Die Tür ging auf, und ein bärtiger Mann mittleren Alters trat ein. »Wie geht es dem Patienten?«, fragte er auf Englisch. »Ich bin der Arzt, der Sie behandelt hat, Hochwürden. Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Als wäre ich unter eine Lawine geraten«, antwortete Michener.
»Das glaube ich Ihnen sofort. Aber es wird sich bessern. Sie haben einen kleinen Schnitt, aber keinen Schädelbruch. Ich würde Ihnen dennoch nach Ihrer Heimkehr noch einmal eine gründliche Untersuchung empfehlen. Wenn man bedenkt, was Ihnen zugestoßen ist, haben Sie ziemlich viel Glück gehabt.«
Nach einer kurzen Untersuchung und einigen weiteren Ratschlägen verließ der Arzt den Raum wieder.
»Woher weiß er, dass ich Priester bin?«
»Ich musste dich identifizieren. Du hast mir einen riesigen Schreck eingejagt.«
»Wie steht es mit dem Konklave?«, fragte er. »Hast du irgendwas gehört?«
»Typisch. Das Erste, woran du denkst.«
»Interessiert es dich denn nicht?«
Doch, neugierig war sie schon. »Vor einer Stunde gab es noch nichts Neues.«
Sie ergriff seine Hand. Er drehte den Kopf zu ihr und sagte: »Ich wünschte, ich könnte dich sehen.«
»Ich liebe dich, Colin.« Jetzt, wo sie es gesagt hatte, fühlte sie sich besser.
»Und ich liebe dich, Kate. Das hätte ich dir schon vor Jahren sagen sollen.«
»Ja, wirklich.«
»Ich hätte vieles anders machen sollen. Jetzt weiß ich jedenfalls, dass ich in Zukunft nicht mehr ohne dich sein möchte.«
»Und was ist mit Rom?«
»Ich habe alles erledigt, was ich versprochen hatte. Das ist für mich jetzt abgehakt. Ich möchte mit dir nach Rumänien gehen.«
Sie war froh, dass er sie nicht weinen sehen konnte, und wischte sich die Tränen weg. »Wir werden dort Gutes tun«, sagte sie und unterdrückte ein Beben in ihrer Stimme.
Er drückte ihre Hand fester.
Und sie genoss das Gefühl.
51
Vatikanstadt, 11.45 Uhr
Valendrea nahm die Gratulationen der Kardinäle entgegen und zog sich dann in einen weiß getünchten, kleinen Nebenraum der Sixtinischen Kapelle zurück, der den Namen Tränenkammer trug. Dort waren die Papstgewänder aus dem Hause Gammarelli ordentlich nebeneinander aufgehängt. Gammarelli selbst erwartete ihn.
»Wo ist Hochwürden Ambrosi?«, fragte Valendrea die zu seinem Dienst bestellten Priester.
»Hier, Heiliger Vater«, antwortete der Gesuchte und betrat die Kammer. Der Klang dieser Worte aus dem Mund seines Gefolgsmanns gefiel Valendrea sehr.
Nachdem er die Sixtinische Kapelle verlassen hatte, war die Geheimhaltungspflicht des Konklave zu Ende. Die Haupttüren waren weit geöffnet worden, und weißer Rauch stieg über dem Dachfirst empor. Inzwischen sprach man im ganzen Palast von seiner Namenswahl: Petrus II. Man würde gewiss über diese Entscheidung staunen, und die Kirchenbeobachter würden sich über seine Kühnheit wundern. Vielleicht würde es ihnen dieses eine Mal die Sprache verschlagen.
»Sie sind von jetzt an Privatsekretär des Papstes«, sagte Valendrea, während er sich die purpurrote Soutane auszog. »Das ist meine erste Ernennung.« Er lächelte, weil er nun sein unter vier Augen gegebenes Versprechen erfüllen konnte.
Ambrosi senkte dankend den Kopf.
Er zeigte auf die Gewänder, die er schon am Vortag heimlich besichtigt hatte: »Diese Garnitur hier dürfte passen.«
Der Schneider griff nach den ausgewählten Kleidungsstücken und reichte sie Valendrea mit den Worten: »Santissimo Padre.«
Valendrea akzeptierte diese allein dem Papst vorbehaltene Anrede und sah zu, wie seine Kardinalsgewänder zusammengelegt wurden. Er wusste, dass man sie reinigen und aufbewahren würde, denn die Tradition verlangte, dass dieses Kleidungsstück nach seinem Tod an das nachfolgende Oberhaupt des Valendrea-Clans weitergereicht wurde.
Valendrea legte die weiße Leinensoutane an und knöpfte sie zu. Gammarelli kniete sich vor ihm nieder und heftete den Saum mit Nadel und Faden. Für die nächsten Stunden würde diese provisorische Naht genügen. Danach würde eine maßgeschneiderte Garnitur für ihn bereitliegen.
Er überprüfte den Sitz. »Ein bisschen zu eng. Machen Sie sie weiter.«
Gammarelli machte die Naht auf und begann von neuem.
»Vernähen Sie den Faden aber auch ordentlich.« Dass irgendwelche Nähte aufgingen, war wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte.
Als der Schneider fertig war, setzte Valendrea sich auf einen Stuhl. Einer der Priester kniete sich vor ihm nieder und zog ihm Schuhe und Strümpfe aus. Valendrea genoss es schon jetzt, dass er von nun an fast nichts mehr würde selbst machen müssen. Ein Paar weiße Strümpfe und rote Lederschuhe wurden herbeigebracht. Valendrea überprüfte die Größe. Sie war genau richtig. Mit einer Geste wies er die Priester an, ihm die Schuhe überzuziehen.
Dann stand er auf.
Man reichte ihm ein weißes zucchetto. In jenen Tagen, als die Prälaten noch Tonsur trugen, hatten die Schädelkappen im Winter als Kälteschutz gedient. Jetzt gehörten sie zur Tracht eines jeden hochrangigen Klerikers. Seit dem achtzehnten Jahrhundert wurde das Käppchen des Papstes aus acht dreieckig geschnittenen weißen Stücken Seidenstoff genäht. Er nahm das Käppchen und setzte es sich auf den Kopf wie ein Kaiser, der sich selber krönt.
Ambrosi lächelte beifällig.
Es wurde Zeit, dass die Welt ihn kennen lernte.
Doch davor blieb ihm noch eine letzte Pflicht.
Er verließ die Ankleidekammer und kehrte in die Sixtinische Kapelle zurück. Die Kardinäle standen auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Vor den Altar hatte man einen Thronstuhl gestellt. Valendrea stolzierte direkt darauf zu, setzte sich und wartete volle zehn Sekunden lang, bevor er sagte: »Nehmen Sie Platz.«
Das nun bevorstehende Ritual war zum Abschluss der Wahl kanonisch vorgeschrieben. Jeder Kardinal musste vortreten, einen Kniefall machen und den neuen Papst annehmen.
Valendrea winkte den ranghöchsten Kardinalbischof, einen seiner Unterstützer, heran, und dieser stand auf und machte den Anfang. Johannes Paul II. hatte das Kardinalskollegium stehend begrüßt und damit die alte Tradition gebrochen, nach der der Papst vor den Würdenträgern saß. Doch dies war ein Neuanfang, und am besten gewöhnten sich alle gleich daran. Eigentlich konnten sie noch von Glück sagen – in den vorangegangenen Jahrhunderten hatte das Küssen der Papstschuhe mit zum Ritual gehört.
Er blieb sitzen und hielt dem Kardinal den Ring zum Kuss hin, der pflichtschuldig erfolgte.
Irgendwann kam Ngovi an die Reihe. Der Afrikaner kniete sich hin und ergriff die Hand mit dem Ring. Valendrea fiel auf, dass seine Lippen das Gold nicht wirklich berührten. Dann stand Ngovi auf und ging davon.
»Wollen Sie mir nicht gratulieren?«, fragte Valendrea.
Ngovi blieb stehen und drehte sich um. »Möge Ihre Regierungszeit Ihnen all das bringen, was Sie verdienen.«
Er hätte dem eingebildeten Hurensohn gern eine Lektion erteilt, doch dies war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Vielleicht hatte Ngovi ja sogar beabsichtigt, ihn zu einer verfrühten Demonstration von Arroganz zu provozieren. Daher zwang er sich zur Gelassenheit und erwiderte nur: »Ich nehme an, Sie wünschen mir damit etwas Gutes.«
»Nichts anderes.«
Als der letzte Kardinal am Altar vorbeigezogen war, stand Valendrea auf. »Ich danke Ihnen allen. Ich werde mein Bestes für Mutter Kirche tun. Und jetzt scheint es mir an der Zeit zu sein, mich der Welt zu zeigen.«
Er marschierte durch den Mittelgang und das Marmortor und verließ die Kapelle durch ihren Haupteingang. Er ging durch den Königssaal und den Fürstensaal zum Petersdom. Valendrea mochte diesen Weg, weil die eindrucksvollen Gemälde an den Wänden die Vorherrschaft des Papstes über alle weltlichen Mächte verdeutlichten.
Valendrea betrat den Balkon des Petersdoms.
Seit seiner Wahl war jetzt beinahe eine Stunde vergangen, und inzwischen war die Gerüchteküche wohl schon am Überkochen. Einige Informationen mochten aus der Sixtinischen Kapelle nach draußen gesickert sein, aber mit Sicherheit war alles so widersprüchlich, dass keiner etwas Genaues wissen konnte. Genau so wollte er es auch in Zukunft halten. Verwirrung konnte eine wirksame Waffe sein, wenn er selbst die Verwirrung stiftete. Allein schon seine Namenswahl sollte einige Spekulationen nähren. Nicht einmal die großen Kriegerpäpste oder die geweihten Diplomaten, die es in den letzten Jahrhunderten an die Kirchenspitze geschafft hatten, hatten es gewagt, ein solches Zeichen zu setzen.
Er trat in die Nische, die auf den Balkon hinausführte. Doch noch würde er nicht hinaustreten. Zunächst würde sich vielmehr der Kardinalarchivar – als der rangälteste Kardinaldiakon – zeigen, dann der Papst, der vom Vorsitzenden des Kardinalskollegiums und dem Camerlengo gefolgt werden sollte.
Valendrea trat dicht an den Kardinalarchivar heran, der unmittelbar vor der Balkontür stand, und flüsterte: »Ich hatte Ihnen gesagt, Eminenz, dass ich Geduld haben würde. Nun erledigen Sie Ihre letzte Pflicht.«
Die Augen des alten Mannes waren undurchdringlich. Er machte sich gewiss keine falschen Hoffnungen mehr.
Der Archivar trat wortlos auf den Balkon hinaus.
Fünfhunderttausend Menschen jubelten.
Ein Mikrofon stand vor der Balustrade, und der Archivar trat heran und sagte: »Annuntio vobis gaudium magnum habemus Papam.« Diese Verkündigung musste auf Lateinisch erfolgen, aber Valendrea kannte die Übersetzung genau.
Wir haben einen Papst.
Brausender Jubel stieg auf. Valendrea konnte die Leute nicht sehen, spürte aber fast körperlich, dass sie da waren. Wieder sprach der Kardinalarchivar ins Mikrofon: »Cardinalem Sanctae Romanae Ecclesiae … Valendrea.«
Die Hochrufe waren ohrenbetäubend. Endlich wieder ein Italiener auf dem Throne Petri. Die »Viva, Viva« Rufe wurden immer lauter.
Der Archivar hielt inne und blickte sich um, Valendrea entging sein frostiger Gesichtsausdruck keinesfalls. Der alte Mann war ganz offensichtlich nicht glücklich über das, was er nun zu sagen hatte. Der Kardinalarchivar wandte sich wieder dem Mikrofon zu: »Qui Sibi Imposuit Nomen …«
Die Worte hallten wider. Der Name, den er wählte, ist …
»Petrus II.«
Das Echo hallte auf der riesigen Piazza hin und her, als riefen die Statuen auf der Kolonnade einander verwundert zu, ob sie auch richtig gehört hatten. Die Leute ließen sich den Namen einen Moment lang durch den Kopf gehen und verstanden.
Die Hochrufe wurden noch lauter.
Valendrea trat auf den Balkon zu, stellte aber fest, dass ihm nur ein einziger Kardinal folgte. Ngovi hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
»Kommen Sie?«
»Nein.«
»Es ist Ihre Pflicht als Camerlengo.«
»Es ist meine Schande.«
Valendrea tat den ersten Schritt auf den Balkon. »Ich habe Ihnen die Unverschämtheit in der Kapelle durchgehen lassen. Provozieren Sie mich nicht erneut.«
»Was wollen Sie denn tun? Mich einsperren lassen? Mich enteignen? Mir meine Titel aberkennen? Wir befinden uns nicht im Mittelalter.«
Der andere Kardinal, der alles mit anhörte, wirkte peinlich berührt. Dieser Mann war ein strammer Unterstützer Valendreas, und so musste der frisch gebackene Papst die Muskeln spielen lassen. »Ich befasse mich später mit Ihnen, Ngovi.«
»Und der Herr wird sich mit Ihnen befassen.«
Der Afrikaner machte kehrt und ging davon.
Valendrea würde sich seinen Triumph nicht ruinieren lassen. Er sah den verbliebenen Kardinal an: »Gehen wir, Eminenz?«
Und er trat in die Sonne hinaus, die Arme ausgebreitet, als wollte er die Menschenmenge umarmen, die ihre Begeisterung laut herausschrie.
52
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
12.30 Uhr
Michener fühlte sich besser. Er konnte wieder klar sehen, und sein Magen hatte sich endlich beruhigt. Nun erkannte er, dass er in einem kleinen Krankenzimmer mit Wänden aus blassgelbem Schlackenstein lag. Das Fenster mit seinem Spitzenvorhang ließ Licht herein, gestattete aber keinen Blick nach draußen, da die Scheiben dick mit Farbe überstrichen waren.
Katerina war weggegangen, um nach Jasna zu sehen. Der Arzt hatte ihnen nichts über Jasnas Befinden gesagt. Michener hoffte, dass es ihr gut ging.
Die Tür öffnete sich.
»Sie ist wohlauf«, sagte Katerina. »Anscheinend hattet ihr beide gerade noch genug Abstand. Ein paar hässliche Beulen am Kopf, das ist schon alles.« Sie trat ans Bett. »Und ich habe noch eine Neuigkeit.«
Er sah sie an, froh, ihr reizendes Gesicht wiederzusehen.
»Valendrea ist Papst. Ich hab es im Fernsehen gesehen. Gerade hat er seine Ansprache auf dem Petersplatz gehalten. Er spricht sich für die Rückkehr der Kirche zu ihren Wurzeln aus. Und stell dir mal vor, er hat den Papstnamen Petrus II. gewählt.«
»Rumänien kommt mir immer attraktiver vor.«
Sie lächelte schief. »Jetzt sag mal: War der Aufstieg die Mühe wenigstens wert?«
»Wovon sprichst du?«
»Davon, was ihr beiden gestern Nacht auf dem Berg gemacht habt.«
»Eifersüchtig?«
»Eher neugierig.«
Er schuldete ihr offensichtlich eine Erklärung. »Sie sollte mir das zehnte Geheimnis verraten.«
»Mitten in einem Unwetter?«
»Mit Vernunft ist das nicht zu erklären. Ich bin aufgewacht, und sie stand draußen auf der Straße und wartete auf mich. Es war unheimlich. Aber ich hatte das Gefühl, ihr folgen zu müssen.«
Er beschloss, ihr nicht von seiner Halluzination zu erzählen, aber seine Erinnerung an die Vision war ganz klar, wie bei einem Traum, der einen nicht mehr loslässt. Der Arzt hatte gesagt, er habe mehrere Stunden bewusstlos in der Nähe des zerschmetterten Kreuzes gelegen. Was immer er gesehen oder gehört hatte, war einfach nur Ausdruck all dessen, was er in den letzten Monaten erfahren hatte. Und die Boten waren zwei Männer, mit denen er sich seelisch intensiv beschäftigte. Was aber war mit der Jungfrau? Nun, vermutlich war sie nur die Erinnerung an die Statue, die er am Vortag bei Jasna zu Hause gesehen hatte.
Oder doch nicht?
»Schau, ich weiß auch nicht, was Jasna im Sinn hatte. Sie sagte, ich müsse mitkommen, wenn ich das Geheimnis erfahren wolle. Also kam ich mit.«
»Und du fandest die Situation nicht ein bisschen eigenartig?«
»Diese ganze Geschichte ist eigenartig.«
»Sie kommt hierher.«
»Wovon sprichst du?«
»Jasna sagte, sie käme hierher, um dich zu sehen. Als ich ging, ließ sie sich gerade fertig machen.«
Die Tür ging auf, und eine ältere Frau schob einen Rollstuhl in das enge Zimmer. Jasna sah müde aus. Ihre Stirn und ihr rechter Arm waren verbunden.
»Ich wollte mich überzeugen, dass Sie gesund sind«, erklärte sie mit schwacher Stimme.
»Ich hatte mich auch gefragt, wie es Ihnen geht.«
»Ich habe Sie nur dorthin geführt, weil die Jungfrau es mir aufgetragen hatte. Ich wollte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«
Zum ersten Mal klang sie menschlich. »Ich gebe Ihnen keine Schuld. Ich habe Sie aus freien Stücken begleitet.«
»Ich habe gehört, dass auch das Kreuz etwas abbekommen hat. Eine schwarze Kerbe durchzieht das weiße Holz jetzt von oben bis unten.«
»Ist das euer Zeichen für die Atheisten?«, fragte Katerina mit leichter Verachtung in der Stimme.
»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Jasna.
»Vielleicht wird die heutige Botschaft an die Gläubigen ja alles aufklären.« Katerina ließ offensichtlich keinen Seitenhieb aus.
Er wollte ihr sagen, dass sie Jasna in Ruhe lassen sollte, wusste aber, dass seine Freundin aufgebracht war und einen Blitzableiter suchte.
»Die Jungfrau war zum letzten Mal da.«
Er betrachtete Jasnas Gesicht. Es war traurig, die Augen zusammengezogen, ihr Ausdruck ganz anders als am Vortag. Mehr als zwanzig Jahre lang war sie mit der Muttergottes im Gespräch gewesen. Diese Erfahrung, ob nun real oder eingebildet, hatte ihr viel bedeutet. Jetzt war es vorüber, und das war unübersehbar ein sehr schmerzlicher Verlust. Er stellte sich diesen Schmerz ganz ähnlich vor, wie wenn ein geliebter Mensch stirbt – eine Stimme, die man nie wieder hören wird, von der man niemals mehr Rat und niemals mehr Trost bekommt. So wie der Verlust seiner Eltern und Jakob Volkners.
Plötzlich spürte er ihre Trauer wie seine eigene.
»Die Jungfrau hat mir gestern Nacht auf dem Berggipfel das zehnte Geheimnis enthüllt.«
Er rief sich das wenige in Erinnerung, was er bei dem Unwetter von ihr gehört hatte: Ich kann mich erinnern, das weiß ich genau. Heilige Jungfrau, das wusste ich nicht.
»Ich habe die Worte notiert.« Sie reichte ihm ein gefaltetes Blatt. »Die Heilige Jungfrau hat mich aufgefordert, Ihnen das hier zu geben.«
»Hat sie sonst noch etwas gesagt?«
»Danach ist sie verschwunden.« Jasna machte der älteren Frau, die ihren Rollstuhl schob, ein Zeichen. »Ich kehre in mein Zimmer zurück. Werden Sie gesund, Hochwürden. Ich bete für Sie.«
»Und ich für Sie, Jasna.« Es war ihm ernst damit.
Sie verließ den Raum.
»Colin, diese Frau ist eine Betrügerin. Siehst du das denn nicht?« Katerinas Stimme wurde schrill.
»Ich weiß es nicht, Kate. Falls sie eine Betrügerin ist, dann eine sehr gute. Sie glaubt, was sie sagt. Aber selbst falls alles Täuschung war, ist es damit nun vorbei. Die Visionen haben geendet.«
Katerina zeigte auf das Blatt. »Liest du die Notiz? Diesmal gibt es schließlich kein päpstliches Verbot.«
Sie hatte Recht. Er entfaltete die Seite, doch vom Lesen bekam er Kopfschmerzen. Daher reichte er das Blatt an Katerina weiter.
»Ich kann nicht lesen. Lies es mir vor.«
53
Vatikanstadt, 13.00 Uhr
Valendrea stand im Audienzsaal und nahm die Glückwünsche des Personals des Staatssekretariats entgegen. Ambrosi hatte bereits seinen Wunsch geäußert, viele der Priester und der anderen Mitarbeiter ins päpstliche Büro zu übernehmen. Valendrea hatte nicht widersprochen. Wenn Ambrosi sich schon um all seine Bedürfnisse kümmern sollte, war es das Mindeste, dass er freie Hand bei der Auswahl seiner Mitarbeiter hatte.
Seit dem Vormittag war Ambrosi Valendrea kaum von der Seite gewichen, und er hatte während der Ansprache an die Menschenmenge auf dem Petersplatz pflichtschuldig an der Schwelle zum Balkon gewartet. Anschließend hatte er die Rundfunk- und Fernsehberichte ausgewertet, die, wie er meldete, überwiegend positiv klangen. Gerade auch Valendreas Papstname hatte es den Kommentatoren angetan, die miteinander übereinstimmten, dass dies ein bedeutender Papst werden könnte. Vermutlich, so stellte Valendrea sich vor, hatte selbst Tom Kealy einen Moment lang gestockt, bevor er den Namen Petrus II. aussprach. Während seiner Amtszeit würde es keine Bestseller schreibenden Priester mehr geben. Der Klerus würde tun, was man ihm sagte. Andernfalls würde Valendrea die Leute rausschmeißen – angefangen bei Kealy. Er hatte Ambrosi schon aufgetragen, dem Idioten bis Ende der Woche das Priesteramt zu entziehen.
Es würde noch mehr Veränderungen geben.
Der Papst würde wieder die Tiara tragen, und Valendrea würde einen Krönungstermin ansetzen. Bei seinem Eintritt würden Trompeten erklingen. Während der Liturgie würde man ihm mit Fächern und gezogenen Säbeln zur Seite stehen. Und er würde dem Tragesessel wieder zu seinem Recht verhelfen. Paul der VI. hatte die meisten dieser herrschaftlichen Rituale abgeschafft – vielleicht aufgrund einer kurzzeitigen Verwirrung, vielleicht auch als Reaktion auf den damaligen Zeitgeist –, doch Valendrea würde sie alle wieder einführen.
Inzwischen waren fast sämtliche Mitarbeiter ihre Glückwünsche losgeworden, und Valendrea winkte Ambrosi zu sich. »Ich muss etwas erledigen«, flüsterte er. »Beenden Sie die Audienz.«
Ambrosi wandte sich der Menge zu. »Hören Sie, der Heilige Vater hat Hunger. Er hat seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Und wir alle wissen ja, wie viel ihm an einer guten Mahlzeit liegt.«
In der Halle ertönte Gelächter.
»Wer jetzt nicht mit ihm sprechen konnte, wird noch heute eine Gelegenheit dazu erhalten.«
»Der Herr segne euch«, sagte Valendrea.
Er folgte Ambrosi in sein Büro im Staatssekretariat. Die Papstwohnung war vor einer halben Stunde entsiegelt worden, und viele von Valendreas Sachen wurden jetzt aus seinen Räumen im zweiten Stock in die Wohnung im dritten Stock gebracht. In den kommenden Tagen würde er die Museen und die Lagerräume im Keller aufsuchen. Er hatte Ambrosi bereits eine Liste der Gegenstände gegeben, die er zu Dekorationszwecken haben wollte. Er war stolz auf seine Planung. Die meisten der in den letzten Stunden gefällten Entscheidungen hatte er schon seit langem bedacht, und nun wirkte er wie ein Papst, der alles unter Kontrolle hat und im richtigen Moment das Richtige tut.
Als sie in seinem Büro waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich Ambrosi zu. »Suchen Sie den Kardinalarchivar. Sagen Sie ihm, dass ich ihn in einer Viertelstunde vor der Riserva erwarte.«
Ambrosi verbeugte sich und ging.
Valendrea trat ins Badezimmer neben seinem Büro. Er war noch immer wütend über Ngovis Arroganz. Der Afrikaner hatte Recht. Valendrea konnte ihm nicht viel anhaben. Er könnte ihm irgendwo in weiter Ferne einen Posten zuweisen, aber selbst das wäre unklug. Der Camerlengo – bald nur noch Ex-Camerlengo – hatte erstaunlich viel Unterstützung gewonnen. Es wäre unklug, ihn sofort anzugreifen. Hier war Geduld gefragt. Aber das hieß keineswegs, dass er Maurice Ngovi vergessen hatte.
Valendrea klatschte sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Handtuch ab.
Draußen ging die Bürotür auf, und Ambrosi kam zurück. »Der Archivar erwartet Sie.«
Valendrea warf das Handtuch auf die Marmorplatte. »Gut. Gehen wir.«
Er stürmte aus dem Büro und ins Erdgeschoss hinunter. Der verblüffte Blick der Schweizergardisten ließ erkennen, dass sie nicht daran gewöhnt waren, den Papst ohne Vorwarnung auftauchen zu sehen.
Er betrat das Archiv.
In den Lese- und Dokumentensälen war niemand. Seit Clemens’ Tod war das Archiv gesperrt. Er trat in den Hauptsaal und ging über den Mosaikboden zur Tür mit dem Eisengitter. Davor erwartete ihn der Kardinalarchivar. Sonst war nur noch Ambrosi zugegen.
Er trat auf den alten Mann zu. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Ihre Dienste nicht länger benötigt werden. Ich an Ihrer Stelle würde in Pension gehen. Ende der Woche sollten Sie nicht mehr hier sein.«
»Ich habe meinen Schreibtisch schon ausgeräumt.«
»Ich habe Ihre Bemerkungen vom Frühstück keineswegs vergessen.«
»Das freut mich. Ich möchte nämlich, dass Sie meine Worte wiederholen, wenn wir beide vor unserem Richter stehen.«
Er hätte dem vorlauten Italiener am liebsten eine runtergehauen. Doch er fragte nur: »Ist das Schließfach geöffnet?«
Der alte Mann nickte.
Valendrea wandte sich an Ambrosi: »Warten Sie hier.«
Jahrzehntelang hatten andere über die Riserva verfügt. Paul VI. Johannes Paul II. Clemens XV. und sogar dieser nervtötende Archivar. Doch damit war Schluss.
Valendrea stürmte in den Raum und riss die Schublade auf. Da stand die Holzschatulle. Er nahm sie heraus und trug sie zum selben Tisch, an dem vor Jahrzehnten Paul VI. gesessen hatte.
Er klappte den Deckel auf und fand zwei ineinander gefaltete Blatt Papier. Das eine, unübersehbar ältere, war der erste Teil des dritten Geheimnisses von Fatima – von Schwester Lucia geschrieben. Auf der Rückseite sah man den Vatikanstempel, der dort bei der Veröffentlichung im Jahr 2000 angebracht worden war. Das zweite, neuere Blatt, enthielt Hochwürden Tibors Übersetzung aus dem Jahr 1960 und war ebenfalls mit einem Stempelaufdruck versehen.
Doch in der Schatulle sollte noch ein weiteres Blatt liegen.
Hochwürden Tibors Faksimile neueren Datums, das Clemens persönlich in die Schatulle gelegt hatte. Wo war es? Valendrea war hier, um das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Um die Kirche zu schützen und sich selbst die geistige Gesundheit zu bewahren.
Doch das Blatt war verschwunden.
Er schoss aus der Riserva und stürzte sich auf den Archivar. Er packte den alten Mann bei seiner Soutane. Eine Riesenwut schoss in ihm hoch. Der Kardinal sah ihn erschreckt an.
»Wo ist es?«, fauchte Valendrea ihn an.
»Was … was … meinen Sie?«, stammelte der alte Mann.
»Reizen Sie mich nicht noch mehr. Wo ist es?«
»Ich habe nichts berührt. Das schwöre ich Ihnen, so wahr mir Gott helfe.«
Valendrea sah, dass der Mann die Wahrheit sagte. Es musste jemand anderer gewesen sein. Valendrea ließ den Archivar los, und dieser trat zurück, offensichtlich von dem Angriff verängstigt.
»Raus hier«, fuhr Valendrea ihn an.
Der Archivar verzog sich eilig.
Eine schreckliche Erinnerung überkam Valendrea. Jener Freitagabend, als der Papst zugelassen hatte, dass er die Hälfte der von Tibor gesandten Dokumente vernichtete.
»Ich wollte, dass Sie wissen, was Sie erwartet, Alberto.«
»Warum haben Sie mich nicht daran gehindert, das Dokument zu verbrennen?«
»Das werden Sie schon sehen.«
Als Valendrea dann den zweiten Teil verlangt hatte, Tibors Übersetzung, was hatte der Papst da gesagt?
Nein, Alberto. Die bleibt in der Schatulle.
Er hätte den Drecksack damals beiseite schieben und tun sollen, was zu tun war, auch wenn der Nachtpräfekt es sah.
Jetzt war ihm alles klar.
Die Übersetzung hatte niemals in der Schatulle gelegen. Ob sie überhaupt existierte? Ja, gewiss. Daran hatte er keinen Zweifel. Und Clemens hatte gewollt, dass er das wusste.
Er musste die Übersetzung finden.
Er wandte sich an Ambrosi. »Fliegen Sie nach Bosnien. Bringen Sie Colin Michener her. Lassen Sie keine Ausreden gelten, gar nichts. Ich will, dass er morgen hier vor mir steht. Sagen Sie ihm, andernfalls sorge ich dafür, dass ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wird.«
»Mit welcher Beschuldigung, Heiliger Vater?«, fragte Ambrosi sachlich. »Damit ich ihm auf Rückfragen etwas antworten kann.«
Valendrea dachte einen Moment lang nach und erklärte dann: »Beihilfe zum Mord an Hochwürden Andrej Tibor.«